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German Pages 300 Year 2020
Caroline Kodym Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista
Lettre
Meiner Familie und meinen Freunden in Verbundenheit und Dankbarkeit
Caroline Kodym, geb. 1980, ist Verlagslektorin und unterrichtet in Linz. Sie hat Germanistik und Romanistik studiert und in Germanistik promoviert.
Caroline Kodym
Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista Über einen Sehnsuchtsort in der deutschsprachigen Literatur
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhalt
Vorwort .................................................................................. 7 1 1.1 1.2
Wir und die anderen: Europa und der Rest der Welt ................................. 15 Das Eigene und das Andere – von fremden Welten made in EUROPE .......................... 15 Der Eurozentrismus – ein europäisches Phänomen?.............................................. 22
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Alte Ideen in der Neuen Welt: Kolumbus und sein Paradies ........................ 39
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Paradise lost? Paradise wanted! – Der Mythos des verlorenen Paradieses als religions- und kulturgeschichtliches Phänomen................................ 47
4
Utopia, Arcadia, Amerika: Die Geschichte einer Anbahnung........................ 55
5 5.1
Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung ............... 61 Erste Annäherungsversuche: Mexikos als Projektionsfläche – und als europäische Geliebte .................................64 Facta ficta: Der Beginn der Reiseliteratur – zwischen wissenschaftlicher und literarischer Conquista ....................................... 77 Auch du wirst meiner Liebe nicht entgehen: Mexiko als exotisch-eskapistische Projektionsfläche............................................ 116 Die schöne, fremde Geliebte: Mexikodarstellungen im exotischen Roman..................125 Die wilde Geliebte: Mexikodarstellungen im Abenteuerroman ................................ 153 Das Paradies ist verloren, es lebe das Paradies! Mexiko zwischen Realität und Exotik - ein Überblick.............................................159 Die Geliebte wird politisch: Von exotischer Zivilisationskritik .................................165 Ein Zwischenspiel oder die Vertreibung ins Paradies: Mexiko als Exilnation............... 175 5.8.1 Exil im Wunderland: Nun lerne ich meine Geliebte kennen? .......................... 175 5.8.2 Mexiko als (europäisches) Exilparadies: Die Hintergründe ............................ 176 5.8.3 Kulturelles und politisches Engagement im mexikanischen Exil – eine Zusammenschau ..........................................................................182 5.8.4 Warten auf das rettende Paradies: Mexiko als realer Fluchtort ......................184
5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8
5.8.5 Welcome to Paradise: Mexiko als Vergegenwärtigung des eigenen Ichs und Kontrastfolie zur verlorenen Heimat ..........................190 5.8.6 Auch ich in Mexiko: Anna Seghers – von persönlichen und politischen Paradiesen....................... 194 5.8.7 Kennt ihr das Land, wo die Kakteen blühn? Die Reportage als Exilgattung par excellence? .......................................... 202 5.8.8 Der nicht exilierte Blick? – Bodo Uhses literarisches Mexikobild .................... 212 5.8.9 Das ideale Paradies: Die Folgen der Exilliteratur – Mexiko als Sozialutopie ...... 218 5.9 Die schwierige Geliebte: Vom Abschied, der keiner sein will .................................. 220 5.10 Die verbrecherische Geliebte: Die Zivilisation als Projektionsraum für Gesellschaftskritik und Exotik.................................................................... 266 Quellenverzeichnis ..................................................................... 289 Primärliteratur.................................................................................................... 289 Sekundärliteratur ................................................................................................ 293
Vorwort
In dem vorliegenden Buch geht es mir darum zu zeigen, inwiefern Mexiko in der deutschsprachigen Literatur als Projektionsfläche für europäische (Ur-)Sehnsüchte, Gedankenbilder und Gesellschaftsutopien herangezogen wird und wie sich diese nicht unproblematische Liebesbeziehung zwischen Europa und Mexiko, die auch im Titel erwähnt wird, anbahnt und weiterentwickelt. Es ist die Geschichte einer literarischen Conquista. Die Titelmetapher deutet auch auf die eurozentristische Art der Projektion hin, die traditionelle Konzepte der Weiblichkeit mit jenen einer kindlichen Unschuld und Reinheit gleichsetzt und so die Eroberung und Unterwerfung der mexikanischen Geliebten begründet und rechtfertigt. Anhand ausgewählter Werke mit entsprechender wirkungsgeschichtlicher Relevanz wird nachgezeichnet, wie Europa die Geliebte Mexiko erobert, vereinnahmt und immer wieder gefügig macht. Die analysierten Werke thematisieren nicht ausschließlich Mexiko als Projektionsfeld, werden aber dann von mir einbezogen, wenn sie für die Entwicklung der Paradiesprojektion und der metaphorischen Instrumentalisierung Mexikos von Relevanz sind. Dies gilt auch für nicht-deutschsprachige AutorInnen sowie PhilosophInnen und deren Werke. In meinen Überlegungen zur Entstehung von literarischen Bildern gehe ich davon aus, dass der Vorgang der Konstruktion und der Stilisierung des Anderen an sich nie unschuldig ist. In der elaborierten Art und Weise, wie man ihn in Europa findet, hat er aber ganz grundsätzlich als eurozentristische Erfindung zu gelten. Europas Umgang mit der Fremde liegt im Eurozentrismus – in Abgrenzung zum Ethnozentrismus – begründet. Er ist als Modell der europäischen Dominanz zu verstehen, aus dessen Wirkungsgeschichte auch die ambivalente Liebesbeziehung zwischen Europa und Mexiko begreiflich wird. Was postkoloniale sowie dekoloniale Ansätze verdeutlichen und kritisieren, ist mitunter auch auf die europäische literarische Perzeption der Fremde sowie auf die daraus folgende Projektion gewisser literarischer Motive sowie die Konstruktion von Bildern und Sehnsuchtsorten zu übertragen.
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Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista
Innerhalb Europas muss natürlich grundsätzlich zwischen verschiedenen Positionen unterschieden werden. So gestaltet sich etwa die Beziehung zwischen Kolonisierern und Kolonialisierten gänzlich anders als beispielsweise jene zwischen Deutschland und Mexiko bzw. zwischen Österreich und Mexiko. Der Eurozentrismus kann jedoch als ein gemeinsames europäisches Phänomen bzw. als eine gemeinsame europäische Haltung bezeichnet werden, die der Kolonialismus als solcher mitprägte. So wird Mexiko zur Geliebten und die Conquista auch innerhalb der deutschsprachigen Literatur europäisch. Die Suche nach dem Anderen ist eigentlich immer die Suche nach dem Eigenen. Das gemeinsame Muster aller (mexikanischen) Projektionen ist die europäische Ursehnsucht nach dem verlorenen Paradies und der daraus entstandene Mythos, der in verschiedenen religiösen, literarischen und philosophischen Strömungen Ausdruck fand, ehe sich schließlich mit der vermeintlichen Entdeckung Amerikas eine neue und konkrete Projektionsfläche darbot. Die bewegte Geschichte Mexikos favorisierte, und das nicht nur aufgrund der sich darbietenden Berührungspunkte mit dem deutschsprachigen Raum, diverse sich entwickelnde und adaptierende Projektionen von utopischen und visionären Konzepten, die jedoch alle denselben konzeptionellen Kern aufweisen. In der europäischen Kulturgeschichte ist der Paradiesmythos ein kollektives Wunschbild, er fungiert als grundsätzliche Metapher für Ursprünglichkeit und eine ideale, wenn auch verlorene Vorzeit. Im Falle Mexikos wird aus dem ursprünglichen Paradiesmythos bald ein visionärer und exotischer Sehnsuchtsort. Es entwickelt sich das Wunschbild einer natürlichen Gesellschaftsordnung und eines ursprünglichen, exotischen Naturraums, der auch Platz für politische Wunschbilder und Abenteuer bietet. Mexiko wird zum vielgestaltigen (europäischen) Paradies. Und bleibt es bis heute – auch wenn es längst verloren ist. Trotz der Entwicklung und Modifizierung des Bildes funktioniert es im Wesentlichen noch heute, was sich aus der Ambivalenz in der Konstruktion von Selbstund Fremdbildern erklären lässt, die den sozialhistorischen Umständen und Bedürfnissen angepasst werden können. Wenngleich das heutige literarische Mexiko augenscheinlich wenig paradiesisch anmutet, beruht dessen Stilisierung weiterhin auf der Ursehnsucht nach einer anderen und ursprünglicheren Welt. Durch die Stilisierung wiederkehrender sowie rückdeutender Elemente wird die eskapistische Funktionalisierung des Landes weiter ermöglicht. Die literarische Eroberung Mexikos ergibt sich aus dem an sich sehr europäischen Wunsch nach einem besseren und ursprünglicheren Dasein bzw. Ort, der nicht nur in der Literatur vielseitig behandelt und vielgestaltig dargestellt wurde. Der Wunsch kann deshalb als sehr europäisch bezeichnet werden, da die Paradiessuche auch als Ausdruck des Unbehagens an unterschiedlichen Denkformen der
Vorwort
Zivilisation zu deuten ist und in Europa, besonders ab der Aufklärung, verstärkt zu Tage tritt. Er impliziert eine vermeintliche Fehlentwicklung der menschlichen Zivilisation. Waren die Bilder der Neuen Welt, besonders bei Kolumbus, noch stark christlich geprägt, wird Amerika bald zum Goldland Eldorado sowie zum Inbegriff der Ursprünglichkeit und dadurch zum Kontrastort zur zivilisierten europäischen Welt. Nicht verwunderlich ist es demnach, dass sich das Paradies Mexiko zur Zeit der Restauration und in der Phase der größten Europamüdigkeit zunehmend radikalisiert, da es so eine größere Möglichkeit der Zivilisations- und Gesellschaftsflucht bietet. Eine derartige Radikalisierung hat ihren Grund jedoch auch darin, dass in Mexiko selbst verstärkt Elemente der westlichen Welt augenscheinlich werden, die eine Instrumentalisierung zur Projektionsfläche erschweren. Das Paradies Mexiko gestaltet sich grundsätzlich von Anfang an speziell und entspricht anderen visionären Paradiesorten nur wenig. Auch wenn das Land und die mexikanische Natur paradiesische Züge im klassischen Sinn aufweisen, die von den SchriftstellerInnen dementsprechend versinnbildlicht werden, finden sich ebenso Stilisierungen der wilden und unbezähmbaren Landschaft, die – zur Verdeutlichung ihrer Urkraft – oftmals auch personifiziert wird. Die ungestüme mexikanische Natur behält ihre Anziehungskraft für Europäer1 , da ihre Andersartigkeit Abenteuer und Exotik in sich birgt und somit weiter zur Realitätsflucht einlädt. Die Unzähmbarkeit impliziert jene Mystik des Übernatürlichen, die so charakteristisch für Mexiko ist und im Gegensatz zur europäischen zivilisierten Welt steht. Zudem ist sie ein Sinnbild für Ursprünglichkeit, die allen (konstruierten) Paradiesbildern und -visionen eigen ist. Mexiko wird zur Geliebten Europas. – Mexiko ist die ursprüngliche und exotische Angebetete, die für den Eroberer deshalb so reizvoll ist, weil sie etwas verkörpert, das im Gegensatz zu der ihm bekannten Welt steht. In den literarischen Realisierungen schwankt Mexiko immer zwischen Faszination und Grauen, Paradies und Hölle, locus amoenus und locus terribilis. Beide Stilisierungen bedienen die Projektion auf unterschiedliche Weise. Die ambivalente Darstellung Mexikos beruht auch auf der Tatsache, dass das Stereotyp einem Fetisch gleicht, der die Beziehung zwischen Kolonialherrn und Kolonialisiertem versinnbildlicht, die zwischen Geliebtem und Gehasstem oszilliert. Auch resultiert die divergierende Darstellungsweise aus der Schwierigkeit, die mexikanische Welt überhaupt als Ganzes zu erfassen und abzubilden. Einzelne Elemente werden folglich aufgegriffen und zum Mexiko-Ereignis schlechthin stilisiert. Diese Art der Komposition spielt auch der Konstruktion eines exotischen mentalen Fluchtortes in die 1
Aus Gründen der Lesbarkeit werden Völkerbezeichnungen in der männlichen Form verwendet, die die weibliche Form impliziert.
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Hände. Dargestellt und stilisiert werden grundsätzlich das Fremdartige und Andere. Die Europäer erzählen immer von sich – von ihren Träumen, Sehnsüchten und Visionen, auch wenn sie vordergründig über Mexiko sprechen. Neben der grundsätzlich eskapistischen Komponente wird Mexiko, nicht zuletzt aufgrund seiner Geschichte, ab den 1920er-Jahren auch verstärkt für politisch motivierte Projektionen herangezogen. Neben der Hervorhebung der mexikanischen Natur wird nunmehr verstärkt auch das Motiv des edlen Wilden stilisiert. Mexiko fungiert in diesem Kontext vor allem als Instrument der Zivilisations- und Gesellschaftskritik gegenüber der westlichen kapitalistischen Welt und wird zur Projektion von idealen Gesellschaftsentwürfen herangezogen. Mit der touristischen Erschließung des Landes gestalten sich die Projektionen zunehmend diffiziler. Das Entdecken von neuen und ursprünglichen Landstrichen ist nicht mehr möglich. Die Zeichen einer hybriden Kultur werden zunehmend augenscheinlich und die Spuren der westlichen Welt sind auch in Mexiko nicht mehr zu negieren. Die Geliebte wird schwierig. Vermehrt wird in Mexiko das Eigene sichtbar, was der literarischen Konstruktion eines mexikanischen Paradieses nur bedingt dienlich ist. Die touristische sowie die kapitalistische Ausbeutung des Landes bieten sich jedoch zur generellen Kritik an den Systemen der westlichen Welt und zur Projektion alternativer (politischer und gesellschaftskritischer) Konzepte an. Mexiko wird in diesem Kontext zur Opfernation. Die Natur, wo noch intakt vorhanden, und die mexikanische (Ur-)Bevölkerung werden romantisiert und zu einem Gegenentwurf der Zivilisation stilisiert. Der Zweite Weltkrieg und die Rolle Mexikos als Exilnation bilden eine Zäsur in der Entwicklung des literarischen Mexikobildes. Mexiko wird zum realen Fluchtort und rettenden Paradies für viele Europäer. Aufgrund der politischen Haltung des Landes war Mexiko gerade für europäische KünstlerInnen interessant, da die mexikanische Regierung sie sowohl in ihrem politischen als auch in ihrem künstlerischen Engagement unterstützte. Mexiko wurde zu einem der wichtigsten Zentren für exilierte Kulturschaffende deutscher Sprache. Das Exilparadies Mexiko ist nunmehr oft Kontrastfolie, um die Zustände in der verlorenen Heimat zu beschreiben. Vielen SchriftstellerInnen wird es vor allen zum politischen Paradies, der Blick bleibt jedoch auf die Heimat gerichtet. Das exotische Mexiko dient vor allem dem politischen Vergleich oder der Schilderung der eigenen Lebenssituation im Exil. Oft findet es erst dann tatsächlich, und nicht lediglich als Kontrastfolie oder Vergleichsparameter, Eingang in die Werke der ExilschriftstellerInnen, als diese das Land bereits wieder verlassen haben. Nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer etabliert sich, vor allem in der DDR, das Bild Mexikos als visionäres politisches Paradies, in dem sozialistische Werte sowie sozialutopische Ideen und Gesellschaftsentwürfe zumindest ihre fiktionale Entsprechung finden können.
Vorwort
Durch die zunehmende Kritik an Strömungen wie dem Imperialismus sowie Europas Umgang mit der Fremde fließen vermehrt zivilisationskritische Elemente in die Beschreibungen ein. Die sich fortschreibenden Bilder Mexikos werden weiterhin intertextuell konstruiert, auch wenn mehr denn je die Möglichkeit bestehen würde, sich ein authentisches Bild des Landes zu machen. Die Alteritätserfahrung tritt jedoch weiterhin hinter eine medial oder literarisch vorgeformte Erfahrung zurück. In den zeitgenössischen Darstellungen werden diese Bilder mitunter auch ironisiert, auch hier gehen jedoch intertextuelle Referenzen nicht gänzlich verloren. Neben der Exotisierung Mexikos durch Europa vollzieht sich aber auch im innermexikanischen Diskursraum eine Selbstexotisierung. Phänomene wie der magische Realismus oder Traditionen der mexikanischen Wandmalerei stellen indigene Traditionen ins Zentrum ihrer Betrachtung und gehen somit ebenso von einem wahren und ursprünglichen Mexiko aus, das es als solches nicht gibt. Auch Mexiko selbst arbeitet hier mit konstruierten binären Oppositionen. Diese Suchbewegung ist europäisch-romantisch und Ausdruck dessen, dass, bei aller berechtigen Kritik am Kolonialismus sowie am Eurozentrismus, ein Kulturtransfer nie unliteral verläuft und sich beide Kulturen, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise, verändern. Die Hybridität im Sinne einer Mischform von zwei ehemals getrennten Systemen wird demnach in beiden Kulturen sichtbar. Gerade die literarische Strömung des magischen Realismus, die in mehrfacher Hinsicht europäisch inspiriert ist, da die lateinamerikanischen SchriftstellerInnen einerseits durch den Surrealismus inspiriert wurden und sich andererseits an den Darstellungen europäischer EthnologInnen orientierten, ist ein Produkt, das ohne Kulturtransfer nicht denkbar gewesen wäre. Diese zunehmende Hybridisierung ist auch in der Stilisierung des literarischen Mexiko augenscheinlich, da sich die Konstruktion an sich zunehmend schwieriger gestaltet und immer wieder adaptiert und neu ausgerichtet werden muss. Neben den Bildern aus der Populärkultur und den modernen Massenmedien – auch weil diese oft in der Tradition der US-amerikanischen Medien stehen und so deren gängige Klischees und Stereotype fortschreiben – findet sich vermehrt eine Romantisierung Mexikos mit sozialutopischem Anstrich, auch in der so titulierten Unterhaltungsliteratur. Auf der einen Seite wird das Bild eines korrupten, armen und von Zivilisation durchdrungenen Landes gezeichnet, dessen Niedergang den Machenschaften der westlichen Welt zuzuschreiben ist. Diese Art der Darstellung favorisiert aber ihrerseits auch die Romantisierung von noch vorhandenen ursprünglichen Landstrichen sowie der einfachen Bevölkerung, die beide an ein früheres, besseres Dasein erinnern und aufzeigen, was eigentlich auch heute
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noch möglich wäre. Auch wissenschaftliche Diskurse über Phänomene und Strömungen wie den Exotismus oder den Eurozentrismus begünstigen ihrerseits in gewisser Weise eine derartige Tendenz und fördern die Stilisierung Mexikos als Opferland. Aus der negativen Stilisierung des Landes ergibt sich eine weitere Komponente der Projektion, die nicht mehr zwingend mit der mexikanischen Natur verbunden wird. Auch das zivilisierte Mexiko bleibt aufregend anders und bietet den Europäern einen realen wie auch mentalen Ausstieg aus der eigenen Welt. Immer öfter wird Mexiko zum Handlungsschauplatz von Geschichten mit kriminalistischem Plot. Neben der eigentlichen Handlung bleibt immer noch Raum für Romantisierungen sowie Elemente der Zivilisationskritik, wenngleich diese subtiler positioniert werden. Trotz des zunehmenden Einflusses der modernen Massenmedien bleibt die Stilisierung insofern europäisch, als Mexikos Andersheit ein exotischer Anziehungspunkt bleibt und sich immer wieder auch zivilisationskritische Komponenten der Beschreibung finden. Wie kommt es aber, dass sich Mexiko so lange als (unfreiwillige) literarische Geliebte Europas halten konnte? Woher diese umfassende Eroberung, die noch bis heute wirkt? Wohl daher, dass Mexiko zwar immer das exotisch Andere verkörperte, durch historische Verstrickungen und den bilateralen Kulturtransfer, als deren Anstoß die spanische Eroberung zu gelten hat, jedoch viel mit Europa zu tun hatte und dadurch – obwohl fremd – auch greifbar wurde. Mexiko hat sich lange als europäischer Sehnsuchtsort bzw. Kontrastort gehalten. In den zeitgenössischen Darstellungen wird jedoch die Tendenz deutlich, dass das Exotische, nicht zuletzt aufgrund der Standardisierung der tradierten Bilder durch die modernen Massenmedien, immer beliebiger und austauschbar wird. Das Andere verkommt noch stärker als zuvor zur bloßen Kulisse des Plots. Die Kulturen verschwimmen immer stärker und das Eigene wird zunehmend im Anderen sichtbar. Das Streben des Menschen nach einem besseren Ort und das daraus resultierende Bedürfnis nach einem Sehnsuchtsort, in den Hoffnungen, Wünsche und Träume projiziert werden können, ist jedoch heutzutage ebenso aktuell wie zur Zeit der spanischen Eroberungen. Auch hat die Literatur bis heute ihr eskapistisches Potenzial nicht eingebüßt, wie sich in der verstärkten Rezeption diverser Gattungen der fantastischen Literatur erkennen lässt. Ebendiese Rezeption verdeutlicht jedoch einen weiteren Urtraum des Menschen: die Entdeckung und die Exploration von Neuem und Unbekanntem. Fremde Kulturen können diesen Liebesdienst nur mehr bedingt leisten. Die Liebesbeziehung zwischen Europa und Mexiko wird bestehen bleiben, wenngleich sie offener werden wird. Europa hat nun auch andere Sphären, in denen es mentale Abenteuer und Exotik der anderen Art finden kann. Auch werden politische und gesellschaftliche Veränderungen neue Projektionsflächen eröffnen, die zur Zivilisationskritik herangezogen werden können. Das heutige Europa, das so
Vorwort
sehr um den Verlust seiner Werte und Traditionen bangt, wird in Zukunft vielleicht auch literarisch stärker mit sich selbst beschäftigt sein und möglicherweise verstärkt zu innereuropäischen literarischen Projektionen tendieren. Das Paradies lag eigentlich doch immer im Eigenen, und nun – »ach« – ist es verloren.
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Wir und die anderen: Europa und der Rest der Welt
1.1
Das Eigene und das Andere – von fremden Welten made in EUROPE
Auch heute noch wähnt sich Europa in einer universellen – politischen, ökonomischen und vor allem kulturellen – Vormachtstellung. Diese Vormachtstellung galt es in der Vergangenheit zu etablieren. Ausdruck dessen war das europäische Interesse an der Beschreibung fremder Völker, die den Europäern zur Kategorisierung der außereuropäischen Welt und zur Bestätigung eigener Werte sowie der eigenen Position diente. Die Beschreibung der Fremde impliziert immer auch die Beschäftigung mit der eigenen Kultur, da sie der Bezugspunkt ist, der der Erkundung des Fremden zugrunde liegt. Das europäische Interesse an der Darstellung fremder Völker ist an eine konkrete Prämisse gebunden. Bereits seit der frühen Geschichtsschreibung gibt es eine kritische bzw. eher ablehnende und stereotype Wahrnehmung anderer Völker und Kulturen. Schon bei den antiken Griechen finden sich Darstellungen fremder Kulturen sowie Vergleiche zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Anfänglich spielten sich diese Gegenüberstellungen vor allem zwischen den Griechen und allen Nicht-Griechen, den so betitelten Barbaren ab, später auch zwischen Griechen und Römern bzw. allen Volksgruppen nicht-griechischen und nicht-römischen Ursprungs. Im Mittelalter verschob sich der Fokus der europäischen Völkervergleiche, nunmehr standen einander vor allem christliche und islamische Völker kontrastierend gegenüber. Im Zeitalter des Humanismus entdeckten die verschiedenen europäischen Literaturen ihre eigene Vergangenheit wieder und legten ihr Hauptaugenmerk auf individuelle charakteristische Merkmale, durch die sie sich von anderen Nationen abgrenzen konnten. Eine gängige Vorgehensweise war es, die eigenen Vorzüge durch Negativbeschreibungen anderer Völker und Nationen hervorzuheben. Vor allem ab der französischen Revolution und den sich etablierenden
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Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista
nationalen Schulen ist das Bild anderer Kulturen und Länder nicht nur aus politischen, sondern auch aus literarischen Diskursen nicht mehr wegzudenken.1 Am Beginn des 19. Jahrhunderts erschien in ganz Europa eine Vielzahl an Werken, die sich mit der Fremdwahrnehmung der eigenen Kultur und der Eigenwahrnehmung fremder Kulturen beschäftigten. Ein Großteil des Jahrhunderts war von dem Prozess der europäischen Selbstfindung geprägt. Der Kolonialismus favorisierte eine Gegenüberstellung der eigenen Kultur mit der Fremde, was den Reifungsprozess eines eigenen nationalen Bewusstseins – immer auch in Abgrenzung und im Vergleich zum Anderen – begünstigte und vorantrieb, so auch in den diversen Nationalliteraturen. Schon vor der Ausbildung moderner Nationalstaaten existierten Vorstellungen ethnischer und nationaler Merkmale, aus denen imaginäre kollektive Charaktertypen entstanden, wie sie Franz Stanzel in seiner imagologisch-ethnografischen Studie beschreibt.2 Dank diverser literarischer Realisierungen, sowohl in fiktionalen Genres als auch in Lexika und Enzyklopädien, ergibt sich für uns heute die Möglichkeit zu sehen, dass fixe Bilder des vermeintlichen Nationalcharakters der Völker bereits existierten, bevor die Völker tatsächlich – anlässlich realer politischer oder sozialer Angelegenheiten – in Kontakt zueinander traten. Auch der Realkontakt dient oftmals vor allem der Bestätigung und (persönlichen) Bebilderung bereits bestehender Vorstellungen sowie der Projektion eigener konkreter Ideen und imaginärer Gedankenkonstrukte. Neben der literarischen Beschreibung der Fremde etablierte sich die wissenschaftliche Disziplin der literarischen Imagologie, die sich aus der französischen Komparatistik3 entwickelt hatte, und deren Kernkompetenz die wissenschaftliche Erforschung von mentalen Bildern, Vorurteilen, Stereotypen und Klischees fremder Länder und Kulturen ist. Ihre historische Entwicklung sei hier kurz skizziert, zeugt doch die Etablierung dieser wissenschaftlichen Disziplin von der Relevanz der Thematik der Selbst- und Fremdbildlichkeit in der europäischen Literatur. 1958 vollzieht sich ein wesentlicher Bruch innerhalb der Disziplin, da der amerikanische Literaturwissenschafter René Wellek der Komparatistischen Imagologie vorwirft, eine Hilfswissenschaft für öffentliche Meinungsmache, wenn nicht sogar eine reine Völkerpsychologie zu sein. Welleks Attacke galt der literaturwissenschaftlichen Imagologie, die innerhalb der französischen Literaturkritik rund um Gustave Lanson als wichtiger Aspekt der französischen literature comparée,
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Vgl. Beller, Manfred: »Perception, Image, Imagology«, in: Beller, Manfred; Leerssen, Joep (Hg): Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey. Amsterdam (u.a.): Ropopoi 200, S. 3 u. S. 6 Vgl. Stanzel, Franz K. (Hg.): Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter Verlag 1999 Diese etablierte sich im 19. Jahrhundert.
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der vergleichenden Literaturwissenschaft, entwickelt wurde.4 Dieses von der französischen Komparatistenschule hervorgebrachte Spezialgebiet beschäftigte sich vor allem mit der Erforschung literarischer Bilder des sogenannten anderen Landes. Clemens Ruthner führt bezüglich dieser »Repräsentation des Anderen« an, dass es sich dabei narratologisch um Plot-Elemente, also literarische Motive handelt, die aber auch als Schnittstellen zwischen textgebundenen Diskursen und pictoral funktionierenden Bildwelten angesehen werden können.5 Ruthner bezieht sich in diesen Ausführungen auch auf den deutsch-italienischen Komparatisten Manfred Beller, der in diesem Zusammenhang von »mental imaginations« und Vorstellungsbildern spricht. Jene »national characteristics« sind laut Beller ein Inventar von Bildern und generalisierten Vorurteilen gegenüber den Anderen.6 Im Anschluss an die Auseinandersetzung zwischen der französischen Schule und Wellek bzw. der amerikanischen Fachtradition, die den sogenannten New Criticism vertrat und unästhetische, d.h. historische, soziale und politische Ausrichtungen der Analyse ablehnte, entstand die Aachener Schule rund um den belgischen Literaturwissenschafter Hugo Dyserinck, die vor allem in den 1980er-Jahren ihre internationale literarhistorische Forschung rund um die nationalen images betrieb. Mitunter wurde der Aachener Schule mangelhafte bis aporetische theoretische Reflexion vorgeworfen. In Kombination mit einer positivistischen Vorgehensweise trug sie dazu bei, dass zwar eine gründliche empirische Bestandsaufnahme der vorhandenen Bildwelten erfolgte, das theoretische Defizit dieser Methode ergibt sich aber aus der Tatsache, dass die Forschung sich einzig auf das Sammeln der Stereotypen sowie eine nachträgliche Korrektur konzentrierte. Die grundsätzliche Problematik steckt jedoch in der bereits von Wellek angesprochenen ästhetischen Vermittlungsproblematik, die sich aus dem Umstand ergibt, dass die Disziplin zwischen Literaturgeschichte und Soziologie angesiedelt ist. Manfred Fischer, ein Schüler Dyserincks, betont in diesem Zusammenhang, dass die Forschungsperspektiven auf der Historizität national-imagotyper Systeme, der komplexen (übernationalen) Wechselwirkung sowie der Verortung der nationalen images als Strukturelemente eines ästhetischen Kontextes liegen bzw. weiterentwickelt werden müssen. Eine Entideologisierung nationaler Bilder setzt demnach eine nachhaltige Aufarbeitung ihrer Geschichte voraus. Eine historische Analyse kann also nur unwirksam blei-
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Vgl. Beller, Manfred: Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie. Göttingen: V & R unipress 2006, S. 22 Ruthner, Clemens: »›Stereotype as a Suture‹ Zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Konzeptualisierung ›nationaler‹ Bildwelten«, in: Fassmann, Heinz (Hg.): Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Göttingen: V& R unipress, 2009 Vgl. ibid. S. 305, zitiert nach Beller, Manfred: »Perception, Image, Imagology«, in: Beller; Leerssen: Imagology, S. 6f.
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ben, wenn sie sich im Aufzeigen einzelner Entwicklungsetappen erschöpft oder wahr und falsch als Kriterien der Beurteilung heranzieht.7 Nicht zu vergessen ist, dass es sich bei allen zur Analyse herangezogenen Beschreibungen um fiktionale Elemente und Motive, um Kreationen unserer Fantasie, um Stereotypen und vorgeformte Bilder in unseren Köpfen handelt, die ihrerseits jedoch aufgrund ihrer Wirkungsgeschichte ein Machtpotenzial beinhalten. Wenn Europa über das Andere schreibt, wird es in diesem Moment als das Andere erschaffen. Die Notwendigkeit, die außereuropäische Welt zu beschreiben, ergab sich also aus der besonderen Rolle Europas innerhalb des Weltgeschehens bzw. aus der kulturellen und politischen Vormachtstellung, die es einzunehmen und zu festigen galt. Wenn das Andere klar kategorisiert und klassifiziert sowie auf immer wiederkehrende Motive reduziert ist, wird es fassbarer und kann als Gegenbild zur eigenen Welt stilisiert und für Projektionen herangezogen werden. Die motivische Reduktion ermöglicht eine präzise Einpassung in einen bereits existierenden Erwartungshorizont, der so mit entsprechenden Inhalten befüllt werden kann. Das Fremde dient Europa vor allem der Projektion von kulturimmanenten Vorstellungen, Konzepten und Sehnsüchten, die ihrerseits die Definition des Eigenen ermöglichen. Eine gängige Spielart der europäischen Projektion ist der Exotismus, dessen Funktion Thomas Koebner wie folgt beschreibt: »Was die andere Welt jeweils ausmacht, ist durch den Blickwinkel dessen bestimmt, der dem Eigenen das Andere entgegensetzt. Das Andere soll anders bleiben, um als Projektionsfläche der Wünsche nach vollkommener, unsublimierter Existenz Bestand zu haben.«8 In der Zivilisationsgeschichte Europas wird die andere Welt immer als exotisch – der Begriff ist hier weit gefasst und impliziert sowohl positive als auch negative Konnotationen – stilisiert. Das Eigene wäre nicht das Eigene, hätte es sich nicht durch das Fremde, das gleichhin immer das Andere sein muss, neu definiert und weiterentwickelt. Das Bewerten und Beschreiben des Anderen als Mittel des Dominierens und der Inbesitznahme ist mitunter auch politisches Instrument, wie sich bereits an den frühen Zeugnissen der europäischen Völkerbeschreibungen zeigt. Im Folgenden sind einige ausgewählte Beispiele exemplarisch angeführt. Erste Fremdbilder christlicher Tradierung finden sich im Alten Testament. Bereits die biblische Episode rund um den Auszug aus Ägypten im Buch Exodus zeigt die
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Vgl. Ruthner: »›Stereotype as a Suture‹«, S. 309f, zitiert nach: Fischer, Manfred S.: »Komparatistische Imagologie. Für eine interdisziplinäre Erforschung national-imagotyper Systeme«, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 10 (1979), 30 – 44, hier 31 bzw. 35 Koebner, Thomas; Pickerodt, Gerhart (Hg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Vorwort. Frankfurt a.M.: Athenäum Verlag 1987, S. 7
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stilisierte Unterdrückung des israelischen Volkes durch die Ägypter und seine Errettung durch den Glauben an den einzigen wahren Gott Jahwe.9 Ähnliche Zuschreibungen lassen sich auch für das Volk der Araber vor und während der Kreuzzüge finden. Die »lateinischen Christen« seien, so Ulrich Müller in seinem Artikel »Orient und Okzident in der europäischen Literatur des Mittelalters«, bereits im Mittelalter davon überzeugt, den anderen Völkern – vor allem durch ihren Glauben und ihr Bekenntnis zur »einzigen wahren Religion« – grundsätzlich überlegen zu sein.10 Mit dem von Papst Urban II. geprägten Appell »Deus lo vult« begannen die von Gott gewollten und geforderten Kreuzzüge gegen die Heiden, die entweder getauft oder umgebracht werden sollten.11 Lange Zeit war das Andere vor allem das Nicht-Christliche, das auf dieser Basis stigmatisiert und zum Gegenbild – nicht zuletzt als Mittel der eigenen Bestätigung – instrumentalisiert wurde. Das christliche Dogma ist nicht nur Abbild, sondern auch Instrument der europäischen Kulturgeschichte. Es ist Ausdruck des europäischen Selbstverständnisses. Der Missionierungsgedanke fungierte als Rechtfertigung des Handelns – auch des Mordens und des Zerstörens.12 Eine der ältesten Unterscheidungen der Menschen erfolgt nach ihrem moralischen Verhalten13 . Die Verschmelzung einer streng christlichen Doktrin und der europäischen Dominanzhaltung wird bereits in frühen Kontakten mit außereuropäischen Realitäten augenscheinlich. Marco Polos Reisebericht Il Milione14 etwa zeigt eine Stigmatisierung der Fremde und weist in der Art der Darstellung Analogien zu den späteren Chroniken der spanischen Eroberer auf. Die Religion wird zum zentralen Kriterium der Bewertung und Beschreibung. Marco Polo betont in seinen Ausführungen immer wieder, dass es sich bei der zu beschreibenden Bevölkerung um Heiden handelt, was durch die Darstellung diverser Götzenkulte und kannibalischer Essgewohnheiten hervorgehoben wird: »[…] das Bergvolk ist ungehobelt; es lebt wie die Tiere. Ihr könnt mir glauben: die Eingeborenen in den Bergen verzehren
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Vgl. Die Bibel. Einheitsübersetzung. Das Buch Exodus: Freiburg, Basel, Wien: Herder 1980, S. 50ff. Vgl. Müller, Ulrich: »Orient und Okzident in der europäischen Literatur des Mittelalters – ein Überblick.«, www.uni-salzburg.at/fileadmin/oracle_file_imports/544379.PDF, S. 3 (25.10.2019) Vgl. Müller, Ulrich: »Orient und Okzident in der europäischen Literatur des Mittelalters – ein Überblick.«, S. 4 Ein weiteres Beispiel hierfür findet sich im Buch Exodus, in dem Gott Jahwe den Ägyptern Unheil und Seuchen bringt, die Erstgeborenen der Ägypter und schließlich die Ägypter selbst tötet, die das Volk Israels verfolgen. Dies alles, um das Volk Israels zu befreien und es zu seinem rechten Glauben zu führen. Vgl. Stanzel, Franz: Telegonie – Fernzeugung. Macht und Magie der Imagination. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2008, S. 224 dt. Titel Die Wunder der Welt
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Menschenfleisch; sie essen jede Sorte Fleisch, reines und unreines. Alles mögliche beten sie an.«15 Mehrmals weist Marco Polo darauf hin, dass die verschiedenen Völker mit Vorliebe ihre Toten verspeisen: »Und nun vernehmt noch folgendes: die Einheimischen essen ganz widerliches Zeug. Mit Vergnügen verspeisen sie Menschenfleisch, vorausgesetzt der Mensch sei nicht eines natürlichen Todes gestorben. Das Fleisch der Erschlagenen schmeckt ihnen sehr.«16 So auch die Einwohner im Königreich Dagroian, die ihre Todgeweihten ersticken und später verspeisen: Falls die Zauberer den Hinschied des Patienten voraussagen, schickt die Familie nach den Männern, die ausgewählt wurden, die Todgeweihten hinzurichten. Die Männer kommen, packen den Kranken, pressen ihm etwas auf den Mund, bis er erstickt. Danach wird der Tote gekocht. Alle Verwandten finden sich ein und verspeisen die Leiche. Sie essen sogar das Mark in den Knochen.17 Bereits Marco Polo thematisiert Elemente, die den europäischen Vorstellungen einer paradiesischen Existenz entsprechen. Die sexuellen Gepflogenheiten, vor allem aber auch die Nacktheit der Völker, die sich als Topos etabliert und – Ursprünglichkeit implizierend – Teil eines gesellschaftstheoretischen Utopiemodells wird, stößt bereits bei Marco Polo auf großes Interesse: »Hier herrscht kein König und das heidnische Volk lebt wie die Tiere. Männer und Frauen gehen alle nackt, sie bedecken sich mit gar nichts.«18 Polo berichtet – wie auch später die spanischen Eroberer – sowohl von wilden Tieren als auch von friedfertigen, sanften Menschen und schafft damit bereits die Idee eines paradiesischen, zivilisatorischen Urzustands sowie ein entsprechendes Gegenbild.19 Anders als Kolumbus jedoch, dessen Lebensrealität und Perspektive vor allem durch das christliche Weltbild geprägt sind, ist Marco Polo auf die Ressourcen der Fremde fokussiert. Er berichtet über Gewürze und über die Goldvorräte des fremden Reiches, in dem – wie aus seinen Schilderungen hervorgeht – alles im Überfluss vorhanden ist. Mit seinen Berichterstattungen nährt er die Sehnsüchte der Europäer – mitunter auch die des Kolumbus, der Marco Polos Berichte genauestens studierte. Wie sehr bereits die frühen Völkerbeschreibungen spezielle Sichtweisen und Pardigmen in sich tragen, beschreibt der bulgarisch-französische Wissenschaf-
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Polo, Marco: Die Wunder der Welt. Die Reise nach China an den Hof des Kublai Khan. Übersetzt von Elise Guignard. Zürich: Insel Verlag 20031 , S. 260 Ibid. S. 232 Ibid. S. 264 Ibid. S. 267 Vgl. ibid. S. 204
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ter und Schriftsteller Tzvetan Todorov in seinem Werk On human diversity20 , das er selbst als Weiterführung der konzeptionellen Ideen seiner Publikation Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen21 bezeichnet. Todorov analysiert die Beziehungen zwischen »uns«22 und »den anderen«. Todorov wählt als exemplarisches Beispiel Frankreich und führt weiter an, dass ihm diese Entscheidung aus diversen Gründen als opportun erscheint, nicht zuletzt deshalb, weil Frankreich eine zentrale Position in der europäischen Geistesgeschichte einnimmt. Todorov untersucht, wie verschiedene französische Denker ab dem 17. Jahrhundert das Konzept der Einheit der Menschen und ihrer Beziehung auf der einen Seite sowie das Konzept der Diversität der Menschen auf der anderen Seite in ihren Diskurs mit einbezogen. Sowohl der daraus resultierende Universalismus als auch der Relativismus ist bereits in den frühen Beschreibungen fremder Völker verankert. Das Eigene wird über das Andere gestellt und dementsprechend bewertet. Die Beschreibung anderer Völker wird zur Bestätigung des Eigenen herangezogen. Todorov spricht diesbezüglich von einer relativistischen Instrumentalisierung von Inhalten. Die frühen Völkerdarstellungen weisen also insofern bereits Elemente des Exotismus auf, als ihnen spezielle Denk- und Wahrnehmungsmuster innewohnen, die dem Exotismus als Grundlage dienen, wie etwa die Reduktion des Anderen auf einige wenige divergierende und somit exotische Aspekte. Die Nicht-Beschreibung des Anderen wird zur komparatistischen Konstante. Todorov definiert das Konzept des Exotismus wie folgt: But the way we have come to define exoticism in the abstract indicates that what is at issue here is less a valorization of the other than an act of self-criticism, less the description of a reality than the formulation of an ideal. No one is intrinsically other; an individual is »other« only because he is not myself. By saying of him that he is other, I have not yet really said anything at all; worse I know nothing about him and do not want to know anything, since any positive characterization of him would keep me from confining him to the purely relative category of otherness.23 Das Andere als europäische Erfindung ist demnach anfänglich vor allem ein Spiegel, entwickelt sich aber je nach Möglichkeit und mythologischem Potenzial zu einer konkreten Projektionsfläche und mitunter zu einem zivilisatorischen Kritikinstrument, wie am Beispiel Mexikos zu beobachten ist, das sich in der literarischen Verarbeitung als perfekte Spielart des Primitivismus entwickeln konnte. Die primitivistische Komponente findet sich nicht nur bei Kolumbus, wie nachstehend er20 21 22 23
Todorov, Tzvetan: On human diversity. Nationalism, racism, and exoticism in French thought. Übersetzt von Catherine Porter. Cambridge, Massachusetts, London: Harvard University Press 1993 Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas. Das Problem der Anderen. Übersetzt von Wilfried Böhringer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1985 Gemeint sind hier die Europäer. Todorov: On human diversity, S. 264
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läutert wird, sondern in reduzierten Ansätzen auch bei den spanischen Eroberern, vor allem aber bei den vermeintlichen Entdeckern Amerikas. Ein Beispiel dafür sind die Beschreibungen des Amerigo Vespucci, der Amerika einen paradiesischen Charakter zuspricht, weil die Menschen ohne Gewalt, ohne Hierarchien, ohne Besitz und sexuelle Tabus sowie ohne Religion und daher im Einklang mit der Natur leben und somit ein Pendant zur sogenannten zivilisierten Welt darstellen.24 Das Andere wird in den diversen literarischen Verarbeitungen bewusst als solches stilisiert und in weiterer Folge instrumentalisiert. Europa konstruiert sich seine Fremde selbst und schafft sich somit eine eigene Ordnung der Welt, in deren Zentrum es sich positionieren kann. Es operiert dabei stets mit einer binären Opposition: Wir und die anderen, Europa – und die restliche fremde und andere Welt.
1.2
Der Eurozentrismus – ein europäisches Phänomen?
Dass der Eurozentrismus ein europäisches Phänomen ist, impliziert bereits der Begriff an sich. Wozu also die Frage? Sie zielt vor allem darauf ab, inwiefern sich der Eurozentrismus vom Ethnozentrismus unterscheidet und welche Konsequenzen sich aus dieser Unterscheidung ergeben. Das europäische Selbstbild und das daraus resultierende kulturelle Selbstverständnis sind, wie im vorhergehenden Kapitel skizziert, durchaus speziell. Sie fungieren in gewisser Weise als Basis und Motor für die Entwicklung hin zum Eurozentrismus. Aus der Kritik am Eurozentrismus sowie den Prozessen der Kolonialisierung entstanden verschiedene Strömungen und Denkansätze, die sich als postcolonial oder decolonial studies im akademischen Kontext etablierten. Was die beiden Strömungen eint, ist die Auflehnung gegen koloniale Herrschafts- und Denkstrukturen, die in unterschiedlichsten Ausprägungen weiter andauern. Die postkolonialen Studien entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie stellen eine Auseinandersetzung mit postkolonialen Gesellschaften und kolonialen Kontinuitäten dar und haben das Ziel, ein Bewusstsein für das Fortbestehen imperialistischer Strukturen in verschiedenen Lebensbereichen zu schaffen. Die postkoloniale Perspektive impliziert die kritische Aufarbeitung von Themen des Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus sowie deren (ideologische) Rechtfertigungsdiskurse. Der Begriff postkolonial bezieht sich dabei nicht nur auf den Zeitraum nach der tatsächlichen Kolonialisierung, sondern hat auch eine epistemische Dimension, da er die Kontinuität der imperialen Herrschaftsbeziehungen und Formen verdeutlicht. Im Fokus steht die Kritik am Ethno- und Eurozentrismus der westlichen Welt sowie der naturalisierten Auffassung der Überlegenheit der westlichen Kulturge24
Todorov: On human diversity, S. 266f.
1 Wir und die anderen: Europa und der Rest der Welt
schichte. Dabei wird verdeutlicht, dass die sozialen, politischen und ökonomischen hierarchischen Verhältnisse sowie das kulturgeschichtliche Verständnis bzw. die sich daraus ableitenden Legitimationen nicht natürlich gegeben sind, sondern als konstruiert gelten müssen. Auch wenn es bereits davor diverse postkoloniale Denkansätze gab, war das 1978 erschienene Werk Orientalism des amerikanisch-palästinensischen Literaturtheoretikers Edward Said wegweisend für die weitere Entwicklung der postkolonialen Theorie. Said zeigt in seinem diskursanalytischen Vorgehen – unter Anwendung des Diskurskonzeptes von Michel Foucault – die Zusammenhänge zwischen Wissen und Macht in der Herrschaftsbeziehung zwischen Europa und dem Orient. Für Foucault ist der Diskurs kein rein linguistisches Phänomen, sondern eine Form von struktureller Macht und Kontrolle. Unter Orientalismus versteht Said einen über Jahrhunderte entstandenen und verfestigten Bildkomplex als Konzept einer anderen Kultur. Er erläutert, inwiefern die akademische Disziplin des Orientalismus aus dem europäischen Imperialismus resultiert und den Orient als zu beherrschendes Subjekt erst konstruiert.25 Die Begriffsbildung des sogenannten Orient ergibt sich aus einer westlich-europäischen Erfahrung. Er wird zum symbolischen Ort bzw. Topos der europäischen Erfahrung, wobei die Erfahrung hier kein authentisches Erleben, sondern spezifische Werturteile meint. Der Orient diente Europa dazu, sich selbst zu definieren. Der Orientalismus ist laut Said ein westlicher Stil, den Orient zu gestalten und dadurch zu beherrschen. Er muss als Diskurs – im Sinne Foucaults – aufgefasst werden, um zu begreifen, wie systematisch Europa den Orient politisch, wirtschaftlich, ideologisch und wissenschaftlich vereinnahmt und ihn so erst als Konstrukt erschaffen hat. Orient und Okzident sind keine Naturgegebenheiten. Said spricht in diesem Kontext von einer »imaginären Geographie«, die die (westliche) Orientalisierung des Orients mit sich brachte.26 Der Orient wird zur Projektionsfläche des Okzidents und kann nur in der Differenz zum europäischen – also zum kolonialen – Subjekt bestehen. Auch dieser Tatbestand, so Müller-Funk in diesem Kontext, sei undenkbar ohne den kolonialen Status.27 Kritisch beurteilt wurde Saids Homogenisierung der Orientwissenschaften, weil dadurch die Hegemonisierung des Nahen und Mittleren Ostens sowie Indiens nicht berücksichtigt werden konnte. Auch ging er in seinen Analysen von einer langen Kontinuität der Orientbilder aus, ohne etwaige Brüche und Wandlungen zu thematisieren. Darüber hinaus operierte Said selbst in seiner Argumentation mit
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Vgl. Said, Edward W.: Orientalismus. Übersetzt von Hans Günther Holl. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlage 2009, S. 22f. Vgl. ibid. S. 65 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Theorien des Fremden. Tübingen: A. Francke Verlag 2016. S. 196
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binären Oppositionen und setzte dem diskursiv hergestellten Orient einen vermeintlich realen Orient entgegen. Die Pionierleistung Saids, auf die Müller-Funk verweist, besteht jedoch darin, dass er seine Disziplin der vergleichenden Literaturwissenschaft verlässt und auf den politischen Hintergrund der Bildkonstruktion anderer Kulturen und die daraus resultierende Diskursformierung hinweist.28 In der postkolonialen Theorie geht es in der Folge darum, zu verdeutlichen, wie wichtig die Anerkennung der Verstrickung im kolonialen Machtgefüge ist, um dekolonisierende Praktiken zu entwickeln. Privilegien und Machtpositionen erscheinen oftmals als natürlich gegeben, müssen jedoch kritisch hinterfragt werden. Für eine dekoloniale Perspektive muss ein Prozess der Deprivilegierung erfolgen. In dekolonialen Ansätzen und Theorien geht es um die Entwicklung eines kolonialen Gedächtnisses. Sie thematisieren und kritisieren vor allem konkrete (lokale) materielle Auswirkungen des Kolonialismus und fortwirkende Machtkonstellationen. Nicht-eurozentrisches Wissen und Denken wird eurozentristischen Machtstrukturen, Wissensproduktionen und Denkansätzen gegenübergestellt, um diese kritisch zu hinterfragen und in weiterer Folge zu dekonstruieren. Der peruanische Soziologe Aníbal Quijano definiert den Eurozentrismus als einzigartiges Modell der Macht und Vorherrschaft, das sich durch die Eroberung Amerikas und die Neudefinition von sogenannten Rassenkonzepten weltweit etablieren konnte: Two historical processes associated in the production of that space/time converged and established the two fundamental axes of the new model of power. One was the codification of the differences between conquerors and conquered in the idea of »race«, a supposedly different biological structure that placed some in a natural situation of inferiority to the others. The conquistadors assumed this idea as the constitutive, founding element of the relation of domination that the conquest imposed. On this basis, the population of America, and later the world, was classified within the new model of power.29 Die Verbindung aus kolonialem Ethnozentrismus und einer universell angelegten Klassifikation von Rassen erklärt laut Quijano, wie bzw. warum der Eurozentrismus sich als natürliches Wertesystem etablieren konnte: »The association of colonial ethnocentrism and universal racial classification helps to explain why Europeans came to feel not only superior to all the other peoples of the world, but, in particular, naturally superior.«30 Die hierarchische Klassifizierung der Bevölkerung nach Rassen
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Vgl. Müller-Funk: Theorien des Fremden, S. 205 Quijano, Aníbal: »Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America«, in: Dussel, Enrique; Jáuregui; Carlos A.; Moraña, Mabel (Hg.): Coloniality at Large. Latin America and the Postcolonial Debate. Durham & London: Duke University Press 2008, S. 182 Ibid. S. 189f.
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dient als Legitimation für Eroberung und Domination. Bereits bestehende Vorstellungen und Werte konnten, wie Quijano ausführt, durch die Kolonialisierung Amerikas bestätigt und konkretisiert werden: In America, the idea of race was a way of granting legitimacy to the relation of domination imposed by the conquest. After the colonization of America and the expansion of European colonialism to the rest of the world, the subsequent constitution of Europe as a new id-entity needed the elaboration of a Eurocentric perspective of knowledge, a theoretical perspective on the idea of race as a naturalization of colonial relations between Europeans and non-Europeans. Historically, this meant a new way of legitimizing the already old ideas and practices of relations of superiority/inferiority between dominant and dominated.31 Der Kapitalismus und die (koloniale) wirtschaftliche Vormachtstellung ermöglichten Europa auch eine geistige bzw. kulturelle Dominanz, die auf die ganze Welt ausgedehnt werden konnte. Quijano spricht von einem einzigartigen und weltumfassenden Herrschaftsmodell: »As the center of global capitalism, Europe not only had control of the world market, but it was also able to impose its colonial dominance over all regions and populations of the planet, incorporating them into its world-system and its specific model of power.«32 Was den Eurozentrismus demnach grundsätzlich vom Ethnozentrismus unterscheidet, ist die Annahme, die historische Entwicklung Europas sei ein autonomer Prozess, der sich aus der natürlichen universellen Vormachtstellung ergebe, sowie der Glaube an eine natürliche (biologische) Überlegenheit: The perspective imagined modernity and rationality as exclusively European products and experiences. From this point of view, intersubjective and cultural relations between Western Europe and the rest of the world were codified in a strong play of new categories: East – West, primitive – civilized, magic/mythic – scientific, irrational – rational, traditional – modern – Europe and not Europe. Even so, the only category with the honor of being recognized as the other of Europe and the West was »Orient« – not the Indians of America and not the blacks of Africa, who were simply »primitive«. For underneath that codification of relations between Europeans and non-Europeans, race is, without doubt, the basic category. This binary, dualist perspective on knowledge, particular to Eurocentrism, was imposed as globally hegemonic in the same course as the expansion of European colonial dominance over the world.
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Quijano: »Coloniality of Power, Eurocentrism and Latin America«, S. 188 Ibid. S. 183
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It would not be possible to explain the elaboration of Eurocentrism as the hegemonic perspective of knowledge otherwise. The Eurocentric version is based on two principal founding myths: first, the idea of the history of human civilization as a trajectory that departed from a state of nature and culminated in Europe; second, a view of the differences between Europe and non-Europe as natural (racial) differences and not consequences of a history of power. Both myths can be unequivocally recognized in the foundations of evolutionism and dualism, two of the nuclear elements of Eurocentrism.33 Ähnlich wie Quijano führt auch der argentinische Philosoph und Historiker Enrique Dussel in seinem Essay »Beyond Eurocentrism: The World-System and the Limits of Modernity« an, dass Europa seine Entwicklung grundsätzlich in Autonomie zum Rest der Welt sieht. Dies werde etwa auch in der historischen Dreiteilung in griechisch-römische Antike, Mittelalter – wieder mit semantisch-begrifflicher Konnotation – und Moderne augenscheinlich. Letztere sei insofern von besonderer Relevanz, da Europa hier die vermeintliche Nachfolge der Antike antrete. Auch Dussel verweist auf die Wichtigkeit der Entdeckung Amerikas für die europäische (Kultur-)Geschichte, da sie Europa einen materiellen und kulturellen Vorsprung sicherte, der es ermöglichte, die Moderne als solche zu erfinden. Dussel setzt die Moderne mit einem planetarischen Paradigma gleich, das nicht als unabhängiges System gesehen werden kann, sondern Europa in dessen Zentrum vorsieht: Modernity is not a phenomenon of Europe as an independent system, but of Europe as »center«. This simple hypothesis absolutely changes the concept of modernity, its origin, development and contemporary crisis, and thus, also the content of the belated modernity and postmodernity. In addition, we submit a thesis that qualifies the previous one: the centrality of Europe in the »world-system« is not the sole fruit of an internal superiority accumulated during the European Middle Ages over against other cultures. Instead, it is also the fundamental effect of the simple fact of the discovery, conquest, colonization, and integration (subsumption) of Amerindia. This simple fact will give Europe the determining comparative advantage over the Ottoman-Muslim world, India and China. Modernity is the fruit of these events, not their cause. Subsequently, the management of the centrality of the world-system will allow Europe to transform itself in something like the »reflexive consciousness« (modern philosophy) of world history; […]34 Das neu entstandene Weltsystem fußt laut Dussel auf drei wesentlichen Säulen: dem Kolonialismus als Machtinstrument, dem dadurch erst ermöglichten Kapita33 34
Quijano: »Coloniality of Power, Eurocentrism and Latin America«, S. 190 Dussel, Enrique: »Beyond Eurocentrism: The World-System and the Limits of Modernity«, in: Jameson, Fredric; Miyoshi, Masao (Hg.): The Cultures of Globalization. Durham und London: Duke University Press 1998, S. 4f.
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lismus und dem Eurozentrismus als dominierendem Wertemaßstab.35 Der Eurozentrismus versteht sich laut Dussel als hegemonische Wissens- und Wertperspektive, deren systematische Formation im 17. Jahrhundert beginnt, deren Wurzeln jedoch tief in der Vergangenheit verankert sind.36 Anders als in den postkolonialen Studien sprechen die dekolonialen TheoretikerInnen von der Kolonialität, um das Fortdauern von kolonialen Machtstrukturen und Diskursen zu verdeutlichen. Der Begriff geht auf Quijano zurück. Die Kolonialität sei auch am kulturellen Selbstverständnis Lateinamerikas zu beobachten: The Eurocentric perspective of knowledge operates as a mirror that distorts what it reflects, as we can see in the Latin American historical experience. That is to say, what we Latin Americans find in that mirror is not completely chimerical, since we possess so many and such important historically Europeans traits in many materials and intersubjective aspects. But in the same time we are profoundly different. Consequently, when we look in our Eurocentric mirror, the image that we see is not just composite, but also necessarily partial and distorted. Here the tragedy is that we have all been led, knowingly or not, wanting it or not, to see and accept that image as our own and as belonging to us alone. In this way, we continue being what we are not.37 Nur ein radikaler Bruch mit allem Europäischen bzw. Westlichen – auch mit der Vergangenheit – könne eine Veränderung der kolonialen Machtstrukturen bewirken. Dussel entwickelt dafür etwa das Konzept der Transmoderne. Die Moderne solle nicht als abgeschlossener Prozess bezeichnet werden. Die verschiedenen Arten der Moderne müssten anerkannt und eine pluriversale dezentrale Moderne solle entworfen werden, in die auch die Geschichte der Anderen miteinbezogen werde.38 Noch weiter geht der argentinische Literaturwissenschafter Walter Mignolo in seinem Werk Epistemischer Ungehorsam, in dem er die vorherrschenden Machtstrukturen, die Kolonialität und das okzidentale Denken im Allgemeinen kritisiert.39 Dussels Konzept der Transmoderne dient ihm als theoretische Grundlage seiner Thesen. Mignolo geht es um einen Ungehorsam gegenüber einer epochalen Wissensformation und deren Bedeutung für die kulturgeschichtliche Konzeptualisierung
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Quijano: »Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America«, S. 549 Vgl. ibid. S. 545 Ibid. S. 556 Vgl. Dussel, Enrique: »Transmodernity and Interculturality: An Interpretation from the Perspective of Philosophy of Liberation« , https://enriquedussel c.om/txt/Transmodernity%20 and %20Interculturality.pdf (10.11.2019) Mignolo, Walter: Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität. Aus dem Spanischen und eingeleitet von Jens Kastner und Tomas Waibel. Wien – Berlin: Verlag Turia + Kant 2012. S. 13
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der Welt. Der von ihm geforderte Ungehorsam zielt demnach auf die Möglichkeiten anderer Wissensgefüge ab. Die Wissensproduktion wurde laut Mignolo auf der christlich-katholischen Theologie errichtet und konnte durch die Eroberung Amerikas weiter expandieren. Die Epistemologie gewinnt hier insofern an politischer Brisanz, als das Christentum als theologisches System angesehen wird, das für sich Geschlossenheit und absoluten Geltungsanspruch einfordert, im Rahmen der Eroberung Amerikas missionarisch verbreitet wird und »eine universale Integration der Wissensbestände behauptet«.40 Der Begriff der Wahrheit müsse grundsätzlich hinterfragt werden, da man von da aus denke, wo man sei, was eine subjektive Perspektive impliziere – im Falle Europas mit universalem Geltungsanspruch. Wenn die Denkweisen als ortsspezifisch erfasst werden würden, so Kastner und Waibel im Vorwort, verlören diese ihren universellen Anspruch und müssten sich »Gültigkeit und Legitimität« stets neu erwerben.41 Für Mignolo ist dieses »Grenzdenken« demnach eine Möglichkeit zur Dekolonialisierung des Denkens, denn durch die Erkenntnis, dass die Identität auf der willkürlichen Wahrnehmung der Verschiedenheit beruht, erscheinen auch die Anderen nicht mehr als unterworfen, sondern als Personen, »deren Identität durch die Grenze einer kolonialen Verwunderung markiert ist«.42 Mignolo plädiert für ein kritisches Hinterfragen von bisher überlieferten (europäischen) Wertvorstellungen sowie der Vormachtstellung Europas. Ziel seines Dekolonialisierungspostulats ist also eine generelle Entkoppelung vom okzidentalen Denken. Ähnlich wie Dussel kritisiert auch Mignolo die Moderne. Er bezieht sich dabei aber nicht auf Dussels Philosophie der Befreiung, sondern auch auf den AfroKariben Eric, der sich mit den Themen »Kapitalismus« und »Sklaverei« im Rahmen der Kolonialisierungspolitik beschäftigt. Mignolo kommt ähnlich wie Dussel zu dem Schluss, dass die Moderne als Konzept nicht ohne die Kolonialität bestehen kann: »In der Karibik zeigt sich, dass die Moderne nicht nur auf die Kolonialität angewiesen ist, sondern dass sie für die Moderne konstitutiv war und ist: Ohne Kolonialität gibt es keine Moderne.«43 Alternativen zur Moderne seien in ihrem begrifflichen und affektiven Rahmen undenkbar. Die Alternative zur Moderne setze eine Entkoppelung voraus.44 Zur Entkoppelung bzw. Dekonstruktion der Kolonialität gilt es nach Mignolo mit allen europäischen Denktraditionen zu brechen, nicht nur mit dem Christentum und dem Liberalismus, sondern auch mit kritischen linken Stimmen, die in ihrem Ursprung europäisch sind. Dass dies nicht ohne Schwierigkeit möglich ist,
40 41 42 43 44
Vgl. Mignolo: Epistemischer Ungehorsam, S. 28 Vgl. ibid. S. 24f. Vgl. ibid. S. 29 Vgl. ibid., S. 29 Vgl. ibid. S. 118
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wird bei Mignolo selbst ersichtlich, denn obwohl er sich vom Marxismus abwendet, bezieht er sich in seinen Ausführungen immer wieder auf den peruanischen Sozialisten José Carlos Mariátegui sowie den Antikolonialisten Frantz Fanon. Die theoretischen Ansätze von Mariátegui und Fanon gelten Mignolo als Vorbereitung für den epistemischen Bruch. Beide Denker orientieren sich jedoch stark an der europäischen Aufklärung, auch wenn sie ihren Universalismus in Anbetracht der sozialen, ökonomischen und kulturellen Situation ihrer Länder (Peru und Algerien) kritisieren. Auch bekennen sich beide klar zum Marxismus, den Mignolo in seinen Ausführungen nicht erwähnt.45 Die Schwierigkeiten, die sich aus Dussels Postulat und dessen Anspruch, mit allen europäischen Denktraditionen zu brechen, ergeben, sprechen für sich. Neben anderen möglichen Kritikpunkten sei aber vor allem darauf hingewiesen, dass auch Dussel und mit ihm andere dekoloniale TheoretikerInnen in ihrer Argumentation in der Dichtomie von wir und die anderen bleiben. Auf der einen Seite steht die eurozentristische Verzerrung, auf der anderen das wahre und eigentliche Lateinamerika, das als solches jedoch nicht existiert, da es durch die Geschichte seiner Kolonisierung mit Europa verbunden ist – und es auch bleibt. Auf diese Verbindung bzw. die Vermischung von Kulturen wird in den postkolonialen Studien mitunter hingewiesen. In dem 1994 erschienenen Werk Die Verortung der Kultur vertritt der indische Literaturtheoretiker Homi K. Bhabha den Standpunkt, dass die Kolonialisierung nicht nur Spuren beim Kolonisierten, sondern auch beim Kolonialisierenden hinterlässt. Der Kulturtransfer vollzieht sich in beide Richtungen, die Folgen sind für beide Seiten irreversibel. Durch die Kolonialisierung verändern sich beide Kulturen, wenngleich auf unterschiedliche Art und Weise. Das Konzept einer reinen oder essenziellen Kultur wird infrage gestellt und Bhabha verwendet den Begriff der kulturellen Hybridität oder Hybridisierung. Er geht davon aus, dass Begriffe wie »Postmoderne, Postkolonialität, Postfeminismus« nicht als Ausdruck einer Abfolge – im Sinne eines Nach-Feminismus – oder einer Polarität – im Sinne einer Anti-Moderne – gedeutet werden sollten, sondern auf ein »Darüber-hinaus« verweisen. Die Bedeutung der postmodernen Situation ist also in der Erkenntnis begründet, dass die epistemologischen Grenzen von eurozentristischen Ideen auch die artikulatorischen Grenzen anderer dissonanter und dissidenter Geschichten und Stimmen (wie etwa Frauen, Kolonialisierte, Minderheitengruppen etc.) sind. Die Grenze wird laut Bhabha zu einem Ort, von woher etwas sein Wesen beginnt. Dies geschieht jedoch in einer Bewegung, die dem unsteten, ambivalenten Charakter der Verbindung ähnelt. Konzepte wie homogene nationale Kulturen, die auf Konsens beruhen, und auch die Übermittlung historischer Traditionen sowie »organisch« gewachsene ethnische Gemeinschaften
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Vgl. Mignolo: Epistemischer Ungehorsam, S. 35
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müssten grundlegend neu definiert werden.46 Beim Zusammentreffen von Kulturen entsteht für Bhabha der sogenannte dritte Raum, in dem die Kulturen sich wandeln. Durch die gegenseitige Beeinflussung würden kulturelle Aspekte angenommen oder gar verändert. Ursprüngliche Machtgefälle lösen sich auf. Der dritte Raum wird laut Bhabha zum Ort, an dem die Hybridisierung stattfinden kann und in dem es keine stärkere bzw. dominante oder schwächere Kultur gibt.47 Bhabha geht weiters davon aus, dass der koloniale Diskurs niemals uniform und nur autoritär ist, sondern in sich auch Widersprüche und Ambivalenzen birgt. Zentral für die Konstruktion des Stereotyps ist der Prozess der Ambivalenz, der gerade im kolonialen Diskurs von besonderer Relevanz ist. Durch das Stereotyp werde nicht nur eine asymmetrische Machtkonstellation fixiert. Die Ambivalenz der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern im Sinne einer Anziehung und Abwehr sowie einer Identifizierung und Distanzierung sichere seine »Wiederholbarkeit in sich wandelnden historischen und diskursiven Zusammenhängen«48 . Diese ambivalenten Momente, von denen Bhabha hier spricht, sind auch in der Konstruktion der Mexikobilder zu beobachten. Bhabha schließt zwar teilweise an die Theorien Saids an, geht jedoch über diese hinaus, da Said die Verstrickung beider Seiten in den Prozess außer Acht lässt. Das Stereotyp funktioniert laut Bhaba ähnlich einem Fetisch, der koloniale Fetisch unterscheidet sich jedoch vom sexuellen. Er ist nicht der »gute« Gegenstand und wird dadurch begehrenswert. Die Beziehung zwischen Kolonialherren und Kolonisierten ist jedoch nicht grundsätzlich hasserfüllt und reicht vom loyalen Diener zum Teufel und vom Geliebten bis zum Gehassten.49 Resümierend kann gesagt werden, dass die postkoloniale Theorie auf die Wirkmächtigkeit des kolonialen Wissens – im Sinne eines Wissensdiskurses – hinweist, welches eurozentristisch und essenzialistisch aufgeladen ist. Daraus resultiert das Bewusstsein, dass jede Aussage ihrem Entstehungsort verpflichtet ist. Die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak weist in ihrem 1988 erschienen Werk Can the Subaltern Speak etwa auf die Situation und Perspektive der Subalternen hin. Da diese – aufgrund eines übermächtigen westlichen Herrschaftssystems – gesellschaftlich marginalisiert sind, sind sie sprachlos bzw. ihre Sprache bleibt ungehört oder wird missverstanden. Sie können nicht sprechen – also in keinen Diskurs eintreten –, da sie im Grunde keine eigene Materie, sondern vielmehr ein Effekt aus einem kolonialen Machtgefüge sind und somit nicht als Diskurspartner anerkannt werden.
46 47 48 49
Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Aus dem Englischen von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenberg Verlag, 20112 , S. 6f. Vgl. ibid. S. 56ff. Vgl. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 98 Vgl. ibid. S. 116
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Auch westliche Wissenschaften übernehmen bzw. thematisieren zunehmend die dekoloniale bzw. vor allem die postkoloniale Perspektive. Der Soziologe Julian Go schlägt in seinem Buch Postcolonial Thought and Social Theory eine postkoloniale Neuausrichtung der Sozialwissenschaften vor, die bisher mitunter dafür benutzt wurden, die Inferiorität des Großteils der Menschen zu bezeugen.50 Go erläutert, inwiefern auch die Sozialwissenschaften Teil bzw. Instrument des westlichen Herrschaftsgefüges sind. Die postkolonialen TheoretikerInnen teilt Go in zwei Gruppen ein. Die erste Welle, wie er sie nennt, markiert die antikoloniale Revolution bzw. den antikolonialen Kampf. Die koloniale Erfahrung wird theoretisiert und die Subjektivität der Kolonisierten rückt ins Zentrum der Betrachtung. Sie ermöglichte dadurch die kritische Hinterfragung der bisher ungesehenen Logik des Kolonialismus. Es entsteht ein Bewusstsein dafür, dass der Kolonialismus ein System aus hierarchischen sozialen Positionen und Praktiken ist, das eine Fülle an Machtverhältnissen und -strukturen impliziert. Als VertreterInnen nennt Go unter anderem W. E. B. Du Bois, Aimé Césaire, Frantz Fanon, Amílcar Cabral und prominente politische Aktivisten wie Mahatma Gandhi und Kwame Nkrumah.51 Die zweite Welle bezeichnet Go als akademischen Aufstand, wobei es nicht so sehr um die Etablierung einer neuen akademischen Disziplin, sondern um eine neue Art des Denkens gehe. Go erläutert die Ansätze Saids, Bhabhas und Spivaks. Die Positionen der PostkolonialistInnen würden es vermögen, das imperiale Wissen zu zerstreuen und alternative Arten der Repräsentation aufzuzeigen.52 An den Sozialwissenschaften ist laut Go, ähnlich wie an vielen anderen Wissenschaften, der epistemische Hochmut zu kritisieren, der blind für die Tatsache macht, dass eine Theorie nicht für alle stehen kann. Der Hochmut gehe auf den Glauben zurück, die ganze Welt zu kennen. Der Weg müsse also weg vom (wissenschaftlichen) Rationalismus und hin zu einem neuen, nicht imperialen Standpunkt führen.53 Da das Wissen um die postkoloniale Perspektive nunmehr existiere, müsse es auch in die Theorie einfließen. Go plädiert einerseits für einen postkolonialen Relationismus, durch den die kolonialisierte und die koloniale Gesellschaft sowie die diversen Erfahrungen verbunden werden. Das Ziel ist ein gemeinsames Sehen von Dingen, die bisher nur getrennt betrachtet wurden. Auch schlägt er eine pluriverse Perspektive vor, bei der man von einem Standpunkt – nicht aber einer Position der herrschenden Schicht – ausgeht und diesen dann erweitert. Dadurch könne unterdrücktes Wissen sichtbar gemacht werden. Wichtig dabei sei, sich bewusst zu machen, dass das Wissen bzw. die Wahrheit immer von der Perspektive
50 51 52 53
Vgl. Go, Julian: Postcolonial Thought and Social Theory. New York: Oxford University Press 2016, S. 32 Vgl. ibid. S. 20ff. Vgl. ibid. S. 59ff. Vgl. ibid. S. 104ff.
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des Betrachters abhänge. Wissen kann also immer nur in einem (kleinen) Teilbereich objektiv sein. Go spricht in diesem Zusammenhang von einem perspektivischen Realismus, der impliziert, dass Theorien nicht ohne Weiteres generalisiert werden können.54 Abschließend präsentiert Go den Vorschlag einer dritten postkolonialen Strömung: Dabei gehe es vor allem darum, den postkolonialen Einfluss zu verdeutlichen und abzustecken sowie neue Wissensformen zu imaginieren. So unterschiedlich die hier behandelten Ansätze auch sein mögen, es eint sie die Kritik am europäischen System der Dominanz, das sich im Umgang mit dem Anderen auch in der Konstruktion des literarischen Mexikobildes zeigt. Die von Bhabha thematisierte Ambivalenz in der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern, die zwischen Anziehung und Abwehr oszilliert und die Wiederholbarkeit der Bilder in sich wandelnden historischen und diskursiven Kontexten gewährleistet, ist auch für die Stilisierung Mexikos als literarische Projektionsfläche und literarischer Sehnsuchtsort zu beobachten: Das Bild, das immer wieder ins Gegenbild kippt, die Stilisierung Mexikos als locus amoenus und locus terribilis – die mexikanische Geliebte, die begehrenswert und furchteinflößend, sogar abstoßend sein kann. Der kulturelle Einfluss Europas prägt auch das Selbstbild Lateinamerikas. In der lateinamerikanischen Literatur selbst ist die Hybridität – im Sinne einer Vermischung der europäischen und der lateinamerikanischen Kultur – zu beobachten. Ein Beispiel für eine eigenständige mexikanische Weiterführung der europäischen Moderne ist etwa das Werk des mexikanischen Schriftstellers Octavio Paz. In seinem Werk Das Labyrinth der Einsamkeit beschäftigt er sich mit dem mexikanischen Selbstfindungsprozess und entwirft ein Bild der mexikanischen Mentalität und des Mexikanertums, das sich seiner Meinung nach aus der Geschichte des Landes erklären lässt. Paz thematisiert zwar den Eurozentrismus als universelles Phänomen nicht dezidiert, führt aber an, dass sich die Europäer ein widersprüchliches Bild der Mexikaner machten, da Mexiko für Europa ein Land am Rande der Geschichte und daher unergründlich war.55 Auch orientiere sich der Mexikaner vorrangig an universalen Ideen und könne dadurch nicht er selbst sein: Wie haben wir Mexikaner die universalen Ideen gelebt? […] Wir Mexikaner haben keine Form geschaffen, die Ausdruck unserer selbst wäre. Daher kann die Mexikanität mit keiner Form oder konkreten Richtung sich identifizieren: sie ist ein Schwanken zwischen verschiedenen universalen Entwürfen, die nacheinander
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Vgl. Go: Postcolonial Thought and Social Theory, S. 149ff. Vgl. Paz, Octavio: Das Labyrinth der Einsamkeit. Übersetzt von Carl Heupel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch 1998, S. 70
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uns aufgetragen oder auferlegt wurden, uns aber heute nichts mehr zu sagen haben. Die Mexikanität ist demnach eine »Weise, uns nicht selbst zu sein«, die oft wiederholte »Art, anders zu sein und anders zu leben«.56 Paz stimmt in seinen Ausführungen dem Historiker Eduardo O’Gormann zu, der meint, dass Amerika eine Erfindung des europäischen Geistes und somit eine Utopie ist. Die abendländische Kultur werde, so Paz, in Lateinamerika als höhere Einheit gesehen. Der amerikanische Kontinent sei lediglich eine Aktualisierung des europäischen Geistes. Durch die Bewusstwerdung dieser Tatsache erst könne Lateinamerika zu sich selbst finden.57 Auch die lateinamerikanische literarische Strömung des magischen Realismus kann als Produkt eines hybriden Kulturtransfers gelten, da seine Existenz dem kulturellen Austausch zwischen Europa und Lateinamerika geschuldet ist. Wie der Kulturwissenschafter Michael Rössner in seinem Werk Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies58 beschreibt, hat sich Europa seit der Eroberung Amerikas als Konstante im lateinamerikanischen Kulturleben institutionalisiert. Lateinamerika war bemüht, sich vom europäischen Vorbild zu lösen und das Hauptaugenmerk auf die Besonderheiten der eigenen Kultur zu legen. Dadurch vollzog sich eine bewusste und verstärkte Hinwendung zum Erbe der einheimischen Kultur und eine Stilisierung der indigenen Bevölkerungsgruppe zur nationalen Identifikationsfigur. Die Betonung des Mythisch-Magischen war in Lateinamerika jedoch grundsätzlich anders besetzt als in Europa. Während es in Lateinamerika an gewisse Bevölkerungsgruppen geknüpft war und dem nationalen und kontinentalen Identitätsfindungsprozess diente, war der europäische Exotismus und die ihm inhärente Stilisierung des Mythisch-Magischen Ausdruck eines dekadenten Überdrusses an der europäischen (Über)-Zivilisation. Der literarische Identitätsfindungsprozess Lateinamerikas war jedoch insofern doppelt europäisch inspiriert, dass sich die lateinamerikanischen LiteratInnen bei den ersten Versuchen, mythisch-magische Bewusstseinselemente der indigenen Bevölkerung zu übernehmen, sowohl an europäischen Wissenschaften wie Ethnologie und Anthropologie als auch an europäischen Avantgardeströmungen orientierten. Von besonderer Relevanz war dabei der Surrealismus, den viele lateinamerikanische AutorInnen dank ihrer Studienreisen nach Frankreich bzw. Europa sowie durch die Lektüre französischer Zeitschriften kannten. Aufgrund der sprachlichen und sozialen Barrieren bestand zudem kaum Kontakt zwischen der kulturellen Elite Lateinamerikas und der indigenen Bevölkerung. Rössner führt in diesem Kontext Horst Rogmann59 an, der vorbringt, dass es 56 57 58 59
Paz: Das Labyrinth der Einsamkeit, S. 165 Vgl. ibid. S. 166 Rössner, Michael: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Frankfurt a.M.: Athenäum 1988 Rogmann, Horst: Narrative Strukturen und »magischer Realismus« in den ersten Romanen von Miguel Angel Asturias, Frankfurt a.M.: Lang 1978, Kapitel V
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sich nicht um Primitive handelt, die aus der lateinamerikanischen Literatur zu ihren LeserInnen sprechen, sondern vielmehr um die ästhetische Verarbeitung gewisser Denkmuster, die man aufgrund der Arbeit verschiedener europäischer EthnologInnen der lateinamerikanischen indigenen Bevölkerung zuschrieb. Auch handle es sich bei der Hinwendung zur indigenen Bevölkerungsschicht und der Suche nach der eigenen Identität um eine eigenständige Variante der Suche nach einem verlorenen Paradies des Denkens, die jedoch über die europäische Ausformung dieser Denkfigur hinausgehe. Es finde sich aber ein ständiger Rückbezug auf die europäische Paradiessuche, in Ansätzen sogar auf die vorangehende Bewusstseinskrise, der jedoch – wenngleich von der Kritik bisher kaum bemerkt – als Konstante der lateinamerikanischen nueva novela gelten könne.60 Auch der kubanisch-französische Schriftsteller Alejo Carpentier, der als Begründer der literarischen Strömung gilt und dessen Werk El reino de este mundo zum Manifest des magischen Realismus erhoben wurde, lebte elf Jahre in Paris im Exil und bewegte sich dort vornehmlich in den Kreisen der französischen SurrealistInnen. Carpentier selbst beschäftigt sich in seinen theoretischen Schriften mit der Abstammung des Begriffs magischer Realismus, der aus der deutschen Kunstgeschichte61 entlehnt ist, und setzt ihm den Begriff des real maravilloso62 entgegen, der seiner Ansicht nach der lateinamerikanischen Art der Wirklichkeitsdarstellung viel mehr entspricht. Der Begriff magischer Realismus sei deshalb nicht treffend, weil er europäischen Ursprungs sei und sich vor allem auf Bilder, in denen Formen kombiniert würden, die nicht dem täglichen Leben entsprächen, beziehe: Pero muchas personas me dicen a veces: »Pero en fin, hay una cosa que se ha llamado el realismo mágico: ¿qué diferencia hay entre el realismo mágico y lo real maravilloso?« […] Esto se explica muy fácilmente. El término de realismo mágico fue acuñado por un crítico de arte alemán llamado Franz Roh […]. En realidad, lo que Franz Roh llama realismo, es sencillamente una pintura expresionista, pero escogiendo aquellas manifestaciones de la pintura expresionista ajenas a una intención política concreta. […] lo que él llamaba realismo mágico era sencillamente una pintura donde se combinan formas reales de una manera no conforme a la realidad cotidiana.63 Carpentier distanziert sich in einem weiteren Schritt vom Surrealismus, da dieser zwar immer auf der Suche nach dem Wunderbaren gewesen sei, es aber kaum in der Realität selbst gesucht habe: »[…], si el surrealismo perseguía lo maravilloso,
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Vgl. Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, S. 175ff. Der Begriff geht auf den deutschen Kunstkritiker Franz Roh (1925) zurück. dt. wunderbare Wirklichkeit Carpentier, Alejo: »Lo barroco y lo real maravilloso«, in: Ensayos. Obras completas de Alejo Carpentier. Volumen 13. México D.F.: siglo veintiunos editores 19901 , S. 185
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hay que decir que el surrealismo muy rara vez lo buscaba en la realidad.«64 Das real maravilloso hingegen sei jedoch das Wunderbare, das fixer Bestandteil der lateinamerikanischen Realität, also alltäglich sei: »Lo real maravilloso, en cambio, que yo defiendo, y es lo real maravilloso nuestro, es el que econtramos al estado bruto, latente, omnipresente en todo lo latinoamericano. Aquí lo insólito es cotidiano, siempre fue cotidiano.«65 Das Ungewöhnliche steckt laut Carpentier in Lateinamerika überall, sowohl in der Natur als auch in der Geschichte. Daraus entsteht die faszinierende Fremdheit, die von Lateinamerika ausgeht und es zum Kontrastort Europas und zu (s)einer (literarischen) Projektionsfläche exotischer Vorstellungen und Sehnsüchte werden lässt. So erklärt sich auch die positive Resonanz, die der magische Realismus in Europa hervorrief. Der Erfolg war so groß, dass man von einem lateinamerikanischen Boom sprach. Europäische Ursehnsüchte exotischer Art konnten durch die Werke der lateinamerikanischen SchriftstellerInnen gestillt werden. Lateinamerika zeigte sich hier, wie Europa es wollte und ersehnte: exotisch-anders. Die mythischmagische Atmosphäre der Romane entsprach den Bedürfnissen der europäischen Leserschaft. Der Zeitpunkt war zudem ideal, da die Quelle der europäischen Reiseberichte langsam versiegte. Zahlreiche Werke lateinamerikanischer SchriftstellerInnen wie etwa Gabriel Garcia Márquez, Isabel Allende, Juan Rulfo, Alejo Carpentier und Miguel Angel Asturias schienen die entstandene Lücke auszufüllen zu können. Der Erfolg der lateinamerikanischen Literatur in Europa war jedoch nur von kurzer Dauer. Grund dafür war die kulturelle Fremdheit Lateinamerikas. Die europäischen LeserInnen wollten ihre Bedürfnisse nach Exotik stillen. Der magische Realismus weist jedoch neben Exotischem und Mythisch-Magischem auch Elemente der lateinamerikanischen Realität auf, die sich dem Großteil der europäischen Leserschaft nicht erschloss, auch weil sie nicht auf der Suche nach einer tatsächlichen Fremderfahrung war. Es ging vor allem darum, eigene Ideen und Vorstellungen mithilfe einer Projektionsfläche lebendig zu halten und zu gestalten. Der Zusammenprall zweier Welten war die Folge. Verena Teissl zeichnet in ihrem Werk über den magischen Realismus in Mexiko anhand einer Analyse des Romans Pedro Páramo des mexikanischen Schriftstellers Juan Rulfo die Dekonstruktion des Erwartungshorizonts der europäischen Leserschaft gegenüber dem magischen Realismus nach, indem sie mit Zitaten exemplarisch belegt, wie wenig gewisse Schauplätze, wie etwa Comala, den eskapistischen Vorstellungen der europäischen LeserInnen entsprechen. Die für den magischen Realismus so charakteristische und untrennbare Vermischung von mythisch-magischen Elementen und der mexikanischen Realität stieß in Europa auf Unverständnis. Für die aufgeklärte europäische Welt stellte das Mythisch-Magische 64 65
Carpentier, Alejo: »Lo barroco y lo real maravilloso«, S. 187 Ibid. S. 187
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eine reizvolle und eskapistische Variante der Wirklichkeit dar, die aber nur dann funktionieren kann, wenn sie eine Gegenwelt zur eigenen bietet. Die lateinamerikanische Literatur konnte mittelfristig nicht das Bild Lateinamerikas vermitteln, nach dem Europa sich sehnte. Die Europäer wollten sich ihrerseits nicht in eine lateinamerikanische Welt hineindenken und sich mit den tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten beschäftigen, die so wenig ins vorgefasste Bild passten: »Die jahrhundertealte Koketterie mit dem Naturmenschen à la Rousseau brach ebenso zusammen wie das stereotype Bild einer Dritten Welt, deren verhärmtes Antlitz plötzlich nicht wieder zu erkennen war.«66 Die Verbindung zwischen Exotischem und Irrationalem geschah in weiterer Folge auf den Umwegen der Zivilisationskritik, wie anhand des literarischen Mexikobildes zu beobachten sein wird. Die exkursorische Darstellung der Entwicklung des magischen Realismus verdeutlicht die kulturelle Vermischung zwischen Europa und Lateinamerika. Die Hybridisierung, im Sinne einer gegenseitigen Beeinflussung, bei der diverse kulturelle Aspekte aufgenommen werden, bewirkt eine Veränderung auf beiden Seiten. Die Einflüsse der mexikanischen Kultur auf die europäische sind nicht Thema meiner Untersuchung, sie werden von mir aber da, wo sie für die Weiterentwicklung des literarischen Mexikobildes relevant sind, genannt. Dies betrifft vor allem die bildenden Künste. Die skizzierte Entwicklung der lateinamerikanischen Literatur verdeutlicht jedoch, dass es trotz der wechselseitigen kulturellen Beeinflussung eine dominante Kultur gibt. Der lateinamerikanische magische Realismus und seine Entwicklung sind vor allem auch Beispiel für die europäische kulturelle Dominanz, vor der es – trotz Versuchen der Abwendung und Abgrenzung – kein rechtes Entkommen zu geben scheint. Im Kontext des indigenen Elements in der lateinamerikanischen Literatur- und Geistesgeschichte weist Rössner auf die europäische Perspektive hin, die auch in der Literatur der Kolonien – zumindest in den ersten Jahrhunderten nach der Eroberung – übernommen wird. Der sogenannte Indianer kommt gar nicht vor oder wird als edler, aber unterlegener Gegner der christlichen Expansion stilisiert, also in einer Rolle, die er funktionsgetreu aus der europäischen Literatur übernommen hat. Auch in den späteren Jahrhunderten ist der so betitelte Indio eine Variable in aus Europa übernommenen Bezugssystemen und hat dabei keine eigene Stimme. Noch im indianischen Roman des 20. Jahrhunderts entspricht die dem Indigenen zugeschriebene Denkweise, neben folkloristischen
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Teissl, Verena: Utopia, Merlin und das Fremde. Eine literaturgeschichtliche Betrachtung des magischen Realismus aus Mexiko und der deutschsprachigen Phantastischen Literatur auf Basis der europäischen Utopia-Idee. Innsbruck: Verlag des Instituts für Sprachwissenschaft der Universität Innsbruck 1998, S. 33
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Ansätzen, vor allem einer in der europäischen Aufklärung entstandenen naturgegebenen Vernunftethik. Erst mit der Herausbildung einer sozial orientierten Literatur, vor allem in den Andenländern, setzt eine tatsächliche Beschäftigung mit dem Indigenen ein. Er wird nicht mehr als edles Naturkind, sondern in der sozialen Rolle, die er in der postkolonialen Gesellschaft spielt, gezeigt. Durch die Orientierung am französischen Naturalismus bzw. dem naturalistisch-sozialkritischen Roman wird der Indigene wiederum an vorgegebene Funktionsstellen eines speziellen (europäischen) literarischen Musters gesetzt und übernimmt in diesem Fall oftmals die Funktion des Proletariers.67 In weiteren Beispielen illustriert Rössner die europäische Autorenperspektive bzw. die Übernahme literarischer Muster in diversen lateinamerikanischen Strömungen. Die Indigenen werden dort nicht zur idealisierten Landbevölkerung stilisiert, die man einer kranken Zivilisation gegenüberstellt. Vielmehr bedarf es europäischer Ideologien, wie etwa dem Klassenkampf im marxistischen Sinn, um ihre Lage zu verbessern. Die durch den europäischen Naturalismus inspirierte Hinwendung zur indigenen Bevölkerung bereitet jedoch den Weg für das Interesse an der inneren Realität des Indigenen, was zum bereits erwähnten Charakteristikum der lateinamerikanischen nueva novela wird.68 Nicht nur die vielseitigen Spuren, sondern vor allem auch die bereits erwähnte Identitätssuche – im Sinne einer Abwendung von Europa – und die (europäisch inspirierte) Stilisierung des Indigenen zur nationalen Identifikationsfigur verdeutlichen die Wirkungsmacht des postkolonialen Diskurses. Sowohl Europa als auch Lateinamerika sucht nach (s)einem verlorenen Paradies. Und sowohl das eine als auch das andere ist in seinem Kern europäisch. Ausgehend von der Frage, ob der Eurozentrismus ein europäisches Phänomen ist, wurden in diesem Kapitel verschiedene theoretische Ansätze behandelt, die sich alle mit dem Eurozentrismus als einem System der Dominanz auseinandersetzen. Die Art, wie Europa mit dem Fremden umgeht, wird auch in der Instrumentalisierung Mexikos als (europäische) literarische Projektionsfläche deutlich. Die Orientalisierung des Orients vollzog sich, da sich der Orient dafür anbot. Auch die sogenannte Neue Welt eignete sich – nicht zuletzt aufgrund der klimatischen Gegebenheiten und der außereuropäischen Position – für Projektionen von europäischen Ursehnsüchten. Die von Said erwähnte Tatsache, dass Europa von Anfang an mehr im Orient sah, als es eigentlich über ihn wusste, gilt auch für die Konstruktion literarischer Mexikobilder. Europäische (Ur-)Sehnsüchte sowie konkrete Vorstellungen werden auf die literarische Projektionsfläche Mexiko übertragen. Typische Themen und Episoden werden aufgegriffen, stilisiert und exotisiert. Wesentliche
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Vgl. Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, S. 181f. Vgl. ibid. S. 182f.
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Neuigkeiten werden dabei nicht vermittelt, vertraute Werte und Topoi können aber bestätigt werden. Die mexikanische Geliebte und der europäische Eroberer – eine eurozentristische Liebesgeschichte.
2 Alte Ideen in der Neuen Welt: Kolumbus und sein Paradies
Da es in meiner Untersuchung um die kulturgeschichtliche Relevanz der Entdeckung und Eroberung Amerikas und die literarische Stilisierung Mexikos als paradiesischer bzw. exotischer Gegenentwurf zur westlichen Welt geht, soll an dieser Stelle erwähnt werden, vor welchem Hintergrund und mit welcher ideologischen Konzeption das erste literarische Bild der Neuen Welt entstand. Die Wichtigkeit des europäischen Lateinamerikabildes ergibt sich unter anderem aus der Tatsache, dass Lateinamerika Europas erste tatsächliche Alteritätserfahrung darstellt. Auch wenn es bereits vor Kolumbus’ Landung in der Neuen Welt im Jahre 1492 Versuche gab, außereuropäisches Land zu erobern, beginnt der Kolonialismus erst mit der Eroberung Amerikas. Europa interpretiert das Fremde immer auf Grundlage der eigenen Wirklichkeit. Was aber, wenn das Andere als konkretes illusionäres Konzept wahrgenommen wird? Was, wenn das Fremde etwas schon lange Gesuchtem entspricht? Was, wenn es in eine Wunschvorstellung eingepasst wird, die in ihrem Kern beinahe so alt ist wie die Menschheit selbst? Das Projekt Amerika existierte bereits vor seiner tatsächlichen physischen Existenz als kulturgeschichtliches Projekt. Die alttestamentarische Indoktrinierung gibt zu Kolumbus’ Zeit ein klares Weltbild vor. Das Paradies ist verloren, die Sehnsucht danach bleibt – und wird oftmals zum Motor. Die Entdeckung Amerikas musste passieren – nicht nur aus ökonomischen Gründen. Die kulturgeschichtliche Vision existierte bereits, es bedurfte lediglich eines konkreten Anlasses, mehr noch, eines konkreten Projektionsfelds, um die Idee auch übertragen zu können. Dank der vermeintlichen Entdeckung Amerikas konnte Europa sein Paradies in Lateinamerika finden. Die Entdeckung und Eroberung Amerikas war demnach das Ende eines Projektes, nicht sein Anfang. Amerika konnte nur auf eine Art und Weise entdeckt werden, weil die Idee des verlorenen Paradieses von zentraler kulturwissenschaftlicher Relevanz und zudem Kolumbus’ persönliche Triebfeder war. Das geografische Weltbild hatte sich durch die Entdeckung Amerikas verändert, das kulturgeschichtliche hatte sich für Europa lediglich bestätigt. Die Entdeckung des amerikanischen Kon-
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tinents an sich ist laut Kirkpatrick Sale, der sich mit Kolumbus’ Paradiessuche beschäftigt, wenig relevant. Viel wichtiger war es, dass Europas Eroberung der Welt so eingeleitet wurde. Europa entdeckte Amerika nicht, sondern »machte es zu einem Bestandteil einer speziellen, seit langem geübten und vor kurzem neuerlich bestätigten Sicht der Natur.«1 Die Entdeckung Amerikas 1492 lieferte der Literatur und der Kunst neue stoffliche Möglichkeiten. Eine bisher nicht bekannte und wenig erschlossene Welt war besonders für Projektionen mythischer Konzepte und paradiesischer Sehnsüchte geradezu prädestiniert. Erstmals bot ein realer und konkreter Ort die Möglichkeit, als Projektionsraum genutzt zu werden. Amerika liefert aber nicht nur den Raum, sondern auch Stoff. Es bietet vor allem eine Fülle an Naturgeschichte, die im Gegensatz zum bereits bekannten und mit Zivilisation durchdrungenen Europa steht und die mitunter auch das Entstehen von neuen literarischen Gattungen favorisiert, wie Anselm Maler in seiner Abhandlung über den exotischen Raum anführt.2 Die Sichtung Amerikas bewirkt einen Wandel im europäischen Paradiesbild. Vom ausschließlich poetischen Bezirk Arkadien geht man über zu realen Paradiesen. Der europäischen Zivilisation werden naturbelassene, auf einer früheren Entwicklungsstufe befindliche überseeische Länder als Paradiese gegenübergestellt.3 Es war demnach Christoph Kolumbus, der die Brücke zwischen europäischen Ursehnsüchten, kulturgeschichtlichen Wertvorstellungen und der tatsächlich existierenden Projektionsfläche Lateinamerika schlug. Woher aber nahm er seine Zielstrebigkeit, ohne zu wissen, was er tatsächlich finden würde? Die Vorstellungen, die Kolumbus bewogen haben müssen, all die Anstrengungen auf sich zu nehmen, waren sehr konkreter Natur. Seine Schriften lassen darauf schließen, dass ihm seine Expedition vor allem zum persönlichen Nutzen gereichte. Wie Todorov anführt, schrieb Kolumbus bereits am ersten Tag nach seiner Entdeckung, nämlich am 13. Oktober 1492, dass er alles mit größter Sorgfalt beobachte, um zu erkunden, ob und wo es Gold gebe.4 Er schließt die Suche nach Gold sogar in seine Gebete ein und sie bestimmt auch seine Fahrroute, wie aus seinem Bordbuch5 hervorgeht: »Ich beachtete alles mit größter Aufmerksamkeit und trachtete, herauszubekommen, 1 2 3 4 5
Vgl. Sale, Kirkpatrick: Das verlorene Paradies. Christoph Kolumbus und die Folgen. Übersetzt von Brigitte Rapp. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1993, S. 91 Vgl. Maler, Anselm: Der exotische Roman. Bürgerliche Gesellschaftsflucht und Gesellschaftskritik zwischen Romantik und Realismus. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 19751 , S. 106 Vgl. Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, S. 36 Vgl. Todorov: Die Eroberung Amerikas. Das Problem der Anderen.Übersetzt von Wilfried Böhringer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1985, S. 16 Kolumbus’ Bordbuch ist lediglich in einer von Bartolomé de Las Casas angefertigten Kopie erhalten. Daher finden sich darin immer wieder Wechsel zwischen der Ich- und der ErPerspektive. In der ersten modernen deutschen Fassung übertrug der Übersetzer, wie im Buch angeführt wird, Passagen meist in die direkte Rede und legte sie so Kolumbus selbst in den Mund.
2 Alte Ideen in der Neuen Welt: Kolumbus und sein Paradies
ob in dieser Gegend Gold vorkomme. Dabei bemerkte ich, daß einige von diesen Männern die Nase durchlöchert und durch die Öffnung ein Stück Gold geschoben hatten.«6 Kolumbus verstand es von Anfang an, das Gold als Köder zu benutzen. Er setzte es auch ein, um seine Mannschaft immer wieder zu beschwichtigen und zu motivieren, wie er selbst in seinen Chroniken schildert: »Zu diesem Zeitpunkt beklagten sich meine Leute über die lange Reisedauer, die ihnen unerträglich zu sein schien. Ich wußte sie jedoch aufzumuntern, so gut ich eben konnte, und stellte ihnen den Verdienst, den sie sich auf diese Weise verschaffen konnten, in nahe Aussicht.«7 Das Gold diente ihm auch zur Rechtfertigung seiner Reise vor dem spanischen Königshaus. Bereits in seinem ersten Brief an den spanischen Schatzmeister Raphael Sanxis versichert Kolumbus, so viel Gold wie möglich zu suchen: Um schließlich in wenigen Worten Erfolg und Nutzen unseres Aufbruchs und unserer schnellen Rückkehr zusammenzufassen, will ich Folgendes versprechen: Ich werde unseren unbesiegbarsten Königlichen Hoheiten auch bei geringer Unterstützung von deren Seite so viel Gold verschaffen, wie sie benötigen, […].8 Kolumbus war ein kluger Taktierer, der es vermochte, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel zu seinem Vorteil zu nutzen. Das Gold gewährleistete ihm auch die Anerkennung seiner Entdeckerrolle, daher musste ihm in seinen Schriften – besonders in den Briefen an das spanische Königshaus – eine entsprechende Relevanz eingeräumt werden. Kolumbus’ persönliche Motivation war jedoch eine andere: Seine Motive waren vor allem religiöser Natur. So sei er, wie aus dem Tagebuch seiner ersten Reise hervorgeht, fest entschlossen gewesen, den großen Khan, also den Kaiser von China, zu finden. Diese Determiniertheit hat mit Marco Polo zu tun, der über den Kaiser Chinas berichtete und dessen Reisechroniken Kolumbus genauestens studiert hatte. Der Kaiser habe Gelehrte ausgesandt, die ihm die Lehre Christi näherbringen sollten. Die Verbreitung des christlichen Glaubens war Kolumbus eine wesentliche Triebfeder, laut Todorov sogar die wichtigste. Kolumbus will sich in seinen Überzeugungen bestätigen. Amerika bietet ihm die Bühne dafür. Das Gold ist ihm dabei vor allem Mittel zum Zweck. Sein Ziel war es, den Gewinn, den das Projekt »Entdeckung« abwirft, dazu zu nutzen, Jerusalem zu befreien und das Heilige Grab zu erobern9 , wie er auch in seinem Bordbuch erklärt:
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Kolumbus, Christoph: Bordbuch. Aus dem Spanischen von Anton Zahorsky. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Taschenbuch Verlag 20051 , S. 50 Ibid. S. 41 Kolumbus, Christoph: Der erste Brief aus der neuen Welt. Übersetzt von Robert Wallisch. Ditzingen: Reclam 2000, S. 33 Vgl. Todorov: Die Eroberung Amerikas, S. 18f.
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Der Admiral fügt weiter hinzu, daß er bei seiner Rückkehr aus Kastilien hier mit Gottes Hilfe ein ganzes Faß voll Gold vorzufinden hoffe, das seine Leute inzwischen im Tauschwege sich gut verschafft haben könnten. Denn bis dahin werden sie wohl jene Goldmine und den Ort, wo Gewürze wachsen, ausfindig gemacht haben, von denen er hoffe, daß sie in so großen Mengen vorhanden seien, daß der König und die Königin noch vor Ablauf von drei Jahren imstande sein würden, zur Eroberung des Heiligen Grabes schreiten zu können.10 Müller-Funk bezeichnet Kolumbus in seinem Werk Erfahrung und Experiment, in dem er über die Person Kolumbus und dessen Rolle als Entdecker schreibt, als einen historisch aufstrebenden Menschentypus, der aus der Wechselwirkung zwischen persönlicher Motivation und der Aussicht auf Kapital entstand: Das Gold ist das auskristallisierte Begehren nach den Dingen und zugleich Versprechen, ihrer habhaft zu werden. Aus diesem Zusammenspiel akkumuliert sich seelische Energie, ohne die keine Akkumulation möglich wäre. Die Entfaltung neuzeitlicher Subjektivität und die von Marx analysierte Entwicklung des Kapitalismus hängen also unmittelbar zusammen, […].11 Kolumbus’ Grundüberzeugungen sind christlich geprägt und beziehen sich vor allem auf das Werk Imago Mundi von Pierre d’Ailly. Darin wird ein Bild des irdischen Paradieses gezeichnet, das sich in einer gemäßigten Region jenseits des Äquators befinden soll und das Kolumbus während seiner Reisen konsequent suchte. So schrieb er bereits während seiner ersten Reise am 21.2.1493: »Die Theologen und philosophischen Weisen haben mit ihrer Behauptung wohl recht, daß das irdische Paradies im äußersten Osten liege, da dieser ein überaus mildes Klima besitzt, während die Inseln, die ich jetzt entdeckt habe, das Ende des Ostens sind.«12 Nicht nur das Werk des Pierre d’Ailly prägte Kolumbus’ Suche nach dem Paradies, sondern auch die Lehren des Bischofs und Kirchenlehrers Isidor von Sevilla, der das Paradies gedanklich mit all dem versehen habe13 , was für die Mühen auf Erden entlohnen sollte.14 Das milde Klima und die liebliche Natur bestärkten Kolumbus weiter in seiner Annahme, auf dem richtigen Weg zu sein. Kolumbus war bei seiner dritten Reise, als er sich dem Äquator näherte, fest davon überzeugt, das Paradies nun endlich gefunden und eine Unregelmäßigkeit in der Rundung der Welt entdeckt zu haben. Er ist der Ansicht, dass die Welt eigentlich keiner
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Kolumbus: Bordbuch, S. 204 Müller-Funk, Wolfgang: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin: Akademischer Verlag 1995, S. 49 Kolumbus: Bordbuch, S. 268 mit einem Lebensbaum, ewigem Frühling, ewiger Jugend etc. Vgl. Niess, Frank: Am Anfang war Kolumbus. Geschichte einer Unterentwicklung – Lateinamerika 1492 bis heute. München: Piper Verlag 1991, S. 19f.
2 Alte Ideen in der Neuen Welt: Kolumbus und sein Paradies
Kugel, sondern vielmehr einer Birne gleicht. Der höchste Punkt der Erde, den Kolumbus in seinem Brief Carta a los reyes am 31.8.1498 mit der Brustwarze einer Frau vergleicht, ist der, der dem Himmel am nächsten kommt, was ihm weiteres Indiz dafür zu sein scheint, dass sich genau an dieser Stelle das irdische Paradies befinden muss.15 Kolumbus’ Perspektive ist durch seine Erwartungen und subjektive Interpretationen geprägt. Er stützt seine Argumente nicht auf Erfahrungen, sondern auf Autorität. Kolumbus’ Motivation ist finalistisch. Er weiß, was er finden will, und was er findet, legt er sich so zurecht, dass es in sein vorgefertigtes Bild passt. Kolumbus ist demnach der Erste, der die Neue Welt als Projektionsfläche benutzt. Todorov vergleicht Kolumbus’ Agieren mit dem des Adam im Garten Eden. Auch Kolumbus will die »jungfräuliche Welt« vor sich benennen. Er verfolgt die Absicht, den Orten gemäß ihrer Funktion und ihres Ranges Namen zu geben. Das Benennen fremder Orte ist Ausdruck von Macht und Dominanz. Die neuen Namen richten sich nach dem, was die Natur in den Augen des Europäers hergibt und darstellt. Sie steht im Zentrum des Interesses. Der fremde Mensch tritt in den Hintergrund bzw. wird nicht als Mensch wahrgenommen. Für Kolumbus ist er Teil der Landschaft und rundet sein Paradiesbild ab. Er begründet in seinen Beschreibungen den Topos der nackten Ureinwohner, wobei die Nacktheit hier als Symbol für eine paradiesische Ursprünglichkeit zu verstehen ist. Kolumbus zeichnet dadurch das Bild des sich erst später etablierenden Typus des sogenannten edlen Wilden vor. Dieser kann als eine Spielart der Paradiesprojektion angesehen werden, da er den Urzustand des Seins als Gegensatz zur zivilisierten Welt symbolisiert. Auch betont Kolumbus nachdrücklich, dass weder Scheuheit und Schüchternheit noch die Sanftheit und Gutmütigkeit der »Wilden« mit Dummheit gleichgesetzt werden dürfe. Es handle sich lediglich um eine ursprüngliche, noch unverdorbene Form der Zivilisation, wie er in seinem ersten Brief aus der Neuen Welt betont: »Sie sind deshalb aber durchaus nicht dumm und ungebildet, sondern besitzen im Gegenteil große Intelligenz und Scharfsinn.«16 Die Furchtsamkeit sowie die Einfachheit der Menschen wird von Kolumbus da ironisch-wertend betrachtet, wo sie am europäischen Wertesystem kratzt. Ihr Unverständnis dem europäischen Goldrausch gegenüber bringt in Kolumbus etwa ein protektionistisches Verhalten hervor, das wiederum auf einem europäischen Überlegenheitsgefühl fußt. Kolumbus untersagt seinen Leuten ungleichen Tauschhandel. Trotzdem macht auch er wertlose Geschenke, für die er im Gegenzug das für ihn so wertvolle Gold erhält. Aufgrund dieser Tauschgeschäfte kommt Kolumbus zum Schluss, dass die Menschen in Amerika sehr freigiebig seien, was das Bild des
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Vgl. Todorov: Die Eroberung Amerikas, S. 25 und Sale: Das verlorene Paradies, S. 213 Kolumbus: Der erste Brief aus der neuen Welt, S. 23
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guten Wilden weiter nährte.17 Verstärkt wurde es durch die Beschreibung der Feigheit gewisser Völker, auf die Kolumbus immer wieder ausdrücklich hinweist, wie auch folgendes Zitat verdeutlicht: »Der Admiral versicherte nun seinen Fürsten, daß zehn seiner Leute zehntausend jener Indianer in die Flucht schlagen würden, so groß war ihre Feigheit und Angst.«18 Kolumbus weist auch wiederholt auf die vermeintliche Naivität der amerikanischen Urbevölkerung hin. Dieser Eindruck beruht auf einem divergenten Kulturverständnis und dem daraus resultierenden Habitus, wie etwa nachstehendes Zitat verdeutlicht: »Sie führen keine Waffen mit sich, die ihnen nicht einmal bekannt sind; ich zeigte ihnen die Schwerter und da sie sie aus Unkenntnis bei der Scheide anfaßten, so schnitten sie sich.«19 Kolumbus setzte die Unterschiede jedoch sofort mit Begriffen der Superiorität und Inferiorität gleich. Die Existenz einer anderen »menschlichen Substanz« werde, so Todorov, im Eurozentrismus grundsätzlich geleugnet; dominierend seien die Assimilationsabsicht sowie der Wunsch, die Welt zu christianisieren.20 Kolumbus’ Modernität ergibt sich laut Müller-Funk aus seiner subjektiven Individualität. Durch die Verbindung seiner persönlichen Wünsche mit der von ihm betriebenen Funktionalisierung des Goldes begründete er nicht nur den Kolonialismus, sondern vor allem auch den Kapitalismus. Kolumbus ist »Raumfahrer, Beobachter, Experte, Kapitän und Kontrollinstanz« in einem. Vor allem aber ist er ein rastloser Propagandist seines eigenen lebensgefährlichen Experiments und kann als »Phänotyp des herannahenden wissenschaftlichen Zeitalters« bezeichnet werden21 . Kolumbus ist der erste Projektmacher und wird dadurch zum Prototyp des neuen modernen Menschen. Die Herausbildung dieses neuen Menschentyps ist an ihm beinah exemplarisch verifizierbar. So vollzieht sich neben der Kapitalanhäufung eine Akkumulation von persönlicher Energie, und es werden Ziele verfolgt, die in jedem Fall neu und unbekannt sein müssen. Was einen guten Projektmacher ausmacht, sind eben nicht nur die Kontaktaufnahme und die Überredungskünste gegenüber den Gönnern, Sponsoren und Mitunternehmern. Ein guter Projektmacher müsse vor allem eine fixe Idee haben, von deren inneren Notwendigkeit er überzeugt sein müsse.22 Kolumbus’ fixe Idee war die Suche nach dem irdischen Paradies – das Streben danach entspricht einer der ältesten Sehnsüchte der Menschheit.
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Vgl. Todorov: Die Eroberung Amerikas, S. 52 Kolumbus: Bordbuch, S. 136 Ibid. S. 46 Vgl. Todorov: Die Eroberung Amerikas, S. 56f. Vgl. Müller-Funk: Erfahrung und Experiment, S. 44f. Vgl. ibid. S. 45
2 Alte Ideen in der Neuen Welt: Kolumbus und sein Paradies
Kolumbus’ Weltbild mutet zwar wenig modern an, da er – in typisch mittelalterlicher Manier – das christliche Ideal zum Zentrum seines Handelns macht und das Irdische dahinter zurücksteht. Dagegen zeugen seine überschwänglichen Naturkontemplationen, die in dieser Intensität und Begeisterung nicht mehr an sich zweckgebunden sind, von einer individualistischen Modernität. Kolumbus hat laut Todorov das Entdecken an sich entdeckt23 , wie auch an folgenden ausgewählten und mit Superlativen gespickten Zitaten deutlich wird: An dieser Stelle ergeht sich der Admiral in solch wortbeschwingten Schilderungen über die Fruchtbarkeit, die Schönheit, und große Höhe jener von ihm in diesem Hafen vorgefundenen Inseln, daß er an die Herrscher Spaniens die Bitte richtet, sich über diesen Lobgesang nicht zu verwundern, der einigermaßen übertrieben erscheinen könnte, und versicherte sie, daß er nur den hundertsten Teil dessen sage, was die Gegend an Worten verdienen würde.24 Jene Bucht ist so beschaffen, daß nach all dem Lob, das ich den bereits von mir besuchten Ankerplätzen habe zuteil werden lassen, diese noch weitaus größeres Lob verdient, mit Rücksicht auf die sie umgebenden Ländereien, wegen der Milde des Klimas und der dort befindlichen Siedlungen. […] Die anmutige Frische dieses Flusses, sein klares Wasser, das einen bis auf den Grund schauen ließ, die Vielfalt verschieden geformter Palmen, die zu den schönsten und höchsten gehörten, die ich je gesehen hatte, zusammen mit unzähligen anderen großen und grünen Bäumen, und die grüne Wiesenfläche, wo Vögel ihren Gesang erschallen ließen – all dies schien eine stille Aufforderung an mich zu richten, mich für immer hier niederzulassen.25 Die Bäume seien von frischestem Grün und fruchtbeladene hohe Pflanzen und Gräser stünden in voller Blüte, dazwischen liefen breite, gute, gepflegte Straßen. Die Temperatur komme jener Kastiliens im Monat April gleich, während Nachtigallen und andere Vögel wie in der spanischen Heimat munter zwitscherten, daß es eine reine Freude sei. Auch zur Nacht ließen gewisse Vogelarten ihren süßem Gesang vernehmen, begleitet von Gezirp zahlloser Grillen und dem Gequake der Frösche. Der Fischfang sei so ertragreich wie in Spanien.26 Auch die Tatsache, dass Kolumbus so versessen auf der Suche nach dem irdischen Paradies war, zeichnet ihn – neben seiner tiefen Religiosität – als einen neuen, modernen Typ Mensch aus, der in Amerika auch eine reale Fluchtmöglichkeit vor
23 24 25 26
Vgl. Todorov: Die Eroberung Amerikas, S. 19f. Kolumbus: Bordbuch, S. 108 Ibid. S. 127 Ibid. S. 160
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den rigiden Prinzipien und sakrosankten Institutionen der eigenen Welt sah. Diese These wird durch die verklärenden Naturbeschreibungen verstärkt. Das Paradies Amerika ist real, zudem birgt es auch die Vision eines besseren Daseins in sich. Europa suchte grundsätzlich beides: Die »von den Händeln der Alten Welt zermürbten und von ihren Hierarchien eingeengten Europäer« hofften, so Niess, in der Neuen Welt nicht nur ein irdisches Paradies im natürlichen, sondern auch im politischen Sinne zu finden.27 Kolumbus verlieh bereits in der ersten Beschreibung der Neuen Welt zwei essenziellen Paradiesprojektionen (und ihren Gegenbildern) Ausdruck: der Sehnsucht nach einem lokalisierbaren paradiesischen Ort und dem Wunsch nach einer sich noch in einem idealen Urzustand befindlichen Gesellschaft.
27
Vgl. Niess: Am Anfang war Kolumbus, S. 22
3 Paradise lost? Paradise wanted! – Der Mythos des verlorenen Paradieses als religions- und kulturgeschichtliches Phänomen
In der westlichen Welt ist der Mythos rund um das verlorene Paradies wesentlicher und inhärenter Bestandteil der Kulturgeschichte. Von jeher scheint der (westliche) Mensch auf der Suche nach dem (verlorenen) Paradies zu sein. Es steht im Gegensatz zu seiner realen Existenz und birgt den Traum eines besseren, erfüllteren Lebens. Paradies und Sündenfall sind Teil des zutiefst christlichen Mythos, der vom Übergang der Menschheit aus einem Zustand der Vollkommenheit in einen der irdischen Mangelverhältnisse erzählt. Vor allem die jüdisch-christliche Heils- und Erlösungsmythologie bediente sich der menschlichen Sehnsucht und der Hoffnung auf ein besseres und vollkommeneres Reich und nährte den Mythos dementsprechend. Im Rahmen der Säkularisierung des 17. und 18. Jahrhunderts veränderte sich der Mythos. Seine theologische Grundlage wurde ihm entzogen, diesseitige Bilder und Projektionen etablierten sich stattdessen. Die Hoffnung bekam mitunter auch eine politische Dimension. Die wesentliche Struktur des Mythos im Sinne einer Erzählstruktur von Paradies und Sündenfall, von Mangelzustand und Erlösung wurde jedoch oftmals übernommen und für utopische Konzepte funktionalisiert. Die Paradiesvorstellung kann in eine glückliche Urzeit zurückverlegt werden, in eine bessere Zukunft, in ein himmlisches Jenseits oder aber in eine real existierende Ferne. Sie repräsentiert immer das menschliche Urbild der Hoffnung. Die Diskurse rund um den Begriff »Mythos« sind vielseitig und komplex. Ich beschränke mich daher darauf, ihn im Kontext des verlorenen Paradieses zu betrachten und zu erläutern. Dabei geht es mir weniger um die Begrifflichkeit an sich als um die Situierung des Begriffs. Rössner erwähnt in diesem Zusammenhang Hellmuth Petriconi, der sich des Paradiesthemas angenommen hatte und dessen 1959 erschienene, aber immer noch relevante Darstellung die Entwicklung des Paradiesthemas in der Literatur der letzten 500 Jahre nachzeichnet – von einer weit entfernten Epoche über eine Ideallandschaft bis hin zu geographisch existierenden Orten. Der Mythos des verlorenen Paradieses bietet verschiedene Ansatz-
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punkte für eine tiefenpsychologische Analyse. Dabei sei es keineswegs überspitzt, im Streben nach Geborgenheit auch individuelle Regressionstendenzen zu sehen. Gedanken an den Uterus seien daher nicht von der Hand zu weisen, entspräche doch einiges aus dem typischen Inventar des Paradieses der literarischen Tradition der intra-uterinen Situation, etwa die Harmonie der Umwelt oder die selbstverständliche Nahrungsversorgung. Als grundlegende Figur des menschlichen Denkens wird der Paradiesmythos in der Schule C. G. Jungs thematisiert, wobei das verlorene Paradies nicht mehr im Uterus, sondern in einer extra-uterinen Frühphase angesiedelt wird. Auch die Allgemeingültigkeit der Regressionsthese wird infrage gestellt, da sich die Paradiesvorstellung sowohl auf den Anfang als auch auf das Ziel des Individuations- und Selbstwerdungsprozesses beziehe. Literaturwissenschaftlich interessant sind in Bezug auf Rössners Ausführungen vor allem die Ideallandschaft Arkadiens sowie die Idealzeit des Goldenen Zeitalters. Was alle Ausprägungen des Paradiesmythos eint, ist, dass sie ein Gegenbild zur unerfreulichen Realität bilden. Das Paradies definiert sich also im Wesentlichen, wie bereits erwähnt, durch den Vergleich mit der Welt nach dem Sündenfall. Wenn dieses Idyll den regressiv-eskapistischen Charakter verliere, verbinde sich das Bild Arkadiens mit der Utopie im jüdisch-christlichen Chiliasmus, der wiederum mit der Paradiesvorstellung verbunden sei.1 Laut Rössner kommt dieser Ansatz jedoch häufig, so auch bei Petriconi, zu kurz, weil nur von einem Wunschtraum gesprochen wird und der Aspekt der Alternative zum Bestehenden – also die Kritik an der jeweils gegenwärtigen Zivilisation –, die die unabdingbare Kehrseite eines utopischen Paradiesentwurfs ist, dabei vernachlässigt wird. Die Zivilisationskritik wird dadurch verstärkt, dass das verlorene Paradies im Gegensatz zu nicht realen bzw. in die Zukunft projizierten Utopien Bestandteil der eigenen Vergangenheit ist. Es wird dadurch zum erstrebenswerten Zustand stilisiert, der verlorengegangen ist und nun zumindest in der literarischen Fiktion wiederhergestellt werden soll. Bei der Umsiedlung des Paradieses von rein poetischen Plätzen an reale Orte wird der Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation verstärkt hervorgehoben. Neben dem Glück verheißenden ursprünglichen Zustand des Seins kamen äußere Annehmlichkeiten wie das frühlingshafte Klima sowie die nahrungsspendende Natur hinzu. Was bleibt, ist also der Wunsch, hinter eine gewisse Stufe in der Entwicklung des Denkens bzw. der Erkenntnis zurückzugelangen. Die Paradiese sind, so will es auch die biblische Paradieserzählung, aufgrund der Erkenntnis verwirkt worden. Ein wesentlicher Punkt der literarischen Paradiesvorstellungen ist die enge Verbindung zur Natur, die sich in ihrer historischen Entwicklung radikalisiert, anstatt sich den tatsächlichen technischen Möglichkeiten anzupassen. Der Gedanke einer Rückkehr in eine ursprüngliche Naivität sei unrealisierbar, gerade diese 1
Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, S. 34f.
3 Paradise lost? Paradise wanted!
Nicht-Vollziehbarkeit mache jedoch den literarischen Reiz aus. Denn auch wenn ein Stadium jenseits der Erkenntnis nicht mehr zu erreichen ist, so ist es zumindest (literarisch) darstellbar. Dabei versuche man den »Garten dieses naturbelassenen Bewusstseins« immer näher an die eigene Welt heranzubringen. Aus der poetischen Landschaft werde eine reale, die zwar weit entfernt und vielleicht selbst schon von der Zivilisation durchdrungen, aber dennoch tatsächlich existent ist.2 Klaus Börner entwirft in seinem Werk Auf der Suche nach dem irdischen Paradies eine sehr vollständige Aufstellung aller relevanten Werke, die vom GilgameschEpos bis ins 19. Jahrhundert reicht. Dabei verweist er auch auf den Wunschtraum nach Erlösung, den die Sehnsucht nach dem Paradies – eben seit dem schmerzlichen Riss des Sündenfalls, birgt: […] der Traum vom irdischen Paradies enthält jedoch die Gesamtsumme der menschlichen Wünsche, er ist die bildgewordene Quintessenz der Hoffnung, ein Abbild der unveränderlichen menschlichen Natur, die aus der Not und aus dem Mangel des Hier und Jetzt immer wieder prospektive Hoffnungsziele von der besten aller Lebensformen am besten aller Orte entwirft.« Als anthropologische Konstante durchzieht dieses utopische, transzendierende Denken der Hoffnung alle Objektivationen des menschlichen Geistes. Seine vollkommenste Vergegenwärtigung findet es in dem Bildkomplex vom irdischen Paradies und sinnverwandten Vorstellungen.3 Die Paradiessehnsucht treibt die Menschen sowohl zu künstlerischen Ausformungen des Gedankenguts als auch zur konkreten Suche, wie etwa bei Kolumbus. Die Sehnsucht bzw. die Hoffnung wird zum treibenden Motor: Die Hoffnung entwirft sich also ihre utopischen Zielvorstellungen in der Ikonographie eines idealen Wunschraumes, in der kontrapunktisch-komplementär regressives Erinnern und progressives Streben mitempfunden werden. Die antizipierende Hoffnung bewegt sich jedoch nicht nur in der zeitlichen Dynamik der räumlichen Bilder, sondern treibt die Menschen auch ganz realiter auf die Suche nach dem Paradies. Sie verharrt nicht nur in der reflexiven Kontemplation, sondern tritt heraus aus der Betrachtung und bricht aktiv in Richtung auf das Wunschziel auf.4 Die divergierende Auslegung der Jenseitsvorstellung im Christentum und im Judentum trotz gleicher ursprünglicher Textbasis5 verdeutlicht auch den kulturellen Mentalitätsunterschied. Im Judentum trägt das Paradies den Namen »Garten 2 3 4 5
Vgl.Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, S. 36f. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies. Frankfurt: Verlag Jochen Wörner 1984, S. 8 Ibid. S. 9 Gemeint ist hier der Tanach, aus dem sich in der christlichen Tradition dann das Alte Testament entwickelte.
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Eden« und nimmt keine so wesentliche Rolle ein wie im Christentum. Die Geschichte des jüdischen Paradieses wird nicht in das jüdische Weltbild integriert. Das Judentum sieht keine Projektion der Vorstellung ins Jenseits vor. Das Paradies ist nicht mit dem Himmel, sozusagen als Wohnort Gottes, gleichzusetzen. Jedoch ist auch der Garten Eden in mehrere Ebenen unterteilt, wobei die oberste Ebene bis zum Reich Gottes, dem Himmel, reicht. Widersprüchlich sind die Ausführungen der Apokalyptiker darüber, wann der »paradiesische Ort der Glückseligkeit« betreten wird – ob gleich nach dem Tod oder erst bei der Totenauferstehung. Ursprünglich gab es im Tanach keine Auferstehung und kein paradiesisches Jenseits. Bis zur Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends hat man sich das Sterben als ein Hinabsteigen in eine Unterwelt vorgestellt, in der die Toten nur als Schatten existierten. Erst nach der Zerstörung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar 587 vor Christus und der Deportierung von Teilen der Bevölkerung ins Exil entwickelten sich neue Vorstellungen. Oft sprechen die biblischen Propheten auch von einer wundersamen und von Gott bewirkten Wiederherstellung des in den Kriegen verwüsteten Landes, das nun dem anfänglichen Paradies gleicht.6 Das Christentum siedelt das Paradies im Himmel in der Nähe Gottes an. In der Bibel finden sich nur vage Beschreibungen dieses Ortes der Erlösung. Der Urzustand der Menschheit wird anhand eines utopischen Gartens versinnbildlicht, aus dem Adam und Eva nach dem Sündenfall vertrieben werden: Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. (Genesis 2, 8-9)7 Der Mensch lebt nach dem Sündenfall Adams und Evas mit der Erbsünde und kann nur durch ein im christlichen Sinne rechtes Leben nach seinem Tod wieder von seiner Schuld erlöst werden und in ewigem Frieden im Reich Gottes leben. Der Sündenfall bildet die Basis bzw. den Ausgangspunkt des christlichen Paradiesmythos. Während im Judentum davon ausgegangen wird, dass der Mensch jeweils über gute und schlechte Eigenschaften verfügt und der Glaube ihn auf seinem rechten Weg leiten kann, ist im Christentum der selbst verschuldete Verlust des Paradieses traumatisch. Kulturwissenschaftlich betrachtet ist es also wenig verwunderlich, wie wesentlich und existenziell die Suche nach dem (verlorenen) Paradies ist – und das bis heute.
6 7
Vgl. Khoury, Adel Theodor (Hg.): Lexikon religiöser Grundbegriffe. Judentum, Christentum, Islam. Graz (u.a.): Verlag Styria 1987, S. 484f. Die Bibel. Einheitsübersetzung, S. 6
3 Paradise lost? Paradise wanted!
Neben dem kulturellen Einfluss der christlichen Tradition war jedoch bereits die griechisch-römische Antike, aus der sich auch die abendländischen Geisteswissenschaften speisten und speisen, an der Entwicklung des Paradiesbildes beteiligt. In den griechisch-römischen Überlieferungen wird meist vom »einstigen Überfluss der Natur«, von »Wohlgerüchen« und vom »ständig frühlingshaften Klima« sowie dem »Fehlen von Leid« und dem »Frieden zwischen Mensch und Tier« berichtet.8 Bereits Platon schildert in seinem Werk Kritikas seine Idee eines paradiesischen Inselstaats mit Namen Atlantis: Am Meer, und über die Mitte der ganzen Insel hin, lag eine Ebene, die die schönste aller Ebenen und von trefflicher Fruchtbarkeit gewesen sein soll. […] Was ferner die Erde an Wohlgerüchen jetzt irgendwo nährt von Wurzeln oder Kräutern oder Hölzern oder von hervorquellenden Säften teils von Blumen oder Früchten, das trug sie und ernährte es gut. Ferner die veredelte Frucht, und zwar die trockene, die zu unserer Ernährung dient und all die, die wir zum Vergnügen des Essens zusätzlich verwenden – […] – und die, welche baumartig ist und Getränke, Speisen und Salböle trägt, und dann diejenige, welche zu Scherz und Freude da ist, die schlecht zu lagernde Frucht der Obstbäume und all das, was wir als Linderungsmittel bei Überfüllung an beliebten Nachspeisen dem Ermatteten vorsetzen – dies alles brachte die damals noch unter der Sonne weilende gottbegnadete Insel schön, wunderbar und in unendlicher Menge hervor.9 Die Religion an sich ist eher als Kontrastbegriff zum ursprünglichen Mythos bzw. als eine spätere, aus dem Mythos hervorgegangene Bewusstseinsform zu verstehen. Wie Rössner anhand eines Zitates von Hubertus Halbfas anführt, der sich mit Claude Lévi-Strauss’ strukturalistischen Konzepten beschäftigt, sei der Mythos Teil aller Universalreligionen, eben weil er den Wunsch impliziere, der »Heillosigkeit der Erdexistenz« zu entkommen. Der Mythos wird zum Versuch, diesem Wunsch zu entsprechen. In der Literatur etabliert sich dieser Versuch als einheitliche Denkfigur. In der vorchristlichen Tradition ist es vor allem Vergil, der in seiner lateinischen Spielart der bukolischen Literatur Hirtengedichte nach Arkadien verlegt und es dadurch bekannt macht. Der Begriff Arkadien leitet sich zwar von der gleichnamigen griechischen Landschaft im Hochland des Peloponnes ab, ist jedoch »von Anbeginn eine Fiktion, ein poetisches Traumland, das im Kopf des römischen Dichters Vergil entstanden ist«. Vergils Hirten sind mythische Gestalten und nichts anderes 8
9
Krauss führt hier den griechischen Dichter Hesiod, Platons Politea und Ovids Metamorphosen als Beispiele an. Vgl. Krauss, Heinrich: Das Paradies. Eine kleine Kulturgeschichte. München: C. H. Beck Verlag 2004, S. 14f. Platon: Werke in acht Bänden. Timaios. Kritias. Philebos. Band 7. Übersetzt von Hieronymus Müller und bearbeitet von Albert Rivaud und Klaus Widdra. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 231ff.
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als »Symbole der Sehnsucht nach einer friedvollen, heiteren Welt«.10 Es ist wenig verwunderlich, dass Vergil sich diesem Thema gerade in einer Zeit zuwandte, als sich das römische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht befand und sein Untergang bereits absehbar war. Da es sich bei Arkadien um eine bukolische Fantasie handelte, die keinen Anspruch auf Realität erhob, wurde sie von der christlichen Religion nie als Konkurrenz aufgefasst und konnte problemlos koexistieren.11 Einen neuen Stellenwert bekam das Arkadien-Motiv in der Renaissance nicht nur in der Lyrik, sondern auch in der Epik12 und Dramatik sowie in der Malerei und Architektur. Zur Barock- und Rokoko-Zeit erlebte es eine neuerliche Hochblüte. Arkadien konnte als Landschaft und Motiv bis in die Neuzeit fortbestehen und wird als Vergleichsparameter – beispielsweise bei Max Frisch als indianisches Arkadien – auch in der Beschreibung der Neuen Welt angewandt. Im Zuge der zahlreichen Seefahrten und der sogenannten Entdeckung Amerikas durch Kolumbus traten auch die Atlantis-Vorstellungen wieder in den Vordergrund. Der Wandel des Weltbildes in der Neuzeit und die langsame thematische Ablösung vom Christentum veränderten auch die Paradies-Vorstellung. So greift beispielsweise der englische Schriftsteller Thomas Morus in seinem Roman Utopia wieder das Thema der »Insel der Glückseligen« auf und begründete mit seiner Wortschöpfung Utopia einen noch heute gültigen Gattungsbegriff.13 In der kulturgeschichtlichen Entwicklung des Paradiesbildes rückte der amerikanische Kontinent durch Kolumbus und seine Schriften sehr bald ins Zentrum der europäischen Interessen. Kolumbus war nicht der Erste, der die Idee hatte, nach dem irdischen Paradies zu suchen. Seine Vorgänger sind insofern von großer Wichtigkeit, da diese »Vor-Bilder des dynamischen Prinzips der Suche nach dem Paradies« sind und so maßgebliche Akzente setzten, in denen grundsätzliche Motive »präfiguriert« sind. Ihre Geschichten und die von ihnen geschaffenen Helden dienten den späteren Suchenden als Vorbild. Börner erwähnt hier Herakles, Jason und einige andere. Als eines der wichtigsten Vorbilder gilt Marco Polo, der, wie bereits erwähnt, auch für Kolumbus von großer Relevanz war.14 Die Vorstellung und Beschreibung des irdischen Paradieses zeigt sich in der Literatur zunächst relativ konstant. Dies erklärt sich aus der Tatsache, dass der Traum einer idealen Welt, auch wenn in unterschiedlichen Spielarten und dementsprechend an die jeweilige Zeit und die gesellschaftlichen und politischen
10 11 12 13 14
Vgl. Leuscher: Udo: Arkadien. Entstehung einer Traumlandschaft, www.udo-leuschner.de/pdf/arkadien.pdf (26.11.2019), S. 5 Vgl. ibid. S. 7 Zu erwähnen ist hier vor allem der Schäferroman. Vgl. Leuscher: Arkadien, S. 3 Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 43
3 Paradise lost? Paradise wanted!
Zustände angepasst, grundsätzlich die gleichen Bilder und Vorstellungen vermitteln muss. Trotz Adaptierungen und thematischer Aktualisierungen finden keine Transformationen der menschlichen Hoffnungsinhalte statt. Die Vorstellung des irdischen Paradieses konstituiert sich primär durch die Erfahrung der Negation dieser Idee. Die Erfahrung an sich kann als (westliche) anthropologische Konstante bezeichnet werden. Es ändert sich nichts an ihrer Ausrichtung, lediglich Akzente könnten verschoben oder neu gesetzt werden. Die Hoffnung an sich schafft die stärksten Gegenbilder zur Erfahrung im Sinne eines individuellen Traumes vom glücklichen Leben an einem paradiesischen Ort. Durch konkrete und reale Projektionsziele, die es vermögen, die Hoffnung zu nähren, entstehen neue Bilder und Vorstellungen. Dies trifft für die Neue Welt zu, in der Europa diverse Paradiese finden und konstruieren konnte – zumindest literarisch.
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4 Utopia, Arcadia, Amerika: Die Geschichte einer Anbahnung
Das frühe Mittelalter war geprägt durch die christlich dominierten Paradiesvorstellungen und das Gedankengut der Antike. Jüdisch-christliche und heidnischantike Vorstellungen hatten sich in dieser Phase der Neuorientierung durchdrungen. Das ursprüngliche Bild des paradiesischen Gartens Eden wurde um weitere Wunschträume bereichert. Es entstand eine Vielzahl an ähnlichen Vorstellungen und Bildern, die auswechselbar waren. Durch die Christianisierung im Mittelalter stand das Bukolische dominierend im Vordergrund der Projektionen. Bereits in Vergils Ideallandschaft Arkadiens waren heidnische Motive nur »Versatzstücke« für die christliche Paradiesvorstellung. Auch Kolumbus’ Vorstellungen waren, wie schon gesehen, christlich geprägt, wurden aber auch um einige mythologische Motive bereichert. Die eigentliche Wiederentdeckung der Ideallandschaft Arkadiens und der mythologischen Vorstellungen des Goldenen Zeitalters vollzog sich in der Renaissance, die sich – auch in Abgrenzung zum Mittelalter – der Wiederbelebung antiker Motive und Stoffe verschrieben hatte. Dies brachte ein neues Selbstverständnis und Menschenbild mit sich. Im Vergleich zur Antike jedoch, in der Arkadien als zeitlose Ideallandschaft verstanden wird, wird sie in der Renaissance, etwa bei Sannazaros Arcadia, zu einem historischen Traumbild einer versunkenen Welt bzw. eines verlorenen Paradieses. Der locus amoenus hingegen nimmt durchaus auch Elemente älterer Paradiesvorstellungen in sich auf und wird zum irdischen Garten des Glücks. Die bukolische Sehnsuchtsvorstellung der Renaissance unterscheidet sich grundsätzlich von der Idee des irdischen Paradieses, da sie nicht die konkrete Hoffnung des Menschen nach einem paradiesischen Ort symbolisiert. Sie ist laut Börner kein utopisches Fernziel, sondern vielmehr eine »Stil- und Lebensform, die ein Idealbild aus der Vorzeit aufgreift«. Die Idee vom irdischen Paradies verliert ihre Wirkung dabei aber trotzdem nicht, sie wird lediglich auf eine kulturspezifische Denkform reduziert.1
1
Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 66
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Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista
Durch die Entdeckung der Neuen Welt ergeben sich neue Möglichkeiten einer konkreten geographischen Projektion. Die statischen Vorstellungen werden mit neuen Erfahrungen verbunden. Die Beobachtungen in der Neuen Welt wurden gefiltert durch bereits bestehende Ideen und Denkformen wahrgenommen und tradiert. Amerika diente den Europäern vor allem dazu, ihre lang geübte Sicht der Natur zu bestätigen. Kolumbus’ Entdeckung ermöglichte es dem Menschen zudem, die Verwandlung der Natur wirkungsvoller und gründlicher denn je zuvor zu betreiben.2 Von Anfang an konstituiert sich das Amerikabild – auch weil es die Paradiessehnsüchte der Europäer bedienen muss und folglich vor allem auf Naturschilderungen beruht – aus Bild und Gegenbild. Die Natur ist entweder sanft und mutet paradiesisch an – oder aber sie ist wild, erscheint unzivilisiert und wird zum Kontrastort stilisiert. Die kontrastierende Darstellung ergibt sich aus der Übermacht der fremden Natur. Die Angst der Europäer vor dem neuen Naturerlebnis beruht laut Sale auf Ignoranz, da der europäische Geist alles das fürchtet, was er nicht versteht, und grundsätzlich verabscheut, was ihm Angst einflößt.3 Es ist aber nicht nur das Unbehagen gegenüber der übermächtigen und fremden Natur, das die kontrastierende Darstellungsweise favorisiert. Sie ist auch Ausdruck der konkreten Konzepte und Vorstellungen, die die Europäer in die Neue Welt projizieren und deren Projektion mitunter mit Schwierigkeiten verbunden ist – wie immer, wenn Mythos und Realität aufeinandertreffen. Zudem gestaltet sich das europäische Naturverständnis speziell. Sale reflektiert diesbezüglich darüber, ob es nicht für alle Kulturen zutreffend sei, die Umwelt auf die eine oder andere Weise zu bekämpfen, resümiert jedoch, dass Europa auch hier eine Sonderposition einnimmt, da es in keiner anderen Kultur zu solch massivem Bruch zwischen Mensch und Natur gekommen ist, bei dem der Mensch jeglichen Respekt vor der Natur verloren hat. Auch die Idee, dass der Mensch es nur zu materiellen Wohlstand bringen könne, indem er sich der Natur widersetze, sei Ausdruck des europäischen Naturverständnisses.4 Das europäische Leben an sich steht im ständigen Widerspruch zur Natur, was jedoch bleibt, ist die Ursehnsucht nach ihr. Nicht verwunderlich ist es folglich, dass keine andere Kultur die Paradiessehnsucht so vehement vertritt und verinnerlicht hat, sich aber gleichzeitig durch ihr ständiges Streben nach Fortschritt immer weiter vom Urzustand der idealen Gesellschaft entfernt. Ein Bild dafür findet sich auch in Walter Benjamins Allegorie des Engels der Geschichte. Benjamin beschreibt dabei das Bild Angelus Novus von Paul Klee wie folgt:
2 3 4
Vgl. Sale: Das verlorene Paradies, S. 10 Vgl. ibid. S. 95 Vgl. ibid. S. 111ff.
4 Utopia, Arcadia, Amerika: Die Geschichte einer Anbahnung
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.5 Benjamin entwirft hier ein Bild des Stillstands in Bewegung, der Engel der Geschichte ist durch den Sturm – hier Symbol für den Fortschritt – immobilisiert. Sein Blick bleibt auf die Vergangenheit, das Paradies gerichtet, der Sturm treibt ihn aber immer weiter weg davon. Natürlich ist Benjamins Text, der 1940 erschienen ist, grundsätzlich als eine Kritik an den Zeitumständen zu verstehen. Benjamin weist in seinem Text darauf hin, dass die Geschichte an sich nie abgeschlossen ist. Die Katastrophe – hier als Sinnbild für die Geschichte als solche zu verstehen – wächst weiter; sie häuft Trümmer, wiederum Sinnbild für einzelne historische Ereignisse, aufeinander und wächst stetig. Der Engel möchte die geschichtlichen Verwüstungen heilen. Die Taten der Vergangenheit können aber vor allem dann nicht wieder gut gemacht bzw. überwunden werden, wenn sie in der Gegenwart nicht als solche erkannt werden. Dabei bedingt die Vergangenheit sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft. Der Fortschritt bzw. der Wunsch danach ist die treibende Kraft, die den Menschen immer wieder dazu bewegt, historische Trümmer anzuhäufen. Die Allegorie kann auch losgelöst von den speziellen historischen Ereignissen, auf denen der Text aufbaut, und als grundsätzliche Parabel für das Europäertum gedeutet werden. Den Blick immer auf die vermeintlich glückliche Urzeit gerichtet, treibt der Fortschritt in seinen diversen Ausprägungen und den daraus resultierenden trümmeraufhäufenden Katastrophen – hier seien der Kolonialismus, der Imperialismus, der Kapitalismus und die Technophilie als exemplarische Beispiele erwähnt – Europa immer weiter weg von ebendieser Sehnsuchtsvorstellung. Nicht verwunderlich ist es daher, dass sich die ursprüngliche Idee – die Sehnsucht nach einem glücklichen Urzustand – je ferner sie rückt, zunehmend radikalisiert, um als solche überhaupt noch bestehen zu können.
5
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften 1 – 2. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 19741 , S. 697
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Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista
Das Paradiesbild wird zu einem zivilisationskritischen und komplementären Gegenstück zur europäischen Realität. Das verlorene Paradies wird zu einer in die Gegenwart bzw. in die Zukunft projizierten Idee aus Komponenten der eigenen Vergangenheit, die durch (Fehl-)Entwicklungen der Zivilisation verloren gingen. Beim Übergang von den poetischen Projektionen, wie etwa Arkadien, hin zur Neuen Welt wird dieses Gegensatzverhältnis laut Rössner nun auch auf die allgemeine Entwicklung der menschlichen Kultur übertragen.6 Ein sich (vermeintlich) auf einer früheren Entwicklungsstufe befindliches Land wird der europäischen Zivilisation gegenübergestellt und mystifiziert. Der Grundgedanke, der sich nicht nur im biblischen Paradiesmythos, sondern auch in verschiedensten literarischen Projektionen findet, ist der Wunsch, an eine frühere und ursprünglichere Stufe der Entwicklung zurückzugelangen. Daraus ergibt sich die zentrale Funktion der Natur, die sich in der literaturhistorischen Entwicklung zunehmend radikalisiert, anstatt sich den modernen Möglichkeiten der Fantasie anzupassen, was sich mit der stetig fortschreitenden Distanzierung vom Urzustand erklären lässt. Auch wenn sich die literarischen Spielarten der Paradiesdarstellungen grundlegend unterscheiden, ist in allen der Gegensatz Kultur – Natur inhärent. Die Reduktion des Anderen auf die Natur, wie auch die Suche nach dem Paradies selbst, spiegelt das abendländische Kulturverständnis bzw. die daraus resultierenden Bedürfnisse. Faszinationspunkte sind und bleiben der Urzustand der Natur sowie die Reinheit und Unverdorbenheit der Menschen, die in ihr und mit ihr leben. Ähnlich der Tradition der europäischen Völkerbeschreibung dienen auch die Naturbeschreibungen Europa dazu, sich selbst bzw. die eigenen Ideen zu bestätigen. Die exotische Natur Amerikas wird entsprechend der europäischen Sehnsüchte funktionalisiert. Der materiellen Eroberung Amerikas folgt die wissenschaftliche sowie die literarische. Keine Liebesbeziehung ohne Eroberung. Die wissenschaftliche sowie die literarische Conquista der Neuen Welt sind – in der Diktion des Postkolonialismus – Ausdruck epistemischer Gewalt. Die Projektionsfläche soll nicht tatsächlich ergründet, sondern wissenschaftlich bzw. literarisch erobert werden. Den Darstellungen liegt ein Bemühen um ein europäisches Selbstbild zugrunde. Im Falle von Mexiko gestalten sich die entworfenen Bilder mitunter recht unterschiedlich, auch werden sie, angepasst an zeithistorische, soziale und kulturelle Umstände, entsprechend weiterentwickelt und adaptiert. Was jedoch bleibt, ist die Eroberung: Mexiko muss den jeweiligen Vorstellungen gerecht werden. Mexiko, die Geliebte Europas, wird gefügig gemacht und muss sich fügen. Mexiko wird benutzt, um eigene Vorstellungen zu transportieren und bereits bestehenden Ideen und Sehnsüchten Raum zu geben. Mexiko wird auf 6
Vgl. Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, S. 36f.
4 Utopia, Arcadia, Amerika: Die Geschichte einer Anbahnung
Ausschnitte reduziert, die ins Bild passen, es wird zurechtgestutzt auf die Größe, in der es benötigt wird. Die entworfenen Bilder sind vielseitig, was sie jedoch eint, ist die spekulative Rekonstruktion eines modellhaften Frühzustandes. Mexiko dient Europa zur kritischen Verneinung der bestehenden Ordnung der Gegenwart. Der Entwurf eines idealen Zustandes wird oftmals angedeutet, die literarischen Mexikobilder beinhalten demnach mitunter auch eine utopische Intention. Das literarische Mexiko ist ein schillerndes Konstrukt – und eine europäische Erfindung, in der das verlorene Paradies zu suchen ist.
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5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Die Entdeckung Amerikas ebnet den Weg für dessen literarische Entdeckung – und Eroberung. Kolumbus selbst suchte das irdische Paradies. Durch seine Stilisierungen des edlen Wilden und seine superlativisch angelegte Naturkontemplation setzt er den Grundstein für eine Idee mit utopischer Intention, die eine Gegenwelt zum zivilisierten Europa darstellt. Der Paradies-Mythos wird mit Vorstellungen, die im Gegensatz zur tatsächlichen gesellschaftlichen Realität stehen, neu definiert. Börner spricht diesbezüglich auch von einem Kompromiss zwischen dem Urtraum der Menschheit und gesellschaftlichem Engagement.1 Die Wunschbilder des Unterbewusstseins werden in der konkreten Projektion zeitgeschichtlich adaptiert. Im Zentrum der Projektion steht ein Ort, der eine bessere Zeit bzw. eine bessere Gesellschaftsstruktur verheißen kann. Mexiko ist in der literarischen Rezeption von Anfang an ein Naturparadies und bietet Raum für zivilisationskritische Elemente. Die verstärkte Stilisierung Mexikos als Sozialutopie hat sowohl historische als auch politische Ursachen. Geschichtliche Ereignisse wie die mexikanische Revolution von 1910 sowie die Umsetzung der in der Reform geforderten Inhalte während der Präsidentschaft von Lázaro Cardénas del Río2 , der auch maßgeblich an der Etablierung Mexikos als Exilland beteiligt war, lieferten Inhalte und Motive für entsprechende literarische Bilder. Verglichen mit anderen lateinamerikanischen Realitäten gestaltet sich die mexikanische Natur vom europäischen Projektionsstandpunkt her oft wild und kaum zähmbar. Sie deckt sich daher nur in Teilen mit den paradiesischen Sehnsuchtsvorstellungen, kann ihnen jedoch insofern entsprechen, als das exotische Moment – welches der Kontakt mit der unbezähmbaren Natur bietet – eskapistisches Potenzial in sich birgt und seinerseits Ursprünglichkeit vermittelt und versinnbildlicht. Bereits seit der Kolonialzeit gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung der verschiedenen Regionen Mexikos. Diese ergeben sich aus den geographischen und
1 2
Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 88 Cardénas war von 1934 bis 1940 Präsident Mexikos.
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kulturellen Unterschieden des Landes und gestalten die Möglichkeiten der Projektion dementsprechend vielfältig. Auch die Spanier waren auf der Suche nach dem irdischen Paradies, sahen sich in Mexiko jedoch sehr bald mit diversen Hochkulturen konfrontiert, die nicht ins Bild einer unberührten Natur passten. Dieser Unterschied in der Wahrnehmung, verglichen beispielsweise mit relativ unberührten und gleichförmigen Gebieten am Amazonas, hatte entsprechenden Einfluss auf die späteren Paradiesprojektionen. Neben der Vision eines Eldorados, das als paradiesischer Ort unermesslichen Reichtum verspricht, existiert bereits seit der Eroberung ein negatives Gegenbild – und bis heute oszilliert die Perzeption Mexikos zwischen locus amoenus und locus terribilis.3 Aus der Vielseitigkeit des Landes ergibt sich mitunter eine Modifikation im Mexikobild, die notwendig ist, um die Funktionalität der Projektion weiter zu gewährleisten: Die wilde Natur wird dem Bild einer ursprünglichen und unverdorbenen Zivilisation gleichgesetzt. Es vollzieht sich ein Wandel des Ur-Mythos. Die idyllische Landschaft weicht einer unbezähmbaren Natur voll an Exotik. Die Naturkontemplation eröffnet vielseitige Möglichkeiten einer Europa- und Zivilisationskritik. Die literarischen Bilder Mexikos sind vielfältig und einem steten Wandel unterzogen – alle verfügen sie jedoch über denselben (ideologischen) Kern. Die Andersartigkeit ist, wie bei allen Fremdbildern, wesentliches Element der Beschreibung. Als Schlüssel der Erschließung fungiert stets der Vergleich mit dem Eigenen, der das Fremde auf den ersten Blick degradiert, um es sich zu eigen zu machen. Zur Konstanten Europa braucht es stets eine Unbekannte, damit die eurozentristische Gleichung auch funktioniert. Erst durch die Projektion von europäischen (ideologischen) Wünschen, Konzepten und Sehnsüchten entsteht das literarische Mexiko. Mexiko wird auf Einzelaspekte reduziert, die Europa ein dementsprechendes Projektionsfeld eröffnen. Elemente der mexikanischen Geschichte, Kultur und Natur werden herangezogen, stilisiert, exotisiert und metaphorisch instrumentalisiert. An der Entwicklung des Mexikobildes kann ergründet werden, dass sich die Problematik einer literarischen Projektion durch ihren Anspruch ergibt, sich eines realen Ortes als Projektionsfläche zu bedienen. Die Projektion scheitert oft an der Realität selbst. Beide Kulturen sind in ständigem Wandel begriffen. Die so betitelte Liebesbeziehung zwischen Europa und Mexiko gestaltet sich dadurch mitunter nicht unproblematisch. Wenn die mexikanische Realität sich nicht gut genug ins Bild einpassen lässt, wird die Irritation spürbar. In diversen literarischen Darstellungen zeigt sich, dass das Bild auch einmal kippt und modifiziert und adaptiert werden muss, um funktional zu bleiben. Das Staunen weicht, etwa in Reiseberichten, oftmals der Ernüchterung. Dieses Moment ist jedoch auch Teil des von Bhaba 3
Vgl. Schmidt-Welle, Friedhelm: Mexiko als Metapher. Inszenierungen des Fremden in Literatur und Massenmedien. Berlin: Verlag Walter Frey 2011, S. 12
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so benannten zentralen Prozesses der Ambivalenz und wesentlicher Teil der Konstruktion des Stereotyps im kolonialen Diskurs. Die Wiederholbarkeit wird eben dadurch erst gewährleistet. Häufig beschränkt sich die Darstellung auf einen restringierten Ausschnitt der Wirklichkeit, der nicht selten im Gegensatz zur restlichen sich darbietenden Realität steht, die Projektion aber durch die motivische Reduktion und ihre Überstilisierung erst ermöglicht. Die mexikanische Realität kann in ihrem vollen Umfang nicht halten, was das literarische Bild versprechen bzw. vermitteln soll, was sich vor allem in den moderneren Darstellungen Mexikos zeigen wird. Das Phänomen der Desillusionierung ist beim Zusammenstoß von Wunschfantasien und Realität kaum zu vermeiden: Ob nun die andere Welt in den von grotesken, halb- und übermenschlichen Ungeheuern behausten Grenzbezirken der Erde besteht, ob sie die »neue Welt« Amerikas ist, ob die Inseln des Pazifik, Afrika oder Indochina, ob gar die mythische Welt des heidnischen alten Griechenland oder das für westliche Augen verwirrendmysteriöse Leben der Ostjuden gemeint ist: stets ziehen sich durch die Wunschphantasien, aus der eigenen in die andere Welt zu entkommen, oder sich in ihr andächtig zu assimilieren, merkliche Spuren der Desillusionierung, die aufgrund der Konfrontation mit der Wirklichkeit eingetreten ist. Selten scheint das Experiment der kulturellen Konversion, des Überlaufens, des »going native« auf die Dauer zu gelingen.4 Die Projektion funktioniert, solange sie gewisse Stereotype und Klischees bedient und Inhalte liefert, mit denen das literarische Bild Mexikos konstruiert werden kann. Auch wenn die Brüche sich schon markant zeigen, ist die Projektion, solange ihr Inhalte geboten werden, existent und funktional. Ihre Auslegung gestaltet sich meist dann besonders akzentuiert, wenn sie sich über die bereits existierenden Brüche hinwegsetzen muss. Paradiesvorstellungen überlagern bereits die frühe Perzeption und Rezeption Mexikos. Der Geistliche Bartolomé de las Casas prägte mit seinen Beschreibungen der Bewohner der Neuen Welt das Bild des sanftmütigen Wilden, wodurch sich die Adaption des guten Indianers als wichtige Figurentypisierung der deutschen Abenteuerliteratur beispielsweise in den Werken Karl Mays entwickelte.5 Die Stilisierung des literarischen Mexikos gestaltet sich vielseitig. Immer aber ist Mexiko eine (europäische) Metapher und fungiert im übertragenen Sinne für imaginäre Konzepte, Sehnsüchte und Visionen europäischen Ursprungs. Mexiko
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Koebner, Thomas; Pickerodt, Gerhard (Hg): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 8 Vgl. Schmidt-Welle: Mexiko als Metapher, S. 11
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ist für Europa ein Land, das noch in einer frühen, fast kindlichen Entwicklungsstufe steckt. Die Gleichsetzung traditioneller Konzepte von Weiblichkeit mit Kindheit, Reinheit und Unschuld findet in der Konstruktion des literarischen Mexikobildes ihren Ausdruck: die natürliche Geliebte und der (dominante) fortschrittliche europäische Eroberer. Der Beginn einer Liebesgeschichte – oder zumindest einer (literarischen) Eroberung.
5.1
Erste Annäherungsversuche: Mexikos als Projektionsfläche – und als europäische Geliebte
Neben Kolumbus waren es auch andere spanischen Eroberer, die das Bild der Neuen Welt prägten und weiterentwickelten. Kolumbus’ Rolle als nachhaltigster Bildspender bleibt jedoch unangefochten, da er die Neue Welt als Projektionsfläche entdeckte und erschuf. Für Mexiko ist als Eroberer vor allem Hernán Cortés relevant. Als Cortés 1520 in Mexiko landete, war er nicht an der Kultur und dem Land als solchem interessiert. Für ihn war Mexiko ein Kapital, das es auszuschöpfen galt. Um dieses Ziel schnellstmöglich zu erreichen, war es nötig, das mexikanische Volk gefügig zu machen und zu unterwerfen. Cortés’ Berichterstattung ist nicht die eines Anthropologen oder eines Ethnologen, sondern die eines Feldherren. Dementsprechend euphemistisch gestalten sich seine Beschreibungen. Trotz des vorrangig kapitalistischen Interesses an dem neu entdeckten Erdteil zeigte sich sogar Cortés mitunter angetan von der exotischen Schönheit der mexikanischen Natur, die auch seinen kriegerischen Augen nicht entgangen war: »Das ganze Land um die Stadt ist herrlich bebaut, weil dort die Erde sehr fruchtbar ist und leicht bewässert werden kann. Die Stadt ist im Grunde schöner als irgendeine in Spanien, wie sie so in einer Ebene liegt und von hohen Türmen geschmückt ist.«6 Dieser Aspekt Mexikos ist für Cortés im Grunde jedoch unwesentlich. Er erwähnt in seinen Berichterstattungen die mexikanische Natur oder das mexikanische Volk nur einige wenige Male. Durch bewusst negativ gestaltete Darstellungen, die ihm als Rechtfertigung seiner zielorientierten Eroberung dienten, lieferte er neuen Stoff zur Komposition von Mexikobildern. Cortés schuf durch seine Beschreibungen das Fundament für neue europäische Lateinamerikadarstellungen, und dies nicht nur, weil seine Chroniken die der späteren Eroberer maßgeblich prägten, sondern auch aufgrund der weiten Verbreitung seiner Schriften. Ein Gegenbild zum Bild des irdischen Paradieses Amerika etablierte sich. Bereits zwei Jahre nach der Entdeckung Amerikas findet sich eine literarische Erwähnung in Sebastian Brants Narrenschiff. In seiner Strophe »Alle Länder erfor6
Cortés, Hernán: Die Eroberung Mexikos. Drei Berichte an Kaiser Karl V. Übersetzt von C.W. Koppe und Mario Spiro. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 19801 , S. 44
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schen wollen« bezieht sich Brant in vier Versen auf dieses für Europa bedeutende historische Ereignis: Man hat seitdem von Portugal Und von Hispanien überall Goldinseln gefunden und nackte Leut, Von denen gewusst man keinen Deut.7 Brant bedient sich des für die Beschreibung Amerikas so typischen Nacktheitstopos, der die Ursprünglichkeit und die naive Unschuld der Menschen verdeutlicht und somit auch eine paradiesische Kollokation impliziert. Brant schreibt der amerikanischen Natur einen paradiesischen Charakter im Sinne eines Eldorados zu. Er bezeichnet die Inseln als »Goldinseln«. Schon hier fallen mehrere wesentliche Bildkomponenten und Topoi zusammen. Nach Kolumbus finden sich eine Reihe von Reiseberichten und Schriften, die weiter auf die Prägung des Imagotyps wirken. Siebenmann führt in seinem Aufsatz über das Lateinamerikabild in deutschen Texten hier als wichtiges Beispiel Hans Stadens Wahrhafftige Historia8 (1557) und Ulrich Schmidels Wahrhafftige und liebliche Beschreibung9 (1567) an, die für die Weiterentwicklung des Bildes von großer Relevanz waren, da es sich nicht um enzyklopädische Beschreibungen der Fremde, sondern um narrative Erlebnisberichte handelt, wodurch sie größere emotionale Wirkung bei LeserInnen erzielten. Zu erwähnen sind auch die Druckgrafiken des Theodor de Bry (Amerika, 1590–1640), in denen über viele Bereiche der Entdeckung Amerikas berichtet wird und die auch mit Illustrationen versehen sind. Schon die vielfältigen Berichte zeigen, wie bunt und ambivalent die Vorstellungen der Neuen Welt sowie das Interesse am Paradies Amerika waren. Das Bild des fernen Paradieses verfestigte sich bereits entsprechend früh in den Köpfen der Europäer.10 Die Negativität des Amerikabildes in der Reformationszeit wurde auch durch die sogenannte leyenda negra, die Schwarze Legende, beeinflusst, die im 16. Jahrhundert von Italien ausging, wo man der spanischen Besetzung überdrüssig geworden war. Gezeichnet wurde in erster Linie ein negatives Bild der spanischen Dominanz, die Spanier selbst wurden als menschenverachtend, brutal und rückständig dargestellt. Das Bild wurde vor allem von politischen Gegnern stilisiert und inszeniert. Die Spanienfeindlichkeit fand im protestantischen Europa reichen 7 8 9 10
Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Übertragen von H. A. Junghans. Stuttgart: Reclam 1964, S. 239 Wahrhafftige Historia und Beschreibung eyner Landschafft der Wilden/Nacketen/Grimmigen Menschenfresser Leuthen […] Wahrhafftige und liebliche Beschreibung etlicher fürnemer Indianischen Landschafften und Insulen Vgl. Siebenmann, Gustav: »Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen literarischen Texten«, in: Siebenmann, Gustav; König, Hans Joachim (Hg.): Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum. Tübingen: Niemeyer 1992, S. 185
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Nährboden, nicht zuletzt aufgrund der repressiven Maßnahmen Spaniens in den besetzten Niederlanden. Die grausame Eroberungspolitik der Spanier wurde vor allem durch das Werk Brevísima relación de la destruccíon de las Indias11 von Bartlomé de las Casas bekannt, der zum ersten Verteidiger der amerikanischen Urbevölkerung wurde und durch sein Werk das Bild des edlen Wilden weiterentwickelte. Ebenso relevant für die Verbreitung des Bildes sowie des Begriffes des edlen Wilden in der Literatur war der Spanier Alonso de Ercilla y Zùñiga mit seinem Epos La Araucana (1570). Erst durch die Philosophen der Aufklärung etablierte sich der Begriff jedoch endgültig. Zwischen Renaissance und Barock schien alles Neue entdeckt zu sein und es kehrte eine Phase der Ruhe ein, in der man sich damit beschäftigte, die Kolonien auszubauen. Für die Literatur hieß das, dass die Neugierde nach dem Neuen an die Grenzen des Auffindbaren gestoßen war.12 In der Barockzeit ist vor allem Johann Bissels Werk Argonauticon Americanorum (1647) von Relevanz. Bissel lässt – basierend auf den Berichten des Spaniers Pedro Gobeo de Victoria – als erster Deutscher auch eine Fülle an Landschaftsbeschreibungen in sein Werk einfließen. Er zeichnet ein wenig positives Bild der Neuen Welt. Die so eindeutig negativ dargestellte Andersheit entspricht dem barocken Zeitgeist. Bissel selbst hat Amerika nie betreten. In der Topik der Alteritätserfahrung weichen nun »Vergleich und Analogie der Betonung des Unterschieds und der Umkehrung«, wie Siebenmann, sich auf einen Essay über das Andere von François Hartog13 beziehend, anführt.14 Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, wurden die Sehnsuchtsvorstellungen im Barock verstärkt wieder in die idyllische Landschaft Arkadiens projiziert. Amerikas Zeit als literarischer Sehnsuchtsort war noch nicht gekommen. Die Weichen waren aber bereits gestellt. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wandelt sich der dogmatische Glauben hin zu einer neuen, rationaleren Theologie. In neueren Reiseberichten geht es weniger um das vermeintliche Eden oder das Eldorado. Vielmehr gewinnt die ethnographische, enzyklopädische Wissensgier immer mehr an Bedeutung, die es in den Reiseberichten zu stillen galt. Entsprechend dem Weltbild vollzog sich hier keine Suche nach dem irdischen Paradies. Wissenschaftliche Bildungsinteressen treten in den Vordergrund, die Suche nach dem Paradies ist kein den Geist der Zeit bestimmendes Moment. Neue Berichte lieferten dennoch viel dichterisches Material für Daheimgebliebene. Die jesuitische Gemeindegründung in Paraguay, die Börne in diesem Zusammenhang erwähnt, hat wenig mit dem Traum des irdischen
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dt. Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 95 Hartog, François : »Le miroir d’Hérodote. Essai sur la représentation de l’autre«. Paris 1980 Vgl. Siebenmann: »Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen literarischen Texten«, S. 187
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Paradieses zu tun, sondern eher mit der »chiliastischen Hoffnung« auf ein neues Jerusalem, was viel eher einer Staats- und Gesellschaftsutopie entspricht.15 Ursprungsverheißende Projektionen waren nicht gänzlich inexistent. Vielmehr vollzog sich hier erstmals eine Verschiebung in Richtung Sozialutopie. Auch die Stilisierung des edlen Wilden war zu dieser Zeit wenig relevant, weil Errungenschaften der menschlichen Vernunft im Vordergrund standen. In der Philosophie taucht die Idee später vor allem bei Jean Jacques Rousseau und Denis Diderot auf. Diderot geht es nicht nur vordergründig um die simple Sehnsucht nach einem romantisch-primitiven Leben, er instrumentalisierte sie bereits als Gesellschaftskritik. Die Annahme, der Mensch sei von Natur aus gut, dient ihm – wie auch Rousseau und anderen Philosophen, die seine Thesen zum Vorbild nahmen – als Kritik an der aktuellen Gesellschaft. Im 17. Jahrhundert jedoch herrscht in der Literatur nach wie vor eine eher statische Paradiesvorstellung vor. Die bereits bestehende Bukolik wird lediglich um ein paar Bilder erweitert. Es handelt sich hierbei nicht so sehr um eine bildhafte Vorstellung vom irdischen Paradies, sondern vor allem um eine Art künstliches Paradies der Imagination, das Ausdruck einer gesellschaftlichen Lebensform ist. Diese pastoralen Ideallandschaften orientierten sich sehr stark an den klassischen Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter und verarbeiteten keine Motive, die aus der Entdeckung der Neuen Welt gewonnen wurden. Die amerikanische Urbevölkerung spielte in den diversen literarischen Bildern anfänglich eine eher untergeordnete Rolle. Erst durch spätere philosophische Strömungen wurden die BewohnerInnen der Neuen Welt interessant und so zu näheren Beobachtungen herangezogen bzw. für diverse Projektionen instrumentalisiert. Als Initiator einer neuen philosophischen Reflexion wird oft Michel de Montaigne genannt, der in seinen selbstkritischen Schriften zum Schluss kommt, dass wir Europäer grundsätzlich unfähig sind, das Fremde in all seiner Andersheit zu akzeptieren. Weiters ist er der Erste, der dem Fremden menschlich positive Charakteristika zuordnet, ohne es dabei zu instrumentalisieren. In der Literatur werden die BewohnerInnen der Neuen Welt kaum analytisch gesehen, sondern vor allem zu exotischen HeldInnen umfunktioniert. Die Überstilisierung der Exotik wird zum wichtigsten Instrument der Beschreibung. Denn nachdem der erste Schock des Neuen überwunden war, konnte laut Siebenmann nur noch Drastischeres die Gemüter erregen.«16 Für Mexiko ist hier vor allem der englische Schriftsteller John Dryden zu nennen, der in seinem Drama The Indian Emperor von 1665 die Begegnung zwischen Spaniern und den Inkas und Azteken satirisch darstellt. Auch sein Stück The Indian 15 16
Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 97 Vgl. Siebenmann: »Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen literarischen Texten«, S. 187
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Queen spielt am Hof Montezumas. Darin werden Motive sowie Elemente der europäischen Mentalität und Politik in eine Welt transportiert, die damit an sich nichts zu schaffen hat. Das heroische Drama bedient sich hier exotischer Kulissen und Charaktere, um bekannten dramatischen Stoffen ein neues Gesicht geben zu können. Auch wenn in diesen Stücken die BewohnerInnen Mexikos lediglich als mythische Hüllen benutzt werden, prägten dennoch auch diese Stücke das damalige Bild des Wilden in Europa. Der edle Wilde hält Einzug in die europäische Literatur, büßt dabei jedoch seine ursprüngliche literarische Identität ein und transformiert sich zu einer Art europäischem Helden – angereichert jedoch immer mit einem Schuss Exotik. Das Konzept des edlen Wilden schließt auch hier die Vorstellung eines besseren, da noch ursprünglichen Menschen und somit auch einen Gegenentwurf zur europäischen Realität ein. Das ursprüngliche Paradiesbild ist weiter im Wandel begriffen. Die imaginativen Paradiese wurden um verschiedene Motive bereichert und modifizierten bzw. erweiterten folglich das ursprüngliche Bild – sowohl in der Literatur als auch in der Philosophie. In der Aufklärung vollzieht sich die erste auffällige Veränderung des Gesamtbildes von Lateinamerika. Da die Kunst erstmals eigenständig und nicht mehr von Religion oder Fürstenhöfen abhängig war, entstanden neue thematische Interessen und Spielräume. Das Zeitalter der Aufklärung steht gänzlich im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen Glauben und Wissen bzw. zwischen Religion und Fortschritt. Die emotionalen Grundbedürfnisse des Individuums dominieren die Wertvorstellungen der Zeit. Tatsächliche Phänomene treten in den Hintergrund und bunte Welten voller Abenteuer und Exotik fungieren zunehmend als ideale Gesellschaftskonstrukte. Sie ermöglichen es, Utopien in einen (fiktiven) idealen Staat zu verlegen. Fiktive Reisen werden laut Börner zum Vorwand, um »Utopia« Authentizität zu verleihen. Durch die Emanzipation der Wissenschaften entsteht ein neues Verständnis der Natur, die nicht mehr lediglich als Schöpfung Gottes, sondern als Ort der Erkenntnis gesehen wird. In diese Überlegungen wird auch der Mensch mit einbezogen, der vor allem durch die Vernunft charakterisiert wird. Es entstehen diverse Stilisierungen des sogenannten edlen Wilden, der den Menschen in seinem natürlichen Urzustand symbolisiert und als Gegenbild zur zivilisierten Welt fungiert.17 Die Annahme, der Mensch sei von Natur aus gut, wurde vor allem durch den Philosophen Jean-Jacques Rousseau und sein Werk Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes18 populär. Mit Rousseau institutionalisierte sich der Begriff des edlen Wilden endgültig. Rousseau griff das von Kolumbus und Las 17 18
Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 100ff. dt. Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen
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Casas geprägte Bild wieder auf und beeinflusste nicht nur die Literatur seiner Zeit, sondern auch die literarische Fremdwahrnehmung Europas bis heute. Rousseau geht in seiner Theorie über den bon sauvage von einem von Natur aus guten Menschen aus, der in Eintracht mit sich, der Natur und seinen Mitmenschen lebt und erst durch die Ausartungen der Zivilisation zu jenem lasterhaften Menschen wird, wie wir ihn kennen.19 Hinter Rousseaus Hypothese steckt der Wunsch nach einer heilen und ursprünglichen Welt. Dieser Gedanke findet sich auch in seinem Briefroman Julie ou la nouvelle Heloïse (1761), in dem er die unberührte Natur als Gegenbild zur (höfischen) Zivilisation darstellt. Rousseaus Naturbild ist keine romantische Verklärung einer paradiesischen Unschuld, sondern die »rationale Konstruktion einer Prinzip-Natur«. Dass sein Gedankengut jedoch trotzdem zum »Schlagwort für die primitivistische Sehnsucht des Menschen nach dem irdischen Paradies« wurde, zeigt, dass auch seine Zeit zwischen Empirismus und Idealismus schwankte, vor allem aber, dass archetypische Wunschträume als Konstante in den Menschen verankert geblieben waren bzw. sich dementsprechend weiterentwickelten.20 Durch Rousseau wird der archaische Mensch in einem neuen Licht wahrgenommen, wodurch kurzfristig sogar das europäische Selbstverständnis ins Wanken gerät. Rousseaus Schilderungen entsprechen den Sehnsüchten eines Europäers. Sie resultierten aus seinem Bewusstsein, in einer bereits korrumpierten Gesellschaft zu leben. Wie Heinrich Meier in seinem einführenden Essay zu Rousseaus Werk anführt, präsentiert sich das, was Rousseau beschreibt, immer als Alternative zu dem, was die Religion als Dogma vorgibt. Bewusst lässt Rousseau alle Tatsachen – er selbst spricht von Tatsachen – und Vorgaben der Bibel weg, was KritikerInnen oftmals dazu veranlasst, seine Thesen infrage zu stellen. Gleich zu Beginn seiner Abhandlung führt Rousseau an, dass sich der Mensch in der Heiligen Schrift nie in einem wirklichen Naturzustand befunden habe, da er sofort von Gott Aufklärung und Einsicht erhalten habe.21 Daher beginnt Rousseau seinen Diskurs damit, dass er all diese Tatsachen beiseitelässt, da sie die eigentliche Frage nach dem menschlichen Urzustand nicht berühren würden.22 Rousseaus Werk ist grundsätzlich als Angriff auf die von Menschen herbeigeführte Ungleichheit der Stände im korrumpierten Europa zu verstehen. Durch die Schärfe seiner Ausführungen tritt der philosophische Diskurs in den Hintergrund,
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Nikolaus Lenau und Adelbert von Chamisso prägen im Anschluss durch ihre Werke das Bild des sogenannten Indianers in Nordamerika. Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 126 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit. Herausgegeben von Heinrich Meier. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 19933 , S. 71 Vgl. ibid. S. 71
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seine philosophisch motivierte Reflexion bildet lediglich die Grundlage seines politischen Plädoyers.23 Rousseau meint, dass der Mensch – eben, weil er sich über die Natur erheben will – unter sie zurückfällt. Das menschliche Übel sei selbst verschuldet, die Natur würde dem Menschen ein Leben in Eintracht mit ihr nicht verwehren. Der Mensch müsse demnach zu den Ursprüngen des nicht entstellten Menschen zurückfinden.24 Rousseau befreit den Menschen imaginativ jedoch von all jenen Fähigkeiten, die über seinen Urzustand hinausgehen, wie zum Beispiel Eigenschaften, die er nur aufgrund des Fortschritts erworben hat, oder auch Grundhaltungen, die auf eine Ideologie wie z.B. die Religion zurückzuführen sind. Der Naturzustand ist demnach der natürliche Zustand des Menschen. Der Mensch könne nur dann vollkommen sein, wenn er alle zivilisatorischen Fähigkeiten aufgebe und sich wieder auf seinen Ursprung beziehe.25 Der »Eingeborene« ist laut Rousseau ähnlich einem Kind, er verharrt zwischen dem Zustand »Kultur« und »Natur« und ist somit dem Paradies näher. Alle Schritte hin zur vermeintlichen »Vollendung des Individuums« seien vielmehr ein »Verfall der Art« gewesen.26 Das Eigentum und das daraus resultierende kapitalistische Wertesystem bedeuten für Rousseau den Niedergang der menschlichen Existenz: Solange die Menschen sich mit ihren ländlichen Hütten begnügten, solange sie sich darauf beschränkten, ihre Kleider aus Häuten mit Dornen und Gräten zu nähen, sich mit Federn und Muscheln zu schmücken, sich den Körper mit verschiedenen Farben zu bemalen, ihre Bogen und ihre Pfeile zu vervollkommnen oder zu verschönern, mit scharfen Steinen einige Fischerboote oder einige krude Musikinstrumente zu schnitzen; mit einem Wort: solange sie sich nur Arbeiten widmeten, die ein einzelner bewältigen konnte, und Künsten, die nicht das Zusammenwirken mehrerer Hände erforderten, lebten sie so frei, gesund, gut und glücklich, wie sie es ihrer Natur nach sein konnten, und fuhren sie fort, untereinander die Süße eines unabhängigen Verkehrs zu genießen. Aber von dem Augenblick an, da ein Mensch die Hilfe eines anderen nötig hatte, sobald man bemerkte, daß es für einen einzelnen nützlich war, Vorräte für zwei zu haben, verschwand die Gleichheit, das Eigentum kam auf, die Arbeit wurde notwendig und die weiten Wälder verwandelten sich in lachende Felder, die mit dem Schweiß der Menschen getränkt werden mußten und in denen man bald die Sklaverei und das Elend sprießen und mit Ernten wachsen sah.27
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Vgl. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. LVIII Vgl. S. LX Vgl. ibid. S. 103 Vgl. ibid. S. 195 Ibid. S. 197
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Erst die Zivilisation und ihre Degradierungen machen den Menschen Rousseaus Ansicht nach wirklich böse. Der ursprüngliche Mensch sei frei von allen Lastern, Konventionen und Emotionen, die erst die Zivilisation ihm auferlegt habe: »Es scheint zunächst so, daß die Menschen in jenem Zustand – da sie untereinander weder irgendeine Art moralischer Beziehung noch erkannter Pflichten hatten – weder gut noch böse sein konnten und weder Laster noch Tugenden hatten; […].«28 Und auch an anderer Stelle: […]; so daß man sagen könnte, daß die Wilden präzise deshalb nicht böse sind, weil sie nicht wissen, was gut sein ist; denn weder die Entwicklung der Einsicht und Aufgeklärtheit noch der Zaum des Gesetzes, sondern das Ruhen der Leidenschaften und die Unkenntnis des Lasters hindert sie daran, Böses zu tun; […].29 Rousseau richtet sich deutlich und dezidiert gegen die Eroberung fremder Länder, wodurch er auch den Mythos der Schwarzen Legende direkt weiterführt: Ich weiß, daß manche den politischen Gesellschaften andere Ursprünge zugeschrieben haben, wie etwa die Eroberung des Mächtigsten oder die Vereinigung der Schwachen; und die Wahl zwischen diesen Ursachen ist für das, was ich nachweisen möchte, gleichgültig. Jedoch scheint mir die Ursache, die ich gerade dargestellt habe, aus den folgenden Gründen die natürlichste zu sein: 1: Im ersten Fall hat das Recht der Eroberung, da es kein Recht ist, kein anderes begründen können, weil der Eroberer und die eroberten Völker untereinander stets im Kriegszustand verbleiben, es sei denn, die Nation wählte, in völlige Freiheit zurückversetzt, freiwillig ihren Bezwinger zu ihrem Oberhaupt. Welche Zugeständnisse man auch gemacht haben mag, da sie nur auf Gewalt gegründet waren und sie folglich aufgrund ebendieser Tatsache null und nichtig sind, kann es nach dieser Hypothese bis dahin weder eine wahrhafte Gesellschaft noch einen Politischen Körper noch ein anderes Gesetz als das des Stärkeren geben. […].30 Rousseaus Diskurs ist eine Kritik am politischen System, das auf einer Anklage der Ungleichheit zwischen Volk und Oberhäuptern und der Willkürlichkeit eben dieser Kategorisierung sowie des Missbrauches der politischen Gesellschaft fußt. Er definiert den Unterschied zwischen dem zivilisierten, verdorbenen Menschen und dem »Wilden« wie folgt: Der wilde Mensch und der zivilisierte Mensch sind im Grunde ihres Herzens und in ihren Neigungen derart verschieden, daß das, was das höchste Glück des einen ausmacht, den anderen zur Verzweiflung treiben würde. Der erstere atmet nur Ruhe und Freiheit; er will nur leben und müßig bleiben; und selbst die Atarexie 28 29 30
Vgl. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. 135 Ibid. S. 141 Ibid. S. 225
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des Stoikers reicht nicht an seine tiefe Gleichgültigkeit jedem anderen Ort gegenüber heran. Der Bürger dagegen, immer aktiv, schwitzt, hetzt und quält sich unablässig, um sich noch mühsamere Beschäftigungen zu suchen; er arbeitet bis zum Tode, […], oder er entsagt dem Leben, um die Unsterblichkeit zu erlangen. Er macht den Großen, die er haßt, und den Reichen, die er verachtet, den Hof; er läßt es an nichts fehlen, um die Ehre zu erlangen, ihnen zu dienen; er rühmt sich hochmütig seiner Niedrigkeit und ihrer Protektion; und stolz auf seine Sklaverei spricht er mit Geringschätzung von jenen, die nicht die Ehre haben, sie mit ihm zu teilen. Welch ein Schauspiel muß die mühevolle und begehrte Arbeit eines europäischen Ministers für einen Kariben sein!31 Rousseaus Naturdarstellung ist Ausdruck eines der Aufklärung innewohnenden Kulturpessimismus. Neben Rousseau trugen auch die Recherches philosophiques sur les Américains des holländischen Philosophen Corneille de Pauw zur Weiterentwicklung des Amerikabildes bei – nicht zuletzt deswegen, da man sich kulturell stark an Frankreich orientierte und das auf Französisch verfasste Werk in ganz Europa stark rezipiert wurde. Die negative Grundhaltung dieses Werks und die ablehnende Alteritätsauffassung, geschürt weiterhin durch die Schwarze Legende, verbreiteten sich rasch, auch da sie gut zum Fortschrittsglauben der Aufklärung passten, welcher jedoch auch immer im Gegensatz zur zivilisatorischen Europamüdigkeit stand. De Pauws Zivilisationskritik zeichnete im Unterschied zu Rousseau ein sehr abwertendes Bild der amerikanischen Urbevölkerung, das als Instrument des Vergleichs und in weiterer Folge der Europakritik verwendet wurde: »Supérieurs aux animaux, parce qu’ils ont l’usage des mains & de la langue, ils sont réellement inférieurs au moindre des Européans [sic !]: privés à la fois d’intelligence & de perfectibilité, ils n’obéissent qu’aux impulsions de leur instinct : […].«32 Und an anderer Stelle : »[…], ils devoient [sic !] donc être d’un génie borné, sans élévation, sans audace, d’un caractère bas, & enclins naturellement à la nonchalance & l’inactivité.«33 Amerika wurde bewusst als primitiver Kontinent dargestellt. Diese Stilisierung diente der Kritik an Europa. Durch die Kritik an den spanischen Eroberern etablierten sich Elemente der zivilisationskritischen Darstellung. Die deutschen Philosophen orientieren sich stark an Frankreich und so zeichnen auch Kant, Hegel und Herder ein auf den ersten Blick sehr negativ anmutendes Gesamtbild Amerikas: Amerika wird als Vergleichsparadigma in der Europakritik
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Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. 268f. Pauw de, Corneille : Recherches philosophiques sur les Americains ou memoires interessants pour servir a l’histoire de l’espece humaine. Herausgegeben von Antoine Joseph Pernety. Berlin 1971, S. 154 Ibid. S. 44
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sowie zur Bestätigung des eigenen Humanitätsideals herangezogen. Die Andersheit der Neuen Welt ist als Gegenentwurf zum europäischen Selbstbild und Selbstverständnis zu sehen und impliziert Inferiorität. Hegel schreibt in seinem Werk Die Philosophie der Geschichte unter anderem: »Die Inferiorität dieser Menschen gibt sich physisch und geistig zu erkennen.«34 Durch die Inferiorität Amerikas sieht sich auch Herder in seinem Humanitätsbild bestätigt. In seinen Humanitätsbriefen bezieht er gegenüber der Kolonialisierung und der Ausbeutung durch die Europäer klar Stellung. Für Herder gibt es in der Naturgeschichte der Menschheit grundsätzlich keine Rangordnung. Wohl aber habe die Natur den Menschen je nach Klima und unterschiedlichen Bedürfnissen verschieden ausgestattet. Herder kritisiert die europäische Attitüde, sich als Maßstab der Menschwerte anzusehen. Seine Darstellungen der »Wilden« weisen durchaus rousseauistische Züge auf. Es gehe Herder und auch anderen Philosophen seiner Zeit nicht vorrangig darum, die Naturmenschen zu glorifizieren, so Albert Schmitt in seiner Abhandlung über Herder und dessen motivische und thematische Verarbeitung des Amerika-Stoffes, sondern darum, auf ihre Misshandlung und die diesbezügliche Verachtung der Menschenrechte hinzuweisen und die europäische Zivilisation zu kritisieren.35 In seinem Werk Ideen zur Geschichte der Menschheit betont Herder die Gleichheit aller Menschen: »In so verschiedenen Formen das Menschengeschlecht auf der Erde erscheint: so ist es doch überall ein und dieselbe Menschengattung.«36 Auch in seinem Werk Briefe zur Beförderung der Humanität verdeutlicht Herder wiederum sein Humanitätsideal: »Sollten wir uns anders auf der Erde betrachten? Müßte ein Vaterland nothwendig gegen ein anderes, ja gegen jedes andre Vaterland aufstehn, das ja auch mit denselben Banden seine Glieder verknüpfet? Hat die Erde nicht für uns alle Raum?«37 In zwei Gedichten thematisiert Herder Tugenden wie Treue, Ehre etc., über die die sogenannten »Wilden« wie auch die »Weißen« verfügen. Das Gedicht »Quatimozin« handelt vom gleichnamigen Mexikanerkaiser und dessen Freund, der im Gedicht »sein Liebling« genannt wird. Die beiden werden von zwei »weißen Teufeln«, wie es im Gedicht heißt, auf glühenden Kohlen gemartert, da sie ihren Feinden noch mehr Schätze zeigen sollen. Beide, der Kaiser und sein treuer Freund, schweigen und sterben schweigend, aber in Ehre:
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Philosophie der Geschichte. Herausgegeben von Klaus Vieweg. München: Fink 2005, S. 59 Vgl. Schmitt, Albert: Herder und Amerika. The Hague (u.a.): Mouton & Co 1967, S. 109 Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Geschichte der Menschheit. Band 2. Herausgegeben von Johannes Müller. Tübingen: In der J.G. Cotta’schen Buchhandlung 1806, S. 67 Herder, Johann Gottfried: Herders sämmtliche Werke: Zur Philosophie und Geschichte. Schluß der Briefe zu Beförderung der Humanität. III. Karlsruhe: Christian Friedrich Müller Verlag 1820, S. 188
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Quatimozin Schwieg; da wendete sein Liebling Sein Gesicht voll Qualen zu ihm Seufzend. – Freund, erwiderte der Kaiser, Ist mein Bette denn von Rosen? Also starben beide schweigend.38 Auch Herders Gedicht »Die beiden Mexikaner« ist als eine offenkundige Kritik an der spanischen Eroberung zu lesen. Zwei edle junge Mexikaner sehen »den Räuber ihres Vaterlandes« – Cortés – an einem Abgrund stehen und wollen ihr Land befreien, indem sie ihn hinunterstoßen. Dieser rettet sich aber, und die zwei stürzen in einen ehrenvollen Tod für ihr Vaterland: So ist das Vaterland befreiet! Schnell! Ergriffen sie ihn an den Füßen – doch Umsonst, der Räuber war gerettet; Sie stürzen beide in die Kluft, zerschmettert Fürs Vaterland. Ein ehrenvoller Tod!39 Mexiko wird in diesen Gedichten Herders erstmals als explizite Projektionsfläche zur Zivilisationskritik bzw. zur Kritik an Europa herangezogen. Das Bild Mexikos schließt an die Gedanken der französischen bzw. französischsprachigen Aufklärer an. Die Entscheidung, Mexiko als Projektionsfläche heranzuziehen, ergibt sich aus dessen historischer Biografie: Die Eroberung des Landes durch Cortés gilt als besonders blutig und brutal. Dieser Umstand favorisiert eine Projektion mit sozialutopischer Intention. Herders Mexiko-Darstellungen sind ihm Instrument der Europakritik. Europa stand im Fokus der Debatte, die Neue Welt war eine Kontrast- bzw. Projektionsfolie, um seine Ideen zu bekräftigen. Ähnlich wie Herder zieht auch Kant in seinem Werk Menschenkunde: oder philosophische Anthropologie die Neue Welt als Vergleichswerkzeug der Kulturen heran. Er schreibt diesbezüglich unter anderem: »Das Volk der Amerikaner nimmt keine Bildung an. Es hat keine Triebfedern; denn es fehlen ihm Affect und Leidenschaft. Sie sind nicht verliebt, daher sind sie auch nicht fruchtbar. Sie sprechen fast gar nichts, liebkosen einander nicht, sorgen auch für nichts und sind faul.«40 Um den Kontrast zu verdeutlichen, stellt Kant den Amerikanern die Europäer gegenüber: »Die
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Herder, Johann Gottfried von: Zur schönen Literatur und Kunst. 15. Gedichte. Erster Theil. Herausgegeben von C. G. Heyen und Johann Georg Müller. Wien; Prag: Haas 1819, S. 189 Ibid. S. 189 Kant, Immanuel: Menschenkunde: oder philosophische Anthropologie. Herausgegeben von Christian Starke. Leipzig: Die Expedition des europäischen Aufsehers-Verlag 1831, S. 353
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Race der Weißen enthält alle Triebfedern und Talente in sich; […].«41 Laut Börner betreibt Kant eine Weiterentwicklung der Idee Rousseaus. Während für Rousseau die verlorene Unschuld endgültig besiegelt war, ist sie für Kant nicht durch die Zivilisation denaturiert, sondern ein hoffnungsvolles in der Zukunft realisierbares Potential. Die paradiesische Natur ist für ihn nicht verloren, sie muss lediglich neu entwickelt werden. Die Natur ist für Kant ein Keim den es gilt, aufblühen zu lassen. Als Aufklärer ist er sich sicher, dass die Evolution des Menschen schon weit fortgeschritten ist, der sogenannte Wilde jedoch befinde sich noch auf einer frühen, ursprünglicheren Entwicklungsstufe. Es sei demnach Europas Aufgabe, auch dem Rest der Welt zur Zivilisation zu verhelfen und eine intellektuelle Vormundschaft zu übernehmen. Börner spricht in diesem Zusammenhang von einer säkularisierten Missionsidee, deren erste fatale Folgen im 18. Jahrhundert in der Südsee sichtbar wurden, wie sich an den neuen Entdeckungsreisen und der daraus resultierenden literarischen Rezeption zeigt.42 Die Südsee wird, vor allem in trivialen Genres, zum Ort der europäischen Zivilisationsflucht stilisiert. Die Literaturwissenschaft selbst beschäftige sich wenig mit den ethnographischen Aspekten dieser Literatur. Sie wird vor allem hinsichtlich der europäischen Fremdwahrnehmung anderer Kulturen analysiert.43 Die europäischen Intellektuellen debattierten in diesem ins 17. Jahrhundert zurückgehenden Disput nicht über Amerika, sondern lediglich über sich selbst. Laut Todorov sind die Ideen der Aufklärung für die weitere Entwicklung des Amerikabildes insofern von großer Relevanz, als gerade die vermeintliche Akzeptanz und Hervorhebung der Diversität den weiteren Diskurs beeinflussen. Die Tugenden der Aufklärung wurden in den Händen der DenkerInnen des 19. Jahrhunderts zum Laster, da durch die Hervorhebung der Diversität Vorurteile geschürt wurden, aus denen sich folglich Strömungen wie Rassismus, Nationalismus und die verstärkte Suche nach Exotik entwickelten. Die Tatsache, dass der Diskurs seinen Ursprung in der französischen Philosophie hat, favorisiert die universelle Verbreitung in Europa, war doch Frankreich zu dieser Zeit eines der wichtigsten Zentren der europäischen Geisteswissenschaft.44 Eine Änderung erfuhr in weiterer Folge nicht nur der Amerika-Stoff. Es entstanden auch neue Gattungen, die ihn verarbeiteten. Erstmals wurde das Paradies Amerika in einem vermeintlich komischen Rahmen dargestellt. Laut Siebenmann konnte diese neue Gattung dadurch entstehen, dass man Distanz zu den Mythen gewonnen 41 42 43
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Kant: Menschenkunde, S. 353 Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 137f. Vgl. Hall, Anja: Paradies auf Erden. Mythenbildung als Form von Fremdwahrnehmung: Der SüdseeMythos in Schlüsselphasen der deutschen Literatur. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH 2008, S. 15 Vgl. Todorov: On human diversity, S. 2ff.
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hatte.45 Christoph Martin Wieland war der Erste, der mit seiner mexikanischen Geschichte Koxkox und Kikequeztel46 (1856) den Mythos des (lateinamerikanischen) Paradieses parodierte. Wieland lässt die Geschichte eines Mannes und einer Frau, die nach einer Überschwemmung zueinanderfinden, in Mexiko spielen. Im Laufe der Handlung wird durch das trieb- und affektdominierte Handeln aller Protagonisten die negative Geschichte eines ganzen Volkes vorgezeichnet. Die Menschen entsprechen der von Rousseau entworfenen Utopie des ursprünglichen und guten Naturmenschen. Die Natur dient als utopieverstärkender Rahmen und weist dementsprechend paradiesische Züge auf: Mexiko ist eines von den Ländern, über welche die Natur ihr ganzes Füllhorn ausgegossen, und seinen Bewohnern wenig mehr übrig gelassen zu haben scheint, als ihre Gaben zu genießen. Die Witterung ist so gemäßigt, daß Kleider in diesem Lande nicht unter die unentbehrlichen Dinge gehören. Eine unzählige Mannigfaltigkeit von angenehmen und nahrhaften Früchten, welche zu allen Jahreszeiten freywillig hervorkommen, ersparte, oder erleichterte wenigstens, den ersten Einwohnern die Sorge für ihre Nahrung so sehr, daß selbst in den folgenden Zeiten, da sich ihre Nachkommen unendlich vermehrt hatten, nur die leichteste Anbauung nötig war, um eine gedoppelte, öfters dreyfache Ernte zu erhalten.47 Die Geschichte ist nicht eindeutig zu deuten. Rainer Godel schreibt diesbezüglich in seinem Werk Vorurteil – Anthropologie – Literatur 48 , dass Wieland bestrebt sei, den LeserInnen die Möglichkeiten für andere Urteile zu bieten. So diene seine ironische Erzählhaltung als Mittel zur Aktivierung eines modalen Reflexionsprozesses.49 Durch die Ironie werden die LeserInnen dazu animiert, Vorurteile und Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und zu prüfen. Rousseaus Naturzustand und die Annahme, Sprache sei nicht das Unterscheidungsmerkmal des Menschen, wohl aber sein wichtigstes Sozialisationsinstrument, wird ironisiert und dadurch grundsätzlich in Frage gestellt. Wielands ernüchterndes Fazit zur Idee des edlen Naturmenschen findet sich am Ende der Geschichte: Die Unschuld des goldenen Alters, (sagt er) wovon die Dichter aller Völker so reitzende Gemählde machen, ist unstreitig eine schöne Sache; aber sie ist im Grunde weder mehr noch weniger als – die Unschuld der ersten Kindheit. Wer erinnert
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Vgl. Siebemann: »Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen literarischen Texten«, S. 190 Wieland, Christoph Martin: Koxxkox und Kikequetzel. Eine mexikanische Geschichte. Nördlingen: Franz Greno 1985 Ibid. S. 46 Godel, Rainer: Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2007 Vgl. ibid. S. 347
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
sich nicht mit Vergnügen der schuldlosen Freuden seines kindischen Alters? Aber wer wollte darum ewig Kind seyn?50 Trotz des pessimistischen Schlusses, bei dem das Bild eines Volkes entworfen wird, das am Ende immer mehr zur »blossen Thierheit« herabgesunken war, zeige sich im Schlusssatz, so Hans Radspieler in den Nachbemerkungen, dass der Glaube an die Entwicklung und Wirkung des menschlichen Zusammenlebens aus Wieland spricht: […] Die Menschen sind nicht dazu gemacht Kinder zu bleiben; und wenn es nun einmahl in ihrer Natur ist, daß sie nicht anders als durch einen langen Mittelstand von Irrthum, Selbsttäuschung, Leidenschaften und daher entspringendem Elend zur Entwicklung und Anwendung ihrer höhern Fähigkeiten gelangen können, – wer will mit der Natur darüber hadern?51 Wieland glaubt an das grundsätzliche Entwicklungspotenzial der Menschen, das es zu forcieren gilt. Mexiko gilt ihm als Gegenentwurf und dient ihm zur Bestätigung des Eigenen. Kant definiert in seinem Essay »Was ist Aufklärung?« die aufklärerische Geisteshaltung folgendermaßen: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.«52 Wieland schließt sich in seinen Ausführungen der Idee Kants an. Die paradiesische Existenz bzw. der paradiesische Urzustand des Menschen kann und soll durch die europäische Vormundschaft weiterentwickelt werden. Nur durch den europäischen Geist kann Mexiko aus seiner Unmündigkeit befreit und die mexikanische Bevölkerung ihrem Zustand der »ersten Kindheit« enthoben werden. – Ohne den europäischen Liebhaber wäre die mexikanische Geliebte verloren.
5.2
Facta ficta: Der Beginn der Reiseliteratur – zwischen wissenschaftlicher und literarischer Conquista
Für die Entstehung sowie die Weiterentwicklung des Mexikobildes war die Gattung des Reiseberichts von nicht geringer Relevanz. Seine Geschichte sei hier kurz skizziert, weil sie zeigt, inwiefern auch in diesem Genre Mexiko in die europäische Kulturgeschichte eingepasst, die Geliebte also dementsprechend geformt wurde. Trotz mannigfacher Publikationen konnte sich für das Genre des Reiseberichts bis heute kein systematischer Diskussionszusammenhang entfalten, da viele der 50 51 52
Wieland: Koxxkox und Kikequetzel, S. 88 Ibid. S. 88 Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Drei Essays. Europäischer Literaturverlag 20151 , S. 7
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Einzelarbeiten sich etwa auf einen bestimmten Zeitraum konzentrieren oder rein deskriptiven Charakter haben, indem sie Fakten zu AutorInnen, Texten und zur Geschichte des Reisens versammeln. Das Fehlen einer einheitlichen und systematischen literaturwissenschaftlichen Behandlung kann auf die besondere Konzeption der Gattung zurückgeführt werden, die einem steten historischem Wandel unterlag. Oftmals wurden Reiseberichte als faktische Dokumente herangezogen, ihre ästhetischen Qualitäten wurden kaum beachtet. Fragen hinsichtlich der Authentizität von Reiseberichten bzw. die Diskussion rund um den Dualismus Fiktion versus Faktizität sowie der bereits erwähnte historische Wandel der Gattung trugen nicht dazu bei, dass dem Reisebericht in der Literaturwissenschaft mehr bzw. eine umfassendere Beachtung geschenkt wurde. Die Frage nach Dichtung oder Wahrheit, die dem Diskurs rund um die Reiseliteratur inhärent ist, ist laut Wolfgang Neuber, der sich mit der Gattungspoetik des Reiseberichts beschäftigt hat, eigentlich insofern obsolet, als Fiktionalität im Reisebericht oftmals nicht das intentionale Abweichen vom Faktischen meint, sondern vielmehr das bedeutet, was einer Gesellschaft an einem bestimmten geschichtlichen Ort als glaubhaft erscheint. Die Literarizität eines Reiseberichts wird durch die Findung und die Auswahl des Materials sowie durch dessen argumentative und stilistische Verarbeitung begründet. Die Gattungspoetik des Reiseberichts liege also grundsätzlich im Zusammenspiel mehrerer Bereiche: in der Auswahl der Gegenstände, der impliziten und expliziten Rechtfertigung dieser Auswahl sowie der Glaubhaftmachung der Inhalte und der stilistischen Mittel, die hierfür benötigt würden.53 Im Zentrum jedes Reiseberichts liegt die Erfahrung mit der Fremde. Peter Brenner, der einen Beitrag54 zur Erfahrung der Fremde und der Wahrnehmung im Reisebericht verfasst hat, dem ich in meinen Ausführungen in großen Teilen folge, führt einleitend an, dass die Andersartigkeit erst durch Komplettierung konstruiert wird, wodurch sich das eigentlich fragmentarisch Andere zu einem geschlossenen System fügt. Reiseberichte entstehen daher aus einem Zwang zur Vervollständigung. Das Bild der Fremde unterliegt immer Vorstellungen, die die eigene Kultur hervorgebracht hat. Diese formieren sich bereits in der Imagination des Reisendens während seines ersten Kontakts mit der fremden Kultur. Reiseberichte sind daher immer auch Abbilder der Ausgangskultur. Das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden geht also laut Brenner in doppelter Weise in den Reise-
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Vgl. Neuber, Wolfgang.: »Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik.«, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 19891 , S. 50 Brenner, Peter J.: »Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts«, in: Brenner, Peter J. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 19891
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
bericht ein.55 Die Grenze unterliegt dabei jedoch auch immer einer historischen Entwicklung. Von der Antike bis zum Mittelalter entsprach die Gegenüberstellung zwischen dem Eigenen und dem Fremden einer starren sozialen, kulturellen und religiösen Entgegensetzung. Das Christentum radikalisierte und etablierte den Gegensatz zwischen Christen und sogenannten Heiden. Erst in der frühen Neuzeit entwickelte sich ein neues Weltbild und dadurch ein neues (kulturelles) Selbstverständnis. Die Entdeckungsgeschichte Amerikas trug maßgeblich zur Umformung des okzidentalen Weltbildes sowie zur Neubestimmung des eigenen kulturellen Selbstverständnisses und dem Umgang mit der Fremde bei, wie bereits in den Anfangskapiteln gesehen. Das dualistisch geprägte Weltbild wirkte aber noch nach, wie etwa in den Berichten der spanischen Seeleute ersichtlich wird. Deutlich wird dabei aber auch die Schwierigkeit, die neue Welt in das alte Weltbild einzufassen.56 Einerseits prägen noch christliche Werte und Vorstellungen die Beschreibungen, auf der anderen Seite ist die Grenzüberschreitung ins Unbekannte bereits als Metapher für ein neues Selbstverständnis des okzidentalen Menschen zu werten, in dem die Welt kein hierarchisch geordnetes Ganzes mehr ist. Die Darstellungsform im Reisebericht ist demnach von einer Vielzahl an individuellen sowie gesellschaftlichen Faktoren abhängig. Die Fremderfahrung ist einerseits immer individuell, andererseits jedoch auch eingepasst in einen großflächigen historischen Prozess. Brenner stellt die Entwicklung des Reisens und des Reiseberichts in Relation zur Herausbildung und Entwicklung der Erkenntnistheorie und erwähnt in diesem Zusammenhang Bacon, Descartes, Rousseau, Kant und Hegel, bei denen das Motiv des Reisens die Rolle einer zentralen Metapher sowie eines philosophischen Problems spielte. Im gleichen Zusammenhang nennt er auch Dantes Divina Commedia, in der die metaphorische Bedeutung, die das Reisen für die Neuzeit hatte, festgehalten wird. Die sinnliche Erfahrung des Neuen wird hier zum Akt der Herausforderung und der menschlichen Selbstbehauptung. Der reisende Mensch lehnt sich gegen traditionelle Vorstellungen der Welt sowie gegen einen geschlossenen Kosmos auf. Es geht ihm darum, sich (reisend) sinnlichen Erfahrungen des Unbekannten zu stellen und Wissen zu erwerben. Der polemische Dualismus zwischen Vernunft und Sinn wurde jedoch bald aufgehoben, an seine Stelle trat eine wechselseitige Ergänzung beider Erkenntnisquellen, eine Art experimentelle Erfahrung, die auch für den Reisebericht relevant wird. Der Fortschritt der Gattung wurde demnach vorerst vor allem durch den Grad an empirischem Erfahrungsgewinn bewertet. Der Anspruch des neuzeitlichen Reiseberichts ist der,
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Vgl. Brenner: »Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts«, S. 20 Vgl. ibid. S. 15
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eine Art empirisches Dokument zu sein. Lehrhaft daran ist vor allem die Erkenntnis selbst, nicht seine Erzählung.57 Der Zugewinn an Empirie ist laut Brenner jedoch nicht das Kriterium, an dem sich die Entwicklung der Wahrnehmungsform des neuzeitlichen Reiseberichts messen lässt. Feststellbar ist jedoch ein Wandel in der Auffassung der Wirklichkeit. Die Vorstellung der grundlegenden Einheit der Welt lässt sich laut Erkenntnistheorie nur dann durchsetzen, wenn zumindest in Teilen auf die Empirie verzichtet wird. Die Vielfalt an empirischen Wirklichkeiten muss dementsprechend auf die Einfachheit von Strukturen und Gesetzen reduziert werden. Dies ist auch für den Reisebericht zu beobachten. Er folgt den Prämissen einer fixen Weltordnung, die jedem Gegenstand der Wirklichkeit einen bestimmten Platz zugeschrieben hat. Für das Neue bleibt daher kein Raum mehr, es wird als singuläres Phänomen wahrgenommen und so zum Exotischen stilisiert. Daraus ergibt sich ein schwieriges Verhältnis zur Empirie, da das Fremde, um es überhaupt als solches zu fassen, auf empirische Besonderheiten reduziert werden muss. Durch die Prämisse der Einheit der Welt wurde nunmehr versucht, die Gegenstände der fremden Welt als Teil der eigenen Welt zu begreifen und dementsprechend einzuordnen. Die neuzeitlichen Reisenden versuchen dies durch eine Methodisierung des Reisens zu gewährleisten. Zwar findet sich, wie in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reiseberichten, immer noch eine Vorliebe für das singuläre Phänomen, dieses wird aber zunehmend in eine kategoriale Ordnung eingefügt. Die Methodisierung des Reisens ist also ein erster Schritt zur Entempirisierung der Wahrnehmung. Die Fakten werden anschaulich dargestellt, die Einordnung in ein einheitliches Schema ist dabei jedoch von größerer Wichtigkeit als der Eigenwert der Fakten selbst.58 Die neuzeitliche Wissenschaft und Erkenntnistheorie geht von einer Beliebigkeit der Wahrnehmung aus, die nur durch methodisch abgesicherte Beobachtungen kompensiert werden kann. Die Erkenntnis muss also durch Methodisierung entindividualisiert werden. Brenner nennt in diesem Zusammenhang Descartes, der für eine Quantifizierung der Wirklichkeit sowie eine Entindividualisierung der Wahrnehmung plädiert. Im Reisebericht wird dem ab der Mitte des 18. Jahrhunderts insofern Rechnung getragen, als die Tendenzen zur Quantifizierung der Wirklichkeitswahrnehmung in Gestalt von Zahlen und Tabellen augenscheinlich werden. Zeitgleich werden jedoch bereits Gegenbewegungen sichtbar, die sich gegen die quantifizierbaren Wahrnehmungsformen wenden. Der quantifizierende
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Vgl. Neuber: »Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik.«, S. 55 Vgl. Brenner: »Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts«, S. 30f.
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Blick wird mitunter vom ästhetischen Blick abgelöst. Die Natur wird demnach immer mehr zum Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung, die als solche reindividualisiert wird, wie auch an der Darstellung Mexikos zu beobachten ist. Die Selbstbestimmtheit des Menschen jenseits der theologischen Determiniertheit schafft Platz zur Selbstreflexion. In der Reiseliteratur entsteht so in einem weiteren Schritt Raum für die Schilderung neuer Eindrücke und subjektiver Wahrnehmungen.59 Diese neue Sichtweise wird z.B. in den Reiseberichten von Alexander von Humboldt manifest, der sich, wie in diesem Kapitel noch ausgeführt wird, beider Formen der Darstellung bedient. Neben Zahlen, Fakten und Tabellen finden sich genaue Wiedergaben seiner Beobachtungen. Er ist so bestrebt, ein Gesamtbild der Wirklichkeit zu entwerfen. An die Stelle einer methodisierten Sichtweise tritt im Reisebericht nunmehr immer öfter auch eine individuelle. Aus diesem Zwiespalt in der Art der Darstellung folgt eine stärkere Ausdifferenzierung der Gattung. Gleichzeitig etabliert sich die touristische Reise als neuer Reisetypus. Die Reise dient nunmehr dem Vergnügen und wird dementsprechend auf ihre reizauslösende Funktion reduziert. Es geht nicht mehr um eine entindividualisierte und methodisch disziplinierte Wahrnehmung und Darstellung, sondern um die Darbietung des Originellen und subjektiv Interessanten. Das Reisen verliert zunehmend seinen Status als Medium der Welterfahrung, sein Informationsmonopol wird ihm streitig gemacht und von Medien übernommen, die den modernen Informationsbedarf schneller und präziser zu decken vermögen. Die Welt, so scheint es, ist zunehmend erschlossen. Für das europäische Bewusstsein gibt es prinzipiell nichts Fremdes mehr. Dementsprechend wird die Art der Wahrnehmung bzw. der Darstellung adaptiert. Gesucht wird eine Gegenwelt zur eigenen Realität. Brenner spricht in diesem Zusammenhang von der damit einhergehenden Individualisierung des Blicks und der Partikularisierung der Wirklichkeit, die den Eindruck eines Rückgewinns an Persönlichkeit vermitteln. Dies ist aber lediglich eine Illusion. Der Blick ist inhaltlich normiert und durch das festgelegt, was als sehenswert erachtet wird. Die Fremde wird künstlich hergestellt, indem Aspekte willkürlich aus einer einheitlich werdenden Welt hervorgehoben und singularisiert werden. Es geht hier nicht mehr um einen Erkenntnisgewinn, sondern um die Befriedigung eines Reizbedarfs, den die monotone Vereinheitlichung der Welt hervorgerufen hat. Die Frage nach Wahrheit oder Lüge stellt sich durch die Standardisierung der Gegenstände der Erfahrung nicht mehr. Dem Reisenden bleibt letztendlich keine andere Wahl, als die Wahrheit zu sagen, die als solche aber kaum mehr interessiert, da sie ohnehin bekannt ist.60
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Vgl. Neuber: »Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik.«, S. 59 Vgl. Brenner: »Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts«, S. 39
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Die Reiseberichte haben keine pädagogische Funktion mehr, sondern werden bereits ab dem 19. Jahrhundert zur Lektüre für alle lesefähigen Individuen, die der eigenen Welt entkommen wollen. Die veränderte Art der Wahrnehmung sowie die zunehmende (touristische) Erschließung der Welt fördern, wie im Laufe des Kapitels noch ersichtlich wird, eine zunehmende Exotisierung und Fiktionalisierung der Gattung, die sich aus dem Anspruch ergeben, trotzdem noch eine Gegenwelt bieten zu können. Aus diesem Grund änderte sich auch die Konzeption der Schilderung, im Vordergrund steht nunmehr die Partikularisierung der Wirklichkeit, um noch Neues zu präsentieren. Der Funktionsverlust der Gattung fördert im Falle Mexikos die Etablierung fiktionaler Genres, in denen Exotik und Abenteuer leichter konstruiert und vermittelt werden können. Da Mexiko bis ins 18. Jahrhundert wenig rezipiert wurde und kaum literarische Quellen existierten, blieb das Bild des Landes bis ins 18. Jahrhundert relativ konstant und gängige Klischees wurden fortgeschrieben. Die Fortschreibung der Klischees hing aber nicht nur von literarischen Texten, sondern auch von der Geschichte der Illustrationen ab. Die bereits erwähnten Kupferstiche des Theodor de Bry etwa werden bis heute als historische Illustration in diversen Büchern abgedruckt. Auch wenn schon vor Alexander von Humboldt Reiseberichte existierten, die in Europa durchaus rezipiert wurden – zu erwähnen sind hier die Berichte von Bougainville, Frézier, Lapérouse und Cook – ist es erst Humboldt, der eine neue Art des Reisens und eine neue Art der Verschriftlichung einleitet. Bougainville wird zwar grundsätzlich als Begründer des sogenannten zweiten Entdeckungszeitalters gesehen, Humboldt schafft jedoch erstmals – im Vergleich zu den fragmentarischen und partiellen Berichten seiner Vorgänger – ein groß angelegtes und detailliertes Bild Amerikas. Humboldts Reise ist laut Nina Badenberg nicht mehr die Suche nach neuen See- und Handelswegen, sondern vielmehr »topographische Feinarbeit«.61 In seinen Berichten verband Humboldt nunmehr nützliche Informationen hinsichtlich der kapitalistischen Exploration mit ästhetischen Naturschilderungen. Vor allem zwei Mythen prägten die Vorstellung über die Neue Welt Ende des 18. Jahrhunderts. Auf der einen Seite existiert die Legende des Eldorados. Mexiko – hier in Folge stellvertretend für ganz Lateinamerika angeführt – verfügt über eine paradiesisch anmutende Natur, die ihrerseits unermesslichen Reichtum verheißt. Auf der anderen Seite dominiert weiterhin der eher politisch konnotierte Mythos
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Badenberg, Nina: »Das Land diktiert und wir erleben. Aus Berichten deutschsprachiger Mexiko-Reisender«, in: Schmidt, Friedhelm (Hg.): Wildes Paradies – Rote Hölle. Das Bild Mexikos in Literatur und Film der Moderne. Bielefeld: Aisthesis Verlag 1992, S. 18ff.
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der antispanischen Schwarzen Legende, der, wie bereits gesehen, eine Kritik am Kolonialwerk der Spanier ist und gleichzeitig – nicht zuletzt durch die Romantisierung der indigenen Bevölkerung – als Gesellschaftskritik fungiert. Die Mythen sind eng miteinander verbunden, wie etwa auch in Montesquieus Schriften. Charles Minguet führt in seinem Essay über Humboldt in diesem Kontext Montesquieus Werk Vom Geist der Gesetze an.62 Humboldt trägt unter anderem zur kritischeren Auseinandersetzung mit dem Bild der amerikanischen Urbevölkerung und folglich zu dessen Erweiterung bei. Im 18. Jahrhundert war es bisher in zwei simultane, aber widersprüchliche Projektionen geteilt: auf der einen Seite die des »friedliebenden naiven, manchmal schönen Wilden« nach Kolumbus und auf der anderen Seite die des »menschenfressenden, grausamen, unmoralischen« Indigenen nach Vespucci und seinen Nachfolgern. Beide Bilder entwickelten sich im 18. Jahrhundert parallel, ohne als widersprüchlich empfunden zu werden. Humboldt entwirft ein wissenschaftlich fundierteres Bild, vermeidet grundsätzlich vorschnelle Urteile und ist bestrebt, durch neue wissenschaftliche Ansatzpunkte die präkolumbianischen Zivilisationen und Kulturen zu analysieren und beschreiben. Humboldt ist in seinen Wertungen vorsichtig und gemäßigt.63 Dennoch kritisiert auch er die Kolonisation und bedient dadurch wiederum gängige Projektionen: Je isolierter der Pachthof ist, desto besser gefällt er dem Gebirgsbewohner; denn am Anfang der Civilisation, wie an ihrem Ende, scheint der Mensch den Zwang zu bereuen, den er sich beim Eintritt in die Gesellschaft gefallen lassen musste, und er liebt die Einsamkeit, weil sie ihm seine alte Freiheit wieder schenkt. Diese moralische Tendenz, dieses Verlangen nach Abgeschiedenheit, äussert sich besonders bei den Eingeborenen von kupferfarbiger Race, denen eine lange und traurige Erfahrung das gesellschaftliche Leben, und besonders die Nachbarschaft der Weissen entleidet hat. Gleich den Arkadiern wohnen die aztekischen Völker gerne auf den Gipfeln und an dem Rande der schroffsten Gebirge.64 Humboldt vergleicht die BewohnerInnen dieses Landstriches sogar mit den Arkadiern, die sich ebenso in höher gelegenen Gebieten ansiedeln würden. Durch diese Beschreibung und Allegorie erhebt Humboldt sie auf die Stufe des einsiedlerhaften Hirtenvolks in der paradiesischen Ideallandschaft Arkadien, wodurch unweigerlich auch eine mögliche landschaftliche Parallele suggeriert wird. 62
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Vgl. Minguet, Charles: »Alexander von Humboldt und die Erneuerung des Lateinamerikabildes«, in: König, Hans-Joachim und Siebenmann, Gustav (Hg.): Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1992 Vgl. Vgl. Minguet: »Alexander von Humboldt und die Erneuerung des Lateinamerikabildes«, S. 107ff. Humboldt, Alexander von: Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien. 3. Band. Tübingen: J.G. Cotta’schen Buchhandlung 1812, S. 8
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Die weitflächige Rezeption von Humboldts Reiseberichten lässt sich anhand der Problematik der zweiten Entdeckung Amerikas ablesen, die auch wissenschaftliche Conquista genannt wird.65 Humboldts Mexikobeschreibung trug trotz der differenzierten Darstellung vor allem zum Bild des primitiven Mexikos bei und nährte zudem das kapitalistische Interesse am Land. Dies wiederum hatte eine Fokussierung auf die Ressourcen des Landes zur Folge, aus der sich eine sogenannte wissenschaftliche Conquista ableitete. Die Ästhetisierung eines aus der Sicht der Europäer geschichtslosen Landes ging laut Schmidt-Welle demnach Hand in Hand mit einer vermeintlichen Erschließung und Ausbeutung.66 Humboldt kritisiert in seinen Ausführungen die vorherrschenden abwertenden Gemeinplätze und schafft mit seinen ethnographischen Darstellungen ein umfangreiches Bild des Landes. Er war damit eine Art Vorläufer einer neuen, objektiveren Berichterstattung. Einige folgten seinem Vorbild und verfassten neuartige, der Forschung und Objektivität verschriebene Abhandlungen. Grundsätzlich basiert aber, wie Badenberg ausführt, auch in Humboldts Fall der Kontakt zwischen den zwei Kulturen auf doppeltem – historischem sowie sozialem – Subtext. Die Geschichte und Kultur des Herkunftslandes prägen und limitieren auch im Falle der tatsächlichen Reise die Vorstellungen und favorisieren dementsprechende Projektionen. Bei der Gattung des Reiseberichts ist die Reise selbst immer wesentlicher Teil des Textes, das imaginäre bzw. imaginierte Land entsteht erst durch sie. Schon durch die Reiseberichte des Marco Polo und die der spanischen Eroberer fand eine Entgrenzung literarischer Normen statt. Amerika wurde in Kategorien des Phantastischen und Mythisch-Magischen erschlossen. Die Exotisierung macht das Fremde handhabbar und ermöglicht zudem Projektionen. Seine Andersartigkeit wird durch dieses Postulat gezähmt.67 Das Besondere am Augenzeugenbericht ist, dass er sich grundsätzlich für seine Authentizität verbürgt und sich daher in Abgrenzung zu allen anderen fiktiven Schriften in einer Sonderrolle sieht. Diese Beschwörungsformel ist immer auch ein Legitimationsmuster, sie zeichnet den Reisebericht aus und wird zum unabdingbaren Topos. Stellvertretend für den gesamten Kontinent stand Mexiko seit der Entdeckung Amerikas im Mittelpunkt des Interesses. Daher lässt sich auch am Beispiel Mexikos die generelle Entwicklung des Reiseberichts ab dem 19. Jahrhundert nachzeichnen. Sein grundlegendes Problem ist die Darstellbarkeit der Fremde, dem versucht wird mit verschiedenen Strategien beizukommen, um das Erlebnis der Reise auch textuell zu vermitteln.68
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Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 18ff. Vgl. Schmidt-Welle: Mexiko als Metapher, S. 14f. Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 18f. Vgl. ibid. S. 19
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Die Darstellbarkeit gestaltet sich im Falle Amerikas besonders schwierig, da die Wahrnehmung der Realität, die an sich als subjektives Unterfangen zu gelten hat, seit der Eroberung stark vorgezeichnet ist. Durch das verstärkte Aufkommen des Reisens verändert sich auch das Bild Mexikos. Die Mythen des irdischen Paradieses sowie ihre säkularisierten Varianten weichen zunehmend der Erfahrung und der Ernüchterung, wie auch Karl-Heinz Kohl in seinem Werk Entzauberter Blick anführt.69 Die naturwissenschaftliche Erschließung tritt an die Stelle von Spekulationen, auch das Wissen um die gewaltsame Unterdrückung sowie die handelsmäßige Erschließung trübt das paradiesische Bild. Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig den Verlust sämtlicher Mythen. Vielmehr vollzieht sich eine Wandlung in der Konzeptionierung und Konstruktion der literarischen Projektion. Sie wird vordergründig realistischer, birgt aber immer noch das Potenzial der Ursehnsüchte in sich. Am Beispiel Humboldts lässt sich erkennen, wie in einer eher komparatistischen als systematisierenden Manier das authentische Naturerlebnis durch eine Ästhetisierung vergegenwärtigt wird. Sein Bestreben zeigt, dass die Sehnsucht der Europäer, sich der Natur zu nähern, oftmals Hand in Hand mit deren Erforschung und Exploration geht, was das eigentliche Naturerlebnis – vor allem durch die zunehmende Technisierung – erschwert. Vielmehr entsteht dadurch eine Umformung der Natur und ein daraus resultierender »distanzierter und entfremdeter Blick«, wie auch Badenberg in diesem Kontext ausführt. Dieser entfremdete Blick wird durch eine Mythisierung eines erhabenen Naturerlebnisses kompensiert. Badenberg vergleicht die ästhetisch erfahrbar gemachte Naturlandschaft mit der ästhetisierenden Aufbereitung der Tropennatur, die eben durch die Ästhetisierung als unberührt ideologisiert wird. Je mehr also die exotische Natur Mexikos (technisch) erschlossen und beschrieben bzw. auch beschreibend erschlossen wird, desto mehr werden die Erfüllung der Ursehnsucht und das eigentliche Naturerleben verhindert. Die Natur wird kategorisiert, katalogisiert und systematisiert. In westlicher Manier muss das Fremde handhabbar gemacht werden, dadurch verliert es jedoch seine Unberührtheit. Dieser »Doppelcharakter von Erschließung und Ästhetisierung« findet sich laut Badenberg in allen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts.70 Humboldts Bestrebung, wissenschaftliche Beschreibungen und ästhetische Veranschaulichungen zu verknüpfen, gelingt nicht ohne Weiteres. Er trennt sie daher auch formal und verbannt den wissenschaftlichen Teil in den Anhang seines Werks. Die ästhetischen Betrachtungen stehen demnach im Vordergrund. Er selbst thematisiert das Problem der Darstellbarkeit: 69 70
Vgl. Kohl, Karl-Heinz: Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Frankfurt a.M. und Paris: Qumran Verlag 1983, S. 8 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 19
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Es sind damals schon die mannigfaltigen Hindernisse angegeben, welche der ästhetischen Behandlungen großer Naturszenen entgegenstehen. Die Verbindung eines literarischen und eines rein szientifischen Zweckes, der Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern, machen die Anordnung der einzelnen Teile und das, was als Einheit der Komposition gefordert wird, schwer zu erreichen.71 Humboldt kann das, was er sieht, nicht in einer wissenschaftlichen Darstellungsweise vermitteln. Er greift hier bezeichnenderweise zu einer Titelmetapher. Die Ansichten der Natur sollen laut Badenberg ein Gemälde werden, auch in Anbetracht der epischen Mittel, mit denen es gestaltet werden soll. Die verwendete Metapher weist auf die Schlüsselrolle der mexikanischen Natur in der europäischen perspektivischen Wahrnehmung des Landes hin. Die Natur wird auch von Humboldt als Übernatur stilisiert und in seinen Beschreibungen, vor allem durch die Hervorhebung ihrer Unberührtheit, auf eine höhere Stufe – zu einem »zeitlosen, mythischen Raum« – erhoben. Humboldt ist der Ansicht, dass sich die Erhabenheit der Tropennatur nicht in einfachen Worten bzw. in einer rein wissenschaftlichen, naturgetreuen Schilderung ausdrücken lässt. Es bedarf dazu der Mittel, wie sie nur KünstlerInnen zu Verfügung stehen: »Bei allem Reichtum und aller Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, ist es doch ein schwieriges Unternehmen, mit Worten zu bezeichnen, was eigentlich nur der nachahmenden Kunst des Malers darzustellen geziemt.«72 Humboldt ist bestrebt, die eigene Erfahrung so genau wie möglich in Schrift und Bild umzuwandeln. Wo es aber die rein wissenschaftliche Darstellungsweise nicht vermag, die Natur in ihrer ganzen Größe zu erfassen, soll das Bild durch die Fantasie des Schriftstellers abgerundet und vervollständigt werden. Humboldt zitiert in seinen Ansichten eine Stelle aus Kolumbus’ Reisebericht und suggeriert dadurch, dass auch Kolumbus – wie er selbst – sich dieser Art der Beschreibung bediente: Diese poetische Stelle aus Colóns Reisebericht, oder vielmehr aus einem Briefe an Ferdinand und Isabella aus Haiti (Oktober 1498), hat ein eigentümliches psychisches Interesse. Sie lehrt aufs neue, daß die schaffende Phantasie des Dichters sich im Weltentdecker, wie in jeglicher Größe menschlicher Charaktere, ausspricht.73 Nur durch die bereits erwähnten Mittel und die Fantasie der KünstlerInnen kann laut Humboldt ein entsprechendes Bild der Natur entworfen werden:
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Humboldt, Alexander von: Ansichten der Natur. Herausgegeben von Adolf Meyer-Abich. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1969, S. 11 Vgl Humboldt: Ansichten der Natur, S. 79 Ibid. S. 36
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Die krankenden Gewächse, welche unsere Treibhäuser einschließen, gewähren nur ein schwaches Bild von der Majestät der Tropenvegetation. Aber in ihrer Ausbildung unserer Sprache, in der glühenden Phantasie des Dichters, in der darstellenden Kunst der Maler ist eine reiche Quelle des Ersatzes geöffnet. Aus ihr schöpft unsere Einbildungskraft die lebendigen Bilder einer exotischen Natur. Im kalten Norden, in der öden Heide kann der einsame Mensch sich aneignen, was in den fernsten Erdstrichen erforscht wird, und so in seinem Inneren eine Welt sich schaffen, welche das Werk seines Geistes, frei und unvergänglich wie dieser, ist.74 Humboldt ist sich der besonderen (kulturgeschichtlichen) Rolle der Natur sowie ihrer Funktion bewusst. Die Wahrnehmung ist durch die Erwartungshaltung bzw. die Funktionalisierung der Natur konditioniert: Auf gleiche Weise wirken Naturschilderungen stärker oder schwächer auf uns ein, je nachdem sie mit den Bedürfnissen unserer Empfindungen mehr oder minder in Einklang stehen. Denn in dem innersten, empfänglichen Sinn spiegelt lebendig und wahr sich die physische Welt. Was den Charakter einer Landschaft bezeichnet: Umriß der Gebirge, die in duftiger Ferne den Horizont begrenzen, das Dunkel der Tannenwälder, der Waldstrom, welcher tobend zwischen überhangende Klippen hinstürzt: alles steht in altem, geheimnisvollem Verkehr mit dem gemütlichen Leben des Menschen. Auf diesem Verkehr beruht der edlere Teil des Genusses, den die Natur gewährt. Nirgends durchdringt sie uns mehr mit dem Gefühl ihrer Größe, nirgends spricht sie uns mächtiger an als in der Tropenwelt: […].75 Zu einem späteren Zeitpunkt führt Humboldt sogar an, dass die Schönheit, die man bei der Kontemplation von Dingen empfindet, nicht unbedingt nur mit den Dingen als solchen zu tun hat, sondern auch aus den individuellen Bedürfnissen eines jeden Einzelnen resultiert. Es scheint, als sei er sich der Unrealisierbarkeit des Naturwunsches bzw. der Ungreifbarkeit der Natur bewusst. Nichtsdestotrotz ist er bestrebt, sich ihrer in seinen Schilderungen zu bemächtigen: Das Verlangen, welches man nach dem Anblick gewisser Gegenstände hat, hängt gar nicht allein von ihrer Größe, von ihrer Schönheit oder Wichtigkeit ab; es ist in jedem Menschen mit vielen zufälligen Eindrücken des Jugendalters, mit frühen Vorlieben für individuelle Beschäftigungen, mit Hang nach der Ferne und einem bewegten Leben verwebt. Die Unwahrscheinlichkeit, einen Wunsch erfüllt zu sehen, gibt ihm dazu einen besonderen Reiz.
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Humboldt: Ansichten der Natur, S. 88 Ibid. S. 33
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Humboldts Reflexionen über die Natur und ihre Gestaltbarkeit erscheinen durchdacht. Auch führt er diesbezüglich an, dass die Sehnsucht, die man nach gewissen Orten empfindet – er zitiert hier als Beispiel die Südsee –, zum Teil auf Quellen und so auf vorgefertigten Bildern beruht: »In der Sehnsucht nach dem Anblick der Südsee vom hohen Rücken der Andenkette mischt sich das Interesse, mit welchem der Knabe schon die Erzählung von der kühnen Expedition des Vasco Nuñez de Balboa gelauscht hat: […].«76 Humboldt erwähnt in diesem Kontext auch die Reiseberichte des Georg Foster und das sehnsuchtsvolle Interesse, das diese hervorzurufen vermochten. Trotz seiner theoretischen Reflexionen über die Natur und ihre Funktionalität stellt er sie selbst so unberührt dar, wie sie in früheren Quellen beschrieben wurde, die er studiert hatte. Die Natur wird zum mythischen und zeitlosen Raum. Im Mittelpunkt seiner Ansichten steht die noch intakte Natur, die als Gegenentwurf zur europäischen Wirklichkeit fungiert. Auch zu Beginn seines Werkes Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neuspanien spricht Humboldt von einem Gemälde, das er von Neuspanien77 (sprachlich) zeichnen möchte. Humboldt ist für die weitere Entwicklung und Rezeption des Mexikobildes von großer Wichtigkeit, da Mexiko – im Vergleich zum restlichen Lateinamerika – für ihn selbst eine Schlüsselposition bekleidet. Unter allen Kolonien nimmt Mexiko für ihn den ersten Rang ein – nicht zuletzt aufgrund der Schätze seines Bodens, seiner strategischen Position für den Handel und auch aufgrund seiner bedeutenden Städte. Wenn man laut Humboldt zudem den Zustand der Wildheit und Unkultur der übrigen spanischen Besitzungen in Amerika betrachtet, ist diese Vorliebe einigermaßen zu rechtfertigen.78 Humboldt ist von Mexiko angetan, das ihm entwickelter und fortschrittlicher erscheint als alle anderen lateinamerikanischen Länder: Nichts war mir auffallender, als der Kontrast zwischen der Zivilisation von Neuspanien und der geringen physischen und moralischen Kultur derjenigen Regionen, welche ich soeben durchstrichen hatte. Ich verglich sorgfältig, was ich an den Ufern des Orinoco und Rio Negro, in der Provinz Caracs, in Neugranada, auf dem Gebirgsrücken von Quito und an den Küsten von Peru beobachtet hatte, mit der dermaligen Lage des Königreichs Mexiko. Alles reizte mich an, den noch wenig
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Humboldt: Ansichten der Natur, S. 143 Das erste der fünf administrativen Verwaltungsgebiete Spaniens in Lateinamerika wurde Vizekönigreich Neuspanien benannt. Jedem Verwaltungsgebiet stand ein Vizekönig vor. Das Vizekönigreich Neuspanien umfasste die heutigen Staaten Mexiko, Belize, Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und die Karibischen Inseln. Vgl. Humboldt, Friedrich Alexander von: Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien. 3. Band. Tübingen: J. G. Cottaʼsche Buchhandlung 1812, S. 4
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
entwickelten Ursachen nachzuforschen, welche in diesem die Fortschritte der Bevölkerung und der Nationalbetriebsamkeit so auffällig begünstigt haben.79 Humboldt leitete durch seine Schriften das bereits erwähnte zweite Entdeckungszeitalter ein, das eine Vielzahl an RepräsentantInnen verschiedenster (ökonomischer) Interessengruppen nach Mexiko führte. Getreu Humboldts Beschreibungen dominierte vor allem der Bergbau als primäres Handelsinteresse deutscher Firmen, wie sich laut Badenberg aus den verschiedenen Reiseberichten, etwa denen von Carl Christian Becher und Karl Wilhelm Koppe, ablesen lässt. Die österreichische Weltreisende und Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer durchquerte Mexiko bzw. Acapulco lediglich auf ihrer zweiten Weltreise (1851-1855), als sie sich auf dem Weg von Kalifornien nach Ecuador befand. Sie beschreibt die niedliche Bucht von Acapulco, lobt Dinge der mexikanischen Natur wie etwa die »hoch gefiederte Cocos-Palme, die umfangreiche Mango, die zarte Banane«.80 Dem Dorf spricht sie ein eher armseliges Ansehen zu. Über die mexikanische Bevölkerung äußert sie sich kaum, sie merkt lediglich an, dass man sie durch die »Verzweigung der Stammbewohner, der Neger und der Spanier« keiner »Rasse« zuordnen könne.81 Vor allem interessiert sich Pfeiffer aber für das Perlenfischen, das sie etwas ausführlicher beschreibt, bevor sie in Richtung Panama aufbricht. Durch die Ermordung des Habsburgerkaisers Maximilian 1867 veränderte sich das Bild Mexikos kurzfristig negativ. Mexiko wurde literarisch abgewertet und als primitives und unzivilisiertes Land dargestellt. Aus den vielen Augenzeugenberichten und Texten entstand ein ernüchterndes Bild des Landes, das unter dem positivistisch-rationalistischen Diktator Porfirio Díaz eine Modernisierung anstrebte.82 Platz für romantische Exotik blieb hier erstmals wenig. Das positiv exotische Bild wird in Europa durch die mexikanische Revolution wieder verstärkt. Gleichzeitig entwickelt sich eine romantisierende, antiimperialistische Utopie. Mexiko wird vor allem für die internationale Linke zu einer Art Revolutionsparadies.83 Im Gegensatz zu Humboldt, der in seinem Realkontakt mit Mexiko an die Grenzen des Möglichen bzw. des Beschreibbaren stößt und sich der Schwierigkeit bewusst ist, Naturereignisse real aufzuarbeiten, ist in den späteren Reiseberichten oft die zunehmende Technisierung und die daraus resultierende Verunmöglichung
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Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien, S. IV Vgl. Pfeiffer, Ida: Zweite Weltreise. Dritter Theil. Kalifornien. Peru. Ecuador. Wien: Carl Gerold’s Sohn 1856, S. 77 Vgl. ibid. S. 80 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 24f. Vgl. Schmidt-Welle: Mexiko als Metapher, S. 14f.
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des eigentlichen Naturerlebens im Fokus. Mit der »Erschließung des Raumes durch die Eisenbahn« ging laut Badenberg eine »Demokratisierung« des Reisens einher. Auch die abgelegensten Orte sind nunmehr erreichbar – die Landschaft wird dadurch fassbarer und weniger exotisch. Durch das Bereisen vieler Orte können diese wiederum verglichen werden. Die Beschreibungen bzw. auch die Landschaften an sich werden einander auch inhaltlich angeglichen. Auch drängt sich das Zugfenster zwischen die Landschaft und die Reisenden – »der Erlebnisraum wird vom Erlebten getrennt«84 . Badenberg führt als Beispiel Ernst Hesse-Wartegg an, der 1884 vor der industrialisierten und zivilisierten Welt Europas und Nordamerikas nach Mexiko flüchtet. In seinem Vorwort schreibt Hesse-Wartegg, dass es ihm aufgrund der nordamerikanischen Erschließung Mexikos durch die Eisenbahn vergönnt sei, »als einer der Ersten Städte und Länderstrecken zu sehen, welche bis auf die jüngste Zeit im Auslande nahezu unbekannt waren«. Er betont weiters, froh zu sein, Mexiko noch bereist zu haben, bevor die sogenannte Zivilisierung und Industrialisierung aus dem Norden überschwappe und auch Mexiko erfassen werde: Ich beglückwünsche mich dazu, Mexiko noch kennen gelernt zu haben, bevor der glänzende Yankeefirniß dasselbe überzogen hatte. Die ehemals mexikanischen Territorien nördlich des Rio Grande: Texas, Arizona, Neu-Mexiko und Californien, haben ihren mexikanischen Charakter vollständig eingebüßt und sind heute ebenso gut anglo-amerikanische Staaten, wie jene des Mississippibeckens. Bald wird die Eisenbahn-Invasion auch im nördlichen Mexico eine ähnliche Umwandlung vollzogen haben, und mit der Romantik ist es dann vorbei.85 Hesse-Wartegg ist außerdem froh, dass, wie er betont, die »Dämmerung der neuen Dampfroß-Epoche« erst hereingebrochen sei und dadurch alles noch in seiner »Urwüchsigkeit« und »in seiner interessanten lokalen Färbung« vorhanden sei.86 Das Reisen an sich steht hier für den Wunsch, der eigenen Realität zu entfliehen und in die Exotik der Fremde einzutauchen. Gleichzeitig verunmöglicht das Reisen, da es immer mehr zum Massenphänomen wird, die Erfüllung dieser Sehnsucht. Hesse-Wartegg hätte seine Reise nicht in ihrem vollen Umfang unternehmen können, wäre Mexiko nicht durch die Eisenbahn erschlossen worden. Hier zeigt sich demnach von Beginn seines Reiseberichts an der paradoxe Widerspruch der sich entwickelnden Reiseliteratur. Um exotische Länder bereisen zu können, müssen diese verkehrstechnisch erschlossen werden. Gleichzeitig ebnet diese Erschließung dem aufkeimenden Tourismus den Weg, der wiederum zu einer Ver-
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Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 25 Hesse-Wartegg, Ernst von: Mexiko. Land und Leute. Bremen: weitsuechtig in Access Verlag GmbH 20131 , S. III Ibid. S. IV
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westlichung der fremden Länder führt, wodurch diese oftmals ihren exotischen Charakter einbüßen. Hesse-Warteggs Beschreibungen machen deutlich, dass er auf der Suche nach exotischem Erleben war. Die bewässerten Teile des Tals des Rio Grande beschreibt er als paradiesisch anmutend, üppig grün und fruchtbar. Mitunter zeigt sich die mexikanische Natur auch in seinen Beschreibungen ungestüm und bedrohlich – etwa als eine »braune und sonnenverbrannte Wüste, deren Sand von schrecklichen Stürmen häufig über die ganze Gegend und in die Stadt selbst getrieben wird, wo er manchmal fußhoch lagert«.87 Die Landschaft erscheint abwechselnd malerisch, dann wieder irritierend und drohend. Auch seine Zugreise und die dabei gewonnenen Eindrücke beschreibt Hesse-Wartegg. Die Reise an sich ist essenzieller Teil der Darstellung. Durch die entstandenen Einzeleindrücke ergibt sich ein fragmentarisches Bild, das er in seiner Imagination zu einem Ganzen zusammenfügen muss. Auf fruchtbare und dadurch paradiesisch anmutende Landstriche folgen unschöne Kakteenwüsten, die das ästhetische Empfinden des Europäers stören, da sie sich nicht in sein Bild des mexikanischen Naturparadieses einfügen lassen. Ist die Vegetation im Empfinden des Autors zu wenig lieblich, wird sie bewusst negativ stilisiert. Hesse-Wartegg beschreibt Bergketten mit abstoßenden Formen, die wie Glasflaschen mit abgebrochenen Hälsen erscheinen. Das Gegenbild zur paradiesischen Natur ergibt sich in seiner Wahrnehmung aber vor allem durch die drohende Zivilisierung bzw. die touristische Erschließung. Während auch die bedrohlichen Elemente der schwer dominierbaren mexikanischen Natur immer einen Hauch der Anziehungskraft des Fremden in sich tragen, impliziert die fortschreitende Erschließung des Landes eine gänzliche Negierung jeglicher Exotik, da sie die Realitätsflucht als solche unmöglich macht. Auch Hesse-Warteggs Verweis auf den von ihm so bezeichneten »Bädeker’schen Dutzendtourist«88 versinnbildlicht laut Badenberg das eigentliche Dilemma.89 Durch die technischen Errungenschaften können die Sehnsuchtsorte erreicht werden; durch das Erreichen verlieren sie aber gleichzeitig ihre Magie. Das Paradies wird (technisch) erschlossen und zivilisiert – und dadurch entzaubert. Hesse-Wartegg beschäftigte sich mitunter auch mit typisch touristischen Fragestellungen. So räsoniert er beispielsweise über die Qualität der Hotels in MexikoStadt und vergleicht die urbane Landschaft mit europäischen Städten wie Turin, Rom und Madrid. Mexiko-Stadt kann seine Wunschvorstellungen nicht befriedigen, erscheint ihm die Stadt doch – wie durch die vielzähligen Vergleiche verdeutlicht – zu westlich und nicht als das, was eine mexikanische Stadt für einen Europäer sein sollte. Indem Städte und Landschaften immer mehr verglichen werden
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Vgl. Hesse-Wartegg: Mexiko, S. 5 Vgl. ibid. S. 134 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 26
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können, entsteht Uniformität. Als logische Folge müssen die diversen Wahrzeichen stärker aufgewertet werden. Sie dienen den Reisenden als Vergleichsparameter. Mexiko-Stadt kann wenig begeistern, da es an wichtigen Wahrzeichen fehlt, die zum Großteil während der spanischen Kolonialzeit zerstört worden waren. Mexiko-Stadt enttäuscht Hesse-Wartegg aber nicht nur aufgrund der fehlenden Vergleichsparameter, sie kann auch deshalb seine Bedürfnisse nicht befriedigen, da der urbane Raum – auch aufgrund der fehlenden Ruinen, die als Versinnbildlichung einer früheren Welt auch eine exotische Komponente erfüllen – keinen Raum für die Flucht aus der Zivilisation mehr bietet. Die zerstörten Ruinen und Gebäude wurden durch neue ersetzt, das moderne Mexiko ist nicht das Mexiko, das der Europäer sucht und imaginiert. Es ist aber an den Reisenden selbst, jenen Zauber aus früheren Zeiten in der Fantasie wiederherzustellen, so auch HesseWartegg: An derselben Stelle erhebt sich das neue, moderne, aller haltbaren Traditionen entbehrte Mexiko! Und so wandert man denn tagelang durch die strahlenden, modernen, hübschen Straßen dieser Stadt, ruhelos, unzufrieden und unbefriedigt, um erst des Abends, vielleicht bei hellem Mondenschein auf dem flachen Dache der Azotea unseres Hotels, die weite Ebene im Geiste mit den Conquistadores zu beleben und mit den Werken jener noch im Unglücke großen Nation, die sie eine Handvoll Leute so gänzlich unterjocht und vernichtet haben!90 Für Hesse-Wartegg fungiert Mexiko als Gegenbild zur zivilisierten Welt. Wo dieses Bild, wie etwa in Mexiko-Stadt, nicht funktioniert, muss es von den Reisenden selbst neu konstruiert werden. Wie auch bei anderen Paradiessuchenden zu beobachten, vermögen erst die sogenannten schwimmenden Gärten von Xochimilco den fremden Reiz zu vermitteln, den Hesse-Wartegg so dringlich sucht.91 Aber dies auch nur, wenn der Reisende, so wie Hesse-Wartegg in seinen Beschreibungen, selbst genug Fantasie aufbringt, um seine Ideen zu projizieren und das Mexiko-Erlebnis auch tatsächlich zu realisieren. Für Hesse-Wartegg ist Mexiko ein Land der Gegensätze – zwischen Moderne und Paradiesexotik, die sich in Mexiko aber nicht grundsätzlich und absolut ausschließen, wie er selbst in seinem Reisebericht anführt: Architektonische Wunder vereinigen sich hier mit jenen der Antike, im Schatten subtropischer Gartenanlagen schlummern altmexicanische Opfersteine und Götzenbilder, das Regiment Gottes wie jenes des Menschen hat auf diesem Platze seine Tempel; echt großstädtischer, internationaler Verkehr in engster Verbindung mit dem typisch-mexicanischen Volksleben; Pracht und Reichtum als Nachbar der
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Hesse-Wartegg: Mexiko, S. 138 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 28
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Armuth; […]. Die größten Gegensätze Mexikos stoßen hier aufeinander, ohne sich gegenseitig zu verdrängen.92 Hesse-Wartegg weist in seinen Nachbemerkungen nochmals darauf hin, wie sehr doch die Reise mit der Eisenbahn die Wahrnehmung der Reisenden trübt und beschleunigt. Sie werde auf einzelne Impressionen reduziert, sodass sich kein ganzes Bild mehr ergeben könne.93 Die Ausschnitte favorisieren ein fragmentarisches Bild Mexikos, das – noch mehr als zuvor – durch eigene Vorstellungen aufgefüllt werden muss. Die fehlende Exotik muss auf Einzelbilder reduziert und so konzentriert dargestellt werden. Auch müssen die Einzelbilder in Darstellung und Ausdruck an Intensität gewinnen, um gegen die drohende Zivilisierung anzukommen und so dem zu entsprechen, was die Europäer in Mexiko suchen. Auch in den Reiseberichten von Caecilie Seler-Sachs94 , die ihren Mann, den Anthropologen und Ethnologen Eduard Georg Seler, mehrmals auf seinen Forschungsreisen nach Mexiko begleitete, wird bereits auf den ersten Seiten die Eisenbahn erwähnt, die beispielweise die Städte Oaxaca und Puebla verbindet. Sie gestalte das Reisen unkomplizierter und erweitere die Reisemöglichkeiten bzw. erhöhe die Geschwindigkeit. Durch die Eisenbahn verändere sich jedoch auch das Land. Zur Untermauerung ihrer These führt Seler-Sachs beispielsweise an, dass auch die BetreiberInnen von Importgeschäften in Oaxaca nicht begeistert von der neuen Eisenbahnverbindung sind, da sich das Geschäft dadurch verändert, dass die Menschen mobiler werden und nicht mehr auf die Importartikel der Händler angewiesen sind.95 Die Natur wird auch in Seler-Sachs’ Reiseberichten als eindrucksvoll und fantastisch geschildert. Die Beschreibungen sind mit Metaphern gespickt und nehmen Bezug auf die mythische Vorzeit des Landes: Zur Linken hat man den schönen Berg, der in alter Zeit der Wasser- und Erdgöttin heilig war und den Namen Matlalcueye trug, das heißt die Frau mit dem blauen Rock. Ein lebendiges Beispiel der phantasiereichen und bezeichnenden Namensgebung der alten Indianer, denn wahrlich, wie ein dunkelblaues Gewand schmiegt sich der Wald an die Seiten des Berges, während darüber, nackt und kahl, das vulkanische Gestein aufragt.96
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Hesse-Wartegg: Mexiko, S. 142 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 25ff. Selers-Sachs, Caecilie: »Auf den alten Wegen in Mexiko und Guatemala. Reiseerinnerungen aus den Jahren 1895-1897«, in: Scurla, Herbert (Hg.): Durch das Land der Azteken. Berichte deutscher Reisender des 19. Jahrhunderts aus Mexiko und Guatemala. Berlin: Verlag der Nation Berlin 19843 Vgl. ibid. S. 279 Ibid. S. 274
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Die Autorin betont in ihrem Bericht jedoch immer wieder die negative Veränderung des Landes und vergleicht die Begebenheiten vor Ort mit ihrer letzten Reise. Das Malerische existiert noch, weicht jedoch zunehmend dem Realistischen: In meiner Erinnerung lebten noch die berauschend schönen Gegenden, die wir vor etlichen Jahren durchritten hatten, als wir von Ciudad del Mais aus durch die Huaxteca nach Tampico zogen und zurück über die Sierra Madre. Wie groß war meine Enttäuschung, als dieser Weg nichts Ähnliches bot: keine rauschenden Wasserfälle, keine Baumfarne, keine blühende Wildnis, keine dunklen, schattigen Wälder. […]97 Auch der Verlauf eines Flusses ist mit ernüchternden Erfahrungen verbunden: Wie sehnsüchtig hatte ich vor sieben Jahren dem damals mächtig dahinfließenden Wasser nachgeblickt; ging doch sein Lauf dem Stillen Ozean zu, führt in jene märchenhafte Gegenden, aus denen die alten Azteken die Schätze geholt hatten, um ihre Tempel und Paläste zu schmücken und die Genußmittel, die die Tafeln und Gewänder ihrer Fürsten verschönten: Gold und Schmuckfedern, Kakao, Vanille und Baumwolle. Diesmal durfte ich seinem Laufe folgen. Es war der Beginn so mancher Enttäuschung.98 Die Landschaft wird immer eintöniger. Es gibt langweilige Wege, abgeerntete Maisfelder und trockenes Buschwerk – dazwischen aber immer wieder kurze, lieblich anmutende Landflecke, die die Eintönigkeit der Landschaft kurzzeitig durchbrechen: Hatte bisher der Fluß die Landschaft belebt, so ging es jetzt stundenlang in trostlos ermüdender Einförmigkeit zwischen niedrigen grauen Hügeln dahin, die jeden freien Ausblick wehrten. Nur die großen bunten Blüten laubloser Bäume und Schlinggewächse und ab und zu ein Blick von einer Höhe auf ferne, blaue Ketten brachten spärliche Abwechslung. Und wir hatten lange zu reiten, bis wir im trockenen Bachbett eine Stelle fanden, wo zwischen Felsstücken genügend Wasser war, um unsere durstigen Pferde zu tränken.99 Anstatt der vergeblich gesuchten exotischen Landschaft werden dann vor allem Land und Leute sowie Bräuche und Eigentümlichkeiten beschrieben, und es findet sich auch in Seler-Sachs’ Bericht die bereits erwähnte Tendenz der Detail- bzw. Einzelbeschreibung, wie sie in den späteren Reiseberichten dominierend vorherrscht. Geschildert wird vor allem das Reisen an sich – mit all seinen Beschwerlichkeiten und Wundern – den positiven und negativen. Darstellungen von Tagen »voll
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Selers-Sachs: »Auf den alten Wegen in Mexiko und Guatemala«, S. 315 Ibid. S. 318 Ibid.S. 319
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ermüdender Eintönigkeit«, in einer Landschaft, die sich vor allem durch »graues Hügelland« und »leere Bachbetten« charakterisiert, ziehen sich durch ihre Berichterstattung.100 Sträucher und Pflanzen werden genau beschrieben und teilweise sogar mit Abbildungen versehen. Die einzelnen Episoden sowie die minutiösen Schilderungen dienen dazu, ein Abbild des Landes und der Menschen zu vermitteln. Mexiko erscheint nur noch in Ansätzen einen Rest an paradiesischen Motiven bieten zu können. Die Exotik kann nur da erhalten bleiben, wo die Zivilisation sie noch nicht zu zerstören droht. Immer wieder beeinträchtigen die zivilisatorischen Elemente das Bild: Eine Idylle ist der Fluß von Tonalá! Sein klares Wasser kommt vom Gebirge herunter und rinnt und rieselt über Felsbrocken zwischen grünen und blühenden Gesträuchen dahin. Kleine Arme laufen unter schattigem Laubdach einher und bieten den Frauen kühle Waschplätze. Ein Arm läuft durch den Ort, er trennt die eigentliche Stadt von einer Vorstadt, und eine Brücke führt hinüber. Dieser Arm war zur Zeit trocken und eine Sammelstelle jeglichen Unrats.101 Die Natur scheint kaum noch das halten zu können, was sich die Reisenden versprochen hatten. Auch die vermeintlich mythischen Stätten des alten Mexikos sind teilweise zerstört, teilweise verkommen und bieten ein im Ganzen eher enttäuschendes Bild. Mexiko erscheint zu wenig exotisch – zu sehr erinnern Landstriche bereits an das ohnehin Bekannte: Natürlich war nichts dort von dem, was wir zu finden gehofft hatten. Spuren einer alten Ansiedlung waren wohl auf einer erhöhten Stelle im Walde, die in der Regenzeit wie eine Insel aus den Fluten ragt, aber keine Spur von Bildwerken, nur einige große behauene, aber schmucklose Steine. Manche Kleinigkeiten werden gefunden – aber immer wieder derselbe trostlose Bescheid: »Das heben wir nicht auf; das haben die Kinder zerbrochen.« Hübsch war es an der Lagune, aber wenn man die Reisighütten nicht sah, so konnte man sich an das Ufer eines norddeutschen Landsees versetzt glauben.102 Im Reisebericht von Harry Graf Kessler, der das Land im Jahr 1896 bereiste, zeigen sich der Ton und die Grundstimmung bereits gänzlich verändert. Kessler beginnt seine Abhandlungen mit einem Vorwort, in dem er schreibt, dass das Reisen und die dazu notwendige Technisierung der Welt das Abenteuer in der Fremde gänzlich verunmöglichen würden. Neues könne nicht mehr entdeckt werden.103 Die erschlossene Welt besteht, so Badenberg über Kesslers Reiseberichte, aus einem 100 101 102 103
Selers-Sachs: »Auf den alten Wegen in Mexiko und Guatemala«, S. 325 Vgl. ibid. S. 365 Ibid. S. 366 Vgl. Kessler, Harry Graf: Notizen über Mexiko. Herausgegeben von Alexander Ritter. Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel Verlag 1998, S. 13f.
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einheitlichen System aus uniformen Zeichen und Symbolen. Es existiert lediglich die Möglichkeit, innerhalb der bestehenden Zeichen neue Zusammenhänge herzustellen, um dadurch eine Fremderfahrung hervorzurufen, so auch Kessler selbst: Unsere Zeit ist möglicherweise die letzte gewesen, zu der man noch reisen konnte; schon wir kommen kaum noch aus unserer Zivilisation hinaus; das Bild bleibt sich von Weltteil zu Weltteil erstaunlich gleich. Nach den Abenteurern haben die Entdecker und Gelehrten uns die Fremde erobert, und dann die Künstler unser Nervensystem nach allen exotischen Schwingungstakten vibrieren lassen. Jetzt gibt es keine Entfernungen mehr, die genügen, um Abenteuer glaubhaft zu machen; die Geographie und das Wirtschaftsleben lernen wir zu Hause aus Handbüchern und Weißbüchern besser als auf der Reise aus dem Baedecker kennen; und Familienjournale haben, was für die Sinne neu war, durch Bild und Wort gewöhnlich gemacht. Nur wer hinter bekannten Zeichen fremde Bedeutungen zu erkennen die Phantasie hat oder wer, durch ungewohnte Umgebungen und die Einsamkeit der Ferne angeregt, alte Bilder mit frischen Augen ansieht, wird häufiger und nicht bloß zufällig durch Veränderung seines Aufenthalts Neues empfinden: vielleicht nur der Reisende, den Kunstwerken und Gesellschaftsformen, die längst für ihn keine Bedeutung mehr hatten, auf eine neue Weise rühren, weil sie Bekenntnisse von Seelen sind, gegen die er noch nicht stumpf ist durch die zu lange schon gewußte Unmöglichkeit, ihr Geheimnis zu lichten. Dem allerdings begegnet es bei seinen Versuchen, eine neu geglaubte Geisteswelt zu enträtseln, daß er durch Augen, die er den Fremden leiht, in die Landschaft hinein nie geschaute Stimmungen sieht und daß ihm alltägliche Kunst durch neue Zusammenhänge zu Symbolen wird, die für ihn noch nicht verblaßt sind, er liebt das Reisen als die Heilung für den müden durch Enttäuschungen oberflächlich gewordenen Geist. […]104 Durch die Reduktion auf Einzelerlebnisse kann lediglich ein Fragmentarium an Eindrücken entstehen. Der Reisebericht kann sich demnach nur mehr aus einer Intensivierung verschiedener Einzelbetrachtungen zusammensetzen. Der Reiseverlauf Kesslers als solcher wird kaum geschildert. Vielmehr wird laut Badenberg »das Prinzip der ständigen Bewegung und Veränderung des Beobachteten« auf das »herausgelöste Einzelobjekt« übertragen.105 Kessler erwähnt mehrmals nachdrücklich die Eisenbahn und den fahrenden Blick auf die Landschaft: Am nächsten Tag erwacht man auf dem Hochplateu der Kordilleren. Von der wirbelnden Jagd durch das dürre, wilde Land haften im Gedächtnis nur einzelne Eindrücke – die zackige Kahlheit der fernen Gebirge, die zu beiden Seiten die Hochebene begrenzen unf auf deren Hänge die Farben in ewigem Wandel von den
104 Kessler: Notizen über Mexiko, S. 13f. 105 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 29
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aschgrauen und violetten Tönen der Dämmerung durch die blaue Mittagsglut und des Abends Feuer und Purpur zur endlichen Nacht ewig dahinschwinden; […].106 Kesslers Beschreibungen der Menschen und des mexikanischen Klimas dienen ihm als Basis für psychologische Reflexionen über die Menschen der Tropen. Er behandelt ausführlich das Thema der »Nerventrägheit«, das er als Vergleichsparameter heranzieht und so die Mexikaner den Europäern gegenüberstellt. Es ist seiner Meinung nach die Heftigkeit der mexikanischen Natur, die den Charakter und das Gemüt der Mexikaner prägt: »Man muß bedenken, daß das tropische Klima in jedem Individuum gleich in den ersten Lebensjahren wie in einer Treibhauspflanze alle Kräfte und Triebe mit der größten Gewalt entwickelt und dadurch schnell erschöpft.«107 Und auch an anderer Stelle: »Die Heftigkeit der Erschütterungen, denen die Sinne beständig künstlich und natürlich hier ausgesetzt sind, vor allem die Gewalt des Lichts, verstärken noch die Wirkungen der immanenten Trägheit, indem sie die Sinne fortgesetzt noch mehr ermüden.«108 Kessler beleuchtet auch die Rolle und Funktion der Kirche in Mexiko sowie die politischen Gegebenheiten, wobei er vor allem über Porfirio Díaz räsoniert und schreibt. Auch er bedient sich in den Passagen seiner Naturbeschreibungen einer augenscheinlich poetischeren Sprache. Es hat den Anschein, als hege auch er, ähnlich wie Humboldt, die Absicht, ein Naturgemälde zu entwerfen, das es vermag, die mexikanische Natur in ihrer ganzen Erhabenheit abzubilden: Das Weltenweihefest beginnt. In den Tälern regt sichs, und vom Nebelmeer lösen sich Wolkenzüge und schweben an Abgründen aufwärts; Dunstschleier schwinden von nahen Bergen, und darunter erscheinen die Matten schon nebelhaft grün; Strahlen brechen aus den östlichen Tiefen weißflimmernd hervor und stehen am Himmel wie Unterpfande des kommenden Lichts: Himmel und Erde sind künftige Farbe, schweigendes Werden. Da leuchtet das Eis am Kraterrand auf; und im selben Augenblick rollt das Licht wie ein Mantel an den Hängen des Berges herunter; am Erdenrande erscheint der Sonnenball. Die See, der er entsteigt, schwebt wie ferner Rauch bläulich durchsichtig in der schimmernden Rundung des Horizonts. Der Himmel erfüllt ganz das Auge wie auf dem Meer und der Ebene; nur größer als dort; flammender, runder. Von allen Seiten umgibt er uns hier; umstrahlt und kupferglühend im Morgenrot; die Sonne umkreist uns, unter uns liegt das Erdenrund im Himmelblau wie ein zweites Gestirn.109 Da, wo es gelingen kann, wird Mexiko als Paradies stilisiert, schön und sehnsuchtsvoll, aber immer auch unheimlich und mystisch: 106 107 108 109
Kessler: Notizen über Mexiko, S. 22 Vgl. ibid. S. 31 Vgl. ibid. S. 32 Ibid. S. 62
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Der Tag ist stürmisch und warm; tropischer Herbst. Schwärme von fliegenden Fischen umschwirren wie blaue Libellen das Schiff. Wolken ziehen von Norden her. Die See gleicht im Sturmesdunkel geschmolzenem Amethyst; die Wellen rollen vor dem schwülen Winde langsam nach Süden.110 Paradiesisch-schön und erfüllend – Kessler erwähnt dies hier auch wörtlich – erscheint ebenso die Ortschaft Córdoba: Brotfrüchte und reife Orangen hängen in den Ästen, die Tulipane strecken ihre schwachduftenden Blüten vor, und ihren Riesenkelch öffnet blutrot die Weihnachtsblume. Durch die Zweige glänzt überall der ungeheure weiße Vulkan; und der ferne Schnee wirkt paradiesisch inmitten des blühenden Tropengartens.111 Auch von Oaxaca schafft Kessler ein Sehnsuchtsbild, das einer längst vergangenen Vision des alten Europas entspricht: Oaxaca – die Stadt, nach deren milder Höhenklarheit sich Nietzsche in kranken Tagen sehnte – habe ich nur im Mondschein gesehen; und da nur den großen Platz, auf dem zwischen einem Musiktempel und der Barockkathedrale eine braune Menschheit lustwandelte. Keine Laternen; nur der Vollmond auf dem Dom, der abseits vom Platz theatralisch einsam auf einer weiten, mit Steinfliesen belegten Terrasse steht. Die Musik spielt ohne Lichter, verborgen in einem Orangenhain; und wenn sie schwieg, hörte man unter den Bäumen das leise Schlürfen von bloßen Füßen auf dem Kies … So muß Italien vor dem Risorgimento gewesen sein; Pisa und Perugia in den fünfziger Jahren.112 Die tropische Natur von Veracruz charakterisiert Kessler weiblich – bedrohlich und unbeherrscht auf der einen Seite, aber sinnlich und erotisierend auf der anderen: Unten gelangen infolge der Fülle von Licht, Wärme und Nahrung mehr Keime zur Reife, als Wesen Platz haben; hier entstehen Pflanzen, die nur durch Vernichtung von anderen Pflanzen sich und ihre Art erhalten können: die tropischen Waldblumen, die Orchideen und die blühenden Lianen; Wesen, die ihre Wurzeln wie Krallen in die Äste schlagen und deren Blüten die gesprenkelte Schönheit des Panthers und des Tigers haben, Raubblumen; und zugleich Satyrblumen, deren Lüsternheit in den gigantisch vorgestreckten Pistillen, in den wollüstig geöffneten, üppigen Kelchen und im betäubenden, brünstigen Duft wie ein aphrodisischer Zauber den Wald umschwebt.113
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Kessler: Notizen über Mexiko, S. 77 Ibid. S. 109 Ibid. S. 65 Ibid. S. 76
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Auch für Kessler ist die mexikanische Natur Bild und Gegenbild – Paradies und Abgrund in einem. Es findet sich in ihrer glühenden Schönheit ein Fieber, das, so Kessler, eben den nicht in Worte zu fassenden dämonischen Reiz ausmache.114 Die mexikanische Natur wird als großteils noch unberührt und wild stilisiert. Wieder steht ihr aber der Mensch als Sinnbild kontrastierend gegenüber, da er bereits dabei ist, sie für immer zu verändern. Und wieder ist es die Zivilisation, die die paradiesische Unberührtheit zerstört. In diesem Sinne beschreibt er auch seine ersten Eindrücke in Mérida, und wieder fokussiert die Aussicht aus dem Zugfenster seinen Blick: Ein dichter Urwald reicht stellenweise bis an die Schienen heran. Aber überall weicht sein zügelloses Leben der streng geregelten Uniformität der Aloekulturen; auf den Feldern folgen einander bis ins Endlose parallele Agavenreihen, perspektivisch konvergierend; und am Horizonte ragen hier und dort zwischen Palmen die Schornsteine von Maschinenhäusern auf. Die Plantagenlandschaft ist bereits an die Stelle der tropischen Natur getreten. Der Mensch ist gezwungen, alles Unabhängige, Freie, das ihm nicht dient, zu knechten oder zu zerstören. Er legt damit der Welt, die ihn hervorgebracht hat, eine teleologische, auf seine Erhaltung gerichtete Bedeutung bei; alles, was ihm nicht dient, geht zugrunde; er selbst ist es, der sich, wie früher ideell, so jetzt praktisch zum Zweck der Schöpfung macht.115 In Kesslers Schilderungen wird deutlich, dass durch die Erschließung der Natur das Naturereignis als solches zunehmend verloren geht. Kessler siedelt das Erlebnis also in der Vergangenheit an. Der Urwald wird beispielsweise zur Zeitmaschine. Die vergangenen Kulturen, die sich in ihm finden, werden, wie schon bei HesseWartegg, zum Sinnbild für einen besseren Ort bzw. eine bessere Zeit. Nur das Vergangene vermag es hier, das (ursprüngliche) Fremdheitserlebnis in all seiner eskapistischen Exotik und Mystik zu vermitteln. Der Urwald wird laut Badenberg bei Kessler zum Märchenwald116 , in dem noch die verwunschen erscheinenden Relikte aus einer früheren Zeit zu finden sind: Von Ticul nach Uxmál führt der Weg durch einen von Schlingpflanzen erstickten Urwald. Blühende Lianen breiten sich bis über die Baumkronen weg, dicht verschlungen wie ein buntes Tuch, einige mit hellroten, kleinen Kelchen, andere mit herabhängenden mattlila Glocken, die meisten mit großen, blauen Sternen, alles so dicht verstrickt, daß man nicht mehr einzelne Bäume, Stämme, Äste unterscheidet, sondern nur diese den Weg einengenden Mauern, dieses steigende Meer von wilden Blüten, in dessen Tiefen man zu beiden Seiten wie in Dornrös-
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Kessler: Notizen über Mexiko, S. 131 Vgl. ibid. S. 79 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 31
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chens Märchenwald hineinsieht. In ihm liegen die Städte und Fürstenhöfe der Mayas begraben.117 Auch diese Welt ist jedoch schon von der Zivilisation durchdrungen, wenn nicht ohnehin bereits durch die Kolonialherren zerstört: Eine halbe Stunde vor Uxmál ist noch eine Lichtung und eine öde, fieberverrufene Hazienda, dann steht man vor den ersten Trümmern, einem wilden Wellengeröll von eingestürzten Mauern, Architrav- und Skulpturenstücken, Pyramiden und Schutthaufen mitten im blühenden Wald. Meilenweit erstreckt sich nach allen Seiten unter Lianen und Dornen das Trümmerfeld. Erhaltene Gebäude ragen nur an einer Stelle über die Urwaldwipfel empor; auf Terrassen und Steinpyramiden dicht beieinander dreizehn Paläste und Tempel.118 Das konstruierte Bild Mexikos bricht immer da, wo der Mensch in die Natur eingreift und die vermeintliche Zivilisation die Überhand gewinnt. Die mexikanischen Städte, die tatsächlich einen urbanen Charakter aufweisen, stehen demnach im klaren Gegensatz zu der europäischen Vision, die Mexiko erfüllen muss, wie auch Kesslers nachstehende Stadtbeschreibung verdeutlicht: Das Auge empfindet zuerst von der Stadt nur die Gewalt der Farben und des tropischen Lichts in der Höhenklarheit. Daneben verschwindet die Eintönigkeit des Stadtplans, den noch die vizeköniglich spanische Beamtenschaft im papierenen Stil geradewinkelig reguliert hat; und auch die nordamerikanische Häßlichkeit der Telegraphenstangen auf den Trottoirs und der Trambahnen, die hier nicht nur den Verkehr des Publikums vermitteln, sondern es unternommen haben, in besonderen, schwarz gestrichenen Wagen zu billigen Preisen Leichen zu befördern.119 Mit dem Ersten Weltkrieg endeten die verschiedenen Exotismus-Moden abrupt. Als ab den 1920er-Jahren das Reisen wieder möglich wird, scheint nichts mehr außerhalb der eigenen Welt zu liegen. Literarisch imaginative Fluchtträume weichen einer im Stil nüchternen Reportage. Genaue und der Fotografie ähnliche Dokumentationen sollen möglichst authentisch sein und die ungeschminkte Realität abbilden. Im Reisebericht entstehen Konstruktionen der Wirklichkeit, die »auf der Reduktion von Komplexität« basieren. Die Grenzen zwischen fiktionalem Erzählen und dokumentarischen Berichten werden durchbrochen, die Reportage wird zum ästhetischen Prinzip erhoben.120 Was bereits bei Humboldt begann, setzt sich ak-
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Kessler: Notizen über Mexiko, S. 81 Ibid. S. 81 Ibid. S. 24 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 25ff.
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zentuierter und markanter fort. Die Unerzählbarkeit der Welt ist von nun an wesentliches Element des Erzählens über sie. Von nun an gilt es, den Rest der Exotik einzufangen, die durch die Erschließbarkeit der Welt großteils verloren ging. Das Reisen an sich wird – so Badenberg, sich dabei auf Siegfried Kracauer121 beziehend – zum Symptom der räumlichen und zeitlichen Veränderung der Epoche. In den Schilderungen ist es nun vor allem der Ortswechsel an sich und nicht mehr unbedingt ein bestimmter Ort, der von Relevanz ist.122 Ein Beispiel für den veränderten Ton und die Art der Darstellung ist B. Travens Reportage Land des Frühlings123 , auch wenn Mexiko dabei als Projektionsfläche für seine sozialutopischen und politischen Hoffnungen dient. Seine Art des Reiseberichts kann daher als Sonderform angesehen werden. Gleichwohl finden sich auch in seiner Reportage Elemente der neuen (gattungstypischen) Form der Darstellung. Traven beginnt seinen Bericht damit, dass er von der südlichen Region Chiapas erzählt, die ihm als ein verkleinertes Bild des ganzen Landes erscheint. Schon in den ersten Sätzen wird also ein Einzelbild als Maßstab für die Charakterisierung des ganzen Landes funktionalisiert. Traven, über dessen Identität lang spekuliert wurde, aber dazu noch später, flüchtete 1924 nach Mexiko. Seine Rolle in der Entwicklung der Mexikorezeption hin zur Sozialutopie wird in einem späteren Kapitel noch genauer erläutert werden. Sein Reisebericht Land des Frühlings erschien 1928. Traven identifizierte sich stark mit dem Land und berichtet immer wieder von den Beschwerlichkeiten, denen die Mexikaner, beispielsweise beim Bau von Straßen, aufgrund der zerstörerischen Gewalt der übermächtigen Natur ausgesetzt sind. Er bewundert ihre »zähe Ausdauer«, die sie aufgrund der »höllischen Pest von Insekten und tropischen Pestilenzen« unter »tropischer Sonnenglut« zu einer neuen Art von Menschen werden lasse. Traven wechselt in seiner Beschreibung mitunter in die Wir-Perspektive, um seine Verbundenheit auch stilistisch zu verdeutlichen. Für ihn ist Mexiko das gelobte Land und kann als Paradigma herangezogen werden. Traven entwirft hier schon die erste Idee einer Sozialutopie, da es sich – vom europäischen Standpunkt aus betrachtet – um ein Land in gesellschaftlichen Kinderschuhen handelt. Mexiko ist, wie der Titel seines Reiseberichts bereits besagt, Das Land des Frühlings – noch unverbraucht und unverdorben durch zivilisatorische Abgründe: Wir sind ja hier so jung noch, behaftet noch mit allen Fehlern, Unzulänglichkeiten und Unarten der Jugend. Aber dafür sind wir auch übersprudelnd voll von all der Spannkraft, der Unternehmungsfreude und dem unzerstörbaren leuchtenden 121 122 123
Kracauer, Siegfried: »Die Reise und der Tanz« (1925), in: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1977, S. 40ff. Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 33 Traven, B.: Land des Frühlings. Berlin: Büchergilde Gutenberg 1928
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Glauben der Jugend. Wir haben den unerschütterlichen Glauben der Jugend, daß alles möglich ist, und daß es nichts Unmögliches unter der Sonne gibt. Wir sind die Kommenden. Auf unserem Kontinent werden die Geschicke des nächsten Jahrtausends entschieden. Unser Kontinent ist die Wiege einer neuen Kultur. Und das Wochenbett ist Mexiko, denn es ist Mexiko, das die Geburtswehen zu erdulden hat.124 Auch Traven verliert sich mitunter in historischen und gesellschaftspolitischen Beschreibungen des Landes. Aufgrund seiner politischen Gesinnung bzw. seiner revolutionär-sozialistischen bzw. anarchischen Ansichten interessierte ihn vor allem auch die mexikanische Politik. Er kritisiert beispielsweise den autoritären Führungsstil des Porfirio Diaz und schildert die Auswirkungen auf die mexikanische Bevölkerung. Traven entwirft auch ein grobes Bild der mexikanischen Revolution und kritisiert die Gräueltaten der spanischen Eroberung. Mexiko wird zum stilisierten Opferland. Die wertenden Beschreibungen dienen Traven als Basis für seine Sozialutopie. Sieht man von der sozialutopischen Konstruktion ab, die Traven entwirft, hält die erschlossene Welt Mexikos kaum mehr illusionistische Paradiese bereit. Auch Travens Werk liest sich als nüchterne, sich der Authentizität verschreibende Berichterstattung mit dem Anspruch, die Realität bestmöglich abzubilden. Die Wirklichkeit wird durch die Reduktion und Konzentration auf einzelne, markante Episoden konstruiert und – in Travens Fall besonders augenscheinlich – (politisch) instrumentalisiert. Traven beschreibt und charakterisiert, wie in seinen später noch zur Analyse herangezogenen Mexiko-Romanen, vor allem die indigene Bevölkerung des Landes. Er beschreibt das Schulwesen und den Habitus verschiedener »Indianerkomunen«, er räsoniert über die mexikanische Mentalität und die Bestrebungen des Landes, ein einheitliches mexikanisches Volk hervorzubringen, was vor allem durch einen Integrationsprozess125 der indigenen Bevölkerung vonstattengehen soll. Traven ist der Ansicht, dass sich der nicht-indigene Teil der Bevölkerung der Besonderheit der indigenen Bevölkerungsschicht bewusst ist und dass aus diesem Wissen das Bestreben um Integration resultiert. Die romantisierende Idee des edlen Wilden, der sich noch auf einer niedereren bzw. ursprünglicheren zivilisatorischen Stufe befindet, ist in Travens Schilderungen, wie auch im nachstehenden Zitat, deutlich erkennbar: Der Mexikaner hat das Bestreben, das jedes junge Volk hat, ein rein mexikanisches Volk zu züchten. Er arbeitet, besonders seit der Revolution, ganz bewußt in dieser Richtung. Er hat das instinktive Gefühl, daß aus einer innigen Vereinigung 124 Traven: Land des Frühlings, S. 9 125 Der Prozess umfasst sowohl die Integration in das gesellschaftliche Leben als auch in das Bildungssystem des Landes.
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mit den Ureinwohnern seines Landes sich eine echt mexikanische Rasse herausbilden wird. Aus seinem Gefühl heraus glaubt er, daß dies eine besonders gute Rasse geben wird, eine Rasse, die sich in rein natürlicher Weise dem Charakter des Landes, dem Klima und der Erde so anpassen wird, daß sie sich zu einer neuen rein amerikanischen Rasse, die nach und nach den ganzen Kontinent bevölkern wird, entwickeln mag. Um aber den Indianer, den er zu dieser Rassenbildung braucht, aufnehmen zu können, muß er ihn auf eine höhere Stufe der Zivilisation bringen. Dies kann er in einfacherer Weise vorerst nur dadurch, daß er ihn seinem Bildungsgrade näherbringt.126 Das von Traven entworfene Bild fußt auf seiner Annahme, dass sich die indigene Bevölkerung dadurch auszeichnet, sich trotz des Martyriums der spanischen Eroberung in Teilen als eigenständige Ethnie gehalten zu haben. Den spanischstämmigen Mexikaner hingegen kennzeichne sein »Rassenstolz«, der sich aus seinem spanischen Ursprung erkläre. Dass jener trotz dieses Rassenstolzes bemüht sei, eine in allen Belangen einheitliche mexikanische Nation zu erschaffen, zeichne ihn besonders aus und sei ein Zeichen höchster Humanität, geschehe dies doch auf freiwilliger Basis und ohne Einwirkung von Waffengewalt: Man muß diesen hochgezüchteten Rassenstolz des Mexikaners kennen, um voll zu schätzen, was es für ihn bedeutet, den Indianer in seinen Kulturkreis zu ziehen. Und daß der Mexikaner das tut, obgleich sein Rassenstolz in ihm dagegen kämpft, trotzdem er sich in seinen seelischen Empfindungen dagegen wehren müßte, dies ist ein so großer edler Zug reinen Menschentums, wie wir ihn nie vorher in der ganzen Geschichte der Menschheit irgendwo und irgendwann gesehen haben.127 Immer wieder zeichnet Traven romantisierende Bilder der in Ursprünglichkeit lebenden indigenen Bevölkerung: Die Kultur der europäischen Völker hat gemeinsame oder wenigstens ähnliche Wurzeln wie die griechische und die römische Kultur. Aber die Kultur der Indianer hat mit der europäischen Kultur nur gerade Ähnlichkeiten in den Begriffen, die durchaus rein und ungetrübt durch Denkprozessse in den primitiven Vorgängen in der Natur und im Leben des Menschen wurzeln.128 Travens sozialistische Grundhaltung und sein Sinn für Demokratisierung wird in seinen Beschreibungen da spürbar, wo er die Ausbeutung Mexikos durch die USA kritisiert, im selben Atemzug jedoch anführt, dass die Zivilisation zwar giftbringend ist, in kleinen Dosen jedoch das Leben durchaus bereichern kann. Traven, der
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Traven: Land des Frühlings, S. 43 Ibid. S. 45 Ibid. S. 61
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sich auch in seinen Romanen stark mit der arbeitenden Klasse identifiziert, kritisiert die patriarchalische Behandlung der mexikanischen ArbeiterInnen. Er führt jedoch – ganz seinen sozialistischen Vorstellungen entsprechend – an, dass sie, egal ob Mexikaner, Spanier oder »Indianer«, keines Mitleids bedürfen, sondern dass lediglich allen dasselbe Grundrecht zuteilwerden muss.129 Traven beschreibt weiter die verschiedenen Sprachen, mit denen er in Kontakt kommt, sowie religiöse Gepflogenheiten und Bräuche. Er schildert einfache Episoden und Dinge des täglichen Lebens wie etwa die Tortilla als mexikanisches Grundnahrungsmittel, und er berichtet von den mexikanischen Großindustrien, ihrem Potenzial und ihren Fehlern. Travens Mexiko ist kein Naturparadies im herkömmlichen Sinn. Er entwirft eine Sozialutopie, in deren Mittelpunkt das mexikanische Volk steht, das als ideologisierendes Vergleichsparadigma stilisiert wird. Die eindrucksvolle Schönheit bzw. die exotische Besonderheit der mexikanischen Natur wird nur einige wenige Male erwähnt und dient ihm vor allem als Untermauerung seiner gesellschaftspolitischen Thesen. Im nachstehenden Zitat beschreibt Traven beispielsweise die Fruchtbarkeit der mexikanischen Natur, wobei er aber auch hier vor allem die Intelligenz der Menschen hervorstreicht, die diese Fruchtbarkeit fördern bzw. in dieser Form erst ermöglichen: Die Fruchtbarkeit dieses Landes, wo es weder Schnee noch Eis gibt, wo das ganze Jahr hindurch die Sonne scheint und der Himmel blau ist, wo zur Weihnachtszeit im Freien die Rosen blühen und im Januar die Tomaten und die Schnittbohnen geerntet werden, diese Fruchtbarkeit, durch die Intelligenz des Menschen noch gefördert, ist so überwältigend, daß die wildeste Phantasie eines europäischen Landwirts durch die Wirklichkeit hundertfach überboten wird.130 Es finden sich auch bei Traven durchaus poetische Passagen der Naturbeschreibungen, die aber vor allem dazu dienen, das Bild des Landes abzurunden und die Authentizität seines Reiseberichts zu legitimieren. Das Hinübergleiten vom nüchternen Stil der Reportage zu den poetisch anmutenden, wenn auch rar gesäten Beschreibungen der Natur verdeutlicht das Verwischen der gattungsspezifischen Grenzen bzw. die Veränderung der Gattung. Auch die episodenhafte und in einem weiteren Schritt verallgemeinernde Konstruktion der Wirklichkeit deutet auf diese Tendenz hin. Traven beschreibt vereinzelte Begebenheiten des mexikanischen Lebens – viele davon sind zudem auf den Raum Chiapas limitiert. Die rasche Abfolge und Aneinanderreihung verschiedenster Themen und Geschehnisse lässt jedoch das Gefühl eines ganzen, in sich geschlossenen Bildes entstehen. Die individuelle Wahrnehmung, das eigene, fiktionale Erleben wird zum Schlüssel der 129 Traven: Land des Frühlings, S. 60f. 130 Vgl. ibid. S. 245
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Erschließung. Das episodenhafte Erzählen muss – um ein Gesamtbild vermitteln zu können – in einer abschließenden, resümierenden Gesamtinterpretation und -valoration münden. Die Notwendigkeit dafür ergibt sich aus der grundsätzlichen Unerzählbarkeit der mexikanischen Welt. Auch die poetischen Passagen der Naturschilderung deuten auf die Schwierigkeit der Darstellung hin, wie wir sie schon bei Humboldt gesehen haben. Die mexikanische Natur kann als solche nicht erfasst und dadurch auch nicht beschrieben werden. Lediglich das Hingleiten in eine poetische Sprache sowie die Schilderung der subjektiven Empfindungen des Erzählers ermöglichen eine Annäherung, wie auch nachstehende Textstelle verdeutlicht: Tief unten ruht das glühende tropische Land. Hier oben befindet man sich in einer halbtropischen Umgebung, zwischen Felsen und dichtem Urwaldgrün. Unten windet sich wie ein silbener Faden der Rio Grijalva durch die unendlich weit erscheinende Ebene. Unten liegt die alte Stadt Chiapa de Corzo. Im Hintergrund sieht man die große Stadt Tuxtla Gutierrez mit weißen Häusern und flachen Dächern, brütend und müde in der kochenden Glut. […] So gewaltig in seinem Eindruck ist der Blick vom El Calvario hinunter in die weite tropische Ebene, mit ihrem Reichtum an Bildern, daß man nicht glaubt, es ertragen zu können, hier zu leben und diesen Blick täglich vor Augen zu haben. Man hat den Wunsch dort zugleich zu sein, während man hier ist; man hat den Wunsch, das, was man dort unten sieht, den feinsten seidenen Faden des Rio Grijalva, die winzig erscheinenden Städte mit ihren unnatürlich weiß erscheinenden Häusern in den Händen zu halten und ganz aus der Nähe zu betrachten. Wie sich die Sinne in einer Mondnacht verwirren können und man das Verlangen hat, den Mond zwischen den Händen zu halten, so können sich hier wohl die Sinne völlig verwirren, wenn man den Gedanken, die einem während des Hinabschauens kommen, zu lange nachhängt.131 In Travens Reisebericht wird deutlich, wie sehr die eigene Perspektive seinen Blick und folglich seine Darstellung generiert. Da er auf der Suche nach einer idealen Gesellschaft ist und seine Projektionen dahingehend konditioniert sind, sind in seinen Beschreibungen zivilisatorische Elemente nicht störend und werden daher nicht negativ stilisiert und hervorgehoben. Seine Darstellung entspricht keiner Zivilisationskritik im herkömmlichen Sinn. Traven geht es um eine Optimierung der vorherrschenden Zustände in Mexiko im Sinne eines sozialistischen Paritätenprinzips. Mexiko hat für Traven keine rein eskapistische Funktion, er sucht nicht nur die ursprüngliche, paradiesische Natur. In seinen Darstellungen ist daher ein Bruch zwischen Natur und Zivilisation nie negativ beschrieben, vielmehr erscheint er als natürlicher Übergang, wie das nachstehende Zitat verdeutlicht:
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Unzählige Male während dieses Rittes eröffnete sich von den Felsenhöhen hinunter in das tropische Gebiet ein Blick von unvergleichlicher Majestät. Immer sieht man fern unten am Horizont die weite Fläche des Großen Ozeans mit seinen langen heranrollenden schaumgekrönten Wogen, die gegen das flache sandige Ufer ziehen. Die Luft ist so klar und rein, daß man die schäumenden Wellen ohne Glas erkennen kann, […]. Ganz plötzlich und ganz unerwartet, eben noch durch dichten tropischen Busch reitend, ist man an den ersten Häusern der Stadt Jalisco, der Bahnstation.132 Traven beschreibt in einer späteren Episode die Aasgeier, die sich beispielsweise über den Kadaver eines von der Eisenbahn angefahrenen Esels hermachen. Während in einigen literarischen Beschreibungen Mexikos die Aasgeier als unheilvolle und doch allgegenwärtige Totenvögel dargestellt werden, die die bedrohliche und abgründige Seite der mexikanischen Natur symbolisieren, ist Travens Beschreibung durchwegs sachlich und nüchtern. Er beschreibt die Aasgeier und ihre Nahrungsaufnahme als natürlichen Zustand. Für Traven ist Mexikos Natur nicht ambig, er sucht in ihr nicht das verlorene Paradies. Sie ist lediglich ein Teil des Landes, das Traven für seine politischen und sozialutopischen Projektionen nutzt. In Heinz Erich Plattes Reportage Ich bin 15000 Pesos wert 133 wird die Veränderung der Gattung und die Hinwendung zum Fiktionalen noch deutlicher. Während Traven in Richtung Sozialutopie arbeitet und dadurch seine eigene, ideologisierende mexikanische Wirklichkeit konstruiert, zeugt Plattes Reportage von einer deutlichen Hinwendung zum Genre der Abenteuerliteratur. Auch die Zweiteilung seines Werkes in »Mexiko, wie es der Reporter sah« und »Mexiko, wie es der Abenteurer erlebte« ist laut Badenberg ein weiteres deutliches Indiz dieser neuen programmatischen Ausrichtung.. 134 Wo die Realität sich nicht mehr ins (stereotype) Bild des Landes einpassen lässt, muss die Gattung dementsprechend adaptiert werden. Die Reisereportage, die bislang – zumindest programmatisch – auf authentische Berichterstattungen abzielte, entwickelt sich stärker in Richtung Fiktionalität. Der Abenteuercharakter steht nunmehr im Vordergrund. Sowohl die technische als auch die organisatorische Veränderung der Reiseformen trug wesentlich zur Umformung der Reiseliteratur im 19. Jahrhundert bei. Der Eisenbahnreisende wird laut Brenner, der sich hier auf Wolfgang Schivelbuschs Werk zur Erforschung der Geschichte der Eisenbahnreise bezieht135 , der industrialisierten Wirklichkeit sowohl psychisch als auch physisch angeglichen. Die Her132 133 134 135
Traven: Land des Frühlings, S. 377 Platte, Heinz Erich: Ich bin 15000 Pesos wert. Berlin: Sibyllen-Verlag 1932 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 33f. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2000
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ausbildung und Etablierung des Genres des exotischen Romans könne als eine Art Gegenreaktion verstanden werden.136 Plattes Werk markiert hinsichtlich eskapistischer und exotischer Projektion den Übergang zur neuen Gattung. Platte beginnt seinen Reisebericht, indem er schreibt, dass ihn vor allem das Fernweh zu seiner Reise nach Mexiko bewogen hat. Sein Stil gestaltet sich durchwegs erzählend und reißerisch. Gleich zu Beginn ergeht er sich in einer vorurteilsbeladenen Darstellung der indigenen Bevölkerung, die sich stundenlang die Sonne in den Mund scheinen lasse und nicht einsehe, warum sie acht Stunden lang in der mexikanischen Gluthitze arbeiten solle, wenn ihr das Land doch ohnehin in paradiesischer Fülle alles das biete, was der »Indio« oder Mestize zum Leben brauche.137 Platte schildert, wie ihm sein Gepäck gleich bei der Ankunft in Mexiko gestohlen wird. Kaum hat er die Eisenbahn bestiegen, wird der Zug von Banditen überfallen, die aber in Mexiko keine berufsmäßigen Banditen sind, sondern Gelegenheitsverbrecher und »arbeitsscheue und hemmungslose Elemente«.138 Zu diesem Schluss kommt er nach seinem Rauberlebnis, das im Sinne der Pauschalität und Allgemeingültigkeit zur Erfahrung schlechthin erhoben wird. Platte reiht in seiner Reportage Episoden teils lose und rastlos aneinander, das Erlebnis ersetzt hier die Möglichkeit einer tiefgreiferenden Erfahrung. Im Gegensatz zu Travens nüchternem Stil stilisiert Platte die exotischen Reize des Landes bewusst und eindringlich und reiht sich somit bereits in die Tradition des literarischen Exotismus ein. An die Stelle von paradiesischen Zuständen, die in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr aufzufinden sind, tritt der exotische Reiz des Unbekannten und des Abenteuers: Wie jede europäische Großstadt hat auch die mexikanische Metropole ihr eigenes Gesicht, das sich dem Fremden mit den geheimnisvollen Augen des Neuen und Unbekannten zuwendet. Bald leuchtet aus ihnen das vom südlichen Himmel überstrahlte Bild heiterer Lebensfreude, bald spiegeln sie in todmatten Farben das Elend wieder, das sich in den dunklen Vierteln der Weltstadt, in schmutzige Lumpen gehüllt, mit müden Schritten durch die nachtschwarzen Schatten des Daseins schleppt. Immer aber ist das Gesicht von exotischer Eigenart […].139 Die indigene Bevölkerung dient Platte nicht als Mittel der Zivilisationskritik, sondern lediglich dazu, die exotische Komponente seines Berichtes weiter zu verstärken:
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Brenner, Peter J.: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. 2. Sonderheft. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1990, S. 495ff. Vgl. Platte: Ich bin 15000 Pesos wert, S. 12 Vgl. ibid. S. 17 Ibid. S. 18
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Durch die von Benzin- und Parfümwolken durchwehten Straßen des Zentrums, durch die stillen, verträumten Alleen der Vorstädte mit ihren in Blumen- und Palmenwunder eingehüllten Villen reicher Kaufleute und Hacendados schreitet die schöne weiße Frau. Doch immer ist in ihrer Nähe, von ihr kaum noch beachtet, der mit malerischer Dürftigkeit gekleidete Indio, dieser »pobre diábolo« und degenerierte Abkömmling der stolzen Azteken, die vor mehr als sechshundert Jahren die Hauptstadt Mexiko gründeten. Den Indio sieht man überall. Er stellt zum großen Teil das Heer der Zeitungsverkäufer, der Stiefelputzer, der Bettler, und in der stattlichen Zahl von mehr als dreimalhunderttausend Seelen repräsentiert er mehr als nur ein antikes Überbleibsel, mehr als nur lediglich das dunkelhäutige Element, das inmitten eines modernen Großstadtgetriebes für exotisch gefärbte Kontraste sorgt.140 Eindeutig zivilisatorische Elemente wie die »Benzin- und Parfümwolken« werden anders als in früheren Reiseberichten nicht negativ dargestellt. Platte stört sich nicht an der sogenannten Zivilisierung des Landes, da sie als solche die exotischen Einzelerlebnisse nicht verhindert und teils sogar dazu verhilft, seinen Beschreibungen einen abenteuerlichen Charakter zu verleihen. Der »Indio«, wie Platte ihn nennt, wird da, wo es dem Exotismus zuträglich ist, durchaus romantisierend dargestellt. Mitunter wird etwa, wie bereits gesehen, die »malerische Dürftigkeit« erwähnt, mit der der »Indio« gekleidet ist. Seine Weltanschauung ist jedoch laut Platte geprägt von Stumpfheit und Fatalismus. Auch Plattes weitere Beschreibungen sind eine rastlose Abfolge von Ereignissen, die ein kaum mehr mögliches neues Erleben ersetzen. Er beschreibt das fremdartige Treiben einer Barbierstube, die Wichtigkeit der Lotterielose für Mexikaner, das für Europäer kulturell wenig spannende Leben von Mexiko-Stadt und den Betrieb der cantinas und der Kaffehäuser sowie der Opiumhöhlen. Die Anzahl der Kapitel sowie die Vielzahl der Titel weisen auf eine Anreihung von Einzelerlebnissen hin.141 Bereits die Kapitelüberschriften sind entsprechend sensationslüstern und abenteuerverheißend gestaltet. Im Kapitel »Vom Stiefelputzer zum Pesomillionär« beschreibt Platte den Stierkampf als sonntägliches »Heidenspektakel«, als »Spiel mit dem Tod«, das Europäer in eine andere Welt eintauchen lässt. Im Kapitel »Der ›Hausgeist‹ mit Familienanschluss« berichtet er zuerst von seinem Besuch in der Ortschaft Anecamea, die sich am Fuße des Vulkans Popocatépetl befindet. Er beschreibt die Dörfer, die er auf seiner Reise mit der Eisenbahn wahrnimmt, als klein, unansehnlich, aber doch »vom Hauch der Romantik umwittert«, da sie Zeugnisse einer vergangenen Zeit sind und noch abenteuerliche Relikte wie
140 Platte: Ich bin 15000 Pesos wert, S. 21 141 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 34
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»zerschossene und verbrannte Überreste von Indianerhütten« – also »kümmerliche Revolutionsruinen« – aufweisen können, in denen heute jedoch nur mehr das »blüten- und farbreiche Unkraut der Tropen wuchert«142 . Ähnlich der markanten und bewusst getroffenen Auswahl der geschilderten Begebenheiten ist auch die Natur ein exotikverheißendes Accessoire, dessen Andersartigkeit stilisiert wird. Auch paradiesische Motive finden sich immer wieder. Es ist aber vor allem die Gefahr und Übermacht der Natur, die sie für die Europäer zum Abenteuer macht. Das irritierende Moment eröffnet dem zivilisationsmüden Menschen Raum für eskapistische Sehnsuchtsvisionen. Dementsprechend wird der Popocatépetl als majestätisch, anmutig, aber auch gefährlich dargestellt: Kurz vor Amecameca eine dunkle Dampfsäule, majestätisch und drohend, über weißen Wolkenbahnen: Das ist der Morgengruß des Popocatépetl, der jetzt fast täglich rumort und mit seinem unheimlichen Grollen schon manchen braven katholischen Indianer von Amecameca in Versuchung führt, zu den heidnischen Anschauungen seiner Väter von der anbetungswürdigen göttlichen Macht des Feuers zurückzukehren.143 Bei einer Übernachtung in einem Lehmrancho eines alten »Indianers« wird Platte in der Nacht von einem durchdringenden Schrei aus dem Schlaf gerissen. Sein Gastgeber klärt ihn – ohne wirklich wach zu sein – auf, dass es sich dabei wohl um einen »Espanto«, ein Gespenst, handeln muss. Am nächsten Tag wird ein Indianermädchen tot auf der Straße aufgefunden. Es hat eine Geisterhalluzination gehabt – glaubt man den DorfbewohnerInnen. Mexiko wimmelt laut Platte ohnehin von Gespenstern, und jedes Herrschaftshaus und jede Hacienda besitzt einen »Hausgeist« – wenn man den Erzählungen der Mexikaner Glauben schenkt. Am Ende des Kapitels erzählt Platte davon, selbst ein Gespenst gesehen zu haben: Da endlich, am dritten Abend, erschien das Gespenst! Mir lief es eiskalt über den Rücken, aber ich wollte Gewißheit haben und folgte zögernd der unheimlichen Erscheinung, die sich langsam entfernte. Es war ein graues Etwas, das wuchs, wieder näher kam und dann langsam auseinanderfloß. Überall sah ich jetzt die grauen Dunstgebilde, die sich allmählich zu einer dichten Wolkenwand vereinigten, und nun wurde mir plötzlich klar: Tropennebel! Ich hatte des Rätsels Lösung gefunden. Aber der Hacendado lachte mich aus, als ich ihm meine Beobachtung mitteilte. Die Sache habe mit dem Nebel gar nichts zu tun, meinte er, denn Nebel sei eben Nebel, aber noch lange kein Gespenst. Er glaubte weiter an den »Hausgeist« und berief sich dabei auf seine Köchin, die den Espanto ja mit eigenen Augen gesehen hatte.144 142 Vgl. Platte: Ich bin 15000 Pesos wert, S. 32ff. 143 Ibid. S. 34 144 Ibid. S. 34
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Platte schließt das Kapitel mit eben diesem Satz. Die mythische Natur Mexikos gaukelt dem Verstand etwas vor. Die Interpretation bleibt der Fantasie der LeserInnen überlassen. Mexiko wird von Platte als fremd, exotisch und mythisch stilisiert und ist dadurch für die europäische Leserschaft anziehend. Im zweiten Teil seiner Reisebeschreibungen »Mexiko, wie es der Abenteurer erlebte« weisen bereits die Überschriften (die des ersten Kapitels lautet etwa »Auf nach Jalisco«) auf den nochmals veränderten Ton seines Erzählens hin. Die Gattung des Reiseberichts wird noch stärker aufgeweicht und weist deutlichere Züge eines fiktionalen Abenteuergenres auf. Die Zugreise nach Jalisco an sich wird bereits zum Abenteuer. Die Fahrt mit einer »Autodroschke« zum Bahnhof wird als »Teufelsfahrt« stilisiert. Ausgestattet mit einer Schachtel Pistolenmunition, einem halben Pfund Insektenpulver und sonstigen Kleinigkeiten macht Platte sich auf den Weg. Es erscheint wenig verwunderlich, dass der Zug nicht funktioniert und er warten muss, ohne zu wissen, ob und wann die Reise starten kann.145 In der kleinen Ortschaft Pénjamo angekommen, wird er sofort des Umstandes gewahr, dass jeder bessergestellte Bürger mit einem »respekteinflößenden Schießeisen« ausgestattet ist. Er passt sich sofort den im ersten Augenblick befremdlich wirkenden Umständen an und kauft sich einen Sombrero, mit dem er laut seinen eigenen Schilderungen aussieht wie der Präsident Porfírio Diaz. »Die äußere Angleichung an den Wilden Westen‹« sei somit vollzogen.146 Eine Episode in einer mexikanischen Gaststube, die von der Beschreibung her wie ein Wildwest-Saloon anmutet, wird zum Wildwest-Krimi. Platte wird durch Schüsse eines Kontrahenten dazu gezwungen, den zuerst abgelehnten Tequila zu konsumieren. Da er aber kein »Neuling in Wildwest-Affären« sei, schlägt er sich wacker und schließt schließlich Freundschaft mit einem ungestümen mexikanischen Caballero.147 Die mexikanische Realität nimmt Platte vollkommen ein. Er sei nun nur mehr ein Reporter, der das Artikelschreiben nebenbei betreibe.148 Er erwirbt eine Zwiebelplantage, wird Opfer eines Überfalls von Banditen, die hoffen, mit ihm Lösegeld erpressen zu können, er verbringt eine Nacht in einem mexikanischen Untersuchungsgefängnis und verliebt sich in eine Mexikanerin. Durch diese emotionale Verstrickung wird er – nicht zuletzt durch die wertkonservative Haltung der Mexikaner in Sachen Liebschaften – zu einem Heiratsversprechen gezwungen. Als er sich dazu entschließt, die Mexikanerin zu heiraten, flieht diese mit einem anderen. Er subsumiert am Ende seiner Reise, dass er durch all die »absonderlichen Erlebnisse«, die ihm das Schicksal beschert hat, seine eigentliche Aufgabe als Zeitungsreporter vergessen hat.149 145 146 147 148 149
Vgl. Platte: Ich bin 15000 Pesos wert, S. 74 Vgl. ibid. S. 71f. Vgl. ibid.S. 69ff. Vgl. ibid. S. 82 Vgl. ibid. S. 175
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Im zweiten Teil seines Reiseberichts treten die Naturbeschreibungen völlig in den Hintergrund und fungieren, wenn vorhanden, nur mehr als Rahmen für die von ihm konstruierte Abenteuerhandlung. Dieses Kompositionsprinzip kann als charakteristisch für die Gattung der Abenteuerliteratur gelten, aber dazu noch später. Die Entwicklung des Reiseberichts kann nicht thematisiert werden, ohne auf Egon Erwin Kisch hinzuweisen. Kisch trug als sogenannter rasender Reporter maßgeblich zur Etablierung der Gattung der Reisereportage bei. Der historische Bruch der Gattung taucht bei Kisch wieder auf und kann vielleicht bereits als Ende einer Entwicklung angesehen werden.150 Kisch ist grundsätzlich der Meinung, dass es die Aufgabe des Journalisten bzw. der Reisenden ist, die Wahrheit so genau wie möglich wiederzugeben. Er ist sich aber dessen bewusst, dass die direkte Beschreibung der Wirklichkeit mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, und gesteht den SchriftstellerInnen, ähnlich wie Humboldt, eigene Fantasie zu, der es zur Gestaltung der Wahrheit bedarf. Die Trennlinie zwischen Fiktion und Dokumentation verschwimmt weiter und wird zur Programmatik der Gattung. Als Kisch aufgrund seiner jüdischen Abstammung und seines politischen Engagements zu Beginn des Zweiten Weltkrieges nach Mexiko flüchten musste, prägte er die neu entstandene Gattung der Exilreportage. Trotz der speziellen, den Umständen geschuldeten programmatischen Ausrichtung der Gattung setzen sich gewisse inhaltliche und formale Tendenzen fort. Die besonderen historischen Umstände favorisierten jedoch einen weiteren Bruch. Kisch selbst erläutert, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, nahtlos an seine sozialkritischen Reportagen der 1920er-Jahre anzuknüpfen. Wie im Kapitel über Mexiko als Exilnation noch genauer behandelt wird, veränderte die besondere Situation des Exils Kischs Herangehensweise an die von ihm präferierte Textgattung. Seine früheren programmatischen Grundsätze und Ansprüche lösen sich gänzlich auf. Kisch wird zum literarischen Chronisten, seine Darstellungen noch deutlicher eine Aneinanderreihung von einzelnen Episoden. Zudem bezieht er vermehrt historische Themen in seine Darstellungen ein und distanziert sich dadurch zunehmend von seinem früheren dokumentarischen Anspruch an die Gattung. Die Exilreportage dient den ExilschriftstellerInnen vor allem dazu, ihre eigene Welt, ihr persönliches Schicksal sowie ihre Sicht der historischen und politischen Ereignisse abzubilden. Als die Exilreportage und ihre Ausläufer mit ihren speziellen thematischen Schwerpunkten als Gattung wieder verschwanden, blieben der rastlose Ton sowie die fragmentarische und auf Einzelereignisse reduzierte Komposition als Charakteristikum der Gattung – auch als Ausdruck der Unerzählbarkeit der Welt zu deuten – bestehen. Die zunehmende Erschließung und die daraus resultierende 150 Vgl. Badenberg: »Das Land diktiert und wir erleben«, S. 35
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Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista
fortschreitende Zivilisierung Mexikos verschärften die oben genannten Merkmale zunehmend. Die Art des Reisens sowie die Reiseberichterstattung verändern sich weiter. Hans-Jürgen Heise und Annemarie Zornack weisen in ihrem 1987 erschienenen Reisebericht Der Macho und der Kampfhahn, der ihre Reisen durch Spanien und Lateinamerika dokumentiert, auf die Wichtigkeit des Reisens als solches hin, das noch die Möglichkeit des Abenteuers bietet und im Gegensatz zum Tourismus im herkömmlichen Sinne steht: Ziel alles Reisens ist nicht das Ankommen, sondern das Unterwegssein. Hier ist der Unterschied zum Tourismus, bei dem etwas schon vorher Umrissenes anvisiert und – vorübergehend – in Besitz genommen wird. Der Reisende will, anders als der Urlauber, keine Ferien vom Ich machen, sondern sich selbst einbringen: als eine Art Erfahrungssonde, die in eine fremde Gegend, in ein anderes Kulturmilieu, eindringt. Wo der Tourist Genuß und Selbstbestätigung auf der Grundlage festgelegter Übereinkünfte sucht, nimmt der Reisende Unwägbarkeiten, Anstrengungen und bisweilen sogar Gefahren in Kauf. Der Gewinn von Mühen und Risiken ist die Begegnung mit dem Unvorhersehbaren. Die Welt, die man längst als Begriffsmodell im Kopf mit sich herumträgt, zeigt plötzlich Neues, Überraschendes auf – Ausschnitte und Gesichtspunkte, die man bisher nicht kannte. Ein Hauch von Abenteuer wird spürbar; Reisen bereichern, korrigieren, belehren, provozieren, sie brechen den Ich-Panzer auf und machen sensibel für Dinge und Empfindungen, die der Alltag, die Routine, ebenso beschert wie ein vorgestanzter Urlaub zwischen Menschen, die nur Erholung, Abwechslung, Entspannung suchen. Das Eintauchen in eine nicht vertraute Situation kann jemanden dazu bringen, Erlebnis- und Phantasiefäden, die ihm aus den Händen geglitten sind, wieder aufzunehmen.151 Das Reisen an sich ist die letzte verbleibende Möglichkeit, der eigenen Welt zu entfliehen. Die Exotik ergibt sich aus der Aneinanderreihung vieler Einzelerlebnisse, die eine Gegenwelt zur eigenen Lebensrealität bieten. Die AutorInnen selbst sprechen von Ausschnitten. Die fremde Realität wird in Einzelbetrachtungen erfasst, aus denen – zusammenfassend und räsonierend – die Idee eines Gesamtbildes konstruiert wird. Auch der Reisebericht über Mexiko »Vom Quetzalcátl zum Pepsicátl« setzt sich aus einzelnen Fragmenten der mexikanischen Realität zusammen. Die Beschreibung beginnt mit der Skizzierung einer politischen Kundgebung in einem
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Heise, Hans-Jürgen; Zornack, Annemarie: Der Macho und der Kampfhahn. Unterwegs in Spanien und Lateinamerika. Kiel: Neuer Malik Verlag 1987, S. 7
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Autobus, die eher an einen Überfall erinnert, es folgen Darstellungen der mexikanischen Politlandschaft, Überlegungen zur mexikanischen Familie, zu den mexikanischen Nationalheiligen und zu anderen religiösen Gepflogenheiten sowie weitere Episoden, die polaroidmäßig aneinandergereiht werden. Von den wenigen episodenhaften Eindrücken wird pauschal auf die mexikanische Mentalität geschlossen, zur Stilisierung werden vor allem auch historische Begebenheiten herangezogen. Die Natur an sich wird kaum mehr beschrieben. Vielmehr werden zivilisatorische Elemente erwähnt, die verdeutlichen, dass das Paradies Mexiko als verloren angesehen werden kann: Die Gassen der Ladino-Siedlung sind Erdwege, die sich bei Regen in unpassierbare Moraste verwandeln. Augenblicklich scheint jedoch die Sonne, und es ist siesta, die Zeit, in der sich, wie ein Sprichwort sagt, im Freien nur Hunde und verrückte gringos rumtreiben. Vor einigen Hütten parken große Wagen, veraltete amerikanische Schlitten.152 Die Zivilisation hat in Mexiko merkbar Einzug gehalten. Das Land wird mehr und mehr zu einer hybriden Kultur. Das exotische Moment, nach dem die Europäer streben, wird zunehmend seltener. Wenn sich im Bericht von Heise und Zornack dann doch kurze Naturschilderungen finden, dienen diese vor allem der weiteren Illustration der oft schon trostlos erscheinenden Gegenden, die durch die Verwestlichung auch den Rest ihres exotischen Reizes einbüßen mussten. Der Cozumel wird als Insel von Schmugglern beschrieben, die Hauptstadt San Miguel lebt vor allem vom Fremdenverkehr und ist voll von Hotels, Restaurants, Geschäften und Souvenirbuden. Durch den Tourismus wurde das einstige Paradies zerstört. Aufgezeigt werden die negativen Folgen des Tourismus, der auch Dinge wie die Prostitution fördert: »Auf der plaza sitzen zwei Strichmädchen im Eingang einer cervecería. Sie nippen an ihrer Cola und warten auf einen gringo oder einen Matrosen.«153 Coca-Cola – als markantes Symbol und Abbild der westlichen Welt – wird in der Literatur über Mexiko zur Allegorie und fungiert den AutorInnen zur Versinnbildlichung der westlichen Zerstörung Mexikos. Auch ein Kofferradio wird hier zum Symbol. Die noch heile mexikanische Welt der indigenen Bevölkerung wird von der Zivilisation überrollt: »Eine Vorhut beim Eindringen ins Indianerland bildet in jüngster Zeit nicht selten ein sehr harmloses technisches Gerät: das Kofferradio. Das Kofferradio kann selbst dort zum Wegbereiter der modernen Zivilisation werden, wo es noch nicht einmal Strom gibt.«154
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Heise; Zornack: Der Macho und der Kampfhahn, S. 221f. Vgl. ibid. S. 227 Vgl. ibid. S. 230
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Neben der rastlosen Beschreibung einzelner Episoden, die – wie in der Einleitung von den AutorInnen erwähnt – zur Notwendigkeit wird, da nur durch das schnelle Bereisen und durch die Vielzahl an Einzelwahrnehmungen noch so etwas wie Exotik hergestellt werden kann, wird die Zivilisationskritik zum wichtigen Instrument, um Mexiko als Gegenwelt zu stilisieren. Sie impliziert die Existenz eines paradiesischen Urzustandes – des verlorenen Paradieses. Auch dient sie als Kritik an der westlichen Welt, da diese die vermeintliche Zivilisierung und somit die Zerstörung – die AutorInnen sprechen in ihrem Vorwort von einem »ökologischen Kahlschlag« – ursprünglicher Länder und Landstriche verantworten muss. Die mexikanische Bevölkerung werde, so die AutorInnen, im Grunde dazu gezwungen, sich der Zivilisation zu beugen und zu fügen: Seit Mexico sich mehr und mehr zur Industrienation entwickelt, streben die Indianer weg aus ihren Dörfern, um ihr Glück in den Städten, vor allem in Mexico-Stadt, zu versuchen. Diese Indios, die sich, und zwar häufig mit ihren ganzen Familien, in die fremde Welt der modernen Industriegesellschaft stürzen, werden von ihren Landsleuten als »Fallschirmspringer« bezeichnet – wegen ihres Todesmutes, mit dem sie sich in eine feindliche Zivilisation fallen lassen.155 Durch die zunehmende Verwestlichung gehen die ursprünglichen Bräuche Mexikos verloren. Mexiko wird durch das westlich geprägte Konsumdenken quasi vergiftet. Das Paradies wird zerstört – die Werte der westlichen Welt setzen sich durch: Wo immer die indianischen Lebensformen zurückgedrängt werden, entstehen eine emotionale Leere und ein geistiges Niemandsland, und in dieses Vakuum muß der moderne Materialismus geradezu zwangsläufig eindringen. Die alten Bräuche werden durch Konsumdenken ersetzt. Und die jungen Leute, angelockt von den Versprechungen der Wohlstandsideologen, ziehen fort.156 Durch die Kritik an dem kapitalistischen Wertesystem der westlichen Welt wird Mexiko zum Opferland stilisiert. Diese Art der Projektion findet sich bereits seit der Eroberung in diversen literarischen Zeugnissen. Zur Affirmation der Projektion wird die Geschichte des Landes thematisiert, und die AutorInnen weisen darauf hin, dass am Beginn der Geschichte Mexikos ein enormer Gewaltakt steht, der Menschen und Land in ihrer Mentalität bis in die Gegenwart beeinflusst. Das Paradies Mexiko wurde von der westlichen Welt zerstört. Die Basis dafür wurde bereits durch die Eroberung gelegt, und der Konsum als westliche Lebensphilosophie führt fort, was von Kolumbus bzw. Cortés begonnen wurde. Bereits die Wahl des Titels des Mexiko-Kapitels »Vom Quetzalcóatl zum Pepsicóatl« veranschaulicht die Kritik an der zunehmenden Zivilisierung Mexikos. Der Titel ist eine Bezugnahme auf ein 155 156
Heise; Zornack: Der Macho und der Kampfhahn, S. 229 Ibid. S. 230
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gleichnamiges Kapitel im Werk Tiempo mexicano157 des mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes, der darin die städtische und industrielle Überverantwortung Mexikos kritisiert und darauf hinweist, dass dadurch eine Rückkehr zum Ursprung – symbolisiert durch den indigenen Gott Quetzalcóatl – nicht möglich ist. Er fragt sich jedoch auch, ob dies als restlose Hinwendung zum Kapitalismus – symbolisiert durch den fiktiven Gott Pepsicóatl – der Cóatl, also der Gott, von Pepsi Cola – gedeutet werden könne.158 Am Ende des Berichts kommen die AutorInnen zum Schluss, dass Mexiko nicht so malerisch ist, wie man es sich eigentlich vorgestellt hat. Dies begründen sie damit, dass das Land sich von westlichen Träumen vereinnahmen lässt: »Mexico ist nicht so schön wie das Bild, das Hollywood von Mexiko hat, und das nicht zuletzt deshalb, weil man in Mexiko selbst so viele Hollywoodträume träumt: […].«159 Mexiko träumt also von einem besseren Dasein und zerstört dadurch das, was in der literarischen Projektion romantisierend als das eigentliche und bessere Dasein stilisiert wird – nämlich den Urzustand einer noch natürlichen Welt. Die Gattung des Reiseberichts wird zunehmend uninteressant, da der Tourismus und mit ihm die Verwestlichung sich in Mexiko stetig ausbreiten bzw. fortschreiten. Das Bereisen an sich kann kein neues, exotisches Erleben mehr bieten. Wie bereits anhand der Entwicklung der Gattung erwähnt, verschieben sich die Grenzen innerhalb des Genres immer deutlicher in Richtung Fiktionalität. Die verbleibende Exotik muss dementsprechend stilisiert und mithilfe von fiktionalen Mitteln hervorgehoben werden. Es bilden sich neue Gattungen, wie etwa der ethnographische Roman, heraus, die noch kompositorische Reste des Reiseberichtes in sich aufnehmen und authentische Berichterstattungen mit stilisierter Exotik vermengen. Eine Vielzahl an exotischen Romanen sowie Werken der Abenteuerliteratur entsteht. Die Sozialutopie bleibt als Spielart der Projektion bestehen und wird im deutschsprachigen Raum besonders durch Traven entsprechend weiterentwickelt. Elemente daraus sowie die Stilisierung Mexikos zum Opferland bleiben bis in die zeitgenössische Literatur erhalten, wenn auch oftmals entpolitisiert. Die Entwicklung hin zum Exotismus ergibt sich aber rein literaturgeschichtlich gesehen nicht nur aus der Unerzählbarkeit der mexikanischen Realität, wie sie etwa in den Reiseberichten zu finden ist, sondern aus den Bedürfnissen der LeserInnen sowie der Wandlung des Paradiesbildes. Daher ist es notwendig, in der Literaturgeschichte nun einen Schritt zurück zu machen, denn die Evolution und Verdinglichung des Paradiesbildes vollzog sich bereits in der Romantik. Dieser Wandel begünstigte – vor allem ab dem Zeitalter der Restauration – die
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Fuentes, Carlos: Tiempo mexicano. México: Cuadernos de Joaquín Mortiz. IV edición 1972 Vgl. Heise; Zornack: Der Macho und der Kampfhahn, S. 245 Ibid. S. 251
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Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista
Entwicklung einer neuen, konkreteren und eskapistischen Paradiesidee, die neue literarische Genres entstehen ließ. Die wissenschaftliche Eroberung Mexikos verlief parallel zu jener literarischen. Die Liebesbeziehung war in jedem Fall besiegelt. Die Geliebte wandelt sich – sie bleibt dem europäischen Liebhaber jedoch in jedem Fall unterlegen.
5.3
Auch du wirst meiner Liebe nicht entgehen: Mexiko als exotisch-eskapistische Projektionsfläche
Bis zur Romantik war das Paradiesbild in der Literatur durch die Suche nach dem irdischen Paradies und dessen Stilisierung bestimmt. Nun vollzog sich insofern ein Wandel im Naturbild, als die romantische Natur im Gegensatz zur klassischen Ideallandschaft wild, ungeordnet und erhaben war. Dadurch erfährt auch das Bild des irdischen Paradieses erstmals eine tatsächliche Änderung und löst sich somit von der primitivistischen Vorlage. Der Mensch bearbeitet laut Börner diesen Paradiesgarten nunmehr nach seinen Vorstellungen und spielt so die tatsächlichen Möglichkeiten seiner Verwirklichungen durch. Es entwickelt sich also eine Suche nach unterschiedlichen Zielen paradiesischer Idealität. Das Bild erweitert sich demnach um persönliche Erfahrungen. Der ursprüngliche Garten Eden wird an das neue Welt- und Selbstbild angepasst und verändert.160 In der Romantik geht man davon aus, dass die ursprüngliche Harmonie zwischen Mensch und Natur verloren gegangen ist und dieser Zustand wiederhergestellt werden muss, um so auch die ursprüngliche menschliche Identität wiederzuerlangen. Das Bild der paradiesischen Landschaft entspricht weniger einem Garten, da dieser wiederum eine zivilisatorische Entfremdung der Natur verkörpert, sondern einer echten, noch unverfälschten Natur. Es vollzieht sich eine Verschiebung weg von der klassischen Ästhetik hin zum Erhabenen und Exotischen.161 Demnach ist es nicht verwunderlich, dass sich die RomantikerInnen verstärkt dem Paradies-Motiv zuwandten und dadurch laut Rössner erstmals eine tatsächliche »Aktualisierung der Paradiesfigur« vornahmen.162 Das Streben nach der Vereinigung zwischen Natur und Geist, die Hinwendung zur wilden schönen Landschaft und die Empfänglichkeit für die Natur begünstigten das Interesse an und die Sehnsucht nach der noch ursprünglichen und üppigen Landschaft Amerikas. In den konkreten literarischen Umsetzungen ergeben sich daraus zwei unterschiedliche Bearbeitungen der Thematik. Unterschieden wird zwischen jenen, die dort waren, und jenen, die es nicht waren und ihre Projektionen dadurch nur noch
160 Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 176f. 161 Vgl. ibid. 176f. 162 Vgl. Rössner: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, S. 17
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
idealisierender anlegen. Ein Beispiel dafür ist Joseph von Eichendorffs Werk Meerfahrt 163 (1841), in dem sich die romantische Suche nach dem irdischen Paradies neu aufbereitet findet. Eichendorff verwendet hier das für die Romantik typische Schema der romantischen Ausfahrt und der idealisierten Natur- und Geschichtsbetrachtung.164 Die Romantik geht grundsätzlich sehr frei mit dem literarischen Stoff um, wie auch bei Eichendorffs Bearbeitung des Grundstoffes zu erkennen ist. Ursprünglich brechen die spanischen Seeleute auf, um Glück und Reichtum in der Neuen Welt zu finden und sich dort niederzulassen. Am Ende jedoch kehren sie wieder zurück in die vertraute Heimat. Eichendorff setzt, wie auch andere Romantiker, eine emotionale Projektion eigener Wunschträume um. Die Wunschträume werden in die Neue Welt projiziert, dann aber wieder zurückgenommen. Der Stoff wird dadurch individualisiert. Das (fiktive) persönliche Erleben steht hier im Vordergrund.165 Die altbekannte Materie wird neu gestaltet und die unmittelbaren Wahrnehmungen und Empfindungen des Protagonisten werden in den Vordergrund gestellt. Der historische Stoff wird personalisiert. Die Erzählung basiert nunmehr auf der Geschichte eines Individuums. Dieser Aspekt von Eichendorffs Meerfahrt ist jedoch nicht mehr unbedingt romantisch, sondern thematisch bereits dem typischen Interesse des bürgerlichen Realismus zuzuschreiben. Wie Wolfgang Lukas in seinem Artikel »Abschied von der Romantik« anführt, ist dieses Phänomen – soll heißen, die intensive, beinah übersteigerte Hinwendung zu romantischen Erzählstoffen – als Abschied von der Romantik und gleichzeitig als Inszenierung eines literaturhistorischen Wandels zu sehen. Dieses Phänomen findet sich vor allem im Spätwerk von Tieck und Eichendorff, aber auch innerhalb einer jüngeren Autorengeneration, die zu Beginn bzw. zu Ende der 1830er-Jahre zu schreiben beginnt.166 Auch der Typus des edlen Wilden nimmt in der Romantik wieder eine wichtige Rolle ein und fungiert weiterhin als inkorporierte Gegenfigur zur westlichen Zivilisation. Seine Verarbeitung findet sich in einer Vielzahl von Werken. Siebenmann erwähnt hier beispielsweise Inkle and Yarico (1711) von Richard Steele und Alonzo und Cora von Jean-François Marmontels (1777), die als Stoff für weitere Singspiele, Opern, Erzählungen und Gedichte dienten. Beispiele der Weiterverarbeitung des Stoffes sind etwa bei August von Kotzebue (Die Sonnen-Jungfrau 1789 und ihre 163 Eichendorff, Joseph Freiherr von: Eine Meerfahrt. Jena: Eugen Diederichs Verlag 1943 164 Vgl. Maler, Anselm: »Die Entdeckung Amerikas als romantisches Thema. Zu Eichendorffs ›Meerfahrt‹ und ihren Quellen.«, in: Riemen, Alfred (Hg.): Ansichten zu Eichendorff. Beiträge der Forschung 1958 bis 1988. Sigmaringen: Thorbecke 1988, S. 172 165 Vgl. Siebenmann: »Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen literarischen Texten«, S. 190f. 166 Lukas, Wolfgang: »Abschied von der Romantik. Inszenierung des Epochenwandels bei Tieck, Eichendorff und Büchner«, www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/epoche/lukas_epochenwandel.pdf (29.11.2019), S. 2
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Mexiko als Geliebte – Europas literarische Conquista
Fortsetzung Die Spanier in Peru oder Rollas Tod 1794/95) und auch bei Johann Wolfgang von Goethe zu finden. Goethe versuchte sich 1767 darin, Inkle und Yariko, angelehnt an Christian Fürchtegott Gellerts Erzählung Inkle und Yariko (1746), dramatisch zu bearbeiten. Das Werk blieb jedoch unaufgeführt. Amerika war dabei reine Projektionsfläche europäischer Wunschvorstellungen. Der Überseestoff ging zur Gänze in der Moralliteratur auf und wurde dadurch abstrahiert. Auch Seumes lyrische Darstellungen der indigenen Bevölkerung Nordamerikas trugen wesentlich zur Institutionalisierung einer Gesellschaftsutopie bei, da sie vor allem auch in deutschen Schulen stark rezipiert wurden.167 Eichendorffs Gedicht Eldorado hat mit dem tatsächlichen Goldland an sich nichts mehr zu tun. Es entwirft die Idee eines (paradiesischen) Urzustandes, die etwa im ersten Vers durch Erinnerungen an die Kindheit versinnbildlicht wird: Es ist von Klang und Düften Ein wunderbarer Ort, Umrankt von stillen Klüften, Wir alle spielten dort.168 Im Vordergrund steht zudem die lockende Sehnsucht nach dem noch Unbekannten. Das irdische Paradies fungiert als Gegenpol zur gefährdeten weltlichen Existenz. Wenn es gefunden wird, folgt laut Börner unmittelbar der erneute Aufbruch. Das Verharren in der Auffindung und die daraus resultierende Beendigung des Suchprozesses würden als Stagnation empfunden. Die Entwicklung einer grundsätzlichen Abenteuerlust sei bereits spürbar.169 Durch die programmatischen und ideologischen Entwicklungen in der Romantik und das neu entstandene Bewusstsein vollzieht sich eine grundsätzliche Neuorientierung in der Suche nach dem Paradies. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Paradiesvorstellungen sind, so Börner, Zeichen der »Erschütterung der ikonographischen Persistenz paradiesischer Wunschträume und -zeiten.« Börner spricht von zwei sich elaborierenden Strömungen: Auf der einen Seite existiere die verinnerlichte Suche nach dem individuellen, paradiesischen Glück. Auf der anderen Seite entstehe eine sehr auf das Äußere bedachte Strömung, die das Paradies zunehmend verdingliche und zur Ware werden lasse.170 Die Industrialisierung bewirkte einen Wandel in den Grundbedürfnissen der Menschen, die zwischen Hoffnung und Skepsis schwankten. Durch die geographische Utopie der Reise durch den Raum, der immer mehr verdinglicht ist, ist ein fortschreitender Verfall der ursprünglichen Paradiesvorstel167 Vgl. Siebenmann: »Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen literarischen Texten«, S. 191 168 Eichendorff, Joseph Freiherr von: Gedichte. Erster Teil. Herausgegeben von Harry Fröhlich und Ursula Regener. Stuttgart, Berlin, Köln: Verlag W. Kohlhammer 1993, S. 111 169 Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 238 170 Vgl. ibid. S. 249
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
lung festzustellen, der in Trivialisierung und Banalisierung augenscheinlich wird. Trotzdem lebt die geographische Utopie weiter und treibt weiterhin in träumerischer Absolutheit an paradiesische Ziele.171 Skepsis und Verdrängungsmechanismen sind aber aus diesen Utopien nicht mehr wegzudenken. Eine Beschränkung auf die Nationalliteratur bzw. auf Belletristik und Trivialliteratur ist kaum mehr möglich – die Grenzen verschwimmen hier zunehmend. Veränderungen wie Kolonialismus, Imperialismus, industrielle Revolution, Naturwissenschaften tragen maßgeblich zur Wandlung der Projektion Hoffnung bei. Der Literatur sowie der Kunst im Allgemeinen kommt eine verstärkte Kompensationsfunktion zu. Quer durch alle Gattungen werden literarische Fluchtorte entworfen, die den LeserInnen den Ausstieg aus der Realität ermöglichen. Das Sich-wegSehnen in eine bessere Welt wird als Wunsch bzw. Bedürfnis immer dann besonders dringlich, wenn die eigene Welt in der Krise steckt und wenig derartige Rückzugsmöglichkeiten bietet. Auch Maler weist in seiner literaturwissenschaftlichen Abhandlung über den exotischen Roman auf die »Sehnsucht der europäischen Gesellschaft nach Glück in entlegenen Paradiesen und unbeschädigter Idylle« hin, die als Ausdruck eines ästhetischen Bedürfnisses der Flucht aus der Gesellschaft gewertet werden könne.172 Vor allem in der Zeit der Restauration wurde – bedingt durch die vorherrschenden politischen Zustände – das Paradies zu einem zentralen Motiv der Literatur. Die allgemeinen gesellschaftlichen Missstände, die Langeweile des europäischen Lesepublikums sowie die allgemein herrschende Europamüdigkeit förderten die literarische Strömung des Exotismus zusätzlich. Der Paradiesmythos wurde verstärkt wiederbelebt und auf die lateinamerikanische Realität projiziert. Eine derartige Projektion findet sich unter anderem in Heinrich Heines Gedichtsammlung Romanzero. Im Romanzero begegnet uns ein durch seine Krankheit gezeichneter Heine, der die Missstände der Welt offen anspricht und kritisiert – sie sogar verspottet und nicht mehr nur auf die feine, ironische Weise mit der Welt abrechnet, wie man das laut Kortländer aus vielen seiner Werke kennt.173 Heine gibt sich besonders in den sogenannten »Historien« – dem ersten Teil seines Gedichtbands, in dem er geschichtliche Ereignisse aller Art behandelt – direkter, objektiver und auch bekennender als zuvor. Ihm ist »[… ] die Welt […] ein großes Narrenhaus geworden, dessen Bewohner nach immer demselben Muster immer dieselben Irrtümer begehen«174 . Die »Historien« präsentieren sich als » […] historische und geographische Wanderung durch eine Welt, in der ein Zusammenhang von Mord, Verbrechen, Betrug und Hinterlist herrscht.«175 Die Abrechnung erstreckt sich sowohl geographisch als auch historisch über ein weites 171 172 173 174 175
Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 252 Vgl. Maler: Der exotische Roman, S. 5 Vgl. Kortländer, Bernd: Heinrich Heine. Stuttgart: Reclam 2003, S. 107 Vgl. ibid. S. 107 Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 108
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Gebiet – von Indien über Düsseldorf nach Mexiko sowie von mythischer Vorzeit bis zur (damals) aktuellen Gegenwart.176 Sie zeigen, dass auch die Weltgeschichte nichts anderes ist als eine Serie von Miseren, in denen die Ungerechtigkeit über die Gerechtigkeit siegt, und das, so Kortländer, sowohl in historischer als auch in individualgeschichtlicher Entwicklung. Aus Ersterer habe Heine Parallelen zum eigenen Schicksal bzw. zu seinem körperlichen Verfall gezogen.177 Heines Gedicht »Vitzliputzli« ist Mexiko und der mexikanischen Geschichte gewidmet und als grundsätzliche und ideologisch angelegte Kritik an der Kirche und der spanischen Eroberung zu lesen. Im Gedicht manifestiert sich jedoch auch Heines Enttäuschung über die gescheiterte Revolution und die politischen Zustände in Deutschland. Auch wenn thematisch das Aufeinandertreffen zweier Kulturen und die Anprangerung der blutigen Eroberung im Vordergrund stehen, ist Mexiko in den ersten Versen des Gesanges vor allem auch paradiesisches Gegenbild zum tristen, verstaubten Europa: Dieses ist Amerika! Dieses ist die neue Welt! Nicht die heutige, die schon Europäisiert abgewelkt – Dieses ist die neue Welt! Wie sie Christoval Kolumbus Aus dem Ozean hervorzog. Glänzet noch in Flutenfrische, Träufelt noch von Wasserperlen, Die zerstiebenen, farbensprühend, Wenn sie küßt das Licht der Sonne. Wie gesund ist diese Welt! Ist kein Kirchhof der Romantik, Ist kein alter Scherbenberg Von verschimmelten Symbolen Und versteinerten Perucken.178 In Heines Gedicht wird Mexiko zum Kontrastort. Die Natur ist ein wesentliches Element der entworfenen Projektion. Sie wird als noch unberührt und bezaubernd stilisiert. Sie vermag es, den Menschen einzunehmen und ihn durch ihre paradiesischen Züge zu beglücken:
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Vgl. Kortländer: Heinrich Heine, S. 108 Vgl. ibid. S. 108f. Heine, Heinrich; Kortländer, Bernd (Hg.): Romanzero. Stuttgart: Phillip Reclam jun. 1997, S. 57
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Neuer Boden, neue Blumen! Neue Blumen, neue Düfte! Unerhörte, wilde Düfte, Die mir in die Nase dringen, Neckend, prickelnd, leidenschaftlich – Und mein grübelnder Geruchssinn Quält sich ab: Wo hab ich denn Je dergleichen schon gerochen?179 Die verstärkte Kompensierungsfunktion, die der Literatur aufgrund des tristen Alltagslebens zukommt, sowie die daraus resultierende Notwendigkeit paradiesischer Gegenwelten favorisieren die Entstehung einer neuen Gattung. Der exotische Roman als Spielart der Paradiessehnsucht und Europamüdigkeit erlebt seine Hochblüte, als im Europa zwischen Restauration und Revolution politische Bedrückung, wirtschaftliche Not und soziale Umwälzung vorherrschten. Das ursprüngliche Ethos des exotischen Romans unterscheidet sich von späteren, eskapistischen Literaturformen dadurch, dass bei seiner Entstehung nicht Dinge wie ein Überangebot an Waren und Reizen oder die Einförmigkeit der industriellen und konsumorientierten Lebenslandschaft, sondern die trostlose Alltagsrealität, aus der es zu flüchten galt, im Vordergrund stand.180 Auch wenn der Mythos des verlorenen Paradieses an sich eine einheitliche Denkfigur ist, verändert sich dieses Bild aufgrund neuer Formen des Denkens und des Bewusstseins in seinen entsakralisierten Spielarten immer wieder. Eine neue (exotische) Variation der Lateinamerika- bzw. Mexikodarstellung ist der bereits erwähnte ethnographische Roman. Dabei handelt es sich um die erste eskapistische Literaturgattung, die sich der Realität programmatisch annähert. Die Amerikathematik wird wiederholt aufgegriffen, dabei jedoch ein neuer Ansatzpunkt abgeleitet. Es finden sich in der Literatur nun nicht mehr nur die fiktiven Fahrten- und Reiseberichte und die spätromantischen, europafernen Fluchtträume. Das Grundprinzip der panoramischen Erzählweise ist Authentizität und Augenzeugenschaft, die Variationen gestalten sich dementsprechend bunt und vielseitig. Es entwickeln sich zahlreiche Spielarten dieser neuen, authentischen Erzählweise, wie etwa exotische Kulturromane, Auswandererromane sowie ethnographische Reiseromane und Abenteuererzählungen.181 Einer der wichtigsten Vertreter dieser neuen literarischen Strömung (und Gattung) ist Charles Sealsfield – eigentlich Carl Anton Postl – der zum Vorbild für diesen 179 Heine: Romanzero, S. 58 180 Vgl. Maler: Der exotische Roman, S. 6f. 181 Vgl. Siebenmann: »Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen literarischen Texten«, S. 193
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neuen, der Erfahrung verschriebenen Romantyp wurde, auch wenn dieser sich in Folge nicht durchsetzen konnte. Thematisiert werden nicht mehr ausschließlich fiktive Geschichten aus der lateinamerikanischen Dschungelrealität, sondern es dominiert eine auf Aktualität und Genauigkeit zielende Erzählweise, die den LeserInnen die tatsächliche und empirisch erprobte Wirklichkeit der Neuen Welt näherbringen möchte. Sealsfield legt großen Wert auf die genaue Wiedergabe seiner Beobachtungen und Studien über Ethnien und Natureinflüsse sowie die Vergangenheit Mexikos. Sein wichtigstes ethnographisch angelegtes Mexiko-Werk ist der Roman Süden und Norden182 , der – so wie die Gattung als solche – im folgenden Kapitel noch genauer behandelt werden wird. Der Mythos des lateinamerikanischen Eldorado – hier als Begrifflichkeit in der romantischen Tradition Eichendorffs zu verstehen – blieb in der Literatur auch abseits des exotischen Romans als Darstellungsweise der Paradiesprojektion bestehen und wurde um die Jahrhundertwende, als sich Europa in einer allgemeinen Bewusstseinskrise befand, abermals wesentlich. Hugo von Hofmannsthals Texte Ein Brief 183 (1902) sowie Briefe des Zurückgekehrten184 (1907/1908) gelten als Zeugnis ebendieser Krise. Ein Brief stellt die europäische Bewusstheitskrise, die Kritik an der Sprache als Ausdrucksmittel und die Suche nach einer neuen Poetik beispielhaft dar. Hofmannsthals Brief ist zwar nicht das einzige kritische Werk der europäischen Intellektuellenkrise, gilt aber als exemplarischer Versuch deutschsprachiger SchriftstellerInnen, sich von der Schreibweise des Fin de Siècle abzulösen und einen neuen Weg Richtung Moderne einzuschlagen. Die Briefe des Zurückgekehrten sind laut Siebenmann »die Projektionen eines Wunschbildes an echter Menschlichkeit nach Übersee«185 . Da viele Europäer sich nicht mehr mit der eigenen Kultur identifizieren konnten, kam es zu einer verstärkten Hinwendung zu außereuropäischen Kulturformen. Die Entfremdung des Individuums vollzieht sich durch die Kommunikationsuntauglichkeit der Sprache, durch die der Mensch die Dinge nicht mehr benennen und demnach auch nicht mehr dominieren kann. Der einzige Ausweg besteht in einem Rückgriff auf Formen des mythischen Bewusstseins. Ähnlich ist auch die Bewusstseinskrise des fiktiven Verfassers der Briefe des Zurückgekehrten zu verstehen, der an einer Krise, hervorgerufen durch die Überra-
Sealsfield, Charles: Süden und Norden. Erster Band. Zwei Nächte in Tzapotecan. Herausgegeben von Günther Schnitzler und Waldemar Fromm. München: LangenMüller 2005 und Süden und Norden. Zweiter Band. Mariquita. München: LangenMüller 2006 183 Hofmannsthal, Hugo von; Ritter, Ellen (Hg.): Sämtliche Werke XXXI. Erfundene Gespräche und Briefe. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1891 184 Ibid. 185 Vgl. Siebenmann: »Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen literarischen Texten«, S. 196 182
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tionalität der entfremdeten Umwelt, leidet.186 Der Protagonist und Verfasser, der nach fast 20 Jahren aus Übersee zurückkehrt, findet sich mit einer veränderten, für ihn äußerst enttäuschenden deutschen Realität konfrontiert, deren mangelnde Authentizität ihn am meisten befremdet. In seinem zweiten Brief kritisiert er die Unechtheit der Menschen und ihr Leben hinter menschlichen Masken: Aber sie selber, die Menschen – die deutschen Menschen! Aber es geht mir unheimlich damit: ich bekomme sie nicht zu fassen. Nicht, als ob sie verschlossen wären oder hinterhältig, davon hab ich unter südlichen Breiten ganz andere Beispiele erlebt – aber wenn auch: ein verschlossenes Gesicht und ein tückisches Gesicht reden auch ihre Sprache, und daran, daß er sich nicht fassen lassen will, daran faß ich eben einen solchen. Aber hier – hier ist nichts von Verstellung, nichts von Absicht, und darum umso schlimmer. Wo soll ich eines Menschen Wesen suchen, wenn nicht in seinem Gesicht, in seiner Rede, in seinen Gebärden? Meiner Seel, in ihren Gesichtern, ihren Gebärden, ihren Reden finde ich die gegenwärtigen Deutschen nicht. Wie selten begegnet mir ein Gesicht, das eine starke, entschiedene Sprache redet. So verwischt sind die meisten Gesichter, so ohne Freiheit, so vielerlei steht darauf geschrieben, und alles ohne Bestimmtheit, ohne Größe. Es geschieht mir manchmal, daß ich mir das Gesicht eines indianischen Halbbluts herbeiwünsche oder das Gesicht eines chinesischen Lastträgers.187 Und an anderer Stelle: Wie sie guten Tag sagen und wie sie dich zur Tür begleiten, wie sie eine Tischrede halten und wie sie von Geschäften reden, wie sie in ihren Zeitungen schreiben und wie sie ihre neuen Stadtteile bauen – das ist alles aus einem Guß: ihre linke Hand weiß wahrhaftig nicht, was ihre rechte tut, ihre Kopfgedanken passen nicht zu ihren Gemütsgedanken, ihr Amtsdenken nicht zu ihren Wissenschaftsgedanken, ihre Fassaden nicht zu ihren Hintertreppen, ihre Geschäfte nicht zu ihrem Temperament, ihre Öffentlichkeit nicht zu ihrem Privatleben. Darum sag ich Dir ja, dass ich sie nirgends finden kann, nicht in ihren Gesichtern, nicht in ihren Gebärden, nicht in den Reden ihres Mundes: weil ihr Ganzes auch nirgends darin ist, weil sie in Wahrheit nirgends sind, weil sie überall und nirgends sind.«188 Der Heimkehrer sieht sich mit einer zivilisatorischen Selbstentfremdung konfrontiert, die den Menschen das eigentlich Menschliche und damit ihre Wirklichkeit nimmt und sie dadurch zu einer Art hohlen Marionetten verkommen lässt. Der verzweifelte Protagonist und Briefschreiber geht so weit, sich zu fragen, ob die
186 Vgl. Siebenmann: »Das Lateinamerikabild in deutschsprachigen literarischen Texten«, S. 59 187 Hofmannsthal: Erfundene Gespräche und Briefe, S. 157 188 Ibid. S. 158f.
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einzige noch bestehende Authentizität der Menschen wirklich in der neuen, noch nicht von Zivilisation und Fortschritt verfälschten Welt zu suchen sei: »[…] – muß ich zurück nach Uruguay oder hinunter nach den Inseln der Südsee, um wieder von menschlichen Lippen diesen menschlichen Laut zu hören, der in ein schlichtes Abschiedswort, in eine Floskel der Gastlichkeit, in eine Frage, in ein hartes, abweisendes Wort manchmal das Ganze der menschlichen Natur zu legen vermag und mir sagt, dass ich nicht allein bin auf der weiten Erde?«189 In dieser gesellschaftskritischen und vor allem europakritischen These finden sich Parallelen zu Rousseaus Theorien und Menschenbild sowie seiner Sprachkritik. Rousseau kritisiert nicht nur die zunehmende Vergesellschaftung der Menschen und stellt ihr den von der Zivilisation noch unverdorbenen Naturmenschen gegenüber. Er idealisiert auch dessen Sprache, die pur und ausreichend für die wichtigen, elementaren Bedürfnisse des Menschen sei: »Die erste Sprache des Menschen, die universellste, die kraftvollste und die einzige Sprache, die er nötig hatte, bevor es erforderlich war, versammelte Menschen zu überreden, ist der Schrei der Natur.«190 Ähnlich wie Hofmannsthal verklärt und stilisiert auch Georg Heym die Neue Welt in seinem in den Vorwehen des Ersten Weltkriegs verfassten Gedicht »Columbus« (1911). Heyms Darstellungen der Neuen Welt und ihrer BewohnerInnen sind durchwegs positiv und schön. Nichts ist zu spüren von der infernalen und wilden Natur sowie dem animalischen Gehabe der sogenannten UreinwohnerInnen. Lateinamerika bzw. Mexiko hat in seinen Ausführungen nichts Bedrohliches oder Gefährliches. Heym zeichnet das Bild einer sanften, idyllischen und bezaubernden Natur mit goldenem, wolkenlosem Himmel und grünem Wasser mit weißen Orchideen. Mexiko ist das Eldorado, an dessen Küste sich Kolumbus aus der öden Eintönigkeit und ungestümen Wildheit des Meeres retten konnte. Mexiko ist im Gegenteil zur stürmischen, monotonen See – aber vor allem im Gegensatz zum kriegerischen Europa – ein friedliches und malerisches Paradies. Dies wird vor allem in den letzten drei Strophen seines Gedichts deutlich: Am Bugspriet vorne träumt der Genueser In Nacht hinaus, wo ihm zu Füßen blähn Im grünen Wasser Blumen, dünn wie Gläser, Und tief im Grund die weißen Orchideen. Im Nachtgewölke spiegeln große Städte, Fern, weit, in goldnen Himmeln wolkenlos,
189 Hofmannsthal: Erfundene Gespräche und Briefe, S. 159f. 190 Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. 123
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Und wie ein Traum versunkner Abendröte Die goldnen Tempeldächer Mexikos. Das Wolkenspiel versinkt im Meer. Doch ferne Zittert ein Licht im Wasser weiß empor. Ein kleines Feuer, zart gleich einem Sterne. Dort schlummert noch in Frieden Salvador.191 Das Paradies Mexiko wird als Kontrastort zur Zivilisation stilisiert und dient als Projektionsfläche von eskapistischen Wunschvorstellungen sowie als Instrument der Zivilisationskritik. Die Verschiebung weg von der klassischen Ästhetik hin zum Exotischen sowie die gesellschaftlichen Missstände und die allgemein herrschende Europamüdigkeit förderten die Herausbildung des literarischen Exotismus. Mexiko wurde auf exotische Komponenten reduziert, wodurch die Projektion paradiesischer Motive und somit die literarische Flucht ermöglicht wurde. Die Liebesbeziehung hat ihren Anfang gefunden. Die Umworbene konnte und kann alle Hoffnungen erfüllen und alle Sehnsüchte stillen. – Sie hätte demnach kaum eine Chance gehabt, sich dieser Liebe zu entziehen.
5.4
Die schöne, fremde Geliebte: Mexikodarstellungen im exotischen Roman
Aus der Veränderung des literarischen Paradiesbildes sowie der zunehmenden Fiktionalisierung der Reiseberichte ergaben sich neue Arten der literarischen Projektion. Der exotische Roman, dessen Anfänge, wie bereits gesehen, in die Zeit der Restauration fielen, etablierte sich zunehmend. Maler bestätigt, sich auf Walter Imhoof und dessen Werk über die Europamüdigkeit beziehend, dass es sich um eine den damaligen Bedürfnissen der Leserschaft angepasste Gattung handelt: Aus dieser Krise der damaligen Literatur erklärt sich die ausgeprägte Vorliebe für das Exotische. Mit dem Verblassen der Ideenwelt begann der Blick nach außen zu schweifen und fand in den tropisch-üppigen Bildern ferner Erdteile Ersatz für das Leben im kahl gewordenen Europa. Sehr bezeichnend ist Julian Schmidts Urteil über diese Tendenz: »Unser Interesse an Nordamerika hat immer noch einen romantischen Anstrich.«[…] Die exotische Poesie läßt sich gewissermaßen als Brücke zwischen Spätromantik und Realismus betrachten, denn in ihr erscheint das Ferne, Wunderbare doch schon innerhalb der Grenzen des Raumes. Die Auffassung
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Heym, Georg: Dichtungen und Schriften. Band 1 Lyrik, München (u.a.): Ellermann 1964, S. 218
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bestätigt sich auch bei der Betrachtung der hier in Frage kommenden Persönlichkeiten, die eben jenes Schillernde des Menschen der Übergangszeit aufweisen.192 Charakteristisch für den exotischen Roman ist der eurozentristische Blick auf die Fremde, deren exotische Aspekte hervorgekehrt, stilisiert und inszeniert werden. Den Gegenpol zur zunehmenden Industrialisierung und Kapitalisierung Europas bildet eine romantisierende Natur- und Ursprungsverbundenheit, die dabei oftmals lediglich als Rahmen der Erzählung fungiert. Das tatsächliche ethnographische und geographische Entdecken neuer Länder, die zu diesem Zeitpunkt zum Großteil ohnehin längst entdeckt waren, ist dabei nicht unbedingt wesentlich, wie sich auch an aktuelleren eskapistischen Literaturformen, wie etwa der Gattung der Science-Fiction, beobachten lässt. Das Interesse am noch-nicht-Entdeckten – im Sinne einer Horizonterweiterung – spielt bei diesem Genre eine untergeordnete Rolle.193 Victor Segalen weist in seinem Werk Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus darauf hin, dass sich die spezielle Ästhetik des Exotismus daraus ergibt, dass sie die Stilisierung des Fremden in den Mittelpunkt rückt: »Der Exotismus ist also keine Anpassung; es ist also nicht das vollkommene Begreifen eines Nicht-Ich, das man sich einverleiben könnte, sondern die scharfe, unmittelbare Wahrnehmung einer ewigen Unverständlichkeit.«194 Unsere erste Exotismuserfahrung ist laut Segalen der Exotismus der Natur. Der Mensch habe erst dann ein Naturgefühl entwickeln können, als er begriffen habe, dass die Natur anders sei als er selbst.195 Wir können die Natur also nur dann mit ästhetischer Freude betrachten, wenn wir uns von ihr gelöst und etwas Distanz gewonnen haben. Wir würden daher nicht die »Unverständlichkeit beklagen«, sondern sie im Gegenteil auf das Höchste loben.196 Nicht nur die Unverständlichkeit und Andersheit der Fremde bzw. ihre Stilisierung, sondern auch die enge Verbindung zur Natur ist demnach ein weiteres wesentliches Element des Exotismus. Das ferne Amerika brachte Abenteuer und Sensationen, die dem gelangweilten europäischen Publikum einen vorzüglichen Unterhaltungsstoff boten. Erzählte Landschaften und Sittengemälde gewährten dem Lesepublikum eine dem tatsächlichen Abenteuer vergleichbare Unterhaltung. Michael Mayer reflektiert in seinem Werk Tropen gibt es nicht über das Phänomen des Exotismus, das bereits im späten 18. bzw. im 19. Jahrhundert begrifflich wird, im 19. und 20. Jahrhundert jedoch in Maler: Der exotische Roman, S. 7, nach: Imhoof, Walter: Der »Europamüde« in der deutschen Erzählliteratur. Horgen – Zürich, Leipzig 1930, S. 106f. (= Wege zur Dichtung 8) 193 Vgl. Ueding, Gert: »Über einige Hauptmotive der Kolportage«, in: Maler, Anselm (Hg.): Exotische Welt in populären Lektüren. Tübingen: Niemeyer Verlag 1990, S. 96 194 Segalen, Victor: Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus. Übersetzt von Ulli Wittmann. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 44 195 Vgl. ibid. S. 44f. 196 Ibid. S. 93
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enger Verbindung zum Kolonialismus steht, auch wenn das fremde Land als faszinierender Sehnsuchtsort und nicht als zu beherrschendes Objekt reizt: Da der Exotismus als fanatische Zuwendung zu fremden Kulturen zu verstehen sei, passiere eine stete Auf- oder Abwertung des Landes, die an eine mehr oder weniger starke Konstruktion des Bildes der jeweiligen Kultur gebunden sei.197 Abwertungen der mexikanischen Realität finden sich vor allem da, wo Mexiko sich schwer in das vorgefertigte Bild einpassen lässt. Mit positiver Überstilisierung wird versucht, dieser Diskrepanz entgegenzuwirken. Je stärker die realen Gegenbilder sind, desto radikaler muss die Stilisierung gestaltet sein. Sowohl negative als auch positive Naturbeschreibungen vermögen es mitunter, den exotischen Charakter des Landes hervorzuheben. Die Fremdheit der mexikanischen Natur verheißt immer auch Exotik. Ihre ungestüme Übermacht impliziert, dass sie lediglich aus der Ferne betrachtet werden kann. Eine tatsächliche Annäherung oder eine Inbesitznahme ist nicht möglich. Die Beschreibung an sich ist als größtmögliche Annäherung zu verstehen. Das Naturerleben – wenngleich aus sicherer Distanz – ermöglicht das exotische Moment. Der Exotismus existiert als Phänomen auch in außereuropäischen Kulturen. Durch die europäische Kolonialgeschichte ist er aber auch pejorativ besetzt. Der Begriff impliziert daher eine Blickrichtung von Europa auf außereuropäische Kulturen und somit eine ideologische Prägung der Wahrnehmung. In allen exotischen Kunstwerken findet sich durch den Wunsch und den Anspruch, der fremden Kultur so nahe wie möglich zu kommen, ein hoher fiktionaler Anteil. Die Werke fokussieren demnach stets die europäische Wahrnehmung. Die exotischen Texte unterscheiden sich insofern von der Kolonialliteratur, als sie nicht nur andere Kulturen darstellen und thematisieren, sondern dabei auch ihre eigene Perspektive auf diese hinterfragen. Der Exotismus reflektiert sich und dekonstruiert sich demnach in seinen literarischen Darstellungen permanent selbst, »indem diskursive eurozentristische Wahrnehmungsmodi aufgegriffen und poetologisch ad absurdum geführt werden«. Mayer weist auf eine Transformation des Exotismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts hin, die historisch zwischen dem Kolonialismus und Postkolonialismus liege.198 Sie vollzieht sich, da eine unreflektierte Wahrnehmung und Stilisierung außereuropäischer Realitäten nicht mehr möglich ist. In den Texten muss zunehmend klar generiert werden, was überhaupt fremd ist und dementsprechend außereuropäisch dargestellt werden kann. Während Briten und Franzosen vorwiegend Südseeromane publizieren, ziehen vor allem die Deutschen Amerika als bevorzugten literarischen Fluchtort heran.
Mayer, Michael: »Tropen gibt es nicht.« Dekonstruktionen des Exotismus. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2010, S. 9 198 Ibid. S. 12ff.
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Der bereits erwähnte ethnographische Roman Süden und Norden von Charles Sealsfield kann zwischen Reisebericht und exotischem Roman angesiedelt werden und zielt darauf ab, die fremde Wirklichkeit so authentisch wie möglich abzubilden. Sealsfields Romane stießen in Deutschland auf großes Interesse, weil sie mehr als reine Fiktion waren und somit auch als Informationsmaterial fungieren konnten, was ihren exotischen Reiz nur erhöhte. Thematisiert werden nicht nur erfundene Geschichten. Sealsfield legt großen Wert auf die authentische Wiedergabe seiner Beobachtungen. In seinen Beschreibungen wirkt Mexiko schön und furchtbar zugleich und wird in den prächtigsten Farben eines lebendigen Realismus dargestellt. Die stets betonte Wirklichkeitsnähe und die detaillierten Beschreibungen können auch als erzähltechnische Raffinesse angesehen werden, die dazu dient, die Fluchtund Wunschträume der Leserschaft besser zu bedienen. Eine der größten Neuerung des Romans findet sich in Sealsfields ProtagonistInnen. Er verabschiedet den zur Institution gewordenen individuellen Helden des Romans und schafft damit einen neuen und bisher einzigartigen Romantyp, dessen Held ein ganzes Volk ist. Dadurch wird das ethnographische Interesse zur bestimmenden Maxime seiner Erzählungen. Diese neue ethnographische Erzählweise zeichnet sich durch die lebendige und detaillierte Beschreibung von Mensch und Natur aus und unterscheidet sich dadurch von der klassischen Abenteuerliteratur, die die eigentliche Handlung oftmals lediglich in die Natur einbettet, um die passende Atmosphäre zu schaffen. Sealsfield will keine statischen politischen, geographischen und historischen Abhandlungen verfassen, wie sie schon so zahlreich existieren. Er erprobt eine neue Methode der Darstellung, die auf Erfahrung und Augenschein basiert. Es handelt sich also um eine sich auf Empirie stützende Schilderung, die jedoch aufgrund ihrer expositorischen Gattung über den Charakter der persönlichen Chronik hinausgeht. Sealsfield selbst beteuert immer wieder die Authentizität und den Wahrheitsgehalt seiner Ausführungen. Gleichzeitig weist er auf die Schwierigkeiten einer vollständigen authentischen Darstellung hin: Was die Darstellung selbst betrifft, so ist diese skizziert, fragmentarisch, wie es eine Darstellung erster Eindrücke bedingt. Nicht tiefgehend, berührt sie – nicht ohne triftige Gründe – nur oberflächlich, gleichsam im Durchfluge geselliges Leben und sittliche Zustände, die, sollen sie gründlich geschildert werden, eine längere Beobachtung erfordern.199 Süden und Norden erzählt die Abenteuer nordamerikanischer und deutscher TouristInnen in Mexikos südlichem Paradies Oaxaca. Einer der Reisenden interessiert sich für die Cochenilla-Pflege, da er dieses Insekt, welches zum Färben von Textilien verwendet wird, auch in den USA kommerziell vermarkten möchte. Die detail199 Sealsfield: Süden und Norden. Zwei Nächte in Tzapotecan, S. 36
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liert beschriebene Reise erstreckt sich über den Zeitraum von November 1824 bis zum Sommer 1825. Dies ist die Zeit unmittelbar nach den mexikanischen Unabhängigkeitskriegen und die junge Republik ist mitten im Umbruch, was sich auch im Romanklima deutlich abzeichnet. Sealsfield lässt alle an den »Wirren in Mexiko beteiligten Gruppierungen«, so Günter Schnitzler in seiner Einführung zum Roman, zu Wort kommen. Das gesamte Volk und dessen Situation in dieser Zeit würden so zum »Helden« der Geschichte.200 Die Reisenden kommen in ein Dorf im südlichen Oaxaca, welches im Roman nur als »pueblo« bezeichnet wird. Dort beginnt der erste richtige Kontakt mit der mexikanischen Bevölkerung. Einer der amerikanischen Touristen verliebt sich in ein Mädchen namens Mariquita, Tochter des Dons, und begeht gleich ein doppeltes Verbrechen gegen das mexikanische Gesetz – oder das Gesetz des Dschungels: Er ist Ausländer und Ketzer, will jedoch trotzdem eine Mexikanerin heiraten. Trotz vieler Hindernisse finden die beiden am Ende doch zueinander. Sealsfields Beschreibungen zielen auf Ereignisfülle und vor allem auf rein äußeres Geschehen ab. Im Zentrum seines erzählerischen Interesses stehen grundsätzlich keine individuellen Thematiken oder Konflikte, sondern das Abbild eines ganzen Volkes bzw. einer Nation. Kennzeichnend ist auch der rasche Wechsel der Situationen, der dem Roman einen hektischen, fieberhaften Grundtenor und Charakter gibt. Sealsfields Schreibstil ist, beachtet man das Erscheinungsdatum seines Romans und die damalige Entwicklung der Reiseliteratur, wenig überraschend, da er sich – auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis – in die Tradition des ereignisorientierten Erzählens eingereiht hat, um aus der Beschreibung einzelner Erlebnisse und Wahrnehmungen ein Gesamtbild des Landes zu zeichnen. Neuartig an Sealsfields Roman ist, dass nicht bzw. nicht nur die Handlung im Zentrum des Romans steht. Der ethnographische Roman ist kein reiner Unterhaltungsroman. Sealsfield wollte ein Natur- und Sittengemälde Mexikos schaffen. Den Naturbeschreibungen wird demnach ein zentraler Stellenwert eingeräumt. Auch dienen seine Detailbeschreibungen ihm unter anderem als Authentizitätszeugnis. Das von ihm Erzählte entspricht laut seinen mehrmaligen Beteuerungen dem von ihm Erlebten. Das eigentliche Abenteuer nimmt er bewusst zurück, um Natur und Volk mehr Raum zu geben. Sealsfields Darstellungen der Natur sind belebt und muten teilweise beinah fotografisch an, sein Roman erscheint mitunter wie eine Plastik. Wie Humboldt will auch Sealsfield eine (malerische) Ansicht der mexikanischen Natur schaffen und die Unbeschreibbarkeit der fremdartigen Natur überwinden. Sealsfields ethnographischer Roman steht hier im klaren Gegensatz zum klassischen Abenteuerroman, der sich eines konventionellen, starren Naturgemäldes bedient. Hier ist die Natur selbst Teil der Handlung. Sein Ton entspricht nicht generell dem üblichen sentimentalen Ton der Naturbeschreibungen, seine 200 Vgl. Sealsfield: Süden und Norden. Zwei Nächte in Tzapotecan , S. 10
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Darstellungen weisen immer wieder auch realistische Züge auf. Sealsfield ist bestrebt, authentisch zu berichten und nicht in die herkömmlichen Gemeinplätze zu verfallen. Seine Naturbeschreibungen sind trotzdem durch eine poetische Sprache gekennzeichnet, die die Erhabenheit der mexikanischen Natur versinnbildlichen soll: Wir waren müde und matt, hungrig und durstig, aber Müdigkeit und Mattheit, Hunger und Durst waren über dieser unaussprechlichen Pracht vergessen. Jede Minute, jede Sekunde brachte neue Pracht, neue Herrlichkeit. Jetzt erglänzten die Gipfel der Schneeberge wie flüssige Silberkronen, im nächsten Augenblick flossen sie wie wallende Goldströme ineinander, gleich darauf erschienen sie wieder vom herrlichsten Purpur umflossen, von aus zartestem Rosaflaum gewobenen Schleiern umspielt, darunter trat das glühende Bronze der ungeheuren Felsenterrassen, dann das tiefe Indigoblau der waldbewachsenen Bergrücken – weiter das Ultramarin und hellglänzende Rot, und lichtgoldne Gelb der Auen und Haine und Gärten, und ihrer prachtvollen Baumgruppen und Schlingpflanzen hervor, die ganze Landschaft wie tausend und abermals tausend Regenbogen umfließend – in den szintillierenden Strahlen gleichsam herauf uns entgegen wallend!201 Sealsfields Anliegen, ein Sittengemälde Mexikos zu erschaffen, steht im Fokus und erklärt den Umstand, dass er auch immer wieder historische, soziologische, geographische, botanische und mentalitätsgeschichtliche Darstellungen in seine Schilderungen mit aufnimmt. Im Unterschied zu früheren Mexiko-Werken steht Mexiko selbst erstmals in Zentrum der Beschreibung. Es wird nicht vordergründig für diverse Projektionen instrumentalisiert. Gleichwohl werden auch bei Sealsfield die Natur und die Naturerfahrung zum europäischen Er-LEBEN. Die mexikanische Natur erstrahlt in opulenter Schönheit und paradiesisch anmutender Pracht. Immer wieder fügt sie sich in das europäische Sehnsuchtsbild ein: Das schönste Land der Erde! Nirgends wehen die Lüfte so rein, blühen die Blumen so duftend, schmecken die Früchte so süß! Ein ewiger Frühling herrscht da, den selbst die Estación de aguas nur benäßt, nicht unterbricht. Den Schnee kennt sein glückliches Völkchen nur von den Spitzen der höchsten Berge her, den Frost als einen seltenen Gast. Es liegt edenartig zwischen den Porphyr- und Basaltgebirgen – die es nördlich von Puebla und Michoacan und Mexiko, und südlich von Chiappa [sic!] und Guatemala herauf einschließen – die sengende Hitze des Äquators, die erstarrende Kälte des Nordens – die Strömungen eurer debauchierten Zivilisation, die Raubzüge eurer wilden Eroberer gleich kräftig abwehrend. Selbst die entsetzlichen Conquistadores haben in diesem Ländchen nicht mit ihrer gewohnten zügellosen Wut gehauset – sie wurden sanfter, als sie diesen klas-
201 Sealsfield: Süden und Norden. Zwei Nächte in Tzapotecan, S. 55
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sischen Boden betraten, die milden Lüfte, die wonnigen Düfte, die paradiesische Schönheit stimmten sie versöhnlicher, die zarte, kluge Einfalt der Bewohner entwaffnete sie. Der Spanier wütete wirklich weniger blutdürstig hier, als in irgendeinem andern Teile dieses unglücklichen Reiches, selbst der fanatische Mönch mäßigte seinen finsteren zelotischen Bekehrungseifer.202 Die Natur nimmt bei Sealsfield mitunter einen mythisch-magischen Charakter an. Ihre Übermacht übersteigt das bisher Erlebte und Vorstellbare und steht im Kontrast zur heimischen europäischen Welt. Die Mystifizierung ist einerseits Ausdruck des Staunens, andererseits ergibt sich dadurch erst die Möglichkeit, das sich darbietende Naturschauspiel zu erfassen und zu beschreiben: Hie und da drangen jetzt die Lichtströmungen durch die zerrissenen Bergschlünde ein, und wo sie eindrangen, entstand ein wunderbarer, beinahe grausig zu schauender Kampf. Sie schienen zu leben, die Schatten der Nacht, sich zu wehren im verzweifelten Kampfe gegen die Lichtstrahlen, die sie anfielen und durchbrachen, sie die bewaldete Anhöhe hinauftrieben und sie wie Spinngewebe auseinanderrissen, so daß wie durch einen Zauberschlag das tiefe Indigoblau der Tamarinden und Chicozapotes, und noch tiefer herab das helle Grün der Zuckerfelder, und noch tiefer das dunkle der Nopalgärten, dann das Ultramarin der weiß und grün und golden und hell gelb erglänzenden Orangen- und Zitronenwälder – und noch weiter der hohen Fächer- und Dattelpalmen und der glänzenden Bananen auftauchten und hervortraten – alle mit Milliarden Tautropfen wie endlose mit Diamanten und Rubinen besäte Schleier funkelnd, während wieder über den nächsten Tälern noch immer die Schatten der Nacht hingebrütet lagen.203 Mexiko erscheint wie ein betörendes Wunderland, das die Grenzen des real Fassbaren und Vorstellbaren zu sprengen vermag, wie im Roman immer beschrieben wird: »Waren wir in Mexiko, in der Mistecca [sic!] oder in einem verzauberten Lande? Was wir sahen, war gar so wunderbar, so sinnverwirrend!«204 Wie so oft gestalten sich auch Sealsfields Naturbeschreibungen grundsätzlich ambig. So wunderbar die Natur Mexikos auf der einen Seite ist, kann sie doch die europäischen Sehnsüchte erfüllen, so furchtbar erscheint sie den AbenteurerInnen auf der anderen. Der Zugang bleibt ambivalent. Wie ein ungestalteter, wüstenhafter Naturraum die Funktion haben kann, die Fantasie von den Einschränkungen der gewohnten Realität zu befreien, wie Gert Ueding in seinem Aufsatz über das Motiv der Fremde in der Literatur berichtet, erscheint dies auch für ungestüme und dominierende Naturschauplätze im Allgemeinen plausibel.205 Mexiko 202 203 204 205
Sealsfield: Süden und Norden. Zwei Nächte in Tzapotecan, S. 56 Ibid. S. 135f. Ibid. S. 183 Vgl. Ueding: »Über einige Hauptmotive der Kolportage«, S. 100
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wird bei Sealsfield zum exotischen Paradies. Das zwiespältige Naturbild verheißt Exotik, Ursprünglichkeit und Abenteuer und erleichtert den LeserInnen somit den mentalen Ausstieg aus der eigenen Gesellschaft. Nur das Naturerlebnis ermöglicht das Erfahren der Fremde. Die LeserInnen können sich so in die Rolle des Protagonisten hineinversetzen, der als Agent der Gesellschaft fungiert, der er zu entkommen versucht206 . Die Beschreibungen der Natur wirken da, wo Mexiko wenig paradiesisch ist, auf den ersten Blick ernüchternd. Die bedrohliche Komponente der Natur ermöglicht jedoch eine neue Art der Projektion. Der Naturschrecken wird laut Thomas Koebner zum Andachtsbild und dadurch zum Motiv der Kontemplation.207 Koebner stützt sich in seinen Interpretationen auf Edmund Burke und Kant, die die Erhabenheit der Natur als Reaktion der Menschen auf eine Natur beschrieben haben, die den Menschen als Macht begegnet. Diese Naturfurcht ist laut Kant nur dann zu überwinden, wenn der Mensch erkennt, dass »die Erhabenheit in uns, nicht in einem Ding der Natur zu suchen ist, sofern wir das Bewußtsein der Überlegenheit über die Natur in und außer uns erringen können«. Die Ursache der Furcht vor der Natur stecke im Menschen selbst. Sie entstehe im Inneren des Betrachters und die Wildnis werde zum »Sinnbild, weil sie den Kräftehaushalt im Bewusstsein und Unbewusstsein des Menschen widerspiegelt, der in diese Wildnis eindringt«. In der Natur sammelten sich all jene Kräfte, die vom zivilisierten Ich verdrängt würden. Die Reise in die wilde Natur sei eine Reise in eine Gegenwelt, die Natur daher kein »locus terribilis«, sondern vielmehr ein »umgekehrter locus amoenus«, da es sich um eine ausgedehnte Naturlandschaft handle, die wenig Spuren von Zivilisation aufweise.208 Diese wiederum ist eine menschliche Grenzüberschreitung. Das Naturerleben wird zur Erhebung und tendiert auf Angleichung und Versöhnung mit der wilden und nicht domestizierten Natur. Das Moment der Unnahbarkeit des durch Seinsfülle schlechthin Überlegenen, das die erhabene Natur kennzeichnet und das als Differenz jede wirkliche und totale Versöhnung hier und jetzt verhindert, ist der Kern jenes Fremdheitsgefühls, das die erhabene Natur beinhaltet, wie nahe ihr auch immer der erhabene Charakter kommen mag. So sei hier das Erlebnis des Fremden und Anderen also die größtmögliche Annäherung des Menschen an die Natur.209 Das Fremdheitserlebnis wird demnach zur Metapher für die Ursprünglichkeit der Natur und ist gleichhin das exotische Erleben, nach dem der zivilisierte Mensch strebt. Das Naturerlebnis wird auch bei Sealsfield zur Grenzerfahrung und ermöglicht es den Reisenden, ihre eigenen Grenzen zu überwinden und in die mexikanische 206 Vgl. Ueding: »Über einige Hauptmotive der Kolportage«, S. 100 207 Vgl. Koebner, Thomas: »Geheimnisse der Wildnis. Zivilisationskritik und Naturexotik im Abenteuerroman.«, in: Koebner; Pickerodt (Hg.): Die andere Welt, S. 240 208 Ibid. S. 241f. 209 Vgl. Ueding: »Über einige Hauptmotive der Kolportage«, S. 100
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Exotik einzutauchen. Die Wechselwirkung des Naturempfindens selbst zeigt sich auch an den Romanfiguren. Die mexikanische Natur setzt sich aus Bild und Gegenbild zusammen. Mexiko fasziniert und verstört. Es ist Paradies und Naturhölle zugleich: Dort lag es, das paradiesische Tal, das schönste, das wir je gesehen! Wie im Luftzuge die hehren Kronen der ungeheuern Palmen-, Orangen- und Zitronenbäume sich herüber neigten und wölbten, wie die Myriaden von Blumen und Blüten auf und nieder wogten, erschienen sie uns wie Standarten des Schöpfers über sein schönstes Werk hinflatternd, und es bergend vor den gierigen Blicken der lasterhaften Habsucht. Wie eine Wiege lag das Pueblo in dem entzückenden Palmenund Orangen-Park hineingebettet, wie das alttestamentarische Eden ab- und eingeschlossen, nur gegen Osten zu offen, wo der Fluß herumschlängelnd, uns in der Nacht himmelwärts gerollt. Hoch oben rauschte es in den Zedern und Tannen, und hinter diesen schwamm das göttliche Erlösungssymbol, und die hehre Argo und der funkelnde Centaur und – und –!210 Die ganze Nacht auch keinen Augenblick Ruhe! ein Gesumse, Gewinsel, Geheul, Gerolle, ein Sturm von Tönen und Mißtönen, entsetzlich, gräßlich! Wie Millionen Trompetenstöße, gerade wie Millionen Trompetenstöße, aus finsterer Gewitterwolke, oder vom tiefsten Meeresgrunde heraufgeschmettert, verhallt es euch in den Ohren, wie das Stöhnen und Ächzen hunderttausend auf dem Schachtfelde Verstümmelter. Und dann wieder ein Gelächter, Geheule, Gebrülle, Gerolle! Als ob zehntausend Trommeln in den Eingeweiden der Erde Reveille schlügen, je tiefer ihr euch in die Decke einwühlt, desto grausiger, und dazu eine Hitze, Schwüle! Wie in einem Kessel, einer Schmorpfanne röstet ihr, und steckt ihr den Kopf heraus, so fährt es so widerwärtig daran herum, und Mund und Nasenlöcher, und Ohren und Augen sind euch so giftig brennend voll, eine Minute länger, und ihr müßtet erstickt sein!211 Mexikos Natur hinterlässt deutliche Spuren in den Romanfiguren. Begleitet man sie durch den Plot, sind ihre Augen immer starrend, die Züge verzerrt, die Glieder zuckend. Das mexikanische Naturschauspiel nimmt die Reisenden ganz ein – egal ob paradiesisch oder dämonisch: Es durchzuckt den Wanderer oft fieberisch, wenn er, an ihren Bananen- und Zitronen-, Orangen- und Nopalgärten vorbeistreifend, die herrlichen Formen unter den Bäumen und Stauden wie hingegossen – die Nopalblätter mit ihren Kaninchen- und Hirschschwänzchen streichelnd, gewahrt.212 210 Sealsfield: Süden und Norden. Zwei Nächte in Tzapotecan, S. 225f. 211 Ibid. S. 232 212 Ibid. S. 58
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Und während der Mann so schreien wollte, zischte und gurgelte und murmelte er angstvoll, und die Augen hingen so stier am Himmel, bald an den Felsblöcken, Gestrippen und Bäumen!213 Mexikos Natur bleibt exotisch und fremd, das Naturerleben wird mythisiert und Mexiko dadurch zum Sehnsuchtsort. Für die europäischen LeserInnen entsteht, trotz Sealsfields Bestrebungen, ein umfassendes Bild des Landes zu schaffen, ein fiktiver Fluchtraum, der als Kontrastort zur europäischen Zivilisation gelten kann. Sealsfields Stilisierung entspringt vor allem auch seinen persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen, die er auf seinen Reisen durch Mexiko sammeln konnte. Mexiko bleibt für Europäer ein Sehnsuchts- und (realer) Fluchtort – zwischen Paradies und Hölle oszillierend, aber in jedem Fall Exotik verheißend. Auch wenn in Sealsfields Texten die Authentizität seiner Schilderungen im Vordergrund steht, sind sie gleichermaßen durch seine eigenen Erfahrungen und Lebensumstände geprägt. Er sei, so Günther Schnitzler im Vorwort, auch immer bestrebt, in Einem das Andere wahrzunehmen. Wenn er also über Amerikaner, Indianer, Mexikaner schreibe, entwerfe er eine Wirklichkeit, die Deutschland und Österreich in umfassendem Sinne miteinbeziehe. Auch verliere die Wirklichkeit ihre intersubjektive Gültigkeit. An ihre Stelle würden Wirklichkeiten treten, die von der Betrachtungsweise, den Voraussetzungen und Intentionen des Ichs abhängig seien.214 Dies wird auch im Roman deutlich und führt mitunter zu Verwirrungen. In seinen früheren Texten dienen vor allem die Vereinigten Staaten von Nordamerika als positiver Gegenentwurf zum erstarrten Europa. In seinen Werken Die deutsch-amerikanischen Wahlverwandtschaften sowie Süden und Norden wird sein Amerika-Bild jedoch zunehmend kritischer. Da Sealsfield nicht mehr von einer unveränderlichen Wirklichkeit ausgeht, werden die Zusammenhänge zwischen Macht und Ohnmacht deutlicher und verändern seine Wahrnehmung und folglich auch seine Darstellung entsprechend. In Süden und Norden zeigen sich die Parallelitäten verschiedener Wirklichkeiten sowie die Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichkeiten deutlich. Nichts bleibe, so Schnitzler, ohne Widerspruch, nicht einmal die zur Orientierung dienlichen Daten und Örtlichkeiten. Meist wisse der Leser gar nicht, wer was sage und wo die kopflos umherirrende Reisegruppe sich eigentlich befinde.215 Sealsfield stellt in seinem Roman verschiedene Daseinsentwürfe nebeneinander, wie er in seinem Nachwort, das mit »Hardy« gezeichnet ist, auch betont. Dieser spricht von wilden zerrissenen Bildern und fragt sich, ob sie Wahrheit oder Dichtung, Träume einer krankhaften Fantasie, Verzerrung oder Wahnsinn seien. Oft erschienen sie ihm wie heftige Fieberträume, die ihn geängstigt und auch zerrüttet hätten, letztendlich aber ohne merkliche Spuren 213 Sealsfield: Süden und Norden. Zwei Nächte in Tzapotecan, S. 114 214 Vgl. ibid. S. 14 215 Vgl. ibid. S. 16
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vorübergegangen seien. Weiter spricht er von einer Zauberfrucht, die mit ihrem süßen Gift Körper und Geist für immer berausche, sie immer wieder in periodischen Wahnsinn versetzen würde, um ihn wiederholt mit schmerzhaftem, entzückendem Rauschen zu durchglühen. An milden Abenden ziehe es ihn hinüber ins Land, wo Ströme gen Himmel und die Sterne zur Erde zögen.216 Auch Schnitzler weist in diesem Kontext darauf hin, dass es vor einem solchen Hintergrund nicht verwunderlich ist, dass sich die Vorstellung vom verlorenen Paradies bzw. die Vertreibung daraus leitend durch den Roman zieht. Sealsfield überträgt hier die biblischen Vorgänge in seine Gedankenwelt. Mexiko ist ein Land voller Widersprüche. Einerseits erscheint es paradiesähnlich und exotisch-geheimnisvoll, andererseits sind westliche Elemente allgegenwärtig. Sealsfield verdeutlicht dies nicht nur durch den Plot an sich bzw. die Verortung seiner Figuren, sondern auch durch Anspielungen auf politische Verhältnisse in der anderen Welt, auf die Schnitzler verweist.217 Erwähnt seien etwa die Bezugnahme auf Mignon218 sowie die Beschreibung einer vermeintlich europäischen Hofszene unter sogenannten Indianern219 . Mexiko ist einerseits, so auch im Text, das Paradies der westlichen Welt.220 Auf der anderen Seite ist das Paradies längst zerstört – von den Spaniern, von Aufständischen, von korrupten Politikern und Banditen, von rücksichtlosen Kirchenmännern. Das Böse scheint überall zu lauern. Das Paradies ist nicht mehr das, was es zu sein scheint. Hinter den Tänzen paradiesischer Jungen und Mädchen, Jungfrauen und Jünglingen, die den Zitronen- und Orangen-, Palmen- und Granaten-Hain entlangflogen und die eine Einladung sind, ins Paradies zu kommen, werden bereits Intrigen vermutet. Trotz der üppigen Blumen- und Blütenpracht gleicht der Tanz einer ungeheuren Schlange, die spielend, ringelnd sich vorwärts wälzt. Den Reisenden fällt unwillkürlich die Schlange des Paradiseses ein.221 Nach und nach wird klar, dass das ganze Dorf in die politischen Machenschaften des Curos und des Majordomos verwickelt ist. Die Sünde ist bereits Teil des Paradieses. Die Amerikaner werden vom Majordomo und seinen Paradieswächtern dann aus dem Paradies verbannt. Hier wird der Wandel in Sealsfields Amerikabild besonders augenscheinlich. Die Amerikaner werden aufgrund ihrer Verfassung aus dem Paradies vertrieben, wie die Worte des Majordomos klarmachen: »Gehen Sie, gehen Sie! Wir wollen Ihre Heilige nicht, Ihre heilige Konstitution. Wir sind mit der Unsrigen (Heiligen) zufrieden.«222 Die Reisenden sind bei Sealsfield die Verführer und die Verführten zugleich. Sie sind auf der Suche nach dem Paradies –, 216 217 218 219 220 221 222
Vgl. Sealsfield: Süden und Norden. Mariquita, S. 340 Vgl. Sealsfield: Süden und Norden. Zwei Nächte in Tzapotecan, S. 16ff. Vgl. ibid. S. 155 Vgl. ibid. S. 194 Vgl. ibid. S. 59 Vgl. ibid. S. 193 Vgl. ibid. S. 191
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dem Paradies der westlichen Welt, das verloren ist, da die westliche Welt es bereits zerstört hat. Das von Sealsfield geprägte Genre des ethnographischen Romans konnte sich als solches nicht durchsetzen. Wie bereits im Kapitel zum Reisebericht erwähnt, verschwammen die Grenzen zwischen Reisebericht, autobiographischer Abenteuererzählung und exotischem Abenteuerroman zusehends, wie auch anhand der nachstehenden Werke von Max Dauthendey, Friedrich Gerstäcker und Ernst Friedrich Löhndorff augenscheinlich wird. Diese basieren zwar auf persönlichen Erfahrungen der Autoren und skizzieren mitunter auch einen individuellen Reiseverlauf, trotzdem können sie als Romane deklariert werden, zumal der Abenteuercharakter als wesentlichstes Element der Handlung definiert ist und im Vordergrund steht. Da die Romane in der Spielart des Exotismus angesiedelt sind, ist wiederum eine systematische und programmatische Konstruktion der mexikanischen (literarischen) Wirklichkeit zu erkennen. Europa bleibt im Fokus der Interessen – die Perspektive gibt demnach eine Wahrnehmungsbegrenzung vor. Generell ist die Grenze zwischen den diversen Spielarten des exotischen Romans und dem klassischen Abenteuerroman oft diffus und daher schwer zu ziehen. Gewisse Spielarten des exotischen Romans werden oftmals auch der Überkategorie Abenteuerliteratur zugeordnet. Grundsätzlich kann dadurch differenziert werden, dass dem klassischen Abenteuerroman die ohnehin eher spärlich gesäten Naturund Völkerbeschreibungen lediglich als Rahmen dienen, in den die Erzählung eingebettet ist. Der Abenteuerplot steht im Vordergrund. Die Beschreibung der Naturgewalten dient dem Spannungsaufbau sowie dem Vorantreiben der Handlung. Im Gegensatz dazu steht der exotische Roman in seinen diversen Spielarten, der den Schauplatz in außereuropäische Länder verlegt und durch die Schilderung der dortigen Begebenheiten die Fantasie der europäischen LeserInnen anregt. Beim exotischen Roman wird – im Unterschied zum klassischen Abenteuerroman – der zentrale Fokus auf Mensch und Natur gelegt. Der Abenteuerroman ziele, so auch Maler, auf Ereignisfülle, auf reiches äußeres Geschehen und raschen Wechsel der Situationen. Das Interesse an individueller Charakterbildung und seelischen Konflikten sei ihm fremd, ganz fremd aber die behäbige Schilderung fremder Sitten, die Entfaltung landschaftlicher Stimmungsbilder, die Katalogisierung eines Interieurs, die Beschreibung eines Kostüms, in denen erst einmal die Dingwelt zur Geltung komme.223 In der Literaturkritik wird, wie Maler am Beispiel Sealsfields anführt, der Begriff der Abenteuerliteratur oft sehr pauschal bzw. wenig differenziert gefasst. 223 Vgl. Maler, Anselm: »Exotische Realienschau. Anmerkungen zur ethnographischen Erzählweise im Überseeroman des 19. Jahrhunderts«, in: Maler, Anselm (Hg.): Exotische Welt in populären Lektüren. Tübingen: Niemeyer 1990, S. 7
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Gerade am Beispiel Sealsfields jedoch, der Natur- und Völkerbeschreibungen ins Zentrum und die eigentliche (konventionelle) Handlung in den Hintergrund stellt, wird deutlich, wie unterschiedlich die beiden Gattungen grundsätzlich konzipiert und thematisch angelegt sind. Sealsfields Romane als reine Abenteuerliteratur zu klassifizieren, wäre zu kurz gedacht, so auch Maler: »Wenn man also fordert, etwa die Romane Sealsfields als Wunschträume eines der Ordenszucht und dem Metternichstaat entflohenen Umhergetriebenen neu zu interpretieren, so wird ihnen das vom Verfasser doch deklassierte Abenteuer widersinnig als Substanz unterstellt.«224 Diese neue Klassifizierung und Kategorisierung hat vor allem mit der großen Rezeption der Werke Karl Mays zu tun, die als repräsentatives Muster herangezogen werden. Auch wenn die Grenzen zwischen exotischem Roman und Abenteuerliteratur nicht immer eindeutig gezogen werden können, werden sie deutlicher, als die Abenteuerliteratur trivialer wird, wie dies etwa bei Sophie Wörishöffer und vor allem bei Karl May der Fall ist. Die im Folgenden behandelten Romane können bereits als Mischformen gelten. Mexiko dient zur Projektion unterschiedlicher Bilder und Konzepte und oszilliert zwischen exotischem Abenteuerhort und sozialutopischem Konstrukt. Der Schriftsteller Friedrich Gerstäcker beginnt seine Reise durch Mexiko im Frühjahr 1864. Das Land befindet sich auch in Gerstäckers Schilderungen im Zustand des Frühlings. Es ist das erste Jahr des mexikanischen Kaiserreichs unter Maximilian I., Erzherzog von Österreich und selbst ernanntem Kaiser von Mexiko. Der Krieg und das Blutvergießen scheinen endlich überwunden. Gerstäckers Roman In Mexiko225 spielt während ebendieser Kaiserzeit. Gerstäcker selbst bezeichnet ihn als historischen Roman. Die detailreichen Schilderungen weisen Spuren eines ethnographischen Romans auf, der Haupthandlungsstrang jedoch bietet ein Motivinventar, das dem der Kolportage ähnlich ist und daher eher der Gattung des Abenteuerromans entspricht. Kriminelle Machenschaften sowie politische Verschwörungen werden überspitzt dargestellt, die Figurenzeichnung ist bereits vereinfachend und romantisierend. Gerstäcker beschreibt diverse Gegebenheiten der damaligen Zeit. Er charakterisiert Maximilian von Mexiko, beschreibt Märkte und Häuser, erzählt die Geschichte von Benito Juárez und zeichnet ein Bild des Krieges. Die Naturbeschreibungen stehen zu Anfang ebenfalls unter diesem Vorzeichen: »Krieg – Krieg – Aufruhr und Unterdrückung, wohin sich auch sein innerer Blick richtete, an den Ufern
224 Maler: »Exotische Realienschau. Anmerkungen zur ethnographischen Erzählweise im Überseeroman des 19. Jahrhunderts«, S. 8 225 Gerstäcker, Friedrich: In Mexiko. Historischer Roman. Erster und zweiter Band. Berlin: Verlag von Neufeld und Henius o.A.2
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des Atlantischen wie Stillen Ozeans die Kriegsschiffe der Feinde, und ihre Schwärme, die in das innere Land vorgedrungen, […].«226 Sie dienen vor allem – ganz in der Tradition des Abenteuerromans stehend – als Rahmen der Handlung. Da Gerstäckers persönliche Reiseerfahrungen in den Roman einfließen, ist das entworfene Bild jedoch etwas fundierter. Neben der eigentlichen Handlung finden sich auch Stilisierungen der mexikanischen Natur. Mexiko-Stadt wird zum Sinnbild für Zivilisation und entspricht daher wenig der exotischen Welt, das Land abseits von Mexiko-Stadt vermag es jedoch, den europäischen Sehnsuchtsvorstellungen zu entsprechen: So rollte der Wagen in so früher Morgenstunde, daß eben erst der Tag dämmerte, aus Mexiko [gemeint ist hier Mexiko-Stadt, Anm.] hinaus und in das wundervolle Land hinein; dort drüben lagen die schon im hellen Sonnenglanz strahlenden Gipfel der beiden mächtigen Vulkane, und ringsumher dehnten sich, sobald sie nur den Sumpf der unmittelbaren Nachbarschaft Mexikos hinter sich ließen, freundliche Haziendas und kleine Ortschaften aus, und die breite, mit großen Bäumen bepflanzte Straße zeigte sich von in die Hauptstadt strömenden Menschen – aber fast einzig und allein Indianern – belebt.227 Ähnlich wie Sealsfield benutzt auch Gerstäcker Detailbeschreibungen, Fußnoten und die belehrende Digression als Stilmittel, um seinen Geschichten einen realistischen Anschein zu verleihen.228 Gerstäcker ist bestrebt, dadurch bei seiner Leserschaft mehr Empathie für Mexiko zu wecken und somit seine Geschichten unmittelbarer erscheinen zu lassen. Ein tieferes Eintauchen in den erzählten Raum soll dadurch möglich werden. Die mexikanische Natur wirkt immer wieder fremd und bedrohlich. Ihr exotischer Charakter, der bei Realkontakt auch immer Abenteuer verheißt, wird so hervorgehoben: Von hier an begannen die Berge; die Reisenden ließen das bebaute und dem Anschein nach auch nur kulturfähige Land hinter sich und wanden sich ziemlich steil in einer Schlucht hinauf, die auf beiden Seiten fahl aufstieg und hier noch, als im tieferen Land, mit der Magehpflanze bewachsen war; je höher sie aber stiegen, desto mehr nahm diese ab, d.h. desto seltener wurde sie, und an ihre Stelle trat dafür jene andere, etwas kleinere und nicht so gewaltig ausschießende Agaveart, die Mescalpflanze, […], überhaupt sah das ganze Land hier vielmehr fahl und dürr aus und bot, besonders wenn man direkt aus dem fruchtbaren Tale von Mexiko heraufstieg, einen nicht besonders tröstlichen Anblick.229 226 Gerstäcker: In Mexiko I, S. 252 227 Ibid. S. 263 228 Vgl. Steinbrink, Bernd: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhundert in Deutschlands. Studien zu einer vernachlässigten Gattung. Tübingen: Niemeyer 1983, S. 134 229 Gerstäcker: In Mexiko I, S. 270
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Mexiko wird auch bei Gerstäcker als grauenhaft aufregendes Land stilisiert. Die subjektive Unzulänglichkeit der Menschen im Realkontakt mit der gewaltigen Natur wird dadurch verdeutlicht. Das Sichtbarmachen der Fremde ist der erste Schritt der Annäherung, gefolgt vom Begehren, sich in die unerschöpfbare Üppigkeit der exotischen Welt aktiv hineinzubegeben. Dem Begehren werden laut Ueding natürlich Widerstände entgegengesetzt. Das Objekt selbst verwehrt den Zugriff – eben durch seine Fremdheit. Andererseits wäre eine Verwandlung in das Eigene auch eine Negation bzw. Aufhebung der Exotik. Die Fremdheit müsse bestehen bleiben, um weiter funktional wirken zu können.230 Gerstäckers Beschreibungen von Mexiko gestalten sich mitunter durchaus kritisch. Er erwähnt etwa, dass die Natur Mexikos grundsätzlich schön wäre, würde sie nicht durch den Menschen und den Krieg – als Sinnbild der Zivilisation – zerstört werden: Die Szenerie bot hier wenig oder gar keine Abwechslung. In friedlichen Zeiten – das heißt, wenn dem Lande auf Jahrzehnte der Frieden gesichert gewesen wäre, hätten sich hier vielleicht überall Menschen niedergelassen und das weite Land in einen Garten verwandelt, jetzt aber entriß man sie ihrer Heimat und benutze sie dazu, die wilden Berge zwecklos mit ihrem Blut zu düngen und Aasgeier mit ihren Leibern zu füttern.231 Gerstäcker stand in der Tradition der Abenteuerromane James F. Coopers, was den stark ausgeprägten Abenteuerstrang seines Romans erklärt. Trotzdem finden sich auch malerische Naturbeschreibungen. Der Blick aus dem Zugfenster auf dem Weg von Mexiko-Stadt aufs Land verheißt ein wundervolles Land, das im Sonnenglanz erstrahlt, sowie pittoreske kleine Ortschaften, die nur von »Indianern« bevölkert zu sein scheinen.232 Täler werden immer wieder als »hübsch« beschrieben, und in den Darstellungen finden sich mitunter »reizende Bilder« der Landschaft, der sich die Reisenden gerne »mit Genuss« hingeben würden. Immer wieder fließen dann aber auch Gerstäckers persönliche Erfahrungen und die Ernüchterung ein, die er bei seinem Realkontakt mit Mexiko erlebt. Die kleinen Dörfer wirken nur aus der Entfernung »hübsch« und »lauschig«. Im Inneren herrschen vor allem Schmutz und Armut vor.233 Es ist laut Steinbrink nicht verwunderlich, dass Gerstäcker die wirkliche Welt jenseits des Ozeans nicht besonders gefällt, da er sich in seiner Fantasie bereits eine eigene, schönere Welt zurechtgelegt hatte. Es sei vor allem Robinson Crusoe gewesen, der ihn dazu bewogen habe, sich auf die Suche nach einer noch ursprünglichen und paradiesischen Welt zu machen.234 Auch in seinen abschlie230 231 232 233 234
Vgl. Ueding: »Über einige Hauptmotive der Kolportage«, S. 102f. Gerstäcker: In Mexiko I, S. 275 Vgl. ibid. S 263f. Vgl. ibid. S. 271 Vgl. Steinbrink: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland, S. 136f.
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ßenden Worten kommt Gerstäcker zu dem Schluss, dass Mexiko wohl einst ein Paradies gewesen sei, das von der Zivilisation bzw. den Europäern zerstört worden sei: Mexiko! – Kann man es den Indianern verdenken, wenn sie behaupten, daß ihr Land das schönste und von Gott am meisten bevorzugte der Erde wäre? Es ist in der Tat ein wirkliches Paradies und mit allem ausgestattet, um Millionen von Menschen eine glückliche Heimat zu gewähren; mit dem herrlichen Klima, mit metallreichen Bergen, fruchtbaren Triften, kostbaren Waldungen – und was war es bis jetzt, seitdem die Spanier den Fuß daraufgesetzt? Ein Tummelplatz wilder, zügelloser Leidenschaften, ein Feld, das nur immer mit Blut gedüngt und nie geerntet wurde, eine Zuchtstätte von Mischlingsrassen, die anstatt das Gold zu veredeln, nur immer schlechtere Exemplare zutage förderten und in der Anarchie allein ihre Freiheit fanden. So liegt es jetzt – so liegen fast alle südamerikanischen Republiken, von ewigen Bürgerkriegen blutgetränkt, von Stellenjägern ausgesogen, von Pfaffen durchwühlt, ein lebendiges Beispiel, in was solche Menschen selbst ein Paradies zu verwandeln imstande sind.235 Auch in Max Dauthendeys Roman Raubmenschen236 (1911), in dem der Autor die Erfahrungen seiner Mexikoreise (1897–1898) verarbeitet, nehmen die Natur und das Naturerlebnis noch einen wesentlichen Stellenwert ein. Der Roman handelt von einem jungen Mann, der von Europa nach Mexiko reist. Dauthendey erzählt von seiner Leidenschaft zu drei Frauen, die er auf dieser Reise kennenlernt, und auf der er erstmals feststellt, wie sehr er doch Europäer und wie tief er mit Europa verwurzelt sei.237 Auch Dauthendeys Roman reiht sich in die Reihe der Werke von Europamüden ein, die das 19. Jahrhundert durchzieht. Mexiko ist jedoch für Dauthendey ein von Verbrechen und Korruption beherrschtes Land. Seine Sehnsucht nach einer besseren Welt wird nicht erfüllt, dementsprechend vollzieht sich eine Rückwendung zu Europa. Europa ist zwar die Ursache bzw. der ursprüngliche Ausgangspunkt der Desillusionierung, die zum Aufbruch animiert hat, es avanciert jedoch in Folge zum Wunschbild der Europäer in Mexiko. Mayer legt in seiner Werkanalyse einen besonderen Fokus auf das Vorwort, da der Erzähler den Protagonisten im Vorwort einführt und auch einige Bemerkungen zur Ausrichtung der figuralen europäischen Wahrnehmung tätigt. Bereits dort wird darauf hingewiesen, dass es eigentlich nicht um Mexiko, sondern nur und ausschließlich um Europa geht. Die europäische Wahrnehmung verlegt sich hier nicht wie gewöhnlich
235 Gerstäcker: In Mexiko II, S. 460. 236 Dauthendey, Max: Raubmenschen, München: Paul List Verlag 1951 237 Vgl. ibid. S. 5
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auf die Fremde, sondern »die europäische Wahrnehmung nimmt Europa wahr«. Der Eskapismus der Handlung relativiert sich dadurch bereits im Vorwort238 . Der erste Eindruck, den der Protagonist Rennwart von Mexiko gewinnt, ist wenig positiv. Das Schiff kommt am Hafen von Veracruz an, und der Protagonist wird mit der wenig lieblich anmutenden Realität der mexikanischen Hafenstadt konfrontiert: Während sie noch sprach, waren wir aus dem Hafen um eine Ecke gebogen, und zu gleicher Zeit mußten wir alle drei, ihr Mann, sie und ich, uns die Nase zuhalten, denn ein pestilenzialischer Gestank wehte uns aus den offenen Gossen der holperig gepflasterten Straßen entgegen, – so scharf, so faulig und so fieberverpestet, daß wir den Atem anhalten mußten und kaum weitergehen konnten. Und nicht genug damit – wir zögerten plötzlich auch weiterzugehen bei dem überraschenden und unbekannten Anblick von Hunderten von Aasgeiern, die alle Dächer die lange Straße hinauf dunkel säumten. Erschreckend war der Anblick der kahlen Schädel und nackten Hälse dieser schwarzen Riesenvögel, Einige hopsten in den Gassen und suchten mit ihren hakigen Schnäbeln nach Abfällen. Sie waren groß wie ausgewachsene Adler und schauten ebenso furchtbar drein.239 Es scheint, dass sich der Protagonist so gar nicht wohl fühlen kann in einem Land wie Mexiko, das seinen Vorstellungen so wenig entspricht, wie anhand von diversen negativen Schilderungen im Roman deutlich wird. Mexiko wird immer wieder mit Europa verglichen und dadurch abgewertet: »Es schien, als wäre die weiße Stadt ausgestorben und nur von schwarzen Aasgeiern bevölkert. Haifische im Meer, Aasgeier in den Lüften und Fiebergestank auf der Erde – ich glaube, in dieser Raubwelt wird sich schwer der Friede zu einer Apollohymne finden, dachte ich.«240 Der Protagonist verbalisiert seinen ersten Eindruck auch dementsprechend: »Raubwelt überall! Das war der Empfang in der tierra caliente.«241 Die gleich zu Anfang so negative Stilisierung Mexikos ergibt sich mitunter aus der programmatischen Abwendung des Protagonisten von seinem Europäertum bzw. seiner Rückbesinnung darauf. Mexiko dient ihm dabei als Gegenbild. Auch bei Dauthendey findet sich der distanzierte Blick aus dem Zugfenster, der einen Realkontakt mit der Natur unmöglich macht. Dauthendeys Beschreibungen verdeutlichen seine Wunsch- und Sehnsuchtsvorstellungen, die die mexikanische Natur nicht zu erfüllen vermag, ihm jedoch zur programmatischen Rückwendung nach Europa dienen:
238 239 240 241
Vgl. Mayer: »Tropen gibt es nicht«, S. 180f. Dauthendey: Raubmenschen, S. 98 Ibid. S. 98f. Ibid. S. 100
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Draußen vor dem Waggonfenster stand jetzt stundenlang nur Urwald, monotones graugrünes Unterholz; trostlos, farblos. Keine farbigen Blumenmatten, nirgends eine einzige Blüte; nur meilenweites, eintöniges graues Blättermeer, hie und da unterbrochen von einem weitarmigen Riesenbaum, der sich über das Unterholz hob und auch keine andere Farbe als das freudlose Graugrün zeigte.242 Dauthendeys Beschreibungen fungieren als Ausschlussverfahren. Sie mussten gewährleisten, dass das Wahrgenommene nicht der europäischen Realität und Identität entspricht. Die Nicht-Erschließbarkeit der Natur wird auch bei Dauthendey durch die Kontemplation der Naturereignisse sowie ihre Überstilisierung kompensiert. Der Protagonist konstruiert seine eigene Identität erst im Laufe seiner Überfahrt nach Mexiko. In einem nächsten Schritt muss auch Mexiko als fremder Ort konstruiert werden.243 Die Konstruktion erfolgt immer mit einer deutlich hervorgehobenen Distanzierung: Die ersten Schritte in das aufregende tropische Nachtleben sind für den Europäer so befremdend, als ob ihm plötzlich alle Hirngespinste einer sonst nur in der Phantasie existierenden Unterwelt entgegen kämen. Es scheint, als hätten sich alle Poren der Erde geöffnet und schickten Liebesseufzer und lüsternde Rufe und bestrickte Versprechungen und hitzige Beschwörungen in die Lüfte.244 Bei Dauthendeys Romanfiguren stellt sich im Laufe der Reise eine immer stärker werdende Ernüchterung ein, die als bewusst gewählte perspektivische Wahrnehmung bezeichnet werden kann. Der Protagonist ist sich bewusst, dass ihm das tatsächliche Mexiko für immer verschlossen bleiben wird. Er erkennt, dass – neben der grundsätzlichen Schwierigkeit, sich der Natur anzunähern –, sein Europäertum ihm das tatsächliche Eintauchen in das fremde Land unmöglich macht. Es entspricht auch nicht seiner Intention und Priorisierung. Anders als in exotischen Romanen, in denen die Fremde nicht erschlossen werden kann, fungiert Mexiko hier als Vergewisserung, dass das Wahrgenommene im Gegensatz zum Eigenen steht. Die Radikalisierung des Eigenen bedingt die Ablehnung des Anderen: Wir glauben immer, wir Neuzeitmenschen: wir nehmen ein Billett, kommen in ein Land, essen, schlafen, trinken dort und kommen wieder zurück. Aber wir bedenken nicht, dass uns kein Billet, keine Eisenbahn, kein Schiff in ein anderes Land bringen kann. Wir selbst, unser Körper, unsere gewohnte Art zu empfinden, unsere Art zu denken, – nichts von uns kommt jemals in einem fremden Land an. Ich
242 Dauthendey: Raubmenschen. S. 102 243 Vgl. Mayer: »Tropen gibt es nicht«, S. 183 244 Dauthendey: Raubmenschen. S. 109f.
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bin später nach dieser mexikanischen Reise auf vielen, vielen Schiffen und vielen, vielen Eisenbahnen nach vielen, vielen Ländern gereist. Aber immer, wenn ich wieder in die Heimat komme, nach Europa zurück, dann weiß ich, daß ich nirgends war.245 Die Reflexionen des Erzählers gehen noch weiter. Er hinterfragt auch die europäische Sehnsucht nach einer ursprünglicheren Welt, was als Kritik an den Zeitgeschehnissen und an der damaligen europäischen Geisteshaltung zu lesen ist: »Es muß also etwas nicht richtig an unserer gegenwärtigen europäischen Völkermaschine sein, weil wir uns immer nach alten Kulturen zurücksehen.«246 Die Paradiessehnsucht, die die Europäer in Mexiko stillen wollen, orientiert sich mitunter auch an einer in der Vergangenheit liegenden Hochkultur, wie im Roman am Beispiel eines deutschen Ehepaars versinnbildlicht wird. In der verklärten Wahrnehmung des deutschen Ehepaars, das neben dem Protagonisten Rennwart zu den wichtigsten Figuren des Romans zählt, legen sich die vergangenen historischen Epochen über die Gegenwart. Für sie ist Mexiko eine paradiesische und exotische Alternative zu Europa, die einen Rückzug aus der zivilen Gesellschaft gerade durch den (paradiesischen) Urzustand des Landes möglicher macht. Mayer spricht in diesem Zusammenhang von einem sozialen Exotismus.247 Dem Protagonisten bleibt diese Möglichkeit jedoch durch die plötzliche und radikale Rückbesinnung auf Europa verwehrt. Dadurch wird das Fremde für ihn zu einer Bedrohung. Die Identifikation des Subjekts mit der eigenen Kultur geht Hand in Hand mit einer Abschottung gegenüber der Fremde. Anders als in anderen Romanen steht hier nicht das Bewusstsein der Nicht-Erschließbarkeit der Fremde im Fokus, sondern das Fremde wird bewusst abgelehnt. Die Besinnung auf die eigene Persönlichkeit schließt fremde Elemente als nicht zugehörig aus. Dieser Akt impliziert aber in einem ersten Schritt eine Öffnung gegenüber der Fremde. Der mexikanischen Natur werden von Dauthendey vor allem negativen Attribute zugeschrieben, die ihre Fremdheit hervorheben. Diese bewusst negative Stilisierung könnte, wie bereits an anderen Textbeispielen gesehen, eine exotische Funktion erfüllen. In der speziellen kontextuellen Einbettung wird jedoch vor allem deutlich, dass Mexiko sein eskapistisches Potenzial nicht entfalten kann, da der Protagonist sich von Anfang an dagegen entschieden hat, wie auch nachstehende Zitate verdeutlichen: Mexiko ist tragisch gestimmt, mit einem Einschlag ins Dämonische, ins Phantastische, und immer mit der Endnote der Grausamkeit. Diese Erfahrung erlebe ich nicht an mir allein, sondern sie lag in der Luft des Landes, auf allen Gesichtern,
245 Dauthendey: Raubmenschen, S. 111 246 Ibid. S. 120 247 Vgl. Mayer: »Tropen gibt es nicht«, S. 183
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in seiner Geschichte. Und ich habe niemals, in keinem Land der Welt wieder ein solch grimmiges Heimweh nach Europa empfunden, vom ersten bis zum letzten Tage, wie auf dem vulkanischen Boden Mexikos, wo täglich Erdbeben zittern, wo Städte plötzlich in der Nacht untergehen, von deren Untergang nie Kunde nach Europa kommt: wo sich gigantische Grausamkeiten abspielen, von denen Europa nichts ahnt und nichts erfährt.248 Heiße Erde – Tierra caliente – nennt man den Landstrich, die Hitzezone, die von Vera Cruz bis zur halben Weghöhe nach der Hauptstadt Mexiko hinaufreicht. Aber Tierra Caliente mußte ich für mich das ganze Land nennen. Denn nirgends auf der Welt brannte unter meinen Füßen der Boden so vor Schrecknissen. Es ist, als hefte sich sich [sic!] an jeden Fremdling hier in diesem alten Goldland der Fluch, den das Gold in sich trägt. Es scheint hier, als sei das unschuldig gemordete Blut der Azteken, welche der Goldgier der Europäer erlagen, heute noch nicht genügend gerächt, als verfolge jeden Europäer hier die Rache des beleidigten uralten Volksgeistes dieses Landes. – Die mexikanischen Nachtigallen johlen vor meiner Schlafzimmertür unterhalb der Veranda. Es schien mir plötzlich, als wären es nicht die Kehlen liebessehnsüchtiger Singvögel. Es klang, als wären die Vögel hier in diesem Lande zu spottenden Teufeln geworden, die den fremden Eindringling auspfiffen, – so höllisch war ihr Signalpfeifen. Und ich bedachte schlaflos, wie viel eingeborenes Leben einst von den europäischen Fremdlingen, den Spaniern, hier niedergemetzelt wurde, um Schiffsladungen von Goldbarren dem Lande zu rauben und nach Europa zu schicken. Darüber schrien heute noch die Nachtvögel.249 Ich weiß nicht. Riechen Sie nicht, daß dies ganze Land nach Hölle riecht? Überall ist der vulkanische Brandgeruch, der einen verfolgt wie die Klageluft aus einer Brandruine.250 Mayer spricht in diesem Kontext von einem »Eskapismus in die eigene Hochkultur«, führt aber diesbezüglich auch an, dass sich, trotz der Radikalisierung in den eigenen Diskursen, ein Eskapismus Mexiko betreffend nicht gänzlich verneinen lässt, da die eskapistische Bewegung in dem Land einsetzt, das eigentlich der Zielort der Flucht hätte sein sollen. Die desillusionierenden Erfahrungen in Mexiko bewegen den Protagonisten Rennwart dazu, sich auf seine Heimat rückzubesinnen. Rennwart nimmt zwar durchaus wahr, dass es das imperialistische und kolonialistische Europa ist, das Mexiko zu dem bedrohlichen Land gemacht hat, das es in seinen Augen ist. Trotzdem erfolgt eine Rückbesinnung auf die eigene Identität
248 Dauthendey: Raubmenschen, S. 112 249 Ibid. S. 112f. 250 Ibid. S. 135f.
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und Realität, wenn auch nicht gänzlich unkritisch. Die Wahrnehmung des Protagonisten bleibt jedoch trotz der Kritik an den europäischen »Raubmenschen«, die die »Indianer« unterdrücken, eurozentristisch und sozialdarwinistisch geprägt. Exotisch anmutende Stilisierungen der mexikanischen Natur sind noch deutlicher als in anderen Werken durch ihre Unerschließbarkeit charakterisiert: Dieses beachtete ich jetzt nochmals und erkannte, daß die Welt Mexiko doch auch reich und üppig sein konnte; wunderbar fleischig hatte mich der Fruchtgarten angesehen, und niemand hätte geglaubt, daß er durch seine feuchte Treibhauswärme und durch seine gärenden Fruchtsäuren und durch sein üppiges Fruchtfleisch dem letzten Besitzer, dem jungen Astronomen, den Fierbertod gegeben hatte, weil auch die fruchtgütige Erde hier dem Europäer das Heimatrecht verweigert.251 Die wenigen verklärenden Beschreibungen weisen auch mythisch-magische Elemente auf, die mexikanische Natur wird als fremdartig und exotisch beschrieben: Der Zitronenduft löst sich zudringlich von den Büschen des Unterholzes. Bald ritt ich durch buschigen Zitronenwald, der grau im Mondschein wie ein Nebel neben mir lag, und atmete so reichen Duft ein, daß mir schwindelig wurde. Der Zitronenduft und der Duft der Orangenblüten erinnerten mich an den Geruch eines Hochzeitskranzes und Hochzeitsstraußes. […] Das weiße Gesicht des Mondes stieg aus dem Unterholz. Der Mond machte meine kaum genesenen Nerven noch schwindeliger als der Orangenblütenduft. Ich sah die weißen Stämme der Königinnenpalmen wie silberne Leuchter zu beiden Seiten des Weges stehen. Der Weg war weich von tiefem grauen Staub, und die Pferde schritten lautlos wie auf Watte über die Erde, nur die Metallteile des Pferdegeschirrs klingelten. Es war wie ein Geisterritt durch Orangenblüten, durch warme Palmen, durch kühles Licht, über dumpfen Staub.252 Obschon in Dauthendeys Roman Europa auf markante Weise im Fokus der Betrachtung bleibt, kann auch diese Art der Komposition als grundsätzliches Charakteristikum des Exotismus gesehen werden. Rennwarts Rückbesinnung ist lediglich offenkundiger und markanter, auch weil sie bereits am Anfang des Romans formuliert wird, während sie in vielen anderen Werken oftmals erst langsam und sich entwickelnd zur Schau tritt. Ueding führt ein Zitat aus Dauthendeys Raubmenschen an, weil es seiner Ansicht nach besonders deutlich das Naturbild des exotischen Abenteuerromans verdeutlicht, indem es die Fremdheit des Menschen gegenüber der das Mögliche übersteigende Fülle der Natur zeigt. Ueding bezieht sich in seinen Ausführungen auf folgendes Zitat aus Dauthendeys Roman: 251 Dauthendey: Raubmenschen, S. 342 252 Ibid. S. 343
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Ich sah im Mondschein die weiße Zuckerhutspitze des beschneiten Kraters, des Orizaba Peak, und andere Kuppelberge voll Urwald, deren Blätterherden wie blaue Stahlpailletten im Licht glitzerten. Dazu hatte ich in den Ohren das Flügelwetzen der Zikaden, der Milliarden Insekten in den Gärten und Feldern ringsum und um mich das Getrommel und Geschnarre riesiger Posaunenfrösche und das Geschwirr eifriger Käfer, die wie irrsinnig wild über die mondhelle Straße fortstürzten, als kämen sie verzückt von einem Bacchanal, und als wollten sie Menschen und Bäume und Häuser umrennen. Die Luft war angefüllt von den Säuredünsten großer Nachtblüten, und alle Bäume und Blüten mischten ihre Gerüche wie zu einem nervenaufstachelnden berauschenden Gebräu, das einen überschwemmte, als wäre die Nacht bis hoch an die Sterne ein wollüstiges Bad, zusammengegossen aus elektrischen Blütenessenzen […]. Jeden Abend, Sommer und Winter, wenn die Sonne um sechs Uhr untergegangen ist, eröffnet die tropische Nachtwelt ihr Riesenbacchanal, das deine fünf Sinne bestürmt, und das deine Tagesgedanken über den Haufen wirft mit den tausend wollüstigen Düften, mit den riesigen unruhigen Sternbildern, mit den Myriaden von Leuchtfliegen, die dich umkreisen, mit dem unterirdischen Gelächter unbekannter Nachtvögel und mit dem langgezogenen Geheul bekannter Raubtiere, so daß der Verstand deiner fünf Sinne in einen Irrsinn gerät und du dich nach Betäubungen sehnst, die dir am Tage fern liegen.253 In Dauthendeys Roman wird Mexiko als eigene Realität konstruiert und Europa gegenübergestellt. Mexiko wird wiederum als das Andere stilisiert, die Stilisierung dient Dauthendey jedoch von Anfang an als Distanzierung. Markanter als in anderen Werken steht Mexiko im Kontrast zum Eigenen und dient dazu, Letzteres zu bestätigen. Im Rahmen der Entwicklung vom exotischen Roman hin zum klassischen Abenteuerroman wird die Stilisierung Mexikos durch eine thematisch verblasste und motivisch reduzierte Variante ersetzt, die, wie bereits mehrfach erwähnt, vor allem der atmosphärischen Einbettung der Abenteuerhandlung dient. Ihre ursprüngliche Funktion bleibt jedoch erhalten. Das Fremde wird als solches stilisiert und erzeugt eine exotisierende Atmosphäre, in der sich der Handlungsplot entspinnen kann. Die konstruierte literarische Realität erfüllt ihre eskapistischexotische Funktion – und lässt Europa weiter träumen. Ernst Friedrich Löhndorffs Roman Bestie ich in Mexiko, der 1927 erschien und dem er den Untertitel »Wahre Erlebnisse« gab, ist ein autobiographischer Reiseund Abenteuerroman. Auch wenn das Werk zeitlich nach den Abenteuerromanen Karl Mays einzuordnen ist, ziehe ich dessen Analyse hier vor, da es sich bei Löhndorffs Roman um eine Mischform aus Abenteuerroman, exotischem Roman und
253 Dauthendey: Raubmenschen, S. 109f.
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autobiographischer Erzählung handelt und Mays Werke ganz klar in der Tradition der klassischen Abenteuerliteratur stehen. Löhndorffs Lebensgeschichte ist sehr beeindruckend. Da sie auch unmittelbar auf sein literarisches Werk wirkt, seien einige Fakten hier kurz erwähnt. Löhndorff heuerte als Schiffsjunge bei der Reederei Knöhr & Burchard an, die ihn 1914 nach Mexiko brachte. Mittlerweile war der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Das Schiff wurde aufgrund der Kriegsgeschehnisse in Europa im Hafen festgehalten. Löhndorff hielt es aber, wie Hubert Matt-Willmatt in seiner Biografie254 über Löhndorff ausführt, auf dem Schiff nicht mehr aus und verließ es eigenmächtig. Seinen eigenen Angaben zufolge schlug er sich als Küstenschiffer und auf einer Obstplantage durch.255 Auch sein Roman beginnt mit der Schilderung des im Hafen liegenden Schiffs. Bereits als Romaneinstieg entwirft Löhndorff ein verträumtes Bild von Mexiko, das im Gegensatz zu den verworrenen Kriegszuständen in Europa steht: Sattleuchtende Sterne hingen tief vom Himmel und spiegelten sich im stillen Wasser des Hafens. Vereinzelte Fische schleuderten silberglänzende Leiber über die Oberfläche, um mit leichtem Klatschen in ihr Element, das blinkende Kreise schlug, zurückzufallen. Aus schwarzen Schatten, die riesige Segelschiffsrümpfe über schillernde Fluten gossen, schob sich sachte ein Boot, in dessen Hinterteil eine zusammengekauerte Gestalt das Ruder führte. Sprühend tropfte das Wasser wie flüssiges Silber von dem Holz, und hinter dem Fahrzeuge wirbelte breites, grünlich phosphoreszierendes Kielwasser. Ich hing, die erkaltete Pfeife zwischen den Zähnen, im Netze unter dem Klüverbaume, und meine Augen verschlangen das zauberische Bild des exotischen Hafens, der so still und verträumt vor mir lag.256 Löhndorff schafft bereits auf den ersten Seiten seines Romans ein mythisches und malerisches Bild des Landes, in das in späterer Folge die Handlung eingebunden wird: Wasser, das so grün wie Smaragd schimmerte, in satter Türkisfarbe blendete oder tief ultramarin wie ein ungeheurer seelenvoller Teppich um die »Wallküre« bläute. Manchmal war es dunkel, fast schwarz, von den schneeigen Schaumadern durchzuckt, wenn der Sturm sein gewaltiges Lied sang … bald war es wie rotes, lebendes Gold, wenn der Westen in grellen Flammen stand; oder es wogte wie gleißendes Gewimmel ineinander verschlungener, mit den Schwänzen spielender Sil254 Matt-Willmatt, Hubert: Das Abenteuer im Leben und Werk von Ernst Friedrich Löhndorff (1899–1976), Freiburg: Schillinger Verlag o.A. 255 Ibid. S. 41 256 Löhndorff, Ernst F.: Bestie ich in Mexiko. Wahre Erlebnisse. Bremen: Carl Schünemann Verlag 1927, S. 5
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berschlangen um uns, wenn in feuchten, drückenden Nächten der runde, orangegelbe Mond wie eine chinesische Papierlaterne vom Tropenhimmel hing und die mit weißen, in seinem Lichte perlmutterfarbenen Leinwandpyramiden bekleideten Rahen in der Windstille ächzten, während das Gewirre der Wanten und Taue eine wunderbare, feine, schwarze Filigranarbeit auf das helle Deck zeichneten.257 Löhndorffs Darstellungen Mexikos gestalten sich abermals ambig. Neben seinen pittoresken Naturschilderungen stilisiert auch er die wilde, exotische Natur des Landes. Die Hervorhebung der Fremdheit und Exotik bietet wiederum die Möglichkeit zur Distanzierung vom Eigenen. Die Natur – stellenweise kahl und wenig anmutig – versinnbildlicht eine Grenzüberschreitung und somit Freiheit: Morgen wollte ich an Land gehen. Mich lockte das Neue, das Abenteuerliche des Landes, das seit Jahren von Revolutionen durchtobt wurde. Schon als wir draußen auf Reede lagen, erschienen mir die braunen Menschen, die in gebrechlichen Booten hinausfuhren und uns Apfelsinen verkauften, mit den kühn-blitzenden Augen, den weißen Prachtgebissen, den malerischen Lumpen und riesigen Hüten, so verlockend. Wenn ich dann über den sonnenbeschienenen Streifen Wasser nach den nahen Bergen sah, die in nackter Kahlheit wie eine im Guß erstarrte Eisenmasse aus dem Meer tauchten, wenn ich die steilen Geröllhänge mit den blaßgrünen Riesenkakteen und die darüber kreisenden Aasgeier … die kleinen Lehm- und Strohhütten an die rötlichen Felsen geschmiegt … wenn ich dies alles erblickte, dann ging etwas in mir auf wie ein Tor. Ich fühlte, ich würde hindurchtummeln durch dieses Tor, hinein in die Freiheit, fort von diesem Höllenschiff, diesem schwimmenden Gefängnis, in welchem alle Laster und häßlichen Eigenschaften der Welt in Gestalt von Menschen zusammengesperrt waren.258 Für Löhndorff selbst ist der Gegensatz im Naturbild essenziell. Es bedarf des Gegenbildes als Abgrenzung bzw. Eingrenzung des Paradiesischen, damit sich das Schöne nicht abnutzt und man es bewusst wahrnehmen kann: Ich wünschte, daß die Fahrt nie enden möge; dieses bebende Dahingleiten auf dem träumenden Wasser, immer weiter hinein in den bläulichen Horizont, das schien mir das Herrlichste zu sein, von dem je ein Mensch, der in dem überbevölkerten Europa sein wie ein Uhrwerk geregeltes Leben ging, träumen durfte. Doch ist es eingerichtet in der Welt, daß das Schöne nie zu lange währt, damit wir nicht seiner überdrüssig werden. Entweder verwandelt es sich in Häßlichkeit oder es wird noch schöner, noch überwältigender.259
257 Löhndorff: Bestie ich in Mexiko, S. 6 258 Ibid. S. 13 259 Ibid. S. 31
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Löhndorffs Mexiko ist mitunter ein exotisches Tropenparadies, das die Figuren durch seine Anziehungskraft, die es aus seiner Fremdheit schöpft, vollkommen einnimmt, wie die beiden ausgewählten Zitate verdeutlichen: Wir drängten rauschend durch kniehohe Büsche, kamen auf ebenen Boden, und plötzlich endete der Himmel über uns und machte einem dunklen ineinander verflochtenen Gewirr Platz, durch das einzelne Sterne leuchteten. Zu gleicher Zeit schlug uns ein betäubendes, schrill und eintönig schwirrendes Zirpen zehntausender Grillen entgegen. Rechts und links wölbten sich schlanke Stämme und verloren sich über uns im Dunkel, aus dem manchmal ein langer gefliederter Wedel herniederging. Die spitzen harten Blätter streiften mein Gesicht. Die feuchtwarme Luft duftete süß.260 Es war warm, treibhausartig und süß wie die Blumen, die ich vergeblich suchte, duftend. Der Alte wies lächelnd über sich und sein Sohn griff nach oben und reichte mir darauf eine große, grün- und gelbgefleckte Orange. Jetzt bemerkte ich, daß alle Bäume, in deren Schatten wir saßen, damit besät waren. Jeder einzelne, die schweren Äste mit Stangen gestützt, trug Hunderte der köstlichen Früchte; meist alle grün, zwischen denen überreife gleich goldene Bälle hervorglühten. Viele standen noch in der Blüte mit weißen, zartrosa angehauchten Blumenkelchen, deren Duft mir so aufgefallen war, geschmückt.261 Dann wiederum entwirft Löhndorff deutliche Kontrastbilder, bezeichnet diese aber auch als solche. Er instrumentalisiert die Natur in seinen Beschreibungen als Part und Widerpart. Löhndorff reflektiert und kommentiert die Kontraste der mexikanischen Natur. Für ihn scheint ihre Ambivalenz weniger überraschend als für seine Vorgänger. Er nimmt die Gegensätzlichkeit der Natur als gegeben und notwendig hin. Die mexikanische Schöpfung vereint für ihn beide Elemente in sich, nur aus beiden – Paradies und Gegenbild – ergibt sich die Ganzheit der Natur Mexikos: Wieder durchquerten wir die Orangerie, folgten einer Hecke, auf deren anderer Seite steinüberrieselte und kakteenbewachsene Abhänge, durchzogen von dürren Schluchten, einen scharfen Kontrast zu dem Paradiese von Palmen und grünen Baumen vor uns bildeten. […] Soweit mein Auge reichte, überall das prachtvolle Grün unzähliger Palmen, das sich am Fluß entlang hinaufzog, der durch das schmale, vielleicht einen Kilometer breite Tal schläfrig der See zuströmte … Ein fruchtbarer, wahrhaftig paradiesischer Fleck Erde, inmitten einer öden, wasserlosen Gebirgswelt.262
260 Löhndorff: Bestie ich in Mexiko, S. 33 261 Ibid. S. 36 262 Ibid. S. 37
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Löhndorff thematisiert immer wieder den Kontrastreichtum Mexikos. Die Übermacht und Urkraft der Natur lässt jedoch auch ihn an seine Grenzen gelangen. Es ist nicht nur die Malaria, die deutlich macht, dass sich der Mensch der Natur unterordnen muss, auch gewisse Naturerlebnisse gestalten sich dementsprechend: Ich mußte über riesige Felsblöcke klettern und mich durch Kakteenpflanzungen drängen. […] Vollends in Verzweiflung geriet ich, als mir wieder ein großer Kakteenknollen mit spitzen brennenden Widerhaken durch das Schuhleder drang und ich ihn mit Gewalt aus dem Fleische reißen mußte, denn anders gingen diese Höllenpflanzen nicht heraus, wo sie einmal saßen – […].263 Die Naturschilderungen veranschaulichen die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Urkraft und Urgewalt der Natur. Dies macht für Löhndorff jedoch ihren exotischen Reiz aus. Die Bedrohung, die von ihr ausgeht, ermöglicht erst das exotische Erleben. Das Staunen über die gefahrvolle Natur sowie die Furcht vor ihr bedeuten immer auch eine Annäherung. In der Schlusssequenz reflektiert Löhndorff über den Begriff »Zivilisation«. Er stellt dem Leben in der Zivilisation jenes als Abenteurer gegenüber: Was ist die vielgepriesene Zivilisation? Nur ein Fleck Erde in einem grauen Meere unter dunstigem Himmel, und dieser Fleck ist bedeckt mit dunstigen, gefängnisartigen Häusern, in denen blasse Menschen nach der Hetze des Tages am Himmel vergeblich die Sonne suchen. Ein Land, über dem beheizter Rauch der Fabriken lagert und dem die eisernen Maschinen eine gräßliche Symphonie der Versklavung klirren … Es ist traurig, daß man Räuber und Bandit sein muß, um glücklich zu werden.264 Die Textstelle zeigt, was Löhndorff am zivilisierten Europa kritisiert und wie beengend er die Zustände in der alten Heimat empfindet. Er betont auch, dass Mexiko für ihn, trotz der bürgerkriegsähnlichen Zustände – in seinem Zitat spricht er von »Räuber und Bandit sein« – Freiheit und Glück bedeutet, was vor allem der Ursprünglichkeit und Einfachheit des Landes geschuldet ist. Löhndorff schätzt, wie er ausführt, gewisse Dinge der Zivilisation. Er kann beispielsweise nicht ohne Lektüre oder Musik sein. Die Zivilisation betreibt in seinen Augen aber eine derart »verrückte Überkultur«, dass sie jeden vernünftigen Menschen zurück ins Primitive jagen würde. Er erläutert auch die persönlichen Gründe, die ihn nach Mexiko geführt haben: Ich sagte es dir schon zu Tomochic und sage es noch einmal! Ich kam Abenteuer zu suchen und fand eine Heimat in dem schönsten und reichsten Land der Erde.
263 Löhndorff: Bestie ich in Mexiko, S. 51 264 Ibid. S. 347
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Das Schicksal wird mich vielleicht dereinst weit fortschleudern, denn ruhelos und gequält ist der Mensch, und ich bin einer der Ruhelosesten; aber nie werde ich Mexiko vergessen, sein Andenken wird wie eine Blume in meiner Seele blühen. Die Revolution war einst ein Abenteuer für mich, aber nur kurze Zeit! Ich lebte und aß mit den Soldaten, hörte ihre Erzählungen und dachte mich in sie hinein, sagte mir, daß sie trotz Rohheit und Unwissenheit einen triftigen Grund zur Revolution hatten. Und wenn wir dann später in den Kampf ritten und ›Viva Villa!« schrien, so kam bei mir der Ruf aus Überzeugung.265 Löhndorff floh aus dem starren Europa, um in Übersee in eine abenteuerliche Welt eintauchen zu können. Er entspricht dem Typus des klassischen Abenteurers. Mexiko wird ihm, glaubt man seinen Worten, im Gedächtnis bleiben. Es konnte seine Sehnsucht nach Abenteuern und Exotik stillen. Wie alle europäischen (Reise-) SchriftstellerInnen hat auch Löhndorff ein konkretes Bild im Kopf, das es zu projizieren gilt. Er ist auf der Suche nach einer exotisch-paradiesischen Wildwestromantik und findet diese auch. Er gleitet auf »träumenden Wassern mit bläulichem Horizont« dahin, die »feuchtwarme Luft duftet süß«, »roter Feuerschein spielt in der Ferne«, Indianer mit nacktem Oberkörper ergeben, wie Löhndorff selbst schreibt, ein romantisches Bild, wenn das lodernde Feuer den braunen Körper umspielt.266 Mexiko ist hier ein exotisches Tropenparadies mit sozialromantischem Anstrich, so nimmt Löhndorff selbst das Land auch wahr. Auf den letzten Seiten des Romans blickt Löhndorff noch einmal nostalgisch zurück und führt sich allerlei Erinnerungen vor Augen: Starr sah ich auf die weiße Wand vor mir, und mein Auge zauberte die Bilder der Erinnerung auf die Fläche, während mein Mund mechanisch an der Pfeife zog. Ich sah die »Walküre« unter Pyramiden schneeiger Leinwand über blauen Wassern reiten. Ich sah die Palmen, den Silberlauf des Flusses und den Patriarchen in der roten Decke. Ich sah den Spieler in der »Schwarzen Katze« zu La Purisima im Feuerstrahle, der aus meiner Hand schoß, zusammenbrechen. Ich sah das weiße Gesicht mit den Kirschenaugen von Mercedes. Ich sah die schlanken Schoner zum Haifange in den Golf segeln, sah, wie das Wasser am Bug perlte und wie die schieferblauen Leiber der Delphine im ewigen Auf- und Niedertauchen golfabwärts schwammen … Ich sah die Kolibris in den Kakteenschluchten gleißen. Ich sah die Feuer der Yaquis, sah die Orangenblüten rieseln und schlaffe Körper in den Ästen pendeln. Ich sah die Revolutionäre, wie sie in den Kampf zogen mit Weib und Kind, Hund und Schwein. Die Reiter mit den Riesenhüten, an ihrer 265 Löhndorff: Bestie ich in Mexiko, S. 347f. 266 Vgl. ibid. S. 34
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Spitze der Mann mit den Raubtieraugen und der General im Pelzmantel, trabten vorüber. Die Leute des Zapata mit den Madonnenbildern an den Hüten folgten. Tenochtitlan schimmerte mit weißen Häusern und Kuppeln, und die beiden Vulkane erröteten im Abschiedskusse der Sonne. Die Himmelsleiter strahlte im weichen Lichte des Vollmondes; die Feuer flackerten grell, und Dolores, Dolores lag mit starren Zügen vor den Hufen scheuender Rosse. Und alle, alle die schönen und häßlichen Bilder der verlorenen Romantik zogen an meinen Augen vorbei. Längst war das Licht des Tages erloschen, versunken in den weichen Schoß des Meeres.267 Die Kolportage wird zur bürgerlichen Reizwelt und dient der Problemverdrängung. Das exotische Wunschziel wird zur eskapistischen Staffage. Die exotische Ferne dient vor allem dem Lustersatz und ist keine ernsthafte (utopische) Hoffnungsalternative mehr. Aus dem Fluchtmilieu entsteht eine Märchenaura, die teilweise auch zum Schund werden kann. Die Suche nach dem (irdischen) Paradies ist zwar immer noch hoffend und sehnsüchtig, sie begnügt sich aber mittlerweile mit einem sentimentalen Fluchtbild eines weit entlegenen Paradieses, das nicht mehr absolutes Glück in Aussicht stellt, sondern aus einer gewissen Distanz mit Melancholie betrachtet wird. Diese neue Projektion weist durchaus resignative Züge auf und wirft auch die Frage auf, ob aufgrund der existierenden Skepsis an der tatsächlichen Erfüllbarkeit der Paradiessehnsucht utopisches Denken an sich überhaupt noch stattfinden kann. Die vielseitig tradierten (Paradies-)Bilder und Vorstellungen zeugen aber davon, dass immer wieder neue Wunschträume entstehen. Für das Prinzip Hoffnung gibt es keine Grenzen, keine Korrektur und keine ästhetischen Wertmaßstäbe. Daher sind Reisen, egal ob tatsächlich unternommene oder nur fiktiv erträumte, immer eine Art Idealisierung und tragen stets zur Konstruktion einer geographischen Utopie bei. Der geographische Wunschort verliert seinen Reiz nicht grundsätzlich, er ist aber nicht mehr der naiv realisierbare Traum, der er bis zur Romantik war. Er verliert an Idealität, kann aber durch seine Entlegenheit und Entfernung weiter als Hoffnungsideal fungieren. Börner führt diesbezüglich weiter aus, dass das Paradies, eben durch seine triviale und epigonale Darstellung, ab dem 19. Jahrhundert an Überzeugungskraft verliert. Am Beispiel des exotischen Romans lässt sich erkennen, dass die naiven Wunschträume zunehmend durch exotisierende und abenteuerträchtige Motive abgelöst werden. Auch in der aktiven Suche, im Moment des Reisens sei noch das transzendierende Hoffen zu erkennen. Keine Desillusionierung sei so groß, dass, so Börner, nicht versucht werde, an verschiedenen Orten und Horizonten immer wieder auch ambivalente utopische Fantasien zu realisieren. Selbst die trivialste und banalste Ikonographie des
267 Löhndorff: Bestie ich in Mexiko, S. 393f.
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Paradieses garantiere das Weiterleben der geographischen Utopie als »vitale Persistenz« der Hoffnung, da selbst in den verdinglichsten Weltbildern die Möglichkeit bestehe, dass diese am Ende noch realisiert würden.268 Das Paradies Mexiko wandelt sich also stets weiter. Aus der paradiesischen und ursprünglichen Landschaft wird zunehmend eine Welt voller exotischer Abenteuer, die Ursprung verheißen und einen mentalen Ausstieg aus der eigenen Realität ermöglichen. Die Geliebte wandelt ihre Gestalt, sie wird exotisch – dabei bleibt sie aber ursprünglich und unschuldig.
5.5
Die wilde Geliebte: Mexikodarstellungen im Abenteuerroman
Wie bereits im vorigen Kapitel erwähnt, entwickeln sich die diversen Spielarten des exotischen Romans immer stärker hin zum klassischen Abenteuerroman, bei dem die Handlung in den Vordergrund tritt und die Naturbeschreibungen zum atmosphärischen Rahmen abgewertet werden. Die Erfahrung der anderen Welt und der Wildnis ist laut Thomas Koebner im Abenteuerroman stets auf Leitvorstellungen bezogen, die bei den LeserInnen bereits vorhanden sind. Durch die exotische Perspektive wird das neue Land auf charakteristisch umgeformte Weise wahrgenommen und es wird versucht, die Wirklichkeit mit den Fantasien und Hoffnungen in Einklang zu bringen. Die Reise- und AbenteuerschriftstellerInnen lesen die Werke ihrer VorgängerInnen und runden ihre Darstellungen mit Bildern ab, die sie bereits im Kopf haben.269 Wenngleich den Naturschilderungen wenig Raum gegeben wird, bleibt ihre wesentliche Funktion erhalten. An den im Folgenden behandelten Romanen wird zu beobachten sein, wie Mexiko als exotische und abenteuerliche Realität konstruiert wird, um die Abenteuerhandlung bzw. ihre Entwicklung zu unterstützen und voranzutreiben. In Karl Mays Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde, dem ersten seiner fünf Kolportageromane270 , oder auch in seiner Satanund-Ischariot-Trilogie dient Mexiko als atmosphärisches Hintergrundbild mit handlungsstützender Funktion. May selbst hat Mexiko niemals betreten. Für das Bild,
268 Vgl. Börner: Auf der Suche nach dem irdischen Paradies, S. 283f. 269 Koebner: »Geheimnisse der Wildnis. Zivilisationskritik und Naturexotik im Abenteuerroman«, S. 240ff. 270 Der Fortsetzungsroman erschien zuerst bei Verlag H. G. Münchmeyer in Dresden mit dem Untertitel Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft, ab 1924 erschien der Roman in den gesammelten Werken der Karl-May-Gesellschaft und wurde teilweise gekürzt, umgeschrieben sowie chronologisch geordnet und in sechs Bänden publiziert: Schloß Rodriganda, Die Pyramide des Sonnengottes, Benito Juarez, Trapper Geierschnabel, Der sterbende Kaiser und Die Kinder des Herzogs. Eine spätere, kritische Ausgabe subsumiert die Bände unter den Titeln Waldröschen I – VI.
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das er in seinen Romanen entwirft, greift er demnach ausschließlich auf frühere, bereits bestehende Bilder des Landes zurück. Es war nicht nötig, ausführliche und ausgedehnte Schilderungen der Natur einzubauen, da die wenigen Beschreibungen ein Bild zu schaffen vermochten, das sowohl May als auch seine Leserschaft bereits im Kopf hatte. Die stilisierte Natur ist kahl und öd, symbolisiert aber gerade dadurch auch Freiheit und steht im Gegensatz zur Enge der zivilisatorischen Vorgaben in der Heimat. Nur in dieser öden und weiten Landschaft wird das Abenteuer möglich, da die Fesseln der Zivilisation hier überwunden werden können. Der Abenteurer nähert sich der Natur zwar an, gerade in der Abenteuerliteratur muss sie aber wild und ungestüm bleiben, um als weiteres Hindernis zu dienen, das er überwinden muss. Sich ihr zu stellen und gegen sie zu bestehen ist Teil des Abenteuers. Die von mir hier behandelten Romane Mays werden ausschließlich unter dem Aspekt der Naturbeschreibung zur Analyse herangezogen, da sowohl die Figurenkonstruktion als auch die Komposition der Handlung den klassischen Schemata der Abenteuerliteratur folgen und für das literarische Mexikobild daher nicht von Relevanz sind. Mexiko dient, wie bereits mehrfach erwähnt, lediglich zur Einbettung der teils vielschichtigen Handlungsstränge. Zum Inhalt der Romane daher nur Folgendes: Das Werk Waldröschen behandelt die Geschichte des deutschen Arztes Karl Sternau, der einem spanischen Grafen das Leben rettet und dessen Tochter ehelichen will. Er gelangt aber in die Fänge des Verwalters des Grafen, der das Erbe für sich und seine Familie beanspruchen möchte. Er lockt den Arzt daher nach Mexiko und sperrt ihn in eine Pyramide, aus der er erst nach Jahren gerettet werden kann. Parallel zum Haupthandlungsstrang behandelt May die Auseinandersetzung zwischen dem mexikanischen Präsidenten Benito Juárez und dem Habsburgerkaiser Maximilian. Die Trilogie Satan und Ischariot thematisiert die Verfolgung der verbrecherischen Melton-Brüder über mehrere Jahre und endet mit dem Tod der beiden. In Der sterbende Kaiser erzählt May vom Untergang und Tod des sogenannten Kaisers Maximilian von Mexiko. Mays Mexikobild erscheint durch den alleinigen Bezug auf bereits existierende Quellen besonders schematisch und stereotyp. Er bedient sich ausschließlich bereits bestehender Bilder, ohne diese zu reflektieren. Sie wirken mitunter auch deshalb besonders inauthentisch und schablonenhaft, da er sich zwar auf Lexika und andere Quellen bezieht, aber nicht bestrebt war, die Daten zu einem kohärenten Bild zusammenzufügen. Die wenigen Beschreibungen der mexikanischen Natur dienen als Kulisse und sind beliebig austauschbar, wie auch der erste Schauplatzwechsel nach Mexiko verdeutlicht: Es ist nicht notwendig, langweilige geographische Bemerkungen über Mexiko zu machen; aber wie der Mensch überhaupt von dem Boden abhängig ist, auf welchem er lebt, so ist auch der Charakter des echten Mexikaners demjenigen seines Landes ganz conform. Der Boden des Landes ist zum großen Theile ein vulkani-
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scher, und so glüht auch im Inneren des Bewohners ein Feuer, welches oft mächtig und verzehrend emporflammt.271 Auch in seiner Trilogie Satan und Ischariot 272 entwirft May gleich zu Anfang ein beinah willkürliches und wenig aussagekräftiges, schablonenhaftes Bild Mexikos, das auf einigen wenigen exotisierernden Attributen fußt, sodass der Eindruck entsteht, der Ort der Handlung könne jederzeit durch einen anderen ersetzt werden, der auf seine exotische Atmosphäre reduziert werden kann: »Sollte mich jemand fragen, welches wohl der traurigste, der langweiligste Ort der Erde sei, so würde ich, ohne mich lang zu besinnen, antworten: Guaymas in Sonora, dem nordwestlichsten Staate der Republik von Mexiko.«273 Die kahl und öd anmutende Landschaft dient jedoch als bewusst stilisiertes Gegenbild zum zivilisierten Europa. Eine gewisse Grundstimmung wird so von Anfang an erzeugt. Die Wahl des Ortes kann aber insofern als willkürlich gelten, als May seine Romane mitunter auch in Kurdistan, dem Orient oder in den USA spielen lässt. Mexiko eignet sich aufgrund seiner Geschichte als literarischer Sehnsuchtsort für weitere Exotik und Abenteuer verheißende Projektionen. Auch in Mays Roman Der sterbende Kaiser 274 ist eine dementsprechende Naturstilisierung Mexikos zu erkennen. Bei der Ankunft der Protagonisten in Vera Cruz verdeutlichen die nicht zu bändigende Natur und der Ausbruch des gelben Fiebers bereits die bedrohliche Grundstimmung des Landes. Die Protagonisten befinden sich auf einem Friedhof der Franzosen, die dem Fieber zum Opfer gefallen sind: »Das ist der Kirchhof der Franzosen«, sagt er, »die unter dem hiesigen Gluthimmel dem fürchterlichen Fieber erliegen.«275 In der Anfangssequenz des Romans wird der Kontrast zwischen der unbarmherzigen Natur und dem naturfremden Europäer – ähnlich wie bei Sealsfield – dargestellt. May bedient sich dieser Diskrepanz jedoch nicht wie Sealsfield, der ein umfassendes Bild des Landes schaffen wollte. May dient sie lediglich zur unmittelbaren Konstruktion einer exotisierenden Atmosphäre. Die Naturschilderungen nehmen in Mays Werken einen unterschiedlichen Stellenwert ein. Während sie in den sogenannten Lieferungsromanen276 sehr spär271
272 273 274 275 276
Wiedenroth, Hermann; Wollschläger, Hans (Hg.): Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe für die Karl-May.Stiftung. Abteilung II, Fortsetzungsromane, Band I. Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft von Capitain Ramon Diaz de la Escosura. Bargfeld u. Celle: Bücherhaus 1997, S. 550 May, Karl: Satan und Ischariot 1 – 3. Gütersloh u.a.: Bertelsmann Club GmbH o.A., S. 5 May: Satan und Ischariot 1, S. 5 Band 5 seiner Waldröschen-Serie May, Karl: Der sterbende Kaiser. Band 55 der gesammelten Werke. Wien: Verlag Carl Ueberreuter 1867, S. 49 Gängige Vertriebsform des 19. Jahrhunderts, bei der den LeserInnen Romane in Einzellieferungen von einem oder zwei Druckbögen nach Hause gesandt wurden.
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lich ausfallen und oftmals lediglich zu Anfang eine Grundstimmung schaffen, die damit gegeben ist und in weiterer Folge nicht mehr weiter beschrieben wird, wird den Naturdarstellungen in seinen Reiseromanen – in der Klassifizierung beziehe ich mich hier auf das Karl-May-Handbuch277 – mehr Raum gegeben, auch wenn das Abenteuer weiter vordergründig die Handlung dominiert. In seinem Roman Waldröschen kommen etwa kaum Naturbeschreibungen vor, es wird nicht mehr als ein Bild der Einöde gezeichnet, die es zu durchdringen gilt. Die Darstellungen in Mays Satan-und-Ischariot-Trilogie gestalten sich etwas umfassender. Die Natur dient mitunter der Hervorhebung des Abenteuerplots. Der Protagonist muss auch die Natur bekämpfen und besiegen. Die Gefahren der wilden Natur unterstreichen seinen Heldencharakter, wie nachstehendes Zitat zeigt: Es war ein Ritt, wie durch eine Wüste. Der Boden bildete lange, niedrige Wellen, zwischen denen seichte Vertiefungen lagen, und alles war Fels, war Stein, Geröll oder Sand. Kein Strauch, kein Grashalm war zu sehen. Dieses nackte Gestein saugte die Strahlen der glühenden Sonne auf, bis es von denselben gesättigt war; die nachfolgende Hitze konnte nicht mehr eindringen und lagerte nun wie eine vier oder fünf Fuß hohe, flimmernde oder zitternde Glutsee auf der Erde. Das Atmen wurde schwer, und der Schweiß drang mir aus allen Poren, aber es mußte angehalten werden; […].278 Die Natur wird bei May hier selbst zum Abenteuer. Durch ihre Fremdheit wird sie zum Elementarereignis für die Abenteurer: Ich ritt durch ein langes, schmales Thal, welches sich in vielen Windungen aufwärts in die Berge zog. Diese lagerten kahl und baumlos vor dem höheren Gebirge, in welchem ich die Hazienda zu suchen hatte. Sie waren felsig und besaßen so eigenartige, abenteuerliche Formen, daß ich hier und da an die fernen Bad-lands erinnert wurde.279 Die Weite der mexikanischen Landschaft ermöglicht, wie bereits zuvor erwähnt, die vollständige Entwicklung der Abenteuerhandlung. Sie versinnbildlicht nicht nur Gefahr, sondern auch Freiheit, die den Abenteurern sinnstiftend ist und den Reiz des Abenteuers symbolisiert. Der Abenteurer findet sich mutterseelenallein in einer verlassenen und dadurch unheimlichen Landschaft der mexikanischen Wildnis und muss sich ihr gegenüber behaupten. Die Atmosphäre, die May hier schafft, unterstreicht den Heldenmut des Protagonisten, da die Situation – durch die unberechenbare Natur an sich oder durch einen plötzlichen Überfall von mexikanischen Banditen – jederzeit kippen könnte: »Rings von hohen, kahlen Felsen
277 Ueding, Gert (Hg.): Karl-May-Handbuch. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1987 278 May: Satan und Ischariot 2, S. 6 279 May: Satan und Ischariot 1, S. 79
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umgeben, lag der Ort wie eine ausgedorrte Leiche in erdrückender Sonnenglut. In der Umgebung war kein Mensch zu sehen, und auch als ich mich dann zwischen den ersten Häusern befand, schien es, als ob diese ausgestorben seien.«280 Neben der Stilisierung der öden und gefährlichen Wildnis finden sich auch einige wenige Naturbeschreibungen, die der Landschaft einen paradiesischen Charakter zusprechen. Während es im ersten hier angeführten Zitat nur duftende Blumen sind, die im Gegensatz zur sonst so kargen Landschaft stehen, finden sich im zweiten bereits zwei charakteristische Motive des (literarischen) Paradiesbildes: die beschriebene Fruchtbarkeit der Natur sowie die Idee des (paradiesischen) Gartens, der die Domestizierbarkeit der Natur versinnbildlicht: Auf dem Camino Real, dem Königsweg, der von Sayula über die Berge führte, die die südliche Fortsetzung der Sierra de Nayarit bilden, ritten drei Männer, denen man es ansah, daß sie bedeutende Anstrengungen hinter sich hatten. Ihre Pferde sahen heruntergekommen und abgehetzt aus und bewegten sich müde und stolpernd über die tiefen Spalten und die unzähligen Lavatrümmer, die den Weg bedeckten, so daß man im Zweifel sein konnte, ob man sich wirklich auf einem begangenen Weg und noch dazu auf einer »Königsstraße« befand, oder ob man diesen unter den Füßen seiner Tiere verloren habe. Hier war es mit jeglicher Bodenbestellung zu Ende. Die einzigen Pflanzen, die sich in größerer Menge zeigten, waren Yuccas mit dicken Stämmen und da und dort dichtes Gestrüpp von Opopanax, das sich zwei bis drei Meter über den Erdboden erhob, und dessen herrlich duftende Blüten das einzige waren, was die Sinne erfreuen konnte. Denn im Übrigen brannte die Sonne mit einer Backofenglut auf das dunkle Lavagestein hernieder, so daß es kein Wunder war, wenn die drei Männer lange Zeit schweigsam und verdrossen nebeneinander herritten.281 Ich war in der Gegend, durch welche wir kamen, noch nie gewesen und kannte also die Lage der Distrikthauptstadt Ures, durch welche wir eigentlich mussten, nicht genau; aber ich wußte, daß sie am Rio Sonora liegt, einige Meilen unterhalb Arispe. Die Stadt breitet sich am linken Ufer des Flusses in einer sehr fruchtbaren Ebene aus und ist von herrlichen Gärten umgeben.282 Ein ähnliches Naturbild ist auch in folgendem Textabschnitt zu erkennen: Der See lag am unteren Ende eines dichtbewaldeten Thales, welches sich weiter aufwärts ansehnlich verbreiterte, bis man wohl eine halbe Stunde zu gehen hatte, um von einer Seite nach der anderen zu kommen. Hüben und drüben vom Walde eingefaßt, bildete es eine saftige grüne Wiese, deren Gras- und Blumenteppich 280 May: Satan und Ischariot 1, S. 6 281 May: Der sterbende Kaiser, S. 339f. 282 May: Satan und Ischariot 1, S. 63
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oft durch blühendes Buschwerk unterbrochen wurde. […] Weiter oben hörten die Weiden auf, um Feldern Platz zu machen. Ich sah Baumwolle und Zuckerrohr in langen, breiten Pflegen stehen. Dazwischen gab es Indigo, Kaffee, Mais und Weizen, doch alles in einem Zustande, welcher erkenne ließ, daß es an Arbeitshänden mangelte. Dann kam ein großer Garten, in welchem alle Obstbäume Europas und Amerikas vertreten waren, aber ein sehr verwildertes Aussehen hatte, so daß es einem fast wehe thun mochte.283 Diese paradiesisch anmutenden Charakterbilder der mexikanischen Natur werden in Folge konsequent und absolut wieder gebrochen, um den Rahmen für die Abenteuerhandlung so noch deutlicher zu stecken. Die vorherrschende Einförmigkeit der Gegend an sich ist eine Herausforderung für den Abenteurer, da er sich nur schwer in ihr zurechtfinden und orientieren kann, was ihn mitunter nicht nur in beschwerliche, sondern auch in bedrohliche Situationen bringt: Ich hatte mich doch um einiges verrechnet, wohl infolge der Einförmigkeit der Gegend, welche eine genaue Schätzung schwer machte: Wir erreichten Almaden nicht von Süden, sondern von Südwesten her, was zwar gefährlicher war, weil ich die Indianer auf der Westseite glaubte, mir aber jetzt lieb sein konnte, da ich nun gleich die Stelle erblickte, welche ich sonst hätte suchen müssen, […].284 Im Werk selbst wird die Rolle der Natur angesprochen. Sie hat vor allem Rahmencharakter, eine genaue Beschäftigung mit ihr würde ihre Funktionalität innerhalb der Gattung übersteigen: »Die Beschreibung der Gegend, durch welche wir kamen, würde zu Weitläufigkeiten führen.«285 Die Einbettung der Handlung in einen konstruierten und dementsprechend stilisierten Naturraum kann als wesentliches Element des Erzählens gesehen werden, auch wenn die Natur nicht im Vordergrund der Beschreibung steht. Sie ist auch insofern von Belang, so Helmut Lieblang in seinem Essay über Mays Satan und Ischariot, als die relative Schlichtheit der Handlungsführung sonst in Monotonie ersticken würde. Für die Figuren selbst erscheint sie wenig relevant. Der von May geschaffene Erzählraum sei demnach handlungsmächtiger Treibstoff des Fabulierens. Auch die Abenteuerliteratur müsse von ihrer programmatischen Ausrichtung her eskapistische Züge aufweisen, um den Ansprüchen ihrer Leserschaft Genüge zu tun. Der Eskapismus in andere, künstliche Welten sei auch für May ein wichtiger Antrieb gewesen, um sich
283 May: Satan und Ischariot 1, S. 91 284 May: Satan und Ischariot 2, S. 7 285 May: Satan und Ischariot 1, S. 333
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(und so auch seine LeserInnen) schreibend aus der Enge seiner soziokulturellen Bedingtheit zu retten.286 Mexiko ist weiterhin das exotische Andere und somit ein Fluchtort und Kontrastort zur zivilisierten Welt. Die Geliebte ist wild und fremd und muss, damit die von Europa forcierte Liebesbeziehung bestehen bleiben kann, immer wieder neu erobert werden.
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Das Paradies ist verloren, es lebe das Paradies! Mexiko zwischen Realität und Exotik - ein Überblick
Die Stilisierung Mexikos als europäisches Paradies erweist sich als immer schwieriger. Wie bereits erwähnt, ist eine unreflektierte Wahrnehmung und Stilisierung der Fremde kaum mehr möglich. Die Generierung von fremden und außereuropäischen Elementen im Sinne einer europäischen Wahrnehmung erfährt eine Wandlung. Diese wird bereits im Werk Max Dauthendeys augenscheinlich, der den Exotismus als solchen hinterfragt, indem er darüber reflektiert, was in Europa falsch laufe, da es sich immer in ferne Länder träumen müsse.287 Die Fremde lässt sich nicht mehr so leicht in eine europäische Perspektive einpassen, da sich beide Kulturen verändern und mitunter sogar annähern. Um die Fremde weiter als Fremde stilisieren zu können, werden, wie schon im Kapitel über die Reiseliteratur gesehen, verstärkt Einzelinterpretationen notwendig. Auch historische und kulturgeschichtliche Fakten des Landes werden vermehrt in die Stilisierung mit aufgenommen. Die zunehmende Industrialisierung ermöglichte die Erschließung gänzlich neuer und unbekannter Gebiete. Diese Erschließung verursachte eine zunehmende Zivilisierung abgelegener Gebiete und Landstriche. Ein immer stärkeres Verblassen der Exotik war die Folge. Der Tourismus war geboren, das Paradies Mexiko endgültig vom Aussterben bedroht. Durch den Massentourismus ist die Erfahrung in der Fremde kaum mehr möglich. Folglich kommt es zu einer Erhöhung eines Realitätsausschnitts, der als Mexikoerfahrung schlechthin gelten muss. Die Projektionen bleiben in ihrem Kern konstant, da auch die Sehnsüchte fortbestehen, die die Konstruktion des Fremden wesentlich motivieren. Die bereits mit der Eroberung in Gang gesetzte Degradierung der indigenen Kulturen Lateinamerikas zur bloßen Projektionsfläche utopischer Entwürfe und exotischer Flucht(t)räume setzt sich, so auch Schmidt in seinem Werk über das Bild Mexikos
286 Lieblang, Helmut: »Ich war noch niemals hier gewesen. Die Quellen zu ›Satan und Ischariot‹«, in: Suddhoff, Dieter; Vollmer, Hartmut (Hg.): Karl Mays »Satan und Ischariot«. Raudehorst: Igel Verlag Wissenschaft 19991 , S. 236f. 287 Dauthendey: Raubmenschen, S. 120
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in der Moderne, wenn auch unter veränderten Verhältnissen, bis in unsere Zeit fort.288 Nachdem die Hochblüte der exotischen Literatur verebbt war, fanden sich noch vereinzelt Ausläufer der sogenannten kritischen Unterhaltungsliteratur, die in veränderter Spielart bis in die Gegenwart reichen. Der nun kritischere Ton der Unterhaltungsliteratur ist einerseits gesellschaftlich begründet, entwickelt sich doch seit dem 20. Jahrhundert zunehmend ein historisches und sozialkritisches Bewusstsein in Europa. Andererseits ist er aber auch Ausdruck einer (anklagenden) Gewissheit des Paradiesverlustes. Die Ursprünglichkeit gewisser Landstriche weicht immer mehr Elementen der Zivilisation, wodurch die Stilisierung exotischer Komponenten stetig erschwert wird. Die Zivilisationskritik wird folglich oftmals wesentliches Moment der Beschreibung. Die in den folgenden Kapiteln behandelten Werke gestalten sich, nicht zuletzt angesichts der weit gefassten zeitlichen Dimensionierung, inhaltlich vielseitig. Die Entscheidung, die Werke trotzdem in wenigen Unterkapiteln zu behandeln und den zeitlichen Spagat vom 20. Jahrhundert bis heute zu spannen, ermöglicht einen signifikanteren Überblick über die Entwicklung, Veränderung und Adaptierung des literarischen Mexikobildes. Die Veränderung in der Konstruktion des literarischen Mexikobildes ist historischen, soziologischen und (gesellschafts-)politischen Veränderungen geschuldet. Das Paradies Mexiko muss immer wieder neu definiert und umrissen werden. Im Unterschied zu den bereits behandelten Werken zeigt sich der Schnitt ab dem 20. Jahrhundert markanter. Schon die vielen unterschiedlichen literarischen Tendenzen und Strömungen des 20. Jahrhunderts favorisieren verschiedene Spielarten der Projektion. Eine Grenze muss sowohl historisch als auch ideologisch gezogen werden. Der Zweite Weltkrieg beeinflusst das literarische Schaffen vieler SchriftstellerInnen maßgeblich. Die Exilliteratur brachte situationsbedingt sowohl von ihrer Rezeption als auch ihrer Produktion her eine sehr spezielle Spielart der MexikoProjektion hervor und nimmt demnach in der (relativen) Chronologie meiner Darstellung einen beinah exkursorischen Charakter ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird der thematische Faden der Mexiko-Darstellung wieder aufgenommen. Es finden sich sowohl Veränderungen als auch Fortschreibungen der Projektion. Das literarische Mexiko wird wiederum neu gestaltet und den Gegebenheiten angepasst. Die Schwierigkeit, die außereuropäische Fremde als solche zu generieren und zu stilisieren, verstärkt sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Strömungen wie etwa der Postkolonialismus zeugen davon, dass die Hegemonie eurozentristischer 288 Vgl. Schmidt, Friedhelm (Hg.): Wildes Paradies – Rote Hölle. Das Bild Mexikos in Literatur und Film der Moderne. Bielefeld: Aisthesis Verlag 1992, S. 10
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Sichtweisen zunehmend kritischer gesehen wird. Es vollzieht sich eine generelle Sensibilisierung gegenüber der Praxis der Exotisierung in der Kunst. In der Literatur wird die Ambivalenz zwischen Exotik und Vorurteilen deutlicher und kritischer hinterfragt. Es finden sich mitunter bewusste Ironisierungen gängiger Stereotypen. Die immer lauter werdende Kritik am Imperialismus und dessen Machtfixierung trübt ihrerseits die Faszination der Exotik. Der koloniale Zugriff funktioniert nicht mehr. Es kommt zu Verschiebungen innerhalb und außerhalb bzw. zwischen den Kulturen. Die Grenzen innerhalb der unilateralen Liebesbeziehung Europa – Mexiko müssen neu definiert und gezogen werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Exotik als dominierendes Moment der Beschreibung noch ursprünglicher und unbedarfter, auch wenn sie schon im Wandel begriffen ist. Die Projektionen gestalten sich mitunter bereits differenzierter, kritischer und politischer. Mexiko ist nicht mehr nur ein Exotik verheißendes Land. Die literarische Konstruktion des Mexikobildes weist vermehrt eine sozialutopische und zivilisationskritische Ausrichtung auf. Mexiko wird wiederum zum Kritikinstrument an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in Europa. Historische Fakten des Landes sowie exotische Charakteristika werden herangezogen und dahingehend stilisiert. Laut Schmidt ist das gestiegene Interesse an Mexiko seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Niedergang des klassischen Imperialismus zu begründen. Neben der typischen Zivilisationsmüdigkeit, die in Mexiko gestillt werden kann, bietet es – aufgrund seiner Historie – auch immer die Möglichkeit zur Verwirklichung antiimperialistischer Projektionen. Trotz der Veränderung in der literarischen Projektion schreiben sich gewisse Bilder des Landes fort. In allen von Schmidt untersuchten filmischen und literarischen Repräsentationen Mexikos, die generell im 20. Jahrhundert angesiedelt sind, finden sich immer wieder Klischees und stereotype Bilder, die von früheren Reisenden, Schmidt erwähnt beispielsweise Humboldt, übernommen werden.289 Die Projektion wandelt sich, ihr Kern bleibt jedoch unverändert. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schreitet die Dekonstruktion gewisser Bilder und Stereotype weiter fort. Diese werden bewusster wahrgenommen und mitunter auch literarisch ironisiert. Die Kritik an Exotismus und Stereotypen favorisiert eine zivilisationskritisch ausgerichtete Projektion, die wiederum Gefahr läuft, zu romantisieren und zu verklären. Stilisiert werden oftmals die Reste an Ursprünglichkeit, die in Mexiko noch zu finden, aber im Verschwinden begriffen sind, da sie durch die fortschreitende Zivilisierung des Landes zerstört werden. Auch exotische Komponenten werden weiterhin hervorgehoben, auch wenn sie sich nun anders gestalten. Die mexikanische Natur rückt stärker in den Hintergrund, da sie durch die Verwestlichung des Landes ihre Funktionalität innerhalb der Projektion einbüßt. Thematisiert wird vor allem ihre Zerstörung bzw. die Zerstörung des 289 Vgl. Schmidt: Wildes Paradies – Rote Hölle, S. 10f.
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Landes durch die westliche Zivilisation. Die Exotik, die in Mexiko noch zu finden ist, ergibt sich vor allem aus der bedrohlichen Grundstimmung des Landes, die aufgrund der kolonialen und imperialen Ausbeutung Mexikos vorherrscht. Das Verschwinden der Ursprünglichkeit, nach der sich Europa immer noch sehnt, wird thematisiert und – mittels zivilisationskritischer Stilisierungen – beklagt. Mexiko ist Opfer der westlichen Welt und wird durch romantisierende Darstellungen des Landes und der Menschen als solches stilisiert. Gerade dadurch zeigt sich die Projektion deutlich. Europa operiert hier mit binären (konstruierten) Oppositionen. Es beklagt seinen Verlust – den Verlust der exotischen und schönen Geliebten. * Als kleiner Exkurs sei hier kurz auf die Rolle und die Relevanz der modernen Massenmedien hingewiesen, die Stereotype und Exotismen in Werken der Populärkunst fortschreiben und weltweit verbreiten. Die Literatur wird ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundsätzlich stärker durch die modernen Massenmedien beeinflusst. Berücksichtigt man also ihre zunehmende Relevanz und ihren Einfluss auf das Bild Mexikos in der Literatur, kann die US-amerikanische Darstellung Mexikos nicht ganz außer Acht gelassen werden, auch weil die Unterschiede in der europäischen und der US-amerikanischen Perzeption und Darstellung die Besonderheit der europäischen Perspektive verdeutlichen. In meinen Ausführungen stütze ich mich vor allem auf Schmidts bzw. Schmidt-Welles290 sowie Astrid Welles291 Analysen. Die US-amerikanische Mexiko-Darstellung hat aufgrund der Breitenwirkung der US-amerikanischen Massenmedien eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Die Wahrnehmung Mexikos in den USA bzw. die Beziehung zwischen den beiden Ländern gestaltet sich aus historischen, politischen und lokalen Gründen speziell. Dementsprechend unterschiedlich gestalten sich die US-amerikanische und die europäische Stilisierung Mexikos. Sowohl der US-amerikanische Western als auch diverse Hollywoodfilme mit Mexikobezug sind für die großflächige Verbreitung der gängigsten Mexiko-Klischees in der Kulturindustrie verantwortlich. Mexiko ist im US-amerikanischen Kontext das Land der Revolutionäre und Banditen, der Sombreros und der Kakteen. Bereits im US-amerikanischen Western vollzog sich eine negative Stilisierung des Landes, in diese Tradition tritt auch die Kriminalliteratur. Astrid Welle analysiert in ihrem
290 Es handelt sich hierbei um ein und dieselbe Person, der Name variiert aufgrund einer Eheschließung. 291 Vgl. Welle, Astrid: »Großer Bruder, kleine Schwester. Die Überschreitung der frontier nach Mexiko im US-amerikanischen Western.«, in: Schmidt, Friedhelm (Hg.): Wildes Paradies – Rote Hölle. Das Bild Mexikos in Literatur und Film der Moderne. Bielefeld: Aisthesis Verlag 1992
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Aufsatz »Großer Bruder, kleine Schwester. Die Überschreitung der frontier nach Mexiko im US-amerikanischen Western« die Bilder Mexikos und der Mexikaner, die in verschiedenen US-amerikanischen Western entworfen werden. Im Western wird vor allem die Auseinandersetzung zwischen der unberührten wilden Natur sowie der dort lebenden »barbarischen« Menschen und der vermeintlichen Zivilisation thematisiert. Die Konfliktbewältigung zwischen Zivilisation und Wildnis vollzieht sich laut Welle durch die ambivalente Figur des Westernhelden, der beide Elemente verkörpert. Der Western funktioniert nach Kategorien, die Amerika weder beschreiben noch entdecken. Vielmehr erträumten sie ein eigenes Amerika, wie es für den Großteil aller Ländervorstellungen üblich ist. Laut Welle finden sich verschiedene Stilisierungen Mexikos bzw. vor allem der Bevölkerung des Landes: Sie reichen vom einfältigen, hilflosen Mexikaner, der von Banditen bedroht wird, über den Helden, der gleichzeitig immer auch Bandit ist, bis hin zum grundsätzlich bösen und verschlagenen Banditen.292 Subsumiert kann jedoch werden, dass Mexiko schon im Western und noch deutlicher in den US-amerikanischen Hollywoodfilmen generell als stereotypes und negativ stilisiertes Land dargestellt wird und vor allem zur Kontrastierung der Elemente Natur – Zivilisation herangezogen wird. Im Gegensatz zur europäischen Darstellung dient diese Kontrastierung aber der Bejahung der Zivilisation. Erst durch die negative und klischeehafte Stilisierung des Landes gewinnt dieses seinen Abenteuercharakter. Ähnliches lässt sich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ansätzen auch in der deutschsprachigen Literatur erkennen, was mitunter auch dem Einfluss der modernen Massenmedien geschuldet ist. Trotzdem bleibt das europäische Mexikobild im Kern konstant, wie noch ersichtlich werden wird. Die Projektion einer kriminalistischen Handlung in den exotischen Raum Mexiko kann von der Grundidee her als Weiterführung der US-amerikanischen Westerntradition verstanden werden. Im 20. Jahrhundert erlebt der Kriminalroman eine Hochblüte. Neben der verstärkten Hinwendung zu diesem Genre in den USA ab den 1930er-Jahren nehmen sich auch vermehrt europäische AutorInnen dieser Gattung an. Innerhalb des Genres – bzw. zwischen europäischen und USamerikanischen Kriminalromanen – ist jedoch wiederum eine divergierende Art der Projektionen zu beobachten. Schmidt-Welle skizziert in seinem Werk auch die Darstellung Mexikos im USamerikanischen Film. Dieser forciert und pflegt laut Schmidt-Welle über lange Zeit das Bild des gewalttätigen Mexikaners. So wird beispielsweise der Stierkampf in den Filmen immer wieder als Thema herangezogen, das »Gewalt und Blut versprach«, da es sich besonders für eine stereotype Darstellung des Landes eignet.
292 Vgl. Welle: »Großer Bruder, kleine Schwester. Die Überschreitung der frontier nach Mexiko im US-amerikanischen Western« S. 161ff.
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In den 1910er-Jahren wird der greaser als Typ des vorgeblich charakteristischen gewalttätigen Mexikaners geboren. Der Begriff geht auf eine pejorative Bezeichnung der Mexikaner durch die Texaner im 19. Jahrhundert zurück. Er wurde später in den sogenannten Groschenheften wieder aufgegriffen und fand dadurch weite Verbreitung. Schmidt-Welle führt weiter aus, dass sich im Western meist drei Typen von Mexikanern finden, die allesamt äußerst klischeehaft dargestellt werden: der gewaltbereite greaser, der arme, kindliche und unschuldige Bauer, der meist vom greaser ausgenommen wird, und die feurige señorita, die bei jeder Gelegenheit tanzt – allerdings meist spanischen Flamenco. Im Hollywoodkino werden die Klischees großteils fortgeschrieben, jedoch den jeweiligen politischen und kulturellen Verhältnissen der Zeit sowie auch den ökonomischen Möglichkeiten angepasst.293 So werden beispielsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts Dokumentarszenen produziert, die im Wesentlichen fremde Sitten darstellen. Der exotische Charakter der Fremde wird hervorgekehrt, wodurch die kleinbürgerliche Abenteuerlust der ZuschauerInnen gestillt werden soll. Bis zum Ersten Weltkrieg wird eine ganze Reihe an Western produziert, die großteils einen Mexikobezug aufweisen. Der Erste Weltkrieg sorgt laut Schmidt-Welle für eine Veränderung des Negativbildes der Mexikaner, da es nunmehr neue Feindbilder gibt und die USA bestrebt sind, auch die lateinamerikanischen Märkte zu erobern. Zwischen den Kriegen finden sich wieder vermehrt Filme mit Stereotypen und pejorativen Mexikodarstellungen, die Proteste der mexikanischen Diplomatie auslösen. Ende der 1930er-Jahre setzt der Lateinamerika-Boom im Hollywoodkino ein. Durch die 1933 von Franklin D. Roosevelt ins Leben gerufene Good Neighbour Policy294 veränderte sich die Perspektive, wenngleich gewisse Klischees sich weiter fortschreiben. Im 1934 erschienen Film Viva Villa! wird der mexikanische Revolutionär Pancho Villa zwar als etwas dümmlicher, aber grundsätzlich guter Charakter präsentiert. Auch Walt Disney beteiligt sich mit einigen Animationsfilmen an dieser neuen (politischen) Haltung. Das Stereotyp wird aber lediglich durch ein neues ersetzt: aus dem greaser wird mitunter der latin lover. Mexikaner treten nun oft singend und tanzend in Komödien und Musicals auf. In erotischen Beziehungen ist der (weiße) US-Amerikaner dem Mexikaner jedoch weiterhin überlegen. Ab den 1980er-Jahren verändert sich die »Landschaft der Mexikobilder« im US-amerikanischen Film. Der Western ist als Genre nicht mehr relevant und die Lebensumstände der »Mexican Americans« treten laut Schmidt-Welle in den Vordergrund. Die Repräsentation Mexikos kann grundsätzlich als etwas differenzierter bezeichnet werden.
293 Vgl. Schmidt-Welle: Mexiko als Metapher, S. 125ff. 294 Eine ab 1933 betriebene »Politik der guten Nachbarschaft« gegenüber Lateinamerika, die auf Respekt diesen Ländern gegenüber sowie den Verzicht einer militärischen Intervention basierte.
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Comics wie Lucky Luke oder Werbemaßnahmen wie Los Wochos der Fast-FoodKette McDonald’s deuten jedoch darauf hin, dass gängige Klischees aus den Western weiter existieren und das Bild Mexikos weit über die US-amerikanischen Grenzen hinweg nachhaltig prägen. Dieser Vergleich ist natürlich insofern schwierig, als sich die Werbung notorisch teils heftiger Klischees bedient und generell nicht mit der literarischen oder filmischen Rezeption gleichgesetzt werden kann. Gleichwohl zeugen die in der Populärkultur tradierten Bilder vom Einfluss der US-amerikanischen Massenmedien und ihrer Bilder und Stereotypen. Die US-amerikanische Darstellung und Inszenierung Mexikos unterscheidet sich grundsätzlich von jener Europas. Auch wenn der Einfluss der Massenmedien steigt, bleibt das Bild Mexikos in der deutschsprachigen Literatur in der europäischen Perspektive und deren Tradition verhaftet. Lediglich aus dieser Perspektive heraus konnte sich die Liebesbeziehung zwischen Europa und Mexiko überhaupt entwickeln und bestehen bleiben. Die Geliebte ist weiterhin exotisch und manchmal noch ursprünglich – und bleibt daher für den europäischen Liebhaber Objekt der Begierde.
5.7
Die Geliebte wird politisch: Von exotischer Zivilisationskritik
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind es vor allem die sozialen und politischen Konflikte rund um den Ersten Weltkrieg, die eine neue Paradiessuche im Sinne des Eskapismus forcieren. Die literarische Projektion gestaltet sich den Zeitumständen entsprechend oftmals politisch. Mexiko wird aber nicht nur als Land der Revolution, sondern auch weiterhin als Land der Exotik stilisiert. Beide Stilisierungen favorisieren gleichermaßen die Projektion von politischen sowie sozialkritischen Konzepten. Beispiele für politisch motivierte Mexikodarstellungen sind Gerhart Hauptmanns Der weisse Heiland295 (1920) und Franz Werfels Juarez und Maximilian296 (1924). Hauptmann schildert in seinem Werk die Eroberung Mexikos. Das Land wird im Namen Spaniens und der Kirche unterjocht. Man kennt die Geschichte. Montezuma verkennt die Situation und organisiert keinen Widerstand, da er an den Mythos der wiederkehrenden weißen Götter glaubt. Sein Aberglaube reißt ihn und sein ganzes Volk in den Untergang. Hauptmann verwendet den historischen Stoff um die Eroberung Mexikos hier, um seine Schockerfahrungen des Ersten Weltkrieges zu verarbeiten. Die Kritik an der imperialistischen Herrschaft dient ihm gleichermaßen als Kritik an der imperialistischen Grundhaltung der Gesellschaft. Auch in Werfels Juarez und Maximilian dient der Stoff der Tragödie um den selbst 295 Hauptmann, Gerhart: Der weisse Heiland. Dramatische Phantasie. Berlin: S. Fischer Verlag 1920 296 Werfel, Franz: Juarez und Maximilian, Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay Verlag 1924
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ernannten Kaiser Maximilian von Mexiko dem Autor zur persönlichen Reflexion über Themen wie die Tragödie des »schönen Menschen in geschichtlicher Konsequenz«, wie Martin Arnold in seiner Dissertation über die Werke Werfels anführt. Werfel projizierte hier seine eigenen utopischen Vorstellungen eines politiklosen Idealstaates auf Mexiko bzw. auf die Figur des Maximilian von Mexiko.297 Die historischen Stoffe, deren sich Werfel und Hauptmann hier bedienen, favorisieren aufgrund ihrer zeitlichen Verortung sowohl die Darlegung einer Zivilisationskritik als auch die Konzeptionierung und Projektion von visionären, sozialutopischen Elementen. Auch Bertolt Brecht bedient sich in seinem Gedicht »Von des Cortez Leuten«298 der mexikanischen Geschichte, wobei Brecht zwar den historischen Raum Mexiko heranzieht, die Projektion Mexiko betreffend jedoch ahistorisch bleibt. Brecht beschreibt Mexiko in seinem Gedicht als Land der exotischen Natur, die aber auch Einsamkeit und Isolation bedeuten kann. Brechts Gedicht stammt aus der 1927 erschienenen Hauspostille und ist noch in seine vormarxistische Phase einzureihen. Interpretierbar ist das Gedicht als Ausdruck einer nihilistischen Grundhaltung, als Lebensgefühl des modernen Menschen, der sich als ein dem Leben Ausgesetzter versteht. Brecht zieht das Land für seine Projektion heran, da es sich durch seine exotische Fremdartigkeit gut als derartige Projektionsfläche eignet. Die mexikanische Natur nimmt in dem Gedicht eine Schlüsselrolle ein, da sie zum Indikator für die mexikanische Exotik wird. In der Ballade geht die Bedrohung von der Natur aus, die über den Kolonisatoren zusammenwächst, wie an nachstehenden Versen deutlich wird: Mit heiserer Kehle, tüchtig vollgesogen Mit einem letzten, kühlen Blick nach großen Sternen Entschliefen sie gen Mitternacht am Feuer. Sie schlafen schwer, doch mancher wußte morgens Daß er die Ochsen brüllen hörte. Erwacht gen Mittag, sind sie schon im Wald. Mit glasigen Augen, schweren Gliedern, heben Sie ächzend sich aufs Knie und stehen staunend
297 Vgl. Arnold, Martin: Franz Werfel. Des Dichters Welt und Weg zwischen Lyrik und Drama. Sein frühes Verhältnis zur Zeit. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz). https://books.google.at/books?id= Qas2ygrVtqAC&pg=PA216&lpg=PA216&dq=WErfel+Juarez+und+Maximiian&source=bl&ots =ivlfrAR-eW&sig=poxRt706diF-qnNc1WfEl_ZXUo&hl=de&sa=X&ved=oCDEQ6AEwAzgUah UKEwil3_KT7LXHAhVH1BoKHdjBCVw#v=onepage&q=WErfel&%20Juarez%20und%20Max imilian&f=false, (19. 09. 2019), S. 216 298 Brecht, Bertolt: »Von des Cortez Leuten«, in: Gesammelte Werke. Band 8. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1967
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Armdicke Äste, knorrig, um sie stehen Höher als mannshoch, sehr verwirrt, mit Blattwerk Und kleinen Blüten süßlichen Geruchs. […] Nach Stunden Arbeit pressen sie die Stirnen Schweißglänzend finster an die fremden Äste. Die Äste wuchsen und vermehrten langsam Das schreckliche Gewirr. Später, am Abend Der dunkler war, weil oben Blattwerk wuchs Sitzen sie schweigend, angstvoll und wie Affen In ihren Käfigen, von Hunger matt. Die Kolonisatoren kommen nicht gegen die Übermacht der mexikanischen Natur an, sie sind ihr ausgeliefert und fallen ihr, wie in den letzten Verszeilen verdeutlicht wird, letztendlich auch zum Opfer: Es war noch ziemlich hell, sie sahn sich noch. Erst gegen Morgen war das Zeug so dick. Daß sie nimmer sahen, bis sie starben. Den nächsten Tag stieg Singen aus dem Wald. Dumpf und verhallt. Sie sangen sich wohl zu. Nachts ward es stiller. Auch die Ochsen schwiegen. Gen Morgen war es, als ob die Tiere brüllten. Doch ziemlich weit weg. Später kamen Stunden Wo es ganz still war. Langsam fraß der Wald In leichtem Wind, bei guter Sonne, still Die Wiesen in den nächsten Wochen auf.299 Brecht wählt Mexiko als Ort der Handlung, da durch die übermächtige Natur, die in den Europäern ein Gefühl von Fremdheit auslöst, eine bedrohliche Grundstimmung entsteht. In anderen Gedichten Brechts aus den 1920er-Jahren ist dieser bedrohliche Raum die Großstadt. Die exotische Natur ist hier kein Kontrastraum zur Großstadt, kein Zufluchtsort vor der Zivilisation, sondern eher im Sinne der geläufigen Metapher Dschungel der Großstadt dem Kampf- und Sterberaum Großstadt ähnlich. Nichts, nicht einmal Gott, kann die Kolonialherren vor der bedrohlichen Natur retten. Der erste Vers, der einen Beginn am siebten Tag beschreibt, ist eine Anspielung auf die Genesis, in der man am siebten Tag ruhen sollte. In der neunten Stunde (Vers 9), wiederum eine Anspielung auf die Todesstunde Jesu, beginnen sie
299 Brecht: »Von des Cortez Leuten«, S. 222f.
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zu trinken. Das fremde Mexiko ist der Symbolraum des Unbekannten, Bedrohlichen, letztlich Tödlichen. Brecht bedient sich hier der exotischen Komponente des Landes, die seine Projektion erst ermöglicht. Der deutsche Schriftsteller B. Traven, über dessen Herkunft es vielfältige Spekulationen gibt, schwankt in seinen Werken zwischen Zivilisationskritik und Idealisierung der indigenen Kulturen. – Letzteres jedoch immer im Sinne seiner politischen Ideale und in der Tradition eines Anti-Exotismus. Mexiko diente Traven aber in jedem Fall als Projektionsfläche seiner sozialutopischen Ideen und Hoffnungen, die sich in seiner Heimat nicht umsetzen ließen. Hinter dem Synonym B. Traven verbirgt sich der deutsche Schauspieler und Regisseur Ret Marut, der in den späten 1920er-Jahren nach Mexiko emigrierte und dort auch 1969 starb.300 In seinen Werken Die Baumwollpflücker 301 und Die weiße Rose302 übt Traven deutliche Kritik an der imperialistischen Ausbeutung Mexikos und stilisiert es gleichzeitig als visionäres Paradies der Revolution. In Die Baumwollpflücker berichtet der Protagonist Gerard Gale über sein Leben als Tagelöhner. Er arbeitet unter anderem als Baumwollpflücker, Bäcker und Viehtreiber. Gleich zu Beginn des Buches steht der »Gesang der Baumwollpflücker«, der als Kernaussage des Buches gelesen werden kann.303 Die Baumwollpflücker sind sich – »angetrieben zum Trapp auf dem Feld« – des kapitalistischen Ausbeutersystems gewahr und »kreischen … brüllen … zittern« daher. Schließlich mündet ihre Erkenntnis in ein klares politisches Programm, wie der letzte Vers des Liedes verdeutlicht: Im Schritt, im Schritt! Es geht die Sonne auf. Füll in deinen Sack. Die Ernte dein! Die Waage schlag‹ in Scherben!304 Wie Recknagel schreibt, sei aus Travens Werk dessen Streben nach dem sogenannten Anarcho-Syndikalismus deutlich ablesbar, der erste Modellfall findet sich bereits in der Exposition: Gale arbeitet gemeinsam mit einigen Farbigen als Baumwollpflücker, erhält aber einen höheren Lohn, da er »weiß« ist. Eine Solidaritätsaktion bewirkt, dass der Plantagenbesitzer den »farbigen« Arbeitern zwei Centavos mehr bezahlt. In einer weiteren Episode, in der ein Gaststättenbesitzer dem leitenden Gewerkschaftsfunktionär die durch einen Streik erpresste Lohnerhöhung resignativ zugesteht, zeigt sich die für Travens Werk oft so typische Wunschwahrheit, da er in dieser Episode den Idealverlauf eines ökonomischen Kampfes darstellt. 300 301 302 303 304
Vgl. Recknagel, Rolf: B. Traven. Leipzig: Phillip Reclam jun. 19661 , S. 181 Traven, B.: Die Baumwollpflücker. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1962 Traven, B.: Die weiße Rose. Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg 1974 Traven: Die Baumwollpflücker, S. 181 Ibid. S. 6
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Traven betreibt in seinen Werken bewusst eine Überstilisierung gewisser Szenen, um den ArbeiterInnen bzw. den LeserInnen Siegesoptimismus zu vermitteln, der zum eigenen Handeln animieren soll. Die Ausbeutergesellschaft soll mit »wahrer Manie« entlarvt werden, dies geschieht meist in Form einer heftigen Anklage.305 Travens Entscheidung, Mexiko als Handlungskulisse für seine sozialromantische Anklage heranzuziehen, ergibt sich aus der Geschichte des Landes: Sowohl die Eroberung Mexikos durch die Europäer und die spätere Okkupation durch den selbst ernannten (Habsburger-)Kaiser Maximilian als auch das immerwährende spannungsgeladene Verhältnis zu den USA, das Mexiko nicht nur Territorien gekostet hat, sondern auch eine diffizile wirtschaftliche Abhängigkeit impliziert, ergeben Stoff für zivilisations- sowie sozialkritische Anklagen. Gepaart mit den visionären Konzepten der mexikanischen Revolution entsteht das stimmige Bild eines Landes, in das soziale Wunschträume und Ideale projiziert werden können. Die in Mexiko vorhandenen Naturräume wirken zudem romantisierend. Das Bild von Mexiko, das Traven in Die Baumwollpflücker entwirft, ist ein äußerst ursprüngliches. Gale ist zu Beginn des Romans auf der Suche nach einer unaussprechlichen Stadt mit Namen »Ixtil…«, die nur im »Busch« versteckt liegen kann, wie er selbst mutmaßt. Die einzigen Gebäude dieser Stadt sind »Indianerhütten«, die von Bananenstauden flankiert sind, welche reichlich Früchte spenden. Rund um das Dorf finden sich nur Felder, die mehr Mais und Bohnen liefern, als die BewohnerInnen ernten könnten.306 Neben dem romantischen Bild, das Traven vom »Busch«, wie er ihn nennt, zeichnet, wird dieser auch mit geheimnisvollen, unheilschwangeren Zügen versehen, die verdeutlichen, wie schwierig das Leben der ArbeiterInnen dort ist: Über uns die glühende Tropensonne zu beiden Seiten neben uns der undurchdringliche und undurchsichtige Busch. Der ewig jungfräuliche tropische Busch mit seiner unbeschreiblichen Mystik, mit seinen Geheimnissen an Tieren der phantastischen Art, mit seinen traumhaften Formen und Farben der Pflanzen, mit seinen unerforschten Schätzen an wertvollen Steinen und kostbaren Metallen.307 Travens Mexikobild ist sehr vielseitig und er beschreibt verschiedenste Aspekte des Arbeits- und Alltagslebens. Kritisieren könnte man dabei allerdings seine Perspektive, die zutiefst europäisch ist, da Traven die Repräsentation europäischer Klassenkämpfe auf die mexikanischen Verhältnisse überträgt. Seine Darstellungen sind durch seine anarchistische Ideologie geprägt, die in Europa wurzelt. SchmidtWelle macht jedoch auch auf die besondere Situation in Tampico aufmerksam, wo
305 Vgl. Recknagel: B. Traven, S. 183f. 306 Vgl. Traven: Die Baumwollpflücker, S. 10f. 307 Ibid. S. 15
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Traven seinen Roman spielen lässt. In der Zeit, in der er den Roman schrieb, hielten sich viele Angehörige der in den USA verfolgten Gewerkschaft Industrial Workers of the World in Tampico auf, die mit denselben anarchischen Ideen sympathisierten wie Traven. Dieser entwirft in seinem Roman die Idee eines Zusammenhalts der proletarischen Klassen, der über ethnische und nationale Grenzen hinausgeht. Innerhalb dieser Darstellung wird das positive Bild einer postrevolutionären Regierung hervorgehoben, die auf der Seite der ArbeiterInnen steht. Die Mexikaner werden in diesem Kontext als freiheitsliebendes und anarchisches Volk charakterisiert. Mexiko ist hier ganz klar Sozialutopie – der Sehnsuchtstraum eines europäischen Revolutionärs und Schriftstellers, der »seine in der Alten Welt gescheiterte Revolutionsutopie auf die mexikanische Revolution überträgt«308 . Die mexikanische Natur nimmt in Travens Beschreibung einen vermeintlich untergeordneten Charakter an. Sie hat jedoch eine wichtige Stützfunktion im Charakterbild der Sozialutopie. Durch den Protagonisten und die Worte, die Traven ihm in den Mund legt, wird die handlungstragende Funktion der Natur verdeutlicht. Den ArbeiterInnen bleibt keine Zeit zur Kontemplation der Natur, für sie gilt es lediglich, ein Auskommen mit ihr zu finden und im Einklang mit ihr zu leben. Anders als das durch die Zivilisation geprägte Individuum leben die Menschen in Mexiko nicht gegen die Natur, sondern in und mit ihr: Aber wir waren keine Forscher, und wir waren keine Gold- oder Diamantengräber. Wir waren Arbeiter und hatten mehr Wert auf den sicheren Arbeitslohn zu legen als auf den unsichtbaren Millionengewinn, der vielleicht links oder rechts von uns im Busch verborgen lag und auf den Entdecker warteten.309 Travens Schilderung impliziert auch Kritik an der ausbeuterischen westlichen Welt, die Mexiko lediglich als Gold- bzw. Ressourcenparadies sieht, das es zu nutzen und durch das es sich zu bereichern gilt. Die Bürde, die von der Natur Mexikos ausgeht, dient Traven immer wieder zur Darstellung der schwierigen Lebensbedingungen der ArbeiterInnen – gleichzeitig HandlungsträgerInnen der sozialutopischen Revolution: Der Weg durch den Busch war weite Strecken hindurch schon wieder zugewachsen. Der Nachwuchs der jungen Bäume reichte uns oft bis über die Schultern, und der Grund war mit Kaktusstauden so dicht bewachsen, daß diese stacheligen Pflanzen zuweilen beinahe die ganze Breite des Weges einnahmen. Meine Unterschenkel waren bald so zerschnitten, als wenn sie durch eine Hackmaschine gezogen worden wären.310
308 Vgl. Schmidt-Welle: Mexiko als Metapher, S. 170f. 309 Traven: Die Baumwollpflücker, S. 15 310 Ibid. S. 16
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Die Natur wird zum Gleichnis für den Kampf, den auch die proletarische Schicht – unter der Prämisse Zivilisation versus Ursprünglichkeit – ausficht: »Aber da singt der Busch die ganze Nacht, da schreit der Fasan seinen Todesschrei, wenn er gepackt wird, da heult der Cougar auf seinem Mordwege. Alles ist Blut, alles ist Kampf. Im Busch sind es die Zähne und die Krallen, bei uns sind es die Messer.«311 Auch Traven bedient sich der Metapher der Eisenbahn, die als Sinnbild der Zivilisation in den Naturraum eindringt und ihn deformiert. Durch sie wird die Landschaft einförmig, der Kontakt zu ihr wird unmöglich: »Der Zug sauste immer durch die gleiche Landschaft. Dschungel, Prärie, Busch.«312 Während Travens Stil grundsätzlich eher nüchtern gehalten ist, gestalten sich seine Naturbeschreibungen phasenweise doch poetisch. Trotz der programmatischen Ausrichtung seines Werkes und des konkreten politischen Ideals, das sich hinter der von ihm entworfenen Sozialutopie verbirgt, finden sich auch in seinen Naturbeschreibungen Sehnsuchtsvorstellungen einer noch unberührten Natur, die seiner Projektion dienlich sind: Klar wie nur der Nachthimmel in den Tropen sein kann, lag die schwarzblaue Wölbung über der singenden Prärie. Wie kleine goldne Sonnen standen die strahlenden Sterne in der satten Nacht. Und Sterne flogen umher, hunderte, tausende, als wären sie heruntergekommen vom hohen Dom der Welt, um Liebe zu suchen und Liebe zu spenden und dann wieder zurückzukehren in die stille, einsame Höhe, wo keine Brücke führt von dem einen zum anderen. Die Glühkäferchen waren das einzige sichtbare Leben hier unten. Aber das unsichtbare sang mir Milliarden Stimmen und Stimmchen, musizierte mit Geigen und Flöten und Harfen, mit Zimbeln und Glöckchen.313 Die Natur Mexikos schafft ein klares Gegenbild zur überzivilisierten Welt: Undankbar zu sein, ist eine Charaktereigenschaft der Menschen, mit der man sich abzufinden lernt, ohne sich deswegen zu kränken. Die Natur aber ist dankbar für jede Kleinigkeit, die man ihr erweist. Kein Tier und keine Pflanze vergißt den Trunk Wasser, den man ihr spendet, oder die Handvoll Futter oder die Mütze voll Dünger, die man ihnen gab.314 Auch die Tiere versinnbildlichen in Travens Beschreibungen den Kontrast zwischen Natur und Zivilisation. Sie sind Teil der Ursprünglichkeit, die in Mexiko mitunter noch zu finden ist:
311 312 313 314
Traven: Die Baumwollpflücker, S. 56 Ibid. S. 133 Ibid. S. 154 Ibid. S. 146
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Oh, was für einen schöneren Anblick gibt es als so eine Rinderherde gesunder halbwilder Rinder! Dort vor einem trampt und stampft sie, die breiten Nacken, die runden Leiber, die mächtigen stolzen Hörner. Das ist ein wogendes Meer voll unsagbarer Schönheit, gigantische Stärke lebendiger Natur gebändigt unter einem Willen. […] Die Tiere brüllten ab und zu oder zankten sich und stießen sich. Es wurde geschrien und gerufen. Die Glocken läuteten. Die Sonne lachte und glühte. Alles war grün, das Land des ewigen Sommers. O du schönes, o du wunderschönes, uraltes, sagen- und liederreiches Mexiko! Deinesgleichen gibt es nicht auf der Erde. Ich mußte singen. Und ich sang, was immer mir einfiel, Choräle und süße Volkslieder, Liebeslieder und Gassenhauer, Opernarien, Sauflieder und Hurenlieder. Was kümmerte mich der Inhalt der Lieder? Was ging mich die Melodie der Lieder an? Ich sang aus froher, freier Herzensfreude. Und welch eine Zauberluft! Der heiße Odem des tropischen Busches, die warme, schwüle Ausdünstung dieser Masse von wandernden Rindern, die schweren Wellen eines fernen Sumpfes, die vom Winde getragen herüberwogten. Dicke Schwärme summender Beißfliegen und anderer Insekten kreisten über der trottenden Herde, und dicke Schwaden schillernder grüner Fliegen folgten uns nach, um sofort über den Dünger herzufallen. In ganzen Völkern begleiteten uns Schwarzvögel, die sich auf die Rücken der Tiere niedersetzen, um die Zecken aus der Haut zu picken. Millionen von Lebewesen fanden ihre Nahrung durch diese gewaltige Herde. Leben und Leben und überall nichts als Leben.315 Traven erhebt die Tierwelt zur Parabel der zwei gegensätzlichen Daseinsformen. Der Protagonist, der als Gelegenheitsarbeiter durch Mexiko trampt, beschreibt die Rinderherde, die er hüten muss, sowie die Natur, die ihn umgibt und die es vermag, ihn immer wieder vollkommen einzunehmen. Das beschriebene »Heer« wird hier zur Allegorie für den Zusammenschluss von Menschen, die im Einklang mit der Natur leben. Die Beschreibung impliziert zudem eine Kritik an der westlichen Welt, die die Natur zerstört, um sich an ihr zu bereichern: Mein Heer! Mein stolzes Heer, das ich über Flüsse führte und über Felsengebirge, das ich beschützte und behütete, dem ich Nahrung brachte und erfrischendes Wasser, dessen Streitigkeiten ich schlichtete und dessen Krankheiten ich heilte und das ich Abend um Abend in den Schlaf sang, um das ich mich sorgte und härmte, um das ich zitterte und das meinen Schlaf beunruhigte, um das ich weinte, wenn eines mir verlorenging, und das ich liebte und liebte, ach, so sehr liebte, als wäre es mein Fleisch und Blut! O du, der du ein Kriegerheer über die Alpen führtest, um in friedliche Länder Mord und Brand zu tragen, was weißt du von der vollkommenen Glückseligkeit, ein Heerführer zu sein!316 315 316
Traven: Die Baumwollpflücker, S. 143f. Ibid. S. 154
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Entsprechend der zu konstruierenden Sozialutopie steht bei Traven nicht nur die Natur, sondern vor allem auch das Leben der mexikanischen ArbeiterInnen im Zentrum seiner Beschreibungen. Traven stilisiert es als Kontrapunkt zur überzivilisierten und kapitalistischen Gesellschaft. In seinem Roman Die weiße Rose schildert Traven, wie diese zwei Welten hart aufeinanderprallen. Beschrieben wird die Hazienda Weiße Rose, die als geschlossene Welt – als Ort der Utopie – gelten kann. Der Patron Hacinto, selbst »Indianer«, ist nicht so sehr Herr über die Hazienda, sondern vielmehr Versorger der Witwen und Waisen. Er kümmert sich in väterlicher Manier um seine ArbeiterInnen und würde sich niemals an ihnen bereichern. Die Hazienda ist schon seit präkolumbianischen Zeiten in Familienbesitz. Der Patron sieht sich als Bruder seiner ArbeiterInnen, er kleidet sich wie sie, isst das, was sie essen, und stellt sich nicht auf eine höhere Stufe als seine Comadres317 und Comprades.318 Auf der anderen Seite steht die kapitalistische Zivilisation, die hier anhand einer nordamerikanischen Ölfirma versinnbildlicht wird, die die Hazienda kaufen möchte, da auf dem Fleck Erde der Weißen Rose einige Ölquellen liegen. Don Hacinto ist nicht bereit, die Hacienda zu verkaufen. Er ist zwar ihr Eigentümer, seiner Überzeugung nach jedoch nicht berechtigt, sie zu verkaufen, da er Verantwortung für seine ArbeiterInnen und deren Nachkommen hat, wie er in einem Gespräch mit dem nordamerikanischen Ölmagnaten Mr. Collins erklärt. Don Hacinto widerstrebt jegliche Art kapitalistischen Denkens. Geld und Macht haben keinerlei Bedeutung für ihn. So betont er etwa in einem Gespräch mit Mr. Collins, dass man Land nicht einfach gegen Geld umtauschen könne, da nur das Land als solches ewig sei.319 Sein stoisches und geduldiges Wesen entspricht dem Typus des edlen Wilden, der bereits von Kolumbus geprägt wurde. Traven führt in seinen Werken das positive Stereotyp der indigenen Bevölkerung fort. Die indigene Bevölkerung ist geduldig, langsam und bedacht und somit ein leichter Fang für die ausbeuterische westliche Zivilisation – hier am Beispiel der US-Amerikaner versinnbildlicht. Traven plädiert in seinen früheren Werken immer für die Rückkehr in die primitive Naturalwirtschaft. In den hier angeführten Werken und vor allem auch in seinem bereits behandelten Reisebericht Land des Frühlings strebt er nun hin zu einem politischen Kampf des mexikanischen Proletariats, einer Überwindung der korrupten Welt und einem endgültigen Bekenntnis zur Industrialisierung.320 Die romantische Welt der Hazienda wird zu Anfang des Romans detailreich geschildert, nicht zuletzt deswegen, da sie als Gegenpol zur verruchten, kapitalisspan. Bezeichnung, vor allem der sozialistischen Bewegung, dt. Gevatterin/Gevatter; auch Patin/Pate 318 Vgl. Traven: Die weiße Rose, S. 13 319 Vgl. ibid. S. 188f. 320 Vgl. ibid. S. 189
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tischen Welt des Mr. Collins fungiert, der als brutal und skrupellos charakterisiert wird. Traven verweist jedoch auch darauf, dass Mr. Collins im Grunde kein böser Mensch ist, er folgt nicht seinem freien Willen. Vielmehr sei er ein Produkt einer Welt, die er nicht selbst erschaffen habe. Er sei nichts weiter als ein Mensch seiner Zeit und dadurch eine Marionette des Kapitalismus.321 Hier wird Travens Kampfposition ersichtlich: Angeklagter ist für ihn der Monopolkapitalismus bzw. die Zeit im Allgemeinen, der die unentwegte Jagd nach Kapital und Macht eigen ist.322 Die Beschreibung der BewohnerInnen der Hazienda ist stark romantisierend und entspricht dem stereotypen Bild der sogenannten »Indianerinnen«: Weit hinter den Hütten sah er Indianerfrauen den Hügel heraufkommen mit den Krügen auf dem Kopfe, in denen sie das Wasser vom Flusse zu ihren Heimen trugen. Die Frauen gingen barfuß. Das schwarze Haar lang offen hängend. Sie hatten es am Flusse gewaschen. Sie trugen lange rot und grün gestreifte Röcke um die schlanken Lenden gewickelt und weiße Blusen mit kurzen Ärmeln und roten Stickereien auf der Brust.323 Hacinto versucht sein Möglichstes, um die Hazienda und die Menschen, die auf und von ihr leben, zu retten – jedoch ohne Erfolg. Er stirbt und die Hazienda wird dem Erdboden gleichgemacht. Davor hat er auf seiner Veranda eine Vision davon. Er sieht eine düstere Zukunft vor sich, in der das einstige Naturparadies durch die Zivilisation zerstört wird: Wo einst Orangen- und Zitronenbäumchen standen, wo einst sich die Kronen der Papayabäume in der flirrenden Luft wiegten, um ihre reifenden Früchte in der Sonne zu baden, wo einst die grünen Maisfelder waren und wo sich die Stauden im Reifen der goldenen Kolben ihre ewigen Märchen zuwisperten, da stöhnten und ratterten jetzt fauchende Lastautos mit stählernen Raupenbändern mitleidlos über die gequälte Erde, die sich hier aufbäumte in Schmerz, und die sich dort in Zorn knirschend zwischen die stählernen Bänder drängte, um deren brutale Macht zu zerbrechen.324 Nachdem sich Mexiko – nicht zuletzt durch Travens Werke – nicht nur als Paradies und Hort des Abenteuers, sondern auch als sozialutopischer Sehnsuchtsort etablierte, sind es vor allem die historischen und politischen Gegebenheiten rund um den Zweiten Weltkrieg, die eine Weiterentwicklung des literarischen Mexikobildes in Richtung Sozialutopie favorisieren. Der Zweite Weltkrieg sowie die Positionierung Mexikos im historischen Weltgeschehen bedeuten einen Bruch – sowohl his-
321 322 323 324
Traven: Die weiße Rose, S. 13 Vgl. Recknagel: B. Traven, S. 189 Traven: Die weiße Rose, S. 34 Ibid. S. 35f.
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
torisch als auch literarisch. Mexiko wird dank seiner Exilpolitik erstmals ein realer Fluchtort für viele Europäer. Trotzdem bleibt die Perspektive eurozentristisch – die Geliebte kann auch politisch kokettieren.
5.8
Ein Zwischenspiel oder die Vertreibung ins Paradies: Mexiko als Exilnation
5.8.1
Exil im Wunderland: Nun lerne ich meine Geliebte kennen?
Im Unterschied zu Forschungsreisenden und ReiseschriftstellerInnen haben ExilschriftstellerInnen aufgrund ihrer speziellen Lebenssituation die Möglichkeit, das fremde Land aus unmittelbarer Nähe und über einen längeren Zeitraum kennenzulernen. Sie sind dadurch also viel eher in der Lage, ein authentisches Bild des fremden Landes zu zeichnen. Ihr Aufenthalt dort ist aber nicht freiwillig. Das Exilland kann in den seltensten Fällen unvermittelt als neue Heimat angenommen werden. Oft entwickelt sich gerade aus der Entfernung eine besondere Liebe zur verlorenen Heimat, der Blick bleibt weiterhin auf sie gerichtet. Viele der in den 1930er-Jahren aus Deutschland vertriebenen Kunstschaffenden engagierten sich politisch. Ihr Interesse an den Vorkommnissen in der Heimat war folglich auch politisch motiviert, ihre literarische Produktion entsprechend gefärbt. Die Beziehung zur neuen Heimat bestimmt neben dem Blick zurück den motivischen Schwerpunkt der literarischen Produktion sowie dessen ideologische Ausrichtung. Dementsprechend vielseitig gestaltet sich das Bild des Asyllandes – es changiert zwischen radikaler Ablehnung und glühender Bewunderung. Neben der politischen Gesinnung tragen verschiedenste Faktoren zur Haltung der ExilantInnen gegenüber dem Asylland und in weiterer Folge zum Bild bei, das sie in ihren Werken vermitteln – Vorbildung, Beherrschung der fremden Sprache und sozialer Status seien hier lediglich exemplarisch erwähnt. Die Wahrnehmung der ExilschriftstellerInnen unterscheidet sich wesentlich von der eines reisenden Schriftstellers, der in fremden Ländern bewusst nach Exotik sucht. Was ExilschriftstellerInnen hingegen im Gastland suchten, war die Möglichkeit weiterzuleben, wie Gustav Regler in der Einleitung zu seinem Werk Verwunschenes Land Mexiko betont: Wir suchten ein anderes Vergessen, als es Goethe, Dürer, Shelley, Keats und Byron im Süden gesucht hatten. […] Und nun waren schon Palmbäume gegen den Horizont zu sehen, und Kakteen säumten die Schienen. Wir sahen nicht das tragisch durstige Verlassensein der bizarren Pflanzen, wir bewunderten nur ihre Seltsamkeit; wir waren im Wunderland angekommen, alles verwandelte sich in einen Schutz, selbst die Zollgrenze, die wir mit unserer wenigen Habe leicht passiert
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hatten. Das Exil, so fern den Bomben und den Winterbaracken, umschloß uns brüderlich.325
5.8.2
Mexiko als (europäisches) Exilparadies: Die Hintergründe
In vielen europäischen literarischen Werken fungiert Mexiko als Projektionsfläche, in die eskapistische Ideen und exotische Sehnsüchte übertragen werden können. 1938 wird aus dem Sehnsuchtsort Mexiko ein realer Fluchtort. Mexiko wird durch seine ideologische Haltung und sein politisches Engagement vor allen anderen lateinamerikanischen Ländern zum tatsächlich rettenden Paradies für Tausende Europäer, die aufgrund der politischen Umbrüche in Europa ihre Heimatländer verlassen mussten. Über die Rolle Mexikos während des Zweiten Weltkrieges, über die verschiedenen intellektuellen Strömungen der Exilbewegung und über die unterschiedlichen geschichtlichen Begebenheiten gibt es viel zu sagen. Dieses Kapitel stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll lediglich einen Überblick über die mexikanische Exilpolitik und die Aktivitäten deutschsprachiger SchriftstellerInnen im mexikanischen Exil geben. Der Exkurs über die historischen Umstände sowie die Gegebenheiten vor Ort dient vor allem dazu, ein Verständnis für die Situation der Schreibenden im Exil zu schaffen. Laut Christan Kloyber und Marcus G. Patka326 gab es schon in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg spezielle Verbindungen zwischen Mexiko und Österreich. Kernpunkt dieses wechselseitigen Interesses waren politische Ideologien. In sozialistischen Kreisen in Österreich wurde man 1935 auf das ferne Mexiko aufmerksam. Friedrich Katz, Historiker und Sohn von Leo Katz, schildert in einer Anekdote, die ihm, so Katz, Bruno Kreisky selbst erzählt habe, dass im Jahre 1935 ein Film über Francisco Villa, den bekanntesten Helden der mexikanischen Revolution, im Wiener Kreuz-Kino gelaufen sei. Die damals verbotene SPÖ habe sich im Kino getroffen, und als der Held der mexikanischen Revolution auf der Leinwand erschienen sei, hätten die Wiener Sozialisten Parolen wie »¡Viva Villa!«, »¡Viva la Revolución!« und »Es lebe die Demokratie! Legalisierung der SPÖ!« geschrien. Es sei demnach schon damals ein virtuelles Exil in einem Wiener Kino entstanden.327 Auch Österreich wurde vom politisch linken Mexiko bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wahrgenommen. Aufmerksam und interessiert beobachtete man das sogenannte Rote Wien und seine AkteurInnen. So galt beispielsweise der Politiker und Theoretiker Otto Bauer auch in Mexiko jahrelang als Vorbild. Einen wichtigen Part
325 Regler, Gustav: Verwunschenes Land Mexiko. München: Paul List Verlag 1954, S. 10 326 Vgl. Kloyber, Christian; Patka, Marcus: Österreicher im Exil. Mexiko 1938 – 1947. Wien: Verlag Deuticke 2002 327 Kloyber; Patka: Österreicher im Exil, S. 15f.
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in der Entwicklung der österreichisch-mexikanischen Beziehungen nahm der damals amtierende mexikanische Bildungsminister José Vasconcelos ein, der die bedeutendste Bildungsreform in der Geschichte Mexikos initiierte. Er war es auch, der 1921 das mexikanische Unterrichtsministerium gründete und zum ersten Mal gratis Schulbücher ausgab. Vasconcelos bereiste während seiner Exilzeit in Europa unter anderem auch Österreich und berichtete daraufhin begeistert von den Aktivitäten des Roten Wiens. Schon ab 1935 bekamen viele Österreicher die Möglichkeit, am mexikanischen Unterrichtsministerium anstellig zu werden und ihren Beitrag zur mexikanischen Bildungsreform zu leisten.328 1934 wurde der General Lázaro Cárdenas mexikanischer Präsident und setzte in seiner sechsjährigen Regierungsperiode verschiedenste Reformen um. Unter anderem konzentrierte sich Cárdenas auf die Weiterführung und Verstärkung der bereits initiierten Bildungsreform, für die er sich internationale ExpertInnen zu Hilfe holte. All diese innenpolitischen Veränderungen legten die Basis für den späteren Exilstrom von Kulturschaffenden und Intellektuellen aus ganz Europa. Cárdenas, der eine konsequente Politik der Verstaatlichung betrieb, manövrierte Mexiko zwar einerseits in eine schwere wirtschaftliche Krise, andererseits stabilisierte sich erstmals die innenpolitische Situation des Landes nach der Revolution 1910. Laut Kießling erlebte Mexiko zwischen 1934 und 1940 die zweite Vollzugsphase der bürgerlichen Revolution, da die erste Revolution zwischen 1910 und 1917 unvollendet geblieben war. Während die erste Revolution vor allem die Rechte des Bürgertums und in geringerem Maße auch die der ArbeiterInnen und Bäuerinnen bzw. Bauern zum Gegenstand gehabt hatte, richtete sich die zweite Revolution vor allem gegen die Einflussnahme der USA und Englands.329 Der Kampf Mexikos war ein beinah exemplarischer Kampf gegen ausländische Konzerne, die die eigene Wirtschaft kontrollierten.330 Viele Länder brachen als Reaktion auf die Verstaatlichung der Betriebe die diplomatischen Beziehungen zu Mexiko ab. Die USA verhängten sogar ein Handelsembargo. Die Restriktionen veranlassten Mexiko dazu, mit Hitlerdeutschland in Wirtschaftsverhandlungen zu treten. Trotzdem gab Mexiko seine antifaschistische Grundhaltung niemals auf.331 Mexiko blieb zunächst neutral und trat erst im Mai 1942 in den Krieg ein, nachdem Japan im Dezember 1941 Pearl Harbor überfallen hatte, die USA daraufhin in den Krieg eintraten und zwei mexikanische Fracht- bzw. Tankschiffe332 von einem
328 329 330 331 332
Kloyber; Patka: Österreicher im Exil, S. 16 Vgl. Kießling, Wolfgang: Exil in Lateinamerika. Leipzig: Philipp Reclam Verlag 19842 , S. 153f. Primär ging es um das Monopol des mexikanischen Erdöls. Vgl. Kießling: Exil in Lateinamerika, S. 157 Der Faja de Oro und der Potro del Llano.Vgl. Kloyber, Patka: Österreicher im Exil, S. 18
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deutschen U-Boot versenkt worden waren.333 Mexiko stellte aber keine eigene Armee auf, sondern es wurden ca. 15 000 Mexikaner für die US-Armee rekrutiert. Die großzügigen Asylangebote und die große politische Bewegungsfreiheit, die die Exilierten in Mexiko genossen, begünstigten laut Fritz Pohle Tendenzen zu einer Verklärung des Phänomens »Asyl in Mexiko«.334 Wie eine von Pohle abgedruckte Statistik zeigt, nahm Mexiko die mit Abstand größte Zahl an spanischen Flüchtlingen vor dem Franco-Regime auf, wobei die Anzahl der nicht-spanischen Flüchtlinge im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern relativ gering war.335 Mexiko verhielt sich anfänglich gegenüber Exilsuchenden mit nicht-spanischer Nationalität eher zurückhaltend, was großteils innenpolitische Gründe hatte. Die Einwanderung von Europäern nicht-spanischer Herkunft gestaltete sich schwieriger, da nach den mexikanischen Richtlinien zur Bevölkerungsentwicklung der mestizische und hispanische Teil der Bevölkerung gestärkt werden sollte und demnach nur begrenzt andere Ethnien aufgenommen werden konnten. Cárdenas war von Anfang an bestrebt, KämpferInnen der Internationalen Brigaden unterzubringen, scheiterte aber an innenpolitischen Widerständen. Besonders die mexikanische Rechte protestierte gegen diesen Vorschlag und es kam zu Straßenschlachten und Auseinandersetzungen, sodass Cárdenas einlenken und sein Asylangebot zurückziehen musste. Wie Pohle betont, verdeutlicht gerade dieses Ereignis die große Bereitschaft, auch europäischen AntifaschistInnen nicht-spanischer Herkunft Asyl zu gewähren.336 Die Endphase von Cárdenas’ Regierung war generell moderater, da ein Konsens mit den konservativen VertreterInnen der mexikanischen Politik angestrebt wurde. Cárdenas’ Nachfolger Àvila Camacho übernahm Cárdenas’ Art der Regierungsführung. Aufgrund der innenpolitischen Spannungen wurde bei der Erteilung der Einreisegenehmigungen und Visa für europäische AntifaschistInnen prinzipiell Publizität vermieden. Auch KämpferInnen der Internationalen Brigaden konnten trotz der Aufstände 1939 einreisen, jedoch weniger als ursprünglich geplant.337 Es setzte sich eine sogenannte Sprachregelung durch, die besagte, dass vor allem 333
Wie Patka anführt, wird in der modernen mexikanischen Historiographie angenommen, dass die Torpedos von US-amerikanischen U-Booten abgefeuert worden seien, um Mexikos Kriegsbereitschaft zu forcieren. Vgl. Patka, Marcus G.: Zu nahe der Sonne. Deutsche Schriftsteller im Exil in Mexico. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1999, S. 17 334 Vgl. Pohle Fritz: Das mexikanische Exil. Ein Beitrag zur Geschichte der politisch-kulturellen Emigration aus Deutschland (1937 – 1946). Stuttgart: Metzler Verlag 1986, S. 4 335 Mexiko nahm 15 000 Spanier auf, während in Chile nur 5000 und in Argentinien nur 500 aufgenommen wurden. Im Gegensatz dazu kamen ab 1933 35 000 nicht-spanische Flüchtlinge nach Argentinien. Brasilien nahm 16 000 und Chile 13 000 nicht-spanische Flüchtlinge auf, während nur 1200 Nicht-Spanier nach Mexiko kamen. Vgl. Pohle: Das mexikanische Exil, S. 4 336 Ibid. S. 10 337 Cárdenas sprach anfänglich von 1200 oder 1500 Personen. Vgl. Pohle: Das mexikanische Exil, S. 10
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europäische KommunistInnen, die in Mexiko Asyl erhielten, nicht unter diesem Titel ins Land kommen sollten. Sie liefen ganz allgemein als Antinazi-Kämpfer. Eine besondere Rolle in der praktizierten Sprachregelung nahm die Kategorisierung »Schriftsteller« ein, da die Vorgabe, der Kultur selbst Asyl zu gewähren, auch für die bürgerlich-konservative Seite kaum anfechtbar war.338 Daher wurden viele KommunistInnen als SchriftstellerInnen in Mexiko aufgenommen, unter anderem KPD-Leitungsfunktionäre wie Franz Dahlem, Gerhart Eisler und Paul Merker. Es gab mehrere Phasen, in denen die Aufnahmekriterien für europäische bzw. nichtspanische Flüchtlinge aufgrund innenpolitischer Veränderungen unterschiedlich streng gehandhabt wurden. Im Jahr der französischen Kapitulation 1940 befanden sich noch ca. 100 000 spanische Flüchtlinge in Frankreich, denen aufgrund der Kapitulation Frankreichs die Auslieferung drohte. Cárdenas war bestrebt, diese Menschen zu retten, und schloss mit der französischen Regierung und in Übereinkunft mit den Regierungen Deutschlands und Italiens die Vereinbarung, dass Mexiko alle sich noch in Frankreich befindenden Spanier aufnehmen und ihnen Asyl gewähren würde. Mexiko verpflichtete sich des Weiteren dazu, auch finanziell für sie aufzukommen, solange sie sich noch in Frankreich befanden, sodass Frankreich keine zusätzlichen Kosten erwachsen würden. Viele der Flüchtlinge wurden in den von Mexiko eigens dazu erworbenen Schlössern Château La Reynarde und Château Montgard untergebracht und versorgt, wobei von Anfang an auch deutsche, italienische und andere AntifaschistInnen in die mexikanischen Hilfsmaßnahmen mit einbezogen wurden. Das Abkommen Mexiko-Vichy ist keinesfalls quantitativ zu bewerten, da die Leistung Cárdenas und seiner Regierung darin bestand, mit diesem Abkommen eine rechtlich einwandfreie Grundlage geschaffen zu haben, die die Massenauslieferung von Tausenden Menschen verhindern konnte.339 Das Abkommen bedeutete einen Zeitgewinn, der für diverse Hilfsleistungen genutzt werden konnte. In der behördlichen Übereinkunft zwischen Mexiko und den Vichy-Behörden fand sich, im Gegensatz zu der für die mexikanische Öffentlichkeit formulierten Regierungsmitteilung, keine explizite Beschränkung auf gebürtige Spanier. Cárdenas instruierte die mexikanischen Konsulatsbehörden in Frankreich von Anfang an, sich auch für nicht-spanische Flüchtige einzusetzen. Somit konnten viele europäische Flüchtlinge Frankreich als deklarierte Spanier legal verlassen.340 Schon vor dem Kriegsausbruch bezog Mexiko klar Position und setzte erste Zeichen in seiner Außenpolitik. Bereits 1935 verhängte es wegen des militärischen Einmarsches in Abessinien Sanktionen über Italien. 1936 erlaubte Cárdenas den Ankauf von Waffen für den Kampf gegen die Franco-Diktatur. 1937 brachte Isidro
338 Vgl. Pohle: Das mexikanische Exil, S. 11 339 Vgl. ibid. S. 14 340 Vgl. ibid. S. 14
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Fabela, der damals amtierende mexikanische Delegierte vor dem Völkerbund, eine diplomatische Note ein, in der Mexiko forderte, dass der Völkerbund seine Mitgliedsländer vor politischen und militärischen Angriffen in Schutz nehmen sollte. Wichtigstes politisches Zeugnis der antifaschistischen Haltung Mexikos war die Protestnote, die Mexiko am 19. März 1938 gegen die Okkupation Österreichs durch Hitler-Deutschland beim Völkerbund einbrachte. Mexiko war das erste Land341 , das eine Protestnote gegen den so titulierten »politischen Tod Österreichs« bzw. seinen Anschluss an Hitlerdeutschland beim Völkerbund einbrachte.342 Die mexikanische Protestnote war laut Kloyber und Patka auch Spiegel der damaligen mexikanischen Außenpolitik, der Präsident Cardénas eine neue Richtung gab. Bewusst richtete er sich also gegen das in allen amerikanischen Ländern vorherrschende Prinzip der Nichteinmischung in außeramerikanische Konflikte.343 Cardénas ging es hierbei zweifelsohne auch um eine neue politische Positionierung Mexikos als unabhängiger Staat und um eine Überwindung der Bevormundung durch die USA.344 Mexiko nahm seine Rolle als Asylnation sehr ernst und betrachtete das Asylrecht als eine Solidaritätsverpflichtung, die den Asylsuchenden die gleichen in der Verfassung verankerten Grund- und Menschenrechte gewährte wie den Mexikanern selbst.345 Trotz großer Bemühungen war es aber nicht möglich, alle Exilsuchenden tatsächlich nach Mexiko zu befördern. Auch daher waren die beiden bereits erwähnten in Marseille erworbenen Anwesen, das Château La Reynarde und das Château Montgard, taktisch von großer Bedeutung. Obgleich die mexikanische Gesandtschaft in Frankreich viele Menschen vor einer Auslieferung retten konnte, kam für manche die Hilfe zu spät, wie etwa für den Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß, der sein mexikanisches Visum nicht rechtzeitig erhielt und beim Einmarsch der deutschen Truppen in Paris Selbstmord beging. Die tragische Figur diente der Schriftstellerin Anna Seghers in ihrem Roman Transit als Vorbild für die Romanfigur des Schriftstellers Weidel. Von großer strategischer Relevanz war das mexikanische Konsulat in Marseille. Seine Bedeutsamkeit wird auch in diversen literarischen Werken sowie Interviews, 341 342 343 344
345
Mit zeitlicher Verzögerung folgten andere lateinamerikanische Länder und die Sowjetunion dem Beispiel Mexikos. Vgl. Kloyber; Patka: Österreicher im Exil, S. 19 Vgl. ibid. S. 32 Im Jahre 1923 wurde von den USA die sogenannte Monroe-Doktrin beschlossen, ein Grundsatz, der besagt, dass sich Europa nicht mehr in panamerikanische Angelegenheiten einmischen dürfe und sich die USA bzw. Amerika aus europäischen Angelegenheiten zurückziehen würde(n). Die USA benutzten diese Doktrin auch als Legitimation, um den lateinamerikanischen Subkontinent ständig zu überwachen und sich ungehindert einmischen zu können. Vgl. Mayer, David; Kaller-Dietrich, Martina: »Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert. Ein historischer Überblick«, www.lateinamerika-studien.at/content/geschichtepolitik/geschichte/geschichte-25.html (22.11.2019) Vgl. Kießling: Exil in Lateinamerika, S. 162
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Briefen und Tagebucheinträgen betont. Der mexikanische Generalkonsul Gilberto Bosques, eine zentrale Persönlichkeit der mexikanischen Exilpolitik, vergab viele Einreisevisa an europäische Hilfesuchende. In manchen Fällen diente die Einreisegenehmigung vor allem dazu, Zeit zu gewinnen und der Internierung bzw. der Auslieferung zu entkommen. Intellektuelle wie Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und Alfred Döblin zogen es z.B. trotz mexikanischen Visums vor, in die USA zu flüchten. Bosques setzte sich oftmals über die Vorgaben der mexikanischen Regierung hinweg und erteilte bereits vor der offiziellen Bestätigung des Innenministeriums Einreisegenehmigungen. Er und seine MitarbeiterInnen betrieben laut Pohle eine selbstständige und initiativreiche Politik der antifaschistischen Flüchtlingshilfe. Als ehemaliger Funktionär der mexikanischen Regierungspartei war ihm der Kampf gegen den Faschismus und die Unterstützung der antifaschistischen Flüchtlinge ein persönliches Anliegen.346 Bosques zögerte seine eigene Abreise so lange hinaus, bis er selbst von der deutschen Besatzung gefangen genommen und 1942 in Bad Godesberg interniert wurde. Er kehrte erst 1944 nach Mexiko zurück, wo ihm die europäischen Flüchtlinge einen überschwänglichen Empfang bereiteten.347 Die Zeitzeugin Trude Kurz beschreibt Bosques in einem Interview: Der Unterschied war halt, dass der mexikanische Gesandte in Marseille ein fantastischer Kerl war, der alles getan hat, um den Leuten zu helfen, damit sie heraus kommen und nicht verhaftet werden. Er hat dann allen seinen Kollegen eingeredet, sie bräuchten Bedienstete –, das waren vor allem Spanier, die man so vor der Verhaftung gerettet hat. Die wurden einfach von den Angehörigen der mexikanischen Gesandtschaft als Hausmeister und Gärtner eingeschrieben. Jeder hatte ich weiß nicht wie viele Dienstboten, die dadurch vor der Verhaftung geschützt waren. […] Und wenn natürlich ein Visum gekommen ist, hat er das sofort bekannt gemacht. Wenn der Mann oder die Frau in einem Lager war, hat er einen Brief geschrieben, dass sie oder er sofort nach Marseille kommen müsse. Das war auch in meinem Fall so. Ich hatte ja keine Ahnung von diesem mexikanischen Visum. Da kam der Brief von diesem mexikanischen Gesandten, und ich war gerade verhaftet, ich habe ihm aus dem Lager geantwortet, und er hat sofort geschrieben, ich solle dringend nach Marseille kommen. Er hat versucht, jedem zu helfen, wo er konnte. Er war ein fantastischer Kerl.348 Bosques’ Einsatz rettete Tausenden Menschen das Leben. Heute geht man sogar davon aus, dass Bosques, als sich die politische Situation in Europa zusehends ver-
346 Vgl. Pohle: Das mexikanische Exil, S. 16 347 Vgl. ibid. S. 16 348 Kloyber; Patka: Österreicher im Exil, S. 174
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schlechterte, auch Briefe mit Visazusicherungen an Inhaftierte schickte, um deren Freilassung zu erwirken, ohne dass ein Visum in Marseille auf sie wartete.
5.8.3
Kulturelles und politisches Engagement im mexikanischen Exil – eine Zusammenschau
Auch wenn zahlenmäßig mehr europäische Flüchtlinge in Südamerika, vor allem in Argentinien und Brasilien, Zuflucht fanden, war Mexiko aufgrund der bereits genannten politischen Bedingungen gerade für europäische KünstlerInnen interessant, da die mexikanische Regierung sie auch in ihrem politischen und kulturellen Engagement unterstützte. Mexiko wurde zu einem der wichtigsten Zentren für exilierte Kulturschaffende deutscher Sprache. Es entstanden zahlreiche politisch und kulturell orientierte Organisationen. Die erste 1938 in Mexiko gegründete Exilorganisation war die Liga pro cultura alemana. Sie war links orientiert, aber nicht explizit kommunistisch. Ihre Hauptaufgabe war es, über aktuelle Begebenheiten in Deutschland zu informieren und Vorträge zur deutschen Literatur und Kultur zu organisieren. Nach Kriegsbeginn stagnierten die kulturellen Aktivitäten und die LPCA engagierte sich zunehmend politisch, vor allem in der Flüchtlingshilfe. Auch innerhalb der Liga kam es vermehrt zu Spannungen. Die Gründung anderer deutscher Organisationen schwächte die LCPA immer mehr, bis sie von der KPD ausgeschaltet wurde. Im Jänner 1942 wurde die Bewegung Freies Deutschland mit Ludwig Renn an der Spitze gegründet. Die BFD wurde zum wichtigsten Sprachrohr der antifaschistischen Bewegung in Mexiko und Lateinamerika. Renn versicherte, dass es sich bei der BFD um eine »Vereinigung aller deutscher HitlergegnerInnen ohne Unterschied der politischen und religiösen Herkunft« handelte.349 Einen wesentlichen Anteil an der Wirkung hatte die Zeitschrift Alemania libre – Freies Deutschland, da sie zu den bedeutendsten Periodika des deutschen Exils zählte.350 Die Zeitschrift bot die einzigartige Möglichkeit, eine breitere Wirkung im Kampf gegen den Faschismus zu erzielen und auch Leute außerhalb Mexikos zu erreichen. Geplant war ein Journal, das alle deutschen Exilierten ansprechen sollte. Die im Exilland Mexiko lebenden SchriftstellerInnen schrieben regelmäßig für die Zeitschrift; einige andere wie Heinrich Mann, Thomas Mann, Bruno Frank, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf und Mascha Kaléko schickten Beiträge aus den USA. Ab 1938 trafen auch immer mehr Österreicher in Mexiko ein, jedoch erst Ende 1941 wurde die österreichische Exilorganisation Acción Republicana Austríaca de México gegründet. Die wichtigsten Persönlichkeiten waren die Journalisten Bruno Frei und Leo Katz, der Funktionär Josef Forscht und der Komponist Marcel Rubin. Die ARAM war die 349 Vgl. Kießling: Exil in Lateinamerika, S. 310 350 Vgl. ibid. S. 316
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größte österreichische Exilvereinigung und hatte einen überparteilichen Charakter. Sie verfügte ebenfalls über ein eigenes Publikationsorgan – die Austria libre. Diese wurde zum österreichischen Pendant der Alemania libre. Da ab 1941 immer mehr Kulturschaffende aus verschiedensten Bereichen, viele von ihnen parteilos, nach Mexiko flüchteten und die meisten von ihnen Arbeit suchten, ergriffen Anna Seghers, Egon Erwin Kisch, Bodo Uhse und Rudolf Feistmann die Initiative und gründeten die erste deutschsprachige Kulturvereinigung. Rasch einigte man sich auf den Klubnamen Heinrich Heine, da Heine laut Seghers wie sie alle Phasen der Flucht durchlaufen und kennengelernt hatte.351 In den vier Jahren seines Bestehens etablierte sich der Heinrich-Heine-Club zur wichtigsten kulturellen Organisation der Emigrationsbewegung in Mexiko. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Gründung eines eigenen Verlages mit Namen El libro libre – Editorial de literatura anti-Nazi en lengua alemana. MitarbeiterInnen waren unter anderem Ludwig Renn, André Simone, Anna Seghers, Bodo Uhse, Egon Erwin Kisch und Leo Katz. Gegründet und geleitet wurde der Verlag vom deutschen Verleger Walter Janka. Die Gründung war laut Patka aus der Notwendigkeit heraus entstanden, die in Mexiko veröffentlichten Werke auch in deutscher Sprache publizieren zu können. Am 10. Mai 1942 wandte sich der Verlag erstmals an die Öffentlichkeit, um sein Bestehen bekannt zu geben und seine Ziele publik zu machen. Er war nicht gewinnorientiert ausgerichtet und konnte demnach nur durch ehrenamtliche Mitarbeit der Literaturschaffenden sowie Einnahmen aus Lesungen und Spenden existieren. Das erste Buch, das im Verlag erschien, war Kischs Marktplatz der Sensationen. Wenige Tage nach dem Erscheinen gewährte der mexikanische Präsident Manuel Avila Camacho einigen SchriftstellerInnen eine Audienz. Sie hatten sich schon im Vorfeld schriftlich an den Präsidenten gewandt, um seine (ideologische) Unterstützung zu erbitten.352 Das erste publizierte Buch wurde ihm in weiterer Folge offiziell gewidmet.353 Im Gespräch mit dem Präsidenten erläuterte Renn, dass der Verlag nicht nur deutschsprachige Werke publizieren wollte, sondern dass auch an Publikationen in spanischer Sprache gedacht wurde, um so auch in Lateinamerika gegen den Einfluss der Nazis zu kämpfen. Camacho bot dem Verlag seine Hilfe an, woraufhin bereits am nächsten Tag im Regierungsorgan El Nacional ein Artikel über den Empfang der europäischen ExilschriftstellerInnen und den Verlag erschien. Der Verlag wurde so offiziell in die mexikanische Öffentlichkeit eingeführt.354 Ein großes, auch propagandistisches Anliegen des Verlages war es, die Gräueltaten des Naziregimes aufzuzeigen und auch in Lateinamerika bekannt zu machen. André Simone ging so weit, von einer Verpflichtung ei-
351 352 353 354
Vgl. Kießling: Exil in Lateinamerika, S. 301 Vgl. Kloyber; Patka: Österreicher im Exil, S. 234 Vgl. Kießling: Exil in Lateinamerika, S. 457 Vgl. ibid. S. 457
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nes deutschen Exilverlages gegenüber den Völkern der Gastländer zu sprechen, da diese kaum in der Lage seien, zwischen Nazis und Antinazis zu unterscheiden und alle Deutschen grundsätzlich für fleißige und achtbare Leute hielten.355 Beim Zusammentreffen der Verlagsgruppe mit dem mexikanischen Präsidenten wurde ihm die Idee präsentiert, ein Sammelwerk mit dem Titel El libro negro del terror Nazi en Europa356 zu publizieren, das in spanischer Sprache den Protest der emigrierten deutschsprachigen AutorInnen gegen den Faschismus und dessen unmenschliches Regime zum Ausdruck bringen sollte. Das Projekt war bisher an finanziellen und drucktechnischen Problemen gescheitert. Der mexikanische Präsident versprach, das Patronat über das Projekt zu übernehmen. Am 14. August 1942 bekam Ludwig Renn aus dem Präsidentenbüro Bescheid, dass das Buch in der Staatsdruckerei hergestellt werden könne und die mexikanische Regierung die Kosten für die erste Auflage von 10.000 Exemplaren übernehmen würde.357
5.8.4
Warten auf das rettende Paradies: Mexiko als realer Fluchtort
Das Hoffen und Warten auf ein Visum wurde für viele Menschen zur nervlichen Zerreißprobe. Kloyber und Patka betonen, dass sich immer wieder Szenen der Hoffnungslosigkeit vor den Konsulaten der Überseestaaten abspielten.358 In den ersten literarischen Werken, die Mexiko als realen Fluchtort thematisieren, kommt das Land nur als entferntes Ziel vor, die eigentlichen Beschreibungen sind dabei noch ausständig. Trotzdem zeugt diese Stilisierung bereits von der Funktion, die Mexiko im literarischen Werk der ExilschriftstellerInnen mitunter einnimmt: Mexiko wird zum hoffnungsträchtigen Sehnsuchtsort und ist erstmals nicht mehr nur ein visionäres Paradies. In den Tagebüchern des Schriftstellers Bodo Uhse, die als exemplarisches Beispiel gelten können, werden das Warten auf das mexikanische Visum sowie der vegetative Zustand zwischen Hoffnung und Resignation beschrieben. Uhse emigrierte 1939 in die USA, wo ihm die Behörden im Dezember 1939 mitteilten, dass sein Aufenthaltstitel abgelaufen ist und er das Land zu verlassen hat. Uhse wandte sich an seinen Freund und Kollegen Ludwig Renn, der sich zu diesem Zeitpunkt schon in Mexiko befand und durch dessen Hilfe er sich ein mexikanisches Einreisevisum erhoffte. Trotz der guten Kontakte Renns gestaltete sich die Erteilung des Visums schwierig und Renn musste seinen Freund immer wieder vertrösten. In einem Brief an Uhse im Jänner 1940 äußerte sich Renn, wie Kießling anführt, wie folgt:
355 356 357 358
Vgl. Kießling: Exil in Lateinamerika, S. 502f. dt. Das Schwarzbuch über den Nazi-Terror in Europa Vgl. Kießling: Exil in Lateinamerika, S. 504 Vgl. Kloyber; Patka: Österreicher im Exil, S. 128
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Lieber Bodo, ich bin schon ganz kribbelig über deinen Fall, denn ich sehe doch deutlich, wie dringend es ist. Ich habe täglich Deinetwegen telefoniert. Goldschmidt war fast jeden Tag in der Secretaria de Gobernación. Jetzt ist es soweit, daß grundsätzliches Einverständnis vorhanden und die solicitud (Gesuch) diktiert ist. […] .359 Uhse schilderte in seinen Tagebuchaufzeichnungen die bange Situation des Wartens. Zwischen Jänner und März 1940 verzögert sich die Abreise immer wieder. »Aus Mexiko keine Nachricht«360 , heißt es mehrmals in seinen Aufzeichnungen. Als er Anfang März erfährt, dass aus innenpolitischen Gründen alle Visa für EmigrantInnen für zwei Monate gestoppt werden, ist Uhse kurz davor, seine letzten Hoffnungen fahren zu lassen, und schreibt in seinem Tagebuch: »Das Leben abzuwerfen wäre leicht, wenn nicht die Angst vor dem Tode wäre.«361 Am 10. März bekommt Uhse endlich das verzweifelt erwartete Einreisevisum, wie er in seinem Tagebucheintrag vom 21. März 1940 festhält. Bei der Einreise nach Mexiko kommt es jedoch wiederum zu Komplikationen. Als er in Laredo an der texanisch-mexikanischen Grenze ankommt, sind seine Einreisepapiere nicht auffindbar und er ist genötigt, vier Tage an der nicht ungefährlichen Grenze auszuharren. Uhses innere Anspannung und Unruhe vergrößern sich abermals, in seinem Tagebuch spricht er von einer »Bordertown-Atmosphäre«, in der es nur »Verdacht, Verdächtigungen und Verdächtigte« gibt. Nach vier Tagen ist es dann endlich soweit – Uhse reist in einem überfüllten Bus in die Vereinigten Staaten von Mexiko ein.362 Uhses Verhältnis zur neuen Heimat ist zu Anfang eher zwiegespalten. Für ihn sowie für viele weitere Intellektuelle seiner Zeit war Mexiko nicht das Land ihrer ersten Wahl. Die Enttäuschung über die politische Haltung der USA und der Wunsch nach einer neuen Lebensperspektive stimmen Uhse dann doch positiv: Für mich ist es ein merkwürdig anheimelndes Gefühl, vom geschichtslosen Boden dieses Landes, nun wieder in ein Land mit alter Kultur zu kommen, in ein Land, in dem es Zeugnisse großer Vergangenheit gibt. Wahrhaftig, mir ist, als träte ich wieder in eine Familie ein. Hier gibt es kein Gestern. Dort aber ist das Gestern und Vorgestern wach, dort gibt es den Begriff Menschheit als eine durch Jahrtausende wirkende Kraft, und ich denke mir, daß man sich auf solchem Boden – und sei man auch das nutzloseste der Geschöpfe – nicht nutzlos fühlen kann; sondern immer Teil der großen Kraft. Und wenn man auch nicht viel schafft für seinen Teil, man ist aber ein Teil, und wie gering auch immer die Leistung sei, er geht nicht verloren,
359 360 361 362
Vgl. Kloyber; Patka: Österreicher im Exil, S. 191f. Uhse, Bodo: Reise- und Tagebücher I. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 19811 , S. 481 Ibid. S. 485 Vgl. ibid. S. 487f.
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er ist ein Beitrag zum großen Werk. Es kann sich der Mensch nicht dort unten so grundlos und einsam fühlen wie hier.363 Uhse stilisiert, wie viele Exilierte, Mexiko anfänglich als rettendes Paradies. In Mexiko selbst jedoch holt Uhse die Realität wieder ein. In sein Tagebuch schreibt er, dass er sich, geplagt von ewigen Geldnöten und gesundheitlichen Problemen, oft depressiv und einsam fühlt.364 Nach und nach findet er sich in seiner neuen Heimat zurecht. Auch Anna Seghers’ zweiter Exilroman Transit 365 thematisiert den vegetativen Zustand des Wartens auf das mexikanische Visum. Seghers’ Roman spielt in Marseille. Der fiktionale Plot wird immer wieder mit autobiografischen Elementen angereichert. Besonders spezielle Episoden sowie die Schilderung gewisser bürokratischer Abläufe und Hürden entsprechen oft den tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort. Lenka Reinerová, die deutsch-tschechoslowakische Schriftstellerin und Freundin von Seghers, die wie Seghers selbst in Marseille war und ebenso Zuflucht in Mexiko fand, beschreibt in ihren Memoiren Es begann in der Melantrichgasse ihre Erinnerungen an die Zeit mit Seghers in Marseille: Ich bin mit der Anna stundenlang durch die Straßen von Marseille gelaufen, habe sie schweigend, mit leicht zusammengekniffenen Augen um sich blicken gesehen. Manchmal presste sie entsetzt die Lippen aufeinander, manchmal auch angewidert, mitunter hielt sie nur einen winzigen Augenspalt im wütenden Gesicht offen, dann wieder legte sie mir verstört die Hand auf den Arm: »Schau mal!«, und ihre Stimme bebte von Mitgefühl. Wir sahen vielköpfige Familien, die einander mühevoll durch dieses unbegreifliche Leben schleppten. Wir begegneten verlorengegangenen Kindern und Erwachsenen mit dem stummen Aufschrei der Verzweiflung in den Augen. Wir sahen alte Menschen, denen die Ruhe zum Sterben nicht vergönnt war, und blutjunge Mädchen, zu allem bereit, um nur von diesem Wahnsinnsort fortzukommen. Auch Anna Seghers war hier natürlich auf der Suche nach einer Ausreisemöglichkeit für ihre ganze Familie, das nahm jedoch nur einen Teil ihrer Tage in Anspruch. Der Rest war Erleben, Sehen, Hören und Insichfesthalten.366 Seghers’ Roman schildert exemplarisch Schicksale, die in den Jahren vor und während des Zweiten Weltkrieges viele Menschen teilten. Im Zentrum stehen verschiedene Personen, die ihr Leben in Marseille in der Hoffnung auf eine baldige Abrei363 364 365 366
Vgl. Uhse: Reise- und Tagebücher I, S. 477 Vgl. ibid. S. 497 Ihr erster Exilroman war Das siebte Kreuz. Reinerová, Lenka: Es begann in der Melantrichgasse, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 19851 , S. 167
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se fristen. Das Warten auf den Aufbruch wird zum dominierenden Element der Beschreibung und entspricht dem eigentlichen Grundzustand der Menschen, wie auch der Titel des Romans verdeutlicht. Im Roman wird der Transit, der Übergang, zum Dauerzustand und zur Grundlage der eigenen Existenz. Seghers setzt mit ihrem Roman sowohl der mexikanischen Regierung als auch dem mexikanischen Konsulat in Marseille ein literarisches Denkmal. Der namenlose Protagonist bekommt durch sehr verworrene Zufälle die Möglichkeit, ein mexikanisches Einreisevisum zu erwerben. Er beschreibt immer wieder die Menschenmassen, die sich vor dem mexikanischen Konsulat einfinden: »Als ich mich noch einmal umdrehte, erlebte ich eine Überraschung. Das Auto stand noch immer vor dem Konsulat. Es wimmelte jetzt dort vor Menschen. Und dieses Gewimmel war in drei Minuten entstanden, gleichsam hinter meinem Rücken.«367 Und auch an anderer Stelle: Ich erfuhr, was sie hergelockt hatte: ein Gerücht, eine Hoffnung, dass dieses entfernte Volk alle republikanischen Spanier aufnehmen würde. Es gebe bereits Schiffe im Hafen von Bordeaux, sie stünden jetzt alle unter mächtigem Schutz. Die Deutschen selbst könnten die Abfahrt nicht hindern. Ein alter, magerer Spanier sagte bitter, das alles sei leider Unsinn, es gebe zwar Visa, denn Mexiko habe jetzt eine Volksregierung, doch leider gebe es keine Sauf-conduit von den Deutschen.368 Wie auch in der Realität hoffen in Seghersʼ Roman viele Menschen auf die Hilfe Mexikos, um Frankreich verlassen zu können. Mexiko – und stellvertretend dafür auch das mexikanische Konsulat – werden für viele zur letzten Hoffnung: Seit meinem letzten Besuch war die Menge vor dem Gitter gewachsen. Unzählige glänzende Augenpaare richteten sich auf das Tor. Für diese Männer und Frauen war das Konsulat keine Behörde, ein Visum kein Kanzleiwisch. In ihrer Verlassenheit, die von nichts übertroffen wurde als von ihrer Zuversicht, nahmen sie das Haus für das Land und das Land für das Haus. Ein unermessliches Haus, in dem ein Volk wohnte, das sie einlud. Hier war die Tür des Hauses in der gelben Mauer. Und einmal hinter der Schwelle, war man bereits zu Gast.369 Sogar der namenlose Protagonist, der eigentlich nicht vorhatte, Frankreich zu verlassen, wird angesteckt vom umgehenden Reisefieber, und kurzzeitig wird auch für ihn Mexiko zum fernen, lockenden Paradies: Das war das mexikanische Konsulat? Ein Stockwerk in einem Mietshaus, das sich durch nichts von anderen Häusern unterschied. Die Haustüre unterschied sich 367 Seghers, Anna: Transit. München: Süddeutsche Zeitung 20071 , S. 29 368 Ibid. S. 29 369 Ibid. S. 31f.
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durch nichts von anderen Türen, bis auf das Wappen, das aber kaum sichtbar war für die achtlos Vorübergehenden, nur für unsere Augen nicht, die es unruhig suchten. Es war stark nachgedunkelt, seit ich in Paris versucht hatte, es zu entziffern. Kaum, daß ich den Adler noch unterschied auf dem Gestrüpp von Kakteen. Bei seinem Anblick zog sich mein Herz zusammen in einem Gefühl von schmerzlich freudigem Fernweh, eine Art von Hoffnung, doch wusste ich nicht, auf was. Vielleicht auf die Weite der Erde, auf unbekanntes gelobtes Land.370 Episoden rund um einen Kapellmeister, der immer wieder die Wege des Protagonisten kreuzt, versinnbildlichen den Spießrutenlauf um die nötigen Papiere für die mexikanische Einreisegenehmigung. Als der namenlose Protagonist in Marseille ankommt – er ist eigentlich im Gegensatz zu allen anderen gekommen, um zu bleiben – lernt er den Kapellmeister kennen, der ihm seine Geschichte erzählt: Er sei Kapellmeister in Prag gewesen, jetzt habe man ihm eine Stelle verschafft, bei einer berühmten Kapelle in Carácas. […]. Er hatte schon einmal einen Kontrakt besessen, auf den Kontrakt ein Visum, auf das Visum das Transit. Die Gewährung des Visas de sortie habe aber so lange gedauert, daß ihm inzwischen das Transit erloschen sei, darauf das Visum, darauf der Kontrakt. Letzte Woche habe man ihm das Visa de sortie gewährt, er warte jetzt Tag und Nacht auf die Verlängerung des Kontrakts, die ja dann ihrerseits die Verlängerung seines Visums bedinge.371 Immer wieder kreuzen sich die Wege des Protagonisten und des kleinen Kapellmeisters, der zunehmend verfällt: Ich traf auch hier wieder meinen kleinen Kapellmeister. Seine Augen glänzten im Fieber, als hätte man in einem Schädel ein Licht angesteckt. Er versicherte mir, vor Freude bebend, er trage jetzt die letzte Vorladung für das amerikanische Konsulat in der Tasche, sein Transit erwartete ihn endgültig, sein Kontrakt sei frisch verlängert, sein Visa de sortie gesichert, sein Schiffsplatz ordnungsgemäß gebucht.372 Bei jedem Zusammentreffen ist der Kapellmeister, trotz zunehmender Schwierigkeiten, noch immer hoffnungsvoll und der Überzeugung, nun doch endlich über alle Papiere zu verfügen und nach Mexiko aufbrechen zu können: Ich erkannte kaum den Kapellmeister wieder ohne Sonnenbrille. Der eisige Mistral der letzten Tage hatte ihn völlig verheert, soweit ein Mistral noch ein Gerippe verheeren kann. Er war aber fein gescheitelt, er zitterte freudig. »Sie hätte früher beginnen sollen. Ich werde heute das Konsulat mit meinem Transit verlassen.« Er
370 Seghers: Transit, S. 49 371 Ibid. S. 42 372 Ibid. S. 108
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drückte die Ellenbogen an sich, damit sein schwarzes Fräckchen in dem Gedränge nicht Not leide.373 Sein körperlicher Verfall ist gekoppelt an seine zermürbende Rotation zwischen den bürokratischen Institutionen und ihren unüberwindbaren Hürden. Sein Leben besteht zuletzt nur mehr aus dem Lauf von Behörde zu Behörde, wo er jedes Mal aufgrund einer abgelaufenen Frist wieder von vorne beginnen muss. Dieser sisyphosartige Kreislauf lässt ihn schlussendlich am System scheitern und zugrunde gehen: Da herrschte Bestürzung und Schreck. Ein Sanitätswagen hielt vor dem Tor, und als ich hinaustrat, packten sie einen auf ihre Bahre und schleppten ihn ab. Ich erkannte den kleinen Kapellmeister. Er war jetzt tot. Die Menschen sagten: er ist in der Reihe zusammengebrochen. Er sollte heute sein Visum bekommen. Da hat ihn der Konsul zurückgeschickt, weil er ein Photo zu wenig hatte. Dadurch war seine Konvokation vertagt, seine Abfahrt hinfällig, was ihn stark erregte. Um wie wir ihm helfen, die Photos nachzuzählen, da hatte er sich überdies nur verzählt, zwei Photos waren zusammengeklebt, da hat er sich noch einmal in die Reihe gestellt, da ist er zusammengebrochen.374 Seghers’ gesamter Roman steht im Zeichen des Ankommens, Wartens und Abfahrens. Eine Grundstimmung der Rastlosigkeit und der inneren Unruhe bestimmt das Geschehen. Sie wird dem äußerlichen Stillstand der Handlung gegenübergestellt und dadurch noch deutlicher. Das Warten wird zum Dauerzustand – und gleichzeitig zum verbindenden Element der Romanfiguren. Wenn nicht über das eigene Schicksal sinniert wird, wird über das anderer Menschen gesprochen. Gerüchte über mögliche ankommende und abfahrende Schiffe, Fahrkarten, abgelaufene Visa, mögliche Transitrouten und Schicksale anderer Mitwartender sind die Themen, die die Romanfiguren beschäftigen und mitunter auch bei Laune halten. So berichtet auch der namenlose Protagonist, dass der Hafenklatsch den Menschen als Zeitvertreib und kurzfristige Ablenkung vom eigenen Vegetieren dient: Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort von diesem Stern! – So lange hören ihnen die Menschen gierig zu, wie sie von Abfahrten sprechen, von beschlagnahmten und nie angekommenen Schiffen, von gekauften und von gefälschten Visen und neuen Transitländern. Aller Klatsch dient dazu, die Wartezeit zu verkürzen, denn die Menschen sind wie verzehrt vom Warten.375 Alle Romanfiguren haben die Abfahrt als gemeinsames Ziel. Und sie alle teilen das Schicksal des Wartens und Bangens, so auch der Protagonist: »Damals hatten al373 Seghers: Transit, S. 121 374 Ibid. S. 125 375 Ibid. S. 132
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le nur einen Wunsch: abfahren. Alle hatten nur eine einzige Furcht: zurückbleiben.«376 Seghers schafft mit ihrem zweiten im Exil entstandenen Roman ein Zeitzeugnis, in dem Mexiko selbst zwar noch nicht beschrieben, aber bereits zum Exilparadies stilisiert wird. Wie sich das Paradies im Realkontakt dann tatsächlich zeigt, wird im Folgenden zu beobachten sein.
5.8.5
Welcome to Paradise: Mexiko als Vergegenwärtigung des eigenen Ichs und Kontrastfolie zur verlorenen Heimat
Unter den vielen Europäern, die nach Lateinamerika flüchteten und sich dort niederließen, kann vor allem zwischen den politischen und den nicht politischen, oft jüdischen Flüchtlingen unterschieden werden. Die Unterscheidung manifestiert sich sowohl in der Beziehung zur ursprünglichen als auch in jener zur neuen Heimat sowie in der Art der literarischen Produktion. Bei den nicht politischen Flüchtlingen kann ein Brechen mit der ursprünglichen Heimat und eine gänzliche Integration und Assimilation im bzw. mit dem Gastland häufiger festgestellt werden. Dies oft deswegen, da sie in den ursprünglichen Heimatländern wie Deutschland, Österreich, Polen und Ungarn schon vor ihrer Flucht als AußenseiterInnen der Gesellschaft stigmatisiert worden waren. Für politische AktivistInnen wird die Flucht selbst Teil der politischen Erfahrung. Fern der Heimat wird der Patriotismus zum Aushängeschild für den Kampf gegen den Faschismus. Diese Differenzierung wird auch im literarischen Schaffen deutlich. Ein Großteil der literarischen Produktion in Mexiko ist politisch motiviert: Missstände im Heimatland werden aufgezeigt und das nationalsozialistische Regime kritisiert. Oftmals wird, wie beispielsweise in Seghers’ Roman Das Siebte Kreuz, das Schicksal einer Einzelperson exemplarisch dargestellt und so zum Sinnbild einer tragischen Zeiterscheinung. Inge Diersen betont in ihrem Werk über die lateinamerikanischen Spuren in Seghers Werk, dass Mexiko Seghers – sowie vielen ihrer KollegInnen – vor allem als Kontrastfolie für die Aufarbeitung persönlicher Erinnerungen und Schicksalsschläge diente.377 Die ins Exil genötigten LiteratInnen waren mit gänzlich neuen Lebensumständen konfrontiert, die fremde Sprache sowie die Andersartigkeit des fremden Landes waren oftmals Barrieren. Die Exilierten hatten im Unterschied zu anderen MigrantInnen kaum Zeit und Möglichkeiten, sich auf die neue Kultur vorzubereiten. Im Zentrum ihres Interesses blieben die Vorkommnisse in der alten Heimat. Der Entschluss, sich primär dem Thema »Faschismus« zu widmen, ist ein klar programmatischer. Viele ExilschriftstellerInnen erachteten es als ihre Pflicht, mit ih-
376 Seghers: Transit, S. 132 377 Vgl. Diersen, Inge: »Erfahrung Mexiko: Die lateinamerikanische Spur im Schaffen Anna Seghers«, in: Argonautenschiff 3. Berlin (u.a.): Aufbau Verlag 1994, S. 145ff.
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ren Arbeiten in erster Linie den Faschismus zu bekämpfen und daher über aktuelle geschichtliche Ereignisse sowie die Unterdrückung des deutschen Volkes zu schreiben. Anna Seghers beschrieb Mexiko erstmals 1943 genauer. Ihr Zugang war dabei sehr persönlich. In der Novelle Der Ausflug der toten Mädchen378 , die deutliche autobiographische Züge aufweist, charakterisiert Seghers Mexiko als »bizarren Ort des Exils«379 . Josefina Sandoval erläutert in ihrer Dissertation über den Mexikobezug in Anna Seghers’ Werk, dass Seghers’ Mexikobild auch durch ihren Autounfall, bei dem sie im Juni 1943 lebensgefährlich verletzt wurde und von dem sie sich nur langsam erholen konnte, geprägt ist. In ihrer Novelle verarbeitet Seghers die Erfahrungen ihrer Krankheit. Zur Genesung wurde sie nach San Miguel de Allende geschickt. Es ist anzunehmen, dass dieses kleine Dorf in der Nähe von Guanajuato ihr als Inspiration für ihre Novelle diente. Das Bild, das Seghers von Mexiko entwirft und das den Rahmen ihrer Erzählung bildet, ist sehr subjektiv und wenig positiv. Durch die Rahmengeschichte verdeutlicht Seghers lediglich ihre persönliche Situation bzw. ihre Exillage.380 Hier schreibt eine durch einen beschwerlichen Genesungsweg gezeichnete Seghers über ein Land, dem sie ihre Rettung verdankt und dem gegenüber sie nicht grundsätzlich negativ gestimmt ist381 , in dem sie sich aber aufgrund ihres Unfalls, der Fremdheit der Kultur und der großen Sehnsucht nach ihrer Heimat nicht wohl fühlen kann. Die Ich-Erzählerin weist gleich zu Anfang des Textes darauf hin, dass sie dabei ist, sich von Monaten der Krankheit zu erholen. Wie sie schildert, hätten ihr die Gefahren des Krieges und der Verfolgung nicht so viel anhaben können wie der unvorhersehbare Unfall und die darauffolgende Leidensgeschichte. In Anbetracht dessen reflektiert die Protagonistin ihre Flucht nach Mexiko: »Um Rettung genannt zu werden, dafür war die Zuflucht in diesem Land zu fragwürdig und ungewiß. Ich hatte Monate der Krankheit gerade hinter mir, die mich hier erreicht hatte, obwohl mir die mannigfachen Gefahren des Krieges nichts anhaben konnten.«382 Laut Pohle fungiert Mexiko für Seghers grundsätzlich als »surreale Vergegenwärtigung« und »Selbstvergewisserung des Deutschland- und Heimatbezugs«.383 378 Seghers, Anna: Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 20038 379 Vgl. Pohle, Fritz: »Das Rätsel um das wirkliche Blau«, in: Hielscher, Martin (Hg.): Fluchtort Mexiko. Darmstadt: Luchterhand Literaturverlag 1992, S. 57 380 Vgl. Sandoval, Josefina: México in Anna Seghers’ Leben und Werk 1940 – 1947, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2001, S. 136 381 Wie Sandoval anführt, schreibt Seghers nach ihrer Ankunft 1941 ihrem Freund Weiskopf in einem Brief, dass ihr das Land mit seinen Farben und dem Klima gefällt und dass dies alles ihr die Gewissheit verschafft, dort arbeiten und leben zu können. Vgl. Sandoval: México in Anna Seghers’ Leben und Werk 1940 – 1947, S. 140 382 Seghers, Anna: Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen, S. 7 383 Pohle: »Das Rätsel um das wirkliche Blau«, S. 57
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Sehr plakativ beschreibt sie, wie das Dorf festungsartig von Orgelkakteen umgeben ist, als wären es Palisaden.384 Die Protagonistin fühlt sich eingesperrt in einer kahlen und wilden Welt, die einer Mondlandschaft zu gleichen scheint. Die Verbannung an diesen trostlosen Ort, der zu ihrer Genesung beitragen soll, kann als Sinnbild für ihre generelle Verbannung in ein Land, das sie durch seine bloße Existenz immer an die Umstände ihrer Verbannung und die Unüberwindbarkeit der Situation erinnert, gelesen werden. Der anfängliche Enthusiasmus und das Interesse an der neuen Kultur sind schnell verebbt. Das Einzige, was die von Heimweh gequälte Protagonistin, die ihre Situation resignativ und lustlos hinnimmt, wieder glücklich machen und beleben könnte, wäre die Rückkehr in die alte Heimat: »Die Lust auf absonderliche, ausschweifende Unternehmungen, die mich früher einmal beunruhigt hatte, war längst gestillt, bis zum Überdruß. Es gab nur noch eine einzige Unternehmung, die mich anspornen konnte: die Heimfahrt.«385 Der starke Wunsch nach Heimkehr sowie die Müdigkeit nach einem anstrengenden, freudlosen Spaziergang durch die staubige und heiße Wüstenlandschaft lassen die Protagonistin in einen Wachtraum gleiten, in dem sie sich in ihre Schulzeit zurückversetzt sieht, und dort auf ihre SchulkollegInnen trifft, die großteils im Krieg umgekommen sind. Die Erinnerung bildet das zentrale Moment der Novelle.386 Wieder erwacht aus ihrem Wachtraum, beschließt die Protagonistin, die öde Zeit in ihrem erzwungenen Exil zu nutzen, und ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen. In dem ärztlichen Bericht, der eine Woche nach Seghersʼ Unfall in Mexiko-Stadt verfasst wurde, wurde eine Amnesie für gewisse frühere Lebensbereiche diagnostiziert, die aus der schweren Kopfverletzung bzw. der Bewusstlosigkeit resultiert. Die Überwindung der Amnesie sei demnach als literarische Erinnerungsarbeit ein konstitutives Element der Erzählung.387 Diese Art der ersten Annäherung an den literarischen Gegenstand Mexiko und die Stilisierung der exotischen Fremde als Kontrast zur Heimat wird zum Charakteristikum für Seghersʼ Mexiko-Werke. Die ersten Darstellungen sind eher negativ konnotiert und stehen im Gegensatz zu späteren Projektionen. Die Entwicklung und Veränderung der Rezeption resultiert – nach dem Schock des ersten Realkontaktes, der auch immer Sinnbild der Verbannung ist – aus der Anpassung an Lebensumstände und Bräuche. Der Blick bleibt jedoch weiterhin auf die Heimat gerichtet. Die Geschehnisse, die viele Menschen ins Exil zwangen und dementsprechend prägend waren, waren als literarischer Stoff oftmals leichter zu verarbeiten. Im Vor-
384 385 386 387
Vgl. Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen, S. 7 Ibid. S. 8 Vgl. Sandoval: México in Anna Seghers’ Leben und Werk 1940 – 1947, S. 137 Vgl. Pohle: »Das Rätsel um das wirkliche Blau«, S. 57
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dergrund stand das Bedürfnis, der Welt die ungeschminkten Tatsachen wahrheitsgetreu zu präsentieren. Vor allem in der bereits erwähnten literarischen Zeitschrift Freies Deutschland beschäftigte man sich stark mit Deutschland und dem Nazitum. Mexiko wurde oftmals als Kontrastort und zu Vergleichszwecken herangezogen. Egon Erwin Kisch beschreibt beispielsweise in der Reprint-Ausgabe von November 1941 bis Oktober 1942 kritisch die Reportagen der Nazi-Reporter über Mexiko. In einem anderen Artikel derselben Ausgabe beschäftigt er sich mit dem »Rätsel der jüdischen Indianer«388 . Kisch schreibt über »indianische Staatsbürger jüdischen Glaubens« und ihre Geschichte in Mexiko. Dabei spannt er den Bogen zwischen der mexikanischen und der deutschen Kultur. Im siebten Heft desselben Jahrgangs lobt Kisch wiederum Humboldt, seine wissenschaftlichen Errungenschaften in der Mexikoforschung sowie dessen Humanitätsideal. Er hebt Humboldts Konzept der Gleichheit aller Menschen hervor, betont die Besonderheit der semitischen Kultur und kritisiert in diesem Kontext die Nazis, die die jüdischen Menschen als »Urgrund und Urquell des Untermenschentums« stigmatisiert hätten.389 In einem späteren Aufsatz weist er zudem auf den »tödlichen Ausgang«, also das Ende der Mexikoforschung durch die nationalsozialistische Machtergreifung hin.390 Immer wieder finden die exilierten AutorInnen Anknüpfungspunkte zwischen den Kulturen – Mexiko wird Deutschland stets gegenübergestellt. In weniger politischen Darstellungen versinnbildlicht es auch das persönliche Schicksal. Es wird zur Kontrastfolie. Mexiko eignet sich besonders gut dafür, da sich die Kritik am Imperialismus und an der westlichen Dominanz auf die aktuellen politischen Zustände in Deutschland übertragen lässt. Der Schriftsteller Theodor Balk findet in seinem Artikel »1943 die Geschichte Mexikos lesend« sogar Parallelen zwischen der mexikanischen und der deutschen Geschichte: »Als ich die Geschichte der Konquista las, schien mir auf mancher Seite, als ob die Gegenwart in dem Ritterwams der Spanier und unter dem bunten Federschmuck der Indios einherschreite.« Hitler erscheint ihm wie Cortés, Churchill als Cuauhtémoc, und unter dem Federschmuck
388 Vgl. Kisch, Egon Erwin: »Das Rätsel der jüdischen Indianer«, in Freies Deutschland – Alemania Libre. Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, 1975 (ReprintAusgabe von November 1941 bis Juni 1946 (Monatliche Hefte)), November 1941 – Oktober 1942, Heft 2, S. 13f. 389 Vgl. Kisch, Egon Erwin: »Humboldt, politisch und privat«, in: Freies Deutschland – Alemania Libre. Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, 1975 (ReprintAusgabe von November 1941 bis Juni 1946 (Monatliche Hefte)), November 1941 – Oktober 1942, Heft 7, S. 10f. 390 Vgl. Kisch, Egon Erwin: »Mexikoforschung und Nazitum. Wissenschaftliche Diskussion mit tödlichem Ausgang« in: Freies Deutschland – Alemania Libre. Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, 1975 (Reprint-Ausgabe von November 1941 bis Juni 1946 (Monatliche Hefte)), November 1942 – November 1943, Heft 2, S. 13f.
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der verschiedenen indianischen Völker ist es Balk, als sehe er italienische, ungarische, rumänische und slowakische Gesichter.391 Die literarische Zeitschrift bietet auch Raum für Dankbarkeitsbekundungen gegenüber Mexiko, dem mexikanischen Volk und dem Präsidenten.392 Mit Beiträgen wie »Mexikos Beispiel für Lateinamerika« oder diversen Briefen an den mexikanischen Präsidenten mit Titeln wie »Mexiko und das deutsche Volk« werden Mexikos Taten im Kampf gegen den Nazi-Terror hervorgehoben und fungieren als Solidaritätsbekundung. Der Schriftsteller Ludwig Renn betont in einem so betitelten »Gelöbnis für Mexiko«, das er an den Präsidenten Avila Camacho richtet, dass sich die Freien Deutschen dazu verpflichten würden, das Land, das ihnen die verlorene Freiheit wiedergeschenkt habe, zu verteidigen, um dessen Demokratie und Freiheit weiterhin zu gewährleisten.393 Auch der Präsident selbst nimmt das Medium mehrmals in Anspruch, um sich an die deutschsprachigen Exilanten zu wenden und ihnen seine bzw. Mexikos Unterstützung und Solidarität zuzusichern. Je stärker Mexikos Retter-Rolle betont und hervorgehoben wird, desto stärker wiegen im Gegensatz dazu die Gräueltaten Deutschlands. Die Enttäuschung gegenüber der Nation, die den Exilierten ihre Existenzgrundlage entzog, wird durch die Glorifizierung Mexikos noch deutlicher. Damit Deutschland als Hölle stilisiert werden kann, muss Mexiko zum Paradies werden – zumindest aber zur Paradiesfolie, auf die man projizieren kann.
5.8.6
Auch ich in Mexiko: Anna Seghers – von persönlichen und politischen Paradiesen
Anna Seghers lebt 13 Jahre im mexikanischen Exil. In diesen Jahren setzt sie sich mit diversen Aspekten ihres Gastlandes auseinander. Seghers ist sehr interessiert an der mexikanischen Kunst und Kultur, vor allem an den Wandmalereien von Diego Rivera und Xavier Guerrero. Sie veröffentlichte mehrere Essays zu diesem Thema und entwickelte am Beispiel Mexikos und seiner Kunst das Konzept des volkstümlichen Künstlers und des künstlerischen Volks. Diese Essays beeinflussten Vgl. Balk, Theodor: »1943 die Geschichte Mexikos lesend«, in: Freies Deutschland – Alemania Libre. Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, 1975 (ReprintAusgabe von November 1941 bis Juni 1946 (Monatliche Hefte)), November 1942 – November 1943, Heft 3, S. 20 392 Zu den eher allgemein gehaltenen Danksagungen an den mexikanischen Präsidenten und sein Volk gesellen sich natürlich auch spezielle Ehrungen für den bereits mehrfach erwähnten Gilberto Bosques, der im Heft 6 des Jahrgangs 1944 – Juni 1946 über die Zeit seiner Internierung in Godesberg berichtet. 393 Vgl. Renn, Ludwig: »Gelöbnis für Mexiko«, in: Freies Deutschland – Alemania libre, in: Freies Deutschland – Alemania Libre. Leipzig: Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, 1975 (Reprint-Ausgabe von November 1941 bis Juni 1946 (Monatliche Hefte)), November 1942 – November 1943, Heft 7, S. 3 391
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Seghers’ Werk auch nach 1947 noch. Die Tatsache, dass ihre mexikanischen Erfahrungen erst dann verstärkt in ihr literarisches Schaffen einfließen, als sie Mexiko bereits verlassen hat, hat verschiedene Ursachen. Seghers’ Rückkehr nach Deutschland war keine Heimkehr im eigentlichen Sinn. Zurück in Deutschland wird sie von der Sehnsucht nach Mexiko geplagt, das, so Wiebke von Bernstorff in ihrem Werk über Seghers’ mexikanische und karibische Erzählungen, »für sie mehr als Deutschland die Hoffnung auf Neues zu verkörpern beginnt«.394 Seghers möchte die eigene Exilerfahrung für ihr Leben in Deutschland fruchtbar machen. Ihr Interesse an karibischen und mexikanischen Themen in dieser Zeit resultiert aus der für sie beschwerlichen Situation in der alten Heimat sowie der Schwierigkeit, auf zeitgenössische literarische Stoffe zuzugreifen. Die Entscheidung für karibische Motive ist demnach wiederum programmatisch. Viele der zurückgekehrten KommunistInnen beschäftigen sich mit den möglichen Spielarten einer sozialistischen Gesellschaft ohne vorausgehende Revolution. Seghers näherte sich der Thematik mithilfe der Geschichte der karibischen Inseln Haiti und Guadalupe. Vor allem die Haitianische Revolution – als Fortsetzung der Französischen Revolution zu sehen und für Seghers ein Etappenziel in Richtung sozialistische Revolution – wird thematisiert. Haiti erscheint in Seghers’ Darstellungen zwar einigermaßen realistisch, vorrangig geht es jedoch darum, das Land in politischen Belangen als eine Art besseres Europa zu stilisieren. Seghers kehrte mit zwiespältigen Gefühlen nach Europa zurück. Einerseits wünschte sie sich, wie sie auch in ihrer Erzählung Ausflug der toten Mädchen betont, nichts mehr als die Heimkehr. Diese Heimkehr gestaltete sich dann aber anders als erhofft. Seghers habe sich, so Diersen, zur Heimkehr genötigt gefühlt, da sie es als ihre Pflicht empfunden habe, als gute Kommunistin bei der Restrukturierung und Umwandlung des deutschen Volkes und der deutschen Nation mitzuwirken.395 Zurück in der Heimat, sehen sich RückkehrerInnen oft mit einer sogenannten doppelten Heimatlosigkeit konfrontiert. Fremd waren sie, als sie in die neue Heimat kamen, und Fremde sind sie nun, da sie in ihre alte Heimat zurückkehren, aus der sie einst flüchten mussten. In vielen Fällen ist es nicht mehr die Heimat, die sie damals verließen. Keines der beiden Länder vermag es mehr, wirklich Heimat zu sein, wie Seghers, zurück in Deutschland, in einem Brief an ihre Freundin Lenelore Wolf schreibt: Das tiefe kindliche Heimatsgefühl, das wir noch in Bellevue hatten, wo wir uns freuten, wenn ein Baum oder Haus roch wie daheim, das habe ich nicht mehr. Es gibt zu viel andre Strecken der Welt, die ich lieb gewonnen habe. Damit will ich keine Treuelosigkeit ausdrücken. Nur ist die Landschaft nicht mehr an meine 394 Vgl. Bernstorff von, Wiebke: Fluchtorte. Die mexikanischen und karibischen Erzählungen von Anna Seghers. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 49 395 Vgl. Diersen: »Erfahrung Mexiko«, S. 145
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Jugend gebunden, sie ist auch zu sehr an Grausamkeiten gebunden, an die Vernichtung der liebsten Menschen meiner Jugend.396 Die doppelte Heimatlosigkeit wird für Zurückkehrende oft zum Thema ihres literarischen Schaffens. Die Zerrissenheit, die auch Hofmannsthal in seinen Briefen des Zurückgekehrten schildert, manifestiert sich nicht nur in der Entfremdung gegenüber der alten Heimat, sondern auch in der nostalgischen Rückwendung und der Glorifizierung der neuen Heimat. Wenn das unfreiwillige Verlassen der Heimat als schmerzliche und traumatische Erfahrung gelten darf, so gilt Ähnliches für die Rückkehr. Seghers schreibt – noch in Mexiko lebend – in einem bekannten USamerikanischen marxistischen Blatt, dass Mexiko ideal für KünstlerInnen ist, da es als Land eine sehr anregende Atmosphäre hat; dass sie selbst aber wohl trotzdem nie über Mexiko schreiben wird.397 Zurück in der alten Heimat wird sie jedoch wieder von ihren mexikanischen Erfahrungen eingeholt. In Tagebucheintragungen und Briefen schildert sie die Sehnsucht nach ihrem mexikanischen Leben und ihre Schwierigkeiten, sich wieder in Deutschland zurechtzufinden. Sie betont, dass sie Mexiko lieb gewonnen hat und es mit all seinen und gerade aufgrund seiner vielen Widersprüche schätzt.398 In Deutschland sieht sie sich mit einem zerstörten und tristen Nachkriegsberlin konfrontiert, in dem ihr die Farbenpracht und die Wärme des mexikanischen Lebens fehlen. Sie fühlt sich isoliert und einsam in dieser »dunklen und kalten Stadt.«399 Auch der Umgang mit den Menschen, die vielleicht noch vor Kurzem dem Nazi-Regime angehörten, belastet Seghers sehr, wie sie in ihrem Tagebuch vermerkt: »Ich hatte z.B. immer geglaubt, ich wüsste genau, was ein Nazi ist, was ein Dieb ist, was ein ehrlicher Mann ist. Das war aber nur meine Einbildung. Z.B. mein Hauswirt. Ist er ein Nazi? Ist er ein Demokrat? Ist er ein Dieb? Ist er ehrlich? Ich weiss es immer noch nicht.«400 Seghers Enttäuschung gegenüber ihrer alten Heimat ist offenkundig. Zu frisch ist die persönliche Demütigung und zu tief sitzt noch der Schmerz, so Seghers wiederum in ihrem Tagebuch: »Ich war traurig, weil meine Sprache Deutsch ist. Weil ich in dieser Kultur und Sprache gross wurde.«401 Deutschland sei, wie sie schreibt, nicht nur in der äußeren Erscheinung, sondern auch innerlich kaputt. Trotz der Armut und der menschlichen Schicksale sei nicht die Rede von »Mitleid« oder »gütigen Gefühlen«.402 Das Verhältnis zum verräterischen Land und 396 Seghers, Anna: Hier im Volk der kalten Herzen. Briefwechsel 1947. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 20002 , S. 162 397 Vgl. Pohle: »Das Rätsel um das wirkliche Blau«, S. 57 398 Vgl. Seghers: Hier im Volk der kalten Herzen, S. 7f. 399 Vgl. ibid. S. 150 400 Seghers: Hier im Volk der kalten Herzen, S. 40 401 Ibid. S. 41 402 Vgl. ibid. S. 70f.
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seinen Leuten bleibt für Seghers problematisch, denn die schwierige Situation im Nachkriegsdeutschland, der Hunger und die Angst, lassen die Leute für Seghers noch deformierter erscheinen. Land und Volk sind ihr, wie sie mehrmals in ihrem Tagebuch betont, fremd.403 Sie sehnt sich nach Mexiko zurück und bedauert, wie sie schreibt, dass es im Deutschland der Alliierten keinen mexikanischen Sektor gibt.404 Ihre Sehnsucht nach Mexiko formuliert sie unter anderem wie folgt: »Wir haben hier im Volk der ›kalten Herzen‹, wie es ein deutscher Schriftsteller einmal formulierte, Sehnsucht nach Eurer Wärme, Eurer Leidenschaft, Eurer Liebe und Eurer Menschlichkeit.«405 Neben ihren persönlichen Briefen und ihren Tagebucheinträgen verarbeitet sie ihre Gefühle in Bezug auf Mexiko literarisch nur einmal. In ihrem Werk Überfahrt leiht sie dem Protagonisten Ernst Triebel ihre »eigene damalige Erzählperspektive«406 . Wie Diersen anführt, hatte Seghers im Jahre 1967, kurz nach ihren beiden Brasilienreisen (1961 und 1963), den Wunsch geäußert, über ihr Heimweh nach Mexiko, das mexikanische Leben und die Menschen in Mexiko zu schreiben sowie das Land wieder zu besuchen.407 Die Erzählung Überfahrt behandelt die für Seghers so zentralen Thematiken der exotischen Ferne und der heimatlichen Nähe. Seghers stellt sie einander hier kontrastierend gegenüber. In der Erzählung berichtet ein Ich-Erzähler von seiner Rückkehr nach Brasilien, in das er mit seinen Eltern emigrierte und das er nach Kriegsende ungern und auf Wunsch seines Vaters verlässt und dabei seine große Liebe zurücklassen muss. Als Triebel, gezwungen von seinem Vater, zum Studium nach Deutschland zurückkehrt, findet er das Deutschland vor, das Seghers nach ihrer Rückkehr so sehr erschütterte: Millionen Kriegstote. Millionen, Millionen. Aber was ich erblickte, wofür war das die Strafe? Zertrümmerte Städte, hohläugige Menschen, die sich, soweit sie noch Kräfte zum Gehen hatten, zu irgendeiner Verteilungsstelle schleppten und Tütchen voll Hafer und Gerste und ihre Brotration oder eine Handvoll Zucker bekamen. Und auch in Berlin, auf der Suche nach meines Vater Freunden, stiegen wir durch längst nicht mehr vorhandene Straßen, über Berge von Trümmern. Alte und Junge wühlten in den Trümmern nach irgendetwas Verwertbarem oder Verkaufbarem.408 Triebel ist wie gelähmt von der trostlosen und grauen Realität, die sich ihm in der vermeintlichen Heimat Deutschland darbietet. Er sehnt sich zurück nach Brasili403 404 405 406 407 408
Vgl. Seghers: Hier im Volk der kalten Herzen, S. 138 Vgl. ibid. S. 66 Ibid. S. 79 Vgl. Diersen: »Erfahrung Mexiko«, S. 146 Vgl. ibid. S. 14 Seghers, Anna: Überfahrt. Eine Liebesgeschichte. Darmstadt und Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag 19822 , S. 42
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en, was er in der Erzählung auch äußert: »Heimweh ergriff mich, stärker als je in der letzten Zeit.«409 Wie von Seghers selbst erlebt, wird Deutschland, in Triebels Fall die DDR, zum Kontrastort zur exotischen Zweitheimat. Ähnlich wie Mexiko wird auch Brasilien vor allem mit Farben, Gerüchen und den Menschen auf den Straßen in Verbindung gebracht. Das Motiv, das die Erzählung wie ein roter Faden durchzieht, ist das der »Früchte des Landes«410 . Der Geruch war das Erste, was Triebel wahrnahm, als er sich nach langer Absenz wieder auf brasilianischem Boden befand: »Ich musste es tun. Ich musste den Geruch der Früchte am nächsten Obststand einatmen. Ich war fast betäubt, denn mit dem Geruch drang alles in mich ein, was ich vergessen hatte.«411 Triebels Beschreibungen lassen an jene des farbenfrohen und warmen Mexikos denken, das Seghers nach ihrer Rückkehr nach Deutschland so sehr vermisst. Für Triebel ist der so typische Geruch ein wesentlicher Teil Brasiliens, das ihn immer wieder in seinen Bann zieht: »Er zeigte mir den Großmarkt. Ich war ganz benommen von dem Geruch seiner Früchte, aller Früchte seines Landes.«412 Brasilien wird in Seghers’ Erzählung zum Sinnbild für die exotische Fremde, die Seghers in Mexiko selbst erleben durfte. Seghers zeichnet erstmals ein emotionales Bild Lateinamerikas. Die Sehnsucht des Protagonisten nach Brasilien entspricht ihrer Sehnsucht nach Mexiko. Sie erwähnt in der Erzählung Mexiko und die mexikanische Wandmalerei auch explizit. Sie lag Seghers besonders am Herzen. Nach ihrer Rückkehr beschäftigte sie sich verstärkt mit dieser Thematik413 : Ich erzählte ihr auch von Mexiko, das ich nicht kannte, da man dort mehr malte als dichtete. Ich versprach, ihr daheim Wandbilder zu zeigen. Die ganze Geschichte Mexikos sei an die Wand einer Loggia gemalt, die zu der Ebene offenstehe. Mir hatten Freunde erzählt, mancher Indio würde sein Maultier an einen Baum binden und mit Frau und Kind hinauf in die Loggia steigen und ihnen alles erklären, von Cortez und seiner Bosheit bis zu dem weißen Pferd Zapatas.414 Die Erzählung erschien erst 1971 in Berlin, was zeigt, wie lange Seghers das Thema ihrer doppelten Heimatlosigkeit beschäftigte. Seghers’ erste Publikation mit realem Mexikobezug ist der mexikanischen Fresken-
Seghers: Überfahrt, S. 47 Dies war der ursprünglich vorgesehene Titel. Seghers: Überfahrt, S. 78 Ibid. S. 107 In der Erzählung erwähnt Seghers den brasilianischen Bildhauer Alejadingo, der Triebel und seiner große Liebe Maria mit seiner Kunst ein durchdringendes Erlebnis bereitet. Seghers überträgt hier ihre eigene, sehr positiven Erfahrung mit der mexikanischen Wandmalerei. Vgl. Diersen: »Erfahrung Mexiko«, S. 146 414 Seghers: Überfahrt, S. 98
409 410 411 412 413
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malerei gewidmet. In ihrem Essay »Die gemalte Zeit« beschreibt sie die mexikanische Wandmalerei, die dem Volk – dem hohen Grad an Analphabetismus trotzend – Kunst und Kultur näherbringen konnte. Wenn ein Hitler in Mexiko das Kulturerbe hätte auslöschen wollen, so hätte er, so Seghers, nicht die Bücher verbrennen, sondern die Bilder von den Wänden abkratzen lassen müssen.415 Die mexikanische Wandmalerei ist für Seghers ein Musterbeispiel einer öffentlichen und für das Volk bestimmten Kunst: Das muß man wissen, wenn man versuchen will zu verstehen, was die Fresken für Mexiko bedeuten. Nicht nur für Mexiko, sondern nach und nach für die Kunst der ganzen Welt. Denn wahrscheinlich hat es seit der Renaissance […] keine künstlerische Bewegung gegeben, die so tief in den Massen verwurzelt war und gleichzeitig in den seltensten, durchgebildesten Menschen.416 Für Seghers ist Mexiko nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nicht mehr nur rettendes Paradies für exilierte Kunstschaffende. Es wird zum visionären Idealort für KünstlerInnen im Allgemeinen: »Und alles getaucht in das unvergleichliche Licht einer Sonne, die nicht nur auf Gerechte und Ungerechte scheint, wie überall, auf Ausgebeutete und Ausbeuter, sondern vor allem für die Künstler zu scheinen scheint, […].«417 Nur in Mexiko könne, so Seghers, eine reine, wahre und tatsächliche Kunst geschaffen werden: »Es gibt die Zeit so rein, daß sie zeitlos wird. Und diese gemalte Zeit ist von Fehlern, von Ehrgeiz, von Unvermögen so unbefleckt, daß sie reine Kunst ist.«418 Seghers sah den romantischen Traum einer harmonisch im Volksleben verwurzelten Kunst in Mexiko verwirklicht. Die Idee einer Kunst und Kultur für das Volk verarbeitet sie auch in ihrer 1967 erschienenen Erzählung Das wirkliche Blau, in der der Protagonist und Töpfer Benito sich auf die Suche nach dem richtigen Blauton für seine Töpferarbeiten begibt. Seghers benutzt ihre mexikanischen Erfahrungen laut Diersen zum »Aufbau von Modellsituationen«, die als Gegenbilder zum realsozialistischen Alltag bzw. zur westlichen Zivilisation generell dienen.419 Der Töpfer Benito Guerrero, der in einem Ort in der Nähe von Mexiko-Stadt lebt, bekommt eines Tages den für seine Keramik so typischen Farbstoff nicht mehr, da die Farbe in Deutschland produziert wird, das sich im Krieg befindet. Er gerät dadurch in existenzielle Not und entschließt sich, sich selbst auf die Suche nach dem blauen Farbstoff zu machen. Am Ende der Geschichte wird er auch fündig. Vgl. Seghers, Anna: »Die gemalte Zeit. Mexikanische Fresken«, in: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927 – 1953. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band XIII. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 19801 , S. 214 416 Ibid. S. 215 417 Vgl. ibid. S. 216 418 Vgl. ibid. S. 218 419 Vgl. Diersen: »Erfahrung Mexiko«, S. 146 415
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Die Suche nach dem blauen Farbstoff symbolisiert den Stellenwert der Kunst und der KünstlerInnen in der mexikanischen Gesellschaft. Kurt Batt schreibt diesbezüglich in seinem Aufsatz, dass es sich in Das wirkliche Blau nicht um einen Künstler und seine Geschichte handelt, sondern um ein »allgemeines Lebens- und Arbeitsprinzip, das die Voraussetzung für die Kunst bildet: die Suche nach einer unverwechselbaren, einmaligen Farbe, durch die sich eine Individualität zu erkennen gibt«420 . Dem Töpfer geht es nicht nur um irgendeine blaue Farbe, sondern um einen speziellen Farbton – seinen Farbton, der seine Existenz bestimmt und seine Tätigkeit aus der Banalität zum Künstlertum erhebt: »Was aber würde mit seiner Familie geschehen? Er hing an seinem Blau, als ob es sein Schicksal wäre. Und es war wohl auch sein Schicksal. Er mußte es aufstöbern. Man findet schließlich, was einem gehört.«421 Dieser besondere Farbton – das wirkliche Blau – verteidigt das Geringfügige als bestimmtes Mal der Kunst und unterstreicht laut Batt so die Einzigartigkeit der Kunst und der KünstlerInnen.422 Ähnlich der Wandmalerei vermochte es für Seghers auch das mexikanische Kino, die Kunst den Massen zugängig zu machen. Es diente ihr auch als Mittel zur ästhetischen Reflexion über den sozialistischen Realismus. Die Darstellungskraft der berühmten mexikanischen Schauspielerin Dolores del Río ist für Seghers gleichzusetzen mit jener der Wandmalerei. Seghers’ Entschluss, über Diego Rivera – und nicht über die mexikanischen Malerinnen María Izquierdo oder Frida Kahlo – zu schreiben, war ebenso programmatisch wie der Entschluss, den Film Die Verlassenen423 mit Dolores del Río in ihrer Erzählung Crisanta thematisch zu verarbeiten. Rivera war Seghers auch ein politisches Vorbild, mit dem sie sich identifizieren konnte. José Clemente Orozcos Wandmalereien waren für sie abstrakter und schwieriger zu entziffern. Dadurch waren sie ihrer Meinung nach auch für das Volk weniger zugänglich. Im Zentrum stehen für Seghers weniger die verschiedenen Visionen der Malerei, sondern vor allem die daraus resultierende soziale Funktion des Künstlers.424 Durch die schauspielerische Leistung von Dolores del Río inspiriert, äußert Seghers den Wunsch und die Absicht, über die vielen talentierten und starken Frauen Mexikos zu schreiben. Dies setzt sie erst 1951 in der Erzählung Crisanta um. Das Schicksal Crisantas ist dem der filmischen Protagonistin Margarita nachgezeichnet. Beide Plots schildern das oft ausweglose Schicksal vieler mexikanischer Frauen. Seghers selbst verteidigt in ihrem Essay über Dolores del Río ihre Themenwahl:
420 Vgl. Batt, Kurt; Führmann Franz (Hg): Schriftsteller, Poetisches und wirkliches Blau. Aufsätze zur Literatur. Hamburg: Hoffmann und Campe 1980, S. 281 421 Seghers, Anna: Das wirkliche Blau. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 20042 , S. 19 422 Vgl. Batt; Führmann: Schriftsteller, Poetisches und wirkliches Blau, S. 281 423 span. Originaltitel Los abandonadas, Regie Emilio Fernández (1945) 424 Vgl. Batt; Führmann: Schriftsteller, Poetisches und wirkliches Blau, S. 261
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Ich höre schon beim Lesen der Überschrift viele Menschen aus Mexiko bestürzt fragen: Warum schreibt die Frau gerade über die Frau? Ist sie es wert? Wir haben wenig Zeit und Platz. Gibt es nicht Frauen genug in diesem Land, deren Leben bewusster, kämpferischer, wichtiger für die Zukunft verlief? Zum Beispiel eine Corregidora, die den Befreiungskampf gegen die Spanier auslöste, indem sie, von ihrem Mann eingesperrt, den Wächter durch Klopfzeichen verständigte, mit einer Warnung zu den Verschwörern zu reiten, die den verratenden Aufstand vor dem erwarteten Tag ausriefen? Oder über eine der Frauen, die als Soldat oder als Pflegerin der Volksarmee des Bauernführers Zapata folgten, oder ganz einfach über eine der zahllosen Frauen Mexikos, an deren drückendem, schweigend ertragenen Leben kein Aufstand und keine Rebellion, keine Corregidora und keine Soldatin etwas geändert hat, so dass sie in Hitze und Regen, ohne zu klagen, als sei das Leid ihre Pflicht, barfuß und hungernd ihr Kind in dem erstaunlich geschickt geschlungenen Rebozo, dem ewigen Schultertuch, über die harten Straßen trägt, […].425 Auch in der Erzählung selbst nimmt Seghers Bezug auf Dolores del Río und den Film Die Verlassenen, den die Protagonistin Crisanta mit ihrem Freund Miguel, der sie bald darauf sitzen lässt, im Kino ansieht: Sie gingen zusammen ins Kino. Das Stück gefiel beiden so gut, daß sie einander vergaßen. Ein Mädchen, schön wie ein Engel rutscht immer tiefer ins Unglück. Sie wird verführt oder verlassen. Sie kommt von einer Hand in die andere. Sie hat Pech mit den Männern. Sie hat ein Kind, das kommt ins Waisenhaus. Die Mutter wird elend und alt. Sie kommt ins Gefängnis. Als sie ihren Sohn in der Schule besucht, erkennt er die eigene Mutter nicht. Er hat inzwischen lesen und schreiben gelernt. Er hat studiert. Er wird Jurist. Er verteidigt vor Gericht eine unbekannte zerlumpte Frau.426 Zwischen Crisantas Leben und dem der Margarita finden sich einige Parallelen. Beide stammen aus der untersten Schicht der Bevölkerung. Beide werden von ihren Männern verlassen und sind dadurch gezwungen, ein Leben am Rande der Gesellschaft zu führen. Mexiko wird hier abermals zur Projektionsfläche. Seghers gibt zwar an, über das Schicksal der mexikanischen Frauen schreiben zu wollen, nimmt sich aber eine mexikanische Künstlerin bzw. einen mexikanischen Film als Vorbild, anstatt sich an realen Figuren zu orientieren. In ihrem Essay über Dolores del Río beschreibt Seghers, wie gut es der Schauspielerin gelinge, Momente
425 Seghers, Anna: »Dolores del Río«, in: Anna-Seghers-Gesellschaft (Hg.): Argonautenschiff 12. Berlin (u.a.): Aufbau Verlag 2003, S. 255 426 Seghers, Anna: Crisanta. Erzählungen 1950 – 1952. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 19941 , S. 25
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des mexikanischen Lebens einzufangen und in den Filmen abzubilden, auch wenn diese vielleicht klischeehaft und konstruiert wirken könnten: Banal? Vielleicht. Kitschig? Vielleicht. Das kommt darauf an, wie es gespielt wird. Es kommt darauf an, ob aus dem trivialen romanhaften Ablauf das herausgebracht werden kann, was nie trivial wird. Es kommt darauf an, im Gewöhnlichsten und Banalsten, was allen Menschen gemeinsam ist. Es ist ihr gelungen, in vielen anderen Filmen nur ihr selbst eigentümliche Handlungen in Szenen zu stellen, die für ihr Land und ihr Volk charakteristisch sind: Der Blumen- und Gemüseverkauf auf den Booten von Xochimilco, den venedighaften Kanälen; das heidnische Kirchenfest jedes Jahres: das Segnen der Tiere. […].427 Das Bild, das Seghers von Mexiko zeichnet, ist vielseitig. Diese Vielseitigkeit ergibt sich aus den verschiedenen Projektionen, zu denen Seghers Mexiko – entsprechend ihrer jeweiligen Lebenssituation – heranzieht. Für Seghers ist Mexiko vor allem ein politisches Paradies, das als Vergleichsparameter herangezogen werden kann. Lediglich einmal, nämlich in ihrem Werk Überfahrt, dient Mexiko Seghers nicht vordergründig als Projektionsfläche für (gesellschafts-)politische (Wunsch)Vorstellungen. Sie stilisiert es als Land, in dem ideale (sozialistische) Kunst entstehen kann – und das immer wieder. Da wird Mexiko für Seghers kurz zum persönlichen Sehnsuchtsort – und zum exotischen Paradies. Seghers bildet in ihren Werken stets eine subjektive und instrumentalisierte mexikanische Realität ab, die sich mit fiktionalen Elementen mischt. Für sie ist Mexiko ein visionärer Kontrastort, in dem die Stimme des Volkes – nicht zuletzt dank der Kunst – gehört wird und folglich auch Einfluss nehmen kann: Die Kunst in Mexiko bezeugt eine solche Kraft in den Freskenbildern, in denen sie, weil sie unverblümt, ganz und gar ihre eigenen Menschen darstellt, die Wünsche und Ziele eines Volkes für alle Menschen und alle Völker bewusst macht. Wenn man die Darstellungskraft einer Schauspielerin mit diesem Maß misst, verhält sie sich dazu wie die Blüte zum Baum.428
5.8.7
Kennt ihr das Land, wo die Kakteen blühn? Die Reportage als Exilgattung par excellence?
Gerade in der Exilliteratur sind Berichte und Reportagen aufgrund ihrer Unmittelbarkeit besonders relevant und haben dementsprechenden Einfluss auf die Wahrnehmung Mexikos in Europa. Als Gattung ermöglichen sie nicht nur sehr direkte Schilderungen, sondern auch eine thematische Orientierung an episodenhaften Sequenzen der Wirklichkeit. Neben dem Wunsch der SchriftstellerInnen, ih427 Seghers: »Dolores del Río«, S. 258 428 Ibid. S. 259
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ren Ideologien und Denkweisen in Bezug auf die verlassene Heimat Ausdruck zu verleihen, existiert auch das natürliche und immediate Bedürfnis, die neu gewonnenen, oftmals exotischen Eindrücke zu Papier zu bringen und so (mit-)zuteilen. Die besondere Situation der ExilschriftstellerInnen nimmt sowohl thematisch als auch strukturell Einfluss auf die Konzeption und Umsetzung der sogenannten Exilreportage. Neue, oftmals unvermittelte Schreibbedürfnisse entstanden aus der veränderten Lebenssituation und dem oft befremdlichen Umfeld. Ein Bruch in der Konzeptionierung der Gattung ist die Folge. Zur Unerzählbarkeit der Welt als Signum des Erzählens und Berichtens über Mexiko und seine Natur kommen nun auch die neuen Lebensumstände im Exil und die daraus resultierenden Bedürfnisse. Am Beispiel von Egon Erwin Kisch wird die neue Konzeptionierung und die veränderte thematische Ausrichtung der Gattung besonders augenscheinlich. Wie bereits angeführt, wurde Egon Erwin Kisch als Reisereporter bekannt und trug durch seine zahlreichen Publikationen zur Etablierung und Verbreitung der Reisereportage bei. Schmidt führt in seiner Abhandlung über die veränderte und zunehmend literarisch angelegte Reportageform Kischs an, dass Kisch selbst 1946 in einem Brief an Paul Wiegler seinen im Exil veränderten Schreibstil und seine modifizierte Auffassung der Gattung kritisiert: »Was mich anbelangt, habe ich im Exil einige Bücher geschrieben, die weit über das hinausgehen, was ich früher gemacht habe und was ich heute größtenteils ablehne.«429 Bevor Kisch aufgrund der politischen Umstände in Europa gezwungen war, ins mexikanische Exil zu flüchten, war er ein Verfechter der genauen Wiedergabe von Tatsachen in der Reportage. Bereits in seinem ersten in Mexiko erschienenen Werk Marktplatz der Sensationen (1942) besann sich Kisch auf seine frühere Ansicht, »der Berichterstatter sei der Prosaist der Ballade«. Er gesteht ein, dass die direkte Beschreibung der Realität viel schwieriger sei, als das allgemein angenommen werde, und dass es zur Gestaltung der Wahrheit der Fantasie bedürfe.430 Dieses Bekenntnis erinnert an Humboldt und seine Art der Darstellung der mexikanischen Wirklichkeit. Durch Kischs Rolle und Wirkungskreis hebt er mit seiner Aussage die Trennung zwischen Fiktion und Dokumentation endgültig auf und erhebt die Reportage zur Kunstform. Kischs neue Lebenssituation sprengt seine alten Grenzen. Schmidt sieht eine Wandlung Kischs von einem »dem Tagesgeschehen verpflichteten Journalisten zum literarischen Chronisten der historischen Zusammenhänge«.431
429 Schmidt, Friedhelm: »Literarische Reportage aus ›anderen Zeiten und Breiten‹. Egon Erwin Kischs Entdeckungen in Mexiko«, in: Hanffstengel, Renata von (Hg.): Mexiko, das wohltemperierte Exil. México: Institito de Investigaciones Interculturales Germano-Mexicanas 19951 , S. 72. Zitiert nach Siegel, Ernst Christian: Egon Erwin Kisch. Reportage und politischer Journalismus. Bremen: Schünemann 1973, S. 287 430 Vgl. ibid. S. 72 431 Vgl. ibid. S. 73
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Kisch wandte sich im Unterschied zu anderen exilierten SchriftstellerInnen sehr bald dem Thema »Mexiko« zu. Schon 1941 – Kisch floh 1939 – schrieb er in der Zeitschrift Freies Deutschland erstmals über Mexiko. Diese frühe thematische Hinwendung ist ungewöhnlich, da die Bekämpfung des Faschismus thematisch klar im Vordergrund stand. Jedoch begünstigten Kischs journalistische Erfahrung und seine im spanischen Bürgerkrieg erworbenen Sprachkenntnisse die rasche literarische Hinwendung zu seinem Gastland. Neben der Behandlung von politischen Themen bzw. der Instrumentalisierung Mexikos als dementsprechende Projektionsfläche widmete er sich auch anderen mexikanischen Themen. Seine Beschäftigung mit Humboldt und dessen Mexiko-Darstellung ist nicht nur politischem Engagement geschuldet. Neben der Kritik am Nazi-Regime, das sich laut Kisch innenpolitisch gegen Humboldt wandte, da dieser »bestritt, daß es eine minderwertige Menschenrasse gäbe«432 , wie er in seiner Mexiko-Reportage Entdeckungen in Mexiko schreibt, haben die Verweise auf Humboldt für Kisch noch eine weitere wichtige Funktion. Kisch führt in dem Kapitel »Kulturgeschichte des Kaktus« an, dass bereits Goethe über die Gestalten dieses Gewächses geschrieben hat. Seine Erkenntnisse würden laut Kisch jedoch eindeutig von Humboldt stammen, was auch auf Karl Mays Kenntnisse der mexikanischen Natur zutreffe.433 Kisch polemisiert hier die Tatsache, dass sowohl bei dokumentarischen als auch bei fiktiven Reiseberichten die Rezeption früherer Texte die Konzeption neuer Schriften inhaltlich und strukturell beeinflusst.434 Diese Erkenntnis der Intertextualität des modernen Reiseberichts beeinflusste Kischs Umorientierung. Der Augenzeugenbericht als wichtigstes Stilmittel der Reportage reiche, so Schmidt, nicht mehr aus, um die von »exotischen Bildern« immer »vorgeformte Wahrnehmung fremder Realität« zu durchbrechen. Für Kisch entstehe die Notwendigkeit einer historischen Gesamtschau, die sowohl aktuelle Themen als auch historische Ereignisse umfasse.435 Dieser Anspruch auf eine Gesamtschau ist oftmals ein typisches Merkmal der Exilreportage. Gerade die präkolumbianische Geschichte ist für Kisch ein faszinierendes und auch essenzielles Thema, das notwendig war, um die mexikanische Kultur überhaupt fassen und beschreiben zu können. Durch den starken Einbezug historischer Themen, die eine Gesamtschau gewährleisten sollen, distanziert sich Kisch tendenziell von einem dokumentarischen Anspruch. Die Reportage wird dadurch nicht nur weniger aktuell, sondern zunehmend literarischer und fiktionaler. Kischs Entdeckungen in Mexiko setzen sich aus historischen Darstellungen und einzelnen Episoden aus dem mexikanischen Alltag sowie der (Kultur-)Geschichte 432 Kisch, Egon Erwin: Entdeckungen in Mexiko. München: Knaur 1988, S. 187 433 Vgl. ibid. S. 31 434 Vgl. Schmidt: »Literarische Reportage aus ›anderen Zeiten und Breiten‹. Egon Erwin Kischs Entdeckungen in Mexiko«, S. 75 435 Vgl. ibid. S. 74
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ausgewählter Dinge und Waren zusammen. Er beginnt seine Schilderungen mit dem Kapitel »Geschichten mit dem Mais«, schreibt des Weiteren über Kakteen, Kräuter, Baumwolle, Petroleum und vieles mehr. Kisch möchte seinen LeserInnen das Land Mexiko näherbringen, ohne wieder in exotische Klischeebeschreibungen zu verfallen, wie sie in der Abenteuer- und Reiseliteratur zu finden sind. Er ist bemüht, ein authentisches Bild Mexikos zu zeichnen, trotzdem wird er oftmals kritisiert und einer eurozentristischen Sichtweise bezichtigt, da – ähnlich wie in den frühen Chroniken der Kolonialzeit – den imaginierten europäischen Rezipient Innen das Fremde durch Rekurs auf das Bekannte nähergebracht werde.436 Auch Pohle äußert sich diesbezüglich wie folgt: Gemeinsames Merkmal der Texte ist der Versuch, die sozialkritische Wahrnehmung des Gastlands in witzig-unterhaltsamer Form dem europäischen Erfahrungs- und Vorstellungshorizont zu vermitteln. Für die widersprüchliche Komplexität wechselseitiger Durchdringung indianischer, kolonialer und moderner Traditionen ist Kisch keineswegs blind. In der Tendenz, das Fremde in spielerischer Form mit vertrauten Bildern zu assoziieren, erweist er sich aber allen ironischen Brechungen zum Trotz als zutiefst eurozentristisch.437 Bedenkt man die besondere Situation, die ein Leben im Exil impliziert, ist der Wunsch, die neue Situation auch literarisch zu erfassen, nachvollziehbar. Die neue Realität kann jedoch nur anhand der Geschichte des Landes sowie der gegenwärtigen Entwicklung Mexikos erfasst und beschrieben werden. Der Vergleich ermöglichte es Kisch nicht nur, die fremde Realität fassbar und anschaulich zu machen. Er konnte laut Karin Ceballos Betancur auch Änderungsmöglichkeiten in der Heimat aufzeigen, so undurchsetzbar diese zur Entstehungszeit der Texte auch gewesen sein mögen.438 Kisch geht es nicht mehr vordergründig um die Reportage im Sinne eines formalen und inhaltlichen Parameters, für ihn existieren nunmehr immanentere Themen, die es literarisch zu verarbeiten galt. In beiden seiner Themenkomplexe – den Aufbereitungen des historischen Stoffes und den kulturgeschichtlichen Sequenzen – setzt Kisch bewusst immer den Bezug zu Europa. Sein Werk ist als eine für das (deutschsprachige) Europa aufbereitete Darstellung zu verstehen, wie auch die oftmals angeführten Erläuterungen spanischer Begriffe bestätigen. Die Hinweise finden sich jedoch auch textimmanent. So zum Beispiel impliziert die Formulierung »Das erste, was auffällt«439 , die 436 Vgl. Schmidt: »Literarische Reportage aus ›anderen Zeiten und Breiten‹. Egon Erwin Kischs Entdeckungen in Mexiko«, S. 77 437 Pohle, Fritz: »Egon Erwin Kisch«, in: Hielscher, Martin (Hg.): Fluchtort Mexiko. Ein Asylland für die Literatur. Darmstadt: Luchterhand Literaturverlag 1992, S. 38 438 Vgl. Ceballos Betancur, Karin: Egon Erwin Kisch in Mexiko. Die Reportage als Literaturform im Exil. Frankfurt a.M.: Peter Lang Verlag 2000, S. 43 439 Kisch: Entdeckungen in Mexiko, S. 11
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Kisch im ersten Kapitel seiner Entdeckungen wählt, um die Besonderheit der mexikanischen Tortillerías zu beschreiben, einen nicht ortskundigen Erzähler, der sich an nicht ortskundige AdressatInnen wendet. Auch die Brücke, die Kisch zu den Bäckereien und Bäckerläden in Europa schlägt, um die örtlichen Begebenheiten besser erläutern zu können, geht eindeutig an ein Publikum, das in seinem Erfahrungswortschatz das Wort Bäckerei als solches abgespeichert hat: »Das erste, was auffällt, sind die Tortillerías, Bäckereien und Bäckerladen zugleich und doch keines von beiden.«440 Der Verweis auf die »Tschinellenschläger der seligen Wiener Burgmusik«441 , an die er sich durch die umherfliegenden Teigklumpen erinnert fühlt und auf die Ceballos Betancur hinweist, zeugt ebenso von einer assoziativen Verankerung.442 Der Vergleich mit Bekanntem ist ein von Kisch bewusst gewähltes Stilmittel, um das Fremde vertraut und begreiflich zu machen. Die Vorgehensweise an sich ist nicht neu, sie wird jedoch von Kisch bewusster und reflektierter eingesetzt. Sie wird zu einem charakteristischen Merkmal der Exildichtung, da die Vergleiche die einzige Brücke zur verlorenen Heimat schlagen können, die den Exilschriftsteller Innen noch bleibt: Was Egon Erwin Kisch vielfach als Eurozentrismus ausgelegt wird […], ließe sich auch anders lesen: als die Anspielung auf europäische Dichter, Denker und Geschichte, als »Rettungsversuche für die abgebrochene Tradition«, die Werner Vordtriede als gemeinsames Merkmal aller Exildichtung ausmacht.443 In Kischs Entdeckungen finden sich zwei unterschiedliche Erzählhaltungen. Er wählt vor allem bei aktuellen Reportagen eine Ich-, Du- oder Ihr-Form. So beginnt er beispielsweise das Kapitel über den Silberabbau, indem er in einer personalen IchPerspektive von Eindrücken sowie seiner Verwunderung über die kuriose Landschaft berichtet: »Bin ich in einer chinesischen Landschaft? In einem von Jules Verne erdachten Land im Inneren der Erde? Bei der Wasserpantomime eines komischen Zirkus? Alles, was ich sehe, ist unbegreiflich und wird noch unbegreiflicher, da ich zu begreifen beginne.«444 Im Kapitel »Kulturgeschichte des Kaktus« wiederum spricht er die LeserInnen in der Ihr-Form direkt an. Die hier gewählte Erzählhaltung dient dazu, eine direktere, unmittelbarere Anteilnahme der Leserschaft zu erwirken: Ihr fahrt von Mérida, der Hauptstadt Yucatáns, nach Chichen Itzá. Das sind hundertzwanzig Kilometer. Zur ersten Hälfte braucht das Auto kaum zwei Stunden,
440 441 442 443 444
Kisch: Entdeckungen in Mexiko, S. 441 Vgl. ibid. S. 12 Vgl. Ceballos Betancur: Egon Erwin Kisch in Mexiko, S. 142 Ibid. S. 136 Kisch: Entdeckungen in Mexiko, S. 108
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zur zweiten mehr als doppelt soviel, denn der Weg ist schlecht. Aber schließlich kommt ihr doch in Chichen Itzá an, das ihr euch anders gedacht habt, als es ist, denn ihr habt von einer großmächtigen geschlossenen Stadt gelesen, die – inmitten des Urwalds versteckt – vom Urwald bedrängt ist.445 Ähnlich dient ihm die Wahl der Du-Form, die er im Kapitel »Der Kasper Hauser unter den Nationen« wählt, als literarisches Instrument, um den LeserInnen verbindlicher vor Augen zu führen, in welch ungeheurem Ausmaß die spanische Eroberung sowie die »Kolonialisierung, die Kapitalisierung, die Pauperisierung, die Bürokratisierung und die Demoralisierung, kurzum die Europäisierung«446 geglückt waren: Du kommst im Eisenbahnzug an, nimmst Autobus, Straßenbahn oder Taxi und fährst ins internationale Standardhotel, als wäre hier nicht noch jüngst ein See gewesen mit Lagunen und Dammwegen. Du begegnest Menschen mit Allerweltskleidern und Allerweltsgesichtern und kannst dir überhaupt nicht vorstellen, daß hier ein Montezuma mit meterhoher Federpracht auf dem Haupt in goldener Gondel spazierenfuhr.447 Sowohl die Du- als auch die Ihr-Form impliziert die Ich-Haltung des Erzählers. Es ist immer Kisch, der spricht und berichtet und durch den Wechsel der Erzählhaltung die LeserInnen aufrütteln will, um dadurch die Distanz zwischen Text und RezipientInnen zu reduzieren. Kisch will seine Leserschaft für Mexiko sensibilisieren, diese Art der Perspektivierung schafft aber auch eine immanentere Möglichkeit der Zivilisationskritik. Bei historischen Themen greift Kisch auf eine WirForm oder eine neutrale Erzählhaltung zurück. Auch hier ist es Kisch, der erzählt und spricht. Die unmittelbare Partizipation bleibt ihm hier aber grundsätzlich verwehrt, die gewählte Wir-Form ist die einzig mögliche Art der Annäherung. Kisch ist bestrebt, auch die Distanz zu den geschichtlichen Themen zu minimieren und so eine Verbindung zur mexikanischen Gegenwart herzustellen, da für ihn nur so eine Gesamtschau erreicht werden kann. Die Wahl der Wir-Perspektive erfüllt zudem eine weitere Funktion, die Ceballos Betancur beschreibt und mit einem Zitat der mitexilierten Schriftstellerin Lenka Reinerová belegt. Sie dient Kisch mitunter als »kollektive«, gleichsam »schulterschließende« Dimension in Bezug auf die politischen MitstreiterInnen: Dieses »wir« hatte bei ihm in Mexiko eine neue Steigerung erfahren. Vor allem umfasste der Begriff »wir« die zahlreiche, bunt zusammelgewürfelte Gruppe von Antifaschisten aus Europa. […] »Wir« waren freilich auch die verbündeten Armeen,
445 Kisch: Entdeckungen in Mexiko, S. 299 446 Vgl. ibid. S. 294 447 Ibid. S. 294
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insbesondere deren engeres »wir«, die allzu lange an den Fronten geschlagenen, und »wir« begannen endlich an der Ostfront die Faschisten zu schlagen.448 Auch die Personifikation von beschriebenen Gegenständen wird ihm zum Stilmittel mit persönlicher und politischer Dimension. Im Kapitel »Kulturgeschichte des Kaktus« nehmen die Kakteen menschliche Züge an: Meist verzichten die Kakteen auf Blätterwerk und Zierat, sie halten sich gerade, senkrecht fast, um den Pfeilen der Sonne so wenig Fläche als möglich darzubieten. Manche verhüllen sich sogar mit einem Haarbüschel, einem verfilzten Schopf, zum Schutz gegen Sonnenstich und Sonnenbrand. Abgehärtet, geradezu gegerbt ist ihre Haut, um keinen durstenden Sonnenstrahl hereinzulassen und kein Tröpfchen Wasser zu verschwitzen. Ihre Rippen haben eine raffinierte Form des Widerstands, die des Wellblechs, so daß der anstürmende Samum ihren Körper wohl biegen, aber nicht brechen kann.449 Diese Art der Darstellung ermöglicht es Kisch, die Kakteen mit dem Schicksal der Exilanten gleichzusetzen. Der unbelebte Raum wird dadurch belebt und es entsteht eine Verbindung zwischen Mexiko und den exilierten Europäern: »Längst leben die Kakteen in der Diaspora, fast auf allen Kontinenten, jedoch keineswegs überall zu der Menschen Freude.«450 Kischs Entdeckungen in Mexiko waren unter vielen Aspekten eine Neuerung. Seine Intention war es, ein Gegenbild zum überstilisierten exotischen Bild Mexikos zu zeichnen, auch um der nationalsozialistischen Propaganda und der negativen Darstellung Mexikos etwas entgegenzuhalten. Kisch lehnt die Verklärung der Fremde vehement ab und läuft dadurch mitunter auch Gefahr, die Unterschiede zwischen den Kulturen zu nivellieren. Auch seine Perspektive ist und bleibt durch seine Exilsituation geprägt. Auch er, der um eine Gesamtschau bemüht ist, vermag es lediglich, viele fragmentarisch komponierte Episoden zu beschreiben, die er dann zu einem Ganzen zusammenfügt. Kischs beruflicher Hintergrund beeinflusst seine Herangehensweise und die daraus resultierende Darstellung Mexikos. Der Reporter Kisch ist kritischer und hinterfragt Gegebenheiten genauer. Seine Darstellungen entsprechen denen eines exilierten Schriftstellers sehr wenig, auch weil er großteils auf Eigenprojektionen verzichtet. Aber auch Kisch entwirft das Bild eines exotischen Landes und greift auf fiktionale Elemente zurück, um die mexikanische Realität für Europäer – und auch für ihn selbst – überhaupt fassbar zu machen. Im Gegensatz zu Kischs Reportagen, die zwar die Gattung der Exilreportage prägten, sich aber durch seine beruflichen Erfahrungen als Reisereporter speziell 448 Vgl. Ceballos Betancur: Egon Erwin Kisch in Mexiko, S. 138 449 Kisch: Entdeckungen in Mexiko, S. 41 450 Vgl. ibid. S. 38
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gestalteten, entsprechen die Berichterstattungen von Gustav Regler und Ludwig Renn noch deutlicher dem Genre »Exilreportage«. Der Spanienkämpfer und kommunistische Schriftsteller Renn engagierte sich in Mexiko politisch und war unter anderem Vorsitzender der Bewegung Freies Deutschland. Renn, der auch als Kinderbuchschriftsteller tätig war und in seinem Kinder- und Jugendroman Trini über das Schicksal eines »Indianerjungen« in der Zeit unmittelbar vor der mexikanischen Revolution schreibt, war viele Jahre als Universitätsdozent für moderne europäische Geschichte an der Universität von Morelia im Bundesstaat Michoacán tätig. In seinem Geschichtenband Morelia451 beschreibt Renn sowohl seine ersten Eindrücke im fremden Land als auch seine persönlichen Erfahrungen, gepaart mit Beschreibungen der mexikanischen Gepflogenheiten und historischen Begebenheiten. Das Buch beginnt mit seiner Fahrt nach Morelia. Renn beschreibt die Busfahrt und das, was er vom Bus aus sieht. Gleich am Anfang schildert er Teile von Mexiko-Stadt wie etwa das »Schloß Tschapultepék«452 , dann die »sanften Kurven«, in denen sich die »neue, gute Straße« in die »braune, kahle Landschaft schlängelt«. Er beschreibt unmittelbar, was er sieht, so etwa »winzige Flüßchen mit rotbraunem Lehmwasser«, in denen »braune, runde Indianerfrauen« ihre Wäsche waschen.453 Renn beginnt sein Werk mit dem Satz: »Ich war 1939 als antifaschistischer Flüchtling nach Mexiko gekommen […]«454 und führt es auch in diesem Sinne fort. Sein Geschichtenband setzt sich aus episodenhaften Schilderungen seiner Beobachtungen und Erlebnisse in der Universitätsstadt Morelia zusammen. Wie alle ist auch er bestrebt, ein authentisches Bild des Landes zu vermitteln. Er beschreibt, was er sieht und wahrnimmt. Renn stellt aber nicht den Anspruch, seinen Darstellungen einen allgemein gültigen Charakter zu verleihen. Er beobachtet, mutmaßt und interpretiert und entwirft so das sehr persönliche Mexikobild eines exilierten Europäers. In seinem Erzählband und Tagebuch In Mexiko, einer autobiografisch gefärbten Sammlung von Berichten, Reden, Briefen und anderen Dokumenten, legt Renn den Fokus noch stärker auf die Situation der europäischen Exilgemeinde. Im Mittelpunkt seiner Schilderungen steht er selbst – der exilierte Kommunist Renn. Mexiko fungiert lediglich als Kulisse. Renn ist in Mexiko vor allem Politiker, wie auch Kießling im Nachwort anführt. Wenn er sich auch – teils aus Interesse, teils aufgrund der Verpflichtung gegenüber dem Land, das ihn aufgenommen hat – für Land und Leute interessiert, stehen grundsätzlich andere Dinge im Fokus, wie auch an der Strukturierung der ersten Kapitel deutlich zu erkennen ist. Kapitel wie »Wie wir 451 Renn, Ludwig: Morelia. Berlin: Aufbau Verlag 1951 452 Eigentlich Chapultepec. Es finden sich vermehrt spanische Wörter, die Renn einfach so schreibt, wie er sie ausspricht, wie zum Beispiel »Tschile« anstatt Chile oder »Mitschoakán« anstatt Michoacán. 453 Vgl. Renn: Morelia, S. 11 454 Ibid. S. 7
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deutschen Emigranten in Mexiko den Sturz der Naziherrschaft erlebten«, »Erste Versuche nach Deutschland zurückzukehren« oder »Die Ermordung des Sowjetbotschafters« zeigen deutlich die thematische Ausrichtung und den inhaltlichen Schwerpunkt seiner Beschreibungen. Renn ist durchaus interessiert an Mexiko, das Land kann ihn auch faszinieren. Es bleibt jedoch ein Ort, an den er, wie viele andere, unfreiwillig verbannt wurde und der sich ihm nur in Ansätzen erschloss. Wie Seghers entdeckt Renn seine wahre Zuneigung zu Mexiko erst dann, als er das Land bereits verlassen hat, wie Kießling im Nachwort anhand eines Zitats von Renn verdeutlicht: »Je länger ich von Mexiko fort bin, ein um so freundlicheres Andenken empfinde ich diesem Land gegenüber.«455 Auch die Lebenssituation des Schriftstellers und Journalisten Gustav Regler gestaltet sich sehr speziell und hat dementsprechend Einfluss auf sein literarisches Schaffen sowie sein Bild des Landes. Regler wandte sich von der Kommunistischen Partei und dem Kommunismus ab, was zum Bruch mit seinen ehemaligen MitstreiterInnen in Mexiko führte. Seine Position und sein Schaffen weisen jedoch immer wieder »Rückfälle« auf, wie er in seiner Autobiografie Das Ohr des Malchus456 anführt. Die Folge ist eine immer wiederkehrende Rückwendung zur Politik. Regler stilisiert Mexiko als rettendes Paradies, das ihm einen Neubeginn ermöglicht, der ihm wiederum gestattet, seine Erinnerungen »wie schmutzige Verbände« abzuwerfen, wie er in seinem Tagebuch schreibt. Regler berichtet, viele Monate glücklich im Exil gelebt zu haben, bevor die Schiffe immer mehr frühere Freunde nach Mexiko gebracht hätten. Da er nun kein Parteifreund mehr gewesen sei, hätten sie ihn zu ihrem Feind erklärt, was ihm emotional zugesetzt und ihn in eine Außenseiterrolle gedrängt habe.457 Reglers Mexiko ist jedoch ein widersprüchlicher Ort der Exotik. Bereits im Vorwort zu seinem Werk Verwunschenes Land Mexiko weist er auf die üppige Wildheit des Landes hin, das so viele Gegensätze in sich birgt, und erzählt zwei Legenden, die »am schroffsten die Paradoxe illustrieren, die das Land segnen, die das Land verfolgen.«458 Sein Bestreben ist es, ein Bild des mexikanischen Volkes zu zeichnen, das für ihn so viele Gegensätze in sich birgt. Er schreibt, dass er die Charakterisierung auf fünf Kapitel beschränkt habe, da es ansonsten wohl 150 hätten sein müssen. Ähnlich wie Renn dient auch Regler seine eigene Geschichte, die ihn nach Mexiko führte und die seinen Zugang zu jenem Land erklären soll, das er »Bruderland« nennt, als Ausgangspunkt für seine Schilderungen. In seinen fünf Kapiteln schreibt er über die Tolteken und ihre Regenrituale, er interpretiert mit anderen Europäern den mexikanischen Totenkult, er beschreibt den Glauben der Mexikaner, der sich 455 Vgl. Renn, Ludwig: In Mexiko. Berlin: Aufbau Verlag. S. 235 456 Vgl. Regler, Gustav: Das Ohr des Malchus. Köln und Berlin: Verlag Kiepenheuer & Witsch 1958, S. 492 457 Vgl. ibid. S. 485f. 458 Vgl. Regler, Gustav: Verwunschenes Land Mexiko. München: Paul List Verlag 1954, S. 5f.
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zwischen dem Katholizismus und dem Glauben an die alten Gottheiten spaltet; er philosophiert über die Eigenheiten der mexikanischen Mentalität und beleuchtet einige Vorfälle der mexikanischen Geschichte. Reglers Verwunschenes Land ist eine Aneinanderreihung verschiedener Episoden. Er schreibt teilweise in der Ich-, teilweise in der Wir-Perspektive. Regler erzählt von Mexikanern und ihren persönlichen Geschichten. Er berichtet mitunter auch von europäischen BesucherInnen, teilweise Exilierte wie er, die das mexikanische Leben beobachten und sich über ihre Beobachtungen austauschen. Reglers Werk ist der sehr persönliche Versuch der Interpretation eines Landes, das für ihn fremd und exotisch bleibt. Bereits in seinem Vorwort weist Regler darauf hin, dass die Beziehung zwischen Mexikanern und Europäern, wenn überhaupt, meist nur oberflächlich bleiben kann, da es an gegenseitigem Verständnis mangelt: Sein Volk misstraut den Ausländern, unter deren Gier es jahrhundertelang gelitten hat. Es misstraut auch dem flüchtigen Besucher, der es anschaut wie ein wildes Wunder und in allem nur die Heiterkeit sehen will, nie aber die schwere Last des Pflugs und die Schrecken der Trockenheit und den Wahnsinn, der in den Tropennächten umgeht.459 Die Europäer suchen in Mexiko das, was sie glauben zu kennen: die paradiesische und üppige Natur sowie die Heiterkeit des südlichen Lebens. Das bereits existierende Bild der Fremde sowie die diffizilen persönlichen Lebensumstände erschweren den realen Zugang. Reglers Schilderungen sind vor allem geprägt von seiner eigenen Geschichte. Er beschreibt seine Situation in Frankreich im Jahr 1940 und seine Überfahrt mit seiner Frau Marielouise. Mexiko ist für ihn Exotik und Mystik. Er ist sich aber bewusst, dass die Europäer Mexiko mit dieser Voreingenommenheit betrachten und dadurch auch so erleben. Außerdem betont er, dass er sowie alle anderen Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges vor allem ein neues Leben und eine neue Existenzberechtigung suchen würden. Im paradiesischen Mexiko sollen vor allem die schrecklichen Erlebnisse der Vergangenheit vergessen werden: Was suchen wir drüben? Was erwarten wir? Was unsre Kindheit belebt hat: den Zauber der Schatzinsel? Die Lust an der Gefahr? […] Wir suchen Erholung von der Gefahr unserer utopischen Verirrungen. In den Kelch von Orchideen blickend wollten wir die Kinder vergessen, die mit uns im letzten Zug nach St. Nazaire gefahren waren, deren Puppen Kugeln gestreift hatten – o dieses rieselnde Sägemehl, das die kleinen Finger aufzuhalten versuchten! Stille suchten wir, in der Vögel kreisen würden mit seidenem Flügelschlag – es sollten Ibisse sein; Stille, in
459 Regler: Verwunschenes Land Mexiko. S. 5
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die die Indios die Ruder tauchen müssten, während Schmetterlinge sich auf den breiten Florentinerhut von Marielouise setzen würden […].460 Die Magie der »indianischen« Welt und das Gemisch von heidnischen, christlichen, spanischen und nordamerikanischen Einflüssen, die auf friedliche Weise koexistieren konnten, hätten, so Britta Emmrich, Regler verwirrt, da ihm der Zugang zu dieser Welt verwehrt geblieben sei.461 Mexiko ist für Regler tatsächlich ein verwunschenes Land. Bezaubernd auf der einen Seite, aber auch erschreckend und unverständlich auf der anderen. Er bleibt in der eurozentristischen Perspektive verhaftet, und seine Beschreibungen erinnern zum Teil eher an jene eines Reiseschriftstellers, da er Mexiko nicht vordergründig für politische Projektionen instrumentalisiert. Mexiko ist Faszination und Irritation. »Mexiko mischt die Welten«, so Regler selbst, »es ist widerspruchsvoll, es erschreckt und es beruhigt.«462 Regler versucht zu begreifen, aber vieles bleibt ihm fremd und dadurch unheimlich, wie er immer wieder betont. Er schreibt, dass sowohl in seinem Werk als auch für ihn selbst vieles im Halbdunkeln bleibt. Seine persönliche Situation gestaltet sich anders als die seiner mitexilierten KollegInnen, was sich auf seine Wahrnehmung und Darstellung Mexikos auswirkt. Was ihn jedoch mit ihnen verbindet, ist, dass auch er ein sehr persönliches Bild des Landes zeichnet, wie es für die Exilliteratur charakteristisch ist. Regler, der nicht mehr als politischer Mensch und politischer Autor gelten und handeln möchte, zieht Mexiko jedoch nicht so sehr als Kontrastraum heran. Für ihn wird es zu einem persönlichen Flucht- und Rückzugsort, den er mit bereits bestehenden Ideen und Vorstellungen im Kopf wahrnimmt und beschreibt. Mexiko ist Regler ein exotisches Paradies, das gerade durch seine Fremdheit eine Gegenwelt bieten kann. Es bleibt jedoch fremd – eine tatsächliche Annäherung bleibt verwehrt.
5.8.8
Der nicht exilierte Blick? – Bodo Uhses literarisches Mexikobild
Die individuelle Situation jeder Exilschriftstellerin bzw. jedes Exilschriftstellers beeinflusst auch das jeweilige literarische Schaffen. Bodo Uhse nimmt unter den ExilschriftstellerInnen eine Sonderposition ein. Uhse fiel es leichter, einen Zugang zu Mexiko zu finden. Einerseits ist dies wohl auf die einzigartige Naturlandschaft zurückzuführen, die Uhse aufgrund seines Hanges zu diversen AutorInnen der Romantik so sehr schätzte. Andererseits war es die mexikanische Geschichte, insbesondere die mexikanische Revolution, die Uhse faszinierte, da sie sich mit sei460 Regler: Verwunschenes Land Mexiko, S. 9f. 461 Vgl. Emmrich, Britta: »Ich bin wegen des Friedens hier – und meiner Pferde. Gustav Regler in Mexiko«, in: Hanffstengel, Renate (Hg.): Mexiko, das wohltemperierte Exil. México D.F.: Instituto de Investigaciones Interculturalres Germano-Mexicanas 1995, S. 92 462 Regler: Verwunschenes Land Mexiko, S. 13
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nen politischen Idealen deckte. Zudem war Uhse bereits der spanischen Sprache mächtig, als er in Mexiko ankam, was ihm den Start in sein neues Leben deutlich erleichterte. Uhse war bei seiner Ankunft in Mexiko bereits ein kosmopolitischer Mensch. Er verfügte über eine große Toleranz gegenüber seinen Mitmenschen, die sich durch seinen Aufenthalt in Mexiko noch verstärkte. Dieser durchdringende Blick auf Mexiko habe ihn, so Renate von Hanffstengel in ihrem Werk über Uhses Mexikobild, deutlich von anderen Exilanten abgehoben.463 Unter seinen MitstreiterInnen der Gruppe Freies Deutschland war Uhse durch seine Sensibilität, seine Sprachkenntnisse sowie seine Aufgeschlossenheit derjenige, den Mexiko am meisten beeindruckte, was auch in seinen Werken Niederschlag findet. Trotz Uhses Weltoffenheit und seiner Sprachkenntnisse beschränkten sich seine Kontakte auf die Gruppe um die Zeitschrift Freies Deutschland. Seine Vereinsamung hatte laut Hanffstengel politische Gründe.464 Uhse konnte als Parteimitglied nicht mit Menschen verkehren, die der Partei suspekt waren, was grundsätzlich auf alle Menschen außerhalb einer engen Gruppe zutraf. Uhse beschäftigte sich auch mit der mexikanischen Literatur. Besonders der mexikanische Schriftsteller José Revueltas hatte Einfluss auf sein Werk. Inspiriert von Revueltas behandelte Uhse Themen wie die Würde des Menschen in Leid und tiefster Armut, die Unabwendbarkeit des Schicksals, die Zeit- und Geschichtslosigkeit gewisser Themen und den Fluch, der auf den Nachkommen der eroberten mexikanischen Bevölkerung lastete. Er verfolgte auch die literarische Produktion von Traven und orientierte sich an den anthropologischen Recherchen des Kunstkritikers Paul Westheim über altmexikanische Überlieferungen.465 Uhses Mexikanische Erzählungen unterscheiden sich durch das Fehlen einer ideologischen Tendenz von seinem restlichen Schaffen. Sein Frühwerk kann innerhalb seines politischen Engagements als unpolitisch bezeichnet werden. Zwar beleuchtet Uhse soziale Missstände, er bedauert sie jedoch eher, anstatt sie im ideologischen Sinn zu kritisieren. In seinen sechs mexikanischen Erzählungen reißt Uhse verschiedene Themen des mexikanischen Lebens an und zeichnet ein facettenreiches Bild Mexikos. In der Erzählung »Der Bruder des Gavillans« entwirft er beispielsweise ein Bild der Fronten, die sich nach der Mexikanischen Revolution gebildet haben, und beschreibt die daraus resultierenden Konsequenzen für die Menschen. 463 Vgl. Hanffstengel, Renate von: Mexiko im Werk von Bodo Uhse. Das nie verlassene Exil. ExilStudien Vol.4. New York, Wien (u.a.): Peter Lang 1995, S. 62. Hanffstengel führt an dieser Stelle an, dass sich beispielsweise Renn, wie aus einem Zitat von Uhse hervorgeht, gegen das »Erlebnis Mexiko« gestemmt und die Mexikaner aufgrund ihrer »Faulheit, Unzuverlässigkeit und Bestechlichkeit« verachtet hat. – Sie führt in diesem Kontext weiter aus, dass die MexikoWerke Renns eigentlich kaum von Mexiko selbst handeln würden. 464 Vgl. ibid. S. 73 465 Vgl. ibid. S. 133
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Geschildert wird das alltägliche Leben eines Bauern in Mexiko. Uhse lässt den Protagonisten Jeronimo sprechen, der aus einer Innenperspektive auf die Missstände des Landes hinweist: Er dachte, es wäre wohl besser gewesen, wenn er vor zwanzig Jahren nicht die Armee verlassen hätte, wenn er Soldat geblieben wäre. Dann hätte man vielleicht den Kampf nicht abgebrochen, sondern ihn zu Ende geführt, so müde man damals auch gewesen war. Die Revolution wäre nicht eine halbe Sache geblieben, man stünde auf festerem Boden, und Bruder Celestino würde nicht mit seiner Gavilla, einer Bande von Abenteurern, das Land unsicher machen können.466 Als typischer Exilschriftsteller hätte Uhse die Revolution verherrlicht und die positiven Aspekte hervorgehoben. Ihm geht es aber nicht um ideologische Darstellungen, sondern um das Land Mexiko und dessen soziale Probleme, die eine ideologisch zwar richtige, in der Umsetzung aber in Teilen gescheiterte Revolution hinterlassen hat. Nachdem Uhse Mexiko wieder verlassen hatte, musste er keine Rücksicht mehr nehmen: Seine Kritik wurde schärfer und deutlicher, seine Werke zunehmend politischer. In seiner Erzählung »Eine Erbschaftsangelegenheit« entwirft Uhse ein satirisches und zynisches Bild der Regierenden und Machthabenden eines südamerikanischen Staates, die in einem System von Korruption und Bestechung agieren und skrupellos ihre Ziele verfolgen: Der General Alejandro Gil Zeta ist der Bruder des Präsidenten einer südamerikanischen Republik. In diesem Land ist es Tradition, daß der Präsident stets eine weiße Weste hat. Die schmutzigen Geschäfte, um die man nicht herumkommt, macht stets ein Mitglied der Familie des jeweiligen Präsidenten, das ins Kabinett aufgenommen wird.467 Theodor Balk berichtet von einem Gespräch mit Uhse, in dem dieser die geplante Erzählung für seine Mexiko-Reihe ankündigt: Dann erzählte er, was er noch in dieser Mexiko-Reihe zu schreiben vorhat. Am reizvollsten schien mir die Geschichte von dem Minister und General, Besitzer der Stierkampfarena und Bruder des Präsidenten. Bei dieser mündlichen Vorwegnahme kostete Bodo mit Genuß einzeln alle Ingredienzen aus, deren Mischung so bezeichnend für Mexiko ist: lose Pistolentaschen und offene Korruption höchster Stellen neben dem antidiktatorischen Briefgruß »Keine Wiederwahl!«,
466 Uhse, Bodo: »Der Bruder des Gavillans«, in: Erzählungen. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 19761 , S. 242 467 Uhse, Bodo: »Eine Erbschaftsabgelegenheit«, in: Erzählungen. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 19761 , S. 549
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Devotion vor der dunklen Madonna von Guadalupe und übliche »Casachica«Nebengattinen, entfesseltes »Bereichert euch!« neben den Wellblechhütten der Indios.468 Ursprünglich hätte die Erzählung in der Serie Mexikanische Erzählungen erscheinen sollen. Uhse wollte aber vermeiden, den Staat, der ihm Asyl gewährt hatte, so offen zu kritisieren. Die Erzählung erschien dann separat und beschreibt eine südamerikanische Republik, die nicht näher definiert wird. Ähnlich kritisch gestaltet sich auch Uhses Novelle »Die Sonntagsträumerei in der Alameda«, die mit der Fertigstellung von Riveras gleichnamigem Wandbildnis bzw. dem Skandal darum beginnt.469 Die Erzählung handelt von einer (erfundenen) Liebesgeschichte zwischen Rivera und einer amerikanischen Balletttänzerin. Uhse flicht jedoch autobiographische Elemente und Tatsachen in den fiktionalen Plot ein. Er fühlt sich politisch desillusioniert und nimmt laut Hanffstengel keine Rücksicht mehr auf die Kulturpolitik seiner Heimat, die er nun indirekt kritisiert. Zynisch bringt er in der Erzählung auch seine eigenen Ressentiments gegen die Mächtigen dieser Welt zum Ausdruck.470 Die kollektive Wir-Form, die Uhse wählt, ermöglicht gleichermaßen eine Identifizierung mit den Kulturschaffenden Mexikos sowie eine Kritik an der deutschen Kulturpolitik. Offen beanstandet werden »verräterische Revolutionsgeneräle«, »korrupte Politiker« und deren Verwandte, die das Hotel, in dem Riveras Wandbildnis zu sehen ist, gebaut haben: Das Geld, das unser Geld einbringt, wollen wir noch selber in Händen halten, es soll rasch hereinkommen und reichlich. Kann man nicht mit Recht erwarten, dass, was man am fernen Krieg verdient hat, im Frieden noch höhere Gewinne bringt? Je weniger man das Geld braucht, um so mehr ist man darauf angewiesen. So ist es nun einmal. Und darum haben wir dieses prächtige Hotel gebaut, auf dieser Seite des Parks, auf dieser Seite des Lebens und ausschließlich für nordamerikanische
468 Balk, Theodor: »Verwaiste Sonntagsträumerei«, in: Caspar, Günther (Hg.): Über Bodo Uhse. Ein Almanach. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 19841 , S. 151 469 Als Rivera den Auftrag bekommt, im Hotel del Prado in der Nähe des Alameda-Parks in Mexiko-Stadt eine Wand des Speisesaals zu verzieren und dort ein Gemälde schafft, in dem er die gesamte mexikanische Geschichte und Tradition einfängt, löst der dort zitierte Satz »Dios no existe« (dt. Gott existiert nicht) des Philosophen Ignacio Ramírez einen Skandal aus, da der Erzbischof sich weigert, den Saal zu weihen. Das Inaugurationsfest findet ein abruptes Ende. Rivera lehnt es dennoch ab, den Satz zu übermalen. Es entbrennt ein Streit zwischen klerikalen und links orientierten StudentInnen. Als Erstere den Satz übermalen, stürzt Rivera, gefolgt von anderen KünstlerInnen und Intellektuellen, zurück in das Hotel, um den Satz wieder aufzumalen. Das Gemälde wird daraufhin nicht mehr gezeigt, bis Rivera sich bereit erklärt, den Ausspruch durch einen Hinweis auf das entsprechende historische Ereignis zu ersetzen. 470 Vgl. Hanffstengel: Mexiko im Werk von Bodo Uhse, S. 178f.
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Gäste, die in Dollar zahlen und, von allem Komfort umgeben, aus den Fenstern des Hauses unser Land wie eine Kuriosität betrachten.471 Die Erzählung gleicht einer Parodie. Er karikiert die misslungene Revolution. Seine Desillusionierung hinsichtlich der mexikanischen Geschichte entspricht seiner eigenen politischen Desillusionierung, die sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland einstellt. Als sein literarisches Schaffen wieder politischer wird, dient ihm Mexiko vor allem als Deckmantel, um die Missstände im eigenen Land symbolisch darzustellen. Im Zentrum der vielen verschiedenen Episoden steht der revolutionäre Künstler Diego Rivera, mit dem Uhse sich identifiziert und den er nach dem Tod von zwei Gewerkschaftsführern sprechen lässt: Nur die Toten sind kenntlich, dachte der Maler, die Mörder bleiben im Schatten, und er spürte einen körperlichen Schmerz, so brennend war sein Zorn und das Gefühl einer alles zerstörenden Trauer. In welch einem Land leben wir! Muß ich mich der Erde schämen, die mich geboren hat und ach zu bald wieder aufnehmen wird? Muß ich mich schämen der Zeit, in der ich lebe?472 Mexiko dient Uhse hier als Metapher. In ebendieser Funktion lässt er auch Rivera in seiner Erzählung sprechen und kann so indirekt seine eigene Meinung über die Zustände in seiner Heimat zum Ausdruck bringen. Während in Uhses Spätwerk Mexiko als Projektionsfläche für seine sehr persönlichen politischen Botschaften herangezogen wird, ist sein frühes Mexiko-Werk geprägt von einer erzählenden und beschreibenden Charakterisierung des mexikanischen Lebens. In seiner Erzählung »Reise in einem blauen Schwan« thematisiert Uhse beispielsweise die Lebensumstände der mexikanischen Landbevölkerung. Diese werden in die Geschichte der reinen Liebe eines mittellosen Indigenen namens Miguel zur Frau eines wohlhabenden, herzlosen Mannes eingebettet, der bereits als zweifacher Mörder bekannt ist und am Ende der Erzählung auch Miguel aus Eifersucht tötet. Der Protagonist fügt sich stumm und unterwürfig seinem Schicksal und betrachtet seine Angebetete aus der Ferne. Seine Liebe zu ihr dominiert ihn so sehr, dass er darüber auch die Gefahr vergisst, die von ihrem eifersüchtigen und gewalttätigen Ehemann ausgeht: »Wie sie so ein wenig über ihm dahinschritt, spürte Miguel die Reife und Würde ihres Wesens und wurde von einer Verzückung befallen, so dass er plötzlich einen hellen jubelnden Ruf ausstieß.«473 Die ausweglose Situation und die aussichtslose Liebe zu Carmela lassen Miguel resignieren. Der einzige Moment des Aufbäumens zeigt sich während einer Karussellfahrt, zu der Miguel Carmela Uhse, Bodo: »Sonntagsträumerei in der Alameda«, in: Erzählungen. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 19761 , S. 333f. 472 Ibid. S. 427 473 Uhse, Bodo: »Reise in einem blauen Schwan«, in: Erzählungen. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 19761 , S. 232f.
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einlädt, als ihr Mann aus Wut und Argwohn, sie würde ihn um Geld betrügen, ihre Tonarbeiten zerschlägt. Die beiden können einen Augenblick lang der Realität entfliehen: Solange das Karussell stillstand, senkten sie die Lider vor den Blicken der vielen, die herumstanden, gafften und witzelten. Aber als sich das Gefährt langsam zu drehen begann und die Menschen unten, die Bäume, die schmiedeeisernen Löwen des Musikpavillons und die Häuser dahinter an ihnen vorbeischwebten, da stieg die Freude in ihren dunklen Gesichtern. Sie ergaben sich dem Wunderflug des blauen Schwans, der schneller und schneller zu kreisen begann, so daß die Luft in ihren Ohren rauschte und die Töne der Musik sich vermengten. Hand in Hand saßen sie und sahen einander in die Augen. Sie fragten sich nicht nach dem Ursprung des seligen Gefühls, das sie erfüllt, und wußten nur, daß es im einen wie im anderen gleich groß und flammenmächtig war. Die Reise im blauen Schwan führte sie ins Glück. Sie war das schönste, was Carmela und Miguel je erlebt hatten, schön wie die Liebe selbst.474 Miguels resignative Grundhaltung erklärt sich aus seiner absoluten Liebe zu Carmela und aus seinem Wissen um die Hoffnungslosigkeit seiner Situation. Diese Resignation kann laut Hanffstengel durch den Fatalitätsglauben der mexikanischen Lebensauffassung erklärt werden, was das Verhalten des Protagonisten glaubwürdig und authentisch wirken lässt. Diese Art der Darstellung zeugt von Uhses Kenntnis der mexikanischen Mentalität. Seine Figuren erscheinen dadurch lebendiger und überzeugender. Miguel weist zweifellos auch Charakterelemente des edlen Wilden auf, was auf eine – wenn auch subtil positionierte – zivilisationskritische Note der Erzählung hindeutet. Das absolute und negative Ende ganz ohne Perspektive und Hoffnung irritierte die KritikerInnen der DDR. Es sei ihnen kaum glaubhaft erschienen, dass es sich tatsächlich um die Erzählung eines kommunistischen Schriftstellers handeln solle, der in seiner Exilzeit antifaschistisch tätig gewesen sei, denn wo sei der positive Held und wo der Hinweis auf eine bessere Zukunft dank der Errungenschaften der Revolution und des Sozialismus?475 Trotz Uhses (europäischer) Stilisierung des sanften indigenen Protagonisten, seiner reinen, beinah unschuldigen und trotzdem absoluten Liebe – als klares Gegenbild zum europäischen Kopfmenschen – und seiner demütigen Gutmütigkeit, »[…] der Blick seiner samtenen Augen hatte wie ein Schleier auf Carmelas Gesicht gelegen.«476 , war er bestrebt, ein realistisches und politisch unmotiviertes Bild der mexikanischen Realität zu schaffen. Uhse beschreibt in seiner Erzählung
474 Uhse: »Reise in einem blauen Schwan«, S. 237 475 Vgl. Hanffstengel: Mexiko im Werk von Bodo Uhse, S. 141 476 Uhse: »Reise in einem blauen Schwan«, S. 234
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die schwierigen Lebensumstände der Menschen, die durch die Natur beeinflusst und erschwert werden: Ihre nackten Füße schlurften durch den körnigen, heißen Sand. Auf ihren Schultern lastete schwer die Sonne. Der Pfad schlängelte sich ängstlich über das trockene Hochland durch die Wildnis der Kakteen. Außer denen gedieh nichts in dieser Öde. […] Ja, es war heiß und ringsum nichts zu sehen als dieser Wall von Stacheln, gerade und gebogen, starr und beweglich, mit Pfeilspitzen und Widerhaken. Sie beließen es nicht bei der Abwehr, sie drängten sich den Schreitenden in den Weg, zerrten an ihren weißen, ausgeblichenen und zerschlissenen Gewändern oder rissen gar blutige Male in ihre nackten Arme. Trostlos, Angst einflößend war ihre Feindseligkeit in dieser Sommerhitze.477 Uhses Beschreibungen der unbarmherzigen mexikanischen Natur, die gerade für die ärmliche Bevölkerungsschicht eine Bürde sein kann, erinnern an Travens Naturschilderungen. Uhses Darstellungen sind zwar grundsätzlich unpolitisch, zivilisationskritische Elemente der Beschreibung fehlen jedoch nicht gänzlich. Auch fügen sich seine Bilder in eine lange (europäische) Tradition der Beschreibung ein: Paradies und Hölle – sanft und elysisch anmutend, aber auch gnadenlos und beängstigend. In jedem Fall aber fremd und exotisch und dadurch europäischer Anziehungspunkt.
5.8.9
Das ideale Paradies: Die Folgen der Exilliteratur – Mexiko als Sozialutopie
Nach der Rückkehr der ExilschriftstellerInnen nach Deutschland machten es sich viele von ihnen zur Aufgabe, Vorträge und Veranstaltungen über Mexiko zu organisieren, um die mexikanische Kultur und deren gesellschaftliche Werte auch in Deutschland publik zu machen. Vor allem in der DDR etablierte sich ein Mexikobild, das auf der solidarischen Exilpolitik des Landes fußte. Auch die Publikation von Mexiko-Werken in Deutschland trug ihren Teil zur Etablierung eines Bildes mit deutlichen sozialutopischen Zügen bei. Besonders Kischs Entdeckungen in Mexiko beeinflussten das Mexikobild der DDR. Die Entdeckungen waren das erste MexikoWerk, das 1947 in Berlin verlegt wurde. Durch eine Auswahlpublikation mit dem Titel Geschichten aus Mexiko478 , die auch für den Schulgebrauch gedacht war, entstand ein antifaschistisch und antiimperialistisch motiviertes Bild Mexikos. Auch Travens Werke, die zwar nicht zur eigentlichen Exilliteratur gezählt werden kön-
477 Uhse: »Reise im blauen Schwan«. S. 231f. 478 Zuerst vom Verlag Volk, dann vom Kinderbuchverlag publiziert. Vgl. Kießling, Wolfgang: Brücken nach Mexiko. Tradition einer Freundschaft. Berlin: Dietz Verlag 1989, S. 431
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nen, sehr wohl aber der vorherrschenden Ideologie und dem Zeitgeist entsprachen, gelangten wieder in das Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit der DDR. In der sich im Aufbau befindlichen DDR herrschte die Meinung vor, dass sich alle lateinamerikanischen Länder auf dem gleichen Entwicklungsniveau befinden und außerdem unter dem Einfluss der USA stehen. Durch die verschiedenen Mexiko-Werke479 der heimgekehrten ExilschriftstellerInnen sowie deren Vorträge wurde das Bild Mexikos konkreter und differenzierter. Gerade die junge Generation konnte sich besonders gut mit Renns Werk In Mexiko identifizieren, dem ersten Werk, das eine greifbare Idee vom Leben im Exil vermitteln konnte. Der rege kulturelle Austausch der beiden Länder entwickelte sich stetig, Mexiko war nunmehr fester Bestandteil des kulturellen Lebens der DDR und hatte als visionäres politisches und sozialutopisches Paradies in die literarische Welt der DDR Eingang gefunden. Es etablierte sich die Idee einer solidarischen sozialistischen Exilnation, der die Deutsche Demokratische Republik zu Dank verpflichtet war. Mexiko wurde als ein Land wahrgenommen, in dem die Revolution zwar nur teilweise funktioniert hatte und soziale sowie gesellschaftliche Unterschiede nicht ausgeglichen werden konnten, das sich aber durch die sanftmütige Güte seines Volkes auszeichnete und sozialistische Werte verinnerlicht hatte. Mexiko wurde zum sozialutopischen Paradies: Das idealisierte, politisch motivierte Bild der mexikanischen Retternation setzte sich durch. Die Kontakte und der Austausch zwischen Mexiko und der DDR blieben bis zu deren Ende bestehen. Die Rede, die Erich Honecker im September 1981 anlässlich eines Staatsbesuchs in Mexiko hielt, spiegelt sehr deutlich das Bild wider, das man sich in der DDR von Mexiko gemacht hatte: Es ist mir ein Bedürfnis, in diesem Augenblick an die Zeit zu erinnern, in der die Sowjetunion und die Vereinigten Mexikanischen Staaten die einzigen Länder waren, in denen die deutschen Antifaschisten auch von den Regierungen und den sie tragenden Parlamenten als einzig legitime Vertreter ihres Volkes, als Verbündete im Krieg gegen das faschistische Deutschland betrachtet wurden. Vor diesem hohen Forum möchte ich dem mexikanischen Volk Dank dafür aussprechen, daß es in nationaler Würde und in Verantwortung vor der menschlichen Zivilisation den deutschen Antifaschisten Gastfreundschaft und Solidarität erwiesen und in ihnen die Hoffnung auf ein neues humanistisches Deutschland erblickt hat.480 Mexiko bleibt trotz oder gerade wegen des Austauschs mit der DDR eine Art konstruiertes Trugbild, in das ideologische Werte und Ideen projiziert werden können.
479 Den Publikationen von Kischs Werken folgten jene von Ludwig Renn, Bodo Uhse und Anna Seghers. 480 Kießling: Brücken nach Mexiko, S. 534
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Es wird zum Paradies sozialistischer Werte, in dem sozialutopische Ideen und Gesellschaftsentwürfe zumindest ihre fiktionale Entsprechung finden können. Mexiko bleibt nicht nur Projektionsort, sondern auch Kontrastort zur westlichen Zivilisation. Hand in Hand mit der Etablierung einer (literarischen) Sozialutopie geht die bereits erwähnte Stilisierung Lateinamerikas als Opferkontinent. Seine imperialistische Ausbeutung wird angeprangert, aus der Stilisierung entsteht ein politisch motivierter Makroimagotyp der Europa- und Amerikakritik, der sich nicht nur in der DDR verbreitet. Es entwickelt sich eine immer stärker werdende Solidarität mit der so benannten Dritten Welt. Strömungen wie der Antiimperialismus und der Antikapitalismus gewinnen an Bedeutung. Die zunehmende Politisierung des gesellschaftlichen Lebens hat auch Einfluss auf die Literatur. Die wachsende internationale Solidarität mit Lateinamerika steht im Gegensatz zur bisherigen vordergründig eskapistischen Art der Stilisierung und literarischen Verarbeitung.481 Nach der breitenwirksamen Herausbildung des Makroimagotyps finden sich auch in der nicht politisch motivierten Literatur immer wieder Elemente einer dementsprechenden Stilisierung Mexikos, die sich auch hartnäckig halten wird. Das verlorene Paradies gilt es zu beklagen – bis heute.
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Die schwierige Geliebte: Vom Abschied, der keiner sein will
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzen sich mitunter Tendenzen der Mexiko-Stilisierung, die sich bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts etabliert haben, in markanterer und pointierterer Ausprägung fort. Durch die verstärkte Kritik an Strömungen wie dem Imperialismus sowie Europas Umgang mit der Fremde verändert sich die literarische Konstruktion von Fremdbildern. Mexiko selbst lässt sich zudem immer schwerer in die europäische Paradies-Schablone einpassen. Die Ursprünglichkeit, die bisher ein wesentliches Moment der Beschreibung war, weicht zunehmend der Zivilisation. Auch die durch den Zweiten Weltkrieg und die Exilliteratur entstandenen visionären Mexikobilder nehmen, wie bereits erwähnt, gewichtigen Einfluss auf die weitere literarische Projektion. Lateinamerika wird verstärkt zum Opferkontinent. Sozialutopische oder zumindest zivilisationskritische Elemente finden noch deutlicher und öfter Eingang in die Beschreibung. Die mexikanische Natur vermag es nur noch bedingt, Exotik zu erzeugen. Es ist nunmehr vor allem die düstere, abgründige und bedrohliche Komponente des Landes, die Abenteuer verheißt. In den Augen der Paradiessuchenden ist Mexiko aber vor allem deshalb zu einem bedrohlichen Land geworden, weil es die westliche Welt durch Kolonialismus und Imperialismus dazu gemacht hat. Die
481 Vgl. Kießling: Brücken nach Mexiko, S. 1f.
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
Stilisierung des Anderen wird wiederum zum Kritikinstrument gegenüber dem Eigenen. Auch bleibt sie europäisch-funktional. Der anklagende und kritische Unterton ist dabei nie selbstlos. Die Kritik an der Dominanz der westlichen Welt und das Beklagen der verlorenen Ursprünglichkeit bedeuten auch immer das Beklagen des verlorenen Paradieses – einer Idee ganz MADE IN EUROPE. In Werken mit vermeintlich vordergründiger Unterhaltungsintention ist eine derartige Tendenz gleichermaßen zu bemerken. Als Beispiel für Werke der sogenannten kritischen Unterhaltungsliteratur mit Mexikobezug können die Romane Kopfloser Engel und Flut und Flamme der Schriftstellerin Vicki Baum gelten. In dem 1948 in den USA und 1949 in der Schweiz erschienenen Roman Kopfloser Engel482 erzählt Baum die Liebesgeschichte zwischen der Gräfin Clarinda Driesen und dem spanischen Conde Felipe de las Fuentes, dessen Charme Clarinda verfällt. Sie verlässt ihren Mann und folgt Felipe nach Mexiko, wo dieser eine Silbermine betreibt. Die Handlung spielt zu Anfang in Weimar zu Goethes Zeiten, der Teil des höfischen Kreises ist, in dem Clarinda verkehrt. Es ist auch Goethe, der Clarinda und den spanischen Conde miteinander bekannt macht. Mexiko bzw. »Neuspanien«, wie es im Roman noch genannt wird, wird von Anfang an als Eldorado stilisiert, in dem »phantastische Reichtümer« zu finden sind.483 Ebenfalls von Anfang an dargestellt wird die europäische Überheblichkeit – versinnbildlicht vor allem durch die Figur des Conde. Als er etwa Goethe von den mexikanischen Silberminen berichtet, äußert er sich arrogant und abwertend über die Mexikaner: »Aber die Mexikaner, Eure Exzellenz! Unsere Bergarbeiter haben weder die Courage noch die Intelligenz der sächsischen Bergleute. Diese Indianer und Mestizen sind ganz ohne Vernunft, ohne einen Funken Verstand, kaum besser als Tiere. […]«484 In einer späteren Szene ist es Goethe selbst, der den Conde wegen des Hochmuts, den dieser in Bezug auf Mexiko an den Tag legt, zurechtweist: Aber Mademoiselle, aber Eure Exzellenz, da ist ein ungeheurer Unterschied zwischen einem Spanier und einem Kreolen, zwischen einem gebürtigen Spanier und einem Kind spanischer Eltern, das in Mexiko zur Welt kam, ist ein so großer Unterschied – um ein Beispiel zu nennen – wie zwischen einem Adeligen und einem Bürgerlichen in Weimar«, sagte er in seiner Erregung, die zu dem Inhalt seiner Worte in gar keinem Verhältnis stand. Goethe lächelte in sein Glas. »Kein sehr gutes Beispiel, mein lieber Conde, keineswegs ein zutreffendes Beispiel. Adelige Geburt an sich wird in Weimar nicht überschätzt; ein Mensch, der nicht mehr zu bieten hätte als seinen ererbten Titel, wird häufig als Dummkopf und Ignorant betrachtet. Bei uns gilt Geistesadel und Talent – zumindest ist dies die Regel. Gewiß 482 Baum, Vicki: Kopfloser Engel. Eine Liebe in Mexiko. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000 483 Vgl. ibid. S. 29 484 Ibid. S. 30
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existieren gewisse Vorschriften und Formen der Etikette, unter anderem sind Bürgerliche nicht hoffähig, was wieder den Vorteil hat, daß sie nicht gezwungen sind, verschiedenen höchst langweiligen Hofzeremonien beiwohnen zu müssen, übrigens löst unser Herzog derartige Komplikationen auf die einfachste Weise, indem er den talentierten Leuten, die er um sich zu haben wünscht, einen Adelstitel verleiht. Ich kann Ihnen versichern, Conde, daß manche von uns unseren Adelsrang kaum als eine Auszeichnung, sondern beinahe als eine Herabsetzung empfinden. […].485 Dass gerade Goethe – als prominente Personifikation der europäischen bzw. deutschen Kultur – den Conde in der übertriebenen Selbsteinschätzung seines Europäertums kritisiert, kann als generelle Kritik an dieser Geisteshaltung gedeutet werden. Goethes kritische Haltung gegenüber dem Adel und seinen Vorrechten findet auch in seinem Werk Die Leiden des jungen Werther deutlichen Ausdruck. Der Bezug auf Goethe und dessen Gesinnung zeigt einmal mehr, dass die Kategorisierung Vicki Baums als reine Unterhaltungsschriftstellerin zu kurz gefasst ist. Dies belegt auch die Komposition ihres Romans, dessen Plot zwar vordergründig der Unterhaltung dient, der kritische Unterton dabei aber nicht fehlt. Der Conde betont mehrmals, dass Mexiko ihm als Land nicht wirklich zusagt und der potenzielle Reichtum, den er in Mexiko zu erreichen gewillt ist, der einzig wahre Grund ist, der das Land für ihn reizvoll macht. Das von ihm als »barbarisch« charakterisierte Mexiko ist ein Gold- und Silberparadies, das sowohl von den Spaniern als auch von den US-Amerikanern ausgebeutet wird. Der Conde wird bewusst klischeehaft als vermeintlich typischer Spanier dargestellt, dem Begriffe wie Ehre und Männlichkeit besonders wichtig sind, wie er auch selbst immer wieder betont. Er steht in der Tradition der katholischen Kirche, deren Gebote und Gesetze er jedoch nach seinen Bedürfnissen auslegt und oftmals eher im Sinne der spanischen Eroberung – Ausbeutung mit Gottes Segen – umsetzt. Die Tatsache, dass er zwar mit Clarinda zusammenlebt, sie aber nicht ehelichen will, auch wenn dies mit falschen Papieren grundsätzlich im Rahmen des Möglichen wäre, begründet er damit, dass sie eigentlich noch verheiratet ist und er dies mit seiner katholischen Werthaltung nicht vereinbaren kann. Zu Ende des Romans verspielt er sie bei einem Billardduell und sieht sich aufgrund seines gelebten Ehrenkodexes dazu gezwungen, sie einem befreundeten Engländer zu überlassen, der ebenso in Mexiko lebt. Das Bild, das Felipe anfänglich von Mexiko vermittelt und das sich auch in Clarinda festsetzt, ist das eines Paradieses, das in seinen Grundzügen eine Mischung aus Eldorado und Garten Eden ist. In einem Traum setzen sich alle Vorstellungen Clarindas zu einem Bild zusammen:
485 Baum: Kopfloser Engel, S. 33
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»Mexiko?« murmelte ich. Ach ja, dachte ich, trunken vor Müdigkeit, wir gehen nach Mexiko. Ich konnte alle die Dinge vor mir sehen, die Felipe mir versprochen hatte, wenn ich mit ihm nach Mexiko ginge: die Straßen waren mit Silber gepflastert, eine Frau, die gleichzeitig ein Berg war, schlief auf einem Berg von schneeweißen Wolken, in einem dunkelblauen Himmel schwebend. Und Bäume und Farne und Blumen, dergleichen ich im Wachen nie gesehen hatte, hingen in reichen Kaskaden über mir, und Felipe war ein Prinz, und ich war Königin mit einer Krone im Haar und eine Menge von ungezählten Indianern kniete vor mir, Kopf an Kopf, und alle blickten sie zu mir auf mit Domingos breitem, ergebenem, grünlichem, pockennarbigem Gesicht, und ich dachte: die tragen alle die gleiche Maske, und dann erhob sich ein Windstoß und wehte einen Regen von losen, süß duftenden Blüten in mein Haar und auf meine Wangen und Lippen, und dann fand ich, daß es nicht Blüten waren, sondern kleine leichte Küsse, mit denen Felipe mich wachhalten wollte, […].486 In einem Gespräch, das unmittelbar auf Clarindas Traum folgt, versichert sie sich bei Felipe, dass es in Mexiko tatsächlich Feigenbäume gibt, wie er es ihr versprochen hat. Der Feigenbaum als biblisches paradiesisches Symbol für Fruchtbarkeit und Sinnesfreude versinnbildlicht das utopische Paradiesbild, das sich die Protagonistin von Mexiko gemacht hat. Beim ersten Realkontakt mit dem Land zeigen sich bereits erste Risse im konstruierten Bild. Gleich zu Anfang tauchen auch hier die Zopiloten, die Aasgeier, auf. Wie die Protagonistin anmerkt, seien sie als Symbol bzw. Metapher für Neid, Habgier und Wucherseelen zu verstehen, wie sie sie in Weimar lediglich in der Poesie angetroffen habe. All dies bemerkt sie mit einem leisen Vorahnungsfrösteln, das sie in all der brodelnden Hitze streift.487 Die erste Beschreibung Mexikos ist bereits eine Vorausdeutung darauf, was sich im Laufe der Romanhandlung bestätigen wird. Vom Paradies bleibt wenig übrig. In dem im kapitalistischen Sinn ausgebeuteten Mexiko stehen sich die (westlichen) AusbeuterInnen und die (mexikanische) Bevölkerung als gegnerische Fronten gegenüber. Bereits kurz nach der Ankunft ist Clarinda ernüchtert. Felipe und sie finden keine Unterkunft, und Clarinda fragt sich, ob sie, bevor sie sich überhaupt an Mexiko gewöhnen kann, bereits an der Pest oder am Vomito Prieto verenden wird. Ein sehr desillusionierendes Bild des Landes bietet sich der Protagonistin dar: Die Fiebergefahren von Vera Cruz, die brütende Hochofenhitze der elenden Küsten, der Gestank und der Schmutz der tropischen Niederungen lagen hinter uns; aber auch das abenteuernde Zwielicht, in dem wir bis dahin gelebt hatten, die sumpfige Unsicherheit waren vorbei; der Tanz auf dünnem Eis, das Getue und der
486 Vgl. Baum: Kopfloser Engel, S. 85 487 Vgl. ibid. S. 87
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falsche Schein, Dinge, die Felipe nicht sehen wollte, die mir aber große, unausgesprochene Angst verursacht hatten: […].488 Neben den negativen Stilisierungen des Landes finden sich immer wieder auch romantisierende Naturbeschreibungen, die den exotischen Charakter Mexikos hervorheben: Wieder kam ich durch weiße und gelbe sonnenglühende Straßen, an niedrigen Häusern, abgeschlossen und verwahrt gegen alles Leben an der Außenseite vorbei. Um die Mittagszeit warfen sie kaum Schatten, nur eine scharfe, fingerbreite, schwarze Linie war um sie auf den Boden gezeichnet. Selbst der Staub, in dem unsere kleine Karawane von Maultieren und Treibern dahinklingelt, ist ein beißendes weißes Glühen am Mittag, jeder Silber- und Metallbeschlag an Zäumen und Sätteln ein Dolchstich von Licht. In dem grünen, grünen Dampfbad des tropischen Urwalds gibt es Orchideen, Flug von Papageien, Bambusfontänen. […] Ein Ansturm von Wolken, ein tolles Rasen von massigen, schwarzen, grauen, violetten Formen wie wilde Stiere über uns, dann ein Regensturz, eine niederkrachende Glaswand. Unterschlupf unter den überhängenden Palmblättern einer Bambushütte, drinnen ein kleines Feuer, von einem Palmblatt in dünnen, alten Händen gefacht, und der Rauch steigt blau und bitter durch das lose geflochtene Dach auf. Ein Kreis von nackten, kleinen Jungen starrt mich an, sie saugen mich – die Blonde – ein, durch schwarze, runde, erstaunte Augen, Nasenlöcher und aufgesperrte Münder. Haut in allen Farben: die blauschwarze Haut der dicklippigen Abkommen afrikanischer Sklaven entlang der Küste; kupferfarbene Mondgesichter der Mädchen mit indianischem Blut in ihren geröteten hohen Backen.489 Mexiko erscheint als ein Land der fremdartigen, unerforschten Kontraste. Auch Felipe passt sich in den Augen Clarindas in die nicht erforschte, unbegreifliche Landschaft ein, und sein Spaniertum wird zur exotisierenden sowie erotisierenden Komponente: Ich durchschritt einen Patio, tauchte in die Dunkelheit eines Mauerbogens, kam in einen anderen Patio. Die Gebäude schienen zu schlafen, die Fenster dunkel, vergittert, verschlossen, mit Läden versperrt. Dann kam ein Duft auf mich zu, Süße und Bitterkeit unvergleichlich gemischt, ein Geruch, mir ganz neu und doch wohlbekannt, als hätte ich mein ganzes Leben darauf gewartet. Ich folgte diesem Duft wie einem Ruf. Meine Augen gewöhnten sich an den Mond. Ich kam durch ein Pförtchen, und nun war ich im Herzen dieses Duftes, in einem Hain von blühenden Orangenbäumen, ihr Laub zu dunklen Kuppeln geformt, ihre tiefsten Zweige fast den Boden berührend. Ich sah das glänzende Laub, die wächsernen Blüten, kleine 488 Baum: Kopfloser Engel, S. 104 489 Ibid. S. 107
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grüne Knospen und reife, bleiche Orangen im schwachen Gefunkel aus tausend Glühwürmchen. Und dann sah ich Felipe. Er war aus einer Türe getreten und stand unter einer Laterne, von der ein Rinnsal von gelbem Licht auf seine Gestalt hinabsickerte. Er trug keinen Rock, nur seine eleganten, engen, weißen Hosen und ein Batisthemd mit Rüschen, offen am Hals. Er stand da, tief atmend, mit sich allein, nicht wissend, daß ich ihn sehen konnte. Um ihn war ein Alleinsein, ein Stolz, etwas wie die männliche Schönheit und bewußte Stärke eines Hirsches, der auf eine Lichtung hinausgetreten ist und dort im Morgennebel steht, mit der steilen Wölbung seines Nackens und dem Muskelspiel seiner Schulter und Flanken, und seine Augen unter langen Wimpern sanft und bezwingend wie die eines Kindes. Und wie bei dem seltenen Anblick eines solchen Tieres, das sich unbeobachtet glaubt, zog sich mein Herz in einer süßen, schmerzenden Umklammerung zusammen, als ich meinen Geliebten sah, wie er war, wenn er sich allein glaubte. Er war vollkommen entspannt, aber selbst allein mit sich war er muy hombre, wie die Spanier es nennen. Da war weniger Arroganz und mehr von jener immer vorhandenen unbewußten Tiermelancholie in seinen Augen.490 Auch Baums Naturpassagen zeichnen sich – wie so oft und ganz im Gegensatz zu den übrigen Textpassagen – durch eine poetische Sprache aus. Auch der von Baum beschriebene Duft kann als Sinnbild gedeutet werden: Er ist neu und gleichzeitig wohlbekannt und steht für eine Sehnsucht, auf deren Erfüllung bereits lange gewartet wurde – und die sich nunmehr erfüllt. Vicki Baum bedient sich in ihrem Roman bewusst der verschiedenen Bilder, die Mexiko zu erfüllen vermag. Die Protagonistin beschreibt die Mexikaner und verdeutlicht durch die Art ihrer Beschreibung ihre Kritik an der vorherrschenden kapitalistischen Ausbeutung des Landes. Clarinda entwirft ein sehr menschliches Bild der Mexikaner, durch das sie aufzeigt, dass es sich großteils um unterjochte Menschen handelt, die sich einem fremdbestimmten System beugen müssen. Sie kritisiert auch das romantisierende Bild des edlen Wilden, das zwar schwärmerisch ist, die Mexikaner aber nicht als gleichwertige und gleichberechtigte Menschen darstellt. Auch ihr Blick ist zunächst dadurch verfälscht: Auf jener ersten Reise von Vera Cruz nach El Encanto sah ich die Mexikaner nicht scharf und klar; ich sah sie nicht als menschliche Wesen, in denen jeder Rest von Würde zermalmt worden war, sondern nur als malerische Staffage auf einem Fresko von Gobelin. Ich sah einen Mann, der ein weinendes Mädchen in ihrem Sonntagsstaat nach einer Hazienda führte, und dachte nicht, daß sie Vergewaltigung
490 Baum: Kopfloser Engel, S. 109
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und Unzucht ausgeliefert wurde. Ich sah eine Frau vor einem Kreuz auf der Landstraße auf der Erde und wußte nicht, daß ihr Bruder vor der Kirchentüre öffentlich zu Tode gepeitscht worden war. Und als ein alter Mann, aufrecht und verwittert wie ein Baum, seine Faust ballte und einen Fluch in seinem barbarischen Indianerdialekt hinter uns herrief, verstand ich es nicht und lachte.491 Aus Clarindas Schilderungen geht hervor, dass sich ihre voreingenommene und vorgezeichnete Vorstellung von Land und Leuten im Lauf der Jahre nur langsam auflöst. Gegen Ende des Romans findet sie zunehmend deutliche Worte der Kritik gegenüber der europäischen Vorherrschaft der »neuen und ungeschliffenen Aristokratie der Kolonien«, die selbst alle spanische Abenteurer, Spieler und Bergleute waren, bevor sie sich als »Condes« und »Marqueses« in den Palästen der mexikanischen Städte niederließen. Am Beispiel von Guanaxuato, der Silberstadt Mexikos, führt sie aus, dass es entweder nur protzige Paläste oder elende Hütten gibt. Am Ende sei nichts geblieben als der »unerträgliche Stolz der in Europa geborenen Aristokratie« und die »kriechende Unterwerfung der Mexikaner, denen das spanische Joch nichts gelassen hat als sklavischen Gehorsam«492 . Die Protagonistin verbringt zehn Jahre in Mexiko und schildert eine Atmosphäre von wachsender Gewalt und zunehmenden Plünderungen, in der schließlich ihre beiden Geliebten, sowohl Felipe als auch der Engländer, ihr Leben verlieren. Sie äußert den Wunsch, sich so an Guanaxuato erinnern zu wollen, wie sie es bei ihrer Ankunft erlebt habe, und erwähnt in diesem Zusammenhang Blumen und Schmetterlinge. Das Bild, das sich ihr zehn Jahre später darbietet, ist ein Bild der Verwüstung, mit Straßen, die sie an blutige Eingeweide eines Pferdes denken ließen.493 Baums Roman zeigt die bereits veränderte Wahrnehmung des Fremden. Es wird nicht mehr ausschließlich romantisiert, der exotische Reiz des Anderen wird bewusster wahrgenommen und dargestellt – teilweise auch kritisiert. Mexiko funktioniert nunmehr vor allem als Projektionsfläche in einem zivilisationskritischen Kontext. Der Wunsch nach einem Sehnsuchtsort bleibt, selbst wenn sich das Paradies in den Beschreibungen oftmals selbst dekonstruiert. In ihrem 1965 verfassten Roman Flut und Flamme494 behandelt Baum eine ähnliche Thematik. Sie erzählt die Geschichte einiger Amerikaner, die in Mexiko Geschäfte betreiben und dort ihr Glück suchen. Die Dekonstruktion des Paradiesbildes ist hier schon weiter fortgeschritten. Mexiko fungiert vor allem als Bühne der eigentlichen Handlung. Die Naturbeschreibungen sind daher eher spärlich, trotz-
491 492 493 494
Baum: Kopfloser Engel, S. 108 Vgl. ibid.S. 114f. Vgl. ibid. S. 113 Baum, Vicki: Flut und Flamme. Köln: Naumann & Göbel Verlagsgesellschaft o. A., S. 9
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dem wird die kritische Haltung hinsichtlich der sich in Zerstörung befindlichen Natur erkennbar. Der Roman beginnt mit einer Rückblende. Die Protagonistin, die einen Amerikaner namens Thumbs nach vielen Jahren zufällig wieder in einer Hotelbar trifft, erinnert sich an das Jahr 1941, in dem die beiden sich in einem überfüllten Zug auf der Fahrt nach Mazatlan kennenlernten. Sie schildert ihren Eindruck des Landes, das sie, wie in Folge der Handlung klar wird, bereits kennt: Ein Zugfenster liegt wiederum zwischen den Reisenden und dem Land, der Blick bleibt dementsprechend distanziert. Die Natur zieht am Eisenbahnfenster vorbei und es entstehen schemenhafte Eindrücke, die ein eher eintöniges Bild der Landschaft vermitteln: Die Nacht draußen war fremd, feindselig. Busch, Sumpf und Einöde huschten vorbei, fast unsichtbar rechts und links des schmalen, roten Pfades, den unsere Schlußlichter auf die Gleise zeichneten. Dann und wann ragte die riesige Gestalt eines Saguaro-Kaktus in die Dunkelheit; oder der heisere Schrei eines Nachtvogels übertönte den Lärm der rollenden Räder. Drei Pfiffe schrillten von der Lokomotive, der Zug verlangsamte seine Fahrt, schob sich dann in die Kurve und kam dann mitten im Nirgendwo mit einem heftigen Stoß zum Stehen. Sobald wir hielten, begannen Ruß und Rauch sich überall festzusetzen.495 Trotz der einförmigen Bedrohlichkeit, die von der mexikanischen Natur ausgeht, erscheint das Land exotisch. Die Bedrohlichkeit birgt immer auch ein Abenteuerpotenzial in sich: Was ist das für ein Geräusch?« fragte ich den Schaffner, »Das Meer, Señorita, gab er zur Antwort. Wie zur Bestätigung kam jetzt ein Windstoß von Westen. Doch war es nicht die erfrischende Brise, die man erwartet, wenn man sich dem Pazifik nähert. Heiß, und von faulig-metallenem Geruch wie der Atem eines großen Raubtieres. Dann war da noch ein anderer Geruch – jener Geruch, den ich als warmen, sanften, süßen, nicht unangenehmen und sehr menschlichen Geruch einer mexikanischen Menschenmenge kennengelernt hatte. Schweiß, Blumen und VanilleExtrakt in den Haaren der jungen Mädchen; Öl, Holzkohlenrauch, der ewig in den Kleidern hängt.496 Während der Zugfahrt erzählt der Amerikaner Thumbs seine Geschichte, die in Mazatlan beginnt. Als er sich mit seiner Crew einschifft, lernt er die exzentrische und wohlhabende Amerikanerin Tracey Cowles kennen. Mazatlan wird von Thumbs klischeehaft als eine typische Hafenstadt beschrieben: dreckige Straßen mit großen Schlaglöchern, halbnackte Kinder, die die halbe Nacht auf der Straße spielen; viele
495 Baum: Flut und Flamme, S. 9 496 Ibid. S. 10
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Bettler prägen das Straßenbild und es gibt eine Vielzahl an Pulquerías und Cantinas, in denen die Menschen sich betrinken und lärmen. Thumbs schildert weiters eine Episode in einer Bar, in der er erstmals mit Tracey, einem Amerikaner namens Glenn und einer Mexikanerin mit Namen Vida in Kontakt tritt, die später, vor allem in ihrer Verquickung, zu den HandlungsträgerInnen der Geschichte werden. Tracey, obwohl verheiratet, ist ganz offensichtlich an Glenn interessiert, der sich seinerseits aber in die tanzende und anmutige Vida verliebt. Glenn, der bisher als Haifänger tätig war, lässt sich aber von Tracey kaufen und wird Kapitän auf einem ihrer Boote. Auch Thumbs heuert auf ihrem Schiff an, und gemeinsam erleben sie das eine oder andere Abenteuer auf See in und rund um Mexiko. Mexiko selbst wird wenig beschrieben. Der Grundtenor des Romans ist subtil-kritisch. Mexiko ist lediglich die Kulisse, vor der sich die Handlung abspielt. Deren Vielschichtigkeit ergibt sich vor allem aus den Komplikationen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Mexiko ist auch für die ProtagonistInnen selbst lediglich eine Kulisse. Es ist das Land, in dem die Geschäfte abgewickelt werden. Land und Leute haben sich den Bedürfnissen der amerikanischen ProtagonistInnen zu beugen. Auch vor der Natur haben die Fremden wenig Respekt. Sie sehen es als ihr Grundrecht an, diese zu beherrschen und zu benutzen, wie sich etwa in einer Episode auf den Galapagos-Inseln zeigt, bei der auch Seelöwen-Babys aus purer Freude an der Jagd erschossen werden. Baum leitet die Episode mit dem Satz »Dann knallt ein Schuß im Paradies.«497 ein. Die Natur ist Spiel- und Betätigungsfeld der westlichen Zivilisation. Sie wird zur Jagd – sei es auf Seelöwen auf den Galapagos-Inseln oder auf Haie in Mexiko – und zur Unterhaltung im Sinne des Erforschens benutzt. Die exotisch-abenteuerliche Komponente der Natur wird daher immer wieder betont und hervorgehoben. Ein großer Teil der Handlung spielt auf den Galapagos-Inseln, deren landschaftliche Gegebenheiten näher beschrieben werden. Die Naturdarstellungen reihen sich in die europäische Tradition der romantisierenden und exotisierenden Beschreibungen ein, in denen die Ursprünglichkeit des Landstreifens hervorgehoben wird. Die Galapagos-Inseln eignen sich für diese Art der Darstellung, da dort erst wenige Spuren der Zivilisation ersichtlich sind. Mexiko dient den ProtagonistInnen zwar auch als Naturparadies, jedoch im Sinne eines Eldorados: In Mexiko können Geschäfte aufgezogen werden, da man sich an der mexikanischen Natur bereichern kann. Mexiko hat seine Ursprünglichkeit nicht zuletzt aufgrund der westlichen Industrien – wie etwa dem boomenden Haifischfang – eingebüßt. Da, wo die sogenannte Zivilisation Mexiko berührt, verkommt das Land zu einer grausigen Naturstaffage und ist nur mehr Hülle der ursprünglichen Naturlandschaft:
497 Baum: Flut und Flamme, S. 116
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Dort fanden wir mehr Haie als irgendwo sonst zwischen Guaynas und Manzanillo, aber du lieber Himmel, was war das für ein elendes Loch! Ein früheres Schmugglernest, wo nun ein paar Fischer kampierten, und nicht einer war darunter, der nicht im Gefängnis gesessen hatte oder aus bestimmten Gründen nicht mit der Polizei in Berührung zu kommen wünschte. Es gab ein paar jämmerliche Hütten, aus Schilfrohr, alte Kisten und Treibholz zusammengestoppelt. Oben auf den Felsen stand ein ärmliches, windverblasenes kleines Kirchlein; es gehörte zu den Trümmern einer alten Hazienda, die bei einer der vielen Revolutionen niedergebrannt worden war. Und dahinter diese gottverdammte Schlucht, das Bett eines Flüßchens mit dem großspurigen Namen Rio Negrito. Zeitweise war sie trocken, zerborsten wie die Haut eines gewaltigen gelben Reptils, hustete Wolken eines dicken gelben Staubes und war ein Paradies für Klapperschlangen, die dort ihr Sonnenbad nahmen. Zu anderen Zeiten verwandelte es sich in ein schlammiges Rinnsal, in dem Myriaden von Moskitos brüteten, Amöben und Bazillen jeder Art und Größe, so daß wir niemals aus der Malaria, Dysenterie und dem Vómito negro herauskamen. Aber Sie hätten den Rio Negrito im Frühsommer sehen sollen, nach den immer wiederkehrenden Stürmen und Springfluten, wenn der Schlamm sich wie Lava die Schlucht herabwälzte, eine zähe, feuchte Masse, die überall einbrach, sich an den leichtgebauten Wänden staute und sie rundherum einschloß. Sie brach in die Hütten ein, stieg an den Bambuswänden innen und außen hoch – ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Wenn Sie in einem Film eine riesige Elefantenherde auf der Flucht gesehen haben – so etwa ist das, das Hereinbrechen, Pressen und Schieben der formlosen, heranrollenden grauen Massen. Brauchte Wochen und Wochen, um zu trocknen und wieder zu Staub zu werden. Zurück blieb dann ein Gewimmel von Zecken, Sandflöhen, Taranteln, Skorpionen und Riesenspinnen, von den Fliegenschwärmen gar nicht zu reden, die durch unsere toten Haie angezogen wurden. Und, Herrgott, wie so ein Ort stinkt, wo tote Haie aufgeschnitten und die Leber herausgenommen, eingesalzen und in Blechkanister gepackt werden. […]498 Durch die negativen Stilisierungen Mexikos wird eine ambivalente, aber weiterhin exotisierende Abenteuerfunktion erzeugt. Die Faszination ergibt sich nur noch in Teilen aus dem Fremdheitsgefühl, das die mexikanische Natur durch ihre Übermacht erzeugt. Verstärkt wird das negative und doch exotische, fremdartige Empfinden durch Zeichen der westlichen Welt, die sich in der mexikanischen festsetzen und diese zu einem hybriden Konstrukt verkommen lassen. Die Zivilisationskritik bleibt eigenfixiert. Beklagt wird hier in erster Linie der Verlust einer ursprünglichen Welt, unter dem vor allem Europa leiden muss, da es sein Paradies verloren hat.
498 Baum: Flut und Flamme, S. 180f.
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Baums Roman zeichnet ein kritisches Bild der Amerikaner und Europäer und der Zustände vor Ort, die mitunter den Verhaltensweisen und Machenschaften der ProtagonistInnen geschuldet sind. Diese werden zum Sinnbild erhoben. Die Kritik wird eher indirekt geäußert und steht nicht im Zentrum der Handlung; vielmehr ist sie Teil des Bildes, das Baum von Mexiko entwirft. Tracey wird als Prototyp der arroganten und egoistischen Amerikanerin charakterisiert. Als Gegenbild fungiert die Mexikanerin Vida, die Charakterzüge einer edlen Wilden aufweist. Sie pflegt Glenn, als er krank wird, und opfert ihre Brosche – ihr einziges wertvolles Gut – der heiligen Jungfrau, damit diese Glenn gesund macht. Vida zeichnet sich durch ihre Güte, Barmherzigkeit und Geduld aus. Sie erträgt alles Leid mit einer stoischen Besonnenheit und ist auch aus altruistischen Gründen bereit, den Mexikaner Manuel zu heiraten, dessen Frau ihn mit drei Kindern sitzengelassen hat. Sie liebt Glenn und wartet geduldig auf ihn. Er fällt jedoch den intriganten Machenschaften Traceys zum Opfer und wird ihr Skipper und Geliebter. Nachdem Vida ein Kind von Glenn zur Welt gebracht hat, kommt sie in einem Wirbelsturm ums Leben. Tracey kümmert sich in Folge um Glenn und dessen Kind Nando. Glenn kehrt blind aus dem Krieg zurück, und es scheint so, als ob der gütige Geist Vidas weiterwirkt und nun auch Tracey zu einem besseren Menschen macht. Am Ende triumphiert das Gute, das durch das wahre Mexiko in all seiner Ursprünglichkeit symbolisiert wird. Durch Vidas mythisches Weiterwirken auch über ihren Tod hinaus kommt es doch noch zu einem Happy End. Der mexikanische Grundwert der Natürlichkeit siegt am Schluss über die korrupten Machenschaften der infamen westlichen Welt. Baum bedient sich hier der typisch romantisierenden Bilder Mexikos und der mexikanischen Bevölkerung, um ein glückliches Ende zu stilisieren. Baums Romane sind Abbilder der veränderten Art der Darstellung Mexikos. Neben den Handlungssträngen, die im Vordergrund stehen, wird auch der Zivilisationskritik Raum gegeben, ohne dabei eine konkrete politische Intention zu verfolgen. Mexiko wird als Opferland im Spiel der korrupten Machenschaften der westlichen Welt stilisiert. Die Stilisierung dient der Einbettung des fiktionalen Plots. Trotz der Zivilisationskritik, die nunmehr Bestandteil der Mexiko-Projektion ist, bleibt Mexiko ein literarischer Fluchtort Europas. Sie dient vor allem dazu, ihn als solchen zu bestätigen. Das Paradies scheint verloren – die Sehnsucht danach schreibt sich fort. Die europäisch-mexikanische Liebesbeziehung bleibt bestehen. Die Geliebte fügt sich wiederum in die Vorstellungen des europäischen Eroberers ein. Neben der Zivilisationskritik, die in die Handlung einfließt bzw. in sie eingeflochten wird, ist auch das generelle Unvermögen, Mexiko als solches zu erfassen, zu begreifen und zu beschreiben, weiterhin wesentliches Element der Wahrnehmung und der Stilisierung. Ein Beispiel dafür sind auch die Werke Max Frischs. Die Romane, in denen Mexiko als Handlungsort herangezogen wird, basieren auf seinem Reisetagebuch
5 Sein oder nicht sein: Die Geschichte einer (literarischen) Eroberung
»Orchideen und Aasgeier. Ein Reisealbum aus Mexico. Oktober/November 1951«499 , das Frisch während seiner Reisen nach Mexiko verfasste. Frisch vermischt Reiseerlebnisse, also Non-Fiktionales, mit Fiktionalem, um sich dem Land anzunähern und es für seine literarischen Projektionen zu instrumentalisieren. Er zeichnet ein eher ernüchtertes Bild von Mexiko, in dem die Spuren der Zivilisation bzw. die stetig fortschreitende Verwestlichung in markantem Gegensatz zur ursprünglichen Welt stehen, die er eigentlich zu finden hoffte. Beschreibungen dieser Art sowie die daraus resultierende implizite Zivilisationskritik dienen ihm vor allem auch als Motor für seinen Plot. Seine Schilderungen basieren auf seinen eigenen Realerfahrungen, die deutlich die Diskrepanz zwischen (konstruierter) Imagination und (konkreter) Realitätserfahrung abbilden. Frisch besuchte Mexiko zweimal. Bei seiner ersten Reise entstand sein Tagebuch »Orchideen und Aasgeier«, in dem Frisch neben seinen persönlichen Eindrücken vor allem historische Szenen der Conquista skizziert und beschreibt. Die zweite Reise im Juni 1956 hatte das konkrete Ziel, Orte für den Roman Homo Faber ausfindig zu machen. Frisch beschäftigt sich bereits vor seiner Reise mit Land und Leuten und studiert diverse Bücher auf Deutsch und Spanisch. Er ist besonders an der Geschichte des Landes interessiert, wie auch in seinem tagebuchartigen Reisealbum deutlich wird, das er beinahe zur Hälfte der Eroberungsgeschichte Mexikos widmet. Frisch hatte demnach schon eine konkrete Idee des Landes, als er es zum ersten Mal bereiste. Wie sich die Realerfahrung mit den bereits bestehenden Vorstellungen verbinden lässt, beschreibt er in seinem Tagebuch. Er geht von einem Paradies aus, das Cortés als Erster entdeckt und sich zu eigen gemacht hat. Trotz der Fremdheit, die Frisch gegenüber Mexiko empfindet, überwiegt anfänglich sein Enthusiasmus. So schreibt er zu Beginn seiner Reise: »Daß das erste Brot, gekauft in Mexico, von Würmern wimmelt, mag ein Zufall sein, ebenso die toten Ameisen in der Marmelade, und daß der Kellner in der Eisenbahn mogelt, geht mich nichts an. Ich bin froh und glücklich, daß wir nun wirklich in Mexico sind.«500 Doch auch wenn Frisch bemüht ist, nicht in Klischees und Stereotypen zu denken und sich kein vorschnelles Bild zu machen, und obwohl er Mexiko mit großem Enthusiasmus entgegentritt, weicht dieser im Realkontakt oft der Ernüchterung, wie nachstehendes Zitat verdeutlicht: Wir sind nun bereits seit zwei Wochen bemüht, jene Begeisterung zustande zu bringen, womit andere Leute von Mexico zu erzählen pflegen … Woran liegt’s? Ich übersehe nicht das Malerische, die Orchideen an den Telephondrähten, die 499 Frisch, Max: »Orchideen und Aasgeier. Ein Reisealbum aus Mexico. Oktober/November 1951«, in: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge 1949 – 1956. Band III – I. Frankfurt a.M.: Werkausgabe edition suhrkamp. Fünfter Band 19761 500 Ibid. S. 196
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großen und wie Pilze gekrempelten Hüte der mexicanischen Männer, ihre weißen Baumwollblusen, dazu ihre rötliche Haut. Markt in Mexico: man erinnert sich an Farbfilme, und genau so ist’s, malerisch, und doch gibt es Augenblicke, wo man sich plötzlich fürchtet. Es stinkt nach einem toten Hund. Kinder sitzen mit bloßem Hintern auf dem Unrat, auf der Fäulnis alter Fruchtschalen. Auf dem Boden liegen die Waren: Bohnen und Erbsen, Nüsse, Früchte, die wir zum erstenmal sehen, Zuckerzeug, von Fliegen umwimmelt, Fische, die in der Sonne verwesen. Ein Schreiner zimmert Kindersärge, stapelweise, roh und billig. […] Wunderbar sind die vielen Blumen, deren Duft nicht aufkommt; wo es nicht nach dem entsetzlichen Fleisch stinkt, das in der Sonne liegt, stinkt es nach Kloake, und man muß sich zusammennehmen, den Ekel nicht auf die Menschen zu übertragen. Ich habe schon etliche Slums gesehen, auch Negerslums; dies hier, ein Markt unter offenem Himmel, ist etwas anderes, nicht traurig, eher unheimlich; die Verrottung hat etwas Dämonisches, ich möchte sagen: etwas von einem Fluch, der alles, was da blühen und duften könnte, in Gestank verwandelt, in Fäulnis und Verwesung.501 Frisch fragt sich, woher das Unheimliche kommt, das in ihm Unbehagen und Furcht auslöst. Die Natur erscheint ihm pur und authentisch, aber gleichzeitig immer bedrohlich und dämonisch, da man sich ihrer Urkraft und Übermächtigkeit, die alles bisher Bekannte und Vorstellbare übersteigt, kaum entziehen kann. Diese Urkraft symbolisiert nicht nur das Leben, sondern auch den Tod, dem Frisch in Mexiko immer wieder und auf verschiedenste Art und Weise begegnet. Das Bild der paradiesisch anmutenden Landschaft wird von Krankheit, Kadavern und Fäulnis gestört. Frisch hält, wie er beschreibt, die feuchten Tropen mit ihrer übermäßigen Fruchtbarkeit nicht aus, auch weil sie Leben und Tod gleichermaßen versinnbildlichen. Dieses ambivalente Empfinden, das Frisch in Mexiko erlebt, ist nicht neu. Wie so oft halten sich Furcht und Faszination die Waage: […] Sonne und Bläue wirken wie ein schallender Hohn. Ein Gefühl: Was ist los? Begleitet mich seltsam. Aber nichts ist los. Eine Limousine fährt vor, Touristen mit Sonnenbrillen und Kamera, vermutlich mit Farbfilm. Der Reiz liegt in den Farben, kein Zweifel: das milde Bernsteinlicht unter den großen Tüchern, darüber der verbrockelnde Barock einer spanischen Kirche, ein Kreuz aus Grünspan, Orchideen überall, und zwischen den grünen Blättern der Bananenpalmen, die wie große zerfranste Fahnen hängen, sieht man den ewigen Schnee auf einem Vulkan, ein weißes Zelt, märchenhaft … Wo ist das Unheimliche? Wo immer der Bus stoppt, steht ein Blinder. In den Kaffeegegenden gibt es eine Fliege, die die scheußliche Krankheit bringt. Ihr Stich verursacht zuerst einen eiterigen Pickel, der sich entfernen ließe; doch es gibt keinen Arzt. Dann gehen die 501 Frisch: »Orchideen und Aasgeier«, S. 199f.
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Maden ins Blut, schließlich in die Augen, die nun wie Spiegeleier zerlaufen, ein weißlich-gelber Brei. So stehen sie da, Greise und Jünglinge, mit ausgestreckter Hand. Einer singt zur Drehorgel. Und auf den Dächern hocken die Zopilote, die großen, schwarzen Vögel, die zuweilen, wenn man mit dem Bus fährt, scharenweise aufflattern von einem Kadaver. Man sieht sie überall, sie werden nicht gejagt, man kann sie nicht essen; sie stinken so fürchterlich, daß man sie lieber in der Luft läßt, wo sie sich ohne Feind vermehren; schwarz und plump hocken sie ringsum auf den Dächern, den Markt überwachend: Aasgeier, der Vogel von Mexico.502 Mexiko bleibt für Frisch das Land der Gegensätze und Ambiguitäten, wie bereits der Titel seines tagebuchartigen Essays »Orchideen und Aasgeier« verdeutlicht. Die mexikanische Natur ist für ihn nicht fassbar und nicht begreifbar. Die klar zivilisatorischen Elemente stören Frischs Mexikobild immer wieder, da sie wenig in seine Sehnsuchtsvorstellungen passen: »Ein Esel steht im Schatten unter einem verrosteten Blech, kostbarer Abfall aus einer fernen Zivilisation.«503 Auch Frisch ist auf der Suche nach dem malerischen Mexiko, das seine romantisch-exotischen Sehnsüchte zu befriedigen vermag. In seinen Beschreibungen richtet er seinen Fokus immer wieder auf das Pittoreske des Landes. Er ist bestrebt, das Schöne, das er in Mexiko vorzufinden gehofft hatte, isoliert zu betrachten und hervorzuheben. Auch in seinen Darstellungen werden, wie schon in verschiedenen Reiseberichten gesehen, Einzelerlebnisse aneinandergereiht und zur Mexiko-Erfahrung schlechthin erhoben. Frisch ist begeistert vom Naturschauspiel der Wüste, jedoch irritiert von der Wucht der nicht zu dominierenden tropischen Natur. In Tacxo versteht er, wie er meint, das erste Mal wirklich, woher die romantischen Ideen über Mexiko kommen: Jetzt, zum erstenmal, spüren wir, woher die romantischen Vorstellungen kommen mögen, die wir, allen Autoren zum Trotz, von Mexico haben … Ein Städtchen in den Bergen, Markt voll Trachten, eine spanische Kathedrale, Gassen mit dem malerischen Gewirr von Balkönlein, und irgendwo singt es. Zum erstenmal! […] Ach, Taxco ist ein reizender Ort. Ordnungshalber muß man beifügen: er steht unter Heimatschutz, unter Denkmalschutz, es ist das bewohnte Museum eines alten Mexico, wie der Tourist es träumt. Warum nicht!504 Frisch sehnt sich zurück in das alte, ursprüngliche und paradiesähnliche Mexiko, das durch die Zivilisation allmählich gänzlich zu verschwinden droht, wie er 502 Frisch: »Orchideen und Aasgeier«, S. 200f. 503 Ibid. S. 196 504 Ibid. S. 204
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in seiner Beschreibung der sogenannten schwimmenden Gärten von Xochimilco erwähnt: Ein Sonntag in den sogenannten schwimmenden Gärten, ein Volk der Blumen und Gitarren, ein Mexico, wie es die schöne Dolores del Rio vorspielt auf der Leinwand – in der Tat, wenn wir in der fast lautlos gleitenden Gondel sitzen, ist es eine unwiderstehliche Verzauberung. Wozu sollte man widerstehen! Gondeln ringsrum, alle mit frischen Blumen verziert, ein Corso auf Kanälen, wo man hingleitet zwischen Gärten voll fremdem Gewächs, eine Idylle von ewigem Frühling, ein Arkadien, aber indianisch. […] Xochimilco zeigt noch am besten, wie man sich die Hauptstadt der Azteken vorzustellen hat: sie war von einem großen untiefen See umgeben, ihre Bauten teilweise auf Pfählen, zugänglich nur auf zwei langen Dämmen, ein indianisches Venedig, wie es in den Chroniken genannt wird. [...] Der See, damals, muß paradiesisch gewesen sein.505 Die Bezugnahme auf die mexikanische Schauspielerin Dolores del Rio zeigt ebenfalls, dass Frisch ein sehr fixes Bild – beinah ein filmisches Traumbild – im Kopf gehabt haben muss, als er Mexiko bereiste. Auf seiner Heimreise zieht er für sich den Schluss, dass Mexiko ein Land ist, das einen kaum je wieder loslassen wird, und dass seine Nicht-Begreifbarkeit und seine Nicht-Fassbarkeit integrativer Teil seiner ambigen Identität sind. Mexiko ist auch für Frisch ein Land der Widersprüche: Paradies, wo es europäische Sehnsüchte befriedigen kann, aber auch, um in der Sprache der Gegenbilder zu bleiben, Inferno, wo es sich wild und unbarmherzig zeigt. Nur aus den beiden konträren Teilen fügt sich für Frisch ein Gesamtbild von Mexiko zusammen: […] Daß ein Land sich nicht in wenigen Wochen erfassen läßt, weiß man. Ein erster Eindruck, und etwas anderes wollen diese Notizen ja nicht wiedergeben, wird immer sehr ungenügend sein, zufällig in den Akzenten, oft sogar im Sachlichen widerlegbar; trotzdem muß er nicht unbedingt falsch sein, nicht unstatthaft, sofern er für uns selbst nicht endgültig wird; und ich glaube, Mexico läßt niemanden los, der es einmal berührt hat, es geht einem wie eine Tragödie nach, ein nicht zu befriedigender Widerspruch; Orchideen und Aasgeier, Paradies und Inferno, zauberisch und ekelhaft, großartig und entsetzlich – man wird es nie begreifen, nur das Nichtbegreifen vertiefen können, das uns die erste Begegnung schon aufreißt.506 Die Eindrücke, die Frisch in Mexiko gewonnen hat, verarbeitet er vor allem in zwei Romanen. Gerade die ambige Empfindung, die er gegenüber Mexiko hegt, eignet
505 Frisch: »Orchideen und Aasgeier«, S. 212f. 506 Ibid. S. 221
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sich für seine Reflexion über die Nicht-Beschreibbarkeit bzw. die nicht eindeutige Fassbarkeit der Realität. Sie dient ihm daher als Rahmen für zwei Romanplots. Bereits in seinem Tagebuch verfasste Frisch einen Aufsatz mit dem Titel »Du sollst dir kein Bildnis machen«507 . Darin reflektiert er über die Zwanghaftigkeit der Menschen, sich ein Bildnis ihrer Mitmenschen bzw. der Welt im Allgemeinen zu machen. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Schwierigkeit, die Realität tatsächlich zu erfassen bzw. zu beschreiben, schafft Frisch die Romanfigur Stiller, die im gleichnamigen Roman508 mit einem amerikanischen Pass und unter dem Namen Sam White aus Mexiko in die Schweiz zurückkehrt. Dort wird Stiller mit seiner vermeintlichen früheren Identität konfrontiert, will diese aber nicht anerkennen, um sich vom Bild zu befreien, das ihm die Welt auferlegen will. Auch der von Stiller gewählte Name »White« ist kein zufälliger, erweckt doch die Farbe Weiß mitunter die Assoziation eines unbeschriebenen Blattes und symbolisiert somit die Reinheit einer neuen Identität. Der gesamte Roman handelt von den sich überlappenden Identitäten des Ich-Erzählers und dem Roman-Ich Stiller. Stiller schafft es, sich von dem Bildnis zu befreien, indem er eine neue Identität entwirft, um dem starren Abbild seiner alten Identität zu entkommen. Der Zwiespalt zwischen einem selbst geschaffenen Bildnis und dem Versuch, sich davon zu befreien, ist generell ein dominierendes Motiv in Frischs Werken, das auch Nele Awad-Poppendiek in ihrer Dissertation Die Problematik der Identitätsfindung im Werk Max Frischs behandelt. Das Bildnis könne sowohl das selbst erschaffene Bild sein als auch aus den starren gesellschaftlichen Gegebenheiten resultieren.509 In Frischs hier behandelten Werken spiegelt sich das Motiv der Identitätsfindung vor allem in der Identitätssuche der Protagonisten sowie in ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit wider. Frisch selbst versuchte, wie aus einigen Passagen seines Tagebuchs ersichtlich wird, sich dieses Bildnisverbot aufzuerlegen und vorurteilsfrei wahrzunehmen und zu beschreiben. Er ist sich der gängigen europäisch dominierten Mexiko-Klischees und Mexiko-Bilder bewusst und macht sich diese besonders in seinem Roman Homo Faber 510 sogar zunutze. Er benutzt Mexiko in all seiner Ambiguität als wichtige atmosphärische Komponente und zur Projektion seiner Romanplots. Mexiko ist z.B. in Stiller Sehnsuchtsort bzw. Kontrastort
507 Frisch, Max: »Du sollst dir kein Bildnis machen«, in: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. 1944 – 1949. Band II-2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 19761 508 Frisch, Max: Stiller. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 19731 509 Vgl. Awad-Poppendiek, Nele: Die Problematik der Identitätsfindung im Werk Max Frischs. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde im Fach Deutsche Philologie. RuprechtKarls-Universität Heidelberg. http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/10945/1/Awad_ Poppendiek_Nele_Die_Problematik_der_Identitaetsfindung_im_Werk_Max_Frischs.pdf, (11.10.2019), S. 152 510 Frisch, Max: Homo faber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 19771
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zur reglementierten Schweiz und schafft Raum für eine neue Identität des Protagonisten, der von Mexiko berichtet, um so glaubwürdig zu versichern, dass er tatsächlich Sam White und nicht der gesuchte Anatol Ludwig Stiller ist. Im Roman finden sich Passagen aus Frischs Tagebuch, die kaum verändert und nur sprachlich leicht abgewandelt wurden. Lediglich der Ton ist weniger persönlich und an die Handlung des Romans angepasst. Als Stiller während seiner Untersuchungshaft dazu aufgefordert wird, sich selbst zu beschreiben, spricht er, so Vesma Kondrič Horvat in ihrem Aufsatz »Räumliche Bewegung als Flucht vor sich selbst«511 , nur von der Schweiz und von Mexiko. Diese geographische Zuordnung sei sowohl räumlich als auch sozial zu verstehen.512 Wenn Stiller über die Schweiz spricht, spricht er eigentlich über sich selbst, er überträgt demnach sein Selbstbild. Sowohl die Schweiz als auch Mexiko sind als Metapher zu verstehen. Die Schweiz dient Stiller als Projektion seiner Selbstnegation. Mexiko ist ihm hier Gegenbild, da es eine reale Fluchtmöglichkeit in eine neue Identität und somit in die Freiheit bietet. Als letzter Ausweg bleibt Stiller nur mehr die Möglichkeit der »Flucht in den Raum«. Mexiko bietet eine Umgebung, in der Menschen sich noch kein Bildnis von ihm gemacht haben. Seine Bildnisproblematik gründet sich auf seinen Minderwertigkeitsgefühlen und seiner permanenten Selbstüberforderung, die aus der schwierigen Beziehung zu seiner Mutter und deren überzogenen Erwartungen an ihn resultiert. Daraus entstehen Bilder seiner gewünschten Wirkung auf andere, die ihn in seine Rollenhaftigkeit zwingen. Stiller ist bemüht, seiner Umwelt ein Bild von sich selbst zu vermitteln, dem er wahrscheinlich gerne entsprechen würde, es aber nicht kann und tut. Seine sich selbst auferlegten Konventionen zwingen ihn schließlich zur Flucht: zuerst als Kämpfer in den spanischen Bürgerkrieg, wo er wieder versagt, dann nach Amerika, wo sich ihm Mexiko als Fluchtort darbietet. Mexiko wird auch hier wiederum zum (persönlichen) Paradies, da das Land als Gegenpol zur Schweiz fungiert und Stiller die Möglichkeit der Identitätsflucht bietet. Die Sehnsucht, die Mexiko hier erfüllen soll, ist Stillers persönlicher Identitätskrise geschuldet. Sein Streben nach einem anderen Ich ist das Streben nach einem erfüllteren Leben, das Mexiko ihm bieten könnte. Die Komponente der paradiesisch-exotischen Natur ist hier ebenso von Relevanz, da gerade durch diese Stilisierung ein tatsächliches Gegenbildnis zur beengenden Schweiz entworfen werden kann. Auch die Ambiguität, mit der Mexiko mit all den irritierenden und eindeutig zivilisatorischen 511
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Kondrič Horvat, Vesna: »Räumliche Bewegung als Flucht vor sich selbst«, in: Komorowski, Dariusz (Hg.): Jenseits von Frisch und Dürrenmatt: Studien zur gegenwärtigen Deutschschweizer Literatur. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 20091 , S. 29 Kley, Andreas: »Anatol Stiller – Der Kleinbürger im Kleinstaat. Eine politisch-literarische Interpretation von Max Frischs Roman ›Stiller‹« (1954), in: Sonderabdruck der »Schweizer Monatshefte«, 66. Jahr, Heft 3, März 1986, www.rwi.uzh.ch/lehreforschung/alphabetisch/kley/ka/person/publikationen/Anatol_Stiller_Schw_Monatshefte_1986.pdf, (24.10.2019)
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Elementen beschrieben wird, ist für die Funktionalität des entworfenen Bildes nicht störend, handelt es sich doch vor allem um den mexikanischen Raum, der in seiner ambivalenten Exotik und Weitläufigkeit als Pendant zur begrenzten Alltagswirklichkeit Europas herangezogen wird. Frisch überträgt den Enthusiasmus, den er beim Anblick der mexikanischen Wüste verspürt hat, auf seinen Protagonisten Stiller, der sich in seiner Gefängniszelle an die Weiten und das eindrucksvolle Naturschauspiel der Wüste von Chihuahua erinnert: Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die Wüste. Beispielsweise die Wüste von Chihuahua. Ich sehe ihre große Öde voll blühender Farben, wo sonst nichts anderes mehr blüht, Farben des glühenden Mittags, Farben der Dämmerung, Farben der unsäglichen Nacht. Ich liebe die Wüste. Kein Vogel in der Luft, kein Wasser, das rinnt, kein Insekt, ringsum nichts als Stille, ringsum nichts als Sand und Sand und wieder Sand, der nicht glatt ist, sondern vom Winde gekämmt und gewellt, in der Sonne wie mattes Gold oder auch wie Knochenmehl, Mulden voll Schatten dazwischen, die bläulich sind wie diese Tinte, ja wie mit Tinte gefüllt, nie eine Wolke, nie auch nur ein Dunst, nie das Geräusch eines fliehenden Tieres, nur da und dort vereinzelte Kakteen, senkrecht, etwa wie Orgelpfeifen oder siebenarmige Leuchter, aber haushoch, Pflanzen, aber starr und reglos wie Architektur, nicht eigentlich grün, eher bräunlich wie Bernstein, solange die Sonne scheint, und schwarz wie Scherenschnitte vor blauer Nacht – all dies sehe ich mit offenen Augen, wenn ich es auch nie werde schildern können, traumlos und wach und wie jedesmal, wenn ich es sehe, betroffen von der Unwahrscheinlichkeit unseres Daseins. Wieviel Wüste es gibt auf diesem Gestirn, dessen Gäste wir sind, ich habe es nie vorher gewußt, nur gelesen; nie erfahren, wie sehr doch alles, wovon wir leben, Geschenk einer schmalen Oase ist, unwahrscheinlich wie die Gnade. Einmal, irgendwo unter der mörderischen Glut eines Mittags ohne jeglichen Wind, hielten wir an; es war die erste Zisterne seit Tagen, die erste Oase auf jener Fahrt. Ein paar Indianer kamen heran, um unser Vehikel zu besichtigen, wortlos und schüchtern. Wieder Kakteen, dazu ein paar verdörrte Agaven, ein paar serbelnde Palmen, das war die Oase. Man fragt sich, was die Menschen hier machen. Man fragt sich schlechthin, was der Mensch auf dieser Erde eigentlich macht, und ist froh, sich um einen heißen Motor kümmern zu müssen. Ein Esel stand im Schatten unter einem verrosteten Wellblech, Abfall einer fernen und kaum noch vorstellbaren Zivilisation, und um die fünf Hütten aus ungebranntem Lehm, fensterlos wie vor tausend oder zweitausend Jahren, wimmelte es natürlich von Kindern. Gelegentlich fuhren wir weiter. In der Ferne sahen wir die roten Gebirge, doch kamen sie nicht näher, und oft, wiewohl man den kochenden Motor hörte, konnte ich einfach nicht unterscheiden, ob man eigentlich fährt oder nicht fährt. Es war, als gäbe es keinen Raum mehr: daß wir noch lebten,
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zeigte uns nur der Wechsel der Tageszeiten. Gegen Abend streckten sich die Schatten der haushohen Kakteen, auch unsere Schatten; sie flitzen neben uns her mit Hundertmeterlänge auf dem Sand, der nun die Farbe von Honig hatte, und das Tageslicht wurde dünner und dünner, ein durchsichtiger Schleier vor dem leeren All. Aber noch schien die Sonne. Und in der gleichen Farbe wie die Kuppen von Sand, die von der letzten Sonne gestreift wurden, erschien der übergroße Mond aus der violetten Dämmerung ohne Dunst. Wir fuhren, was unser Jeep herausholte, und dabei nicht ohne jenes feierliche Bewußtsein, daß unsere Augen durchaus die einzigen sind, die all dies sehen, ohne sie, ohne unsere sterblichen Menschenaugen, die durch diese Wüste fuhren, gab es keine Sonne, nur eine Unsumme blinder Energien, ohne sie kein Mond; ohne sie keine Erde, überhaupt keine Welt, kein Bewußtsein der Schöpfung. Es erfüllte uns, ich erinnere mich, ein feierlicher Übermut; kurz darauf platzte der hintere Pneu. Ich werde die Wüste nie vergessen!513 In seinem Pamphlet »Du sollst dir kein Bildnis machen« erinnert Frisch daran, dass der Mensch ohne die Liebe dazu tendiert, die ganze Welt in vorgefertigte Bilder einzuteilen. Nur durch Empathie und Liebe könne ein anderer Mensch und mit ihm die ganze Welt als das gesehen und akzeptiert werden, was er bzw. sie wirklich sei.514 Daraus lassen sich Frischs Enthusiasmus gegenüber Mexiko, den er in seinem Tagebuch festhält, sowie die Vorsicht und Bedachtsamkeit seiner Beschreibungen erklären. Frisch ist sich dessen bewusst, dass er Mexiko – dieses Land zwischen Paradies und Inferno, wie er es im letzten Absatz seines Tagebuchs nennt – nicht begriffen hat und nie begreifen wird, lediglich das Nicht-Begreifen kann er vertiefen. Mexiko verhilft Stiller dazu, den vorgefertigten Bildnissen in der Schweiz zu entkommen. Das Bild, das er sich von Mexiko macht, bleibt dabei subjektiv und dadurch artifiziell. Durch die Romanfigur Stiller ist es Frisch möglich, seinen eigenen MexikoErfahrungen Gestalt zu verleihen. Sie erst ermöglichen die Konstruktion des Plots und die Stilisierung des (mentalen) Fluchtparadieses Mexiko. Auch Stiller nimmt die Landschaft phasenweise durchaus malerisch wahr, da auch er das Pittoreske, das Verlorene sucht und dadurch versucht ist, die Wirklichkeit dementsprechend einzupassen. Ähnlich wie in Frischs Tagebuch ist Mexiko immer wieder furchteinflößend und bedrohlich, am Ende aber trotzdem schön, weil es doch Ursehnsüchte zu erfüllen vermag: […] dann auch die topografische Lage des Orizaba, die paradiesisch ist, nahe der tropischen Zone, die ich nicht leiden kann mit ihrem schwülen Gewucher, mit ihren üppigen Schmetterlingen, mit ihrer schleimigen Luft und ihrer feuchten Son513 514
Frisch: Stiller, S. 26f. Frisch: »Du sollst dir kein Bildnis machen«, S. 369
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ne, mit ihrer klebrigen Stille voll mörderischer Befruchtung, gerade noch über dieser Zone liegt Orizaba auf einem Plateau, das die Lüfte aus den Gebirge hat, hinter sich sieht man den weißen Schnee des Popocatepetl, vor sich den verblauenden Golf von Mexiko, eine Riesenmuschelbläue, ringsum aber einen blühenden Garten etwa von der Größe eines schweizerischen Kantons, blühend von Orchideen, die hier wie Unkraut wuchern, doch blühend auch von nützlichen Gewächsen: Dattelpalmen, Feigen, Kokospalmen, Orangen und Zitronen, Tabak, Oliven, Kaffee, Ananas, Kakao, Bananen usw.515 Die Natur Mexikos ist nicht zähmbar und dadurch auch für Stiller gleichermaßen faszinierend und beängstigend, wie er anlässlich einer Episode schildert, die er als Arbeiter auf einer Tabakplantage erlebt: Trotz meiner wirtschaftlichen Lage hielt ich die Hitze einfach nicht mehr aus, Lohn hin oder her. Immer deutlicher stank es nach Schwefel. Ich schrie, plötzlich von Angst gepackt. Aus der grauen Erde, gerade hinter mir, quoll plötzlich ein Wölklein von gelblichem Rauch. […] Allenthalben räuchelte es wie aus einer Herrengesellschaft, die Zigarren raucht, und ich sah, wie die Erde ringsum Risse bekam, ganz lautlose Risse, und aus diesen Rissen stank es nach Schwefel. Ich lief irgendwohin, bis ich vor Keuchen nicht mehr konnte, und schaute zurück auf unsere Plantage, sah, wie sie stieg, wie sie sich wölbte, wie da ein Hügelchen wurde. Ein spannendes Schauspiel.516 Der Bildhauer Stiller, der versucht, Bilder und Identitäten zu formen, konnte sich von Mexiko kein tatsächliches Bildnis machen. Frisch selbst konnte es auch nicht. Mexiko muss aber gar nicht gänzlich begriffen werden, um als Projektionsfläche zu funktionieren. Für Stiller bietet es, vielleicht gerade durch seine Unbegreiflichkeit – da es ein Nicht-Ort bleibt – die Möglichkeit, sich von seinem alten Selbstbildnis zu befreien. Während Frisch im Roman Stiller verschiedene Arten des Erzählens anwendet und Mexiko in seiner ganzen Ambiguität darstellt, sind die Beschreibungen in seinem Roman Homo Faber durchwegs bewusst klischeehaft gestaltet. Mexiko wird auf einige Stereotype reduziert, was sich aus der besonderen Veranlagung des Protagonisten Walter Faber erklärt. Im Zentrum des Romans steht, wie der Titel verdeutlicht, der moderne bzw. der schaffende Mensch517 , der seine Umwelt mit der größtmöglichen Präzision und Exaktheit wahrnimmt und beschreibt. Wo dies nicht möglich ist, kann Walter Faber nur auf Klischees und Stereotype zurückgreifen. Er bleibt in seinem Bildnis gefangen. Aus Angst vor der »Launenhaftigkeit der
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Frisch: Stiller, S. 37 Ibid. S. 46 auch der Mensch als Handwerker
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(menschlichen) Natur«, flüchtet sich Faber in eine Welt der Vernunft und Wissenschaft. Das Leben an sich sei technisch, der Mensch der Beherrscher der Natur und die Maschine der bessere Mensch, da sie nach Logik arbeite und nicht von Emotionen abgelenkt werde.518 Fabers Grundsatz lautet »Technik statt Mystik!«519 . Sein Leben ist durch eine generelle Beziehungslosigkeit zu seinen Mitmenschen und seiner Umwelt – also auch zur Natur – gekennzeichnet. Emotionen, Träumen oder Fantasien wird kein Platz eingeräumt. Auch Mexiko ist für Faber kein Sehnsuchtsort. Die Beschreibungen Mexikos resultieren aus Fabers Unvermögen eines menschlichen und empathischen Fühlens und Handelns, das er trotz seiner Metamorphose bis zum Ende des Romans nicht überwinden kann. Frisch bedient sich hier bewusst einer typisch europäischen Perspektive und beschreibt Mexiko, indem er es auf markante Ausschnitte und Klischees reduziert. Es kann nicht technisch erfasst und beschrieben werden, daher herrscht dank der Beschreibungen des Protagonisten lediglich eine stereotype Sicht vor. Frisch bedient sich eurozentristisch angelegter Vorurteile gegenüber Mexiko und benutzt sie, um Fabers Blick auf die Welt abzubilden. In ihrer Einseitigkeit und eher negativ angelegten Konnotation spiegeln sie auch Frischs ambivalentes Verhältnis zu Mexiko wider. Die beunruhigende Übernatur ist auch in Homo Faber inhärentes Moment der Beschreibungen: Ich blieb im Wasser, obschon es mich plötzlich ekelte, das Ungeziefer, die Bläschen auf dem braunen Wasser, das faule Blinken der Sonne, ein Himmel voll Gemüse, wenn man rücklings im Wasser lag und hinaufblickte, Wedel mit meterlangen Blättern, reglos, dazwischen Akazien-Filigran, Flechten, Luftwurzeln, reglos, ab und zu ein roter Vogel, der über den Fluß flog, sonst Totenstille […] unter einem weißen Himmel, die Sonne wie in Watte, klebrig und heiß, dunstig mit einem Regenbogenring.520 Faber spricht immer wieder von der »feuchten Luft« und der »schleimigen Sonne«. Für ihn stinkt es nach Fruchtbarkeit und »blühender Verwesung«.521 Die Natur vereint wiederum Leben und Tod miteinander. Beide kann Faber nicht annehmen, weil sie nicht in seinen Rahmen des Fassbaren und Beschreibbaren fallen. Immer wieder erwähnt er auch den Zopilote, den Aasgeier, der allgegenwärtig zu sein scheint und seinerseits den Tod symbolisiert. Das Unbekannte und Unerklärliche wird grundsätzlich negativ stilisiert, da die mexikanische Natur nicht in Fabers Weltbild passt. Faber glaubt nicht an das Erlebnis, da er als Techniker nur an das glauben kann, was er tatsächlich sieht:
518 519 520 521
Vgl. Frisch, Max: Homo faber. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 19771, S. 107 Ibid. S. 77 Ibid. S. 52 Vgl. ibid. S. 51
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Ich sehe die gezackten Felsen, schwarz vor dem Schein des Mondes; sie sehen aus, mag sein, wie die gezackten Rücken von urweltlichen Tieren, aber ich weiß: Es sind Felsen, Gestein, wahrscheinlich vulkanisch, das müßte man nachsehen und feststellen. Wozu soll ich mich fürchten? Es gibt keine urweltlichen Tiere mehr. Wozu sollte ich sie mir einbilden? Ich sehe auch keine versteinerten Engel, es tut mir leid; auch keine Dämonen, ich sehe, was ich sehe: die üblichen Formen der Erosion, dazu meinen langen Schatten auf dem Sand, aber keine Gespenster. Wozu weibisch werden? Ich sehe auch keine Sintflut, sondern Sand, vom Mond beschienen, vom Wind gewellt wie Wasser, was mich nicht überrascht; ich finde es nicht fantastisch, sondern erklärlich. Ich weiß nicht, wie verdammte Seelen aussehen; vielleicht wie schwarze Agaven in der nächtlichen Wüste. Was ich sehe, das sind Agaven, eine Pflanze, die ein einziges Mal blüht und dann abstirbt. Ferner weiß ich, daß ich nicht (wenn es im Augenblick auch so aussieht) der erste oder letzte Mensch auf der Erde bin; und ich kann mich von der bloßen Vorstellung, der letzte Mensch zu sein, nicht erschüttern lassen, denn es ist nicht so. Wozu hysterisch sein? Gebirge sind Gebirge, auch wenn sie in gewisser Beleuchtung, mag sein, wie irgend etwas andres aussehen, es ist aber die Sierra Madre Oriental, und wir stehen nicht in einem Totenreich, sondern in der Wüste von Tamaulipas, Mexico, ungefähr sechzig Meilen von der nächsten Straße entfernt, was peinlich ist, aber wieso ein Erlebnis?522 Faber kann auch kein Erstaunen gegenüber der Welt empfinden, da er alles »durch den Filter des Üblichen betrachtet«.523 Faber erlebt die Welt nicht wirklich, sondern nimmt sie laut Geulen als bloße Gegenständlichkeit hin und erklärt lediglich deren Zusammenhang.524 Seine Naturbeschreibungen sind auf die Zusammenhänge reduziert, die er herzustellen vermag. Er verklärt nicht und hat keine Sehnsüchte, die projiziert werden müssten. Er sieht und berichtet lediglich. Seine Darstellungen der mexikanischen Natur entsprechen einer wissenschaftlichen Analyse. Im Laufe des Romans verändert sich Fabers Weltbild jedoch. Er verliebt sich in eine sehr junge Frau mit Namen Sabeth525 und muss nach ihrem tödlichen Unfall feststellen – vermutet hatte er es schon davor –, dass seine Geliebte eigentlich seine Tochter war, die er mit seiner Jugendliebe Hanna gezeugt hatte. Durch die Veränderung seines Weltbildes entsteht eine grundsätzliche Verunsicherung. Die Natur erscheint ihm plötzlich noch bedrohlicher. Die Unbeherrschbarkeit des Dschungels erweckt in ihm nun nicht mehr bloß Ekel, sondern auch Furcht: 522 Frisch: Homo faber, S. 24 523 Vgl. Kondrič: »Räumliche Bewegung als Flucht vor sich selbst«, S. 139 524 Vgl. Geulen, Hans: Max Frischs »Homo Faber«. Studien und Interpretation. Berlin: Walter de Gruyter & Co. 1965, S. 38 525 eigentlich Elisabeth
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[…] Gewächse reglos, Geschlinge von Luftwurzeln, die in unserem Scheinwerferlicht glänzten wie Eingeweide. Ich war froh, nicht alleine zu sein, obschon eigentlich keinerlei Gefahr, sachlich betrachtet; das Wasser lief ab. Wir schliefen nicht eine Minute. Wir hockten wie in der Sauna, nämlich ohne Kleider; es war unerträglich, das nasse Zeug auf dem Leib. Dabei war es, wie ich mir immer sagte, nur Wasser, kein Grund zum Ekel. Gegen Morgen hatte der Regen aufgehört, plötzlich, wie wenn man eine Dusche abstellt; aber es tropfte von den Gewächsen, es hörte nicht auf zu glucksen, zu tropfen. Dann die Morgenröte! Von Kühlung keine Spur; der Morgen war heiß und dampfig, die Sonne schleimig wie je, die Blätter glänzten, und wir waren naß von Schweiß und Regen und Öl, schmierig wie Neugeborene. Ich steuerte; ich weiß nicht, wie wir mit unserem Landrover durch den Fluß kamen; aber wir kamen hindurch und konnten es nicht fassen, daß wir je in diesem lauen Wasser mit fauligen Bläschen geschwommen sind. Es spritzte der Schlamm nach beiden Seiten, wenn wir durch die Tümpel fuhren, diese Tümpel im Morgenrot – einmal sagte Marcel: Tu sais que la mort est femme! Ich blickte ihn an, et que la terre est femme! Sagte er, und das letzte verstand ich, denn es sah so aus, genau so, ich lachte laut, ohne zu wollen, wie über eine Zote.526 Faber schafft es bis zum Ende des Romans nicht, sich gänzlich von seinem sich selbst auferlegten Bildnis zu befreien. Durch seine Beziehung zu Sabeth und seinen damit verbundenen Wandel verändert sich erstmals seine Haltung gegenüber der Natur. Nach Sabeths Tod am Ende des Romans verspürt er erstmals Sehnsucht, der Natur endlich nahe zu kommen: Täler im Schräglicht des späteren Nachmittags, Schattenhänge, Schattenschluchten, die weißen Bäche drin, Weiden im Schräglicht, Heustadel, von der Sonne gerötet, einmal eine Herde in einer Mulde voll Geröll über der Waldgrenze: wie weiße Maden! (Sabeth würde es natürlich anders taufen, aber ich weiß nicht wie.) Meine Stirne am kalten Fenster mit müßigen Gedanken – Wunsch, Heu zu riechen! Nie wieder fliegen! Wunsch, auf der Erde zu gehen – dort unter den letzten Föhren, die in der Sonne stehen, ihr Harz riechen und das Wasser hören, vermutlich ein Tosen, Wasser trinken – Alles geht vorbei wie im Film! Wunsch, die Erde zu greifen – […]527 Beide Romane, Stiller und Homo Faber, vermitteln auf unterschiedliche Weise Frischs eigenes Mexikobild, in beiden konstruiert er ein persönliches Mexiko –
526 Frisch: Homo faber, S. 69 527 Ibid. S. 195
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das des jeweiligen Protagonisten. Mexiko ist europäischer Sehnsuchtsort mit paradiesischen und pittoresken Elementen. Mexiko ist aber auch ein Land der fortschreitenden Zivilisation und der übermächtigen, wilden Natur. Mexiko ist Paradies und Hölle – Orchideen und Aasgeier. Gerade die düstere und dadurch abenteuerliche Komponente des Landes stößt zunehmend auf Interesse und findet dementsprechend Eingang in die Literatur. In dem 1984 erschienenen Werk Mexikanische Novelle528 zieht der deutsche Schriftsteller Bodo Kirchhoff Mexiko als Handlungsort einer kriminalistisch angelegten Geschichte um einen deutschen Journalisten heran und schafft eine bedrohliche und unheilverkündende Atmosphäre. Der Protagonist bricht zur Recherche rund um eine Story in die USA auf und fährt dann weiter nach Mexiko, um dort seinen Bericht zu verfassen. Aufgrund der Verquickung verschiedener Umstände landet er am Ende in einem mexikanischen Gefängnis, nimmt diese Tatsache aber doch teils gefasst, teils resignierend als neuen Lebensumstand hin. Der Aufbau der Erzählung ist gattungstypisch sehr linear gestaltet und nur spärlich mit Hintergrundinformation versehen. Auch über den Protagonisten erfährt man zu Anfang relativ wenig. Er führt ein eher isoliertes Leben. Kurz angedeutet wird, dass er eine gescheiterte Beziehung hinter sich hat und auch für seine Arbeit keinen allzu großen Enthusiasmus aufbringen kann. Überhaupt vermittelt er den Eindruck, dass nichts in seinem Leben ihn wirklich zu großem Enthusiasmus hinreißen kann. Mexiko wird von Kirchhoff als Handlungsschauplatz seiner Novelle herangezogen, da die latent gefährliche Grundstimmung den Handlungsverlauf einbettet bzw. stützt. Dem nüchternen Stil der Novelle entsprechend, gestalten sich auch die Darstellungen Mexikos sachlich. Naturbeschreibungen treten in den Hintergrund, und geschildert wird vor allem das urbane Mexiko, das wenig idyllisch anmutet. Es ist jedoch wiederum gerade dieser auf den ersten Blick wenig reizvolle Aspekt des Landes, der die passende Stimmung für den Plot erzeugt: Das Bedrohliche und Fremde, das von Mexiko ausgeht, ist gleichhin faszinierend und birgt den exotischen Reiz des Abenteuerlichen in sich. Die immer wieder erwähnten Motive der Zivilisation, die das Bild anfänglich zu stören scheinen, geben ihm einen vermeintlich desillusionierenden und resignativen Charakter, der subtil auch die Klage über die verlorene Ursprünglichkeit des Landes in sich birgt. Der negative Grundtenor, der erzeugt wird, kehrt das Fremdartige und Unnatürliche der Zivilisation hervor, die in Mexiko eingedrungen ist. Mexiko scheint nichts mehr mit einem Paradies zu tun zu haben. Die Exotik wird durch den hervorgekehrten Abenteuercharakter neu besetzt und stilisiert. Dinge wie Pappbecher, die auf der Straße umher geweht werden, Coca-Cola und Burger als Sinnbilder der westlichen Zivilisation sowie Szenen des urbanen Lebens und auch Markenschilder, die an jene Deutschlands erinnern, schaffen eine gänzlich eigene, mit exotisierender Abenteuerlichkeit aufgeladene 528 Kirchhoff, Bodo: Mexikanische Novelle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch 19981
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Atmosphäre: »Wind und Sand nahmen zu. […] Wir kamen auf die Avenida Socorro zurück, wir liefen auf die Grenze zu. Pappbecher wurden über den Boden geweht, auch trockene Äste.«529 Und auch an anderer Stelle: Als ich wieder auf die Straße kam, schien mir das nächtliche Leben auf seinem ersten Gipfel zu sein. Über dem Geschrei der Losverkäufer und dem Brausen der Autos lag scharfer Küchengeruch; die Menschen auf den angestrahlten Filmplakaten sahen aus, als lebten sie wirklich; Mädchen gingen eingehakt, drei vier, fünf nebeneinander; aus Kassettenständen klang das Lied der Saison. Die Luft war wie gefettet. Sie war so durchstrichen von verschiedenen Düften und Tönen, daß sich in mir ein Gespür für die Hunde einstellte, für ihre Wege zwischen den Passanten, für ihr Wittern und Streunen. Vor einer Kreuzung stieß ich dann auf einen Schnellimbiß. Man konnte dort an einer Theke stehen, halb im Freien, und Hamburger essen. Ich stellte mich hart an den Rand, die Flanierenden streiften mich fast; ich verlangte ein Bier und einen Burger mit Käse. Die Cola und das andere Bier wollte ich erst vor dem Weggehen haben, damit die Sachen dann noch kalt wären im Hotel.530 Die nähere Umgebung des Splendid Meyer Hotels war nicht gerade aufregend. Die Markenschilder, die es auch in Freiburg gab, waren hier mit einer Staubschicht bedeckt und hatten Beulen. Es gab nur ein paar gekachelte Fassaden, es gab ein paar verkrüppelte Bettler; nichts war so beindruckend, daß wir uns gegenseitig darauf hingewiesen hätten.531 Der Protagonist, der nach Mexiko kommt, um ein Porträt über einen Leutnant der Luftwaffe mit Namen Rizzi zu schreiben, verstrickt sich in eine Liebschaft mit einer sehr jungen Mexikanerin. Er scheint ihr gegenüber – wie seinem ganzen Leben generell – eher pragmatisch bzw. indifferent eingestellt zu sein. Gerade durch seine eher gleichgültige Grundhaltung kann sich das Drama der Geschichte vollends entspinnen. Aus der Aneinanderreihung von Zufällen entsteht die unerhörte Begebenheit – laut Kiefer eben das Mexikanische.532 Kirchhoff verdeutlicht in seiner Geschichte, wie die Aneinanderreihung von zufälligen Begebenheiten ein Menschenleben zerstören kann. Er vereint dazu Elemente einer Kolportage, eines Melodrams und
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Kirchhoff: Mexikanische Novelle, S. 28 Ibid. S. 125 Ibid. S. 57 Kiefer bezieht sich in diesen seinen Ausführungen auf Klara Obermüllers Zeitungsartikel »Da macht sich einer aus dem Staub«, der am 31.8.1984 in der FAZ erschienen ist. Vgl. Kiefer, Sascha: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. Eine Gattungsgeschichte. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2010, S. 382f.
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eines Thrillers. Dieses Kompositionsprinzip – mit Versatzstücken der Trivialliteratur ein bewusstes Spiel zu treiben – perfektioniert Kirchhoff in seinem Werk Schundroman. Dieser Art der Komposition entsprechend zieht Kirchhoff in seiner Mexikanischen Novelle Mexiko mit all seinen Bildern und Stereotypen instrumentalisierend heran. Die Liebschaft, die der Protagonist Armin mit der jungen Mexikanerin namens Baby Orphelia eingeht, wird ihm zum Verhängnis. Kiefer spricht diesbezüglich von einem Code der Novelle, dessen Unkenntnis letale Folgen haben könne.533 Orphelias Bruder Emilio verfolgt den Protagonisten. Leutnant Rizzi wird schließlich Opfer eines Mordanschlages, der eigentlich Armin gelten sollte. Zwischen dem Leutnant und Armin kommt es davor zu subtilen erotischen Spannungen. Der Protagonist wird zu Unrecht des Mordes an Rizzi angeklagt und findet sich mit Raul, einem jungen Mexikaner, in einer Gefängniszelle wieder. Seine homoerotischen Fantasien finden hier endlich Entsprechung. Das Buch endet mit der Erkenntnis des Protagonisten, nun – auch durch den vollzogenen Liebesakt – in ein neues Leben zu gleiten. Armin, dessen Begabung im Beobachten liegt, scheitert an Mexiko und den mexikanischen Ereignissen, die er zwar zu beobachten, nicht aber zu erfassen und verstehen vermag. Die letzten Worte, die Rizzi an den Protagonisten richtet, setzen einen Reflexionsprozess in Gang: Rizzi fordert ihn auf, weiterzuleben und weiterzuschreiben. Armin ist aber, als er sich im Gefängnis befindet, erleichtert darüber, dass er sein Schreiben nicht weiter fortsetzen kann. Sein Widerwille resultiert aber nicht aus Schuldgefühlen, die er gegenüber Rizzi hegt, sondern aus dem Bewusstsein, dass sein Schreiben lediglich eine »Form der Informationsverarbeitung« und keineswegs eine »Annäherung an die Wahrheit« ist und nur den Ansprüchen der LeserInnen entspricht. Es ist demnach nicht Ausdruck seiner Beobachtungen, sondern ein den LeserInnen gerechtes Sprachgebäude. Mit dem »Ausstieg aus der heterosexuellen Matrix« beschließt der Protagonist auch diesen seinen Schreibprozess.534 Durch einen Vergleich mit Thomas Manns Novelle Tod in Venedig und den darin thematisierten homoerotischen Fantasien Aschenbergs gegenüber dem russischen Jüngling Tadzio resümiert Kiefer, dass auch Armins Fantasien gegenüber dem als fremd und exotisch empfundenen jungen Mexikaner Raul, der ihm im Laufe des Romans des Öfteren begegnet, als (koloniale) Machtfantasie gedeutet werden kann. Auch bei Kirchhoff könne, geradeso wie bei Mann, das Ende als Untergang und Krise eines apollinischen Lebensentwurfes gewertet werden.535 Ähnlich wie in Frischs Homo Faber sieht sich auch Kirchhoffs Protagonist mit einer mexikanischen Realität konfrontiert, die er, verstärkt durch sein zielgerichtetes Schreiben darüber, nicht fassen und begreifen kann. Der mexikanischen »Code«
533 Vgl Kiefer: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert, S. 382f. 534 Vgl. ibid. S. 385 535 Vgl. ibid. S. 390
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erschließt sich ihm nicht, und er scheitert letztendlich an ihm. Die Abenteuerfunktion, die Mexiko in der Novelle erfüllt, ergibt sich aus den wenig anmutigen und bedrohlichen, wenngleich exotischen Beschreibungen des Landes. Vom Paradies ist wenig über in der urbanen Landschaft, die von negativen und ärmlichen Elementen der Zivilisation durchdrungen ist. Der Protagonist wird, so hat es den Anschein, aufgesogen von der fremdartigen Realität, um letztendlich – entsprechend seiner passiven Lethargie – ganz in ihr zu versinken: Als es tagte, fuhr der Bus durch den Regenwald. Die Sonne stieg schnell. Meine Augenlieder brannten, mir dörrte der Mund aus. […] An der Haltestelle gab es Tausende von Fliegen. Daß ja niemand mehr wußte, wo ich war, fiel mir ein. Es war, als sei ich aus der Welt; die Hitze, die immer drückender wurde, empfand ich als mein Verdienst.536 An den Werken Frischs und Kirchhoffs zeigt sich, dass sich die europäischen SchriftstellerInnen der Wirkung Mexikos bewusster werden und sich dieser vorsätzlicher bedienen. Die Exotik wird nur noch in Teilen durch das mexikanische Naturschauspiel erzeugt, auch die bedrohliche Komponente des Landes wird zunehmend dahingehend instrumentalisiert und stilisiert. Das entworfene Bild impliziert immer auch Kritik und fußt auf der Erkenntnis, dass das ursprüngliche und wahre Mexiko – das von Europa entworfene und konstruierte Paradies – zunehmend verschwindet. Auch die Schriftstellerin Inge Merkel kannte Mexiko sehr gut. Sie verbrachte einige Jahre ihres Lebens dort und verstarb auch 2006 in Mexiko. Merkel thematisiert in ihrem Roman Aus den Geleisen537 die Faszination, die Mexiko auf Europäer ausübt – und sie so immer wieder in seinen Bann zieht. Der Grundton ihres Romans ist ironisch angelegt. Merkel erzählt die Geschichte einer deutschsprachigen Reisegruppe, die nach Mexiko aufbricht und dort einen sogenannten Kulturclash erlebt. Der Roman versteht sich phasenweise als bewusste Parodie. Merkel bedient sich diverser Klischees der Mexikodarstellung, um diese im Laufe der Romanhandlung zu entlarven. Der erste Realkontakt mit dem Land gestaltet sich, wie so oft, wenig romantisch. Die Natur erscheint verdorrt und kaum anmutig. Das Bild wird auch von Bretterbuden gestört, in denen Essen und Souvenirs für TouristInnen angeboten werden. Die Enttäuschung, die sich nach dem ersten Kontakt mit dem fremden Mexiko einstellt, zeugt von den übersteigerten und sehr konkreten Erwartungen der Reisenden, die sich im Laufe der Handlung noch deutlicher manifestieren:
536 Kirchhoff: Mexikanische Novelle, S. 34 537 Merkel, Inge: Aus den Geleisen. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1996
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Während der archaisch begeisterte Bäuml sich mit der mythischen Potenz der Ursprünglichkeit blähte und berauschte und die Schwachnervigkeit unserer Kulturzone als Degenerationserscheinung entlarvte, schwenkte der Bus von der Straße ab und holperte in wüstes Gelände. Ausgedörrte, mit Sprüngen übernetzte Erde, Steine und Staub waren zu sehen. Dazwischen, ruppig und lebenszäh, spitzdorniges Buschwerk und lanzenbewehrte Agave. Am Rand des archäologisch erschlossenen Terrains fand sich ein Parkplatz und ein paar windschiefe Buden, wo man scharf riechende Tacos, Tequila und Andenken verhökerte.538 In Merkels Roman wirkt Mexiko von Anfang an unheimlich. Die Protagonistin, auch »die Quaerens« genannt, schwankt im Erleben des Naturereignisses Mexiko in charakteristischer Manier zwischen Faszination und Furcht. Merkel ist sich der Wirkung Mexikos, nicht zuletzt aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung, bewusst und spielt immer wieder mit ihr. Das Bild, das sie mithilfe der Protagonistin zeichnet, ist das Bild eines ambivalenten Landes, das Europäer gleichermaßen anzieht wie abstößt: Sie schaute und schaute und grübelte darüber und suchte zu begreifen, was sie sah und wie wildfremd und bedrückend es war. Endlich glaubte sie, die Ursache zu erkennen. Dieses Erkennen ergab sich aber nicht allmählich, als Summe einzelner Eindrücke, die sich zum Resultat formten. Es überkam sie schockartig. – Es war das Licht. Jetzt wurde ihr bewußt, daß dieses Licht sie schon in der Hauptstadt unterschwellig irritiert hatte. Aber erst hier, in der leeren, ebenen Weite begriff sie, wie anders dieses Licht war als jedes ihr bekannte im Norden oder Süden Europas. Diesem Licht hier fehlte die Eigenschaft der Luftigkeit, die körperlose Konsistenz. Es war Materie. Es war kein unstoffliches Medium, das die Dinge konturenlösend umschmiegte und Verbindungen schuf. Es schob sich, selbst kompakt, zwischen die kompakten Formen aus dichtem Stoff. Es verband nicht, sondern vereinzelte, separierte. Jeder Stein und Mauerrest, jede Staude, die Pyramide selbst und in der Ferne die Autos und die Buden waren kantenscharf isoliert, ohne sinnlich wahrnehmbare Beziehung zum benachbarten Gegenstand. Die Quaerens empfand tiefes Unbehagen. Sie suchte es mit kühler Vernunft zu beschwichtigten. Sagte sich, daß es für das Phänomen bestimmt eine trockene meteorologische Erklärung gab. Wahrscheinlich fehlten aus einem Grund, welcher dem Wetterkundigen durchaus vertraut war, der Luft hier oben in den trockenen Höhen gewisse Feinstoffe, welche anderswo die Atmosphäre ausmachen und Verbindlichkeit vortäuschen, die es nicht wirklich gibt. […] Nun sah sie auch, daß der Himmel nicht die gewohnte durchsichtige Ferne mit der Ahnung unendlicher Weiten bot. Er war ein blau 538 Merkel: Aus den Geleisen, S. 68
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ausgeschlagenes Gewölbe, eine stofflich begrenzte Kuppel, die wie gefalzt an die Erde stieß. Das Gefühl der Luftabschnürung machte ihr Herzklopfen. Dazu aber kam noch merkwürdigerweise ein tiefer Kummer. Ein hoffnungsleerer Kummer über die unlösbare Einsamkeit der Dinge. Eine kosmische Verlassenheit, unpersönlich und unwiderruflich umso mehr, als es die Wahrheit über die Natur der Formen war. […]539 Zu ihrer Verwirrung passend, hört die Quaerens einen alten »Indio«, der Flöte spielt und auch zum Trugbild wird. Nicht nur, dass er »schwarze Melancholie« aufquellen lässt, die Protagonistin ist nach einiger Zeit nicht mehr sicher, ob es sich tatsächlich um einen Menschen, einen Kojoten oder aber eine Pflanze handelt. Die Grenzen der Natur verschwimmen zunehmend in diesem mystischen Licht, das »Verbindung und Verschmelzung ausschließt, Verwandlung aber erlaubt«.540 Merkel lässt ihre Protagonistin über die europäische Natursehnsucht reflektieren. Es ist nicht nur die Suche nach einer idyllischen Landschaft, die den Blick der Europäer prägt, sondern auch der europäische Habitus, der Natur eine übergeordnete Rolle einzuräumen und sie als Symbol zu stilisieren: Von oben wird dann die Gegend betrachtet, die Aussicht mit Ah und Oh bedacht. Und warum diese germanische Süchtigkeit nach Ferne und Panorama? Ich sag’s Ihnen: Wir drängen der Natur ununterbrochen unser Innenleben auf. Wir können uns nicht bei uns behalten. Persönlich müssen wir uns einschmuggeln in die Landschaft und alles auf uns beziehen, unsere simplen Gefühle mit Hilfe von Horizont und Firmament ins Erhabene hinaufdeuteln.541 Aus dieser (europäischen) Art der Stilisierung resultieren auch die verschiedenen Spielarten der Paradiesprojektionen. In eine Landschaft werden vorgefasste Ideen und Bilder projiziert und dadurch wird die Landschaft zu etwas erhoben, was sie nüchtern betrachtet nicht ist. Diese Natursehnsucht entspricht einer Art Zivilisationskrankheit. Merkel verdeutlicht diesen Unterschied im Naturempfinden, indem die Protagonistin darüber reflektiert, dass Mexikaner die Natur auf eine nüchterne, aber auch natürlichere Weise wahrnehmen: Der europäische Tourist kommt meist im Rudel und kann sich nicht der einsamen Schau hingeben, und der Mexikaner hat für diese Art der Gefühlsakrobatik gar kein Organ. Er empfindet Natur ganz nüchtern. Universale Umwelt, in welcher er
539 Merkel: Aus den Geleisen, S. 69ff. 540 Vgl. ibid. S. 72 541 Ibid. S. 74
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als ein winziges Rädchen ohne eigenen Willen mitkreist und alles nimmt, wie’s kommt.542 Der weiblichen Hauptfigur wird klar, warum der Mexikaner eine gänzlich andere Beziehung zur Natur hat als der Europäer: Dies habe mit dem Licht, mit der Natur selbst, zu tun. Eine Annäherung an sie, nach der die Europäer streben, sei in Mexiko grundsätzlich nicht möglich: Die atmosphärische Auflockerung des Naturbildes in unseren klimatischen Breiten erlaubt es, mit der Natur in gefühlsmäßige Beziehung zu treten. Es sind die schwebenden, transparenten Elemente, die erzeugen, was wir Stimmung nennen, die das Gefühl einer Einheit der Natur in der individuellen Seele erwecken, Wechselschwingungen glückhafter oder trauriger Art. Wir projizieren unsere Seele in die Umwelt oder lassen sie durch die Umwelt einstimmen. Wir besitzen darin eine eigene Empfindlichkeit und Ansprechbarkeit. Wenn der Natur aber diese luftige Qualität abgeht und sie aus einem Puzzle voneinander abgrenzbarer Materie zu bestehen scheint, kann es zu einer solchen Verschmelzung nicht kommen. »In einem Land mit diesen Lichtverhältnissen«, sagte die Quaerens, »kann die Beziehung des Menschen zur Natur nur trocken und sachlich sein. […]«543 Im Laufe der Handlung vollziehen sich auch in den Figuren selbst mitunter romantisierende Wandlungen, die sich aus deren sehr persönlichen Sehnsuchtsvorstellungen ergeben. Ein Beispiel dafür ist ein Mitreisender namens Bäuml, der nicht nur die Hochsprache ablegt und – im Sinne der Ursprünglichkeit – fortan Dialekt spricht, sondern sich auch sonst ganz offenkundig gegen die vermeintlichen alten Werte der Zivilisation wendet. Mexiko ist klarer Kontrastort zu Europa und symbolisiert die Natürlichkeit, die in Europa verloren ging: Er stellte einen Menschen dar, der bewußt Europa und die westlichen Zivilisationszwänge abgestreift hat. An einer störrischen Verkniffenheit des Mundes und einer rötlich unterlaufenen Starrheit des Blicks konnte man die Bereitschaft zum Zelotentum erkennen. Verbal bestätigte er diese Stimmung durch eine röhrenförmige Hochpreisung alles dessen, was er als »gesunde Natürlichkeit« bezeichnete […]. Jetzt krähte er seine Überzeugungen mit der etwas gebrochenen Stimme eines Junghahns heraus, und sie liefen allesamt darauf hinaus, daß man alles, was der Europäer als Übelstand empfand, positiv zu beurteilen habe, angefangen von der Unpünktlichkeit der mexikanischen Volksseele über die kratertiefen Schlaglöcher in den Hauptstraßen und sogar bis zu einer von verlegenen Touristen angesprochenen Eigentümlichkeit des mexikanischen Toilettenwesens.544
542 Merkel: Aus den Geleisen, S. 75 543 Ibid. S. 79f. 544 Ibid. S. 82f.
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Die Europäer werden im Laufe der Handlung mehr und mehr in den Sog der »Erdmutter Mexiko« gerissen, was unter anderem ein nervöses Zittern unter der Haut bewirkt. Oftmals herrscht in der Reisegruppe eine Grundverwirrung – ausgelöst durch die Exotik, die Mexiko überall verströmt. Mehrfach kommt es aber auch zum Bruch zwischen Ursprünglichkeit und Zivilisation. Es werden etwa Straßen beschrieben, in denen sich zwar ärmliche Hütten befinden, aus denen nichtsdestotrotz Radiomusik dröhnt, zu der Jugendliche nun tanzen.545 Armut und Kapitalismus verschmelzen zu einem wenig anmutigen Bild des Landes. Merkels Beschreibungen gestalten sich, wie bereits erwähnt, ironisierend und kritisch. Sie spielt mit Klischees und Stereotypen, um sie nach und nach zu enthüllen. Ihr Bewusstsein um Bild, Projektion und Wirkung dient ihr als kompositorisches Prinzip ihres Romans. Immer wieder beschreibt die Protagonistin Quaerens die verklärende Romantisierung der Zustände, die sie bei ihren Mitreisenden feststellen muss: Die Großfamilie, das enge Zusammenleben, die vielfältigen Kontakte zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Tier, ein kolossaler sozialer Impetus! Hier kann kein Kleinkind Neurosen wegen gefühlsmäßiger Frustration entwickeln, entbehrt niemals gleichaltrige Genossen und hat volle Freiheit im kreativen Spielen … […].546 Ins Zentrum der Beschreibung rückt immer wieder Bäuml, dessen mexikanische Mutation die Protagonistin ausführlich beschreibt. Er ergeht sich wiederholt in Schwärmereien und kommt – unter Tequila-Einfluss – zu folgendem Schluss: Sein Schwärmerblick, der bei der Ankunft etwas getrübt erschienen war, klärte sich, und die betroffenen Zuhörer wurden zu ihrer Bestürzung konfrontiert mit einem nahezu paradiesischen Lebenszustand und mußten bedauern, daß sie selbst und ihre Kinder nicht in den Slums von Mexiko waren aufgezogen worden.547 Merkel ironisiert die Figur des verklärten Bäumls, der sich – fast naiv – von der vermeintlichen Zivilisation ab- und der mexikanischen Ursprünglichkeit zuwendet. Im Zustand seiner neu erlangten Natürlichkeit wandert er durch die Slums, hält die Einfachheit und Kreativität dieser Welt bewundernd fotographisch fest und wird dabei – beinah als logische Konsequenz – überfallen. Für die Figuren des Romans verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion immer mehr. Im Halbschlaf erliegt die Protagonistin immer wieder einem Trugbild: Die Wand wölbt sich und aus ihr scheint etwas Ungegliedertes, Kubusartiges herauszudrängen. Bei Tag erscheint ihr die Wand normal und die Erinnerun-
545 Merkel: Aus den Geleisen, S. 102 546 Ibid. S. 102 547 Ibid. S. 102
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gen an die vorherige Nacht rücken wieder in die Ferne. Dem Raum ist außerdem ein leichter Fäulnisgeruch zu eigen. Es ist der Geruch der Verwandlung von einer Lebensphase zur anderen: Zwischen Verwesen und Keimen gebe es grundsätzlich, so die Protagonistin, nämlich keine scharfen Grenzen. Mexiko ist Natur überall. Auch wenn die Quaerens das Ereignis mit steigendem Grauen beobachtet, fügt sie sich doch dem Naturgeschehen. Sie ist der Ansicht, Coatlicue, die Erdmutter im Schlangenrock, habe das Vegetationsgewucher im Patio verlassen und dränge nun durch die brüchige Klostermauer nach innen. Quaerens ist sich nun klar darüber, dass sie – auch wenn es sie schaudern macht – ihre Geleise, die im Titel erwähnt werden und die ihr altes Leben symbolisieren, verlassen hat und nun ganz in das Ereignis Mexiko eingetaucht ist.548 Mit fortschreitender Handlung entwickelt die mexikanische Natur ein immer stärker werdendes Bedrohungspotenzial für die Reisenden. Cornell, ein weiterer Mitreisender, stürzt bei einer der letzten gemeinsamen Wanderungen und ist sich sicher, dass sich die mexikanische Natur gegen die Europäer verschworen hat und er nicht über eine Wurzel gestolpert, sondern vielmehr ihr Opfer geworden ist. Die ganze Natur dieses rückständigen Landes ist durch einen Zauberbann gefangen: »Denn das hier herum sind keine harmlosen Schöpfungen der Pflanzenwelt. Sehen Sie sich nur um im Gestrüpp. Das hat alles verstohlene Lebendigkeit in sich. Hinterfotzige Halbgespenster, prall voll frotzelnder Gemeinheit, gehässig gegen alles Noble.«549 Anders als in Europa verschmilzt, so hat es den Anschein, in Mexiko das Körperliche mit dem Seelischen. Mexiko bewirkt für die Romanfiguren und ihren (europäischen) Wirklichkeitsbegriff daher etwas Auflösendes und eine Art Haltverlust. Bei einem Besuch im Dschungel, der als beengend und erdrückend empfunden wird, verspürt die Quaerens plötzlich ein vorerst nicht festzumachendes Heimweh, als ihr Blick auf ein pflanzenbewachsenes Ding fällt, das sie zunächst nicht benennen kann. Bei näherem Herantreten wird klar, dass es sich um einen alten Eisenbahnwagen handelt, der mittlerweile komplett mit Dschungelgewächsen überwuchert ist. In diversen Reisebeschreibungen wird die Eisenbahn als Symbol der Reise abgebildet, das das Naturereignis als solches aber unmöglich macht, da es sich zwischen die Reisenden und die Natur drängt. Auch hier wird der dicht bewachsene Eisenbahnwaggon zur Metapher – die Eisenbahn ist jedoch im Stillstand abgebildet. Sie ist zudem von der Natur eingeschlossen: »Der Urwald hatte ihn allmählich eingeschlungen in seine erstickende Lebendigkeit und verdaute ihn nun, wie eine Anaconda unzerkaut Eingewürgtes durch stille, unermüdliche Zersetzung verdaut.«550 Die Natur erscheint im mexikanischen Dschungel noch intakt. Noch hat sie den Kampf gegen die Zivilisation nicht verloren. Auch wenn
548 Vgl. Merkel: Aus den Geleisen, S. 195 549 Ibid. S. 257 550 Ibid. S. 227
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Mexiko zunehmend zu einem modernen Land wird, behält die Natur zumindest im Dschungel ihren paradiesischen Reiz und ihre mythische Exotik. Auch Quaerens erinnert sich plötzlich in stechender Sehnsucht an das Vogelgezwitscher in den »belebten Wäldern des Abendlandes« und fühlt gleichzeitig »tiefes Erbarmen mit dem schon halb verdauten Eisenbahnwaggon«.551 Mexiko ist schon lange kein realer Fluchtort mehr, sondern vielmehr ein Ort der Mystik und der Exotik, der Abenteuer verspricht und so seine (mentale) eskapistische Funktion erfüllen kann. Auch die zivilisatorischen Elemente, die immer wieder Teil von Merkels Beschreibung sind, können die Magie der mexikanischen Natur nicht bannen. Vielmehr sind sie nunmehr Teil der Exotik, da sie Abbilder der eigenen Welt sind und so eine düstere Atmosphäre im einstigen Naturparadies zeichnen, die aber auch immer Abenteuer verspricht. Die Protagonistin weist wiederholt auf die Reize des Landes hin, die es für die Europäer so anziehend machen: Es war augenscheinlich, daß das streng gegliederte Areal mit den Arkaden und dem Brunnen im Zentrum nicht deshalb vom wesensfremden Pflanzendschungel überwuchert wurde, weil man es zu wenig pflegte, stutzte und jätete. Der Dschungel war viel früher dagewesen als die Struktur. Die Architektur war künstlich hineingeschlagen worden, und jetzt fand der Platz allmählich wieder seine wahre, ursprüngliche Gestalt, seine eigentliche Wirklichkeit, wo Leben und Bewegung zäh sich winden, gleiten, knäueln zwischen Riesenblumen, die von Farben strotzen, die nicht einmal die Finsternis zu löschen vermochte. Und das beharrliche Rinnen des Wasserstrahls flüsterte darüber eine Zauberformel der Beschwörung.552 Auch die Idealisierung der mexikanischen Mentalität ist Teil des Bildes, das Merkel von Mexiko entwirft. Die Händler, auch wenn es sie zahlreich gibt, scheinen anders zu sein als in anderen südlichen Ländern. In Mexiko gibt es »kein schrilles Werbegeschrei«, »keine Bettelei« und auch kein »klebriges An-den-Leib-Rücken«. Eine kurze Geste genügt, um sich die Händler vom Leibe zu halten.553 Sie erscheinen edler als Händler eines anderen Menschenschlages. Merkel bedient sich hier bereits bestehender stereotyper Bilder. Die Idealisierung ist Teil ihres bereits erwähnten kompositorischen Konzepts, das sie am Ende ihres Romans auflöst. Merkel erfasst und beschreibt die mexikanische Natur in ihrer gesamten Wirkungsbreite, die sich von Faszination bis Grauen und von purem, pulsierenden Leben bis zum Tod erstreckt. Ihre Darstellungen ähneln jenen Max Frischs’ und erinnern an die von ihm empfundene Fremdheit gegenüber der Natur, die bedrohlich ist, weil sie Tod und Leben in sich vereinigt. In Merkels Beschreibungen ist der
551 Vgl. Merkel: Aus den Geleisen, S. 229 552 Ibid. S. 162 553 Vgl. ibid. S. 163
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Tod aber Teil der Natürlichkeit. Eine Natürlichkeit, die in Europa bereits verloren ging: Dieser zähe, widerstandsfähige Belag hier im Mercado stank auch nicht. Er strömt ein fast zartes Odeur von natürlicher Pflanzenfäulnis aus, das keinerlei Ekel erregte. Naturhaft. Eine Art Schweiß des Bodens. […] »Keine Markträude«, berichtigte sich die Quaerens, »ein Markthumus eher. Eine ganz natürliche Phase der dauernden Verwandlung des Frischen ins Verweste, das schon während der Verrottung wieder den Keim des neuen Wachstums in sich trägt. Erst die westliche Zivilisation hat der Natur und ihren Wandlungsphasen Wertetiketten angehängt und dabei – wie im Leben auch – die Todesphase weggeätzt. Sie läßt nur die flüchtige Periode der Konsumierbarkeit gelten und betrachet die anderen Stadien mit Argwohn und Ekel. So verliert sie allmählich mehr und mehr den Überblick und das Gefühl für die Gesamtnatur. […]554 Im Roman finden sich mitunter auch rein deskriptive, nicht wertende Naturbeschreibungen, die auf Merkels Ortskenntnis zurückzuführen sind. Reflexionen über die mexikanische Seele zeugen ebenfalls von Merkels Wissen über Mexiko sowie einem tiefgreifenderen Interesse an Land und Leuten. Der Mexikaner wird als verschlossen charakterisiert. Er scheine eine Jalousie vorm Gesicht zu haben, die jegliches Mienenspiel unterbinde.555 Alles erscheint nur äußerlich bzw. körperlich. Merkel zieht aus der mexikanischen Mentalität Rückschlüsse auf die Conquista, die keine gewöhnliche Eroberung im Sinne eines Herrschaftswechsels gewesen sei. Sie könne, so die Protagonistin, Ursache dafür sein, dass das mexikanische Volk so passiv sei und sich vor allem gegenüber Fremden verschließe.556 Auch der Begriff der Einsamkeit wird in diesem Kontext verwendet und lässt an Octavio Paz’ Werk Labyrinth der Einsamkeit denken. Die Protagonistin stellt sich im Laufe des Romans die Frage, warum sie eigentlich nach Mexiko gereist sei. Sie erklärt, dass sich die Reise nach Mexiko bzw. die Destination an sich eher zufällig ergeben hat. Weiters berichtet sie, grundsätzlich nicht kultur- bzw. zivilisationsmüde zu sein. Jeder sei aber so an das Eigene gewöhnt, dass er dadurch oftmals vergesse, dass der eigene Weg nicht unbedingt der einzig Richtige sei. Alle Reisenden habe Mexiko auf seine Weise in seinen Bann gezogen. Jeder werde auf eine andere Art und Weise »aus seinem Geleise gerissen«557 . Zum Abschluss findet die Quaerens – ihre Reise nach Mexiko reflektierend – kritische Worte. Man solle beim Eigenen bleiben, da das Andere ohnehin nicht
554 555 556 557
Vgl. Merkel: Aus den Geleisen, S. 177 Vgl. ibid. S. 126 Vgl. ibid. S. 128ff. Ibid. S. 134
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erschließbar sei. Der Drang der Europäer nach anderen, besseren und ursprünglicheren Orten sei unstillbar, da er auf einem Mythos beruhe. Letztendlich sei eine Rückbesinnung auf Europa nicht nur natürlich, sondern auch logisch, da nur das Eigene innere Ruhe und Zufriedenheit bringen könne: In die Fremde bist du gefahren, aus dem eigenen Geleise gesprungen, um dich aus dem blinden Trott herauszureißen. Es war für einen Überblick gedacht, der ein wenig Distanz zum Gewohnten verleiht und üble Verwachsungen auflockert, die das Hirn und die Sinne verwuchern. Das Grundandere wolltest du sehen und erfahren, aber nicht mit Haut und Haaren hineinstolpern und den Stand verlieren. Das ist ja ganz unrömisch. Ja, ich sag es ohne kleinliche Vorbehalte: Unrömisch und charakterfetzig. Stänkern konntest du nicht genug über das Römische, und es ist ja auch viel Anfechtbares daran. Aber jetzt hält es dich gegen den Absturz und steift den Rücken. Es sind deine Wurzeln, dein Halt und deine Herkunft, ob es dir nun recht ist oder nicht, es sind die tief ausgefurchten, richtungssicheren Spuren deines Seins. Erstarrtes und Störrisches wolltest du aufbrechen und dich frei machen von den armseligen Lächerlichkeiten der Vergreisung. Das hat etwas für sich, und du hast es getan. Aber allmählich hast du es nicht mehr getan, sondern es ist mit dir geschehen; es ist dir aus der Hand geglitten und zugestoßen und hat dich getrieben bis nah an den knochenweißfingrigen Zupack des Todes. […] Jetzt siehst du, daß du heil wieder hinkommst, wo du hingehörst, wo du hineingeboren bist mit Mark und Fasern. Es war fesselnd und aufschlußreich zu sehen, daß der eigene Orbit nicht der einzige ist, der zählt, daß er nicht besser und nicht schlechter ist als andere Planetenkreise, in deren Schienen Menschen fahren auf der Suche nach Sinn und Bedeutung von Lebensplage und Tod. Jetzt aber steig wieder ein, in deinen alten Zug und fahr heim. In den grün-kühlen, blätterraschelnden Wald, wo die Vögel singen und Bäche über blanke Kiesel plätschern. Mögen die Hiesigen sich erbauen an Trommeln und Beinewerfen. Es ist nichts Schlechteres. Du bleib beim Lindenbaum »in einem kühlen Grunde«.558 Merkel stilisiert in ihrem Roman stereotypische europäische Bilder und Sehnsüchte, um dann am Ende des Romans zu resümieren, dass diese ohnehin nicht erfüllbar sind, da es sich um imaginierte Trugbilder handelt, die sich die Europäer erschaffen haben. Weniger bildentlarvend und vordergründig kritisch gestaltet der Schriftsteller Christoph Janacs die Mexikodarstellung in seinem Erzählband Der Gesang der
558 Merkel: Aus den Geleisen, S. 278
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Coyoten559 , der 2002 erschien. Janacs entwirft ein vielseitiges Bild des Landes und beschreibt in seinen Erzählungen immer wieder Situationen, die, wie im Klappentext vermerkt, oft den Atem stocken lassen. Schon dieser Vermerk lässt auf das Mexikobild schließen, das der Autor in seinen Geschichten zeichnet. Seine Erzählungen basieren auf seinem Wissen um Land und Leute, das er im Rahmen diverser Aufenthalte selbst sammeln konnte. Auch Janacs’ Mexiko ist ein Land der Gegensätze. Seine erste Erzählung mit dem Titel »Das rote Meer« thematisiert den Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation. Die Natur ist zwar vom Menschen bezwungen und in gewissem Sinne eingesperrt, sie bleibt aber latent tosend und kann zu jeder Zeit wieder als übermächtige Kraft ausbrechen: Die Steppe säumte eine Bergkette. Ein rotes Gewoge türmte sich dort am Horizont auf, eine steinerne Flutwelle, der vor Zeiten jemand Einhalt geboten hatte und die nun dastand, angehalten in ihrer Bewegung, und manchmal glaubte er, das Tosen und Brodeln zu hören, das in diesen Bergen eingesperrt lag und nur darauf wartete, losbrechen zu können und über der Steppe zusammenzuschlagen.560 Der Grundton der Erzählung gestaltet sich resignativ. Der einfache Mexikaner muss sowohl gegen die Zivilisation als auch gegen die Übermacht der Natur kämpfen und zerbricht oftmals daran. Im Zentrum der Erzählung steht demnach der Mensch, der an der ausbeuterischen, kapitalistisch orientierten Gesellschaft zu Grunde geht. Auch die Natur wird mitunter zum feindlichen Element stilisiert, da sie sich keinem System fügt: Da draußen lebten Menschen, verborgen hinter Agaven, Kakteen und einem Licht, das gelb und orange und manchmal rot war vom Staub, den der Wind durch die Ebene trug und unablässig wehte, körnig und heiß; Männer, die Sonntagabend wegfuhren und freitags heimkamen und dann ein Stück Boden beackerten und hofften, das Wasser würde reichen und die Pflanzen gedeihen lassen; Frauen, die fortsetzen, was die Männer begonnen hatten, die warteten, manche vergebens, bis sie das Warten aufgaben.561 Janacs zeichnet das Bild einer unbarmherzigen mexikanischen Natur. Das Licht ist gelb und orange, manchmal auch rot vor Staub. Der Wind weht unablässig und ist körnig und heiß. Die Ebene, die sich vor der Hauptfigur der Erzählung erstreckt, ist voll von verkrüppelten Sträuchern, halb vertrockneten Agaven und knorrigem Saguaro.562 Während einer Busfahrt nach Hause wird der Protagonist Opfer eines Überfalls, bei dem er sein mühevoll erarbeitetes Geld verliert. Er überlegt sich, 559 Janacs, Christoph: Der Gesang des Coyoten. Mexikanische Geschichten. Innsbruck: Haymon Verlag 2002 560 Janacs: »Das rote Meer«, in: Der Gesang des Coyoten, S. 7 561 Ibid. S. 8 562 Vgl. ibid. S. 7
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in die USA auszuwandern, da ihm sein Land nichts mehr zu bieten hat. Neben ihm im Bus sitzt eine Amerikanerin, eine sogenannte gringa, die in ihrer gesamten Erscheinung und ihrem Habitus eine gegensätzliche Welt repräsentiert. Sie ist in typisch touristischer Manier gekleidet und blättert in einem Reiseführer. Der Protagonist lächelt ihr immer wieder scheu zu. Neugierig beobachtet er sie heimlich – ohne erotisches Interesse. Vielmehr erscheint sie ihm als Wesen aus einer anderen Welt. Der Gegensatz zwischen den beiden Figuren, die zwei konträre Welten symbolisieren, wird durch die Beschreibung der Hände des Protagonisten noch deutlicher: »Seine Hände: die harten Fingernägel abgebrochen oder abgebissen, die Ränder schwarz; die Haut verschorft und spröde; sie würden Monate brauchen, um wieder glatt und weich zu werden und streicheln zu können.«563 Trotz der resignativen Grundstimmung der Erzählung sind auch Janacs’ Naturschilderungen oftmals in einem poetischen Ton verfasst. Die Natur wird nicht generell negativ, sondern vielmehr als Gegenpol zum ausbeuterischen, kapitalismusorientierten Machtgefüge des Landes stilisiert. Die Ursprünglichkeit der mexikanischen Natur versinnbildlicht die nostalgische Erinnerung an bessere, aber vergangene Zeiten: Er sah nach draußen. Noch immer lagen die Berge da und rührten sich nicht, warteten auf das Zauberwort, das sie erlösen würde, damit sie, endlich, losbrechen könnten, eine gewaltige steinerne Flut. Noch immer zog die Ebene am Fenster vorbei, rostrot und rotbraun, mit gelben, grünen und ockerfarbenen Flecken, nur daß das Licht jetzt ein wenig flacher einfiel und die Schatten länger geworden waren.564 Der Protagonist erinnert an die Figur des edlen Wilden – vom Leben gezeichnet und sich ihm beugend, schicksalsergeben und fatalistisch, dabei aber immer sanft und gutherzig. Auch die Banditen, die den Bus überfallen, in dem der Protagonist und die amerikanische Touristin sitzen, werden nicht als grundsätzlich böse charakterisiert. Höflich und fast respektvoll verlangen sie nach Geld und Schmuck der Fahrgäste und lassen der Amerikanerin auch die Halskette ihres Freundes, als sie sie darum bittet: ¡Esto no, por favor! Es regalo de mi novio. Der Mann zögerte, warf dem anderen einen Blick zu, dann zog er die Hand zurück und ließ das Kettchen auf die Brust der Gringa gleiten. ¡Guardéselo! Und geben Sie auf sich acht, Señorita!565
563 Janacs: »Das rote Meer«, in: Der Gesang des Coyoten, S. 7 564 Ibid. S. 10 565 Ibid. S. 13
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Auch die Verbrecher erscheinen lediglich als Opfer eines korrumpierten und kapitalistischen Systems. Am Ende der Geschichte siegt die Natur über die Menschen. Der Protagonist, der während der gesamten Erzählung darüber reflektiert, ob er seine Frau einfach verlassen und auf eigene Faust ein neues, besseres Leben in den USA beginnen soll, wird mit allen anderen InsassInnen des Busses unter einer Lawine Geröll begraben: Und dann, plötzlich sah er es, spürte er es, bevor der Bus die Geschwindigkeit verringerte und an dem Schotterweg hielt, wo er auszusteigen hatte: wie die goldgelben Wogen des versteinerten Meeres, die Jahrmillionen ausgeharrt hatten, angehalten in ihrer Bewegung vom Spruch, der Geste eines vorzeitigen Magiers oder Gottes, sich aus ihrer Erstarrung lösten, in Bewegung setzten und heranrollten, tobend, brausend, Gischt aus Geröll und Kieseln und Sand versprühend, barsten, über dem Bus zusammenschlugen und ihn mitsamt seiner Fracht unter sich begruben.566 Die zweite Erzählung mit dem Titel »Der Vogel im Rinnstein« handelt von einem Mann, der durch Mexiko-Stadt streift und immer wieder äußerlich unversehrte, tote Vögel auf der Straße sieht. Er ist von dieser Entdeckung zunehmend beunruhigt, auch wenn niemand anders seine apokalyptische Vorahnung – er ist der Meinung, es handle sich um Vorzeichen einer Katastrophe – ernst zu nehmen scheint. Die toten Vögel symbolisieren den Widerspruch zwischen Zivilisation und Natur. Die Tatsache, dass sie tot und äußerlich unversehrt auf der Straße liegen, versinnbildlicht den Eingriff der Zivilisation in die Natur sowie ihre schleichende Zerstörung. In der Erzählung wird der Zusammenprall zwischen Mensch und Natur von Anfang an beschrieben. Der Protagonist entsinnt sich – als er den ersten Vogel im Rinnstein entdeckt – dieser Diskrepanz und erinnert sich, ebendiese reflektierend, auch an die vielen toten Tiere, die Mexikos Schnellstraßen und Autobahnen säumen. In seinem Kopf fügt sich das Bild eines Landes zusammen, in dem man »seit jeher über das Sterben gnädig hinweggeblickt hatte«: […] jeden Freitag, wenn er, um in sein Wochenendhaus zu gelangen, die Carretera Federal México-Puebla hinausfuhr, vorbei an den ausufernden Stadtrandsiedlungen mit ihren fahlen Betonkolossen, den Werkstätten, die oft nur aus einfachen Wellblech- und Bretterbuden bestanden, den Schwarzbauten aus zusammengestohlenen Ziegeln und den engen, staubigen Gassen, auf denen die Kriminalität gedieh wie ein ansteckender Virus, sah er dutzende Kadaver halbverhungerter Köter am Straßenrand liegen, aufgebläht oder zerhackt von den Schnäbeln unverschämter Vögel, die sich auf ihrer Suche nach Nahrung immer weiter in die Stadt
566 Janacs: »Das rote Meer«, S. 13
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vorwagten […]; alle paar hundert Meter lag ein toter Hund auf dem Schotterstreifen neben der Fahrbahn, manchmal auch eine Katze oder ein anderes nicht mehr identifizierbares Tier, und wenn er bedachte, mit welch stumpfen, fiebrigen Blicken diese Kreaturen die Straße entlangtrotteten, auf den Beinen gehalten nur noch vom Wunsch, irgend etwas Freßbares zu finden, und sei es ein Papier, das man gierig ausschlecken konnte, und wie sie unvermittelt, ohne auf den vorbeirollenden Verkehr zu achten, die Straßenseite wechselten, dann wunderte ihn die Zahl der von Autos überfahrenen Hunde nicht mehr, die in diesem Land in die Tausende gehen mußte; wo auch immer er hinkam, es lagen tote Tiere in den Straßengräben, nur daß es auf den Überlandstrecken andere, größere waren. Ziegen, Schafe, Esel, auch an den aufgeblähten Kadaver eines Pferdes konnte er sich erinnern, auf dem diese schwarzen, krummschnäbligen Vögel hockten und in den leeren Augenhöhlen wühlten, die Ratten, die über den Körper huschten und an Haut- und Gewebefetzen zerrten, […].567 Mexiko-Stadt wird zum Sinnbild der Zerstörung durch die Zivilisation. Die Stadt ist ein Kontrastort zu noch intakteren ländlichen Gebieten, die zunehmend im Verschwinden begriffen sind. Die mexikanische Hauptstadt ist ein Moloch, der wenig positive Gefühle zu erwecken vermag: »Die Wolkendecke hing so tief über der Stadt, daß er den Eindruck hatte, sie mit bloßen Händen greifen zu können. Darunter oder besser: zu seinen Füßen trieb eine trübe, rötlichbraune Smogschicht durch die Straßen und verfing sich zwischen den Hochhäusern der Zona Rosa.«568 Die Andersartigkeit Mexikos und die Bedrohung, die das Land mitunter ausstrahlt, erfüllen jedoch auch, wie bereits mehrmals erwähnt, eine exotische Komponente, wie in Janacs dritter Erzählung deutlich wird. Die Geschichte »Das Lächeln des Guerreros« schildert den Mexikoaufenthalt eines Touristenpaars, das Mexiko-Stadt besichtigt. Das Bild, das Janacs in dieser Erzählung von der Stadt entwirft, zeugt vom exotisierenden Reiz, über den sie trotz allem verfügt. Die Bedrohung, die von ihr ausgeht, birgt eine für den Europäer reizvolle Abenteuerfunktion in sich. Für den männlichen Protagonisten Richard repräsentiert Mexiko-Stadt zweifelsohne pures Abenteuer. Trotz – oder vielmehr wegen – der Gefahren, die in gewissen Stadtteilen lauern, macht er sich auf den Weg dorthin, um diese zu erkunden. Die mexikanische Hauptstadt ist nicht nur Gegenpol zur ursprünglichen, noch intakten Natur und wird dadurch subtiles Element der Zivilisationskritik. Die Stadt verfügt auch über ein eskapistisches Potenzial und wird in Janacs Beschreibungen dahingehend stilisiert. Diese Art der Beschreibung ist Ausdruck des sich wandelnden Mexikobildes. Die Andersartigkeit des Landes resultiert nicht mehr
567 Vgl. Janacs: »Der Vogel im Rinnstein«, in: Der Gesang des Coyoten, S. 14 568 Ibid. S. 25
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lediglich aus der Ursprünglichkeit bzw. dem Erleben der mexikanischen Natur – auch weil ein derartiges Erleben durch die stetige sogenannte Zivilisierung und Verwestlichung des Landes zunehmend erschwert wird. Es vollzieht sich eine Anpassung der Wahrnehmungsmuster, um das Fremde weiterhin zum Fremden zu machen bzw. als solches zu stilisieren. Anders als der männliche Protagonist bringt die weibliche Protagonistin Doris Mexiko-Stadt vor allem mit Armut und heruntergekommener Urbanität in Verbindung, ohne dabei ein Gefühl von reizvoller Exotik und Abenteuer zu verspüren. Ihre Perzeption der Stadt reiht sich eher in die Tradition derer ein, die den Verlust der Ursprünglichkeit des Landes beklagen und den Einzug der Zivilisation – hier in Form des Kapitalismus und der daraus entstandenen Armut – als Niedergang wahrnehmen: Sie drehte sich auf dem Absatz um. Zögerte, als fiele ihr noch etwas ein, sagte aber dann doch nichts mehr und ging die Gasse hinunter, vorbei an Hausruinen und an mit Brettern verbarrikadierten oder von sich schon wieder auflösenden Plakaten überklebten Geschäften mit Aufschriften wie ARTICULOS, ALIMENTOS, ZAPATOS oder JOYERIA, die in ihren winzigen Räumen allesamt nur noch dasselbe feilboten, staubige Leere und Schweigen, das alle Geräusche in sich aufgesogen und vernichtet zu haben schien; Häuserfronten, von deren Wänden der Verputz abblätterte, so daß sich ein unregelmäßiges Muster aus roten, ockerfarbenen und graubraunen Flächen gebildet hatte, deren Ränder ausfransten und sich vom Mauerwerk wie Hautfetzen ablösten; Hauseingänge, dunkle, muffige Korridore, die sich auf Hinterhöfe und Patios öffneten, in denen sich Bauschutt und Müll stapelte, wo, da und dort, Kinder spielten, Hunde in öligen Pfützen leckten, Männer mit langsamen Bewegungen Karten spielten.569 Auch der Verkehr wird zum zivilisatorischen Element, das die Stadt grundsätzlich dominiert. Der Reiz des Abenteuers ist hier bereits im Wandel begriffen. Der Protagonist Richard wird auf seinem Streifzug durch die Stadt unter anderem mit einem Mann konfrontiert, der zwar kein Wort mit ihm spricht, jedoch seinen Oberkörper entblößt und ihm eine mit Klebestreifen behelfsmäßig versorgte Wunde in der Größe eines Handtellers präsentiert. In der Wahrnehmung des Protagonisten ist Mexiko-Stadt ein graues Meer von ineinander verkeilten Stromkabeln und Wäscheleinen, die Wellblechhütten überwuchern. Die Stadt ist voll von Mauerresten eingestürzter und halb abgerissener Gebäude. Zwischen den Mauerresten finden sich Hütten aus Wellblech und Holz, die den Verkehr behindern, der sich ohnedies nur stockend fortbewegt.570 In einem einschlägigen Viertel, in dem der Protagonist besondere Motive mit seiner Kamera festhält, stößt er auf 569 Janacs: »Das Lächeln des Guerreros«, in: Der Gesang des Coyoten, S. 28 570 Vgl. ibid. S. 32
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eine Gruppe von Männern, die ihm indirekt Gewalt androhen und den Film seiner Kamera haben möchten. Nur durch das Eingreifen eines Mexikaners namens Guillermo kann Schlimmeres verhindert werden. Am Ende der Erzählung trifft Richard wieder auf seine Lebensgefährtin Doris, die in einem Souvenirgeschäft die Maske eines Sonnengottes erstanden hat. Sie erscheint wie in Trance und ist noch gebannt von den Eindrücken, die sie in dem Geschäft gewonnen hat, das ihr wie nicht von dieser Welt erschienen ist. Die letzte Szene der Erzählung verdeutlicht den mythisch-magischen Charakter des Landes, der dem Unfassbaren und dem Unbegreiflichen geschuldet ist, das in Mexiko immer wieder plötzlich in Erscheinung tritt. Der Protagonist nimmt die Sonnenmaske in die Hand, die ihn plötzlich wissend anzulächeln scheint. Auch seine Freundin, so hat man den Eindruck, weiß mehr über das Vorgefallene als eigentlich möglich, da sie mit heiserer und ernster Stimme äußert, dass die Keramik aus einem mexikanischen Bundesstaat stammt, der übersetzt »Krieger« heißt: Sie drückte ihm die Sonne in die Hand. Diesmal berührte er sie nicht, hielt nur den Griff fest. Sein Blick zeichnete die Konturen nach, folgte den Linien und forschte in den Zügen des Gesichts. Kein Zweifel: die eine Hälfte schien traurig, vielleicht wegen des Mundes, der sich in einer langgezogenen Welle nach unten bog, die andere aber lächelte, lächelte ihn an wie einen alten Bekannten, verschmitzt, mit einem wissenden Blick. Er hob die Sonne, um sie besser sehen zu können. Die Arkaden leuchteten purpur und golden. Dann hörte er Doris’ Stimme. Sie klang plötzlich heiser und ernst. Aus Guerrero.571 Motivische Parallelen finden sich in Janacs’ Erzählung »Eine blaue Mütze«, in der der männliche Protagonist von einem Stadtteil namens Neza wie magisch angezogen scheint, weil von ihm eine nicht kalkulierbare Gefahr ausgeht: Er war nicht nach Neza gefahren. Nicht an diesem Tag und auch an keinem der darauffolgenden Tage. Er hatte Doris sogar rechtgegeben: Man müsse nicht alles sehen, schon gar nicht die tristen Stadtviertel, außerdem solle es gefährlich sein, sich dort ohne die Führung Ansässiger umzusehen, noch dazu als Ausländer. Aber insgeheim hatte er immer wieder den Stadtplan hervorgeholt, als handle es sich um pornographische Literatur, und darin geblättert, war er an einem Stadtteil hängengeblieben, der ihn mit einer Kraft anzog, der er sich nicht entziehen konnte, so daß er immer häufiger nach dem Plan greifen und die entsprechenden Seiten aufschlagen und die Blätter betrachten mußte. Im Grunde war es eine Art Meditation, so wie er, auf dem Hotelbett liegend, den Verlauf der Linien studierte und sich die Namen einprägte, ein Sichversenken in eine Welt, die er, so
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Janacs: »Das Lächeln des Guerreros«, S. 37
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viel stand für ihn fest, kennenlernen mußte. Aber dann hatte dieses kreisförmige Gebilde aus schmalen Gassen und Wegen seine Aufmerksamkeit erregt, buchstabierte er seine Namen – Chi-mal-hua-cán –, und da wußte er: dorthin mußte er fahren, an den Rand der Metropole, wo sie gerade im Begriff war zu wachsen; zu ihrem Ursprung.572 Die real existente Gefahr verheißt wiederum Abenteuer und ist exotischer Anziehungspunkt. Der öffentliche Verkehr wird als Symbol für Urbanität und Zivilisation stilisiert. Der Mensch wird in Mexiko-Stadt zur Ratte, die im Labyrinth der Stadt gefangen ist: Die Bahn fuhr in PANTITLAN ein. Er stieg aus und folgte der Beschilderung durch ein Gewirr aus Gängen, Unterführungen und Fußgängerübergängen, die mehrere Straßen und Parkplätze überspannten, um die weit voneinander entfernten Endstationen der vier Metrolinien miteinander und mit den Busterminals und Taxiständen zu verbinden; zahllose Treppen hinauf und hinunter, durch gläserne Gänge, die die Straßen und Plätze überquerten und nur im Kreis zu führen schienen, da immer wieder dieselben Ein- und Ausgänge auftauchten, dieselben Ausblicke auf Straßen, auf denen sich der Verkehr stockend vorwärtsschob, auf Plätze mit dutzenden Bahnsteigen für Busse und Peseros, auf endlose Reihen gelber und grüner Taxis (eine Ratte im Versuchslabor, dachte er: irgendwo sitzt jemand, unsichtbar, und beobachtet dich, zeichnet deine Irrwege auf, wie oft du am Ziel vorbeiläufst, wie viele Male du denselben Punkt passierst, kehrtmachst und einen neuerlichen Anlauf nimmst, endlich aus diesem Labyrinth hinauszugelangen, mißt Größe und Tempo deiner Schritte, zählt die mißglückten Versuche, notiert die Frequenz deines Herzschlags und unterzieht dich eines dir unbekannten Eignungstests); immer wieder dieselben Tafeln, nur nicht das Schild, das ihn, endlich, zum richtigen Ausgang hinbringen würde hinunter zum Bahnsteig der LINEA A.573 Die Natur in und rund um Mexiko-Stadt zeigt sich meist trocken, verdorrt und wenig anmutig. Spuren der Zivilisation werden immer wieder beschrieben und heben den nunmehr urbanen Charakter des einst ursprünglichen und natürlichen Landstriches weiter hervor: LA PAZ, Endstation: eine trockene, staubgraue Ebene, in deren Mitte, gerade so als hätte ihre Erbauer der Mut verlassen, die Bahn unvermittelt endet. Ein paar Holzhütten da und dort, Autowerkstätten, eine Schotterstraße. Keine Bäume, nur Steine und dürres Gras. Und dahinter, im letzten Morgendunst verschwimmend, ein rotbrauner Vulkankegel; auf seinen Abhängen Wellblechhütten, im steinigen Boden das helle Muster von Fußwegen. Flirrende Hitze. […] 572 Janacs: »Die blaue Mütze«, in: Der Gesang des Coyoten, S. 62 573 Ibid. S. 61f.
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Holz- und Wellblechhütten zogen draußen vorbei, aus Brettern, Blechteilen und Autoreifen zusammengezimmerte Behausungen, da und dort auch einmal Steinmauern. Agaven, Kakteen, trockenes Buschwerk. Wo sich Pfützen und kleine Seen gebildet hatten, wuchsen Gräser, blühten sogar einzelne Sträucher in gelben und hellrosa Farben. Und überall Plastiksäcke und Papierfetzen, über den Boden verstreut, vom Wind aufgewirbelt und in die Büsche geweht und aufgespießt auf den Stacheln der Kakteen.574 Positive bzw. paradiesisch-exotisch anmutende Attribute finden sich vereinzelt in den Beschreibungen, vermögen es jedoch nicht, den Grundton zu verändern. Vielmehr verleihen sie der Erzählung einen nostalgischen Unterton. Dinge des alltäglichen Lebens und der Zivilisation, die oftmals nicht nur im Gegensatz zur Natur stehen, sondern sich in einem ständigen Kampf mit ihr befinden, werden immer wieder beschrieben. Müll, Papier- und Plastikfetzen sowie Blechdosen prägen das Stadtbild.575 Das Motiv der Blechdose bzw. der Cola-Dose taucht, wie schon bei Kirchhoff gesehen, auch in Janacs’ Erzählungen immer wieder auf und ist Abbild bzw. Symbol der fortschreitenden Verwestlichung des Landes. Durch die wiederholte Erwähnung wird es zum Sinnbild und folglich zum Kritikinstrument. Der urbane Charakter von Mexiko-Stadt wird in Janacs’ Beschreibungen vor allem durch die Stilisierung von Kriminalität, Armut und Korruption geschaffen. Die Atmosphäre dient jedoch nicht nur als handlungsstützende bzw. handlungsvorantreibende Komponente, sondern birgt immer auch Elemente der Zivilisationsbzw. Kapitalismuskritik in sich. In Janacs’ Erzählung »Ferngespräch« wird die mexikanische Bevölkerung selbst zum Kritikinstrument. Erzählt wird von einem mexikanischen Paar, das aufgrund der ärmlichen Verhältnisse in seinem Heimatdorf gezwungen ist, nach MexikoStadt zu ziehen, um sich dort eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Janacs beschreibt hier vor allem die Lebenswelt der armen, meist indigenen Bevölkerungsschicht im Großstadtdschungel von Mexiko-Stadt. Der Protagonist, der vor einer Telefonzelle darauf wartet, telefonieren zu können, beobachtet folgende Szene, die auch seinen eigenen Seelenzustand widerspiegelt: In sein Blickfeld geraten zwei alte Menschen, die – wie er selbst – fremd sind in der mexikanischen Hauptstadt und sich, so hat er den Eindruck, ebenso schwer in der Lebensrealität von MexikoStadt zurechtfinden. Zudem tragen sie ihr gesamtes Hab und Gut bei sich: Über den Zebrastreifen kam ein altes Indiopaar näher: sie von kleiner, schmächtiger Gestalt, das Haar ergraut und zu zwei Zöpfen zusammengebunden, Bluse und Rock bunt, in verschiedenen orangen Farbtönen, die Füße nackt und verkrustet; er nur ein wenig größer als sie, die Haut gegerbt und faltig wie die ihre, die 574 Janacs: »Die blaue Mütze«, S. 62f. 575 Vgl. ibid, S. 65
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Farben des karierten Hemdes und die viel zu kurzen Hosen ausgebleicht, auf dem Kopf ein an der Krempe ausgefranster Strohhut. Mit kurzen, trippelnden Schritten schleppten sie ihre Taschen und Körbe, aus denen Gemüse, Kleider und Töpfe ragten, über die Straße, angetrieben vom ungeduldigen Aufheulen der Motoren. Dann schaltete die Ampel um, die ersten Wagen fuhren an, scheuchten die beiden Alten wie verängstigtes Wild von der Straße.576 Während der Protagonist das Paar beobachtet, läuft vor seinem geistigen Auge eine Rückblende ab. Er erinnert sich daran, wie er mit seiner Frau Marcela sein Heimatdorf verlässt und sich mit dem Bus in Richtung Mexiko-Stadt aufmacht. Die Landschaft, die an den Busfenstern vorbeizieht, ist nackt und kahl. Sie ist zwar grün, es ist aber nicht das Grün, das er kennt. Die Natur erscheint tot und so trostlos, dass ihm ihr Anblick beinahe körperliche Schmerzen bereitet, da sie für ihn zum Gegenbild der ursprünglichen Natur seines Heimatortes wird: Marcela und er: wie sie, müde, durchgerüttelt und verschwitzt von der nicht enden wollenden Fahrt – hinter dem verschmierten Fenster und dem Staub, den der Bus aufwirbelte, zunächst die Steppe, goldgelb, rotbraun und ocker, dahinter die rote Bergkette, auf die hin und wieder eine Schotterstraße zulief, manchmal auch nur ein Fußweg, eine undeutliche Spur, wo ein Dorf, ein Weiler oder auch nur eine einzelne Hütte lag. Agaven, Kakteen und dorniges Gesträuch zogen vorüber, dann Berge, strahlend in hundert rötlichen Schattierungen, zerklüftet vom dunkelblauen Himmel sich scharfkantig abhebend, Steilabbrüche, Kare, Plateaus, nackt, vegetationslos, nur in den Tälern und Senken vertrocknete Gräser, Agaven, verdorrtes Gebüsch, kein Flußlauf, kein Bach, nur Felsen, Geröll und Staub, dann kamen Wälder, kein dunkles, sattes Grün, aber ein Grün, immerhin, das den Augen guttat und den stechenden Schmerz etwas dämpfte, danach Ebenen, graue, hellgraue, fast weiße Flächen, eine Helligkeit, die den Schmerz zurückholte und im Körper Müdigkeit entstehen ließ, […], dann kam ein aschgraues Hügelland, das verlassen dalag, wie tot, […].577 Als der Bus in die Stadt kommt, wird das Bild noch trister. Die Landschaft ist gänzlich von der Zivilisation durchdrungen. Während die mexikanische Natur in Janacs’ erster Erzählung noch übermächtig ist und – gegen die Vorherrschaft der Menschen revoltierend – einen Bus mitsamt Insassen verschlingt, ist es hier dagegen die Zivilisation, die die Natur dominiert und zerstört: […]: Siedlungen bedeckten weite Flächen der Ebene, wuchsen allmählich zusammen, kletterten die Abhänge der nahenden Hügel und Berge hinauf und bildeten ein Meer aus Hütten und kleinen, ineinander verschachtelten Häusern, aus 576 Janacs: »Ferngespräch«, in: Der Gesang des Coyoten, S. 51 577 Ibid. S. 52
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Werkstätten, Einkaufszentren und Industrieanlagen, Hochspannungsmasten, Reklametafeln und blinkenden, flackernden, zuckenden Schriften, ein Meer, das sich aus seiner Erstarrung löste, sich in Bewegung setzte und heranrollte, tobte, brauste, Gischt aus Steinen und Brettern und Blech versprühend, das an Straßen heranschwabbte, über dem Bus zusammenschlug und ihn mitsamt seiner Fracht mit sich riß, hinein in den brodelnden, lärmenden, von tausenden und abertausenden Lichtern durchzuckten Mahlstrohm der Stadt …578 Immer wieder wird in der Erzählung der Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation hervorgehoben. Die Natur wird als tote Natur charakterisiert. Zwischen Müll und Gerümpel müssen die Protagonisten von nun an leben, wie die nachstehend ausgewählten Zitate verdeutlichen: Marcela und er: wie sie, Wochen oder Monate später, mit noch mehr Taschen und Körben den staubgrauen Fußweg eines Bergkegels hinaufgingen, schwankend, nach wenigen Schritten immer wieder innehaltend, erschöpft vom langen Fußmarsch und dem schweren Gepäck, links und rechts ein trockenes, totes Erdreich, Felsen und verdorrtes Gebüsch, dazwischen Papierfetzen, Plastiksäcke, Aludosen, Autowracks und, sich vom gleichförmigen graubraunen Untergrund kaum abhebend, Hütten aus Brettern, Steinen, verschiedenem Gerümpel und Blech errichtet, […]579 […]; er trat auf sie zu, befreite sie von dem Gepäck, hakte sich unter und zog sie an den Rand des Abhangs, Wind war aufgekommen, trieb Papier- und Plastikfetzen über den Boden, wirbelte Staub auf, zerrte an der Wäsche vor einer Hütte, eine Blechdose klapperte, irgendwo blökte ein Schaf, Wolkenschatten wehten über die Landschaft, verdunkelten sie, gleich darauf strahlte alles wieder in gleißender Helligkeit, und unten, im Halbkreis um den Berg führend, sahen sie die Hauptstraße, das Winkelwerk der Barrios, dahinter die sich bis zur rostroten Sichel des Horizonts ausbreitende graue Ebene mit dem See, und links, im Nachmittagsdunst verschwimmend, das steinerne Meer der Stadt …580 Als die Telefonzelle frei wird, ruft der Protagonist einen alten Bekannten in seinem Heimatort an. Dieser, sehr verwundert über den Anruf, kommt der Bitte des Protagonisten nach und hält den Telefonhörer beim Fenster hinaus, damit dieser die Stille der noch intakten Natur in sich aufnehmen kann: Er hörte die goldgelbe, rotbraune, ockerfarbene Steppe, er hörte die Agaven, Kakteen, die dornigen Sträucher, er hörte das rote Gewoge der Berge am Horizont, er
578 Janacs: »Ferngespräch«, S. 56 579 Ibid. S. 55 580 Ibid. S. 53
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hörte den Zaun und die Hütte am Fuß des Gebirges, er hörte die Hitze, die flirrende, fiebernde Luft, er hörte den immerwährenden, wehenden Sand. Er lächelte.581 Janacs entwirft mit seinen atmosphärischen Beschreibungen ein widersprüchliches Bild des Landes. Es zeigt sich als düsteres, wenig anmutiges und korruptes Land, das aber immer wieder auch Platz für Exotik und Abenteuer lässt und somit weiterhin als Kontrastort zur westlichen Welt fungieren kann. Er stilisiert Mexiko aber auch als Opferland – ein Land, das in Teilen schon von der westlichen Welt zerstört wurde. Die Stilisierung ermöglicht die Spielart einer – wenn hier auch subtil positionierten – Zivilisationskritik: In dieser halb zivilisierten, halb noch ursprünglichen Welt der Gegensätze leben viele Menschen in ärmlichen Verhältnissen, die sich, anders als die korrumpierte und imperialistisch agierende Oberschicht, der Natur verbunden fühlen. Sie sind gezwungen, sich den nunmehr kapitalistischen Verhältnissen anzupassen und so ein Leben wider die Natur zu führen. Die Menschen erscheinen meist resignativ und kämpfen mit ihren bescheidenen Mitteln ums Überleben. In Janacs’ Erzählungen wehrt sich aber auch die Natur selbst gegen die Zerstörung durch die Menschen, sie hat, so hat es den Anschein, ihre Urkraft noch nicht gänzlich eingebüßt. So auch in seiner Erzählung »Die Hand«, in der die Natur sich gegen die menschliche Unterjochung wehrt, indem sie einen von Menschen künstlich angelegten Weg wieder zuwachsen lässt. Janacs stilisiert dieses Ereignis zu einem symbolischen Akt – es ist, »als wolle sich die Natur zurückholen, was man ihr seinerzeit geraubt hatte«582 . Die Natur erscheint hier abwartend. Die Urkraft, die von ihr ausgeht, wird als Personifikation versinnbildlicht: »olivgrünes, blaugrünes, graublaues Gewoge aus ineinander verschlungenen Pflanzen, nur da und dort unterbrochen von einer gerodeten und wieder bepflanzten Fläche, ein paar Hütten, einem Weg, einem Dorf; ein schwitzendes, dampfendes Land, lethargisch und lauernd zugleich«583 . Die personifizierende Darstellung der mexikanischen Natur ist ein typisches Stilmittel der europäischen Beschreibung und verdeutlicht die ambige Beziehung – immer zwischen Faszination und Grauen schwankend –, die die Europäer zur Natur Mexikos hegen. In Janacs’ Erzählung ist die mexikanische Natur da lethargisch, wo sie vom Menschen gezähmt oder zerstört wurde. Grundsätzlich ist sie aber lauernd, da sie in ihrer Urgewalt den Menschen überlegen ist und – so erscheint es – jederzeit wieder zum Gegenschlag ausholen kann. Mexiko wird immer mehr zur schwierigen Geliebten, die sich mitunter nur schwer
581 Janacs: »Ferngespräch«, S. 59 582 Vgl. Janacs: »Die Hand«, in: Der Gesang des Coyoten, S. 115 583 Vgl. ibid. S. 115
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in die europäischen Vorstellungen einpassen lässt. Die fortschreitende Zivilisierung und Verwestlichung zwingen den europäischen (literarischen) Eroberer immer wieder zur Flexibilität im Umdenken und zur Neukonzeptionierung seiner Bedürfnisse und Projektionen. Das Paradies scheint nun tatsächlich verloren. Das gilt es zu beklagen. Die literarische Stilisierung fußt weiterhin auf einem europäischen Befinden. Europa erzählt, auch wenn es augenscheinlich von Mexiko erzählt, weiterhin von sich selbst. Der Geliebten werden immer wieder exotische Attribute abgerungen – und sei es durch die verstärkte Darstellung von Zivilisation und Kriminalität, die ihrerseits den Verlust des wahren und paradiesischen Mexikos verdeutlichen, das es als solches nur in der Imagination der Europäer gibt. Mexiko wird dadurch bedrohlich, dass das Eigene immer deutlicher im Anderen zu erkennen ist. Es bleibt aber exotisch, weil die Stilisierung des Anderen immer noch gelingt, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. Die verstärkte Hinwendung zum Genre der Kriminalliteratur ist demnach eine fast logische Folgerung. Die Geliebte wird verbrecherisch – dadurch bleibt sie aufregend anders.
5.10
Die verbrecherische Geliebte: Die Zivilisation als Projektionsraum für Gesellschaftskritik und Exotik
Die Zivilisation, die in Mexiko Einzug gehalten hat, wird in der Konstruktion des literarischen Mexikobildes immer mehr zum wesentlichen Element der Stilisierung. Die Paradiese in Mexiko sind, so hat es den Anschein, mittlerweile sehr überschaubar geworden und oftmals auch artifiziell angelegt oder eingegrenzt. Die Suche sowie die Sehnsucht danach bleibt jedoch weiter existent. Durch die Hervorhebung des Abenteuercharakters, der eine exotisierende Komponente zu erfüllen vermag, bleibt Mexiko als mentaler Fluchtort bestehen. Die Projektion wandelt sich und passt sich den Zeitumständen an. Stilisiert wird weiterhin, wo noch möglich, die unbezähmbare Natur, vor allem aber die exotische und abenteuerliche Andersartigkeit des Landes, das nunmehr von Kriminalität und Korruption geprägt ist. Dabei bleibt immer auch Platz für Zivilisationskritik. Sie wird zum wesentlichen Element der Projektion. Die Tendenzen der Mexiko-Perzeption favorisieren eine thematische Hinwendung zur kriminalistisch angelegten Unterhaltungsliteratur. Phänomene wie der Imperialismus und dessen Folgen schaffen die passende Grundstimmung, sie können zudem kritisiert und dadurch instrumentalisiert werden. Auch in der Kriminalliteratur kann grundsätzlich zwischen der europäischen und der US-amerikanischen literarischen Stilisierung Mexikos unterschieden werden. Während US-amerikanische SchriftstellerInnen Mexiko als vielgestaltigen Handlungsort für Kriminalliteratur und Thriller heranziehen und ihr Kompositionsprinzip in der Tradition des US-amerikanischen Westerns – guter Amerikaner/
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böser Mexikaner – fortführen584 , ist die europäische Herangehensweise als Erbe des bereits tradierten Bildes zu sehen. In der deutschsprachigen Kriminalliteratur werden neben der eigentlichen Handlung immer wieder Aspekte der mexikanischen Geschichte sowie aktuelle gesellschaftspolitische Probleme behandelt. Die teils düstere, exotische Atmosphäre Mexikos spielt dem Genre in die Hände. Es finden sich aber auch hier Reste des ursprünglichen Bildes. Ein kritischer und zugleich sehnsuchtsvoller Unterton ist – neben oftmals explizit formulierter Zivilisationskritik – häufig noch zu finden, und er ist, so hat es zumindest den Anschein, dem Bewusstsein geschuldet, dass da noch etwas anderes ist – die Reste einer alten, wenngleich verlorenen Welt. Ein Beispiel für diese Art der Komposition ist Thomas Fitzners Roman Die Kaktuspflückerin585 (1998). Der Roman beginnt mit der Schilderung eines Reliktefundes in Mexiko-Stadt. Bereits die ersten Zeilen des Romans entwerfen eine Stimmung voll von exotisierender Historizität: Der Fund war Zufall und doch keiner. Was die spanischen Eroberer und deren Nachfolger nicht zerstört, davongeschleppt oder als Baumaterial verwendet hatten, kam früher oder später zwangsläufig ans Tageslicht. Die Metropole hat aztekische Eingeweide; wer an ihrem Unterleib kratzt, stößt unweigerlich auf Prähispanisches. Es gibt Parks in Mexiko-Stadt, wo sich der Kiesel der Gehwege mit prähispanischen Keramikscherben mischt, keiner bückt sich nach ihnen.586 Das hoch versicherte Relikt verschwindet auf mysteriöse Art und Weise und die Holländerin Rita Kleefmann, Angestellte bei Safee Securities, wird beauftragt, der Sache nachzugehen. Die Protagonistin kennt Mexiko gut, da sie zwei Jahre dort gelebt hat. Für sie wurde Mexiko zum realen Fluchtort, als sie im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit bei der Versicherungsanstalt Opfer eines Gewaltverbrechens im Libanon wurde. Die ersten Beschreibungen des Landes weisen einen hohen Grad an Exotik auf. Diese geht von der mexikanischen Natur aus, die elektrisierend und anziehend wirkt. So etwa auf einer Fahrt der Protagonistin von Cancún in Richtung Süden: »Unterdessen verwandelte sich die flimmernde Mittagshitze in erwartungsvolles, schwüles Dämmern. Und obwohl auf einen Schlag Wolken so dunkel und schwer wie Kohlenhalden über ihnen schwebten, spürte Rita mehr Erregung als Bedrohung.«587 Der Roman ist mit 421 Seiten recht umfangreich und schildert neben der eigentlichen Handlung – der Aufdeckung des Verbrechens – verschiedenste Aspekte des mexikanischen Lebens. Mexiko-Stadt wird, wie so oft, 584 Vgl. Fischer, Silke: »Gänsehaut bei 40 Grad. Die Sicht des Anderen im Krimi«, in: Schmidt, Friedhelm (Hg.): Wildes Paradies – Rote Hölle. Das Bild Mexikos in Literatur und Film der Moderne. Bielefeld: Aisthesis Verlag 1992 585 Fitzner, Thomas: Die Kaktuspflückerin. Hamburg: Rotbuch Verlag 1998 586 Ibid. S. 5 587 Ibid. S. 10
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als Stadt der Kontraste zwischen Arm und Reich dargestellt. Als Nebenhandlung werden die Geschichten einer alleinerziehenden mexikanischen Fotografin und eines mexikanischen Journalisten erzählt, die beide auf unterschiedliche Weise von mexikanischen Machos, Korruption und der Suche nach dem persönlichen Glück handeln. Für die Protagonistin ist Mexiko ein Sehnsuchtsort, von dem sie auch nach ihrer Rückkehr nach Holland immer träumt: »Später dachte sie: Welch seltsamer Zufall, daß sie von Yukatan träumte und genau am selben Tag den Auftrag erhielt, nach Mexiko zu reisen. Bis ihr zu Bewußtsein kam, daß sie jeden Tag von Yukatan träumte. Jeden einzelnen Tag.«588 Während ihrer Zeit in Mexiko unterhielt die Protagonistin auch eine Liebesbeziehung zu einem Mexikaner namens Ramón, den sie anlässlich ihrer Investigationen wieder kontaktiert. Nicht zuletzt durch ihn konnte sie fundierte Einblicke in die mexikanische Gesellschaft und Kultur mit all ihren Problemen gewinnen, wie ihr bewusst wird, als sie sich an ihr Leben und ihre Beziehung in Mexiko erinnert: Wenn etwas an Ramón gelegentlich authentisch zärtliche Gefühle in ihr wachgerufen hatte, war es seine gesunde mexikanische Schizophrenie gewesen: Er liebte das Land und haßte vieles, was es charakterisierte. Mexiko ist reich, pflegte er zu sagen. Wenn die Reichen ihre Steuern zahlen würden, wenn die Funktionäre eine Spur weniger korrupt wären, könnten wir auf Entwicklungshilfe und Weltbankkredite pfeifen: Ihr – und dabei zeigte er mit einer jener Gesten, die sie an ihm haßte, auf sie – schiebt diesem Klub von reichen Steuerhinterziehern das Geld in den Hintern. Ihr, die Steuerzahler, die braven, mittelständischen Steuerzahler der Ersten Welt, finanziert unser feudales System. Ohne euch wäre hier schon längst eine zweite Revolution losgebrochen. Aber daran sind die Gringos nicht interessiert. Denen hat schon unsere erste Revolution nicht gepaßt.589 Der Autor legt Ramón immer wieder systemkritische Worte in den Mund, so auch in einem Schreiben, das Rita von ihm erhält, als sie ihn über ihren anstehenden Auftrag in Mexiko informiert. Mexiko ist hier kein beliebiger und austauschbarer Handlungsort eines kriminalistischen Plots, sondern wird spezifisch anhand sozial- und gesellschaftspolitischer Themen beschrieben. Auch Probleme des Landes werden so aufgezeigt: Wir sind eine Demokratie, weißt du (als Nachbarland der Vereinigten Staaten blieb uns da paradoxerweise keine Wahl), und Meinungsfreiheit wird bei uns großgeschrieben, obwohl die Menschenrechte jener, die sie in Anspruch nehmen, eher klein geschrieben werden, aber soviel hast Du damals auch mitbekommen. Ich will Dich nur daran erinnern, daß hier zwar alles furchtbar modern aussieht,
588 Fitzner: Die Kaktuspflückerin, S. 38 589 Ibid. S. 44
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mit Hochhäusern, Fernsehantennen auf allen Dächern und sehr hübschen Polizeimotorrädern, doch hinter diesem Potemkinschen Dorf, dieser Potemkinschen Weltstadt hält eine mörderische Mischung aus später Conquista, korruptem Vizekönigreich und verratener – Danke, Don Emilio, für den Hinweis – Revolution das Volk permanent am Brodeln. […] Dieses Brodeln muß man zugeben, hat ja auch seinen Reiz und seine Vorzüge. Brodeln heißt Bewegung. In diesem Land bewegt sich immer alles, manchmal sogar die Erde, und das nicht schwach. Ohne dieses Brodeln wären wir keine kulturelle Supermacht. Unsere Literaten und Maler und Architekten würden ihre Pendants aus dem übersättigten nördlichen Nachbarland nicht mit jener Leichtigkeit überrollen, mit der – andererseits – die Gringos uns 1848 die Hälfte unseres Territoriums geraubt haben (New Mexico heißt einer dieser Bundesstaaten. Lüge, Lüge! Old Mexico müßte er heißen.). Daß eine korrupte Regierung damals ihre Bürger in den nördlichen Provinzen im Stich gelassen hatte und daß ein Clown namens Santa Ana, der sich General und Feldherr nannte, den Gringos einen leichten Sieg bescherte, lassen wir besser unerwähnt. Auch fällt es schwer zuzugeben, daß unsere geliebten, gehaßten nördlichen Nachbarn vermutlich ebenso viel für mexikanische Kunst ausgeben wie der mexikanische Staat selbst. Denk nur an all die Obsidianfiguren, die sich überernährte US-Touristen mit schmetterlingsfarbenen T-Shirts aus den überteuerten Neppbuden bei den Pyramiden mitnehmen.590 Ramón führt in seinem Schreiben an Rita auch die Verschuldung des Landes und die Gründe dafür an: einerseits die aktuelle, vor allem wirtschaftliche USamerikanische Gewaltherrschaft sowie andererseits die vergangene europäische. Er reflektiert über den Wert des Pesos im Vergleich zum Dollar und kommt zu dem Schluss, dass es sehr wohl eine zweite Revolution gebe, auch wenn sie sehr leise vonstattengeht. Pfitzner schafft in seinen Beschreibungen ein wenig positives Bild von MexikoStadt. Eine Stadt mit smogverätzter Luft, eine Art Moloch – als deutliches Abbild einer Welt, die nunmehr von der Zivilisation durchdrungen ist: […] – man hörte nur gedämpft das Geplapper und Gelächter in anderen Büros, ein wenig Verkehrslärm, ein startendes Flugzeug, das Getriller der Ordnungshüterpfeifen, zwei lachende Sekretärinnen am Gang draußen, den Schreianfall eines bestohlenen Straßenhändlers, die Alarmanlage eines Fahrzeugs, die Sprechchöre einer Demonstration, diverse Polizeisirenen, ein landendes Flugzeug, kreisende Privathubschrauber, Straßenmusikanten, das melodiöse Werbegeschrei von mobilen Maiskolbenköchen, das Beben des gesamten Gebäudes, als ihm ein U-Bahnzug durch den Unterleib fuhr, einen kleinen Verkehrsunfall – […].591 590 Fitzner: Die Kaktuspflückerin, S. 57 591 Ibid. S. 71
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Mexiko vermag es aber in Fitzners Roman, die Europäer durch seine Andersheit zu fesseln und zu verzaubern: Am Ende platzte der Behälter doch, und es regnete Schokoladen, Orangen, Bonbons, gebrannten Zucker und Nüsse. Aus dem geöffneten Fenster, durch das die rauchgesättigte Festluft in den abgasgesättigten Nachthimmel der Hauptstadt emporstieg, tönte das feierlich-melancholische Geburtstagslied »Las Mañanitas«, und Rita nahm ungläubig wahr, daß ihr wie aus dem Nichts Tränen in die Augen schossen. Sie war in eine Traumwelt geraten. Sie befand sich in einer von Verbrechen, Armut und Giftwolken verseuchten, gepeinigten Stadt und erlebte die glücklichsten Stunden seit Jahren. Was war dies nur für ein Land?592 Auch in Mexiko entstehen vermehrt künstliche Paradiese als Fluchtorte für Zivilisationsmüde, die sich nunmehr auch in Mexiko selbst finden. Im Roman wird Cancún als Beispiel für diese Art von artifiziellem Paradies angeführt, in dem es unter anderem auch einen »karibischen Gringo-Swimmingpool« gibt. Die Protagonistin macht sich auf den Weg dorthin, um einige Tage auszuspannen und der Großstadt zu entfliehen. Bereits am Flughafen sieht sie sich mit einem Werbefilm konfrontiert, der das Bild, das Cancún vermitteln soll, mit großer Präzision stilisiert: Draußen, auf den Bildschirmen der Wartesäle, lief ein Werbevideo über Cancún, das ihr die Aussicht auf weiße Traumhotels mit wolkenlosen Stränden sowie permanent in Zeitlupe umherspurtende, händchenhaltende Jungen und Mädchen vermittelte, im Hintergrund auf- und untergehende Sonnen, das Jaulen elektrischer Gitarren, Meeresrauschen und pulsierend einschläfernde Rhythmen. Halbwüchsige Oberschichtengören mit hellem Lippenstift trugen im Neon des Wartesaals ihre Karibik-Sonnenbrillen zur Einstimmung, und draußen, hinter kilometerweiten Rollbahnen und Abstellflächen, zog langsam der Morgendunst auf.593 Als die Protagonistin in Cancún ankommt, empfängt sie die Skyline von Cancún mit all ihren bonbonfarbenen Hotelburgen. Ihr Hotel heißt bezeichnenderweise »Crown Lagoon Paradise« und erscheint als konfektioniertes Paradies, in dem sie sich in der klimatisierten Karibikluft niederlässt.594 Das facettenreiche Bild des Landes, das Fitzner in seinem Roman zeichnet, bietet immer wieder Raum, um offen Kritik zu äußern. Die Protagonistin reflektiert beispielsweise während ihres Ausflugs nach Cancún über den Niedergang der mexikanischen Kultur. Die Kritik an der westlichen Dominanz ist zunächst noch subtil und lässt sich eher im Sinne eines logischen Rückschlusses erahnen. Ein paar Sei-
592 Fitzner: Die Kaktuspflückerin, S. 108 593 Ibid. S. 111 594 Vgl. ibid. S. 113
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ten weiter wird sie jedoch deutlicher, wie das zweite Zitat belegt. Nur mehr billige Touristenartikel erinnern an eine frühere, bessere, weil ursprüngliche Welt: Ritas Müdigkeit verflog momentan, sie genoß den kleinen Ausflug in die Vergangenheit. In den Steinen von Cancún konnte man lesen wie in einem Menschengesicht: die dumpfe Verbissenheit, mit der ein stolzes Volk seinen Niedergang nicht akzeptieren will und versucht, vergangene Größe zu imitieren, mit rohen, einfachen Bauten, die wie ein fernes Echo auf die im Inneren der Halbinsel gelegenen Prachtstädte der Glanzzeit sind. Wer wird schon gerne alt und schwach? Und häßlich?595 Wie sind sie heruntergekommen, eure Götter. Chaac, allmächtiger Wasserlasser und Herr über die Fluten donnerdunkler Himmelsschleusen fristet sein Dasein als onyxschwarzer Briefbeschwerer. Quetzalcoatl, gefiederte Schlange, Gott über alle Völker des edlen Bodens von Mexiko, weißbärtiger Unglücksbringer eines verlorenen Kontinents, schlägt sich hier als grottengrüner Brieföffner durch. Und Chaac Mool, weihrauchender Bote zu den hundertausenden Göttern eines dichtbevölkerten, blut- und blumenbedeckten Firmaments, das heute ebenso verkohlt und kahlgeschlagen liegt wie weite Teile des vulkanischen Schokolade- und Mangolandes, er bewacht heute – nur zu passend – den Boden eines silberweißen Aschenbechers. Es sind keine imposanten Jobs, mit denen sich die überlebenden Götter über Wasser halten, dachte Rita und schlenderte weiter durch den Souvenir-Supermarkt einer der glas- und stahlglänzenden Shopping Malls im Zentrum der kilometerlangen Lagune, dort, wo sich der zweigeteilte Highway Kukulkán nach weitgeschwungenem Lauf vorbei an Golfplätzen, Yachtklubs, Privatvillen und Großhotels kurz einbremst und in seiner Mitte einem Konglomerat cremefarbiger Eßund Einkaufstempel Platz macht. Wie seit urdenklichen Zeiten: Der stärkere Stamm unterwirft den schwächeren, zwingt ihm seine Kultur auf, läßt vom alten gerade das übrig, was ihm unterhaltsam und nützlich erscheint.596 Im Bus auf dem Weg zurück nach Mexiko-Stadt wird die Protagonistin wieder von der Realität eingeholt. Man will sie um das Ticket betrügen, das sie aber zum Umsteigen benötigt. Aus dem Ferienparadies gelangt die Protagonistin schnell wieder zurück in die raue Wirklichkeit – in das vermeintlich tatsächliche Mexiko – das nur mehr bedingt an ein Paradies erinnert.
595 Fitzner: Die Kaktuspflückerin, S. 118 596 Ibid. S. 132
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Das Mexiko in Fitzners Roman ist ein Land der Widersprüche – ein Land mit glorreicher Vergangenheit und ungewisser Zukunft. Mexiko ist ein Spielball der Machtintrigen der westlichen Welt. Es bleibt aber ein Land, das verzaubert und in dem Kräfte wirken, die ein Aufgeben undenkbar machen. Der Urkraft, die von Mexiko ausgeht, verleiht auch Pfitzner durch eine Personifikation Gestalt: Mexiko, das reiche Maisland, das den Tortilla-Rohstoff aus den ungeliebten Vereinigten Staaten importiert. Mexiko, das Aztekenland, das aus seiner sagenhaften Vergangenheit in eine unsägliche Zukunft stolpert und einfach nicht vor die Hunde gehen will, im Verdorren noch erblüht und die Wirklichkeit in Grund und Boden singt, tanzt, malt, liebt, kocht, das streng katholische Land, in dem Allerseelen ein Freudenfest und das weihnachtliche Krippenspiel eine hemmungslose Blödelei sind, das Land der Conquista, der permanenten Eroberung, Rückeroberung und Wiedereroberung.597 Auch der 1999 erschienene Kriminalroman Handstreich598 von Bernhard Jaumann spielt in Mexiko-Stadt. Die mexikanische Polizei sieht sich mit einer Reihe von mysteriösen Mordfällen konfrontiert, die allesamt auf das Konto des sogenannten Vengadors – des Rächers – gehen, der wie eine Art Robin-Hood-Figur agiert und sich selbst als Unterstützer der Armen und als Verfechter der Gerechtigkeit sieht. Am Beginn des Romans wird bereits ein atmosphärisches Bild von Mexiko-Stadt entworfen. Die Stadt strahlt Chaos, Hektik und ein immerwährendes Durcheinander von Dingen und Menschen aus: Alles fließt, hatte irgendein alter Philosoph mal behauptet. Das war Quatsch. Alles stockte, und stand still. Wenigstens galt das für den Verkehr, der sich in der Calle Donceles Richtung Osten staute. Und ähnlich sah es in Tacuba, 5 de Mayo oder jeder anderen Calle des Centro Histórico von México-Stadt aus. Zu viele Autos, zu viele Menschen. Da floß nichts mehr. Zumindest nicht der Verkehr. Dem Vengador war das egal. Er sah durch die schmierige Scheibe des Microbusses nach draußen. Rot und zum Greifen nah glühte der Grill eines Imbißstands durch die Nacht. Mit einer Machete säbelte eine dicke Frau Fleischstücke für Tacos al pastor ab. Ein Junge in schmutziger Schürze hackte daneben Kutteln. Am Seitentresen lehnte ein Kunde, beide Hände um eine dick gefüllte Tortilla gekrallt, aus der rote Soße tropfte. Rauch stieg von irgendwo unter dem Straßenmüll auf. Die Passanten schoben einander durch den Trampelpfad, den die am Gehrand ausgebreiteten Waren der ambulanten Händler frei ließen. Taschenlampenbatterien, Feuerzeuge, Kunstlederramsch, Stoffpuppen. Eigentlich hatte die neue Regierung des Distrito Federal versprochen, mit den illegalen Verkäufern aufzuräumen, die
597 Fitzner: Die Kaktuspflückerin, S. 185f. 598 Jaumann, Bernhard: Handstreich. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1999
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improvisierten Märkte im Zentrum zu reduzieren, daß man sich wenigstens einigermaßen bewegen konnte. Damit der Verkehr floß. Damit alles seine Ordnung hatte.599 Gleich zu Anfang wird ein Überfall auf einen Mikrobus geschildert. Zwei junge Burschen, mit einer Machete bewaffnet, wollen den Businsassen ihr Hab und Gut abnehmen. Im Bus befindet sich jedoch auch der bereits erwähnte Vengador, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die mexikanische Hauptstadt sicherer zu machen und dort einzugreifen, wo die Polizei versagt. Trotz der naturalistischen und vor allem auf die urbanen Aspekte reduzierten Schilderungen der Stadt wird immer wieder auch eine mystische Atmosphäre erzeugt, die häufig mit markanten Naturdarstellungen oder der Beschreibung von Elementen der präkolumbianischen Vergangenheit des Landes verwoben ist. Letztere impliziert oftmals einen Hang zum Übernatürlichen und Transzendenten. Beschrieben werden beispielsweise einige alte aztekische Opferstätten, die auch den Mexikanern selbst – die ebenfalls bereits von der Zivilisation durchdrungen sind – Unbehagen einflößen. Nicht verwunderlich ist es, dass genau an einem solchen Ort eine Leiche mit abgehackter Hand gefunden wird. Das Bild, das Jaumann von Mexiko entwirft, ist – wie für die Kriminalliteratur charakteristisch – auch handlungstragend. Mexiko-Stadt scheint ein Ort voller Korruption zu sein, schmutzig, laut und gefährlich. Armut und Verfall dominieren viele Viertel. Durch die episodenhaften Schilderungen der Umgebung wird eine düstere Grundstimmung erzeugt, die die Handlung des Romans zusätzlich vorantreibt: Die gestaute Hitze des Tages schlug ihr entgegen, der schwüle Schweiß von Menschen, die den Dampf und Dreck der Straße eingesaugt hatten. Eine Luft, die ihr binnen kurzem die Poren verkleben würde.600 Du bist zwölf, du bist verdammt noch mal ein Kind, und du lebst in einer Stadt, in der es selbst dem Teufel zu heiß werden könnte. Ich weiß, was da draußen los ist. Nicht einmal die verdammten Kinder sind ihres Lebens sicher!601 Verschiedene Handlungsstränge werden im Roman eingeführt, die dann zunehmend ineinandergreifen und sich verflechten. Die Haupthandlung entwickelt sich rund um den Vengador, den die Polizei zu fassen versucht. Neben dem eigentlichen Plot wird der Fokus immer wieder auf verschiedene handlungsbeteiligte Figuren gelegt, deren Leben am Ende in der Haupthandlung zusammenlaufen. Auf diese Weise erfährt man beispielsweise auch etwas über ein Ehepaar namens Dolores 599 Jaumann: Handstreich, S. 5 600 Ibid. S. 15 601 Ibid. S. 78
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und José, das aus der untersten sozialen Schicht stammt und mangels anderer Möglichkeiten seinen Lebensunterhalt mit Raub und Diebstahl bestreiten muss. Die Perspektive, aus der die Verbrechen der beiden geschildert werden, ist zwar grundsätzlich kritisch, aber auch erklärend. Dolores und José werden als Opfer einer korrupten und ausbeuterischen Gesellschaft stilisiert. Diese Darstellungsweise impliziert ein zivilisationskritisches Moment. Das Paar wird zwar vor allem anhand seiner kriminellen Handlungen charakterisiert, trotzdem lässt die Beschreibung auf einen guten Kern der beiden schließen. Dolores muss sich bei ihren Raubzügen betatschen lassen, versucht das jedoch zu ignorieren und daran zu denken, was sie sich mit dem Geld kaufen würde und wie sie sich ihr Leben dadurch erleichtern könnte: Dann spürte Dolores etwas. Hinter ihr. Letztendlich war es egal, ob sie gegen den Bankangestellten gedrückt wurde oder ob der sich ihr entgegenstemmte. Auf jeden Fall spürte sie, wie sein Ding steif wurde und an ihrem Hintern emporwuchs. Geschwollenes Fleisch, pochendes Blut, schmutzige Gedanken. Eine Waschmaschine wäre schön. Und würde jede Menge Zeit sparen. Wenn sie und José aus der Dreckluft der Stadt nach Hause kämen, könnten sie sich ausziehen und das ganze Zeug einfach in die Maschine werfen. Dolores könnte mal ausruhen, und dennoch wäre eine Stunde später alles sauber. Sie müßte nicht ihren Korb zum Wassertank hinabschleppen, müßte die Schmutzwäsche nicht einweichen, nicht Stück für Stück auf dem Waschbrett rubbeln, wenden, kneten, spülen und noch einmal walken. Der Mann hinter Dolores begann, langsam auf und ab zu reiben.602 Die Dinge, die Dolores sich wünscht, sind banale Dinge des täglichen Lebens. Durch ihre Bescheidenheit wird das Bild eines einfachen Menschen erzeugt, der von der westlichen kapitalistischen Welt unterdrückt und ausgebeutet und dadurch zu etwas gemacht wird, was er eigentlich gar nicht sein will. Die Stilisierung impliziert eine sozialistisch angelegte Polemik und gleicht in ihrer Ausführung beinah einer Propaganda. Auch wenn Jaumanns Roman grundsätzlich zur kriminalistischen Unterhaltungsliteratur gezählt werden kann, finden sich in ihm Passagen, in denen die Zustände des Landes kritisch beleuchtet und so hinterfragt werden. Damit der Plot des Kriminalromans funktioniert, müssen Gut und Böse kontrastierend gezeichnet und damit klar definiert werden. Es sind jedoch vorrangig die machtgierigen und korrupten PolitikerInnen und BeamtInnen, die das Böse repräsentieren und als Sinnbild für ein ganzes in sich kränkelndes System zu verstehen sind. Die PolizistInnen, über deren schwierige Lebensumstände man mitunter mehr erfährt und die sich aufgrund dieser Umstände oft vom System kaufen lassen, erscheinen nicht absolut negativ. Sie fungieren weniger als VertreterInnen
602 Jaumann: Handstreich, S. 17f.
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des korrupten Machtapparats, sondern sind vielmehr Abkömmlinge der mexikanischen Unter- bzw. Mittelschicht, die allesamt auf ihre Weise mit ihrem persönlichen Schicksal hadern. Gegen Ende des Romans entschließt sich José zu einem letzten großen Überfall, der sein Leben und das seiner Frau endlich erleichtern soll. Der Überfall missglückt und José wird tödlich verletzt. Schon vor dem Überfall reflektiert er über sein Leben und kommt zu dem Schluss, dass er nichts zu verlieren hat. Daher entschließt er sich auch, alles ein letztes Mal auf eine Karte zu setzen: Wer keine Zukunft besaß, woher sollte er Hoffnung schöpfen? Was ging den die Menschheit an? Menschlichkeit gar?603 Er ballte die Faust, dachte daran, daß er nie eine Chance gehabt hatte, daß sie ihn wie einen Straßenhund geschlagen und getreten hatten, daß er ein Aussätziger war, schlimmer, ein für den Rest der Welt Unberührbarer. Es wurde Zeit, dieser wunderbaren Welt die Rechnung zu präsentieren. Allerhöchste Zeit.604 Um die Opferrolle Mexikos in den korrupten Machenschaften der westlichen Welt zu verdeutlichen, werden die kriminellen Handlungen romantisiert. Es sind die Umstände, die diese in gewisser Weise legitimieren. Sogar während des Überfalls auf eine Frau, die José mit einer vermeintlich HIV-infizierten Spritze bedroht, bleibt seine menschliche Seite deutlich hervorgehoben: »Wie zufällig kam Josés kleiner Finger auf ihrem Hals zu liegen. Zart und glatt! Wunderbar warm und voller Leben! Die verdammte Spritze zitterte leicht in Josés Händen.«605 Josés tragischer Tod kann als grundsätzliche Sozialkritik verstanden werden. Die Ärzte im Krankenhaus versuchen nicht, ihm das Leben zu retten. Er ist nur einer von vielen aus Mexikos Unterschicht – ein unbedeutender kleiner Krimineller, dessen Leben in Mexiko nicht viel wert ist: Der Unterleib ist zerquetscht, Steckschuß in der Nierengegend, und auch sonst blieb kein inneres Organ unbeschädigt. Dazu hatte er eine Rückenmarksverletzung, x-fach gebrochene Ober- und Unterschenkel und so weiter. Da könnten zehn Chirurgen tagelang herumflicken, und er würde wahrscheinlich trotzdem sterben. […] Das Schlachtfeld war Josés Körper. Nach der Schlacht trieben sich da höchstens noch Leichenfledderer herum. Keine ehrbaren Ärzte. Sie hatten nicht den kleinsten Versuch unternommen, Josés Leben zu retten, hatten nicht an Transplantationen gedacht, hatten an ihn keine Blutkonserve verschwendet, keine Infusion,
603 Jaumann: Handstreich, S. 135 604 Ibid. S. 135 605 Ibid. S. 36
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keines ihrer wunderwirkenden Medikamente. »Doch, etwas gegen die Schmerzen«, hatte die Schwester gesagt. Sie hatten keine Röntgenaufnahmen gemacht, ihre teuren Apparate gar nicht erst eingeschaltet, die Funktionsfähigkeit von Josés Organen nicht einmal überprüft.606 Josés letzte Worte, die er mühevoll gegenüber seiner Frau hervorbringt, sind resignativ. Er fühlt sich als Opfer einer infamen Welt, an der er letzten Endes auch scheitert und zu Grunde geht: »Es tut mir leid«, sagte José. »Daß ich dir kein besseres Leben bieten konnte. Daß ich versagt habe. In allem. Was ich auch angepackt habe.«607 Die düstere und bedrohliche Atmosphäre der mexikanischen Hauptstadt wird durch die Beschreibungen der reichen, an Europa erinnernden Viertel kontrastiert. Selbst Kriminaloberkommissar Ruiz, der mexikanischen Mittelschicht angehörend, fühlt sich, so heißt es im Text, nicht wohl in der künstlich angelegten Welt der Schönen und Reichen, die »zwischen Body Shop, Wiener Café und italienischen Modeboutiquen hin und her flanieren«: Die marmorne Kühle der Böden mochte eine Rolle spielen, das kaltspiegelnde Glas. Rollstuhlgerechte Auffahrten zeugten ostentativ von politischer Korrektheit, und chromblitzende Linien wanden sich kühn um Palmen, die im Kunstlicht kräftig gediehen. Eine Shopping-Mall in Boston oder Cleveland sah keinen Deut anders aus. Es war ein Stück Erste Welt, das sich in der Dritten Welt eingenistet und auf irgendeine Weise erfolgreich gegen sie immunisiert hatte. Denn so weit war die Dritte Welt nun auch wieder nicht entfernt. Kaum zwei Kilometer südlich, am Beginn der Avenida San Fernando, lag eine der Tortillerias, vor denen jeden Morgen lange Menschenschlangen nach Tortillas zum subventionierten Preis von einem Peso neunzig pro Kilo anstanden.608 Die Grundstimmung des Romans ist von Gewalt geprägt. Die klischeehafte und akzentuierte Darstellung von Mexiko-Stadt schafft die notwendige Atmosphäre und Staffage für den kriminalistischen Plot. Kriminaloberkommissar Ruiz, der, wie sich erst im Laufe der Handlung herausstellt, mit einer Gruppe anderer Männer selbst als Vengador auftritt, wird von korrupten KollegInnen aus der eigenen Abteilung entführt, die seinen Posten übernehmen wollen. Sowohl die Entführung als auch alle Gewalttaten werden äußert brutal und detailreich geschildert. Das Bild Mexikos, das in Romanen mit kriminalistischer Grundstruktur entworfen wird, fußt meist auf stereotypen Darstellungsformen und deckt sich daher oft mit den in den modernen Massenmedien tradierten Bildern. In die stereotype 606 Jaumann: Handstreich, S. 138 607 Ibid. S. 146 608 Ibid. S. 144f.
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Darstellungsweise mischen sich jedoch Elemente des literarischen Sehnsuchtsbildes, der Verlust des Paradieses wird so aufgezeigt und thematisiert. Zivilisationskritik, aber auch historische Geschehnisse, fließen in die Handlung ein. Die historischen Schilderungen dienen mitunter auch der Erläuterung aktueller Geschehnisse und Mentalitäten. So wird auch in Jaumanns Roman der mexikanische Hang zur Selbstjustiz anhand historischer Begebenheiten erklärt, da Menschenopfer im Kulturkreis der Azteken als essenzieller Teil der Kultur angesehen worden seien.609 Vereinzelt durchbricht Jaumann die Szenerie durch anmutige Naturschilderungen, um dann wieder rasch in die Beschreibung der Abgründe von MexikoStadt zu wechseln und diese Realität dadurch noch deutlicher zu kontrastieren. Das Paradies Mexiko – als Gegenort zur überzivilisierten Welt – existiert, so hat es den Anschein, nur noch in einem eingezäunten, abgegrenzten und künstlich erschaffenen Raum, was nostalgische Erinnerungen heraufbeschwört. Er ist im Grunde kein Teil der Realität mehr. Die europäische Ursehnsucht danach manifestiert sich in den Beschreibungen dieser Ausschnitte, die sich auch in Jaumanns Roman in ihrem Ton deutlich von den restlichen Beschreibungen abheben: Im Garten blinkte der Tau im Gras. Ein Kolibri schwirrte um die Limonenbäume, und violette Bougainvilleen hingen schwer von der drei Meter hohen Mauer. Kein Inspektor Enrique, keine Spur von irgendwelchen Polizisten. Teresa ließ per Fernbedienung das schwere Metalltor zur Seite rollen. Jetzt war sie draußen, in der Welt, in México-Stadt, wo Mord und Totschlag auf sie warteten, wo sie beraubt und vergewaltigt würde, wie das in Kriegszeiten wehrlosen Frauen gegenüber nun einmal üblich war.610 In einer weiteren Nebenhandlung wird ein kleiner Müllhaldenarbeiter beschrieben, der eine Nachricht des entführten Polizeichefs Ruiz findet, welcher für seine Befreiung 1000 Pesos Belohnung verspricht. Heriberto, so der Name des Mannes, wird kurzerhand von den korrupten Polizisten umgebracht. Auch er wird zum Opfer eines verbrecherischen Machtgefüges. Jaumanns Beschreibungen Mexikos changieren zwischen stilisierten Stereotypen – zwischen desillusionierender Realität und Exotik. Die touristischen Tanzeinlagen der vermeintlichen mexikanischen Urbevölkerung vermitteln auf den ersten Blick keine Exotik, sondern werden lediglich als inauthentischer Kitsch wahrgenommen. Trotzdem kippt die Szene, wie auch andere dieser Art, in denen das moderne Mexiko mit der präkolumbianischen Vergangenheit in Kontakt tritt. Es entsteht eine mystische und exotische Atmosphäre. Einer der Polizisten, der bestrebt ist, die Entführung des Oberkommissars Ruiz aufzuklären, fühlt sich plötzlich von den Tänzern bedrängt. Realität und Fiktion verschwimmen und machen 609 Jaumann: Handstreich, S. 31 610 Ibid. S. 119
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dem Übernatürlichen und Unerklärlichen Platz. Der Polizist ruft sich zur Ordnung und hält sich vor Augen, dass es sich lediglich um Einbildungen seinerseits handeln kann: Blutleer wirkten die weißen Hände des Trommlers. Tot. Als ob sie vor langer Zeit jemandem abgeschlagen und nun dieser unbeweglichen Trommlerstatue angehext worden wären. Vielleicht erwachten sie nur wieder zu einer Art Leben, um die Verstümmelung zu beklagen, um dumpf nach dem längst verwesten Rest ihres ursprünglichen Körpers zu rufen. Lopez García stellte sich vor, wie die Hand in Ruiz Kühlschrank sich zu bewegen begann, die Finger langsam krümmte, durch matschige Sahnetorte glitschte und die Innenverkleidung nach einem Weg in die Freiheit absuchte. Er schüttelte sich. Solche Gedanken! Er mußte endlich die verdammte Hand aus seinem Kopf bringen. Ein zweiter Aztekenfuß stampfte auf, ein Muschelgehänge klapperte unwillig. Die beiden anderen Krieger erwachten zum Leben und begannen zu tanzen. Nach vorn, nach hinten, auf der Stelle. Von tief innen schienen die Bewegungen zu kommen. Zornig versuchten sie, den Staub der Zeit abzuschütteln, sich in dumpfes Heidentum zurückzutrampeln, ins flackernde Zwielicht der alten Gottheiten, die die Sonne aufgehen, den Regen fallen, den Mais wachsen ließen […]. Unsinn! Die Götter waren tot. Die Tänzer tanzten nur zur Belustigung der Passanten. Sie brauchten nur einen Anlaß, nachher mit dem Sombrero herumzugehen und ein paar Pesos einsammeln zu können. Es waren keine Azteken, es waren ein paar Arbeitslose, die sich einen Job erfunden hatten. Sie würden abkassieren, nach Hause gehen, das Federzeug und die Rasseln und die lächerlichen Lendenschurze im Schrank verstauen, sie würden unter die Dusche springen, wenn sie eine besaßen, sich über die ungenügende Mathematiknote ihres Ältesten aufregen, fernsehen, zu Abend essen, fernsehen, ins Bett fallen, schlafen. Sie waren nicht anders als Lopez García.611 Nicht nur die altmexikanischen Traditionen lassen in Jaumanns Roman Raum für Mystik, auch religiöse Feste verleihen der Handlung durch ihre Fremdheit Exotik: Die Blumenträger, denen er nachtappte, steuerten das äußerste rechte Tor an. Danach würde wieder etwas mehr Luft sein. Entlang des Brückengeländers drängte sich eine andere Gruppe vor. Ihr Anführer schleppte ein Plastikkreuz vor sich her, an dem ein übermannshoher Plastikjesus hing. Azteken trugen Leder, doch auf Blut waren sie genauso scharf wie die Christusmaler vom Devotionalienmarkt an der Ecke Hidalgo – Matamoros.612
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Jaumann: Handstreich, S. 196 Ibid. S. 225
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Am Ende des Romans steht die Korruption der mexikanischen Polizei im Fokus. Während Oberkommissar Ruiz und seine KollegInnen und GegenspielerInnen ums Leben kommen, lässt sich auch der letzte nicht korrupte Polizist kaufen, um die Stelle des ermordeten Kriminaloberkommissars zu bekommen. Er ist auch bereit, einen unschuldigen Journalisten namens Morenos zu opfern, und ihn als vermeintlichen Vengador ins Gefängnis zu bringen: Er wandte sich um und ging Richtung Friedhofsausgang. Hinter sich hörte er die Schritte der Vengadores auf dem Asphalt. Sie hatten aufgeschlossen, waren knapp hinter ihm. Fast auf Tuchfühlung. Lopez García würde keinen Skandal an Ruiz’ offenem Grab provozieren. Er würde überhaupt darauf verzichten, an Ruiz’ Begräbnis teilzunehmen. ER hatte anderes zu tun, er mußte Morenos Festnahme in die Wege leiten. Man mußte Präferenzen setzen. Der Tod würde einem früh genug auf die Schulter klopfen.613 Der Polizist wird trotz seiner Entscheidung für die Korruption nicht absolut negativ stilisiert. Seine schwierigen Lebensumstände lassen begreifen, dass ihm nur zwei Möglichkeiten bleiben – mit dem System zu kooperieren oder daran zu scheitern. Auch er ist ein weiteres Opfer des korrupten Gefüges des Landes. Im Unterschied zu dem Kleinkriminellen José hat er jedoch die Möglichkeit, sich aus der Opferrolle heraus zu entwickeln und sich der Gesellschaft anzupassen, indem er ihre wichtigsten Grundeigenschaften verinnerlicht: Egoismus und Kaltschnäuzigkeit. Auf der letzten Seite des Romans wird Dolores, Josés Frau, noch einmal beschrieben. Zur selben Zeit, als sich der junge Polizist auf dem Friedhof nach einem Gespräch mit seinem Vorgesetzten dazu entscheidet, mit dem korrupten System zu kooperieren, nimmt Dolores auf eben diesem Friedhof Abschied von José, der in einem anonymen Massengrab bestattet wird. Dolores hat im Unterschied zu dem jungen Polizisten keine Möglichkeit, ihr Leben zu ändern. Die letzten Sätze sind eine deutliche Sozialkritik, da sie ein klares Bild der untersten Schicht des Landes zeichnen – die wahren und eigentlichen Opfer eines korrupten und nunmehr kapitalistischen Landes: »Dolores durchquerte das Friedhofstor. Auf dem Parkplatz war ein Tacostand aufgebaut. Dolores spürte, wie der Hunger an ihr nagte. Sie hatte keinen Centavo in der Tasche. Sie steuerte auf die Abfallkörbe vor der Mauer zu.«614 Zivilisationskritische Elemente sind in den verschiedenen Kriminalromanen in unterschiedlicher Dichte positioniert und verlieren sich zunehmend. Die deutsche
613 Jaumann: Handstreich, S. 267 614 Ibid. S. 268
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Schriftstellerin Martina Bick stellt in ihrem 2001 erschienen Kriminalroman Blutsbande615 ganz klar den kriminalistischen Plot ins Zentrum ihres Romans. Elemente der Zivilisationskritik bleiben jedoch nicht gänzlich aus. Blutsbande erzählt die Geschichte einer deutschen Polizistin namens Marie, die einen Kriminalfall in Deutschland lösen soll, der jedoch auch das Land Mexiko involviert, in das ihr englischer Lebensgefährte unbedingt auf Urlaub fahren will. Die Protagonistin ist zu Anfang skeptisch und hat wenig Lust, in dieses ferne und fremde Land zu reisen. Sehr deutlich äußert sie in einem Gespräch mit ihrem Lebensgefährten ihre Meinung zu Mexiko, die gängige Klischees bedient: Es reizt mich überhaupt nicht, stundenlang in einem engen Flugzeug zu hocken, um dann zu einer völlig verrückten Zeit in einem fremden Land mit Kakteen an allen Straßenecken und der höchsten Kriminalitätsrate der Welt anzukommen und meine kostbaren und dringend benötigten Urlaubstage zwischen Weihnachten und Neujahr mit einer Magen-Darm-Verstimmung auf der Toilette zu verbringen.616 Anlässlich ihrer polizeilichen Recherchen lernt sie einen in Deutschland ansässigen Mexikaner namens Fuentes kennen, der in einem Gespräch über Mexiko einen Aspekt des Landes anspricht, der auf Europa so große Faszination ausübt: »Fahren Sie hin, unbedingt! Ein fantastisches Land. Extrem, ganz Lateinamerika ist extrem und voller Lebenskraft. Manchmal denke ich, ich ersticke in Europa.«617 Die erste Schilderung von Mexiko-Stadt ist bereits charakteristisch. Die Protagonistin und ihr Lebensgefährte nehmen Mexiko als unsicheres und fremdartiges Land wahr, das einen deutlichen Gegensatz zu der ihnen bekannten Welt darstellt: »Marie umklammerte ihre Handtasche mit beiden Händen und begann sich durch die Menge zu arbeiten, während Tomkin ihre Koffer einem nicht sehr vertrauenswürdig aussehenden Gepäckträger auf die Karre lud.«618 Mexiko-Stadt wird als durchwegs gefährlich gezeichnet. Maries Schwägerin in spe, bei der sie und ihr Lebensgefährte zu Besuch sind, will die beiden daher gar nicht alleine vor die Türe lassen: »Bist du ganz und gar von Sinnen?«, fuhr Onyda ihn an. »Versprich mir, dass du dich niemals in ein mexikanisches Taxi setzen wirst. Ich werde keine ruhige Minute haben, solange ihr hier seid. Wisst ihr denn nicht, dass den Taxifahrern in Mexiko City absolut nicht zu trauen ist? Vor allem nicht den kleinen grünen VWTaxis, die fahren in irgendeine abgelegene Gegend und rauben euch aus.«619
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Bick, Martina: Blutsbande. Hamburg: Argument Verlag 2001 Ibid. S. 9 Ibid. S. 29 Ibid. S. 43 Ibid. S. 50
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»Ich fahre gern mit dem Bus«, sagte Tomkin. »Oder ist dagegen irgendetwas einzuwenden?« »Für euch schon. Ihr sprecht genau drei Worte Spanisch und kennt euch hier nicht aus. Außerdem sind die Busfahrer alle bewaffnet. Die meisten haben ihre Finger im Drogengeschäft. Aber wenn ihr unbedingt ein Abenteuer erleben wollt …«620 Die großen Kontraste der Stadt werden im Roman deutlich hervorgehoben. Die daraus resultierende Atmosphäre eignet sich wiederum gut für die Einbettung der kriminalistischen Handlung. Reiche Viertel werden den armen gegenübergestellt. Die wohlhabende Bevölkerungsschicht, der auch eine berühmte mexikanische Schauspielerin angehört, die Teil der Verstrickungen rund um den Kriminalfall ist, besteht gänzlich aus gringos, also Weißen: Die Straßen des Viertels waren breit und baumbestanden, die Häuser mit hohen schmiedeeisernen Gittern und soliden Türen versperrt. Hier gab es Cafés, Kunstgewerbeläden und die besten Restaurants von Mexiko. Man sah nur schöne junge Leute in amerikanischen Wagen oder aufgeputzte alte Damen, die kleine Hündchen mit Schleifen im Haar an goldverzierten Lederleinen spazieren führten. […] In allen Straßen patrouillierten uniformierte Privatpolizisten, die von Anwohnern und Geschäftsleuten bezahlt wurden. Wohl nirgends in Mexiko wurde man als reicher Gringo besser bewacht als hier.621 Es sind wiederum die ärmlichen urbanen Aspekte der mexikanischen Hauptstadt, die sich besonders als Aufmachungen für Bicks Kriminalroman eignen. Artifizielle Paradiesausschnitte bleiben auch hier den Reichen vorbehalten. Es scheint, als wollten sie sich dadurch ihr eigenes Paradies inmitten der mexikanischen Realität schaffen: Die Häuser der Stadt schienen alle aus grauem Beton gegossen zu sein. Grau waren auch die mit billiger Dachpappe gedeckten Dächer, die eisernen Fensterläden und die abgeblätterten Türen. Farben und Glanz steuerten nur die Reklameflächen und die weihnachtlichen Dekorationen bei, deren kitschiges Rot und Grün und Blau umso kräftiger leuchtete. Bäume und Kakteen an den Straßenrändern trugen graue Staubhüte. Nur die Gummibäume mit ihren schwarzroten dicken Blättern schienen noch Saft zu haben. Irgendwann bog der Fahrer vom Periférico ab und gelangte bald in bessere Wohngegenden. Hier gab es Grünstreifen in der Mitte der Straße, auf denen Azaleen blühten. Ein paar späte Bougainvilleen schmückten sich mit heiteren rostroten Blütendolden. Weiß und blau blühende Stauden funkelten hinter vergitterten 620 Bick: Blutsbande, S. 50 621 Ibid. S. 52
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Vorgärten, und überall leuchteten die dunkelroten Christsterne, die als riesige Stauden in den Vorgärten wucherten oder reihenweise in Töpfen die Einfassungsmauern schmückten.622 Wie Jaumann und viel früher bereits Löhndorff in seinem autobiografisch angelegten Abenteuerroman bedient sich auch Bick in ihren Naturbeschreibungen des Symbols des Kolibris, der durch sein farbenfrohes und anmutiges Aussehen für Leichtigkeit und Exotik steht und dadurch als Paradiesvogel schlechthin gelten kann: Die Wände des Patios auf der Rückseite des Hauses waren knallgelb und hellblau gestrichen. In der Mitte stand eine prächtige Palme in einem großen, bunt bemalten Tontopf. Fremdartige Sträucher und Blumen wuchsen in den Beeten rund um den Hof und prangten in allen Farben. An einer Orchidee flatterte ein Kolibri, den Schnabel tief in eine Blüte versenkt.623 Außerhalb der Stadt befindet sich eine große Hacienda, eine Art Lustort für die Reichen und Schönen, der ebenfalls den Charakter eines künstlich geschaffenen Paradieses aufweist: Die Luft ist – ganz im Gegensatz zu jener in Mexiko-Stadt – klar und sauber, die Hacienda voll von exotischen Vögeln und Pflanzen. Nicht zuletzt die künstlich bewässerten Rasenflächen symbolisieren die Perfektion des artifiziellen Idylls: Die ehemalige Hacienda Cocoyoc bestand aus einem riesigen Gebäudekomplex aus hellem Kalkstein inmitten eines weitläufigen, mit exotischen Pflanzen, Wasserfällen und Springbrunnen geschmückten Parks. Das Klima hier war wärmer und feuchter als im Hochland auf der anderen Seite des Gebirges, und das Land war sehr fruchtbar. Die Anlagen des Hotels und die Restaurants wurden durch überdachte Wandelgänge miteinander verbunden, die mit üppig blühenden Blumen bepflanzt worden waren und von Palmen beschattet wurden. Kleine Plätze mit Springbrunnen und eine luxuriöse Poolanlage, um die herum Liegestühle für die Gäste aufgestellt waren, sowie eine Golfanlage umgaben das Anwesen. Die Luft war sauber und klar, exotische Vögel kreischten in den Bäumen und die künstlich bewässerten, gepflegten Rasenflächen leuchteten in einem gesunden, frischen Grün.624 Die Atmosphäre von Mexiko-Stadt erscheint im Unterschied zu den artifiziell angelegten Paradiesen negativ und bedrückend. Auch das Wenige an Natur, das zwischen all dem Beton sichtbar wird, vermag es nicht, das Bild zu modifizieren. Vielmehr fügt es sich in die düstere Beschreibung der Stadt ein und ist Abbild einer 622 Bick: Blutsbande, S. 45 623 Ibid. S. 47 624 Ibid. S. 55
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vom Menschen und der Zivilisation zerstörten Natur, die ihre wilde Schönheit und Ursprünglichkeit eingebüßt hat. Deutliches Zeugnis der Zerstörung sind auch hier wiederum alle erkennbaren Spuren der Zivilisation und des Konsums, wie etwa Reklametafeln und Fahrbahnen: Endlose Vorortsiedlungen aus grob gemauerten, mit Wellblech gedeckten Hütten kletterten hinter schrill-bunten Reklametafeln links und rechts der Fahrbahn die braun verbrannten Hügeln und Berge hinauf, bis an den Horizont des dunstigen Dezemberhimmels. Nicht eine Wolke stand am Himmel, aber über dem immer größer werdenden Häusermeer unter ihnen sah man jetzt den bösartigen grauvioletten Dunstpilz liegen.625 Die korrupte Polizei, die die Menschen bis zur Armutsgrenze ausbeutet, rundet das negative Bild der mexikanischen Hauptstadt ab. In Bicks Roman finden sich wenige Beschreibungen der mexikanischen Bevölkerung, geht es doch vor allem um eine passende Einbettung der Kriminalhandlung. An einigen wenigen Stellen werden jedoch freundliche Gesichter von mexikanischen Hotelbediensteten oder aber die sanft lächelnde Hausangestellte, die immer zur Verfügung steht, beschrieben. Wenn auch nur angedeutet, wird hier ein zivilisationskritischer Aspekt sichtbar, der eine Kontrastierung zwischen den reichen Mexikanern und der armen, vor allem indigenen Bevölkerung impliziert. Die an der Kriminalhandlung beteiligten Personen gehören allesamt der mexikanischen Oberschicht an, die im Roman generell als korrupt dargestellt wird. Für ihre polizeilichen Recherchen fliegt Marie mit ihrem Lebensgefährten weiter nach Mérida. Die Naturbeschreibungen werden poetischer. Die Berge wirken majestätisch und das Meer »flimmerte wie eine unendlich große Metallplatte in der Sonne«.626 Bald wird jedoch klar, dass auch dort schon alles touristisch erschlossen bzw. von der Zivilisation und Verwestlichung durchdrungen ist: Playa del Carmen, das Tomkins britisches Reisehandbuch als Klein-Cancun bezeichnete, erwies sich eher als Klein-Isla-Mujeres, fand Marie, als sie mit ihrem gemieteten Chevvy von der mit Baustellen übersäten MEX 307 Richtung Zentrum abbogen. Statt immenser Wolkenkratzer reihten sich dicht an dicht kleine Hotels, Läden und Restaurants. Das ehemals schlichte Fischerdörfchen war zu einem Vergnügungsviertel für Billigtouristen mutiert – wo noch kein Hotel, Andenkenladen oder Schnellimbiss stand, gähnte eine Baustelle. Cancún mit seiner superteuren Strandmeile, die mit Bodyguards vom Hinterland abgeriegelt wurde, hatte mit Playa del Carmen nichts gemein außer dem feinen weißen Sand und dem in der glühenden Tropensonne grün wie Götterspeise glitzernden karibischen Meer.627 625 Vgl. Bick: Blutsbande, S. 69 626 Ibid. S. 55 627 Ibid. S. 81
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Auch im Urwald von Yucatán stoßen die beiden auf Cola- und Fantadosen bzw. -flaschen, die dort verkauft werden: »Ein paar Eingeborene saßen vor ihren Hütten auf der Erde und boten Coca-Cola und Fanta für weiß der Himmel wen zum Verkauf an. Kinder, Hunde und Hühner stöberten im schmutzigen Sand und Staub.«628 Die Protagonistin löst den Kriminalfall schließlich in Deutschland und lässt die mexikanische Schauspielerin verhaften. Mexiko bleibt ihr als fernes, exotisches Land in Erinnerung, als ein Land, in dem die weiße Oberschicht – als Sinnbild der westlichen Zivilisation – in korrupter Manier regiert, die ärmere Bevölkerung unterdrückt und sie sich innerhalb ihres konstruierten Systems gefügig macht. Während die bisher behandelten Kriminalromane grundsätzlich als Zeugnis dafür gelten können, dass die Zivilisationskritik – wenn auch nicht immer vordergründig und immer im Sinne einer zu projizierenden Wunschvorstellung und Idee – Element der Mexikobeschreibung bleibt, gestaltet sich der letzte zur Analyse herangezogene Roman grundsätzlich anders und ist vor allem ein Beispiel dafür, wie sehr die modernen Massenmedien nunmehr auf die Literatur Einfluss nehmen. Der Plot des Romans könnte ebenso einem (US-amerikanischen) Actionfilm über Mexiko entspringen. In Stefan Wimmers 2008 erschienenem Roman Der König von Mexiko629 geht es um einen jungen Mann, der eigentlich Germanistikstudent ist und im Rahmen eines Doktorandenstipendiums – ohne tatsächliche Doktorarbeit wohlgemerkt – nach Mexiko-Stadt kommt. Viel mehr als die nichtexistierende Doktorarbeit interessieren ihn Alkohol, Drogen und Frauen. Er widmet sich den Studien des Lebens, hält sich mit verschiedenen Jobs über Wasser und kehrt am Ende des Buches nach Deutschland zurück. Die Entscheidung für Mexiko-Stadt als Handlungsort ergibt sich daraus, dass die Stadt für Drogen, Kriminalität und Instabilität steht – also für ein unstetes und abenteuerliches Leben, nach dem der Protagonist Ingo F. eindeutig strebt: Mexiko dagegen wimmelte von Männern und Frauen, die ein klares, deutliches Ja zur Sucht sprachen. Die befreiende Heiterkeit, mit der in den Cantinas die Mittagspausen angegangen wurden, gab jedem Tag ein Urlaubsflair. Sicher, gegen Abend wandelte sich die Atmosphäre: Konflikte kochten hoch, die Handlungen der Gäste entgleisten, und die Gesichter ähnelten immer mehr den Fratzen eines Höllensturzes von Pieter Bruegel.630
628 Bick: Blutsbande, S. 86 629 Wimmer, Stefan: Der König von Mexiko. Frankfurt a.M.: Heyne Verlag 20092 630 Ibid. S. 7
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Der Lieblingsort des Protagonisten ist ein Lokal mit Namen »Centenario«, in dem er sich mit lethargischer Selbstverständlichkeit den Abgründen des Lebens hingeben kann: Zugegeben: Vielleicht waren all die anwesenden Politiker korrupte Ausbeuter, die das Land molken und sich mit schmutzigen Tricks auf den Thron gehievt hatten, vielleicht waren all die Geschäftsmänner unfähige Betrüger, die nur durch Nepotismus ihre Posten ergattert hatten. Aber andererseits: Waren wir wirklich fähiger und rechtschaffener? Befummelten wir nicht irgendwelche Mätressen in roten Bums-Kostümchen, unter denen sich Fettschwarten abzeichneten, kurz nachdem wir unsere Freundinnen mit denselben Phrasen von ewigwährender Liebe ruhiggestellt hatten, die Luis Miguel gerade aus der Musikbox sang? Es war der Waffenstillstand zwischen uns und dem Schmutz des Lebens, der den Centenario mittags so kostbar machte. Mittags im Centenario zu sitzen – das bedeutete das größtmögliche Einverständnis mit der Welt. Die Wurstigkeit, die man hier spürte, war im selben Maß schon bei den Azteken und ihrer Jenseitsvorstellung zu finden.631 Die Atmosphäre des Romans ist abgründig und düster. In der Woche nach der Ankunft des Protagonisten werden im Stadtteil Fovisstes sieben Personen in Taxis getötet. In der WG, in der der Protagonist zu Anfang lebt, werden zu Hauf Drogen konsumiert. Sie scheinen fixer Bestandteil des alltäglichen Lebens zu sein. Ingo selbst berichtet davon, sich immer wieder, vollgepumpt mit Drogen, auf den Weg in sein Lokal in einem anderen Viertel von Mexiko-Stadt zu machen, auch wenn er sich der Gefahren bewusst ist, die der Weg dorthin in sich birgt. Das Risiko scheint ihn dabei nicht abzuschrecken, sondern vielmehr zu reizen: Ich entschied mich für den Ausbruch. Selbst das Risiko, bei der Flucht aus Fovisste in einem Taxi erschossen und in die Grube gekippt zu werden, schien mir gering gegenüber den Qualen, die ich bei Mirtila zu ertragen hatte. Rastlos wie ein Hai zog ich also jede Nacht los, zu einer Jahreszeit, in der sintflutartige Regenfälle über Mexico City niedergingen. Und während wie in einem rabenschwarzen Zeichentrickfilm täglich neue Leichen in die überschwemmten Gossen von Fovisste geworfen wurden, erreichte ich mit dem Taxi die Innenstadt und fand dort schließlich das, was ich drei Monate lang gesucht hatte: einen kahlen, gekachelten Raum, in dem ein Mann namens Frazetti, ein zweiter namens Gregorio und ein dritter namens David saßen – die schweinscoolen Hedonisten des Centenario, verwegen, edel, freigiebig und blitzend vor Geist.632
631 Wimmer: Der König von Mexiko, S. 8 632 Ibid. S. 13f.
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Für Recherchen zu einem Bericht begibt er sich im Laufe des Romans in die Stadt Ciudad Juárez, die noch düsterer und bedrohlicher wirkt als Mexiko-Stadt: Im Vergleich zu Ciudad Juárez ist Mexiko City ein Luftkurort! Abgesehen davon, dass in Ciudad Juárez das Drogenkartell des Félix-Clans seinen Hauptsitz hat und jeden umlegen lässt, der sich ins Business einmischt, ist die Stadt auch so was wie ein Disneyland für Psychokiller. In den letzten zehn Jahren wurden dort über 300 junge Mädchen ermordet. Es vergeht kaum eine Woche, an der nicht ein neues Grab ausgehoben wird.633 Ciudad Juárez ist eine Stadt, in der Korruption und Gewalt dominieren. Der Protagonist recherchiert für einen Artikel, den er über die vielen ungeklärten Frauenmorde verfassen soll. Je weiter er in seinen Recherchen vordringt, desto mehr hat es den Anschein, dass auch die Polizei in die Frauenmorde verwickelt ist. Die einzige Unterstützung, die er bei seinen Nachforschungen erhält, ist die des Polizeifotografen Jaime, der morgens schon seinen ersten Joint raucht. Im Hotel, in dem der Protagonist absteigt, würden, wie Jaime ihm berichtet, von der Polizei oft Zimmer gemietet, um Verdächtige zu foltern. Das Büro der Zeitung, mit der er kooperieren will, befindet sich in typischen »Narco-Hochhäusern«, die von ImmobilienKonsortien mit Drogengeld aus dem Boden gestampft wurden.634 Der Protagonist sucht in Juárez nach einer Spur und will sich selbst auf die Suche nach den Mördern machen, da sich die Zeitung wenig kooperativ zeigt. Er hat auch keine Berührungsängste und erscheint fast naiv, da er – auf der Suche nach Abenteuern – auch vor einschlägigen Bars und Nachtlokalen nicht zurückschreckt: Bar Gek stand mit schwarzen Buchstaben auf der Leuchttafel über dem Eingang. So halbseiden, wie der Name klang, sah die ganze Bar von außen aus. Sie lag in einer Seitengasse der Altstadt, die um diese Zeit kaum mehr von Menschen besucht war. Ihre Fassade war mit dunklen, billigen Spanplatten verschalt, an denen Plakate von Wrestlingkämpfern und blutenden Christusfiguren klebten. Ich näherte mich vorsichtig dem Eingang und warf einen Blick durch das trübe Glas der Tür. Man sah einen Barraum, der wie ein Animierlokal gänzlich mit Spiegeln verkleidet und in Rotlicht getaucht war. An der Decke drehte sich eine Disko-Kugel, Musik war jedoch keine zu hören. Das Ambiente war schäbig, aber entsprach mit großer Sicherheit genau dem Geschmack der Psychokiller, nach denen ich suchte. Wenn ich irgendwo fündig werden würde, dann hier.635 Die Natur nimmt in Wimmers Beschreibungen einen untergeordneten Stellenwert ein, da passend zur Handlung vor allem der urbane Charakter von Mexiko-Stadt
633 Wimmer: Der König von Mexiko, S. 86 634 Vgl. ibid. S. 98 635 Ibid. S. 104
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und Ciudad Juárez im Vordergrund steht. In Ciudad Juárez berichtet der Protagonist jedoch von der sengenden Sonne, die einen langsam zu Dörrfleisch mache.636 Das Bild der wüstenartigen Landschaft passt zum trostlosen und abgründigen Bild der Stadt. Auch die Natur bedroht hier ihrerseits die menschliche Existenz. In Mexiko-Stadt herrscht eine völlige, allumfassende Straflosigkeit. Die Stadt ist hier Sinnbild einer korrupten, inhumanen und deformierenden Zivilisation, die auch ihre BewohnerInnen in ihren Sog aufnimmt und mit sich reißt: Denn Mexico City hatte die Eigenschaft, die Psyche seiner Bewohner nach und nach zu deformieren: Der Mangel an Sauerstoff, der uns optisch immer mehr so aussehen ließ wie die Marssträflinge in Total Recall […], der allgegenwärtige Gestank nach Bratfett und Abgasen, das nie verstummende Motorengeknatter, die zermürbenden, ständig anschwellenden und abschwellenden Polizeisirenen (die absolut keinen Sinn ergaben, weil 95 Prozent der Verbrechen niemals aufgeklärt wurden), die debilen Bachata- und Cumbia-Schlager, die einem an jeder Straßenecke entgegenplärrten, und die ewig gleichen Schwachsinnsreime von »amor« und »dolor«, »calor« und »sabor« hatten, der anerkennende, muntere Tonfall, mit dem das Fernsehen und die Presse die neuesten Gewalttaten herausposaunten (»Bummsbäng-Crash auf der Achse Nord: Satte 15 Leichen!« »Jugendbande macht Rambazamba mit AK-47. 10 Tote! Busfahrer: ›Schlimm die Bengels! ›« »Zickezacke-Machetengehacke: Tlaplán liegt bei Sonntagsmorden vorne!«) …637 Perverse Sexualpraktiken, irre, gewalttätige Taxifahrer und Slums, in denen die Straßen vor Abwässern und Schlachtblut schillern, prägen das Stadtbild. Beschrieben werden auch Hausfronten, von Smog und Schwermetallen zerfressen, sowie zersplitterte Fenster und verkohlte Fassaden und Ruinen: Als ich mittags aus Michelles Haus trat, schlug mir ein diabolischer Luftstoß entgegen. Im Osten der Stadt bliesen die illegalen Ziegelöfen toxischen Dreck über unsere Köpfe, in den Kesseln der Imbissbuden blubberten Schweineschnauzen vor sich hin, und riesige Gebläse peitschten Flammenstöße über das glutamatgetränkte Grillfleisch, das auf Spießen zusammengequetscht war. Ich lief drei Blocks weit zur Busstation an der Insurgentes-Achse, um nach Hause zu fahren. Die Insurgentes war ein einziges Gewimmel aus Mikrobussen, die die Straße wie Heuschrecken in beide Richtungen abgrasten.638 Das sehr düstere Bild Mexikos, das in Wimmers Roman entworfen wird, ist vor allem das Bild eines Landes, in das die Zivilisation in Form von Kapitalismus, Korruption und Ausbeutung – gepaart mit Armut und Zerstörung – Einzug gehal-
636 Wimmer: Der König von Mexiko, S. 114 637 Ibid. S. 132f. 638 Ibid. S. 152
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ten hat und das einen insgesamt wenig einladenden Eindruck vermittelt. Wimmer schafft diese Atmosphäre jedoch, ohne sie für eine Zivilisationskritik zu nutzen. Der Protagonist des Romans entscheidet sich bewusst für Mexiko, da der bedrohliche Charakter des Landes auch die Möglichkeit auf Abenteuer und Exotik in sich birgt. – Dinge, die sich in dieser Form in Europa nicht finden. Die Darstellungsweise, die Wimmer für seinen Roman wählt, steht in der Tradition der modernen Massenmedien, was auch den Stil des Werkes prägt. Am Ende kehrt der Protagonist in seine Heimat zurück und verklärt im Gespräch mit einer Frau, die er in München kennenlernt, Mexiko als tropisches Traumland, in dem er zumindest einen Job gehabt und sich in vielen Cantinas die Zeit vertrieben habe.639 Der exotische Reiz, den Mexiko weiterhin auf Europa ausübt, ergibt sich nicht mehr nur aus der wilden und übermächtigen Natur. Auch die hässlichen urbanen Seiten des Landes vermögen es, eine Abenteuerfunktion zu erfüllen. Die Sozialbzw. Zivilisationskritik bleibt aber in den meisten Werken nicht aus, auch wenn sich das von den modernen Massenmedien tradierte Bild Mexikos zunehmend durchsetzt. Mexiko bleibt aber das stilisierte Andere und wird dementsprechend verklärt. Die Geliebte bleibt dem europäischen Eroberer unterlegen. Sie ist sanft, dann exotisch, mitunter auch politisch, oft sogar wild und kann auch schwierig sein, da sie – der Inbegriff von Ursprünglichkeit und Reinheit – zunehmend westliche Gepflogenheiten annimmt. Die Kluft zwischen der Geliebten und dem Eroberer – zwischen Mexiko und Europa – wird geringer, die Grenzen verwischen, Unterschiede verschwimmen. Die Stilisierung muss markanter, oft auch partieller werden, um noch zu funktionieren. Solange Europa in Mexiko noch das Andere finden kann, solange die Geliebte exotisch ist, bleibt die Liebesbeziehung zwischen Europa und Mexiko bestehen. Die Perspektive bleibt egozentrisch und eurozentrisch. Mexiko ist und bleibt Europas (verlorenes) Paradies. Es bleibt ein exotischer Kontrastort und Sinnbild für eine bessere und ursprüngliche Welt – auch wenn diese bereits verloren ist. Das Paradies ist verloren, es lebe das Paradies!
639 Wimmer: Der König von Mexiko, S. 254
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Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3
Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Thorsten Carstensen (Hg.)
Die tägliche Schrift Peter Handke als Leser 2019, 386 S., kart., Dispersionsbindung 39,99 € (DE), 978-3-8376-4055-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4055-1
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Literaturwissenschaft Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)
Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 2019, 398 S., kart., 12 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4698-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4698-0
Jürgen Brokoff, Robert Walter-Jochum (Hg.)
Hass/Literatur Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte 2019, 426 S., kart., 2 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4645-0 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4645-4
Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10. Jahrgang, 2019, Heft 1 2019, 190 S., kart., 5 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-4459-3 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4459-7
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