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German Pages 308 Year 2019
Monika Pipping de Serrano Mexikanische Identitätszeichen
Editionen der Iberoamericana Ediciones de Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kritik /Historia y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft /Lingüística Serie C: Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad Serie D: Bibliographien /Bibliografías Herausgegeben von ¡Editadopor: Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann A: Literaturgeschichte und -kritik /Historiay Crítica de la Literatura, 23
Monika Pipping de Serrano
Mexikanische Identitätszeichen Studien zum erzählerischen Werk von José Revueltas (1914-1976)
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2000
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Iberoamericana / Editionen / A] Editionen der Iberoamericana = Ediciones de Iberoamericana. Serie A, Literaturgeschichte und -kritik = Historia y crítica de la literatura. - Frankfurt am Main : Vervuert Reihe Editionen, Serie A zu: Iberoamericana. - Hervorgegangen aus: Iberoamericana / Editionen / 0 3
23. Pipping de Serrano, Monika: Mexikanische Identitätszeichen. - 2000 Pipping de Serrano, Monika: Mexikanische Identitätszeichen : Studien zum erzählerischen Werk von José Revueltas (1914 - 1976) / Monika Pipping de Serrano. - Frankfurt am Main : Vervuert, 2000 (Editionen der Iberoamericana : Serie A, Literaturgeschichte und -kritik ; 2 3 ) Zugl.: Augsburg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-89354-881-5
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2000 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, unter V e r w e n d u n g von: José d e m e n t e O r o z c o , C o r t é s und
Malinche
Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
DANKSAGUNG Mein Dank gilt an dieser Stelle insbesondere meinem literaturwissenschaftlichen Lehrmeister Prof. Thomas M. Scheerer von der Universität Augsburg, der meinen akademischen Werdegang geduldig und unbeirrt förderte. Für seine ermutigende Unterstützung und für seine konstruktive Kritik, mit der er auch den Entstehungsprozeß der Studie begleitete, bedanke ich mich aufs herzlichste. Weiterhin gilt mein Dank Prof. Dietrich Rall von der Universidad Autónoma de México, der mir in zahlreichen Gesprächen grundlegende Denkanstöße gab und die Gelegenheit bot, mich mit Rezeption und Interpretation mexikanischer Autoren auseinanderzusetzen. Ebenso danke ich Prof. Volker Hinnenkamp von der Universität Augsburg, der meinen Blick für Fragestellungen zu interkultureller Wahrnehmung und Kommunikation schärfte und mich ermutigte, auch unkonventionelle Wege in den Wissenschaften zu begehen. Mein Dank gilt nicht zuletzt auch meiner langjährigen Studienfreundin Esther Hutter, deren kritischer Lektüre ich wertvolle Anregung zu Inhalt und Gestalt der Arbeit verdanke. Für ihre liebevolle Anteilnahme und Unterstützung danke ich meinen Großeltern Almuth und Erich Nowak, meinen Eltern Sabine und Horst Pipping und meinem Mann Heberth Serrano Coronado.
1
Inhalt
INHALT
I.
EINLEITUNG
11
1.1.
Methodische Vorbemerkung
13
1.2.
Die Herausforderung des Fremden
19
1.3.
Lebendige Religiosität und kollektive Symbolik
24
1.4.
Der "reale" Blick bei Revueltas
26
II.
LEGITIMATIONSSTRATEGIEN DER ELITEN IM POSTREVOLUTIONÄREN MEXIKO
2.1.
Der negative Ursprungsmythos der Conquista in seiner kulturanthropologischen Bedeutung
2.2.
41
Die Herausforderung des kulturellen Erbes der Mestizisierung
2.4.
37
Die Funktionalisierung der Mexikanischen Revolution als Ursprungs- und Erfolgsmythos
2.3.
33
44
Die Funktionalisierung der Kunst im offiziellen politischen Diskurs
49
Monika Pipping de Serrano
8
III.
EL LUTO HUMANO
57
3.1.
Die Vergessenen der Geschichte
64
3.1.1. Dunkle Symbolik oder el lado moridor der
3.2.
"Fluß-Schlange"
65
3.1.2. Úrsulo: Leben in Einsamkeit
73
3.1.3. Calixto: Im Fest-Rausch der Revolution
78
Die Auserwählten des Fatum
81
3.2.1. Natividad: Vorbote des nuevo ser
82
3.2.2. Adán: Der verlorene Mensch
90
3.2.3. Die Negation des Eroberungsmythos
97
3.2.4. Der Priester: Zeichen religiöser Entwurzelung 3.3.
102
Dekonstruktion mythopoetologischer Beglaubigungsdiskurse der Mexikanischen Geschichte
111
3.3.1. Der Kampf um den "wahren" Glauben
112
3.3.2. Der Exodus des mexikanischen Volkes
117
3.3.3. Die menschliche Trauer
123
IV.
LOS DÍAS TERRENALES
135
4.1.
"Unbekannte" soziale Realitäten
142
4.1.1. Die "primitive" Lebenswelt der Indianer
143
4.1.2. Schauplätze menschlicher Erniedrigung in der "Zivilisation" 4.2.
148
Dekonstruktion stereotyper geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibung
155
Inhalt
9 4.2.1. Geschlechtsspezifische Rollenzuweisung bei den unterprivilegierten sozialen Gruppen
164
4.2.2. Dekonstruktion von hombría und mujer abnegada innerhalb des kommunistischen Zirkels
168
4.2.3. Manifestation traditioneller Personalideologeme
4.3.
der Eliten: macho, mujer sufrida und amante
175
Drei Diskurse über den Sinn der menschlichen Existenz
184
4.3.1. Das Sein in göttlicher Glaubensgewißheit: el dios antiguo
188
4.3.2. Das Sein in säkularisierter Glaubensgewißheit: una máquina de creer
199
4.3.3. Die Botschaft des Todesengels
220
V.
E L APANDO
245
5.1.
Das Gefängnis: Metapher der Erkenntnisfähigkeit
5.2.
VI.
des Menschen
250
5.1.1. Die Bestie Mensch: Violenz und Eros
253
5.1.2. Der Trieb der Freiheit
257
5.1.3. Die entfremdete Geometrie: geometría enajenada
264
Die Determination der Unfreiheit
267
5.2.1. Das Stigma der Vereinzelung
269
5.2.2. Wege aus der Isolations-Haft
273
RESÜMEE
279
10
Monika Pipping de Serrano
VII.
LEBENSDATEN
287
Vffl.
LITERATURVERZEICHNIS
289
8.1.
Primärtexte
289
8.1.1. Erzähltexte
289
8.1.2. Theoretische und politische Schriften
290
Sekundärliteratur
290
8.2.
I.
L
Einleitung
11
EINLEITUNG
Der mexikanische Autor José Revueltas (1914-1976) ist im deutschen Sprachraum noch wenig bekannt und wurde bislang auch von der deutschen bzw. europäischen Forschung zur lateinamerikanischen Literatur kaum beachtet.1 Bis Anfang der 70er Jahre hatte das literarische Werk Revueltas' auch in Mexiko nur spärlich Anerkennung gefunden. Während der ersten Phase seines literarischen Schaffens, die in den 40er Jahren anzusiedeln ist, erfuhr es nur punktuell die Anerkennung seiner Zeitgenossen. Die Kritik stimmte weitgehend darin überein, daß seine cuentos von Dios en la tierra (1944) zu Material de los suenos (1974) allen literarischen Ansprüchen gerecht würden, während sie seine Romane ob eines vermeintlichen Dilettantismus schmähte. Viele stimmten mit dem Urteil des jungen Octavio Paz überein, der El luto fiumano (1943) insgesamt als mißglückten Versuch eines zu ambitionierten Anfängers aburteilte, auch wenn er das Bestreben Revueltas' würdigte, die Grenzen der als minderwertig empfundenen nationalen Literatur2 zu sprengen: "De cualquier modo
1
Zu den wenigen Ausnahmen zählen Borsö: Mexiko jenseits der Einsamkeit - Versuch einer interkulturellen Analyse. Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus. Frankfurt/M.: Vervuert 1994. Janik: Stationen der spanischamerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte: Der Blick der anderen - der Weg zu sich selbst. Frankfurt/M.: Vervuert 1992. Als Beispiel für die Diktion der kritischen Selbstreflexion mit Blick auf die nationale mexikanische Literatur soll folgende Überlegung von Sefchovich genügen: "La pobreza, el carácter conservador y el tono mesurado de las letras mexicanas, se pueden explicar pues por varias razones: por la herencia colonial, por nuestra eterna dependencia, por la economía siempre en bancarrota y la miseria de las mayorías, por nuestro siempre presente afán de ser modernos y de quedar bien con el mundo, y también por algunos mitos que como individuos nos determinan: El peso de las figuras paterna y materna, el peso de la servidumbre atávica, el peso de la religión católica impuesta con sangre, el peso de lo sagrado y por último, la invasión del modo de vida y la economía norteamericana" (Sefchovich 1987: S. 238).
12
Monika Pipping de Serrano
Revueltas es el primero que intenta entre nosotros crear una obra profunda, lejos del costumbrismo, la superficialidad y la barata psicología reinantes". 3 Auch in den folgenden Jahrzehnten sollte das erzählerische Werk von Revueltas literaturkritische Geringschätzung erfahren. 4 Erst als die studentische Bewegung von 1968 Revueltas zu ihrem Symbol erhob und die Generación de la Onda sein Schaffen aufgrund von ethischen und ideologischen Fragen zu ihrem Vorbild deklarierte, geriet sein Name einem breiteren Publikum ins Bewußtsein. Von diesem Zeitpunkt an wandte man sich mit wachsendem Interesse seinem literarischen Werk zu. Ab den 70er Jahren erschienen einige monographische Studien, die aus unterschiedlichen weltanschaulichen
Positionen
heraus
das
Gesamtwerk
neu
reflektieren. 5
Der
uruguayische Kritiker Jorge Ruffinelli (1977) bestätigte als erster die revolutionäre, avantgardistische und transgressive Schreibpraxis des Autors. 6 Im Zuge der Neubewertung des literarischen Gesamtwerkes revidierte auch Paz (1979) seine Kritik von 1943 und stellte nun die innovative Leistung von El luto humano in den Vordergrund: "En este sentido no me equivoqué: la aparición de El luto humano, publicada unos años antes que Al filo del agua (1947), fue una ruptura y un comienzo".7
Nachfolgende Analysen gelangten zu einer grundsätzlichen Neubewertung der literarischen Praxis Revueltas' und wiesen ihm einen Platz an der Spitze der bedeutenden
mexikanischen
Autoren zu.
1984 erklärte Arturo
Melgoza
Revueltas aufgrund besonderer stilistischer Merkmale zum Erneuerer der Lite-
3 4 5
6
7
Paz 1987: S. 574. Vgl. Paz 1987: S. 570-584. Seit 1978 erscheint im Verlag Era sukzessive das Gesamtwerk von Revueltas.
Ruffinelli, Jorge: José Revueltas, ficción, política y verdad. Xalapa: Universidad Veracruzana 1977. Paz 1987: S. 575.
I. Einleitung
13
ratur Mexikos. 8 So avancierte der einst unbeachtete Autor innerhalb kürzester Zeit zu einem anerkannten Wegbereiter der mexikanischen nueva novela. Die widersprüchliche Wertschätzung hat mein Interesse geweckt, dem Sinneswandel nachzuforschen. Ziel der vorliegenden Studie ist es, das Werk Revueltas' im Spiegel moderner literarischer Theorien auszuleuchten, und damit einen Beitrag zu leisten, ihn auch hierzulande entsprechend seines Ranges als Erneuerer der mexikanischen Literatur in die Reihen der bedeutenden lateinamerikanischen Autoren aufzunehmen. 9 Die jähe Aufnahme von José Revueltas in den Kanon der offiziell als herausragend eingestuften mexikanischen Schriftsteller erlaubt Rückschlüsse, bzw. zwingt zunächst zu Rückfragen, die Uber die Eigendynamik des literarischen Feldes hinausgehend nach Veränderungen der Kontextbedingungen innerhalb der mexikanischen Gesellschaft suchen. Schuldet sich der plötzliche Erfolg einem fundamentalen Wandel des Glaubenssystems und einer modifizierten Wahrnehmungsdisposition der mexikanischen Leserschaft? Oder trugen vielmehr politische Interessen dazu bei, den literarischen Outsider als Kulturgut zu legitimieren?
1.1.
Methodische Vorbemerkung
Im heutigen soziologischen Verständnis von Literatur werden Texte nicht länger als Abbild historischer Welten verstanden. Man geht vielmehr von einer
Melgoza reiht Revueltas in den Kanon der amores mayores des mexikanischen Re-
volutionsromans ein. Melgoza, Arturo: Modernizadores. Rulfo, Revueltas, Yañez. 9
México 1984. Vgl. dazu auch Borsö Borgarello 1992c: S. 202ff.
14
Monika Pipping de
Serrano
engen interaktiven Verflechtung der Trias Autor, Werk und Leser aus.10 Dieses Modell erlaubt es, den Text -das literarische Produkt- als ein Kommunikationsmedium zu begreifen, "das soziale Wirklichkeit in unterschiedlicher Weise verarbeitet und gebrochen zur Darstellung bringt".11 Das bedeutet für eine kritische Auseinandersetzung mit gegebenen Textwelten, daß zwei Aspekte, nämlich literarische Produktion und Rezeption, als typische Handlungsmuster innerhalb eines gegebenen kulturellen Handlungssystems getrennt voneinander bestimmbar werden.12 Wenn man davon ausgeht, daß das Schreiben eines Textes immer im Hinblick auf die ihm je spezifisch zugedachte Funktion erfolgt, erscheint es für die Decodierung einer Textwelt vielversprechend, u.a. Fragestellungen in die Betrachtungen einzuschließen, die die Motive der Textproduktion beleuchten: Unter welchen historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgt die spezifische literarische Produktion des Autors und welche Zielsetzungen leiten ihn dabei? Welche Haltung kennzeichnet ihn gegenüber der außerliterarischen Wirklichkeit und in welcher Weise findet diese ihren Niederschlag in der Fiktion? In welcher Beziehung steht also sein subjektives Wissen zum gesellschaftlichen Wissensvorrat seiner historischen Situation? Auf der anderen Seite stellt sich die Frage nach dem potentiellen Leser und den Bedingungen des Rezeptionsaktes. Versteht man den Lektüreprozeß im Sinne von Jauß als einen kommunikativen Akt, geht man also von einem dialogischen Wechselverhältnis zwischen Text und Leser aus, so kann man den Akt des Lesens als einen Sinn-Bildungsprozeß begreifen, als eine "zumindest approxima10 11 12
Vgl. z.B. Fohrmann/Müller 1988. Bogdal 1990. Müller; J.E. 1981. Dömer/Vogt 1990: S. 138. Vgl. dazu den Ansatz von Karlheinz Stierle, der den Handlungsbegriff zur tragenden Kategorie literaturwissenschaftlicher Textmodelle erklärte: "Versteht man Texte als Fixierungen von kontinuierlichen Sprachhandlungen, so muß der allgemeinste Bezugsrahmen für die Konstitution von Texten eine Theorie der Handlung sein" (Stierle 1975a: S. 14).
I.
Einleitung
15
tive Erarbeitung des Textsinns".13 Entscheidend ist, daß der reale Leser mit seinem Erwartungshorizont in die rezeptiven Vorgänge einbezogen wird. Sein Vorwissen und seine Erwartungen lenken den Verstehensprozeß bei der Lektüre: "Da die Erwartungen eines Rezipienten ja durch sein soziokulturelles Umfeld und Wissen geprägt sind, steuert letzteres demnach die unterschiedliche Konkretisierung bzw. Aktualisierungeines literarischen Werkes".14
Auch wenn man der grundsätzlichen Offenheit eines Kunstwerks mit einer diese notwendig begrenzenden Erwartungshaltung begegnet, ergibt sich daraus dennoch eine prinzipiell unbegrenzte Anzahl möglicher Lesarten. Das erinnert unwillkürlich an Borges, der pointiert die These formulierte, alle Bücher seien vom selben Autor, aber die eigentliche Schöpfung sei die Lektüre: "Por el camino de la lectura (...), Borges ha encontrado (...) una respuesta a su total aislamiento, un ámbito para la comunión. Ya que el verdadero creador de un texto no es el autor sino el lector, todo lector es todos los autores. Todos somos uno".15
Autor und Leser begegnen sich auf der Ebene der Dechiffrierung, der Interpretation und Neuschöpfung. Ihre Lesarten können nie übereinstimmen, sondern werden in dialektischer Widersprüchlichkeit lebendig. Die Natur aller Interpretation ist notwendig von flüchtiger Art. Der vom Autor intendierten Sinngebung kann daher weniger als Maßstab denn als Vergleichshintergrund und als Verständnisrahmen für die vom Leser mit dem Text vorgenommenen Sinngebungen Bedeutung zugesprochen werden.16
13 14 15 16
Fohrmann/Müller 1988: S. 9. Sartingen 1995: S. 199. Rodríguez Monegal zitiert nach Schräder 1983: S. 826. Siehe Gumbrecht 1975: S. 398ff; und Gumbrecht 1978b.
16
Monika Pipping de Serrano
Revueltas engagierte sich über drei Jahrzehnte, von Beginn der 40er bis Anfang der 70er Jahre, in den Feldern von Politik und Kultur.17 Seine literarische Produktion umfaßte neben Romanen und Kurzgeschichten auch Theaterstücke und Drehbücher sowie unzählige politische, philosophische und kulturkritische Essays. Dennoch gilt er als autor minor, wird also zu jener Kategorie der scheinbar minder bedeutsamen Schriftsteller gezählt, die ihr Dasein im Schatten der Vertreter der mexikanischen Höhenkammliteratur -man denke beispielsweise an Juan Rulfo, Octavio Paz oder Carlos Fuentes, um nur die international bekanntesten Namen zu nennen- fristen müssen. Wenn man jedoch mit Foucault von einer "Heterogenität der Diskurse" ausgeht, in die er das sich artikulierende Auftreten von Lebensformen und Wirklichkeitsauffassungen paradigmatisch faßt, verspricht die Beschäftigung mit diesem marginalisierten Autor einen Zugang zu jenen literarischen und außerliterarischen Lebenswirklichkeiten, der von den zur gesellschaftlichen Elite des Landes zählenden Autoren kaum ermöglicht werden kann. 18
17
18
Revueltas, der aus einem bürgerlich-liberalen, intellektuell-künstlerisch ambitionierten Elternhaus stammt, sucht bereits als Jugendlicher den Anschluß an die im Untergrund arbeitende Kommunistische Partei Mexikos, den Partido Comunista de México (P.C.M.). Im Gespräch mit Elena Poniatowska erzählt er von den Jahren seiner intellektuellen Orientierungssuche: "De los nueve a los once aflos fui muy religioso y tuve una crisis espiritual grave (...): al extremo de que (...) empecé a buscar a Dios en todas las religiones; me pasé tres aflos en la biblioteca estudiando religiones para ver cuál era la que me convenía y así encontré el materialismo vulgar, luego el materialismo dialéctico socialista de Kautski, hasta caer en el marxismo propiamente dicho" (Elena Poniatowska: Vivir dignamente en la zozobra (1975). In Sáinz 1977: S. 15). Das Verhältnis zur mexikanischen Linken bleibt, wie wir noch sehen werden, stets konfliktiv. Andererseits büßt er sein öffentliches Eintreten für den Kommunismus mit einigen längeren Gefängnisstrafen. Vgl. dazu z. B. Sefchovich. Sie konstatiert, daß die Erzählwelten Revueltas' das Volk in den Mittelpunkt rückten: "(...) para tocar fondo en los problemas humanos de un México cuya perspectiva no se da desde la burguesía" (Sefchovich 1987: S. 103ff). Die hier formulierte Opposition von Volk und Bürgertum entspricht dem marxistischen Ansatz im Sinne der Definition von Dussel (siehe unten).
I. Einleitung
17
Die Analyse der Erzählstrategien eines Autors fordert eine zumindest ungefähre Vorstellung von den historisch-situativen Rahmenbedingungen ihrer Produktion. Es ist jedoch unmöglich, alle Faktoren des historischen Horizonts des postrevolutionären Mexiko in der ersten Jahrhunderthälfte zu erfassen. Aus der Totalität möglicher Einzelaspekte werde ich mich in der vorliegenden Arbeit auf den Aspekt des offiziellen politischen Diskurses konzentrieren. Mit Blick auf die Außenseiterposition des Autors sollen dabei insbesondere jene Diskursformationen beleuchtet werden, die von den Eliten zur Durchsetzung und Erhaltung ihrer konventionalisierten bzw. institutionalisierten Macht funktionalisiert wurden und zum Teil bis heute als Legitimationsbegründung herangezogen werden. Bourdieu hat nachgewiesen, daß und wie der öffentliche Diskurs durch Machtmechanismen reguliert wird. Auf die Situation des postrevolutionären Mexiko übertragen, läßt sich zeigen, daß die sich etablierenden bürgerlichen Eliten konkrete Strategien entwickelten, um einen ihren Interessen entsprechenden offiziellen Diskurs herauszubilden. Dies zeigt sich in den Entwürfen und der Verbreitung moralisch-ethischer Topoi, die in psychologischer Hinsicht als Identifikationsmuster für die Bevölkerung als dienlich erachtet wurden. Diese Topoi finden sowohl in sprachlicher als auch visualisierter Form ihre Konkretisierung. Eine herausragende Bedeutung kommt
in Mexiko dabei der
Wandmalerei der Muralistas zu. Die Verbreitung solcher Identifikationsmuster muß nicht zwangsläufig bedeuten, daß auf diesem Wege eine umfassende Kontrolle der beherrschten Schichten gewährleistet wird. Man kann jedoch davon ausgehen, daß diese Bilder oder Vorstellungen Einfluß auf die Selbstdefinition der Regierenden und auf das sozio-kulturelle Leben der Bevölkerung nahmen. Die Wirkung von Identitätsbildern läßt sich zwar schwerlich exakt nachweisen. Im Falle der mexikanischen ist jedoch ihre Präsenz in Literatur und Kunst besonders
18
Monika Pipping de Serrano
augenfällig. Aus den rhetorischen Legitimationsstrategien der herrschenden Schichten Mexikos läßt sich eine Diskursformation herausfiltern, die als übergeordneter gesellschaftlich kultureller Wissensvorrat im nationalen Diskurs wirkte. Wie ich im Kapitel II "Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko" aufzeigen werde, basieren die einzelnen Dispositive zu einem großen Teil auf mythisierenden Interpretationen der Vergangenheit und kreisen zugleich beständig um die Problematik einer spezifisch mexikanischen Identität. Eine sich primär an der Vergangenheit orientierende Rhetorik schließt jedoch die Auseinandersetzung mit aktuellen sozialen und politischen Problemen weitgehend aus. An diesem Punkt setzt daher auch die Kritik derjenigen an, die für die reale Not der Bevölkerungsmehrheit politische und kulturelle Lösungen einfordern. Zu diesen gehörte auch Revueltas, der sich nicht nur tätig -als militanter Kommunist- für die Belange der "Vergessenen" der Geschichte, sondern -überzeugt von der Wirkungskraft des Wortes- für eine bewußtseinschaffende Literatur engagierte: "Pienso, en principio, que un artista contemporáneo que no quiera hacerse cómplice de las mentiras y las convenciones debe gritar a los demás su propia rebeldía; inculcarles la idea de que vivimos en un mundo ya insoportable (...) y que si las cosas no cambian, ni surge en los hombres una nueva conciencia, acabarán muy pronto por dinamitarse. Hoy estamos unidos por el miedo y el odio, no por el amor como quería la doctrina cristiana".19
Bourdieu hat ausgeführt, daß "das Schreiben eines literarischen Textes als Objektivation eines bestimmten Habitus betrachtet werden [kann]". 20 Im Falle von Revueltas liegt die Vermutung nahe, daß u.a. seine gegen das Herrschaftssystem des Partido Revolucionario
Institucional (P.R.I.) gerichtete Grundhal-
tung in seiner literarischen Produktion ihren Niederschlag findet und er damit
19
Revueltas: A propósito de Los Días Terrenales. In O.C. 18: S. 23-46, hier S. 24.
20
Dorner/Vogt 1990: S. 138.
19
I. Einleitung
im Widerspruch zum sanktionierten öffentlichen diskursiven Formationssystem steht. Unter dieser Prämisse möchte ich die für diese Forschungsarbeit richtungsweisende These formulieren: Das literarische Werk Revueltas' wendet sich gegen den herrschaftstabilisierenden Diskurs der Eliten.
1.2.
Die Herausforderung des Fremden
Der literarischen Analyse sei noch eine Überlegung zur Wahrnehmung eines mexikanischen Autors aus europäischer Sicht vorangestellt. Theorien und Reflexionen sollten sich gegenüber dem "Anderen", dem "Fremden", bewähren oder korrigieren. Die Kultur(en) Mexikos geraten für einen Europäer zur besonderen Herausforderung, da abendländische Weltentwürfe gespiegelt und doch gleichzeitig durch autochthone Elemente geprägt bzw. verfremdet erscheinen. Es sei daher an das mahnende Wort Ettes erinnert: "Der unbewußten Versuchung eurozentrischen Denkens mag wohl nur dadurch streckenweise erfolgreich begegnet werden, daß die eigene Geschichte, der eigene Standpunkt und die eigene Beziehung zur berichteten Geschichte -unter Einschluß der persönlichen Betroffenheit- mitgedacht werden".21
Das wird um so deutlicher, wenn man versucht, sich umgekehrt in eine lateinamerikanische
Perspektive
hineinzuversetzen.
Aus dieser
Sicht ist das
Europäische das Fremde, das in einen mestizischen Kontext integriert wird. Wenn man mit Foucault darin übereinstimmt, daß "gewisse Regeln und Regelmäßigkeiten" eine Gruppe von Äußerungen als Diskurs formieren, bedeutet das ja nicht, daß Wissen nur in einer spezifischen Organisationsform erscheint, sondern daß Organisationsformen von Wissen sich in allen möglichen Diskursen manifestieren können. Das, was nach Foucault gleichsam im Zusammenhalt 21
Ette 1991: S. 164.
20
Monika Pipping de Serrano
von Wörtern und Dingen den bloßen Zeichencharakter der Sprache überschreitet, um eine Aussage zu formulieren, ist die diskursive Praxis.22 Macht man sich die Vorstellung einer diskursiven Praxis zu eigen, wird es möglich, monolithische Konstruktionen (wie beispielsweise des "marxistischen" Diskurses) aufzugeben und von einer Diskursform als der einzig möglichen und wahrhaften auszugehen. Es kann dann nuanciert werden zwischen
diskursiven
Regelmäßigkeiten im Sinne eines Foucaultschen Archivs und dem spezifischen Niederschlag in den subjektiven und objektiven Optionen eines Autors. Unter dieser Prämisse wird es vermeidbar, literarische Texte aus Lateinamerika als -mehr oder weniger gelungene- Konkretisationen eines vorgegebenen, aus Europa importierten, philosophischen Substrats zu beurteilen, und sie als Werke aus eigenem Recht zu betrachten.
In den Textwelten Revueltas' sind hauptsächlich zwei theoretisch-philosophische Strömungen des Abendlandes erkennbar: Der Autor setzt sich einerseits zum Teil explizit mit dem Marxismus als Theorie sowie mit dessen konkreten Realisierungsbemühungen in Mexiko auseinander. Andererseits findet sich in seinen Romanen existentialistisches Gedankengut. Dies wirft die Frage auf, ob es sich hier um eine epigonenhafte Aneignung existentialistischer Praxis französischer Provinienz (Sartre und Camus) handelt oder ob nicht vielmehr eine 22
Vgl. dazu einführend Kammler 1990: S. 38ff. Foucault definiert "Diskurs" u.a. als eine Menge von Aussagen, die dem gleichen Formationssystem zugehören. Dieses ist insgesamt als eine bestimmte Aussagen-Praxis beschreibbar, die wiederum durch spezielle Regeln gekennzeichnet ist. Zu einem je spezifischen Diskurs gehört eine Vielzahl konkreter Äußerungen und Texte, denen gemeinsam ist, daß sie "sämtlich aufgrund bestimmter institutioneller Regeln produziert werden müssen". Jeder Sprecher weiß, daß er nicht zu jedem beliebigen Zeitpunkt und an jedem beliebigen Ort sagen darf, was er will. Das deutet auf die Machtmechanismen, mit deren Hilfe sich eine diskursive Praxis gegen andere abschottet. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France: Die Ordnung des Diskurses (1971) schildert Foucault Prozeduren der Ausschließung, die in einer Gesellschaft wirken; wie z.B. Verbote, Tabus, Rituale, oder das bevorzugte Rederecht.
I. Einleitung
21
eigenständig mexikanisch geprägte existentialistische Sicht auf die Welt vorliegt. Zu bedenken wäre dabei, daß die philosophische Position Sartres in der Frühphase des Schaffens von Revueltas (1940-43), in der sein bedeutendster Roman El luto humano entstand, noch gänzlich unbekannt war und erst ab Mitte der 40er Jahre an Resonanz gewann. 23 Ich gehe daher davon aus, daß Revueltas kongenial zu Sartre eine spezifische "existentialistische" Weltsicht vertritt, die er genuin aus der Betrachtung der politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen seines Landes entwickelt. Dafiir spräche auch, daß die spanisch-lateinamerikanische Tradition ihrerseits auf Denker wie Miguel de Unamuno oder José Ortega y Gasset verweisen kann, die im Vorfeld der europäischen Existenzphilosophie und des Existentialismus angesiedelt sind. 24 Zeitzeugen wie Octavio Paz haben beispielsweise die Bedeutung des spanischen
23
24
Es kann davon ausgegangen werden, daß Sartre 1943 in Mexiko kaum bekannt war, da seine theoretische Schrift L' Existentialisme est un Humanisme erst 1949 in Mexiko veröffentlicht wurde. Revueltas hat sich nach eigenen Angaben erst in den 50er Jahren mit Sartre befaßt. Marilyn Frankenthaler hat in ihrer Studie das existentialphilosophisch-marxistische Denken im Gesamtwerk minutiös analysiert und Parallelen zum Gedankengebäude Sartres aufgezeigt. Während Sartre vom existentialistischen Standpunkt der Kontingenz des menschlichen Seins zum marxistischen Gedanken der Notwendigkeit politischer Verpflichtung gekommen sei, sei Revueltas den umgekehrten Weg gegangen. Ausgehend von einer ausgeprägt politischen Ethik habe er sich zur existentialen Verantwortung des Einzelnen orientiert. Der Leitsatz des späten Sartre, "man müsse den Marxismus existentialisieren, um den Widerstreit zwischen Authentizität und Marxismus zu lösen", ist mit Sicherheit auch auf den späten Revueltas applizierbar. Villoro bemerkt in seinem historischen Abriß Génesis y proyecto del existencialismo en México, von 1949 "Las primeras ideas afines al existencialismo o francamente existencialistas, llegaron seguramente a México a través de estudios diversos. Dostoyewsky, Unamuno, fueron muy leídos; Ortega, con sus geniales anticipaciones y sus agudos atisbos, señalaba, junto con aquéllos, hacia la nueva dirección" (Villoro 1949: S. 236). Vgl. auch Wentzlaff-Eggebert, Harald: Relativierungen des Existentialismus aus spanisch-lateinamerikanischer Sicht (Guillermo de Torre, Alejo Carpentier und Octavio Paz). In Harth/Roloff 1986: S. 211-223.
22
Monika Pipping de Serrano
Denkers Ortega y Gasset für den Zeitraum der 20er und 30er Jahre in den gebildeten Kreisen Mexikos bzw. Hispanoamerikas betont. 25 Mit Blick auf die Bildungsgeschichte des Autors liegt aber auch die Vermutung nahe, daß Revueltas Uber seine engagierte Auseinandersetzung mit russischer Literatur -Dostojewski, Tolstoi, Kosik- zu einem Menschenbild gelangte, das eine Parallele zu den Positionen des Existentialismus aufdrängt. 26 Es ist bekannt, daß Revueltas sich über viele Jahre mit dem Werk Dostojewskis auseinandersetzte und ihn als Lehrmeister in ethischen Fragen wie der Problematik der menschlichen Freiheit anerkannte. Die Romanwelten Revueltas' sind jedoch nicht primär oder gar ausschließlich durch ein (rein) existentialistisches und/oder marxistisches Inventar geprägt. Auch kulturelle Zeichen des mestizischen Mexiko finden sich in stilistisch auffälliger Weise aktualisiert. Diese weisen auf die indigenen Wurzeln des heutigen Mexiko. Präkolumbische religiöse bzw. "mythische" Glaubensvorstellungen überlebten die Conquista und treten heute in Form von kulturellen Zeichen an die Oberfläche. Zwar kann ihre Bedeutung innerhalb des ursprünglichen kulturellen Gefüges selten eindeutig zurückverfolgt werden, jedoch behaupten sie ihre je spezifische Funktion im aktuellen alltäglichen Geschehen. Die Präsenz indigener Glaubensvorstellungen nimmt in der mexikanischen Alltagskultur wie in rituellen Festen zum Teil in geradezu plakativer Form 25
26
Paz führt den großen Einfluß Ortegas auf die von ihm herausgegebene Revista de Occidente zurück, die den Stil der Zeit deutlich prägte. Siehe Paz 1980: S. 173. Es sei noch angemerkt, daß sich in Mexiko das existentialistische Denken mit der philosophischen Tradition um die Frage des lo mexicano verband: "Con ellos la actividad tendiente a elaborar una filosofía de lo mexicano pasó de una orientación preferentemente fenomenológico-esencialista a una orientación preferentemente fenomenológico-existencialista" (Gaos 1980: S. 83; zitiert nach Negrín 1995: S. 297). Dafür spräche, daß diese russischen Autoren in ihren Werken die soziale und psychologische Situation des Menschen auch philosophisch reflektieren. Außerdem stellen sie die Gültigkeit europäischer Lösungen für ihr Land in Frage. Man denke nur an die Figur des Lewin in Tolstois Anna Karenina.
I.
Einleitung
23
Oberflächengestalt an. Es ist allerdings nur bedingt möglich, diesen kulturellen Zeichen eine eindeutige Konnotation zuzuschreiben, da sie je nach Kulturträger mit durchaus unterschiedlichen Inhalten belegt sind.27 Ein Beispiel aus der Alltagspraxis des Volkes soll diese synkretistischen Verschmelzungstendenzen verdeutlichen. Sowohl der indigene als auch der europäische kulturelle Kontext kennt den Totenkopf, die calavera, als Todessymbol. Bei den Indianern ist aber dieses Todeszeichen im Gegensatz zu der Glaubensvorstellung katholischchristlicher Prägung seit jeher positiv besetzt.28 Heutzutage kann man in Mexiko am 1. November, dem día de los muertos, den Totenkopf als Süßigkeit in unzähligen Variationen erwerben und verspeisen. In die Interpretation des mexikanischen Autors werde ich daher auch die Möglichkeit einbeziehen, daß er im Rückbezug auf indianische Wurzeln eine existentialistische Form der Wahrnehmung menschlicher Wirklichkeit kennengelernt hat. Die Erkenntnisse Uber die präkolumbinen indianischen Kulturen zeigen, daß sich deren Fragen und Ängste auf die Ungewißheiten bezogen, denen sie sich im Diesseits ausgesetzt sahen. So konstatiert Westheim: "El México antiguo no temblaba ante Mictlantecuhtli, el dios de la muerte; temblaba ante esa incertidumbre que es la vida del hombre. La llamaban Texcatlipoca".29 Sie lebten im Bewußtsein, der Willkür der Götter preisgegeben zu sein, und beugten sich der Unbestimmtheit ihrer Existenz:
27
28 29
Vgl. hierzu auch Dussel 1988. Davon ausgehend, daß Kultur als ein sistema de prácticas zu verstehen sei, betont er, daß spezifische Praktiken jeweils von spezifischen Gruppen geteilt werden: "Si 'pueblo' no es la nación como totalidad (...) sino el bloque social de los oprimidos, esto quiere indicar que en el seno del 'pueblo' se incluyen las clases oprimidas del régimen capitalista (obreros asalariados y campesinos), pero igualmente tribus, etnias, marginales desocupados y otros sectores sociales oprimidos (...).'Cultura popular" se distingue así de la cultura transnacional o imperial, de la cultura nacional, de la cultura de las clases dominantes y aun de la cultura de masa" (Dussel 1988: S. 14). Siehe hierzu insbesondere Westheim 1983. Westheim, Paul: La calavera. Lecturas Mexicanas. 1985 [19531]: S. 12.
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"Tezcatlipoca, (...) es el reconocimiento de una realidad: del fenómeno de la fragilidad e inseguridad de toda vida humana. El mito de los pueblos prehispánicos está lejos de interpretar la vida como etapa en el camino hacia una existencia más perfecta y feliz".30
Das Leben bedeutete für sie einen Leidensweg, dessen tieferer Sinn dem Menschen verborgen bleibt. Dennoch orientierten sie ihr Leben auf das Diesseits, in dem der Mensch zu seiner Bestimmung finden muß.
1.3.
Lebendige Religiosität und kollektive Symbolik
Die Verschmelzung christlicher mit indigenen Elementen führte in Mexiko zu synkretistischen Glaubensvorstellungen, die auf einem Kontinuum verwandter Praktiken nebeneinander existieren. Diese Glaubenspraktiken dürfen keinesfalls als folkloristische Einsprengsel mißverstanden werden. Sie sind Ausdruck und Teil der cultura popular, die eine eigene christlich und indigen geprägte religiosidad popular losgelöst von der offiziellen Kirche herausgebildet hat. Diese "lebendige Religiosität" des Volkes stellt einen wesentlichen Teil des prinzipiell unbegrenzten Reservoirs an "Elementarer Literatur"31 zur Verfügung, das ein flexibles System an Kollektivsymbolen bereithält. Link hat grundsätzlich festgestellt, daß die Wirkungsweise der kollektiven Symbolik einer Kultur sich innerhalb eines geschlossenen Kreislaufs bewegt: Ursprünglich in elementar-kulturellen Bereichen entstanden, wird sie im Bereich der institutionalisierten Kunstliteratur weiterverarbeitet und wirkt schließlich auf
30 31
Westheim 1985: S. 16. Das besondere und für eine Gesellschaft unabdingbare Charakteristikum der "Elementaren Literatur" ist darin zu sehen, daß sie geeignet ist, Totalität zu imaginieren und als Sinnschema nutzbar gemacht werden kann. Vgl. dazu Link 1983: S. 26f.
I.
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Einleitung
umgekehrtem Wege in den Bereich der Elementarkultur zurück.32 Auf dem Wege der Transformation ist es möglich, das flexible System der KollektivSymbole in eine Anzahl stabiler, fixierter und institutionalisierter KollektivMythen zu binden. Das sich auf diese Weise konstituierende Netz aus KollektivSymbolen und Kollektiv-Mythen ist tief im gesellschaftlichen Kontext verankert. Lustig hat in seiner umfangreichen Untersuchung Christliche Symbolik und Christentum
im spanischamerikanischen
Roman des 20. Jahrhunderts
nachge-
wiesen, daß viele Autoren des Kontinents -zumeist aufgewachsen in einer christlich geprägten städtischen Kultur-" chrisüiche Symbolik nicht aus religiösem Empfinden sondern unter bestimmten Gesichtspunkten für die narrative Gestaltung heranziehen".33 Bei der erzählerischen Funktionalisierung christlicher Symbolik folgen diese gleichwohl keineswegs einem einheiüichen Schema, sondern verwenden sie in ihrem Sinne als ikonographische Zeichen.34 Gemeinsam ist ihnen allenfalls eine "problematisierend-skeptische Haltung gegenüber dem christlichen Erbe".35 Darüber hinaus finden sie in der biblisch-christlichen Bildlichkeit eine interkontinental verständliche Symbolsprache, die es ihnen erlaubt, die eigene Wirklichkeit auch Außenstehenden begreiflich zu machen und auf diese Weise eine Brücke zur Universalkultur aus spezifisch lateinamerikanischer Perspektive zu schlagen.36
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35 36
Vgl. zu diesem Kreislauf-Modell ebenfalls Link 1983: S. 42. Lustig 1989: S. 41. Vgl. dazu die These von Link/Link-Heer, daß sich die Beziehung zwischen kulturellen Phänomenen -wie z.B. auch literarischen Genres- und sozialen Trägern häufig analog zu der zwischen lautlichen und semantischen Komplexen in der Sprache beschreiben läßt: "eine direkte Beziehung besteht nicht, wohl muß aber eine kulturelle Distinktionsjunktion erfüllt werden" (Link/Link-Heer 1980: S. 381). Lustig 1989: S. 8. Lustig 1989: S. 551.
26
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1.4.
Der "reale" Blick bei Revueltas
Auf die hermeneutische Schlüsselfunktion einzelner Texte und Gestalten der Bibel, wiederkehrende implizite und explizite Deutungsfigurationen für die erzählten Geschichten zu bilden, macht auch Janik aufmerksam. 37 Janik interessiert die intertextuelle Beziehung spanischamerikanischer Romane zum Alten Testament. In diesem Zusammenhang wird er auch bei Revueltas fündig und belegt die intertextuelle Beziehung des Romans Los motivos de Caín (1957) zum Kains-Motiv im alten Testament. 38 Die eigenständige Validität eines biblischen Motivs in einem Roman, der in einer Phase absoluter Linientreue des Autors entsteht und in einer auf den ersten Blick kruden Schwarzweißmalerei der Bestialität imperialer US-Politik den wahren heroischen kommunistischen Menschen als eigentlich menschenwürdig gegenübergestellt, gibt Anlaß, dem Phänomen des "biblischen Fluidums" 39 , das alle Romanwelten von Revueltas durchzieht, erneut aufmerksam zu begegnen. Das Auftreten religiöser Motive im Werk des bekennenden Marxisten hat nicht wenige Kritiker fasziniert. Viele versuchen, den offensichtlichen Widerspruch zur bekundeten Irreligiosität des Autors zu harmonisieren. Beispielsweise sieht Ruffinelli die philosophische Position von José Revueltas auf der Ebene eines "christlich-mexikanischen Fatalismus" angesiedelt, und insistiert in den nach seiner Meinung "profundas raíces cristianas y bíblicas del autor", die Revueltas jedoch mit anderen Vorzeichen versehen habe:
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39
Vgl. Janik 1992: S. 132. Vgl. dazu Los motivos de Caín, Janik 1992: S. 137-140. Janik zerlegt das KainsMotiv auf strukturell bedeutsame Oppositionen und faßt zusammen, daß Revueltas hier mit unüberbietbarem Ernst "das Postulat der Überwindung der Kainsnatur, die jeder Mensch in sich trägt" gestalte (Janik: 1992: S. 140). Siehe Rosario Castellanos, die bemerkt: "Es weht ein starker religiöser Atem (...) durch jede Seite" (zitiert nach Lustig 1989: S. 104).
I. Einleitung
27
"Está irónica recuperación bíblica tiene una clara función en la novela [El luto humano], y es la de significar un fatalismo, también proverbial en la visión mexicana de la vida. (...) Desde ese fatalismo se contempla el 'Génesis oscuro' de México, surgiendo de la sangre y el fuego revolucionarios".40
Erst aus einer gewissen zeitlichen Distanz scheint es dagegen möglich, in den biblischen Ikonographien eine irreligiöse Symbolkraft anzuerkennen.41 So vertritt Frankenthaler die Auffassung, daß die christlichen Elemente des Werkes die Idee der Grunderfahrung der Einsamkeit der conditio humana verstärken: "Del principio al final de la obra de Revueltas, se observa que la presencia de Dios no implica que haya consuelo ni ayuda para el hombre en lo divino. Las referencias y los paralelos a lo divino sólo sirven para reforzar la condición solitaria del hombre en la tierra".42
Die divergierenden Werturteile der Kritik, die den Autor ebenso als "christlichen Marxisten" (Paz), wie "christlichen Nihilisten" (Ruffmelli), "nihilistischen Pessimisten" (Dessau) oder "solidarischen Einzelgänger" (Frankenthaler) klassifizieren, weisen nicht zuletzt auf den jeweiligen zeithistorisch bedingten Wissensfundus des Rezipienten. Es zeigt sich jedoch auch, daß eine größere zeithistorische Distanz wie beispielsweise bei Frankenthaler eine, wenn auch nicht gänzlich unvoreingenommene, so doch emotional eher unbelastete Annäherung an die Romanwelten des auf autodidaktischem Wege geschulten Marxisten Revueltas erlaubt. Er selbst hat sich als eine Instanz der Bewußtwerdung verstanden, und wollte mit seiner literarischen Praxis einen "realen" Blick auf die Wirklichkeit ermöglichen. Zwar errichtete er seine Textwelten auf den
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42
Vgl. Ruffmelli 1977: S. 53-56. Paz bietet 1979 folgende Erklärung: " (...) el catolicismo les dio [a los indios] paradójicamente la posibilidad de reconciliarse con su antigua religión. Tal vez Revueltas pensó que, "en un plano histórico más elevado", el marxismo revolucionario cumpliría frente al cristianismo la misma función que éste había desempeñado ante las religiones precolombinas. Esta idea explicaría la importancia del simbolismo cristiano en la novela" (Paz 1987: S. 576). Frankenthaler 1979: S. 107.
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Grundpfeilern des historisch-dialektischen Materialismus, wandte sich aber von Anfang an gegen die Vorgaben des sozialistischen Realismus, Romanwelten als Abbilder der Realität zu entwerfen und zu begreifen. Nach seinem Verständnis konstituiert die Fiktion eine autonome literarische Realität, una realidad
imagi-
nada43, die unabhängig von der sogenannten Wirklichkeit eigenen Gesetzen gehorcht. Ihm geht es darum, das der Realität inhärente dynamische Moment im Text zu entfalten -"desplegar en los textos la lógica del mundo" 44 - und zu einer logisch kohärenten Synthese zu führen: "Dicho movimiento interno de la realidad tiene su modo, tiene su método, para decirlo con la palabra exacta. (Su lado moridor'. como dice el pueblo.) (...) Donde la realidad obedece a un devenir sujeto a leyes, en que los elementos contrarios se interpenetran y la acumulación cuantitativa se transforma cualitativamente".45 Das entscheidende Moment des Realitätsbegriffs von Revueltas liegt darin, daß er die Realität bzw. die ihr innewohnende Wahrheit, die sich aus Synthesen dialektischer Prozesse ergibt, als dynamisch wandelbar begreift:
43
44 45
Revueltas erläutert im Vorwort zu Los muros de agua (1941) das Wesen und die Aufgabe von Literatur: "Con todo, Los muros de agua no son un reflejo directo, inmediato de la realidad. Son una realidad literaria, una realidad imaginada Pero esto lo digo en un sentido muy preciso: la realidad siempre resulta un poco más fantástica que la literatura, como ya lo afirmaba Dostoievski. Esta será siempre un problema para el escritor: la realidad literariamente tomada no siempre es verosímil, o peor, casi nunca es verosímil" (In O.C. 1: S. 10). siehe Escalante 1979: S. 24 Hervorhebung durch die Verfasserin. Vorwort zu Los muros de agua. In O.C. 1: S. 19. Mit dem Anspruch einer "logisch kohärenten Synthese der Dichtung" stellt Revueltas seinen realismo crítico gegen einen Realismusbegriff, wie ihn die Naturalisten des 19. Jh.s nach seinem Verständnis in ihrer literarischen Praxis umsetzten, ebenso wie gegen den verklärenden Realismus des realismo socialista: "Los escritores romántico-naturalistas del siglo XIX que, además, creían en la perfectibilidad incesante del ser humano, no estaban en condiciones, por ello mismo, de advertir la tendencia de los materiales y personajes con las que trabajaban: sus nobles prostitutas de bellos sentimientos estaban condenadas irremisiblemente a redimirse, sus ladrones se regeneraban y sus malvados recibían el castigo a que eran acreedores. En el siglo XX no otra cosa ha intentado el llamado realismo socialista" (In O.C. 18: El autoanálisis literario: S. 224).
I.
Einleitung
29
" (...) la verdad tiene sus transiciones en parámetros históricos; es relativa, habiendo determinados absolutos también dentro de parámetros históricos. (...) lo histórico en calificativo quiere decir lo condicionado por las relaciones sociales y políticas; separándose éstas, quedan ciertas verdades un tanto permanentes (,..)".46
Aus dialektischer Perspektive kann Wahrheit niemals absolut definiert werden, sondern beruht auf historisch begründeten Vereinbarungen. Das revolutionäre Moment in Revueltas' Romanwelten liegt im daraus resultierenden dynamischen Verständnis von Wahrheit. Andererseits ist auch die Wahrheit der Lektüre eines Romans notwendig einem dialektischen Prozeß zwischen Leser und Werk unterworfen: "Me considero inserto en una literatura cuya actitud intenta despejar lo insólito de la realidad, en las relaciones negativas de ésta con el hombre. Cualesquiera que sean las particularidades políticas, sociales o históricas de dicha realidad. Una literatura que actúa, pues, como dialéctica de la conciencia, como expresión crítica de la enajenación de la realidad y de toda realidad enajenada".47
Vor dem Hintergrund einer offiziellen Rhetorik, die mit mythopoetologischen Deutungen von Geschichte operiert, sollen unter dem Aspekt des Realitätsanspruches von Revueltas die diskursiven Formationen von drei ausgewählten Romanen freigelegt werden. Ein weiteres -implizites- Ziel der AufFächerung der diskursiven Ensembles der einzelnen Textwelten ist, deren Symbolik in ihrer jeweiligen spezifischen Konnotation zu erhellen. Zu diesem Zweck habe ich den Einzelanalysen einen historischen Abriß der Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko vorangestellt. Es sei vorweggenommen, daß das bereits erwähnte Verfahren der Verfremdung kollektiver Zeichen nicht als simple Verkehrung bzw. Umkehrung ihrer Validität zu deuten ist. Eine vorsichtige Herangehensweise an das Zeicheninventar
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47
Revueltas im Interview mit Elena Poniatowska: Vivir dignamente en la zozobra (1975). InSáinz 1977: S. 16. Interview mit Robert Crespi. In Mundo Nuevo: S. 56. Zitiert nach Frankenthaler 1979: S. 176.
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der Romane scheint mir auch insofern geboten, als hier das Schaffen eines Autors über drei Jahrzehnte beleuchtet werden soll, so daß davon ausgegangen werden kann, daß das subjektive Weltwissen eines erkenntnisorientierten Zweiflers wie Revueltas Prozessen des Erkenntniswandels unterworfen ist. Diese finden ihren Niederschlag notwendig in einer veränderten Gestalt und Determination der Zeichen, die Revueltas in seinem erzählerischen Werk aus dem kulturell synkretistischen Fundus mexikanischer Lebenswelten zu einer zunehmend unabhängigen und eigenständigen Ikonographie entwickelt.
Die kritische Lektüre wird sich auf die Analyse von El luto humano (1943), Los días terrenales (1949) und El apando (1969) konzentrieren, da diese im Hinblick auf das gestellte Erkenntnisinteresse am meisten Aufschluß versprechen: Zunächst werde ich nachzuweisen versuchen, daß der Roman El luto humano auf eine Entmythisierung der postrevolutionären Beglaubigungsdiskurse der aufstrebenden liberalen Herrschaftseliten zielt. Dabei möchte ich die Aufmerksamkeit insbesondere auf die Symbolik lenken, die einerseits aus dem Nährboden einer Legenden und Mythen generierenden Revolution entnommen wurde und andererseits, aus dem synkretistisch-religiösen Glaubenskontinuum herausgelöst, jene bereits erwähnte Atmosphäre der Biblizität erzeugt. Vor diesem Hintergrund soll die in El luto humano evozierte Vision der Geschichte der mexikanischen Nation bzw. des mexikanischen Volkes dechiffriert werden. Wenn El luto humano eine diachrone Sicht auf die mexikanische Historie bietet, so unternimmt der Autor in Los días terrenales eine synchrone Bestandsaufnahme, die zum einen die Erfolgsmythen der institutionalisierten Revolutionspartei in der Phase des desarrollismo der 40er Jahre hinterfragt, in einem weiteren Dispositiv sich aber in vehementer Selbstreflexion mit der Rolle des Marxismus in Mexiko auseinandersetzt. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Roman auch die dargestellten Rollenzuweisungen im Vergleich zu
I. Einleitung
31
den tradierten und bis zur Conquista zurückführenden Personalideologemen. Auch dieser Roman wird auffällig durch ein eigentümliches ikonographisches Inventar vitalisiert, dessen spezifische Wirkungsabsicht ermittelt werden soll. Den Höhepunkt und Abschluß im erzählerischen Werk Revueltas' bildet der Kurzroman El apando, der einen deutlichen Wandel im Denken des Autors markiert. Im Gegensatz zu den vorgenannten Romanen ist er nicht darauf angelegt, nationalstaatliche Belange Mexikos zu erörtern. Zentral wird in diesem Roman vielmehr die Frage nach der anthropologischen Seinsbestimmung in der Dialektik von Freiheit und Unfreiheit des Menschen. Zudem fordert er den Leser durch ein vollkommen unkonventionelles und eigenständiges Zeicheninventar heraus, das auf keine nationalen oder universalen Vorlagen mehr zurückgreift. Doch soll zunächst der Versuch unternommen werden, einen Überblick Uber die politisch-historische, sowie sozio-kulturelle Befindlichkeit der mexikanischen Nation in der ersten Jahrhunderthälfte zu geben.
II. Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko
II.
33
LEGITIMATIONSSTRATEGIEN DER ELITEN IM POSTREVOLUTIONÄREN MEXIKO
Über die historischen Fakten der Mexikanischen Revolution, die für die politisch-historische Entwicklung Mexikos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmend wird, herrscht weitgehend Einigkeit: Die Geschichtsschreibung unterteilt die Revolution im wesentlichen in zwei gegeneinander abgrenzbare Phasen: eine erste, die den eigentlichen Zeitraum des Bürgerkrieges von 19101917 umfaßt, und die daran anschließende Etappe der Konsolidierung. Die sich bereits unter den Präsidenten Carranza (1917-1920) und Alvaro Obregón (19201924) abzeichnende Stabilisierung der Verhältnisse mündet in eine Periode entschiedener Reformpolitik unter der Ägide des Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-1940). 1 In der Dekade der 40er ist jedoch ein Nachlassen des revolutionären Schwungs zu konstatieren, was sich in einer politisch-sozialen sowie wirtschaftlichen Desillusionierung niederschlägt. Der Nachfolger von Cárdenas, Avila Camacho (1940-1946), leitet eine Politik des sogenannten
desarrollismo
ein, die einer wirtschaftlichen Entwicklung absolute Priorität einräumt, den Beginn der eigentlichen postrevolutionären Phase markiert, und nach dem 2. Weltkrieg unter der Präsidentschaft Miguel Alemáns zu einem Modernisierungsschub führt. 2
2
Unter dem sozialistisch gesinnten Präsidenten Lázaro Cárdenas nehmen die Ziele der Revolution allmählich Gestalt an. Unter seine Ägide fallt die Reorganisation der offiziellen Partei, die Verstaatlichung von Industrien und eine die Bauern stärkende Agrarreform. Das politische Paradigma Camachos bleibt bis in die 60er Jahre hinein gültig. Auch die ihm nachfolgenden Präsidenten Miguel Alemán (1946-1952) und Adolfo Ruiz Cortines (1952-58) verpflichten sich dem Primat, Mexiko in ein kapitalistisches und modernes Land zu verwandeln, und knüpfen somit an die Tradition der Liberalen und Konservativen des 19. Jahrhunderts an, die die Tendenz verfolgten, sich dem nordamerikanischen oder europäischen Lebensstil anzunähern.
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Die historischen Fakten erlauben jedoch nur eine eingeschränkte Einsicht in die soziale und kulturelle Befindlichkeit der mexikanischen Nation. Die Verhältnisse gestalten sich komplexer, da die Mexikanische Revolution nicht einfach nur die alte Elite unter dem Diktator Porfirio Diaz vertreibt und durch eine demokratische Herrschaftsordnung ersetzt. Die aufstrebenden bürgerlichen Klassen sehen sich unter dem Druck, ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren und aus den Trümmern der Vergangenheit eine Basis zu schaffen, auf der das Gebilde einer homogenen Nation, die sie als Voraussetzung für ihre Fortschrittsbestrebungen begreifen, errichtet werden kann. Die neue Elite erkennt die Herausforderung, ein nationales Bewußtsein zu formen. Eine Aufgabe, die angesichts einer Gesellschaftsstruktur, die durch völlige Heterogenität in politischer, sozialer, ökonomischer und religiös-ethischer Hinsicht charakterisiert ist, wahrlich eines Titanen bedürfte. Die sich etablierende Führungsschicht trachtet daher danach, alle intellektuellen Kräfte zu vereinen, die die divergierenden Wertesysteme zu integrieren vermögen. Sie suchen nach Wegen, dem Projekt einer geeinten nationalen Gemeinschaft die Basis einer stabilen, in dieser begründeten, homogenen Identität, zu verschaffen. Aus europäischer Sicht mag dieses Ansinnen zunächst verwundern, aus mexikanischer Perspektive jedoch berührt diese Frage einen von jeher vitalen Lebensnerv: "Von der Höhe seiner Aufklärung herab verwunderte sich Montesquieu, daß jemand Perser sein könne. Und in der Tat ist es für viele Europäer unvorstellbar, etwas anderes zu sein, als was sie sind. Wir Mexikaner hingegen haben nicht immer eine sehr klare Vorstellung von unserer nationalen Eigenart gehabt".3
Da man sich auf keine schon erlebte oder festgelegte lateinamerikanische oder gar mexikanische Identität berufen kann, setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, daß die Frage nach einer gültigen Selbstdefinition nur über einen Prozeß der Selbsterkenntnis beantwortet werden kann. Zu diesem Zeitpunkt ist "(...) 'amerikanische Identität' (...) bisher nicht gefunden worden, dafür aber wurde erkannt, daß es sich dabei nicht um Verlorenes handelt (...) sondern um nie Besessenes, immer nur Erstrebtes zu definieren als Kategorie des Historischen: nicht als statisches 3
Lozoya, Jorge Alberto: "Heimkehr nach Mexiko", S. 12. In Billeter 1987: S. 12-16.
II. Legitimationsstrategien
der Eliten im postrevolutionären
Mexiko
35
So-Sein, sondern als Prozeß, ein dynamisches WERDEN, als stets neu zu überdenkender Zusammenhang von Gegenwart und Tradition. Die Suche nach Identität wäre zu beschreiben als eine nach dem NOCH-NICHT, als die Suche nach UTOPIA".4 Im Bestreben, zum tiefsten Kern der eigenen Wesenheit vorzudringen, entbrennt eine heftige Diskussion, die auf mehreren Ebenen zugleich geführt wird. In den 20er und 30er Jahren entwickeln Intellektuelle, Pragmatiker und Philosophen Deutungsmodelle, die auf einem Kontinuum zwischen den Extremen nationaler Introspektion auf der einen und universalistisch-kosmopolitischer Ausrichtung auf der anderen Seite operieren. So behaupten sich weiterhin diejenigen Diskurse, die das angelsächsische Modell der USA oder die
französische
Kultur
bevorzugen, neben jenen, die sich auf den Ursprung des spanischen und/oder indianischen Erbes besinnen. 5 Maßgeblichen Einfluß auf die Identitätsbestimmung gewinnen jene Strömungen, die
sich mit der nationalen
inneren
Befindlichkeit auseinandersetzen. Ausgehend von der Überzeugung, daß erst der Rückbezug auf die Geschichte es ermöglichen würde, sich dem Idealbild einer Identität anzunähern, widmet sich eine Richtung der Evaluation der Vergangenheit. Sie denkt Identität als "Vervollkommnungsprozeß, eingebunden in das universale Geschehen, von welchem er seine Notwendigkeit und seine Berechtigung
5
Horl weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß dem Autor dabei eine bedeutende Rolle zukommt, da er "(...) das bisher noch nicht Formulierte, das, was es noch nicht' gibt, Gestalt, Form annehmen läßt (....). Absicht des Autors ist es, dieses 'Neue' auch für den Leser/Gegenüber verbindlich zu machen, derart, daß es durch eine gemeinsame Anstrengung Wirklichkeit weiden kann" (Horl 1986: S. 48). Die ideale literarische Form dafür verkörpere der Essay, der sich in Lateinamerika von einer (europäisch) kontemplativen in eine kämpferische, ideologisch motivierte und intendierte gewandelt habe (ebd.). Für Lateinamerika waren immer England und die USA Richtmaß für Stabilität und materiellen Fortschritt. Dagegen stand Frankreich für geistige Kultur, ästhetisches Raffinement und savoir vivre. Siehe dazu ausführlich Gewecke 1983: S. 4647. Definitionen der eigentlich lateinamerikanischen Identität, wie sie von Politologen, Soziologen und Literaturwissenschaftlern gegeben werden, reichen von der Hispanidad, die das spanische Erbe betont, über die Latinidad, die die Gesamtheit des "lateinischen Amerika" als Gegengewicht gegen den protestantischen angelsächsischen Nachbarn im Norden meint, bis zur Indianidad, die die indianische Vergangenheit beschwört. Siehe dazu ausführlich Meyer-Minnemann 1986: S. 3ff.
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bezieht".6 Eine zweite Tendenz läßt sich in einer kritischen Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Mexiko nach der Revolution ausmachen. Sie versteht unter "Identität" nicht mehr eine Frage der Vervollkommnung, sondern eine Frage der Erkenntnis. 7 Und schließlich entwickelt eine dritte Richtung eher utopische Identitätsvisionen für die Zukunft, die entweder rückwärtsgewandt ein indianisches Paradies revitalisieren wollen oder in ferner Zukunft eine Sonderrolle der Nation prophezeien. Die Problematik der Autodefinition begründet eine Diskursform, an der ablesbar wird, wie entscheidend es ist, in welcher Art und Weise über die Vergangenheit gesprochen, wie sie aktualisiert und funktionalisiert wird. Innerhalb der Diskussion um die Beglaubigung des mexikanischen Seins scheint den mythologisch aufgeladenen Dispositiven eine stärkere Überzeugungskraft innezuwohnen als den vermeintlich historisch gesicherten Fakten. Im Hinblick auf das Vorhaben der vorliegenden Arbeit soll im folgenden der Versuch unternommen werden, das Funktionieren der zentralen institutionalisierten Mythologie Mexikos mit RUckbezug auf die historischen Ereignisse, die sie begründen, aufzuzeigen. Aus dem Geflecht von Einzeldiskursen werde ich insbesondere jene zwei Beglaubigungssmythen gesondert betrachten, die mit Vorliebe zur Erklärung des mexikanischen Seins herangezogen werden und auch heute noch in bemerkenswerter Weise auf die Bewußtseins- und Identitätsbildung der Nation wirken. Im Hinblick auf die Einzelanalysen der Romane El luto humano, Los días terrenales und El apando möchte ich ihre Relevanz im nationalen Kontext erhellen. In diesem Zusammenhang richtet sich das Interesse
6
7
Grundlegender Ausdruck dieses Denkens ist der Essay Vision deAnáhuac (1917) von Alfonso Reyes. Er entwickelt einen Gedanken, der auch für Paz 1950 noch maßgeblich bestimmend ist: "Vom Raum charakteristisch geprägt, ist der Mensch dennoch nicht isoliert, sondern Teil eines Ganzen: jedes Volk hat durch seine Geschichte teil an der Menschheitsgeschichte. Innerhalb dieser fällt jedem eine bestimmte Rolle und Funktion zu, diese zu erfüllen, macht erst den Sinn der eigenen Geschichte und ist gleichzeitig Überwindung der'Andersheit"'(Vgl. bei Horl 1986: S. 57-58). Vgl. Horl 1986: S. 57. Diesen Ansatz entwickelt in Argentinien Ezequiel Martínez Estrada in seinem bekannten Essay Radiografía de la pampa (1957). In Mexiko wird
Samuel Ramos mit der Studie El perfil del hombre y la cultura en México (1934) zum Vordenker dieser Richtung.
II. Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko
37
zunächst auf die kulturanthropologische Bedeutung des negativen Ursprungsmythos der Conquista. Eine weitere Sequenz widmet sich der Funktionalisierung der Revolution als Ursprungs- und Erfolgsmythos. Daran anschließend läßt sich die Herausforderung des kulturellen Erbes der Mestizisierung nachvollziehen und in einer letzten Vorbemerkung die Funktionalisierung der Kunst im offiziellen politischen Diskurs skizzieren.
2.1.
Der negative Ursprungsmythos der Conquista in seiner kulturanthropologischen Bedeutung
Folgt man dem Diskurs einer mythopoetologischen Geschichtsinterpretation, so ist die Erinnerung an die Conquista im kollektiven Gedächtnis der mexikanischen Nation bis heute traumatisch besetzt. Der Zusammenprall zwischen den zur Eroberung einer neuen Welt aufgebrochenen Spaniern und den autochthonen Kulturen hat zunächst die Zerstörung der Hochkulturen der Azteken und später der Mayas zur Folge. Nach der Unterwerfung der Indianer unter die spanische Herrschaft begann eine dreihundertjährige Epoche indianisch-spanischer Kulturbeziehung, die sich in einem von jedem nichtspanischen Einfluß hermetisch abgeschlossenen Raum vollzog. Aus dem direkten und beständigen Kontakt ergaben sich als unmittelbare Konsequenz Akkulturationsprozesse, die sowohl bei den Spaniern als auch bei den Indios zum Wandel der charakteristischen Denkund Verhaltensweisen führten, ohne daß jedoch beide Kulturen miteinander verschmolzen. Ebenso rätselhaft wie unbegreiflich mutet es an, daß es eine Handvoll Eroberer vermochte, eine blühende Kultur und Uberwältigende Übermacht auszulöschen. Im Zuge der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit bieten die mexikanischen Denker dafür die unterschiedlichsten Erklärungsversuche an. Da wird auf den Aufruhr der in das aztekische Reich einverleibten Vasallen-Stämme gegen ihre Unterdrücker verwiesen, die sich von einer Allianz mit den Spaniern ihre eigene
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38
Befreiung versprachen. Andere tendieren dazu, die ohnmächtige Reaktion der Azteken mit deren Vorstellungen von zyklischer Zeit und Entwicklungen zu erklären.8 Ihrer Ansicht nach versuchten die von Moctezuma befragten Priester als oberste Autoritäten der Schicksalsdeutung, dem Neuen einen Platz innerhalb des Bekannten zuzuweisen. Entsprechend deuteten sie den Eroberer Cortés als einen Abgesandten bzw. als eine Verkörperung Quetzalcóatls, der seine Rückkehr und die Übernahme der rechtmäßigen Herrschaft angekündigt hatte. Während nun die Indianer bemüht waren, den Willen der Götter zu erkunden, verstand es Cortés, ihre Glaubenserwartung zu seinem Vorteil zu nutzen. Eine dritte Interpretation betont daher auch den Verrat der Götter, die den letzten aztekischen Herrscher und sein Volk verlassen und der Willkür einer neuen Macht überlassen: "Los dioses lo (a Moctezuma) han abandonado. La gran traición con que comienza la historia de México no es la de los tlaxcaltecas, ni la de Moctezuma y su grupo, sino la de los dioses. (...) La llegada de los españoles fue interpretada por Moctezuma - a l menos al principio- no tanto como un peligro 'exterior' sino como el acabamiento interno de una era cósmica y el principio de otra Los dioses se van porque su tiempo se ha acabado, pero regresa otro tiempo y con él otros dioses, otra era".9
Eine besondere Relevanz erfährt jedoch jene Version, die den Untergang der indianischen Völker einer Frau, der Geliebten und Dolmetscherin des Eroberers Cortés, anlastet. In der Person der Malinche findet sich die ideale Verkörperung des Verrats: "Cuando en alusión a ella se dice 'malinchismo' se quiere significar, entrega sumisa al extranjero de las íntimas esencias de la nacionalidad".10 Der im kulturellen Gedächtnis konservierte Mythos der Verräterin Malinche wirkt bis in die heutige Zeit in doppelter Hinsicht: Einerseits gelangt man Uber seine Wirkungsgeschichte zum Ursprung des ambivalenten Verhältnisses des Mexikaners zu seinem Erbe der gemischten Rassen und Kulturen, andererseits ist 8
9 10
Die weiteren Ausführungen zum Mythos der Conquista basieren wesentlich auf der Analys. Ettes von 1991, hier: S. 167-170; von Todorov 1984 und Sahagún (Crónicas 1985: S. 91ff.). Paz 1950: S. 85. Armanda Alegría 1979: S. 7.
II. Legitimationsstrategien
der Eliten im postrevolutionären
Mexiko
39
er mitverantwortlich für die "gerechtfertigte" unterdrückte Position der Frau in der mexikanischen Gesellschaft.11 Mit dem Begriff malinchismo wird suggeriert, daß die Mestizisierung nicht die Folge eines Eroberungskrieges gewesen sei. Die Schuld wird den -obgleich machtlosen- wollüstigen Indiofrauen angelastet: "El símbolo de la entrega es doña Malinche, la amante de Cortés. Es verdad que ella se da voluntariamente al Conquistador, pero éste, apenas deja de serle útil, la olvida. Dofia Marina se ha convertido en una figura que representa a las indias, fascinadas, violadas o seducidas por los españoles. Y del mismo modo que el niflo no perdona a su madre que lo abandone para ir en busca de su padre, el pueblo mexicano no perdona su traición a la Malinche. Ella encarna lo abierto, lo chingado, frente a nuestros indios, estoicos, impasibles y cerrados".12 Der Ursprungsmythos des Verrats der Malinche dient noch in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s als Erklärungsmodell für den Umgang der Geschlechter und Rassen miteinander.13 Er wird immer wieder beschworen und erhält im Wechselspiel mit einem "Gegenmythos" stetig neue Kraft. Im positiven Gegenbild der Virgen de Guadalupe, der Madonna des seiner Götter beraubten Indios und des orientierungslosen Mestizen, findet das Negativbild des Ursprungs in gewisser Weise seinen Ausgleich:
11 12
13
Vgl. hierzu insbesondere das erste Kapitel der Studie von Klingler-Clavijo 1987. Paz 1950: S. 77-78. Der männliche Blick verschleiert gerne zu seinen Gunsten das reale Verhältnis zwischen dem Eroberer und der Eroberten. Auch die Wahrnehmung männlicher Geschichtsschreibung unseres Jahrhunderts "erkennt" die Disposition der indianischen Frauen, erobert zu werden. Das liest sich dann beispielsweise so: "Häufig bedurfte es für den Sexualverkehr nicht der Gewalt und Verführung des weißen Mannes. Die Indianerinnen kamen den Wünschen der Europäer entgegen und gaben sich ihnen willig und wollüstig hin. Sie bevorzugten die fremden Eindringlinge, deren Stärke und Überlegenheit auf sie Eindruck machte, vor den Männern ihrer eigenen Rasse" (Konetzke 1965: S. 89; hier zitiert nach Rünzler 1988: S. 44). Dagegen konnte sich ein positiver Gegenentwurf der Dofia Marina nicht durchsetzen, dem Hilde Krüger - einige Jahre vor Paz - anhand der Chroniken von Bemal Diaz und Suärez de Peralta nachging. Sie vermittelt uns das Bild einer eindrucksvollen Frau, eben der Dofia Marina, die sich dank ihrer außergewöhnlich starken Persönlichkeit, ihrer Eloquenz, ihrer Überzeugungskraft und ihrer Schönheit, einen auch vom Gefolge mit Achtung anerkannten Platz an der Seite des Eroberers erwarb.
40
Monika Pipping de Serrano "El fenómeno de la virgen morena tuvo una atmósfera propicia en México, en dónde, dadas las circunstancias de transculturación y mezcla de razas, era indispensable la existencia de una virgen mestiza".14
Die mestizische Madonna verkörpert - w i e die Heilige Jungfrau Maria in der katholischen Kirche- Jungfräulichkeit und Mutterschaft. Sie inkamiert somit die Kardinaltugenden sowohl der spanischen als auch der aztekischen Frau, die sich im mestizischen Frauenbild zusammenfügen. La Virgencita ist die Schutzpatronin der Armen, die den Entrechteten und Machtlosen Hoffnung und Trost spendet: "La Virgen es el consuelo de los pobres, el escudo de los débiles, el amparo de los oprimidos. En suma, es la Madre de los huérfanos. Todos los hombres nacimos desheredados y nuestra condición verdadera es la orfandad, pero esto es particularmente cierto para los indios y los pobres de México. (...) Madre universal, la Virgen es también la intermediaria, la mensajera entre el hombre desheredado y el poder desconocido, sin rostro: el Extraño".15 Die weiblichen Prototypen der mythisch aufgeladenen Bilder der Malinche und der Virgen de Guadalupe finden ihre komplementäre Ergänzung in der Gestalt des Macho, des männlichen Idealbildes, dessen Philosophie durch die originäre Identifikation mit dem conquistador, der Inkarnation willkürlicher und uneingeschränkter Macht, entscheidend geprägt ist: "No es el fundador de un pueblo; no es el patriarca que ejerce la patria potestas\ no es rey, juez, jefe de clan. Es el poder, aislado en su misma potencia, sin relación ni compromiso con el mundo exterior. Es la incomunicación pura, la soledad que se devora a sí misma y devora lo que toca. No pertenece a nuestro mundo; no es de nuestra ciudad; no vive en nuestro barrio. Viene de lejos, está lejos siempre. Es el Extraño. Es imposible no advertir la semejanza que guarda la figura del 'macho' con la del conquistador español. Ése es el modelo -más mítico que real- que rige las representaciones que el pueblo mexicano se ha hecho de los poderosos: caciques, señores feudales, hacendados, políticos, generales, capitanes de industria. Todos ellos son machos, chirtgones".16
14 15 16
Armanda Alegría 1979: S. 152. Paz 1950: S. 77. Paz 1950: S. 74.
II. Legitimationsstrategien
der Eliten im postrevolutionären
Mexiko
41
Die Vorstellung des siegreichen Eroberers und der verräterischen Malinche beeinflußt noch heute Rollenzuweisung und Lebenspraxis der Geschlechter. 17 Sie generiert jene stereotypen Schablonen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Fremd- und Eigendefinitionen leiten. Nicht zuletzt wird durch die Medien, die Kunst und die Literatur das auf ihnen begründete anthropologische Paradigma perpetuiert.18
2.2.
Die Funktionalisierung der Mexikanischen Revolution als Ursprungs- und Grfolgsmythos
Die Mexikanische Revolution ist bis zur Kubanischen Revolution von 1959 die erste "große Sozialrevolution" Lateinamerikas.19 Sie wird als Gegenreaktion auf das Porfiriat gewertet, das -euphemistisch gesprochen- soziale Ungleichheiten favorisierte.20 Da sie nicht auf richtungsweisende Vorbilder zurückgreifen kann, scheint sie sich gleichsam spontan zu entwickeln:
17 18
19
20
Dazu ausführlich Klingler-Clavijo 1987: S. 35-39. Armanda Alegría 1979. Hölz 1992. Siehe dazu auch die einführenden Bemerkungen zum 2. Kapitel "Dekonstruktion stereotyper geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibung" der Analyse zu Los días terrenales. Es sei hier nebenbei angemerkt, daß sich die Mexikanische Revolution unabhängig von der Russischen Oktoberrevolution entwickelte: "Nuestra Revolución no tuvo nada en común con la Revolución rusa, ni siquiera en la superficie; fue antes que ella. (...) En la literatura revolucionaria de México, desde fines del siglo pasado hasta 1917, no se usa la terminología socialista europea; y es que nuestro movimiento social nació del propio suelo, del corazón sangrante del pueblo y se hizo drama doloroso y a la vez creador" (Jesús Silva Herzog: Meditaciones sobre México, 1946. In Paz 1950: S. 123124). Die Diktatur von Porfirio Díaz dauerte von 1876 bis zum Beginn der Revolution. Das repressive System zwang zur sozialen Konformität. Eine eindrucksvolle Vision der vorrevolutionären Situation des Volkes bietet der Roman Al filo del agua (1947) von Agustín Yañez. So konstatiert Hölz: "Der Konservatismus des Diaz-Regimes wird in der Machtausübung der Kirche widergespiegelt und seine Auswirkungen bis hinein in die Apathie des pueblo oder den religiösen Fanatismus verfolgt" (Hölz 1988b: S. 78). Auf der anderen Seite herrschte um 1910 eine grenzenlose allgemeine Verarmung. Während 97% der Landbevölkerung kein Land besaßen, gehörten z.B. dem Terranza-
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"La Revolución tiene antecedentes, causas y motivos; carece, en un sentido profundo, de precursores. (...) Lentamente, en plena lucha o ya en el poder, el movimiento se encuentra y define. Y esta ausencia de programa previo le otorga originalidad y autenticidad populares. De ahí provienen su grandeza y sus debilidades".21
Die Geschichtsschreibung erkennt dennoch drei Tendenzen der mexikanischen Revolution, denen drei verschiedene Revolutionsbegriffe vorangestellt werden können. Im Norden steht Pancho Villa an der Spitze einer ambivalenten Massenerhebung, deren sozialpolitische Ziele unklar bleiben. Im Süden fuhrt Emiliano Zapata eine Bauernbewegung, die das Recht auf Land einklagt und zu den besseren alten Zeiten im Sinne einer Re-Volutio zurückkehren will. Und eine dritte Revolution erhebt sich im nordwestlichen Teilstaat Sonora unter dem Kommando des General Obregón, die im Grunde eine gelenkte Modernisierung des Staates zugunsten eines neuen Bürgertums verfolgt. 22
Schon während der eigentlich bewaffneten Phase erwachsen dem Nährboden der Wirren der Ereignisse Legenden um die populären Führer. Emiliano Zapata und Pancho Villa inkarnieren den Prototypen des caudillo, des unbesiegbaren, weder Freund noch Feind fürchtenden Führers, denen sich die Massen bedingungslos anvertrauen. Sie avancieren zu Volkshelden, in denen sich der Hunger der campesinos nach Land und Schutz gegen eine uneingeschränkt herrschende Elite reflektiert. Tatsächlich verkörpern sie oft mehr die Sehnsucht nach einem (verlorenen) Paradies, als daß sie einen konstruktiven Beitrag zur Umgestaltung des Landes leisten: "Realismo y mito se alian en esta melancólica, ardiente y esperanzada figura 'Zapata', que murió como había vivido: abrazado a la tierra. Como ella, está hecho de paciencia y fecundidad, de silencio y esperanza, de muerte y resurrección. Su programa contenía
21 22
Clan im Norden 2,7 Millionen Hektar Land, 500 000 Rinder, 300 000 Schafe, er war an der Banco Mexicano beteiligt und stellte neun vom Clan abhängige Abgeordnete. Paz 1950: S. 123. Zuletzt jedoch, so resümiert Kloepfer, "verselbständigt" sich die postrevolutionäre Entwicklung des Landes: "Am Ende allerdings steht in Mexiko Revolution für eine zentralistische, bürokratische, paternalistische und von fest etablierten Machtgruppen ohne demokratische Legitimation gelenkte Modernisierung" (Kloepfer: S. 233-234).
II. Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko
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pocas ideas, estrictamente las necesarias para hacer saltar las formas económicas y políticas que nos oprimían. (...) En suma, el programa de Zapata consistía en la liquidación del feudalismo y en la institución de una legislación que se ajustara a la realidad mexicana".23
Von daher ist es erklärbar, daß sich die liberale Gruppierung unter Obregón schließlich machtpolitisch durchsetzt. Es wird aber auch deutlich, daß nicht von der Revolution gesprochen werden kann: "Was hier 'Revolution' genannt wird, ist also die synergetische Kumulation heterogener Revolten und Reformbewegungen angesichts des reaktionären Regimes von Porfirio Díaz".24
Die Bewegung bringt zahlreiche Manifeste mit anspruchsvollen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Reformplänen hervor, die sich nicht zuletzt in der Verfassung von 1917 dokumentiert finden, die zu den fortschrittlichsten ihrer Zeit in Lateinamerika zählt. Da sie aber jeglicher politischer, ökonomischer sowie soziokultureller Basis entbehrt, gilt sie für lange Zeit eher als ein Dokument der Willensbekundung, als daß sie auf reale Umsetzungsmöglichkeiten verweist. Den neuen Machthabern ist bewußt, daß sie aus dem Enthusiasmus und der Opferbreitschaft der época heroica der Revolution Energien für die "profane" Zeit der Konsolidierung schöpfen können. Allerdings läßt sich aus divergierenden Interessen, verworrenen Ereignissen und machtpolitischen Führungskämpfen schwerlich ein einheitliches Bewußtsein zur Integration der auseinanderdriftenden
Bevölkerungsteile
schmieden. Die
unterschiedlichen
Tendenzen
der
Revolution können jedoch zusammengedacht und damit für den Aufbau der Nation nutzbar gemacht werden. Aus der in den 40er Jahren möglichen Rückschau erzeugen sie in ihrem Zusammenspiel die machtvolle Vision eines gewaltigen und entschlossenen Aufbruchs des mexikanischen Volkes, das heroisch im Kampf um seine Rechte zueinanderfindet.
23 24
Paz 1950: S. 128. Kloepfer 1992: S. 233.
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Die Mexikanische Revolution erfährt sukzessive eine historisch-mythische Sinnerweiterung. In der Retrospektive wird sie sowohl als Reaktion auf die Verleugnung des indianischen und spanischen Erbes25 während der Jahre liberaler Regierungen, als auch als Konsequenz einer übersteigerten Französisierung des mexikanischen Bürgertums während des Porfiriats angesehen. Infolgedessen wird sie gerne auch zum Befreiungsversuch von kulturgeschichtlich bedingten Dependenzen von Europa aufgewertet. Hierin liegt der Ursprung zweier einander ausschließender, gleichzeitig aber sich wechselseitig beeinflussender Diskurse. Die offizielle Rhetorik der Institutionalisierten Revolutionspartei nutzt die mythopoetische Energie der Mexikanischen Revolution, indem sie im Rückbezug auf diese beständig Ursprung und Auslöser der eigentlichen nationalen Selbstfindung feiert. Der erfolgsorientierte optimistische Diskurs ruft jedoch auch kritische Gegenstimmen auf den Plan, die den Schleier der Erfolgsrhetorik lüften und auf eine Einlösung der in der Verfassung niedergeschriebenen Reformansprüche drängen.
2.3.
Die Herausforderung des kulturellen Erbes der Mestizisierung
Die intensive Auseinandersetzung mit der konfliktreichen Vergangenheit Mexikos legt den Zwiespalt gegenüber der eigenen Geschichte offen. Im Verlauf der Diskussion um die mexikanische Identität rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie mit dem Erbe kultureller und ethnischer Mischungen umgegangen werden soll. Heftig wird diskutiert, wie das Phänomen der "Mestizisierung"26 auf die Befindlichkeit des ser mexicano wirkt 25
26
Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier angemerkt, daß sich die Mexikanische Revolution nicht für das spanische Erbe interessiert hat. Erst in der postrevolutionären Phase gibt es eine Rückbesinnung auf das "gute" Spanien. "Mestizisierung" ist zu verstehen als spezifischer Dualismus, in dem verschiedene Elemente eine Verbindung eingegangen sind. Wie dieser aber beschrieben, begründet und bewertet wird, ist im Laufe der lateinamerikanischen Geschichte historischem
II. Legitimationsstrategien
der Eliten im postrevolutionären
Mexiko
45
Die Tendenz, die Heterogenität der vorgefundenen amerikanischen Lebenswirklichkeit zu leugnen, wird bereits in der Überheblichkeit der spanischen Eroberer, die im Namen der katholischen Könige auf der Suche nach Reichtum den christlichen Glauben in die Neue Welt bringen, sichtbar. Von Beginn an ignorieren und negieren die neuen Herren die Vielfalt indianischer Völker: "(...) la Conquista es un hecho histórico destinado a crear una unidad de la pluralidad cultural y política precortesiana Frente a la variedad de razas, lenguas, tendencias y Estados del mundo prehispánico, los españoles postulan un solo idioma, una sola fe, un solo Señor".27 Intellektuelle wie Octavio Paz vertreten vehement die Überzeugung, daß die Frage nach der Gegenwart die Frage nach dem Ursprung und dem Erbe zweier Kulturen miteinschließen muß. Es gelte zu lernen, das gemeinsame spanische und indianische kulturelle Erbe gleichermaßen wertzuschätzen: "El mexicano condena en bloque toda su tradición, que es un conjunto de gestos, actitudes y tendencias en el que ya es difícil distinguir lo español de lo indio. Por eso la tesis hispanista, que nos hace descender de Cortés con exclusión de la Malinche, es el patrimonio de unos cuantos extravagantes (...). Y otro tanto se puede decir de la propaganda indigenista, que también está sostenida por criollos y mestizos maniáticos, sin que jamás los indios le hayan prestado atención".28 Es ist nicht allein das Zusammentreffen der verschiedenen Kulturen, das als problematisch erfahren wird, sondern wesentlich die Tatsache, daß eine der
27 28
Wandel unterlegen und läßt sich an den diversen Paradigmenwechseln nachvollziehen, wenngleich er motivgeschichtlich immer schon als minderwertig behandelt wurde. Die Vorstellung der Positivisten einer reinen Einheit von "Rasse" und Kultur mußte die Vermischung von "Rassen" und Kulturen negativ erscheinen lassen, da nur die "primitiven" Eigenschaften, los instintos, zusammenschmelzen würden. Damit wurde auch die Rückständigkeit dieser Nationen erklärt. Es muß betont werden, daß der mestizaje ein ideologisches Konstrukt war und ist. Neue Kulturtheorien operieren dagegen mit Begriffen wie Heterogenität und Hybridisierung. Siehe insbesondere Garcia Canclini 1989: Las culturas híbridas. Vgl. dazu auch ausfuhrlich Schümm 1994: Mestizaje und culturas híbridas - kulturtheoreäsche Konzepte im Vergleich. In Scharlau 1994: S. 59-92; Lienhard 1994: Sociedades heterogéneas y "diglosia" cultural en América Latina. In Scharlau 1994: S. 93-104. Paz 1950: S. 90. Paz 1950: S. 78.
46
Monika Pipping de Serrano
Kulturen als Sieger hervorging. Der Mestize trägt sowohl den Stolz der Sieger als auch die Scham der Besiegten in sich: "Iberoamerika umschließt in seiner Geschichte die doppelte Erfahrung der erobernden und der eroberten Völker, die Erfahrung der westlichen Welt und der nichtwestlichen Welt".29 Diese fundamentale Ambivalenz verlangt nach Auswegen. Es bildet sich eine kritische Generation von Denkern heraus, die sich insbesondere der Gegenwart verpflichtet fühlen. Sie erweitern den kulturkritischen bzw. geschichtsphilosophischen Ansatz zur Bestimmung von Identität durch den psychologischen. Stellvertretend richtet Samuel Ramos den Appell an jeden Einzelnen, sich seiner durch die Historie spezifisch geprägten psychischen Bedingtheit bewußt zu werden: "(...) que cada uno practique con honradez y valentía el consejo socrático de 'conócete a ti mismo1".30 Ramos erachtet es als unverzichtbar, abstraktes Wunschdenken zu überwinden, um in der Realität Handlungsfähigkeit zu erlangen. Er selbst beschäftigt sich mit dem Wesen des Mexikaners, dem ser mexicano, in dem Essay El perfil del hombre y la cultura en México (1934), in dem er dem Mestizen einen in der Conquista und der Kolonisierung wurzelnden Minderwertigkeitskomplex bescheinigt, der ihn den Anschluß an die Universalgeschichte versäumen lasse: "Por otra parte, en un numeroso grupo de individuos que pertenecen a todas las clases sociales, se observan rasgos de carácter como la desconfianza, la agresividad y la susceptibilidad, que sin duda obedecen a la misma causa. Me parece que el sentimiento de inferioridad en nuestra raza tiene un origen histórico que debe buscarse en la Conquista y Colonización. (...) Siendo todavía un país muy joven, quiso, de un salto, ponerse a la altura de la vieja civilización europea, y entonces estalló el conflicto entre lo que se quiere y lo que se puede. La solución consistió en imitar a Europa, sus ideas, sus instituciones, creando así ciertas ficciones colectivas que, al ser tomadas por nosotros como un hecho, han resuelto el conflicto psicológico de un modo artificial".31 29 30 31
Volger 1993: S. 220. Ramos 1968: S. 65. Ramos 1968: S. 14-15. Zur gleichen Zeit macht auch der Argentinier Martinez Estrada falsche Selbsteinschätzung, Rückständigkeit und Orientierungslosigkeit für die Identitätslosigkeit des Lateinamerikaners verantwortlich. Mit einer "falschen Selbsteinschätzung" ist einerseits der Haß auf das "mütterliche" (autochthone) Erbe,
II. Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko
47
Aus dem Bewußtsein des Mestizentums resultiere eine psychische Unsicherheit, die den Mexikaner wesentlich kennzeichne. Diese Unsicherheit projiziert er, ohne es zu bemerken, in ein allgemeines Mißtrauen gegenüber der Welt und den Menschen nach außen. Sie erklärt sein Bestreben, die eigene Realität zu verstekken und das Fremde zu imitieren. Um die permanente innere Unsicherheit zu verbergen, demonstriert er den Mitmenschen gegenüber geradezu obsessiv seine Überlegenheit: "(...) la idea de superioridad, a toda costa, para dominar a los demás, sin objeto alguno, sólo por darse ese placer, entonces su alma estará siempre inquieta y a la defensiva, temerosa de que su mentira sea cubierta".32
Während Ramos sich bemüht, unter dem Einfluß psychoanalytischer Erkenntnisse die Realität des ser mexicano völkerpsychologisch zu ergründen, wird gleichzeitig eine andere Vision des Mestizen propagiert, die diesem eine überwältigende Rolle in der Zukunft verspricht. Aus den zahlreichen Angeboten der politischen Rhetorik und der literarisch-philosophischen Prosa möchte ich insbesondere auf ein Beispiel aufmerksam machen: Der ehemalige Universitätsprofessor und unter Obregón als Erziehungsminister eingesetzte José Vasconcelos entwirft unter dem Rechtfertigungsdruck seiner Zeit eine Utopie, die das marginalisierte Volk der Mestizen in seiner Gesamtheit aufwertet. In seiner Zukunftsvision La Raza Cósmica (1925) nimmt die mestizische "Rasse" eine Schlüsselfunktion ein.35 Mit prophetischer Weitsicht verkündet er, daß sich im Mestizen unter der -wenngleich vorübergehenden- Prädominanz des "Weißen Elementes" das Ziel der Rassenintegration vollenden werde. Vasconcelos begründet seine
32
33
die "Barbarei", andererseits die Überschätzung des "väterlichen" (spanischen) Erbes, die "Zivilisation", gemeint (Vgl. Horl 1986: S. 58). Ramos 1968: S. 15. Ramos war deutlich von der Individualpsychologie Alfred Adlers beeinflußt, einem Schüler von Sigmund Freud. Im Gegensatz zu Freud sieht er den Hauptantrieb des menschlichen Handelns nicht im Sexualtrieb, sondern in Macht- und Geltungsstreben. Vasconcelos selbst spricht von der Raza Cósmica futura. Vasconcelos in Zea 1979: S. 120. Auch er greift wiederum auf einen Vordenker zurück. Justo Sierra hatte bereits 1910 die Frage der mexicanidad mit der Formel der Mestizisierung beantwortet.
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These damit, daß der Mestize aufgrund seiner Fähigkeit zur Assimilation der verschiedenen ethnischen und kulturellen Einflüsse eine besondere Vitalität besitze und rassistische Vorurteile Uberwunden habe: "El blanco ha puesto al mundo en situación de que todos los tipos y todas las culturas puedan fundirse. La civilización conquistada por los blancos, organizada por nuestra época, ha puesto las bases materiales y morales para la unión de todos los hombres en una quinta raza universal, fruto de las anteriores y superación de todo lo pasado".34 Schließlich, so führt Vasconcelos weiter aus, repräsentiere der Mestize die Eigenschaften des wahren Lateinamerikaners, der integrativ alle kulturellen Dissonanzen in sich aufliebt und in der "kosmischen Rasse" zur Verkörperung des guten Christen-Menschen schlechthin werde: "Nosotros no sostenemos que somos ni que llegaremos a ser la primera raza del mundo, la más ilustrada, la más fuerte y la más hermosa. Nuestro propósito es todavía más alto y más difícil que lograr una selección temporal. Nuestros valores están en potencia, a tal punto que nada somos aún. Sin embargo, la raza hebrea no era para los egipcios arrogantes otra cosa que una ruin casta de esclavos, y de ella nació Jesucristo, el autor del mayor movimiento de la historia, en que anunció el amor de todos los hombres. Este amor será uno de los dogmas fundamentales de la quinta raza que ha de producirse en América. El cristianismo liberta y engendra vida, porque contiene revelación universal, no nacional (...) Pero la América es la patria de la gentilidad, la verdadera tierra de promisión cristiana".35 Wenngleich sich der Traum von Vasconcelos in der poltisch-sozialen Realität nicht bewahrheitet hat, so bleiben dennoch seine Bilder im kulturellen Leben präsent.
34 35
In Zea 1979: S. 126. Vasconcelos bezieht sich auf vier "Rassen":" (...) el negro, el indio, el mongoly el blanco" (ebd.). In Zea 1979: S.'133.
II. Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko
2.4.
49
Die Funktionalisierung der Kunst im offiziellen politischen Diskurs
Aus der philosophischen Auseinandersetzung um die mexikanische Identität im weitesten Sinne ergeben sich potentiell integrativ wirkende Identitätsbilder. Während die Diskussion auf einen auserwählten Kreis in den gebildeten Eliten begrenzt bleibt und zumeist auf internationale Anerkennung ausgerichtet ist, liegt es im Interesse der neuen Machthaber, die gewonnenen Einsichten auch den überwiegend analphabetischen Massen nahezubringen. Im Bewußtsein ihres Führungsanspruchs machen sie die Kunst nutzbar. Für die Vermittlung zwischen Staat und Volk nehmen sie Kunstschaffende aller Sparten in die Pflicht. Bereits in den 20er Jahren säkularisiert José Vasconcelos den Erziehungsaufitrag der Kirche als Bildungsinstitution und stellt Geldmittel für den nationalen Selbstfindungsprozeß zur Verfugung. 36 Der Muralismo scheint ihm in besonderer Weise dafür geeignet, das neue Bewußtsein in den Alltag der Bevölkerung hineinzutragen. Auch die Nachfolger von Vasconcelos fördern die Wandmalerei, sehen doch auch sie die Vorteile einer die Identität des heterogenen Landes bindenden Kunst Die murales geraten -zumindest partiell- zu Projektionsflächen staatlich definierter Wirklichkeitssicht, auf denen sich die Selbstdeutung der Herrschenden einen Zugang zum Bewußtsein der Massen bahnt. Zeitweilig gemeinsam ist den Muralistas der ersten Phase neben einem -zumindest zu Anfang- sozialkritischen Engagement ein mythischer Gestus, in dem die Suche nach der Kommunikation mit den Massen eine Grundlage erhält. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß Diego Rivera, José d e m e n t e Orozco und
36
Vasconcelos knüpft hierbei an die Auffassung liberaler Politik des 19. Jh.s an: "Liberale Politiker (...) sahen in der Erziehung den besten Weg, die indianischen Ethnien in die Nation zu integrieren. Mexiko sollte eine 'zivilisierte' Nation weiden, seine heterogene Bevölkerung sollte sich in Anlehnung an das Prinzip des napoleonischen Nationalstaates zu einer modernen Gesellschaft entwickeln" (Haufe 1991: S. 327).
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David Alfaro Siqueiros in ihren ideologischen Auffassungen völlig divergieren. 37 Die unterschiedlichen Bewertungen der kolonialen Vergangenheit, der Rückkehr zu
den
indigenen
Wurzeln
und
der
politischen
Erfordernisse,
die
in
ihren murales zum Ausdruck kommen, spiegeln auf plakative Weise die Diversität der nationalen Identitätsbegründungen. Mit Hilfe ihrer Bilder haben wir einen Zugang zum (intendierten, jedenfalls gesetzten) kollektiven Bewußtsein der mexikanischen Gesellschaft: Diego Rivera kommt der Aufforderung, sich auf die eigenen Wurzeln zu besinnen, dahingehend nach, daß er mexikanische Geschichte und mexikanischen Alltag farbenfroh idealisiert. Mit Hingabe projiziert er die Utopie eines verlorenen aztekischen Paradieses an zahlreiche öffentliche Gebäude. Die unkritischen Sympathiebekundungen für altmexikanische Lebensart negieren allerdings das elende Schicksal der aztekischen Nachfahren. Sein Geschichtsbild "korrespondiert mit der offiziellen Glorifikation der Azteken", das die Indios entmündigt und suggeriert, daß sie einen weißen bzw. mestizischen Befreier und Erlöser benötigten. Siqueiros hingegen definiert die indianischen Völker nach ihrer sozialen Stellung: Sie verschwinden in einer gesichtslosen und unterdrückten proletarischen Masse. Er durchforscht die präkolumbine Vergangenheit auf der Suche nach "aktualisierbaren Hoffnungsträgern" und säkularisiert das Mythologem des "wiederkehrenden Heilsbringers" im Kontext einer revolutionären Botschaft: "(...) die Nähe zu dem alten mythischen Konzept, das durch die christliche Kunst
37
38
Die Kunst der Muralistas ist ob ihrer ideologischen Ausbeutung nicht unumstritten. Kloepfer macht ihnen beispielsweise eine Unreflektiertheit zum Vorwurf, die das Spiel mit mythogenen Elementen in Beliebigkeit ausufern läßt: "Diese mythische Nachahmung der Maler, der (...) die Zeit zur geistigen Durchdringung und zur Entwicklung differenzierter Konzepte fehlt, findet sich in der Frenesie archäologischer Selbstentdeckung, der Begeisterung für Folklore und vor allem in dem missionarischen Eifer während der Alphabetisierungskampagnen wieder, wo ebenfalls Märtyrer des Fortschritts auf alles verzichten, um das Licht des Wissens überall hinzutragen" (Kloepfer 1992: S. 235ff.). Vgl. dazu Haufe 1991: S. 334.
II. Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko
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fest im lateinamerikanischen Bewußtsein verankert ist, soll die Unbesiegbarkeit der eigenen Ideen dokumentieren". 39 Im Gegensatz zum paternalistischen Indigenismus seiner Kollegen versteht Orozco den Sieg der spanischen Eroberer als definitiven Wendepunkt in der Geschichte, der eine Rückkehr zu einem rein indianischen Vorher ausschließt. Die Verbindung von Cortés und Malinche bedeutet für ihn das Wiegenfest der neuen mexikanischen Nation. Seine gegenwartsbezogene Weltsicht äußert sich auch in der vehementen Anklage einer entmenschlichenden Industriekultur. Gegen Ende der 30er Jahre gelten die einst als rebellisch gewerteten Künstler allgemein als Repräsentanten einer offiziellen, staatstragenden Kunst, die sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sich der Protektion der Regierung zu erfreuen und sich aufgrund ihrer herausragenden Stellung von der wirklichen Geschichte Mexikos entfernt zu haben. 40 Da die einzelnen Maler wie Rivera, Orozco oder Siqueiros ihren divergierenden Anliegen in scheinbar sich überschneidenden kollektiven Zeichen Ausdruck und Form verliehen haben, wird gegen sie oftmals der Vorwurf einer gewissen Beliebigkeit ihrer Handhabung erhoben. Wie Haufe für die Muralisten und Lustig für die Literatur jedoch nachgewiesen haben, sind -bis auf die sicherlich üblichen Ausnahmen- die in Kunst und Literatur verwendeten Symbole keineswegs beliebig, zufällig oder gar als völlig sinnentleertes reines Dekor zu
39 40
Haufe 1991: S. 332. Die offizielle Deutung steht nicht unbedingt in Einklang mit dem Selbstverständnis des einzelnen Künstlers. Während sich Rivera der Protektion der Regierung erfreute, entzog sich Orozco so weit als möglich ihrer Anerkennung. Siqueiros dagegen genoß sie nur eingeschränkt, wegen seiner bedingungslosen Zugehörigkeit zum Partido
Comunista. Die nachfolgende Generation von Muralistas tritt bezeichnenderweise mit dem Anspruch einer universellen und nicht mehr auf die historische Situation Mexikos bezogenen Kunst hervor. Rufino Tamayo, ihr Vordenker, deutet beispielsweise das historische Ereignis der Conquista als eine dramatische Konfrontation, aus der weder Sieger noch Besiegte hervorgingen. In seinen Augen hat der Zusammenprall beider Kulturen bis in die Gegenwart andauernde Transformationen bewirkt, die kein endgültiges Ergebnis erkennen lassen. Tamayo vermeidet daher auch ideologisch motivierte Stereotypisierungen. Dazu ausfuhrlich Haufe 1991: S. 335ff.
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Serrano
begreifen. Eine korrekte Deutung der Aussage eines verwendeten Symbols kann meist erst über die Kenntnis der ideologischen Position des jeweiligen Malers oder Schriftstellers bzw. über eine diskurskritische und/oder kontextgebundene Analyse erfolgen. In jedem Falle ist die eigentliche Bedeutung der angebotenen Identitätsbilder darin zu sehen, daß sie sinnstiftend und wertbildend funktionalisiert werden können. Zum Allgemeingut gewandelt, indem sich konfliktive historische Ereignisse in positiver Deutung im kollektiven Bewußtsein verankern, leisten sie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Aufbau der Nation. Revueltas seinerseits war mit den Arbeiten der Muralistas vertraut und pflegte mit einigen von ihnen einen freundschaftlichen Umgang. Er bekannte sich ausdrücklich zu dem universalistisch ausgerichteten José demente Orozco als Vorbild, der sich einerseits vehement gegen vereinheitlichende Synthesen bzw. Ideologien wendete, und andererseits die Möglichkeit der Verkehrung kollektiver Symbolik am weitesten ausreizte.41 Wie ich zeigen werde, sind gerade in El luto humano Motive zu erkennen, die sich auf Orozcos Schaffen zurückfuhren lassen. Im Interesse des bekennenden und doch zweifelnden Marxisten erfahren diese jedoch eine neuerliche Umdeutung.
Zu Beginn der 40er Jahre allerdings erlahmen sowohl die von einem reformpolitischen Geist getragene Dynamik als auch die Diskussion um die eigene Identitätsfindung. Sie werden von einer Haltung abgelöst, der die nationale Selbstergründung, insbesondere der Rückblick auf die Geschichte, müßig erscheint, da dieser sich bei der Gestaltung der Gegenwart nicht in dem erwarteten Maße bewährt habe. Einflußreiche Industrielle und Landbesitzer pochen auf ihre Machtansprüche und stellen sich weiteren reformpolitischen Bestrebungen in 41
Siehe dazu Haufe 1991: Als Beispiel sei auf das Wandbild Politischer Zirkus (1937) verwiesen, das eine vehemente Absage an alle ideologische Agitation formuliert. Wild gestikulierende Demagogen bombardieren sich hier gegenseitig. Aber die Intention Orozcos ist nicht, konkret gegen bestimmte Ideologien zu polemisieren, sondern: " (...) seinen Protest gegen das Wesen der ideologischen Deformation (zu richten). Die Personen bleiben dabei austauschbar" (Haufe 1991: S. 132).
II. Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko
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den Weg. Während der Amtszeit Avila Camachos dominiert die Staatsmacht uneingeschränkt alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Der politische Diskurs propagiert Modernisierung und Aussöhnung, und er nivelliert die im Land existierenden Widersprüche in allgemeingültigen Formulierungen "La contradicción burguesía -proletariado se resuelve con la negociación, la contradicción nación- imperio, con el nacionalismo".42 Eine wesentliche Rolle für die fiktive Symbiose von Eliten und Massen spielen die Medien. Der mexikanische Film erweist sich nicht nur als probates Mittel, sondern zeigt sich auch gegenüber dem Muralismo in der Hinsicht überlegen, daß er eine Identifikation mit dem Prozeß des Wandels bewerkstelligt: "[para] conseguir la identificación del espectador con los personajes por medio de una trama narrada que incluía a los espectadores en un proceso de cambio".43 Ein Beispiel für die Strategien ideologischer Sicherung bietet der Film Enamorada des Indio Fernández. Enamorada führt vor, wie die nationale Familie, die durch die Revolution gespalten wurde, reintegriert wird. Der Film entwickelt den Konflikt zwischen der alten Klasse der Großgrundbesitzer und dem aus der Mexikanischen Revolution hervorgegangenen neuen Menschen. Die alte Ordnung wird durch Beatriz, die Tochter eines Großgrundbesitzers,
repräsentiert,
die
dem
Vertreter
der
neuen
Ordnung,
personifiziert in einem General niedriger Herkunft, begegnet. Das gloriose Ende sanktioniert die junge postrevolutionäre Ordnung auf eine Weise, die den Zuschauer in den Prozeß der Veränderung miteinschließt "AI final no sólo se harestauradolarelación'natural' jerárquica del hombre y de la mujer, sino que el traspaso de Beatriz señala el cambio del orden viejo al nuevo, que implica la separación necesaria de esta nueva familia de sus orígenes".44
42 43
44
Agustín Cueva, El desarrollo del capitalismo en América Latina. México: Siglo XXI 1977: S. 163; hier zitiert nach Sefchovich 1987: S. 105. Franco 1994: S. 189. Franco analysiert in diesem Zusammenhang den Film Enamorada (1947) des Regisseurs Indio Fernández, und als Gegenstück dazu Los Olvidados von Luis Buñuel. Franco 1994: S. 194.
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Serrano
Die bürgerliche Familie wird bewahrt und in den neuen, revolutionären Nationalstaat einbezogen. Die neue nationale Familie, die Mitglieder der verschiedenen sozialen
Klassen verbindet, wird schließlich noch von einem
Priester
gesegnet. Auf diese Weise versöhnt der Film aufs vortrefflichste Revolution, Bürgertum (die bürgerliche Familie) und Religion miteinander, und schafft ein mustergültiges, national-mestizisches Identitätsbild.45 Die in der offiziellen Rhetorik propagierte Weltsicht scheint nun vollkommen mit der "Einsicht" der Massen übereinzustimmen: "La sociedad civil compartió en gran medida los mitos y perspectivas oficiales. La comunicación fue particularmente fácil, propia de un Estado-nación. El lenguaje común habló el lenguaje oficial. El sentido común fue el oficial. La interpretación de la historia, de la economía y las perspectivas del futuro fueron paite de una sociedad civil que pensó como su gobierno y de un gobierno que se apropió del lenguaje de sus opositores".46
Die offizielle Rhetorik hat die Besinnung auf das kulturelle Erbe in der Form integriert, daß sie spezifische Leistungen und Eigenarten des mexikanischen Volkes beständig revitalisiert und damit identitätsbildende Leitbilder vorgibt. Heute noch vergegenwärtigen in Mexiko zahlreiche Feste den Mythos jener "heiligen Zeiten", in denen die Begründer der jeweiligen neuen Gesellschaftsform um der Reinigung und Erneuerung willen Schuld auf sich laden mußten. Bei zahlreichen nationalen politischen Inszenierungen singt man unbeeindruckt von realen Gegebenheiten weiterhin die Heldenlieder der Conquista, der Reforma und der Revolution. So feiert man den Aztekenherrscher Cuauhtémoc am 13. August und wenig später die Unabhängigkeit am 14. und 15. September, wobei den Nationalhelden Padre Hidalgo und Morelos jeweils noch ein eigener Erinnerungstag gewidmet wird; am 12. Oktober wird dann der Día de la Raza zum nationalen Ereignis, und am 20. November folgen die Gedenkfeiern an den Be-
45 46
Dagegen denunziert der Film Bufluels die Familie und die Nation als Mythen. Pablo González Casanova: El desarrollo más probable. In Pablo González Casanova y Enrique Florescano (Hrsg): México hoy, Siglo XXI. México, 3. Aufl., 1977, S. 279: Hier zitiert nach Sefchovich 1987: S. 108.
II. Legitimationsstrategien der Eliten im postrevolutionären Mexiko
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ginn der Revolution. Davon einmal abgesehen, daß schließlich noch unzählige nationale und regionale Feste zu Ehren der wichtigsten Heiligen zu erwähnen 47
waren. Der Einzelne fügt sich (unbewußt) diesen Annahmen über Realität als Spezifika seines Volkes, so daß die Rede über die Nation oftmals bindender erscheint als die Wirklichkeit vor Augen. Wie sonst ist es zu erklären, daß auch von den Intellektuellen bis in die 70er Jahre eine so offensichtliche Diskrepanz zwischen der immerhin doch sehr sichtbaren tatsächlichen Lebenspraxis der Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung in Armut oder an der Armutsgrenze und den offiziellen Diskursen der politischen Machthaber nicht zur Kenntnis genommen worden sein soll.
47
Ich habe hier nur eine kleine Auswahl vorgenommen. Aehnelt (1986) listet über dreißig der wichtigsten Feste Mexikos auf, die das staatliche und kirchliche Kalenderjahr strukturieren. Siehe speziell dazu das Kapitel Opium des Volkes ? - Die fiestas. In Aehnelt, Reinhard (Hrsg): Mexiko. Ein politisches Reisebuch. Hamburg, VSA-Verlag 1986.
III. El luto humano
III.
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EL LUTO HUMANO
José Revueltas schreibt in nur wenigen Monaten -Dezember 1941 bis August 1942- El luto humano, den Roman, den auch die neuere Kritik bis heute für seinen besten und wichtigsten erachtet - wenngleich die grundsätzliche Übereinstimmung auf unterschiedliche ideologische und ästhetische Kriterien zurückzuführen ist. Die traditionelle Forschung beurteilt ihn als Thesenroman, mit dem der Autor seine Position eines "christlich mexikanischen Fatalisten"1 bzw.
Grundsätzlich läßt die Makrostruktur entgegengesetzte Interpretationen zu. le nach ideologischem Filter des Kritikers wird entsprechend ein Argument besonders betont. So versteht Adalbert Dessau El luto humano als negatives Beispiel des realismo crítico und diagnostiziert einen "nihilistischen Pessimismus" beim Autor, der sich besonders in diesem Roman wiederspiegele: "Revueltas combina el postulado existencialista de la falta de sentido de la vida con el problema de sentido de la vida colectiva del pueblo de México. La respuesta debe encontrarla el lector, y sobre la base del tema, ésta sólo puede ser negativa. Así, la novela tiende hacia una negación de todo sentido de la historia mexicana" (Dessau 1972: S. 382). Ruffinelli dagegen siedelt die Botschaft des Romans auf der Ebene eines "christlich-mexikanischen Fatalismus" an (Vgl. Ruffinelli 1977: S. 53-56). Der katholische Priester Pedro Trigo wiederum legt in seiner Analyse besonderes Gewicht auf den Aspekt der desposesión, d.h. der Enteignung der präkolumbischen Kultur durch die Kirche, die Revueltas kritisiert habe (Vgl. Pedro Trigo: Cristianismo e historia en la novela mexicana contemporánea. Lima: Centro de Estudio y Publicaciones 1987). Andere wie Antoine Rabadán (1985) und Octavio Paz sehen die Moral des Romans in dem Vorschlag eines christlichen Kommunismus (siehe unten), während Evodio Escalante (1979) die marxistische Grundhaltung als wesentlichen Faktor zur Grundlage seiner Studie erklärt. Escalante betont, daß Revueltas einen obsessiven Willen zur Stilisierung von Symbolik und Wirklichkeitsmodellen zeige, und lenkt damit den Blick auf die Funktionalisierung der Symbole in der Narrativik Revueltas'. In den 70er Jahren wurde begonnen, das Gesamtwerk unter bislang unberücksichtigt gebliebenen Gesichtspunkten zu lesen. Während Frankenthaler (1979) sich beispielsweise auf Aspekte einer existentialistischen Weltsicht konzentriert, beschäftigt sich Helia Sheldon (1985) erstmals eingehender mit dem Gebrauch der Funktionen von Mythen und Archetypen in El luto humano und Los días terrenales. In ihrer umfangreichen Untersuchung widmet sich Borsö (1994) der Verflechtung des realistischen Erzählstils mit einer magisch-mythischen Sicht. Sie geht davon aus, daß die Kohärenz der Makrostruktur von El luto humano weniger durch ihre formale Wahr-
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Monika Pipping de Serrano
eines "christlichen Marxisten"2 an einzelnen Figuren exemplarisch veranschaulicht. Aufgrund seiner formalen Neuerungen3 wurde der Roman zunächst
scheinlichkeit als durch die Logik der Diskurse der mexikanischen Kultur begründet ist: "Die Makrostruktur verliert die im traditionellen Realismus primäre Funktion der Mimesis von Welt und öffnet sich mit einer Vielfalt diachroner und synchroner Mythen und Archetypen zu einem freien Umgang mit der Vielfalt des kulturellen Gedächtnisses (...)" (Borsö 1994: S. 212). " Paz versteht die Negation Gottes als Basis der Glaubensanschauung Revueltas' mit weitreichenden Implikationen. Er konstatiert: "Der Marxist Revueltas nimmt das christliche Erbe mit all seinen Konsequenzen auf sich: mit dem ganzen Gewicht der menschlichen Geschichte" (Paz 1984: S. 212). Und er fährt fort: "Christentum und Marxismus sind durch die Geschichte verbunden; beides sind Lehren, die sich mit dem geschichtlichen Prozeß identifizieren. Die Bedingung für die Verwirklichung des Marxismus ist dieselbe wie für das Christentum: das Einwirken auf diese Welt. Aber auch der Gegensatz zwischen Marxismus und Christentum manifestiert sich in dieser Welt: um seine Aufgabe zu erfüllen und sich zu verwirklichen, muß der revolutionäre Mensch Gott aus der Geschichte vertreiben. (...) Revueltas' christlicher Marxismus ist nur verständlich, wenn man ihn unter dem zweifachen Blickwinkel betrachtet, den ich soeben umrissen habe: Vorstellung der Geschichte als eines sinnhaltigen und zielgerichteten Prozesses einerseits, irreduzibler Atheismus andererseits. Damit tritt zwischen Geschichte und Atheismus ein neuer Gegensatz zutage: wenn Gott verschwindet, hört die Geschichte auf, Sinn zu haben. Der christliche Atheismus ist tragisch, weil er, so wie Nietzsche ihn sah, Negation des Sinns ist" (Paz 1984: S. 212-213). Dagegen erklärt Revueltas beispielsweise in einem Gespräch mit Norma Castro Quiteño: "La religión y la mística son contextos objetivos; no me refiero a que sean reales, son irreales desde el punto de vista de la teoría del conocimiento porque son simplemente una invención del hombre, como lo ha dicho Marx" (Revueltas im Interview mit Norma Castro Quiteño: Oponer al ahora y aquí de la vida el ahora y aquí de la muerte (1967). In Sáinz 1977: S. 90). 3 In El luto humano bricht Revueltas mit traditionellen literarischen Konventionen und setzt neue literarhistorische Akzente im Hinblick auf die Bearbeitung der Revolutionsthematik. Eine zentrale Bedeutung gewinnt die Vervielfachung des Zeitraumes durch den Prozeß des Erinnerns der Protagonisten vor ihrem unausweichlichen Ende. Die Chronologie der Ereignisse muß vom Leser selbst rekonstruiert werden. Vor dem öden ruralen Hintergrund entwickelt der Autor philosophische Fragestellungen, die den regionalen Raum bei weitem überschreiten. Nachweislich übte der Roman auf drei Autoren einen starken Einfluß aus. Bei Juan Rulfos Pedro Páramo (1955) kehren strukturelle Merkmale wieder; Augustin Yáñez greift in AI filo del agua (1947) in ähnlich distanzierter Form die Revolutionsthematik auf; und Octavio Paz schreibt seinen berühmten Essay El laberinto de la soledad (1950) kongenial zu diesem Roman Revueltas': "La búsqueda del origen y la madre, el arquetipo femenino, la Malinche, el dilema del mestizaje, la soledad y la orfandad del hombre del altiplano están ya presentes en El luto humano" (Sheldon 1985: S. 167).
III. El luto humano
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freudig begrüßt und 1943 mit dem Literaturpreis Premio Nacional de Literatura4 ausgezeichnet. Jedoch rief die Botschaft des Romans ob einer eigentümlichen Negativität auch eine ablehnende Wirkung hervor. Das auf knapp 200 Seiten komprimierte Geschehen ist in neun Uberschriftslose Kapitel unterteilt. Legt man sich selbst eine Art Inhaltsverzeichnis zurecht, sticht der Uberdimensionale Umfang des letzten Kapitels im Vergleich zu den vorangehenden heraus.5 Dieses Ungleichgewicht mag man einer Unerfahrenheit oder auch einer Nachlässigkeit des jungen Autors zuschreiben, oder aber man vermutet eine Methode. Tatsächlich wird bei genauerer Aufschlüsselung der Kapitel erkennbar, daß zwei Welten kontrastiv vorgeführt werden: Auf der einen Seite finden wir die nüchterne Realität des alltäglichen Existenzkampfes der campesinos Úrsulo, Calixto und Jerónimo und ihrer Frauen, während uns auf der anderen Seite die Präsenz staatlicher, kirchlicher und utopischer Macht, verkörpert in den "Führungspersönlichkeiten" Adán, dem cura und der messianischen Gestalt Natividad, begegnet.6 Die unterschiedlichen Lebenswelten sind
4
5 6
Anläßlich der Verleihung des Preises hielt Revueltas vor dem Schriftstellerkongreß die Rede El escritor y la tierra. Darin bringt er sein Bestreben zum Ausdruck dazuzugehören: "La primera condición del escritor (...) la primera condición del hombre, es pertenecer. Parece obvio, pero al hombre se le dijo esta primera palabra de pertenecer y también se le dijo a la piedra y al árbol. El árbol pertenece, está ubicado, tiene un sitio. Nada más simple, nada más evidente y prodigioso. Entonces hay que cumplir con la palabra ardiente de pertenecer. ¿Y quién es el escritor, qué manos tiene, para estar por encima de las cosas, por encima del desorden, él, representante, que debiera ser representante, del desorden, del caos, de la lucha, de las tinieblas que quieren llegar a convertirse en luz? Hay que tomar nuestro vestido de tierra, nosotros, féretros que tenemos pasos, y comprometernos ligándonos al mundo. ¿Quiénes somos para no pertenecer? Nuestra primera condición es estar en la tierra" (O.C. 24, S. 204-205). Kapitel I-VÜI umfassen etwa die ersten 100 Seiten, das Kapitel X nimmt dafiir die gesamte zweite Hälfte in Anspruch. Kapitelübersicht gemäß den Hauptpersonen der einzelnen Kapitel: I (S. 11-21): Tod Chonitas; Begegnung Úrsulo-Adán; n (S. 22-32): Der cura\ m (S. 33-45): Totenwache der Siedler bei Chonita und Ankündigung der Apokalypse; IV (S. 46-56): Úrsulo-Cecilia; Beginn des Exodus; V (S. 57-66): Úrsulo = hijo del cuchillo de obsidiana; Tod Jerónimos; VI (S. 67-80) Regressionsprozeß und Er-
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Monika Pipping de Serrano
miteinander durch das Spiel der Erinnerungen der Figuren verwoben. Verbindender Topos für sie ist die unausweichliche Faktizität des Todes, der den Verlauf der Handlung determiniert. Die Rahmengeschichte erzählt vom Schicksal dreier campesino-Familien,
die
auf der vergessenen Erde eines ehemaligen Latifundienbesitzes ausharren. Sintflutartige Regenfälle, die mit dem Tod der neugeborenen Tochter Úrsulos, des Anführers, einsetzen, zwingen sie jedoch, ihre Häuser zu verlassen. Der Aufbruch gerät zu einem Exodus der Verzweiflung: "Emprendían ya el éxodo. (...) Comenzaba el naufragio, el cielo de soledad. Caminarían sin derrotero en medio de esa noche parda que era la mañana sin sol, buscando, anhelando. Quizá encontraran una piedra, algún refugio, o los sorprendiera la muerte, sin transición alguna, con el agua o el rayo. Pero caminarían. Sin destino, sin objeto, sin esperanza. Por no dejar" (S. 56). 7
Keine Hoffnung und keine Vision leiten die Flüchtenden. Orientierungslos stolpern sie durch die Dunkelheit. Nach einigen Tagen -genaue Orts- und Zeitangaben fehlen- entdecken sie vielmehr, daß sie im Kreis umhergeirrt und zum Ausgangspunkt zurückgekehrt sind. In einer letzten Anstrengung retten sie sich vor dem stetig anschwellenden Fluß auf das Dach von Úrsulos Haus. Dieses wird jedoch bereits von Aasgeiern umkreist, die darauf warten, sie zu verschlingen. Die rudimentäre Rahmenhandlung wird erweitert durch das Gefüge der Erinnerungen der einzelnen Figuren, die sich angesichts des nahenden Todes wichtiger Stationen ihres Lebens erinnern. Die Binnenhandlungen situieren das Geschehen zeitlich Ende der 30er Jahre und führen zurück auf die Ereignisse
kenntnis des cura\ VII (S. 81-90) Exodus führt in Kreisbewegung zum Anfang zurück; Vm (S. 91-109) Calixto; Revolution; IX (S. 111-181) Adán; Adán-Borrada;
Adán-Natividad; Revolution; Cristero-Kriege; Sistema de Riego; zopilote: rey de la creación. 7
Das Motiv des Exodus, das der Rahmenhandlung zugrundeliegt, legt die Assoziation zur Wanderschaft des mexikanischen Volkes nahe: "Quiso [Jerónimo] decir algo, protestar, pero lo llevaron a fuerza, a través de un mundo donde el viaje duró quinientos afios" (S. 66). Auf die historischen Implikationen werde ich in Kapitel 3.3.2. ausführlich eingehen.
III. El luto humano
61
der Mexikanischen Revolution, der Cristero-Kiiege denas unternommenen Agrarreformen.
8
und die von Präsident Cär-
Sie umgreifen damit relevante Mo-
mente der jüngeren Geschichte Mexikos, die prägend für die Bewußtseinsbildung im Prozeß der angestrebten Identitätsfindung wirken sollten. Die Reminiszenzen an Historie und philosophische Luzidität erscheinen unmotiviert im Verhältnis zur Rahmenhandlung, und übertrieben angesichts der zu vermutenden Simplizität des Bewußtseins bei den hier vorgestellten Repräsentanten der untersten Bevölkerungsschicht, den marginalisierten campesinos,9
Borso weist
jedoch zu Recht darauf hin, daß die Kohärenz der Erinnerungen in der konsequenten Bildung von Diskursen der mexicanidad
liegt, die sich als ein Gefüge
von ethnischen und politischen Beziehungen enthüllen. Sie führt weiter aus, daß sich die Hauptfiguren, die einer wahrscheinlichen psychologischen Ausgestaltung entbehren, als Archetypen und allegorische Figuren enträtseln.10 Ihre Charakterisierung entschlüsselt sich als Methode, die bewußtseinsbildende
9
10
Die Cristero-Ktiege (1926-29) sind als Gegenreaktion vorwiegend der Landbevölkerung auf die von ihnen als Enteignung des Rechts auf Religion verstandene kirchenfeindliche Politik der Konsolidierungsphase der Revolution zu verstehen: " (...) der Cristero-Aufstand (stellte) zumindest im Westteil des zentralen Hochlandes eine eigentliche katholisch-bäuerliche Massenbewegung dar. Vordergründig war die Erhebung eine Antwort auf die antiklerikale, betont kirchenfeindliche Politik der CallesRegierung, in einem weiteren Zusammenhang aber wohl auch eine Reaktion der traditionellen katholisch-bäuerlichen Gesellschaft auf eine wiederum zunehmende Penetration durch den »modernen«, religionsfeindlichen Staat" (Tobler 1984: S. 371). Ausführlich zu den historischen Hintergründen des Aufstandes, der zunächst die klassischen Formen eines Kulturkampfes annahm (Schließung von katholischen Klöstern und Schulen; Ausweisung ausländischer Priester und Nonnen; Verhaftung des besonders kämpferischen Bischofs von Huejutla; etc.). Siehe Tobler 1984: S. 396ff.; und Jean Meyer. La Cristíada, México: Siglo XXI, 1977. Bd. II: S. 193). Die Sekundärliteratur stimmt dahingehend überein, daß sie den Figuren jede Form psychologischer Wahrscheinlichkeit oder physischer Konkretisierung abspricht. Sie verkörpern vielmehr abstrakte Ideen, die den zu erwartenden psychischen und intellektuellen Rahmen sprengen. Borsö verwendet Archetype im Sinne von Frye (1957), als "ein durch die Rekurrenz in kulturellen Texten abrufbares kulturelles Motiv" und nicht im Jungschen Sinne. Vgl. Borsö 1994: S. 171.
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Wirkung von mythopoetologischen Diskursen der mexicanidad aufzuzeigen. So faßt Borsò zusammen: "Rückblickend rollt Revueltas die Geschichte Mexikos auf. Die durch die Struktur der Erinnerungen aufgebaute Kausalität läßt erkennen, daß ein Mythos an den Ursprung der mexikanischen Geschichte gesetzt worden ist, der die Geschichte ursächlich bestimmt. Der Mythos wirkt nicht nur dadurch, daß er eine historische Kausalitätskette generiert, sondern auch Wertesysteme verfügbar macht, die die großen Gestalten der Geschichte Mexikos zu einer Oppositionsreihe von rechtmäßigen und unrechtmäßigen Vertretern der legitimen Wiederfindung ursprünglicher Identität gerinnen lassen".11
Wie ich zeigen werde, vergegenwärtigt José Revueltas in El luto humano Ursprungsmythos und Erfolgsmythen, um -gleichsam mit dem nächsten Atemzug- die durch sie bewirkten Identitätsbilder als Illusionen auszuweisen. Durch kognitive Distanznahme transponiert er die Innenwelt der Psyche "des" ser mexicano auf die rational erfaßbare Ebene soziokultureller Analyse. Der Autor läßt dabei die bekannten Mytholegeme nicht isoliert auftreten, sondern verankert sie kontextuell in einer Realität, die durch politisch institutionalisierte Gewalten sowie sozioökonomische Machtkonstellationen geprägt ist. Die durchscheinende Distanznahme zu mythopoetischer Rede im Hinblick auf den Realitätsanspruch des Textes manifestiert die Absicht des Autors, die im kollektiven Bewußtsein der mexikanischen Nation dieser Zeit gelebten Glaubensgewißheiten und Affekte zu verarbeiten. Doch bleibt die Perspektive des Autors nicht auf die soziokulturelle Dimension begrenzt. Kontrapunktisch dazu betrachtet er den Einzelmenschen in seiner subjektiven Erfahrung unter dem Druck äußerer Kräfteverhältnisse. Unter der Bürde des nahekommenden Todes beginnen die Protagonisten von El luto humano, ihre Vergangenheit als Weg der Erfahrung zu begreifen. Das eigene Ende vor Augen, drängt es sie, Erkenntnis Uber ihre Existenz zu gewinnen. Es ist aber nur einigen von ihnen in dieser letzten Etappe ihres
11
Borsò 1994: S. 181.
III. El luto humano
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Lebens vergönnt, in Momenten höchster geistiger Präsenz, Klarheit über die Wahrheit ihres Lebens zu erlangen. Wenn man die Lektüre auf die augenscheinlichen negativen Vorzeichen des Romans begrenzt, führt sie in eine von Agonie durchdrungene Welt, in der resignative Gestalten angesichts einer unbezähmbaren Natur und menschenverachtender Gewalt in fatalistischer Gleichgültigkeit ihr Schicksal erdulden. Diese pessimistische Grundstimmung überträgt sich schließlich scheinbar zwangsläufig auf den Leser, der in den Sog des Niedergangs hineingerissen wird und sich in Illusionslosigkeit zu verlieren droht. Die unübersehbar "negativen Tendenzen" in dieser Welt sind jedoch so auffällig gesetzt, daß es vielversprechend erscheint, in ihnen einen Schlüssel zur Botschaft des Romans zu vermuten. Revueltas bedient sich im Roman einer Symbolik, die sich aus der mexikanischen Gesellschaft vertrauten kulturellen Zeichen zusammensetzt.
Jedoch
nimmt er sich die Freiheit, diese in ungewöhnlicher Weise zu kodieren. Er verfremdet sie gezielt, so daß ihre Dechiffrierung nicht mehr selbstverständlich zu bewerkstelligen ist. Auf diesem Wege entwickelt er eine völlig eigenständige Ikonographie, die sowohl auf biblische als auch auf Elemente autochthonen Ursprungs zurückgreift. In diesem Sinne handelt es sich bei El luto humano um einen offenen Roman, der Spielraum für mannigfaltige Lesarten zuläßt. Aufgrund der vorangestellten Prämissen möchte ich den Roman nun im Hinblick auf folgende Gesichtspunkte lesen: 12 Inwieweit gelingt es dem Autor, seinem eigenen Anspruch einer objektiven Realitätsrepräsentation im Sinne eines realismo critico gerecht zu werden, um auf dieser Basis Uber Machtverhältnisse sowohl im zwischenmenschlichen als auch gesellschaftlichen Bereich mexika-
12
Wie bereits mehrfach angesprochen, regt der Roman zu vielfältiger Lektüre an. So konzentriert sich Borsö, die den Text in die magisch-realistische Schreibpraxis einordnet, beispielsweise auf eine:" (...) radikale Konfrontation mit der allgegenwärtig erfahrenen Trauer und einen abstrakt-kritischen sowie distanzierenden, philosophisch-theologischen Diskurs" (Borsö 1994: S. 172).
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nischer Wirklichkeit Aufschluß zu geben. Dabei verbindet sich die Frage nach der Leistung des Textes in bezug auf eine konstruktiv destruierende Aufarbeitung mythopoetologischer Deutung von Geschichte mit der Frage nach der Umwertung und Reaktivierung kultureller Identitätszeichen des postrevolutionären Mexiko.
3.1.
Die Vergessenen der Geschichte
Der Tod von Úrsulos und Cecilias Tochter Chonita bildet das initiale Zeichen der Fabel von El luto humano.13 Hineingeboren in eine lebensfeindliche Natur, fernab jeder Zivilisation, bedeutet ihr frühes Hinscheiden den Verlust jeglicher Hoffnung für die wenigen Siedlerfamilien, die nach einem gescheiterten Versuch, der Erde durch ein Bewässerungssystem Zugeständnisse abzuringen, in verzweifelter Trostlosigkeit auf ihrem Stück verödeter Scholle ausharren. Das Häuflein elender Bauern lebt, durch einen Fluß vom nächsten Dorf getrennt, preisgegeben der Einsamkeit und Wildnis. In der Sterbestunde seiner Tochter macht sich Úrsulo trotz des drohenden Unwetters auf zum Dorf, um den Pfarrer herbeizuholen. 14 Währenddessen jedoch stirbt Chonita. Die beiden befreundeten Paare Jerónimo und Marcela sowie Calixto und La Calixta finden sich ein, um Cecilia bei der Totenwache beizustehen. Die physische Erscheinung dieser Ge-
13
14
Der Akt der Namensgebung ist im Roman beschrieben und verweist auf die traditionell katholische Sitte, dem Neugeborenen den Namen des Heiligen zu geben, dem der Geburtstag gewidmet ist: "La Encarnación del Señor. Eso, hoy es la Encarnación. (...) Encarnación ... Entonces Chona... Chonita... " (El luto humano: S. 87). Úrsulo handelt gemäß eines katholischen Ritus, dem er jedoch eine synkretistische Bedeutung gibt: "Siempre un cura a la hora de la muerte. Un cura que extrae el corazón del pecho con ese puflal de piedra de la penitencia, para ofrecerlo, como antes los viejos sacerdotes en la piedra de los sacrificios, a Dios, a Dios en cuyo seno se pulverizaron los ídolos esparciendo su tierra, impalpable ahora en el cuerpo blanco de la divinidad" (S. 12).
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III. El luto humano
schöpfe, gezeichnet von einer außerordentlichen Häßlichkeit: Todos eran flacos y feos (S. 33), vermittelt eine erste Ahnung ihres peinvollen Lebens.15 Sie sind Täter und Opfer, Zeugen und Leidtragende einer ruhmlosen Vergangenheit, die bestimmt war von elementaren Bedürfnissen und Gewalt: Jerónimo, einst einer der Anführer des Streiks auf Sistema de Riego, vermag seiner Trauer über den *
Verlust Chonitas nur durch exzessiven Alkoholgenuß zu begegnen. In selbstverachtender Zerstörungswut betrinkt er sich bis zur Bewußtlosigkeit, während ihn seine Frau Marcela hilflos, aber in demütiger Treue, bis zum Ende begleitet. Calixto, der seine Frau nie geliebt hat, verfolgt nur noch sein Begehren nach Cecilia, zu deren Besitz er sich nun berechtigt glaubt, nachdem die Frucht seines Rivalen Úrsulo -Chonita- verdorrt ist. Auch seine Frau beobachtet mit unterwürfiger Zuneigung die Nachstellungen ihres Mannes, denen sie nichts entgegenzusetzen weiß: "(...) lo miró con ojos lastimeros y repugnantes, llenos de agua. 'El cabrón ... ', pensó con miedo y ternura. Nunca había tenido hijos y su marido le golpeaba el vientre abultado, para que pariera" (S. 36). Ohnmächtige Tatenlosigkeit, Apathie und Resignation kennzeichnen diese kleine Gruppe von Siedlern, die die Welt vergessen hat. Úrsulo und sein kleines Häuflein Getreuer stehen hier exemplarisch für die unzähligen Namenlosen des mexikanischen Volkes, die gleich ihren präkolumbischen Vorfahren lernten, daß sie dem unberechenbaren Willen der Schicksalsmächte preisgegeben sind.
3.1.1. Dunkle Symbolik oder el
lado moridor
der "Fluß-Schlange"
Die Rahmengeschichte der Flucht der drei armseligen Siedlerfamilien umgreift sowohl verschiedene Vergangenheitsstufen als auch die Gegenwart. Die lineare 15
Beispielsweise auch die Figur La Calixta: "(...) parecía embarazada a causa de la hidropesía y su flacura; de esta suerte, era extraordinaria y como más sucia. Llegóse
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Zeit löst sich auf in einer stetig präsenten, totalen Zeiterfahrung. Auf diese Weise verschmilzt die historische Dimension -von den präkolumbischen Kulturen über die Conquista bis zum postrevolutionären Mexiko des 20. Jahrhundertszu einem einzigen Moment des Jetzt, in dem vielfältige christlich-biblische und indigene kulturelle Zeichen vitalisiert sind. Dabei werden die Motive von Ex* odus und "apokalyptischer Sinflut" durch das drohende Gebaren der "RußSchlange" noch gesteigert. Versuchen wir eine erste Interpretation dieser kollektiven Symbole in der Umwertung durch Revueltas: Der Exodus der campesino-Familien,
der zudem
in einer zirkulären Bewegung zum Ausgangspunkt, dem Haus Úrsulos, zurückfuhrt, symbolisiert die zyklische Wiederholung des Leidensweges des Volkes in der mexikanischen Geschichte. 16 Aufbruch und Wanderschaft spielen in zahlreichen Gründungsmythen eine wesentliche Rolle. Die Bibel berichtet, wie Moses nach einer Weisung Gottes sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens führte. In ähnlicher Weise leisteten auch die Azteken einer Prophezeiung ihres Stammesgottes Huitzilopochtli Folge, der ihnen befohlen hatte, so lange zu wandern, bis sie auf einen Adler träfen, der auf einem Kaktus sitzend eine Schlange verzehre. 17 In diesen Gründungsmythen findet das Volk am Ende im verheißenen gelobten Land Ruhe und wird für seine Entbehrungen belohnt. Dagegen werden die Hoffnungen des mexikanischen Volkes immer wieder aufs neue enttäuscht - in der Conquista, den Unabhängigkeitskämpfen und nicht zuletzt in der fehlgeschlagenen Revolution. Wenn sich Úrsulo, Calixto, Jerónimo und ihre Frauen auf die Suche nach einer neuen Heimat begeben, so fehlt
16 17
también hasta el cuerpecito y no tuvo empacho en tocar las piernas rígidas" (S. 33). Siehe dazu auch das Kapitel 3.3.2. "Der Exodus des mexikanischen Volkes". Man vermutet, daß der Ursprungsort der Azteken Aztlán auf einer Insel gelegen war, da die Wanderung mit einer Fahrt in Kanus beginnt. Der Codex Boturini, auch Tira de la Peregrinación genannt, berichtet über diese Wanderung, die angeblich einen Zeitraum von hundertachtzig Jahren umfaßte. Vgl. auch Westheim 1964: S. 15.
III. El luto humano
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ihnen eine Bestimmung, die sie leiten könnte. Sie bleiben sowohl in irdischer (Scholle) als auch metaphysischer (Religion) Hinsicht ohne Bindung: "Justo, preciso, indispensable caminar, ahora que no tenían sitio. Caminar intensamente, sólo que sin meta, huyendo. Quizá fuese cosa del destino y no de ellos nada más eso de huir siempre. Pero huir permaneciendo, o mejor, con un anhelo tan violento de permanecer que la huida no era otra cosa que una búsqueda y el deseo de encontrar un sitio de tierra, vital, donde pudieran levantarse. Por eso todos ellos se sentían hoy inconscientemente unidos, solidarios trascendentes de algo que no se les alcanzaba, juntos hasta la desesperación, a pesar de que no tenían ojos y apenas un espíritu. Ignoraban todo (...) ¿A dónde iban? A qué lugar, cuando probablemente la tierra estuviese inundada completamente, (...) Pero con todo, caminar, buscarse, porque aun cuando fueran derrotados, algo les decía muy dentro, sin que oyeran nada, que la salvación existía, si no para ellos para eso sordo triste y tan lleno de esperanza que representaban" (S. 60). Die unfreiwillige Rückkehr zum Ausgangspunkt ihrer Odyssee signalisiert eine stetige Wiederholung und die Bedeutungslosigkeit vergangenen Geschehens. Das Fortschreiten der Zeit erweist sich für das gemeine Volk als belanglos, da die vermeintliche historische Entwicklung, gleichgültig ob Revolution, Cris tero-Kriege
oder Agrarreform, keine wesenüiche Veränderung hervorbringt.
Die campesinos sind wie schiffbrüchige, zum Scheitern verurteilte Existenzen, die an den Ufern der Geschichte gestrandet zurückbleiben: "Eran basura los náufragos, basura terrible. (...)¡Náufragos de soledad y de destino! ¡Basura que vuela y se consume, combustible, pájaro, ala de pobre origen" (S. 107108).
Über ihnen ziehen die mexikanischen Todesboten, die zopilotes18, ihre Kreise, bereit, sie für immer aus dem Gedächtnis der Geschichte zu löschen: "Era la victoria de la muerte. (...) Morirían, sin embargo, morirían todos, y el zopilote era un rey, el rey de la creación" (S. 184). Der Tod Chonitas und die Präsenz
18
Revueltas erklärt den indianischen Begriff für Aasgeier im Text: "De paso habría que decir la raíz de la palabra zopilote, compuesta de tzotl, basura, y pilotl, acto de levantar o recoger" (S. 107). Die zopilotes übernehmen in mexikanischen Texten häufig die Funktion von Todesboten, so wie Raben und Krähen in europäischen Texten.
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der zopilotes versperren dem Volk jeglichen Ausblick auf eine wie auch immer geartete hoffnungserfüllte Zukunft. In fatalistischer Resignation geübt, wird es sich daher letztlich jeglicher Schicksalsfügung beugen. 19 Der Autor-Erzähler erinnert jedoch daran, daß es auch für die Verlorenen eine Zeit gegeben hatte, in der ihr Leben von Hoffnung und Zuversicht auf eine bessere Zukunft geleitet war. Im Bestreben, die Proklamationen der Revolution und der Verfassung von 1917 einzulösen, hatten die gerade installierten Machthaber damit begonnen, die Pläne einer Agrarreform zu verwirklichen, d.h. Land an einfache Bauern und Landarbeiter zu verteilen. Als elementare Naturgewalt wurde der Fluß, el río, für sie zum vitalen Nerv und Symbol ihres Überlebenskampfes, da sie von seinem Wohlwollen und seiner Gnade abhängig waren. Der Fluß dominierte ihr Leben und ihren Tod, ihre Ängste und ihr Glück: "Es nuestra madre y nuestro padre. A veces nos da y a veces nos niega. Entre sus manos moriremos" (S. 166). In seiner göttergleichen Herrschaft verteilte er Güte und Mißgunst: "Río traidor y avieso, cuyas fuentes eran inopinadas, pues secas la mayor parte del año y hasta en ocasiones durante más tiempo, se llenaba de pronto irrumpiendo con furia dentro del frágil cauce. Los habitantes de la región le vivían sometidos como a una deidad ciega y caprichosa, aguardando de su inconstancia la felicidad o el castigo" (S. 88-89).
Nun aber gewährte die Regierung Unterstützung bei der Kultivierung von Brachland und dem Aufbau von Bewässerungsanlagen, indem sie Experten und die Segnungen neuester Technologie in die entlegendsten Regionen des Landes entsandte. Im Zeichen eines dergestaltigen nationalen Aufbruchs glaubten sich die Menschen erstmals auch auf dem Land siegreich in ihrem zivilisatorischen
19
Dussel fuhrt das fatalistische Verhalten auf die Ethik der Volksreligion zurück. Diese überläßt das Schicksal des Einzelnen ganz dem Willen Gottes. Resignation und Apathie kennzeichnet die breite Masse: "Generalmente la 'actitud' global ante la existencia, personal o social, histórica, es trágica, pasiva. Una cierta teología de la resignación lo tiñe todo. ¡Dios así lo quiere!" (Dussel 1988: S. 22).
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Feldzug gegen eine unbezwingbar erscheinende Natur. Es schien, als ob der Homo faber nun endlich Herr über die ihm feindlich gesonnene Wildnis geworden war: "El rio maldito, inconstante, fue hecho prisionero. Sus aguas fueron encerradas, y calculando aun la misma irregularidad de las lluvias, según decían los ingenieros, el depósito tenía una capacidad para cinco aflos de riego" (S. 168).
Der Sieg über den Fluß wurde zum Banner der neuen nationalen Gesellschaftsordnung. Das Sistema de Riego brachte der Bevölkerung Jahre der Prosperität. Jedoch erwies sich die neue Ordnung als auf allzu brüchigem Fundament gebaut. Glaube und Vertrauen zerschlugen sich ebenso rasch, wie die Bewässerungsanlagen Risse bekamen. Der Fluß sprengte sein Gefängnis, um sich sein Territo-rium zurückzuerobern, und den Menschen in seine Schranken zurückzuverweisen: "Nada pudo el hombre contra su voluntad terca, nada contra sus aguas, nada contra sus caprichos, río maldito" (S. 168). Am Ende, so lautet die Botschaft, triumphiert die Natur über den hochmütig gewordenen Menschen. Die mannigfaltigen Bezeichnungen des Flusses, die in den Text eingewoben sind, unterstreichen neben seiner textstrukturierenden Funktion seine Bedeutung als zentrales Symbol der Rahmenhandlung. Der Fluß ist lagarto inmenso (S. 27), víbora reptante (S. 35), serpiente (S. 38), traidor y avieso (S. 88), deidad (S. 89), creadora y redentora (S. 162), dios (S. 163), maldito (S. 168), und vencedor al fin (S. 168). Er kann als urtümliches Zeichen irdischer Energie und Lebenskraft verstanden werden, wie sie der indianische Volksglaube im Regengott Tlaloc verehrte. Er kann aber auch, wenn seine Kräfte entfesselt sind, den Tod bedeuten. In jedem Falle aber ist er eine unumstrittene Schicksalsmacht, der der Mensch mit Demut und Ehrerbietung entgegenzutreten hat. Der Hinweis auf das dem Element Wasser inhärente dualistische Prinzip von Leben und Tod wird wesentlich verstärkt durch die Gleichsetzung der Kräfte des Flusses mit denen einer Schlange. Mit diesem Kunstgriff schlägt der Autor eine Brücke zu indigenen Glaubensmustern. Schlangen ließen und lassen den
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Menschen aufgrund ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten -man denke nur an ihre permanente Regeneration (Häutung) oder ihre Macht, den Tod zu bringenvor Bewunderung und Schrecken erschauern. So ist es nicht erstaunlich, daß sie zu einem herausragenden -universal auftretenden- sakralen Symbol wurden. Es ist bekannt, daß gerade auch die präkolumbischen Kulturen von Vitalität und Macht der Schlangen gebannt waren. In der Überlieferung der Mayas finden wir der Schlange eine Vielzahl von Bedeutungen zugeschrieben: " (...) es vida y muerte, bien y mal, masculino y femenino; es celeste, terrestre e infraterrestre. (...) la serpiente parece encarnar los grandes contrarios cósmicos y su armonía, que hace posible la existencia, parece simbolizar una energía sagrada de la que participan dioses y hombres, de ahí su omnipresencia en el arte plástico y los códices, y el importante papel que juega en los mitos y en los ritos".20
Die Schlange spielt eine zentrale Rolle in den kosmogonischen Mythen. Sie erscheint im Zusammenhang mit den ersten Lebewesen, fungiert als Schöpfer im Anbeginn der Zeit, oder als ursprüngliches Chaos, aus dem eine Welt geboren wird. Oftmals bedarf es eines Helden, der die Schlange besiegen muß, damit aus dem Chaos eine neue Ordnung entstehen kann. Die Schlange ist die inkarnierte Botschaft der Götter. Bei den Mayas figurierte zudem eine gefiederte Schlange als Schöpfergott und als zyklisches Lebensprinzip: "Y precisamente por simbolizar la energía vital celeste y originaria, la serpiente representa el agua de lagos, mares y ríos que, convertida en vapor forma las nubes y retorna a la tierra en forma de lluvia".21
Unter dem Namen Quetzalcóatl wirkt diese Himmelsschlange bis heute als elementares kulturelles Identitätszeichen aller Mexikaner. Revueltas revitalisiert noch eine weitere Bedeutung der göttlichen Schlange, wenn er die "Fluß-Schlange" in finsterer Nacht über die Ufer treten läßt: "En su relación con la tierra, la serpiente representa el poder generador oculto en su interior, por lo que se vincula con el dios de la muerte que ahí reside, y con el
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Mercedes de la Garza 1994: S. 50. Mercedes de la Garza 1994: S. 51.
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jaguar, símbolo de inframundo y de cielo y sol nocturnos. (...) el ofidio encarnó para los mayas la fertilidad de la tierra, y su ubicación en el inframundo simboliza que éste fue concebido como el gran útero de la madre tierra, que conjuga vida y muerte".22 Die Wandlung des Flusses in eine ungeheure Sintflut symbolisiert daher zunächst eine bedrohliche Metamorphose der lebensspendenden in eine todbringende Erdschlange, die wie ein apokalyptisches Strafgericht über die Schar der Vergessenen hereinbricht. Dazu lastet die Nacht tiefschwarz auf ihnen, was den Eindruck ihrer Orientierungslosigkeit und ihres Ausgeliefertseins an die Urgewalten noch verstärkt. Wiederum greift Revueltas hier auf Basisinventar der elementaren Literatur zurück. Das Phänomen der Sintflut ist nicht nur in der Bibel sondern z.B. auch in den "überlieferten" Heiligen Büchern der Maya, dem Popol-Vuh23 und den Libros de Chilam Balam, verzeichnet: "He aquí que cuando vaya a acabar el tiempo de este Katún, entonces Dios hará que suceda otra vez el diluvio y la destrucción de la tierra. Y cuando haya terminado, entonces bajará Nuestro Padre Jesucristo, sobre el valle de Josefat, al lado de la ciudad de Jerusalén, donde un tiempo nos redimió su santa sangre".24 Die synkretistische Verschmelzung der biblischen Strafe Gottes mit der indianischen Vorstellung zyklischer Erneuerung birgt das dualistische Prinzip Tezcatlipocas, Symbol des willkürlichen Schicksals, Lebensspender und Zerstörer, daß in der Verwüstung immer schon der Keim für eine mögliche Erneuerung gelegt ist: "Tezeatlipoca, (...), el destructor, es uno de los dioses creadores, en consonancia con el concepto del mundo mesoamericana según el cual la destrucción contiene ya el germen del nuevo nacer".25
22 23
24 25
Mercedes de la Gaiza 1994: S. 51. So bemerkt auch Arana: "La inundación en el Popol-Vuh se identifica con el acto de inmersión colectiva en la Sagrada Escritura, cuya simbólica interpretación significa destrucción, muerte, transformación, olvido del pasado y el renacer de una nueva especie a una nueva vida" (Arana 1974: S. 99). Rivera, Miguel (ed.): Chilam Balam de Chumayel, 1986: S. 99. Westheim 1985 [11953]: S. 18.
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Das Moment der "apokalyptischen Sintflut" hält einen Ausblick auf die Zukunft bereit, da aufgrund der reinigenden Kraft des Elementes Wasser in Verbindung mit der Erneuerungskraft der Schlange die Chance auf einen Neuanfang gegeben ist. Berücksichtigt man zudem den Hinweis Eliades, daß die zyklische Konzeption des Kosmos auf dem Vertrauen basiert, daß auf die Katastrophe und den Untergang einer Epoche eine neue folgt, in der ein neuer Mensch geboren wird, so lassen sich die negativen Vorzeichen des Romans in dialektischem Pendelschlag zu einer positiven Synthese führen: "Las tradiciones de diluvios se enlazan casi todas con la idea de reabsorción de la humanidad en el agua y con la institución de una nueva época, con una nueva humanidad. Delatan una concepción cíclica del cosmos y de la historia: una época es abolida por la catástrofe y una nueva era comienza, dominada por hombres nuevos".26
Am Ende wandelt sich die offenkundige Bedrohung in die Chance eines Neubeginns. Wenn Revueltas mit dieser Art von "dunkler" Symbolik die Kritik an tradierten politisch-sozialen Ordnungen untermauert, so läßt sich der fiktionale Untergang, den der im Todesrausch delirierende Jerónimo mit grotesker Klarheit voraussieht, als Mahnung an die (Über-)Lebenden, an die Leser, verstehen, dem Weg der Ruß-Schlange aus dem Chaos heraus zu den Grenzen einer neuen Gesellschaftsordnung zu folgen.27
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Mircea Eliade: Tratado de historia de las religiones. México: Era 1972, S. 198. Zitiert nach Publio Octavio Romero 1975: S. 85. "Se inundará todo! -Gritó con voz estentórea, sin comprender en absoluto, pues de pronto una gran cólera se había adueñado de su ser. Los demás se estremecieron al descubrir cierta cosa verdadera en las palabras de Jerónimo. Iba a expandirse la serpiente, sin duda. Su cuerpo líquido y arrollador caminaría por la tierra barriendo obstáculos. Ya respiraba y su latir extendíase por el aire" (S. 38).
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3.1.2. Úrsulo: Leben in Einsamkeit Als die Schicksalsmächte mit sintflutartiger Gewalt über das klägliche Häuflein Verlassener hereinbrechen, macht Úrsulo sich auf, das tosende Wasser des Flusses zu überqueren. Damit beginnt für ihn eine Reise, die ihn zu seinen inneren Grenzen führen wird. Die Besinnung auf sich selbst lenkt ihn zurück zu seinem Ursprung, der an den Ursprung der mestizischen "Rasse" gemahnt. Úrsulo trägt sowohl das Erbe der indígenas in sich, die als ewige Verlierer der Kriege von Göttern und Menschen die Hoffnung auf ein erlösendes Heil verloren haben: "Quizá no estuviese hecha para ellos la victoria, pues tantos siglos de no tener nada y estar pobres" (S. 63), als auch den Stolz der Sieger, der spanischen Eroberer. Der aus der doppelten Herkunft resultierende innere Zwiespalt prägt sein Leben. In ihm personifiziert sich der Fluch des Mexikaners, die Last von fünfhundert Jahren politischer und kultureller Eroberung. Der undurchschaubare Wille der Götter hat die mexikanischen Ureinwohner der Willkür fremder (Staats-) Mächte ausgeliefert, die sie weder kennen noch begreifen, deren Anordnungen sie sich nur duldsam und resigniert fügen. Exemplarisch wird dies am Schicksal der Familie Úrsulos deutlich, die ihrer kulturellen Wurzeln enteignet und schließlich von ihrem Land vertrieben werden sollte. Als Úrsulos (namenlose) Großmutter sich weigerte, ihr Land zu verlassen, wurde sie getötet.28 Ihre Tochter Antonia blieb als Waise zurück. Resignation und eine fatalistische Todesergebenheit durchdrangen daher von Anfang an ihr Bewußtsein: "Estaba hecha por la muerte: la muerte de los suyos, la muerte de su tiempo, y algo fatal y resignado la hacía esperar" (S. 63). Als sie, die "diosa arisca y solitaria" (S. 64), schließlich Zuflucht auf der Hazienda eines Abkömmlings spanischer Eroberer fand, mußte sich in der Unterwerfung unter
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Die Großmutter schleudert ihren einjährigen Sohn auf die Eisenbahnschienen und wird daraufhin von einem Soldaten mit einem Bajonett entleibt.
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ihren neuen Herrn der Verrat der indianischen Frau, der Verrat der Malinche, abermals vollziehen: "Lo dijeron ya los antepasados de ella 'que esta tierra había de ser poseída por los hijos del sol'. Resignadamente recibió Antonia la semilla con la cual morían sus dioses" (S. 64). Im Schöpfungsakt Úrsulos verschmilzt der Autor die Genesis der indianischen "Rasse" mit der alttestamentarischen: "Su madre se murió al darlo a luz y una antigua leyenda del país contaba de la diosa indígena que pariera desde el cielo un cuchillo de obsidiana. Al estrellarse, de las astillas negras y relucientes del cuchillo había nacido la primera pareja humana, y de la primera la segunda, y de la segunda la tercera, hasta hoy. Abraham engendró a Isaac, Isaac engendró a Jacob, Jacob engendró a Judas y sus hermanos. Úrsulo era hijo del cuchillo de obsidiana, y su madre la diosa misma, una joven diosa" (S. 6162).
Mit Úrsulo wird die mestizische "Rasse" begründet. In diesem Kind, geboren aus dem Unglück der Mutter und dem Eroberungswillen des Vaters, inkarniert die Urschuld des Mestizen, ein virulentes Gemisch, gewonnen aus den Extrakten der Ohnmacht des Schwachen und des omnipotent erscheinenden Siegers. Als der Vater Úrsulos vierzehn Jahre später durch die Hand von Revolutionären stirbt, empfindet Úrsulo bloße Gleichgültigkeit. Wie schon seine Mutter bleibt er als Waise zurück. Doch ist seine Einsamkeit mit der Bürde zweifacher Sünde -des Verrats seiner Mutter und der gewaltsamen Herrschaft des Vaters- geschlagen. Der Stammvater der Mestizen ist heimatlos und ohne Bindung zu den Menschen, die ihn umgeben. Ihn treibt allein ein dumpfer, egozentrischer Überlebenstrieb voran: "Caminaba Úrsulo con su desesperada voluntad, sobrehumano, tratando de salvarse, con el demonio de la salvación dentro, que repetía sus voces. No salvarse de la muerte, salvar su sentido, su desolación propios" (S. 60-61).
Unfähig, sich dem anderen in solidarischer Geste zuzuwenden, vermag Úrsulo den Grenzen seiner Einsamkeit nicht zu entfliehen. Seine Handlungen erscheinen sinnentleert und unfruchtbar. Als er die Nachfolge Natividads antritt, schlüpft er zwar in die Rolle des politischen Führers, aber sein Tun wirkt un-
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glaubwürdig. Seinem Habitus als Führer fehlt die lebendige Überzeugungskraft. Auf diese Weise verkörpert Úrsulo nicht nur den Anti-Helden, wie einige Kritiker annehmen, er verkörpert den Helden ex negativo, eine Hülle ohne Inhalt.29 Da sein Leben zum Scheitern verurteilt ist, sehen sich auch die getäuscht, die ihm anhängen. 30 Als er die Nachfolge Natividads als Führer des Syndikats antritt, geht er so weit, auch Cecilia als sein rechtmäßiges Erbe einzufordern. Vor seinem Tod erkennt er diesen Eigennutz als Ursache dafür, daß die Verbindung zu Cecilia verloren ist, ohne daß sie Spuren hinterlassen würde: "Úrsulo no había fecundado a Cecilia por impulso de procreación, sino tan sólo para poseerla sin límites; para adueñarse de su alma. Este propietario descomunal no aspiraba al cuerpo, sino al seflorio del espíritu, y había ultrajado los rincones más inalienables de Cecilia" (S. 84-85). Úrsulo trachtet danach, Cecilia ganz zu unterwerfen. Doch verhindert ihr Geschlecht die Ausübung absoluter Herrschaft: "Era su sexo como una herida, y este pensamiento, informulado hasta hoy, fue siempre para Úrsulo una inquietud. Había en ella cierta prevención, cierta 29
30
Vgl. z.B. Octavio Romero: "Sin temor a exagerar, podríamos decir que pertence a ese linaje de anti-héroes de la novela contemporánea. (...)" (Octavio Romero 1975: S. 86). Die Typisierung Úrsulos (sowie auch Calixtos oder Jerónimos) entspricht dem von Samuel Ramos in dem bekannten Essay El perfil del hombre y la cultura en México (1992) definierten Prototypen des pelado, der seinen Selbstwert zuallererst aus der Tatsache seiner Männlichkeit schöpft: "El falo sugiere al pelado la idea del poder. De aquí ha derivado un concepto muy empobrecido del hombre. Como él es, en efecto, un ser sin contenido sustancial, trata de llenar su vacío con el único valor que está a su alcance: el del macho" (Ramos 1992, S. 55). Angesiedelt auf der untersten sozialen sowie intellektuellen Stufe, vereint er in sich aufs anschaulichste alle UnTugenden des Mexikaners. Der pelado lebt in der ständigen Sorge darum, den Schein zu wahren. Seine eigentliche Unsicherheit schlägt sich in einem überzogenen Mißtrauen der Umwelt gegenüber nieder. Die daraus resultierende permanente Selbstbezogenheit fördert einen grenzenlosen Egoismus und einen vollkommenen Mangel solidarischen Mitgefühls: "La obsesión de sí mismo, la constante atención por el propio yo, implican, (...), una incomprensión por la vida de los prójimos. (...). En conjunto, nuestra vida tiende a la dispersión y la anarquía con menoscabo de la solidaridad social" (Ramos 1992: S. 112). Vgl. zum Prototyp des pelado ausführlich Ramos, op.cit., S. 55-58.
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Monika Pipping de Serrano repugnancia para dejarse poseer por Úrsulo, como si su herida, su sangrante sexo, no debiera ser tocado jamás" (S. 83).
In Cecilia dagegen -der "Heiligen Cecilia", der "Sehenden"- vollzieht sich am eindrücklichsten der moralische Verfall der Gemeinschaft von Sistema de Riego nach dem Tod Natividads.31 Als dessen Ehefrau personifiziert sie die wahre Liebe und wird zum Symbol reiner moralischer Integrität. In der Gemeinschaft mit ihm erhellt sie das Prinzip wirklichen Lebens: "Las dos sombras, Cecilia y Natividad, se movían, y la risa fresca, de seres vivos en absoluto, vibraba desde la casa" (S. 164). Ebenso wie Natividad werden ihr christliche Tugenden attribuiert, die sie erhöhen. Um so dramatischer erscheint daher ihr Fall in die Arme Úrsulos, den sie gegen ihren Willen heiratet und dem sie eine Tochter gebiert. Úrsulo reißt sie in seinem Haß, seiner Selbstverachtung und Selbstverleugnung in den Abgrund mit: "Úrsulo lleno de obstinación, que casi la odiaba. Pues, ¿qué otra cosa que no odio era ese frío violentarla, ese amor empecinado, duro? Para Úrsulo, Cecilia era fieramente suya, como si se tratara de algo a vida o muerte. (...) La quería cual un desposeído perpetuo, sin tierra y sin pan; cual un árbol desnudo y pobre. Amor de árbol, de cacto, de mortal trepadora sedienta" (S. 41).
Ihr Sündenfall verwandelt die Heilige Cecilia, die "Magna Mater", in einen gefallenen Engel, in eine Madre Terrible32, die den Tod ihrer eigenen Tochter wünscht, um die Zeichen ihrer Schuld aus der Geschichte zu löschen. Schließlich wird sie zum Objekt der Nachstellungen Calixtos und der Kämpfe der beiden Rivalen, gegenüber denen sie jedoch gleichgültig bleibt, da sie sich innerlich in ungebrochener Loyalität mit Natividad verbunden weiß:
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Cecilia wird auch zur Künderin des tödlichen Ausganges des Exodus, als sie dazu auffordert, die Alkoholleiche Jerónimos endlich aufzugeben: "Ella faltaba únicamente. Faltaba su testimonio de egoísmo y odio. Morirían a partir de ese momente en que Cecilia había dado la señal" (S. 65). Im Kampf um das eigene Überleben bemächtigt sich das "Gift der Todesfurcht" (Marcela, S. 64) jedes Einzelnen und zerstört die moralische Integrität des Bewußtseins solidarischer Verpflichtung. Sheldon 1985: S. 95.
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"Úrsulo se volvió para mirar a su mujer con apasionado rencor, porque Calixto iba con ella. (...) Era preciso que hubiese muerto Chonita para que todo eso ocurriera. Para que Cecilia, como un animal negro, desesperado, se volviera en su contra. No se atrevió, sin embargo, a nada, aunque el fulgor de sus ojos despedía una sangre seca, sin alivio" (S. 44). Der Tod Chonitas befreit Cecilia aus ihren Verpflichtungen und Bindungen gegenüber Úrsulo. Der Besitz wendet sich nun gegen den Eigentümer. Indem Cecilia Úrsulo verläßt, besiegt sie ihren Mann und verurteilt ihn zu einem Sein in unentrinnbarer Einsamkeit: "Fríos, que mejor fuera no haberlos llamado, los ojos de Cecilia se posaron en Úrsulo sin expresión y sin mirada. Úrsulo sintió entonces cómo quedaba de pronto sobre la tierra solo e irreparablemente vencido" (S. 83). An der Schwelle zu seinem eigenen Tod erkennt Úrsulo, daß für ihn kein Platz in dieser Welt vorgesehen war. Er regrediert zur unbelebten Materie, wird wieder zum cuchillo de obsidiana: "Úrsulo descubrió de pronto que su reino no era de este mundo. Que pertenecía al mundo de lo inanimado, antes, siquiera, de lo vegetal, y como la piedra maternal primera, ignorándolo también, era tan sólo una extrahumana voluntad hacia el ser, (...), la vocación de la piedra (...)" (S. 61). Die fatale Bestimmung der indianischen "Rasse" scheint sich in diesem Mestizen zu wiederholen: Der Verlust von Sprache und Religion entäußert ihn seines Platzes in der Welt der Menschen. Ohne eine religiöse Identität, losgelöst von jeglicher Bindung an die Menschheit, fristet er sein Dasein in absoluter Einsamkeit: "Comprendía hoy, frente a su propia muerte, que en verdad no era este su reino. Que estaba muy lejos de los hombres: apartado, extraterrenal, hijo de diosa. (...) La madre piedra, inmensa, sepultada. Génesis oscuro" (S. 64).33 33
Revueltas definiert in einem Interview gegenüber Elena Poniatowska den Begriff der Religion in folgender Weise: " (...) tomamos la acepción de religión en un sentido más amplio: religar: unir, unir al ser genérico que es la humanidad" (Vivir dignamente en la zozobra (1975). In Sáinz 1977: S. 16). Siehe zu den "existentialistischen Anklängen" sowohl die Ausführungen zur Gestalt des Priesters in 3.2.4. als auch das Kapitel 3.3.3. Auf den Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv werde ich in der Analyse zu Los días terrenales vertiefend eingehen.
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Der "Stammvater" der Mestizenrasse erscheint als die absolute Verkehrung eines mythischen Helden. Mit einer derartigen Ironisierung der mestizischen Genealogie wendet sich Revueltas offen gegen die von José Vasconcelos verkündete Vision der raza cósmica, der auserwählten Mestizenrasse.34 Der vermeintliche hombre-dios
degeneriert zur Modellfigur des
mexikanischen
Macho.
3.1.3. Calixto: Im Fest-Rausch der Revolution Während an der Figur des ehemaligen Streikflihrers Úrsulo exemplarisch die "Einsamkeit" des Mexikaners vorgeführt wird, die aus dem Ursprungsmythos der "dunklen Schöpfung" resultiert, benutzt der Autor als "alter ego" oder Verdoppelung Úrsulos' die Figur des "nobody" Calixto, um das Klima der Gewalt des revolutionären Mexiko zu vergegenwärtigen. Calixto definiert sich defizitär als Jedermann und Niemand: Ohne Stammbaum, ohne Familie und ohne heroische Bestimmung. Erst die Revolution wandelt ihn zu einem héroe, der als Leutnant im Bauernheer Pancho Villas über einige armselige Soldaten zu befehligen hat. Die höheren Ziele der Revolution mißachtend, bedient er sich der Gelegenheit, um persönliche Rache an seiner ehemaligen Herrschaft zu üben. Er dringt in deren Hazienda ein, überwältigt eine alte Dienerin und raubt eine Schmuckschatulle, die er seit seiner Kindheit begehrte. Kaum im Besitz des Schatzes, wächst in ihm ein Bewußtsein von ungeahnter Überlegenheit und Macht. Um seine Beute nicht teilen zu müssen, erschießt er kaltblütig einen Untergebenen, der ihm gefolgt ist. Doch bleibt er nichts weiter als ein erbärmlicher Plünderer und Versager, der sich von ebenso
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Vgl. zur Rassenvision von Vasconcelos das Einleitungskapitel.
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lumpigen Händlern übervorteilen läßt. Die Wut Uber sein Scheitern verleiht ihm nur die Kraft, seine Frau fast zu Tode zu prügeln: "Por la tarde Calixto se fue a la taberna y no regresó sino hasta muy entrada la noche y con una figura lamentable. (...) Cubierto de barro por completo, vacilaba en la puerta como si fiiera a caer, pero no sólo se mantuvo firme, sino que, mudo y colérico, tomó una gran tranca para golpear a La Calixta y desquitar su cólera de tal manera. A los dos primeros golpes la hembra cayó, sin embargo de lo cual Calixto continuó pegándole sin misericordia. La habría matado a no ser porque él también cayó desvanecido" (S. 107). Die erbarmungswürdige Figur Calixtos weist auf die dunkle Seite der Revolution. In El laberinto de la soledad (1950) beschreibt Octavio Paz, wie sich die Energie der Gewalt der Mexikanischen Revolution in einem "Fest-Rausch" entlud, der den Mexikaner zu seinem wahren Selbst finden ließ: "La Revolución es una súbita inmersión de México en su propio ser. (...) Como las fiestas populares, la Revolución es un exceso y un gasto, un llegar a los extremos, un estallido de alegría y desamparo, un grito de orfandad y de júbilo, de suicidio y de vida, todo mezclado. Nuestra Revolución es la otra cara de México (...) el rostro brutal y resplandeciente de la fiesta y la muerte, del mitote y el balazo, de la feria y el amor, que es rapta y tiroteo. (...) Es un estallido de la realidad: una revuelta y una comunión (...) ¿Y con quién comulga México en esta sangrienta fiesta? Consigo mismo, con su propio ser".35 Die Imagination des Kriegsfestes beinhaltet die Loslösung von allen Bindungen, so daß aus ihm die eigentliche, verborgene Identität zum Durchbruch zu gelangen vermag. Dieses Sein ist im Verständnis von Paz doppelseitig, positiv und negativ. In der offiziellen Rhetorik der Eliten jedoch wird innerhalb des Diskursensembles um den Mythos der Revolution die positive Konnotation des Kriegsfestes instrumentalisiert.36 An der Figur Calixto exemplifiziert Revueltas, wie gesellschaftliche Konventionen und Tabus im Namen der Gerechtigkeit der Revolution aufgehoben wurden. Vermeintliches Heldentum wird als erlaubte Gesetzlosigkeit denunziert, die un-
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Paz 1989: S. 134. Siehe dazu ausführlich das Kapitel 3.3.2.
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gehindert über das Land hinweggefegt war. Die Revolution macht das einzelne, unbedeutende Subjekt zum Gebieter über Leben und Tod, der der Verlockung von Allmacht und Blutrausch erliegt und in unzähligen Spielarten seine Macht mißbraucht. Die Revolution entläßt schließlich das Land in einen Zustand von Chaos und Anarchie. Die einstigen Kämpfer, die allein das Gesetz des Stärkeren anerkennen, werden sich keinem anderen Gesetz beugen. Es erscheint unwahrscheinlich, daß sie, die an die uneingeschränkte Ausübung von Macht und Gewalt gewöhnt sind, in den Zustand der Ordnung zurückkehren. Im Gegenteil bedeuten sie eine latente Bedrohung für den noch brüchigen Frieden: "Qué hacer ahora? No en vano transcurren diez años de caos, de desorden, de libertinaje. Ellos hubiesen querido que continuara todo otra vez como siempre, con las montañas y llanuras otra vez, con los balazos, con el temor, con la sensualidad ruda y estremecedora de la muerte. Un poder como abismo se les había revelado, grandioso e inalienable. Era un poder tentador y primitivo que de pronto estaba en la sangre, girando con su veneno. (...) Sólo dioses lo poseían, pues era el divino y demoniaco de arrebatar la vida, (...). He aquí que aquello mecánico e inteligente, tan parecido a un sexo, la pistola, se les había incorporado al organismo, al corazón. Después de esto resultaba imposible que se considerasen inferiores, capaces ya, como eran, de matar. Como un sexo que eyaculase muerte. (...) Podían matar" (S. 100-101).
Das Schießeisen gerät als Analogon von Sexualität und Technik zum energetischen Emblem der Revolution. Es ist Ausdruck jenes "männlichen" Triebes, der in der Zerstörung des anderen zugleich sexuelle Befriedigung und subjektive Bestätigung findet. Revueltas denunziert die Revolution als Entfesselung negativer Triebkräfte, die sich in einer Eruption von menschlicher Brutalität und Schuld manifestiert. Die Entgrenzung mündet in Ekstase: "Da entschädigte sich der Mensch in rauschender Orgie für alles Versäumte. Da wurden seine Triebe, zu lange schon durch die Gesellschaft und ihre Gesetze gedämmt, wieder das einzige und Heilige und die letzte Vernunft".37
37
Ernst Jünger bezieht sich hier auf den ersten Weltkrieg. Zitiert nach Joachim Küchenhoff 1989: S. 112.
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In El luto humano schildert Revueltas den Bürgerkrieg als bloßen Schauplatz gelebter Phantasien von Zerstörung, Omnipotenz und Größenwahn. Weit entfernt von einem Fest der Selbstfindung wird die Mexikanische Revolution als sinnentleertes Blutbad erkannt, das das Volk nicht aus seinem Elend zu befreien vermochte.
3.2.
Die Auserwählten des Fatum
Während das einfache Volk in dumpfer Willenlosigkeit verharrt, bedient sich das Fatum einiger Auserwählter, die die Geschicke der Menschen lenken sollen. In El luto humano fällt diese Aufgabe drei Figuren zu, die im Auftrag unterschiedlicher Mächte agieren: Der charismatische Streikführer Natividad führt das Sistema de Riego zu wirtschaftlicher und sozialer Blüte. Als Kontrastfigur dieser messianischen Heilsgestalt fungiert Adán, dessen sich die Staatsgewalt bedient, um unliebsame Feinde der Revolution aus dem Weg zu räumen. 38 Dem Priester als Vermittler zwischen Gott und den Menschen obliegt es als drittem, die Frage der Rolle des Menschen in der Geschichte zu reflektieren. Gemeinsames Merkmal ist den Hauptfiguren, daß sie einen wirklichen Erkenntnisprozeß erfahren. Ihrem eigenen Tod ins Auge blickend, durchleben sie Momente höchster geistiger Klarheit, die sie ihres Platzes in der Welt gewahr werden lassen. Es wird augenfällig, daß der Autor die zunächst anhand der "Vergessenen" exponierten Motive von orfandad, soledad und violencia
im
Rahmen der intendierten Bewältigung der jüngsten historischen Ereignisse
38
Auf die Kontrastfunktion von Natividad und Adán verweist auch Borsö: "Unter den Modellen von Identität stehen sich Adán und Natividad als konträre Pole gegenüber: Das Mythisch-Apokalyptische gegen eine historisch aufgeklärte Heilsgeschichte, die isolierende Negativgeste gegen die solidarisierende Gemeinschaftserfahrung" (Borsö 1994: S. 185).
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-Revolution, Cristero-Kiiege und Agrarreform- abermals aufgreift, um anhand ihrer Dekonstruktion eine in die Zukunft projizierte, mögliche "neue", zivilisatorische Ordnung zu entwickeln. Die Funktion der starken Kontrastierung von Vergessenen und Auserwählten des Fatum liegt in der Veranschaulichung unterschiedlichen Erlebens philosophischer und religiöser Begründungen des Seins. Damit verweist Revueltas auf die Unvereinbarkeit idealistischer und ideologischer Visionen mit der kruden Realität des einfachen, d.h. ungebildeten, menschlichen Gemütes, das gegenüber umwälzenden geschichtlichen Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse gleichgültig bleibt. Die Bewegung ist eine Doppelte: Dem Einzelnen muß daran gelegen sein, zuvorderst seine subjektiven Bedürfnisse zu befriedigen. Andererseits bleibt er ohnmächtig gegenüber den Interessen höherer Mächte. Der Einzelne "weiß" angesichts dieser um seine Ohnmacht. Aufgrund seiner Ignoranz ist er aber auch nicht dazu fähig, über seine egoistischen Neigungen hinaus zu agieren. So wird sich z.B. Úrsulo zwar bewußt, daß in dieser Welt kein Platz für ihn vorgesehen war, aber die Erkenntnis bewirkt keinerlei Streben nach Veränderung. Ebenso verhält es sich mit Calixto, der sich der Vergeblichkeit seiner Habgier durchaus gewahr wird, doch in der Haltung des Versagers resigniert. Úrsulo und Calixto sterben, ohne ihrem Leben eine alternative Chance geben zu können. Sie verfehlen den Prozeß der inneren Menschwerdung, der ihrem Leben Gültigkeit und ihrem Tod Sinn zu verleihen vermocht hätte.
3.2.1. Natividad: Vorbote des nuevo ser Der Leser lernt den Reformer Natividad erst kennen, als dieser bereits für seine Überzeugung hingerichtet wurde. Er lebt nur mehr in der Erinnerung von Cecilia, Úrsulo und Adán, und erschließt sich rückblickend aus deren Wahrneh-
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mung. Auf diese Weise wird er zum herausragenden moralischen Bezugspunkt sowohl der Rahmen- als auch der Binnenhandlungen. Er wird zum Maßstab, an dem sich die Taten der Überlebenden bewerten lassen. Mit der Figur Natividads aktiviert Revueltas eine Vielzahl von archetypischen Heilsbringern. Natividad erscheint als Inkarnation edelster Gesinnung und vereint in sich alle vorbildlichen Eigenschaften eines vorausschauenden Lehrers ethisch-moralischer Werte.39 So vermag er wie Christus durch seine herausragende Menschlichkeit selbst den Geringsten zu einem ehrenvollen Mitmenschen zu erheben: "Y el tono de la pregunta elevaba a Jerónimo Gutiérrez, simple jornalero, otorgándole dignidad legítimo, inalienable estirpe" (S. 132). Natividad durchbricht die im Roman überwiegende Kommunikationslosigkeit. Da er weder etwas zu verbergen hat noch Schuld auf ihm lastet, kann er als freier Mensch, der vollkommen in sich selbst ruht, ohne jegliches störende Minderwertigkeitsgefühl den Dialog mit dem anderen suchen. Nur mit Natividad ist das Emblem des prometheischen Feuers, das Erkenntnis und menschliche Willenskraft bedeutet, verbunden.40 Im übrigen Text herrscht undurchdringliche Finsternis. Er ist frei von der Bürde der mexikanischen Geschichte, auch wenn er ein Teil von ihr ist. Er ist ein freier Mensch. Sein exemplarisches Handeln bietet daher nicht nur die Möglichkeit einer positiven Identifikation: "Para Natividad como que la vida era enormemente rica, fértil, y cualquiera de
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Im Gegensatz zu den übrigen Figuren zeichnen ihn auch eine außergewöhnliche physische Attraktivität und positive Ausstrahlung aus: "Tenía (...) una sonrisa franca, ancha, magnífica. En su rostro quién sabe qué de atractivo prestábase a la cordialidad inmediata, ya fueron los ojos negros, vivísimos, o la frente serena y clara" (S. 113). Borsö sieht in Natividad eine reine Criollo-Figur, da sie allein durch christliche Symbolik definiert wird; in diesem Sinn versteht sie auch die Figur Cecilias, solange sie an Natividads Seite steht. Natividad läßt sich daneben auch aus der Tradition des maestro rural erklären, der schon in der Aera von Vasconcelos, und später von Cárdenas als Vorbote des Fortschritts in die Dörfer geschickt wurde. Siehe unten zu "prometheisches Feuer" das Begräbnis Natividads.
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sus detalles, aun los mínimos, como encerrando un universo lleno de pasión"(S. 132). Darüber hinaus ruft es dazu auf, ihm nachzufolgen. Bezogen auf den spezifischen, soziokulturellen historischen Kontext Mexikos liegt die Bedeutung Natividads vor allem in der Botschaft einer potentiellen reivindicación
des indianischen Erbes in der Mestizenrasse.41 Der letzte Herr-
scher der Azteken kehrt in seiner Gestalt nun endlich zu seinem verwaisten Volk zurück, das, im Bewußtsein zyklischer Wiederholungen lebend, seine Wiedergeburt erwartete: "Cuauhtémoc quiere decir 'águila que cae'. El jefe mexica asciende al poder al iniciarse el sitio de México-Tenochtitlán, cuando los aztecas han sido abandonados sucesivamente por sus dioses, sus vasallos y sus aliados. Asciende sólo para caer, como un héroe mítico. (...) Sólo que el ciclo heroico no se cierra: héroe caído, aún espera su resurrección. No es sorprendente que, para la mayoría de los mexicanos, Cuauhtémoc sea el 'joven abuelo', el origen de México: la tumba del héroe es la cuna del pueblo".42 Natividad ist nun gekommen, das Erbe Cuauhtémocs anzutreten. Wie in den Wandbildern Siqueiros erscheint er als seine Reinkarnation, als Retter, der entschlossen ist, die Fehlentwicklungen der mexikanischen Geschichte zu korrigieren.43 Die zentrale Gestalt in Revueltas' Roman bricht jedoch mit der Perpetuierung zyklischer Determination. Er eröffnet vielmehr sowohl für den Einzelnen als auch für das Volk die Möglichkeit authentischer Selbstbestimmung. 41
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Borsö versteht dagegen, daß Natividad nur im Bewußtsein des Mexikaners der 30er Jahre besteht: "als Archetype der idealen Identität, jenes mestizo superior (Chávez), mestizo autóctono (Aguirre Cárdenas) bzw. jener raza cósmica, deren kreolische Seele bereits in der Mestizisierungsdiskussion festgestellt wurde" (Borsö 1994: S. 185. Vgl. dazu ausführlich ebd.: Kap. IV). Paz 1989: S. 75-76. Siehe dazu Haufe 1991: S. 332-333. Insbesondere die Beschreibungen der Wandbilder Siqueiros': Cuauhtémoc gegen den Mythos (1944), und Der wiederauferstandene Cuauhtémoc (1950). In ersterem besiegt der aztekische Held den spanischen Eroberer; fungiert also für eine revolutionär umzugestaltende Gegenwart. In letzterem hat der aztekische Gigant alle Qualen überwunden und kehrt mit dem Feuer der Katharsis zu einer historischen Mission in das Mexiko der Gegenwart zurück; mit einer pathetischen Geste weist er den zu seinen Füßen zusammenströmenden Massen den Weg in die Zukunft.
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Gleichzeitig wird durch ihn die Hoffnung auf eine neue und gerechte gesellschaftliche Ordnung vitalisiert. So konstatiert auch Frankenthaler innerhalb ihrer vergleichenden Studie: "En el caso de Natividad, el héroe tampoco ha descartado la importancia del individuo en su suefio de la colectividad, lo cual nos hace recordar el dilema del Sartre marxista que no puede menos de existenciar o humanizar las metas marxistas, inyectando consideraciones de la subjetividad humana".44 Und noch ein dritter Heilsbote des Menschen reinkarniert in Natividad: Prometheus, der Inbegriff der "Rationalisierung der Lebenswelten"45, freilich in der zunächst befremdenden Verbindung mit marxistischem Gedankengut. Mit der Ankunft Natividads auf dem Sistema de Riego46 verbinden sich die Postúlate "energetischer Fortschrittlichkeit" mit denen, die in der mexikanischen Verfassung von 1917 festgeschrieben wurden. An die Agrarreform soll nun die Ver-
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Frankenthaler 1979: S. 30. Küchenhoff 1989: S. 103. Im Hinblick auf die Bedeutung des Sistema de Riego greife ich auf die ausführliche Recherche Borsös zurück: "Es handelt sich um eine Anspielung auf Bewässerungsanlagen in Yucatán und La Laguna de Torreón unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934-1940), in denen Revueltas potentiell die Verwirklichung des Revolutionsgeistes sah: La aplicación de la reforma agraria conforme a los postulados implícitos en 1910, planteaba en consecuencia, no sólo la lucha contra el feudalismo, sino algo más, la lucha contra la burguesía reaccionaria. De aquí el carácter extraordinario avanzado de la reforma en Yucatán y La Laguna, hecho atribuible no al 'izquierdismo' de Cárdenas, sino a la dinámica de la revolución mexicana que había hecho ascender considerablemente sus posibilidades revolucionarias' (1938). Die Kritik an Cárdenas sieht Revueltas in der kapitalistischen Umsetzung der Agrarreform begründet (auch Dessau 1967: S. 247), die zwar die Latifundien zerstört, aber an deren Stelle die Banken (Banco Agrícola) setzt. Die Lage der campesinos, die zur Bezahlung der Kredite ihre Ernte abgeben mußten, ist nicht viel anders, als bei den kolonialen encomiendas (Rabadán 1985: S. 24). Dies begründet die Streiks, womit man auch auf Sistema de Riego unter der Führung Natividas gegen diesen Zustand rebelliert. Die Streiks realisieren die eigentliche revolutionäre Solidarität, die aber dem arribismo (Rabadán 1985: S. 24) der sich fortsetzenden vorrevolutionären Infrastruktur weichen mußte (Córdoba 1978: S. 31). Ähnliche Feststellungen begründen Rabadán zufolge die Hauptthese seiner Analyse, Revueltas zeige, daß das Scheitern der Revolution nur historisch sei und vom Fortschritt der Geschichte überwunden werden kann ( S. 36fF.)" (Borso 1994: S. 173).
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wirklichung der Rechte der Arbeiter gekoppelt werden. Natividads Aufruf zum Streik vereint die Bewohner von Sistema de Riego in einer solidarischen Geste, die durch vertrauensvollen Optimismus und schrankenlose Hoffnung genährt wird: "Queremos, no la felicidad de un solo niño, sino la felicidad y la salud de todos los niños del mundo ..." (S. 157). Es folgt für die Bewohner eine Phase psychischer und materieller Prosperität, deren Beschreibung stellenweise geradezu an Bilderbuchversionen kommunistischer Aufbruchseuphorie erinnert: "Los hombres tienen otra voz y otra manera de caminar y otras miradas, y en el aire se siente algo poderoso que sube como una masa firme. Se trata del asombro. Existe una materia nutrida en la atmósfera, como si los corazones se congregaran para erigir muros de energía y algo fuese a ocurrir, eminente y primero. Los hombros, las espaldas, resienten sobre sí un peso grávido; las manos, encinta, tienen la quietud absorta y meditabunda de las mujeres jóvenes que han de ser madres a poco y a quienes abrirá el gemido puro y original. Se trata del asombro. Del asombro y del júbilo. Un pie no camina solo, sino que está unido a otros pies que a millares se articulan sobre la voz, sobre el pulso, en los sueños, en las largas noches" (S. 156157).
Natividad ist die synkretistische Heilsgestalt Mexikos schlechthin. Er vereint in sich alle an die Gegenwart geknüpften und in die Zukunft gerichteten Hoffnungen. Die Verschmelzung von Verstand und Menschenliebe kündet von der möglichen Befreiung der durch korrupte -kapitalistische- Machthaber erniedrigten Erde. In ähnlicher Weise wie Diego Rivera in Chapingo mit dem Wandbild Die fruchtbare
Erde feiert Revueltas hier das neue technische Zeitalter,
indem er den Aufbau des Sistema de Riego als den Übergang zum neuen Menschen preist: "Iban creciendo hombres nuevos, con caras nuevas, con manos nuevas, con voces nuevas. El antiguo, ancestral campesino, manejando hoy una revolvedora de cemento, en contacto firme, estrecho, con esa materia novísima y esbelta, era como un dios joven bajo el varonil traje de mezclilla" (S. 167).47 47
Diego Rivera gestaltet im Innenraum der ehemaligen Kapelle der Escuela Nacional de Agricultura, Chapingo, Variationen zu Themen wie Die Mutter Erde und Hier lehrt man die Erde ausbeuten und nicht den Menschen. In dem Wandbild Die befreite Erde (Chapingo 1926-27) klagt er die Erniedrigung der Erde durch Klerika-
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In der Verbindung Natividads - d e s christlichen, indianischen und kommunistischen Heilsbringers- mit Cecilia, der "mexikanischen Erde", wird schließlich das Versprechen eines neuen Menschen in einem neuen Mexiko für das Volk zur realisierbaren Herausforderung: "Natividad anhelaba transformar la tierra y su doctrina suponía un hombre nuevo y libre sobre una tierra nueva y libre. Por eso Cecilia, que era la tierra de México, lo amó, aunque de manera inconsciente e ignorando las fuerzas secretas, profundas, que determinaban tal amor" (S. 186).48
Die Realität indes, d.h. die realpolitischen Kräfteverhältnisse, wirkt ernüchternd. Auch wenn sich fünftausend Arbeiter zusammenschließen, um ihre doch recht moderaten Ziele - " a u m e n t o de salario y la reducción de la jornada" (S. 157)- durchzusetzen, sind alle Anstrengungen zum Scheitern verurteilt, da die Rebellion staatlichen Interessen zuwiderläuft. 49
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lismus, Militarismus und Kapitalismus an. Das Bild Die fruchtbare Erde veranschaulicht daneben exemplarisch, daß die Mystik der mexikanischen Revolution auf das Land bezogen ist. Es ist: " (...) ein Preislied auf die Erde, die Ernährerin, das Prinzip des Lebens und des Kosmos, Rechtfertigung und Ziel eines Kampfes auf Leben und Tod" (Haufe 1978: S. 145). Kloepfer hat außerdem darauf aufmerksam gemacht, daß das Bild die Erfindungskraft des männlichen Menschen zelebriert und den technischen Fortschritt bejubelt. Siehe ausführlich Kloepfer 1992: S. 240. Weibliche Gestalten hatten auch schon in Europa als allegorische Darstellungen beispielsweise der Erdteile gedient. Seit der Conquista benutzte die europäische Malerei und darstellende Kunst oftmals die "nackte, mit Federn geschmückte barbarische India" als Symbolgestalt für den neuen Erdteil. Mit dieser Charakterisierung sollte die Inferiorität und Unterordnung des neuen Erdteils unter Europa ausgedrückt werden. (Vgl. Kohl: Mythos der Neuen Welt, 1982; hier: König 1991: S. 365). "In offiziellen Staatsgemälden wie der Krönung Iturbides (1822) erscheinen weibliche Personifikationen Mexikos mit indianischen Attributen, jedoch einer deutlich kreolischen Physiognomie" (Haufe 1991: S. 326). Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung verwendeten: "(...) die Amerikaner nun selbst die Figur der India und machten sie ihrerseits zum Symbol der Freiheit, der Überwindung von seit der Conquista bestehender Unterdrückung, indem sie sie z.B. als gekrönte und wehrhafte amerikanische Amazone mit zersprengten Ketten und besiegtem Kaiman darstellten" (König 1991: S. 326-327). Schon in Los muros de agua wendet sich Revueltas gegen eine Revolución hecha Gobierno, wie sie durch die Zentralisierung der Macht unter der Präsidentschaft von Elias Calles (1924-1928) im Namen der Nation vorangetrieben wurde. In diese Zeit
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Der verlängerte Arm staatlicher Gewalt reicht bis ins entlegenste der mexikanischen Dörfer. Um die Agitationen auf dem Sistema de Riego zu stoppen, schrecken die Autoritäten nicht davor zurück, Mord als politisches Mittel einzusetzen. Ein Gesandter des Gouverneurs sucht Adán auf, ihm den Auftrag zu erteilen, die lästigen Streikführer zu eliminieren: "Pues mi general ya está cansado de lo que pasa por aquí, en el Sistema -dijo el ayudante-. Primero la agitación sembrada por José de Arcos, Revueltas, Salazar, García y demás comunistas. Luego ese líder, Natividad (...)" (S. 113).50 Die Herrschaftselite hat sichtlich kein Interesse, die Konditionen der Landbevölkerung zu verbessern. So konstatiert auch Frankenthaler die deutliche Kritik Revueltas' an dem Herrschaftsgebaren der Machthaber der institutionalisierten Revolution: "Los proyectos posibilitados por la Revolución que pudieran haber llevado a la autenticidad se ven detenidos y estorbados por el régimen que representa la Revolución institucionalizada".51
Der Tod Natividads bedeutet zunächst das Ende des Streiks, mit dem auch der Niedergang des Dorfes einhergeht.52 Die Bewohner begraben mit ihrem Führer ihren Stolz und ihre Hoffnung auf ein authentisches, d.h. ein menschenwürdiges Leben:
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fällt die Gründung der Einheitspartei, des Partido Nacional Revolucionario, der 1946 in Partido Revolucionario Institucional (P.R.I.) umbenannt wurde. Revueltas sieht daher die zweite Phase der Revolution gescheitert. In fast allen seinen Romanen verweist Revueltas mit der Nennung seines Namens auf seine Funktion als Autor und historischer Zeuge. Damit verbunden ist immer auch die Suche nach der Erfüllung des kommunistischen Ideals und der eigenverantwortlichen Sinnsuche. Siehe dazu auch bei Negrin 1995 das Kapitel 3.1.2., das speziell den historischen Bezügen -Zeit, Orte, Personen- der Romane und Kurzgeschichten nachgeht. Frankenthaler 1979: S. 36. Der Niedergang des Dorfes symbolisiert die Geschichte des Menschen auf verfluchter Erde: "¡Después de todo lo que había pasado en esa tierra, que primero la huelga, después el fracaso del Sistema y en seguida la sequía, como si se tratara de una tierra maldita!" (S. 39).
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"Natividad bajó a la tumba encendido de banderas, en llamas, rodeado de la silenciosa, totalmente silenciosa multitud. Por entonces el pueblecito comenzaba a decaer, a los tres meses de la huelga y el hambre endurecía los rostros" (S. 177).
Das prometheische Feuer individueller und sozialer Verwirklichungen des Lebens wird jedoch nicht verlöschen. Die Flammenzungen kommunistischer Glut projizieren die Möglichkeiten von Veränderungen in eine Zukunft, da die Überzeugungskraft des Reformers nichts anderes als den innersten Willen der Massen spiegelt: "Natividad era un hijo de las masas; en ellas nutría su poderosa fe. Las masas repartían el pan de la historia y de este pan alimentábase Natividad. ¿Cómo iba a morir nunca? Cual en los antiguos ritos egipcios, un alimento, un pan de cada día, dábanle las masas al muerto vivo. Un pan secreto y nuevo, nutricio, inmortal, inmortalizador. Es como si no lo hubiera matado -pensaba Adán" (S. 180).
Die Figur Natividad ist von zentraler Bedeutung in Hinblick auf eine mögliche Rezeption von El luto humano. Durch sein Exempel wird das appellative Moment des Textes sichtbar. Natividads Vorbild ruft dazu auf, das Verhalten in der Gegenwart auf die Zukunft hin zu Uberdenken. Der Appell richtet sich an die Lebenden, die dazu aufgefordert werden, ihr Handeln neu zu reflektieren und ihm als ethischen Maßstab allein ihr Mensch-Sein zugrunde zu legen. Da sie vergeblich auf die Rückkehr ihres Messias warten: "Natividad descendía a la tierra entre banderas rojas. Descendía" (S. 177), ist jegliche Hoffnung auf transzendenten Beistand obsolet. Führt man diesen Gedanken konsequent weiter, so bleibt nur der Schluß, daß der Mensch sein Geschick selbst definieren und seinen Platz in der Geschichte finden muß. Dieses ist ihm aber nur dann möglich, wenn er sich dessen bewußt ist, was es besagt, Mensch zu sein. Wenn Natividad die Botschaft des neuen Menschen verkündet, so ist der alte Mensch vor die Aufgabe gestellt, sich selbst zu erkennen. Erkenntnis kann der Mensch aber allererst durch Schicksalsprüfungen oder -in der Begrifflichkeit der Existentialphilosophie- durch Grenzerfahrungen gewinnen. In El luto humano werden diese dem "alten" Menschen in der Gestalt Adáns und des Pfarrers auferlegt.
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3.2.2. Adán: Der verlorene Mensch Das Ideal des "neuen" Menschen Natividad wird insbesondere durch die Figur des "alten" Menschen Adán kontrastiv herausgestellt. Die Kritik hat zumeist die als überzeichnet empfundene Bösartigkeit der Gestalt Adáns betont: "Más que un personaje de carne y hueso, Adán es la encarnación de la violencia y el odio irracionales; contrario a la imagen del Padre edénico, dador de vida, Adán es portador de la '... violencia ciega, (del) señorío sobre el destino, (de la) capacidad de destrucción sin límites'".53 Borsö erblickt in ihm auch die Verkörperung des Antimythos von natürlicher Ordnung und Fortschritt: "Adán, der unter den Mestizen am nächsten dem indianischen Ursprung steht, nimmt die Stelle des Bösen im Zustand des Chaos und der Wildheit ein, die nach der conquista durch die Evangelisierung in die eigentliche Geschichte der Erlösung Christi einzubinden war — eine Mission, die sich die (revolutionäre) Integrationspolitik (...) erneut zum Ziel gemacht hatte, wobei der revolutionäre Fortschrittsgeist mit gleicher metaphysischer Prädestination an die Stelle des Religiösen tritt".54 Die Anspielungen auf den biblischen Urvater lassen sich im Text zahlreich belegen: "Adán, padre de Caín, padre de Abel" (S. 19); "Adán, el hijo de Dios. El primer hombre" (S. 17); "Adán sin el machete, desnudo, sin la Parra, sin la hoja" (S. 17-18); "Adán, padre de Abel, padre de Caín, padre de los hombres" (S. 111). Der biblische Urvater wandelt sich in diesem Roman zum "ersten Menschen der Mestizen", weist also auf den Ursprung der Mestizenrasse zu-
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Octavio Romero, Publio: Los mitos en "El luto humano"; Texto Crítico, 2, 1975, S. 84. Borsö 1994: S. 183. Der Gegensatz Gut - Böse (hier verkörpert durch Natividad und Adán) hebt sich nach ihrer Auffassung mit dem Tod Natividads endgültig auf: "Mit der Zerstörung Natividads, des guten metaphysischen Prinzips, hört das Prinzip des Bösen auf, als solches zu bestehen und zu wirken. Nur in einem Oppositionsdenken kann die Negativität des Lebens mit dem bösen Prinzip gleichgesetzt werden" (Borsö 1994: S. 204). Das dualistische Prinzip ist allerdings auch in den anderen Figuren ansatzweise zu erkennen.
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rück.55 Die Hervorhebung seiner äußeren indianischen Merkmale kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich seine Herkunft keineswegs lückenlos zurückverfolgen läßt, da sich die Identität der präkolumbischen indianischen Kulturen aus heutiger Perspektive nicht mehr eindeutig bestimmen läßt. Wohl haben wir eine Ahnung von ihrer Existenz, doch bleiben die Konturen allenfalls schemenhaft, oder sie nehmen fabelähnliche Gestalt an: "Adán debía descender de los animales. De los animales mexicanos. Del coyote. De aquel pardo ixcuintle sin pelos y sin voz, con cuerpo de sombra, de humo; de la serpiente, de la culebra; de las iguanas tristísimas y pétreas" (S. 20). 56
Die Merkmale jener atavistischen "Rasse" sind in Adán eingraviert. In ihnen finden die Indianer ihre Vergangenheit, ihre Niederlage und ihren Untergang gespiegelt: "Tenía Adán esa sangre envenenada, mestiza, en la cual los indígenas veían su propio miedo y encontraban su propia nostalgia imperecedera, su pavor retrospectivo, el naufragio de que aún tenían memoria" (S. 18). Adán gemahnt an die Schande des unzivilisierten und ob seiner Schwäche verachteten und geschlagenen Barbaren. Doch gleichzeitig verkörpert er die Gewalt der weißen Eroberer und Machthaber. In seinem Inneren wiederholen sich der Kampf der Conquista, die Niederlage und der Sieg. Die Gewalt des Eroberers rebelliert gegen die Apathie des Verlierers: "Adán era la impotencia llena de vigor, la indiferencia cálida, la apatía activa. Representaba a las víboras que se matan a sí mismas con prometeica cólera cuando se las vence. A todo lo que tiene veneno y es inmortal, humilladísimo y lento" (S. 25).
Andererseits lehnt sich die Schmach des Verlierers gegen die Unterwerfung durch eine fremde Macht auf: Die Selbstverachtung schlägt in Selbstverleugnung und Selbsthaß um. Aus dem inneren Zwiespalt kehrt sich die negative 55
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Vgl. auch die biblische Definition des Namens: "Mensch heißt auf Hebräisch Adam und wird teils als Eigenname, teils als Gattungsname gebraucht" (Die Bibel: Mose 4.5). Der Ixcuintle soll ein hundeähnliches Tier ohne Fell gewesen sein, das die Azteken - w i e die Europäer heute Hausschweine- züchteten.
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Energie nach außen und richtet sich gegen den Nächsten wie an Úrsulo und Adán deutlich wird, die wechselseitig ihren Haß und ihre Selbstverachtung reflektieren. In beiden erwacht bei der Überquerung des Flusses der Wunsch, das Spiegelbild zu töten, um den Anblick des eigenen Schicksals von der Erde zu tilgen. Nur die Ehrfurcht vor dem Tod Chonitas hält sie zurück und läßt sie für einen Moment eine solidarische Brücke über den feindseligen Abgrund schlagen: "Úrsulo entonces luchó con desesperación en contra de aquel ser insensato que lo abrazaba impidiéndole nadar. Iba a salvarlo y Dios sabe por qué. Acaso porque se trataba de salvar una especie de destino representada por aquel hombre. Por aquel Adán, hijo de Dios, padre de Abel, padre de Caín; de salvar el fratricidio oscuro; (...) Hoy no podía dejar que se ahogase. Cualquier otro día menos hoy, cuando su hija, allá, bajo los cirios, recibía una luz última, el parpadeante soplo de la nada" (S. 20). Úrsulo rettet Adán, den Urvater des Menschengeschlechts, der zugleich alle menschliche Wesensart generiert. In der Gegenwart inkarniert die mythisch überhöhte Figur in der profanen Gestalt eines Handlangers staatlicher Gewalt. Adán ist einer von denen, die aufgrund der Hoffnungslosigkeit ihres Daseins nur allzu gerne bereit sind, Aufgaben zu übernehmen, die zwar hinsichtlich ihrer moralischen Legitimation verwerflich erscheinen, nichtsdestoweniger aber geeignet sind, ihrem kärglichen Leben zu etwas Ansehen und Glanz zu verhelfen. Er steht in dem Ruf ein kaltblütiger Killer zu sein, der sich des Brudermordes schuldig gemacht hat: "Pensaba [Úrsulo] en todo lo que Adán debía (...); en las vidas que debía, (...), pues así se dice, y matar es deber, en el macizo, inexorable Caín de que estaba hecho; en los nombres muertos, sepultados, de Natividad, Valentín, Guadalupe, Gabriel, que Adán había borrado de la tierra" (S. 19). Aufgrund seiner Schuld wird der Urvater zu Kain. Als Bezirksbeamter (agente municipal de la sierra) verbreitet er Autorität und den Schrecken einer Gewalt, der sich die Menschen ohnmächtig ausgeliefert sehen. Für sie bedeutet Adán nichts anderes als ein weiteres Glied in der Kette der Unterwerfung und Demütigung, der sie sich seit Jahrhunderten beugen:
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"Y quién sabe por qué el más, pues a lo mejor sólo a cinco había matado. Pero la gente era una gente humillada desde hacía muchos años y muchos siglos; humillada desde su nacimiento, y la palabra más era tan sólo para indicar que el criminal - o los criminales de siempre- seguirían matando. Más de cinco.' Más. Más. Fatalidad pura, resignación triste y antigua, donde una apatía interior, atenta, inevitable y desolada, esperaba, sin oponerse, crímenes nuevos, más y más difuntos" (S. 19). In Adán vermischen sich die Neugierde eines Sadisten mit einem haltlosen Machtwillen: "(...) el enigma de conocer cómo responde el ser humano frente a la muerte, hecho tentador, magnífico y que atrae con poder inaudito" (S. 118). Er verfällt dem Rausch, schicksalsgleich über Leben und Tod zu entscheiden. Im Glauben an seine Allmacht überschätzt sich schließlich das Werkzeug: Adán, bloßer Vollstrecker fremden Willens, begreift sich als Auserwählter der Vorsehung: " (...) violencia ciega, señorío sobre el destino, capacidad de destrucción sin límites. Era aquello representar el papel de destino; no sólo prestarse como ejecutor de sus designios, sino actuar como destino hecho carne y ser vivo, con voluntad creadora y destructora, con el minuto crucial en las manos, todopoderoso, instrumento de la más altae inconcebible soberanía" (S. 119). Es scheint mir allerdings übereilt, Adán allein als Agenten des Bösen abzustempeln. Er verkörpert vielmehr ein dualistisches Prinzip, das ihm ermöglicht, seinen Irrtum zu erkennen und ihn befähigt, seine Schuld auf sich zu nehmen. Tatsächlich haben ihn nur die Morde an den beiden Cmrero-Führern unberührt gelassen. Bereits der Tod von Gabriel, eines seiner Getreuen, den er aus Eifersucht niederschießt, beginnt an seinem Gewissen zu rütteln.57 Die Allmacht weicht einem Gefühl der Verlorenheit, das den Auserwählten seine Anmaßung erkennen läßt. Der Stolz auf seine unhinterfragte Macht, Leben auszulöschen,
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Bezeichnenderweise verurteilen Adäns Auftraggeber sein eigenmächtiges Handeln. Der Gouverneur zeigt aber schließlich doch Verständnis dafür, daß die Ehre des Mannes bis zum Mord gewahrt werden muß: "La mujer, (....), el caballo y la pistola, son cosa sagrada" (S. 130).
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weicht einer Ahnung der Sinnlosigkeit seines Tuns. Willenlos läßt er sich treiben in einer für ihn fragwürdig gewordenen Existenz: "La muerte de Gabriel era (...) la primera que consumaba por iniciativa propia y esto le hizo sentir una especie de terror, como si le hubiesen dicho que su voluntad y su discernimiento no existían ya en absoluto, dominados por un monstruo. Habíase creido algo así como un ejecutor del destino, al margen de las cosas y dueño de una clara independencia, pero de súbito comenzó a comprender que su alma era una hoja perdida en la borrasca, sin asidero alguno, zarandeada a capricho y carente de albedrío" (S. 129).
Als er den Auftrag annimmt, Natividad zu töten, wachsen in ihm die Selbstzweifel. Bereits die erste Begegnung mit Natividad hatte ihn eine neue Dimension des Seins erahnen lassen: "Un sentimiento confuso se adueñaba de Adán al percibirse de su impotencia efectiva con respecto a un hombre que era poderoso en sí mismo, seguro. Parecía como si se enfrentase a un ser inmortal cuyas razones de vida fueran superiores a la propia vida. (...) Para Natividad como que la vida era enormemente rica, fértil, y cualquiera de sus detalles, aun los mínimos, como encerrando un universo lleno de pasión" (S. 130-131). Die Aura der Stärke, die diesen für Adán unbegreiflichen Menschen umgibt, weckt in ihm eine bisher unbekannte Hoffnung. In Natividad findet er eine Möglichkeit seiner selbst gespiegelt, zu der er allerdings den Zugang verfehlt. Schon an der Schwelle der Erkenntnis seiner Bestimmung, bleibt er dazu verurteilt, im Ungewissen zu verharren: "Era desesperante para Adán el contacto con ese hombre. Tanto como si un sordo adivinara un rumor, (...), y a punto de oír ya, algo pequeñísimo (...) interpusiera su obstáculo definitivo, (...). O como un ciego a punto de ver, pero que no puede atravesar la línea imponderable, fantástica, que existe entre las tiniebals y la videncia O como un loco carente de las sobrehumanas fuerzas que se necesitan para trasponer la frontera de millonésimo de milímetro que existe entre la razón y la locura" (S. 155). Natividad selbst prophezeit das Scheitern der Mission Adáns: "Nunca podrás matarme -dijo rotundo y sin abandonar su sonrisa. (...) A menos que sea a traición..." (S. 114). Doch noch einmal wird Adán zum willigen Vollstrecker des Fatum:
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"Estaba escrito que Natividad muriera. Estaba escrito que esa noche. Estaba escrito que Cecilia, (...), perderíase corriendo como una loca (...). Todo estaba escrito, y sin embargo Adán no pensó entonces que pudiera ser así y que la fatalidad tuviese una existencia tan exacta, tan definitiva e irrebatible. Empero, Natividad moriría, atravesado, crucificado. (...) Pero así debía ser, quién sabe por qué" (S. 164).
Der Verrat macht den Menschen Adán zum Judas, zum Mörder am potentiellen neuen Menschen. Doch fühlt er bereits, daß Natividad durch die ihm eigene unbezwingbare Stärke den Tod Uberleben würde. Er weiß ihn im Besitz einer außergewöhnlichen Kraft, da er den Willen der Massen verkörpert: "Como si Natividad fuese poderoso y múltiple, hecho de centenares de hombres y de mujeres y de casas y voluntades" (S. 156). Es bedarf nur noch eines unbedeutenden Fingerzeigs der Borrada, seiner Frau, der seine Ahnung Gewißheit werden läßt.58 Er wird Natividad niemals besiegen können, da dieser unsterblich in der Seele des Volkes weiterlebt und immer wieder neu geboren wird: "Hombres como Natividad se levantarían una mañana sobre la tierra de México, una mañana de sol. Nuevos y con una sonrisa. Entonces ya nadie podría nada en su contra porque ellos serían el entusiasmo y la emoción definitiva" (S. 179).
Adán erkennt seine Niederlage. Zum ersten Mal wird er sich aber auch der Liebe der Borrada bewußt. Das verleiht ihm die Hellsichtigkeit zu wissen, daß er von diesem Moment an seine Schuld abzubüßen hat: "(...) a partir de ese instante empezaría a pagar sus culpas, a estar solo, solo con ella, perseguido sin descanso, por los siglos de los siglos, como Caín. No tenía armas. Era bueno" (S. 178-179).
So wird er zu Adán-Kain, dem Gott die Strafe auferlegt: "(...) unstet und flüchtig (zu) sein auf Erden" (Mose 3.4.14.). Von nun an würde er auf der Flucht sein vor den Blicken der anderen: "Huyeron de la multitud para esconderse de sus miradas" (S. 179). Adán ist von Gott verdammt. Im Bewußtsein seiner menschlichen Verantwortung besteht Rettung für ihn nur noch in der Annahme 58
"No es una muerte igual a las otras. (...) Hoy como que no hubieses herido a un hombre solo" (S. 179).
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seines peinigenden Schicksals, da er in den schuldlosen Urzustand des Paradieses nicht zurückfinden wird.59 In der Akzeptanz der existentiellen Situation der Schuld bietet sich ihm eine mögliche Form emanzipierender Bewußtwerdung der eigenen menschlichen Verantwortung. Mit dem Mord an Natividad ist die kriminelle Energie Adáns endgültig verbraucht. Er verspürt nur allzu stark die Sehnsucht, mit seiner Vergangenheit abzuschließen. Den Auftrag, Úrsulo zu töten, übernimmt er noch in der fragwürdigen Hoffnung, durch dieses letzte Opfer frei zu werden: "Quizá fuera, ese homicidio próximo, el de la libertad; el que, por fin, le diera la proporción justa e inasequible a la cual ansiaba llegar" (S. 118). Doch beginnt er an der Richtigkeit seines Tuns zu zweifeln. Die einstige Klarheit seiner Bestimmung verflüchtigt sich, bis er sich schließlich dem blutigen Auftrag entziehen möchte: "No quiero matarlo -dijo-. No lo mataré - y recostó la cabeza en el regazo de la Borrada, cerrando fuertemente los ojos, sin duda para no ver ni oir y perderse en el intenso olvido" (S. 181). Aber Adán kann seiner Bestimmung letztlich nicht entfliehen. Noch im Tod erfüllt er seine zerstörerische Mission: In der letzten Begegnung, als sein Leichnam vorbeitreibt an den Flüchtenden, die sich auf Úrsulos Haus gerettet haben, "ruft" er seinen Rivalen in den Tod, ehe er selbst als erster von den zopilotes verschlungen wird.60
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Aufgrund dieser Beobachtungen vertritt Borsö die Überzeugung: "Revueltas' Existentialmaterialismus in der Nähe von Kierkegaards Existentialismus entdeckt den einzelnen Menschen über den Weg einer ethischen Frage, die an den Willen des Einzelnen gestellt wird, und nicht in abstrakten Kategorien wie Epoche, Geschichte und Menschlichkeit aufgehoben ist; eine Frage, in der die Pluralität des Seins durch die Beteiligung an der existentiellen Situation der Schuld akzeptiert und ausgehalten wird" (Borsö 1994: S. 205). Vgl. S. 110-111. Erst bei dieser letzten Begegnung der beiden Widersacher wird dem Leser bestätigt, was zu Beginn der Rahmenhandlung nur angedeutet wurde: " (...) un monstruo le (al cura) nacía dentro del corazón" (S. 31). Der Pfarrer sticht aus Rache für die Crisrero-Führer Guadelupe und Valentín Adán nach der Flußüberquerung nieder. In der Erinnerung Úrsulos lebt diese Episode kurz vor dem eigenen Tod wieder auf: "Ahora recordaba al cura asestando la bestial puñalada y escondiendo después los ojos en la noche" (S. 109).
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3.2.3. Die Negation des Eroberungsmythos Das Ende des ersten Menschen Adán signalisiert zugleich den Untergang des Geschlechts der Mestizenrasse. Die Fabel wird durch die Verbindung Adáns mit der Borrada verstärkt: In dieser reinkarniert die Geschichte des Ursprungs der mestizischen "Rasse" unter dem Vorzeichen der negativen Umkehr. Adán gleicht dem Eroberer Cortés, wenn er in abgelegene Indianergebiete vordringt, um Anordnungen der Regierung durchzusetzen. Doch trifft er auf keinen Widerstand mehr. Die Indios begegnen ihm mit resignativer Unterwürfigkeit, die darauf ausgerichtet ist, ihn gnädig zu stimmen. Sie Uberlassen ihm die Borrada, eine Frau, deren auffällige, blaugrüne Augen bereits ihren außergewöhnlichen Charakter verraten und deren besondere Schönheit die Würde edler Herkunft nahelegt.61 Das Volk hegt für sie einen abergläubischen Respekt, in dem eine verzweifelte Hoffnung eine allerletzte Zuflucht findet: "También como quizá para la Malintzin de sus compatriotas, hacia la Borrada había un trato lleno de superstición y fatalismo. La Borrada era el signo último, la puerta por donde todos iban a salir a otra vida" (S. 125-126).
Die Borrada scheint dazu ausersehen, den Verrat der Malinche erneut zu begehen: "(...) poseedora de esa disposición misteriosa para entregarse al extranjero" (S. 125), um auf diese Weise den Kreislauf der Geschichte ihres Volkes zu perpetuieren, das seit präkolumbischer Zeit ausweglos gefangen scheint in der immerwährenden Bewegung der Absurdität des Leidens. Mit der Hingabe der Malinche an den spanischen Eroberer Cortés eröffnete sich neues Blut Zugang in des Land der mexicas: "Malintzin era el misterio y la puerta, el arco. Bajo su piel crecería el agua nueva" (S. 127). Jedoch änderte das neue Blut nicht die
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"La llamaban la Borrada por sus ojos verdeazules, borrados, singulares dentro del rostro intensamente moreno. De una belleza fiera, salvaje (...)" (S. 119). - Im mexikanischen Sprachgebrauch wendet man üblicherweise diesen Namen auf eine Frau an, um auf ihre besonderen persönlichen Merkmale aufmerksam zu machen.
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Geschicke des Volkes, wovon das Wappen Mexikos Zeugnis gibt. Es ist das Abbild jener tiefsten Resignation, die jede Aussicht auf Veränderung des menschlichen Leidensweges der Geschichte negiert: "Mientras persistiera el símbolo trágico de la serpiente y el águila, del veneno y la rapacidad, no habría esperanza. Se había escogido lo más atroz para representar - y tan cabal, tan patéticamente- la patria absurda, donde el nopal con sus flores sangrientas era fidedigno y triste, los brazos extendidos por encima del agua, cruz extraña y timida, india y resignada" (S. 36).
Mit dem Anblick des Adlers, der auf einem Kaktus eine Schlange verschlingt, hat sich die Prophezeiung der barbarischen Azteken erfüllt. Sie gründen am verheißenen Ort die Stadt Tenochtitlán, von der aus sie im Schutze ihrer Götter ihre Herrschaft für lange Zeit behaupten können. Doch die Götter überlassen ihre Schützlinge den weißen Eindringlingen. Auch Quetzalcóatl flieht vor der Potenz der Eroberer. Er verläßt sein Volk, als Malinche den ersten Sproß der Mestizenrasse gebiert: "Al saberse que la Malintzin estaba encinta, los pueblos arrodillados tocaron con su frente el polvo inmenso de donde habían nacido. '... en ninguna manera podéis impedir mi ida, por fuerza tengo de irme -dijo Quetzalcóatl entonces, terminando-: vinieron a llamarme y llámame el sol'" (S. 126).62
Als ihre Götter fliehen, bleiben die indianischen Völker als Waisen zurück. Sie fügen sich in ihr Schicksal der orfandad und unterwerfen sich den neuen Herren. Die Frucht der Unterwerfung, die bastardía, gilt als Zeichen der begründeten Schuld der indianischen Frau, die dieser bis heute nicht verziehen wird. Unter diesem Signum bedeutet eine Fortpflanzung der Mestizenrasse auch eine Fortsetzung der Zerstörung der Kultur der Mutter. Die Borrada erfüllt die Hoffnungen ihres Volkes auf ein neues Leben daher konsequent, wenn sie die Fortpflanzung verweigert. Zwar wird sie Adán bedingungslos folgen, sie wird aber
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Revueltas zitiert nach Fray Bernardino de Sahagún (ohne Seitenangaben). Vgl. de
Sahagún, Bernardino: Historia general de las cosas de Nueva España. Angel Ma. Garibay K. (Hrsg.) México: Porrúa 1982.
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aus dieser Bindung kein neues Geschöpf hervorgehen lassen 63 , da sie den Zustand der ewigen Wildheit der miteinander widerstreitenden (ethnischen) Kräfte nicht erneuern will: "De tener un hijo la Borrada ese hijo se volvería la tierra misma resurrecta en lobo y otra vez con la serpiente viva, con la serpiente emperatriz y la sangre renovada con otro, singular veneno" (S. 126). 64 Damit bricht die Borrada mit der endlosen Spirale der Vergangenheit, die bis auf den Ursprungsmythos des Aztekenreiches zurückgeführt werden kann. Im Roman ist der Fluß das Zeichen der Schlangengöttin Coatlicue: "die mit dem Schlangenrock", die Erdenmutter und Todesgöttin, die gibt und nimmt und ein tragisches Schicksal gebiert: "La mariposa [hier: Todesmetapher] volaba con sus alas sin ojos y afuera la noche: era una víbora reptante, agrandándose sin cesar. La muerte tomaba con frecuencia esa forma de reptil inesperado. Agredía a mansalva y agrandándose simplemente para dejar la mordedura y retroceder a su rincón hú63
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Borso verweist in bezug auf die Borrada auf eine parallele Gestaltung zur biblischen Magdalena im Ritual des Fußwaschens (Vgl. Borso 1994: S. 191). Der Name Borrada bedeutet auch die Ausgelöschte. L d. S. weist ihr Name auch auf die ihr zugedachte Bestimmung, die Genealogie der bastardía zu löschen. Sie läßt sich von der bruja Demetria (römische Fruchtbarkeitsgöttin!) behandeln: "Con eso no nace el indino [indianische Aussprache für: indigno]" (S. 127). Das von Revueltas im Text wiederholt benutzte Symbol der Schlange läßt mehrfache Deutungen zu. Die Schlange tritt u.a. in Verbindung mit der Symbolik des Flusses, des Todes und des Blutes auf. Sie kann für Neuerung und für Wiederauferstehung stehen (siehe auch Kapitel 3.1.1. zu Symbolreihe Fluß, Schlange, Quetzalcóall). Im Zusammenhang mit der Diskussion um Identitätsmodelle des Mestizen bietet es sich an, lobo als Symbol des Eroberers zu verstehen, während dann la serpiente das indianische Volk repräsentiert. In der mesoamerikanischen Glaubenskultur —ihrerseits ein Synkretismus aus verschiedenen Glaubensrichtungen indianischer Völker- werden den Göttern starke Tiere zugeordnet. Neben dem Jaguar und dem Adler spielt auch die Schlange eine wesentliche Rolle. Die Schlange gilt u.a. als Muttergottheit und als Symbol der Fruchtbarkeit der Agrarkulturen: '"La primera de estas diosas se llamaba Cihuacúatl, que quiere decir mujer de la serpiente y que la llamban Tonantzin' explicaba Sahagún en su Historia general de las cosas de la Nueva España. (...) Hoy todavía se conoce el famoso templo de Tonantzintla (nuestra madrecita)" (Dussel 1988: S. 19). Veneno ist hier nicht ausschließlich als Gift zu verstehen, sondern als Substanz, die etwas Neues, Unbekanntes beinhaltet, also etwas Neues markiert. Allerdings verbindet sich damit nicht zwangsläufig die Aussicht auf eine positive Veränderung.
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medo. Una víbora con ojos casi inexpresivos de tan Mos, luchando, sujeta por el águila rabiosa, invencibles ambas en ese combatir eterno y fijo sobre el cacto doloroso del pueblo cubierto de espinas" (S. 35).
Versteht man die Binnengeschichte um die Borrada und Adán als ein Spiel mit elementaren kulturellen Zeichen Mexikos, so lassen sich folgende Interpretationen des edenischen Paares anschließen: Revueltas greift innerhalb der christlichen Tradition das biblische Motiv von Adam und Eva auf. Doch verkehrt er den überlieferten Mythos des Sündenfalls, der die Urschuld der Frau begründet, und der darauffolgenden Vertreibung aus dem Paradies in eine Parabel der Befreiung. Die Borrada bricht mit der Urschuld der Stammesmutter MalincheEva. Indem sie die Mutterschaft verweigert, durchtrennt sie die Kette mühseliger und wenig hoffnungsvoller Leben. 65 In ihrem Ungehorsam liegt daher die Chance einer Krise geborgen, die den Ausweg aus einem unterwürfigen in einen menschlich-vernünftigen Zustand verspricht. Auf diese Weise schlägt die vermeintliche Verneinung des Lebens in die Bejahung der gegebenen Welt um. Aus der Negation des Bestehenden wird erlösendes Heil erst möglich. Aufgrund dieser Beobachtungen wird deutlich, wie Revueltas mit dem symbolischen Paar Adán-Borrada den offiziellen politischen Diskurs in einer entscheidenden Frage unterläuft, die sich mit Bezug auf das Bild d e m e n t e Orozcos' Cortés und Malinche, entstanden in den Jahren 1926 bis 27, veranschaulichen läßt. Dieses faßt sympathetisch zusammen, was die politische Führung als zukunftsweisendes Glücksversprechen für ihre Nation in Aussicht stellte. Der Spanier ist ganz Allmacht: Mit seinem offenen, vorausschauenden Blick repräsentiert er den zupackenden, schöpferischen Geist, während die indianische
So konstatiert auch Borsö, daß die verschiedenen Formen der Unfruchtbarkeit bei allen weiblichen Gestalten des Romans zwei Seiten des Mythos zeigen: "Die Ablehnung der Mutterschaft und damit auch die Ablehnung zukünftiger Entwicklung und Geschichte oder Fortsetzung der Geschichte als Fortsetzung der Serie von Racheakten gegen die Urschuld" (Borsö 1994: S. 190).
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Frau durch Körperhaltung und Mimik ganz Zurückhaltung und die Bereitschaft zur Unterordnung signalisiert: Der besiegte, indianische Mann wird durch den auf ihm thronenden Fuß des Eroberers ausgelöscht, während die Frau Abstand zu ihm hält, ihn verrät (sie!). In der Verbindung des nackt dargestellten Paares wird suggeriert, daß die mexikanische Zerrissenheit durch die Integration der passiven Elemente in den europäischen, fortschrittlich-zukunftsorientierten Geist zur glücksstrahlenden "kosmischen Rasse" des Vasconcelos überwunden werden kann. Die Heterogenität, geboren aus einer blutigen Genesis, wird gebannt in dem Ur-Fest der Conquista. Aus dem Krieg wird ein Fest, aus der -revolutionären- Gewalt ein Akt der freudigen Selbstfindung. 66 Dagegen verwirft Revueltas mit dem Untergang des indianisch-mestizischen Paares Borrada-Adán eine Geschichtsdeutung, die auf historisch-rassischen Determinanten gründet. Die Borrada signalisiert ein notwendiges Ende in dem Sinne, daß das alte - i n dieser Weise minderwertig verstandene- Wesen des Mexikaners sterben muß, da es sich als Inbegriff von Passivität und Fatalismus als nicht mehr lebensfähig erweist. Er verstärkt so mit dieser Binnengeschichte (ebenso wie mit den anderen) die Aussage der Rahmengeschichte: Im Chronotopos der Romanwelt führt die konsequente Negation der Genesis als unaufhaltsame Regression zum Ursprung und damit zur endgültigen Auslöschung des Seins der Mestizenrasse. Die gleichzeitig methodische Negation alternativer -sowohl transzendenter als auch irdischer- Auswege seitens des Autors ist als implizite Aufforderung an den Leser zu verstehen, die tradierte Passivität zu überwinden, um den Geschicken der mexikanischen Nation eine neue Wendung zu verleihen.
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Harth hat darauf hingewiesen, daß die These Caillois: "Der Krieg (...) gilt wie das Fest als heilige Zeit, als Periode der Epiphanie des Göttlichen" erklären hilft, warum eine Gesellschaft, die ihre Identität auf einen Umsturz, d. h. auf Nicht-Identität zurückfuhrt, eher der Mythisierung der Revolution vertraut als ihrer historischen Erzählung. Vgl. Harth 1992: S. 32.
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3.2.4. Der Priester: Zeichen religiöser Entwurzelung Die Figur des namenlosen Priesters erfüllt in symbolischer Verdichtung mehrere Funktionen: Der Priester verkörpert einerseits die katholische Kirche, dient also zur Veranschaulichung der Rolle der Kirche im postrevolutionären Mexiko. Andererseits gestaltet sich um ihn die Frage nach Glauben und Glaubensverlust des mexikanischen Volkes.67 Die Reise über den Fluß, die er antritt, um der Bitte Úrsulos nachzukommen, dem Siedlerpaar in der Todesnacht Chonitas beizustehen, soll den Priester an die Grenzen seiner bisherigen Erfahrungswelt führen. In Kenntnis der Pflichten seines Amtes folgt er wie diese unglücklichen Siedler den Geboten eines Rituals, dessen Sinn ihm jedoch bereits zweifelhaft erscheint: "Le daban pena, (...), aquellas pobres gentes reunidas por la fe. Pobres gentes que creían en la pobre capacidad de él para salvarlas" (S. 42).68 Doch kommt er zu spät, um Chonita in die Gemeinschaft der Gläubigen aufzunehmen. Das tote Kind inmitten einer Schar grotesker Gestalten verkehrt seine heilbringende Mission in eine absurde Geste fehlgerichteter Nächstenliebe. Er schließt sich dem Exodus an, ohne jedoch in die -wenngleich brüchige- Gemeinschaft der Siedlerfamilien aufgenommen zu werden. Schon bald löst er das ohnehin dünne Seil, das ihn
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Für Rabadán gilt der Pfarrer als Opponent des "kommunistischen" Protagonisten Natividad. Trigo hingegen sieht in ihm die Hauptfigur einer kritischen Auseinandersetzung mit der mexikanischen Kirche. Borsö sieht ihn als Kristallisationspunkt von kulturellen Fragen und Fragen der Kommunikation. Siehe Borsö 1994: S. 197. "Aquellos hombres caminando, eran su iglesia; iglesia sin fe y sin religión, pero iglesia profunda y religiosa. Lo religioso tenía para su iglesia un sentido estricto y literal: re-ligare, ligarse, atarse, volver a ser, regresar al origen e arribar a un destino; aunque lo trágico era que origen y destino se habían perdido (...) y los tres hombres caminando (...) eran tan sólo una vocación y un esfuerzo sin meta verdadera" (S. 29); "Hacía falta el cura para darles confianza, para alejarles el temor. Con el cura cerca no tendrían tanto miedo" (S. 39); "Recemos un padrenuestro o algo ... -balbuceó entontecida La Calixta. No hubiese querido rezar más, pero carecía de fuerzas para otra cosa" (S. 40).
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- u m sich in der Sturmnacht nicht zu verlieren- mit diesen verbindet, und fügt sich in sein unabänderliches Schicksal, das ihn auf sich selbst und seine Einsamkeit zurückwirft. Er stellt sich seiner Bestimmung zum Tode. Das physische Erleben des eigenen Sterbens verläuft parallel zu einem kognitiven Entwicklungsprozeß, der ihn über die Erkenntnis verfehlter Möglichkeiten zur subjektiven Erfahrungswelt seiner ihm bestimmten Wahrheit führt. Zusehends verläßt ihn die irdische Lebensenergie und läßt seinen Körper zu Stein erstarrend zurück. Er regrediert zur Form der unbelebten Materie: "Alma amurallada con círculos infinitos, del uno al mil, de mil al millón, sin luz dentro, con tinieblas atroces que no dejaban ver, que no dejaban respirar" (S. 67-68); (...) "Sentía cómo, poco a poco, se iba con virtiendo en piedra, y la sensación lo conmovía hasta lo más profundo porque era cierta" (S. 68); (...)"E1 agua había subido por encima de los hombros del cura. Ahora iba a subir hasta los labios para penetrar con fuerza inexorable por la boca. Pero él continuaba de rodillas en espera de la muerte. Eran ya de piedra sus muslos y el torso, como una columna. Subía por su cuerpo una manera de ausencia que lo iba perdiendo hacia lo definitivo. Había muerto ya en más de la mitad y pronto su corazón estéril iba a quedar fijo, oxidado, dentro de la muralla de piedra" (S. 76-77); (...)"La piedra se aproximaba al corazón y moríase el cuerpo" (S. 80).
Die regressive Tendenz des Entwicklungsprozesses bedeutet einen gleichzeitig verlaufenden physischen wie psychischen Entpersonalisierungsprozeß. Die wiederkehrende Metapher der desaparición illustriert die fortschreitende Destabilisierung der festgefügten Glaubens-Identität des Priesters. Dennoch verweist die Anspielung auf die Stein-Symbolik -der Steinaltar der christlichen Kirchen gilt als Symbol der Gegenwart Gottes- auf die Präsenz Gottes im Sinne der Präsenz einer absoluten Wahrheit. 69 Die sukzessive Preisgabe seiner theologisch begründeten Identität fordert den Kleriker heraus, die Sinnfrage der menschlichen Existenz neu zu stellen. An der Grenze seines Todes stellt er sich den Prüfungen und Zweifeln seines Lebens: "¿Eran el bien los Mandamientos?
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Vgl. zur Stein-Symbolik der christlichen Kunst Heinz-Mohr 1988: S. 274.
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¿O monstruosos porque se erigían sobre todo lo que el hombre no puede hacer jamás? Amar a Dios sobre todas las cosas. ¿Y dónde Dios?" (S. 68). Obgleich die Kirche in Mexiko wie überall in Lateinamerika das gesellschaftliche Leben bestimmt, begegnen wir hier einem Priester, der den Eindruck erweckt, abseits von seiner Gemeinde zu stehen. Er zählt zu den wenigen übrigen Bewohnern des Sistema de Riego, lebt aber von Úrsulo und den Seinen nicht nur im realen Sinne durch den Fluß getrennt. Der ihn auszeichnende intellektuelle, kritisch-rationale Blick auf seine Umwelt läßt ihn wie einen Fremdkörper in dieser barbarisch-ruralen Welt erscheinen, wodurch die unwillkürliche Distanznahme (des Lesers) zur elenden Existenz der campesinos
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men ist. So vermag er zu Úrsulo und Adán keine Verbindung herzustellen. Sein Blick erkennt den der anderen nicht: "Tan sólo bocas fuertes, esculpidas, cubriendo la apretada dentadura de elote. Sin ojos. No se les veían en efecto, hundidos, y espesos: piedras ágiles, secas, vivas y afiladas; (...) más que ojos eran una sombra helada" ( S. 22-23). Schlaglichtartig erhellt seine Figur die Problematik interkultureller Wahrnehmung in einem Land, in dem parallel mehrere Zivilisationsformen -gerade auch als Mischformen- existieren. Während nun der Pater eindeutig die westliche, teleologisch rational orientierte Zivilisationsform repräsentiert, stehen Úrsulo oder auch Adán für eine rurale Kultur, in der Geschichte als ein die Raum-Zeitlichkeit transzendierender kosmischer Sinnzusammenhang verstanden wird. Innerhalb deren Vorstellung einer einmal kreativ gestifteten kosmischen Ordnung ist eine individuelle Gestaltung des eigenen Lebens nicht vorgesehen. Der Mensch fügt sich ein in den Kreislauf kosmischer Zyklen und biologischer Rhythmen. Die Möglichkeiten kultureller Wandlungen sind aus seinem Weltverständnis ausgeschlossen. Die Kluft zwischen beiden Weltkonzeptionen scheint schwer überbrückbar zu sein. Dem cura ist es unmöglich, mit der ihm fremden und unverständlichen indianischen bzw. indianisch-mestizischen Lebenswelt zu kommunizieren. Er bleibt in
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der Position des außenstehenden Beobachters verhaftet. Eine Episode aus den Erinnerungssequenzen des cura demonstriert die Unfähigkeit, Menschen in ihrer kulturellen Andersartigkeit wahrzunehmen und zu akzeptieren: Er hatte einmal einen Indio beim Gebet im Kloster von Sto. Domingo in Oaxaca beobachtet.70 Der Indio wandte sich in seiner Sprache an Gott, um Trost für seine Leiden zu erfahren. Das tiefe religiöse Empfinden des Indianers wurde von vorbeieilenden, kulturbeflissenen Touristen zu einem (fremd-) kulturellen Spektakel degradiert. Mit unverhohlenem Mißtrauen zweifelten sie an der Wahrhaftigkeit des Gestus und blickten voll verständnislosem Mitleid auf die gequälte Kreatur. Ihre Wahrnehmung spricht dem Indianer jegliche kulturelle Authentizität ab und bestätigt ihre Vorstellungen, daß der Indianer keinen wahren Glauben empfinden könne, da er sich nicht in der richtigen Sprache an den einen, wahrhaften Gott wende: "(...) en México los indios lloran frente a las imágenes blancas, lamentándose en su idioma. Creen que Dios es Quetzalcóatl, que vendrá a redimirlos" (S. 70). Die eigentlich Fremden negieren die Existenz vielfältiger Ausdrucksformen mexikanischer Volksfrömmigkeit und bleiben in einem homogen orientierten Denken verhaftet, das sie gleichzeitig ihrer eigenen Identität versichert. Im Rückblick sieht sich der Pater durch die Touristen mit seinem eigenen zivilisatorisch-religiösen Hochmut konfrontiert, der auch ihn dazu verführt hatte, die Glaubensäußerung des Indio geringzuschätzen. Auch er sah in diesem ein verlorenes Geschöpf, dem der christliche Gott ein fremder Gott, der Gott der anderen, der Eroberer, geblieben war. Seiner ursprünglichen religiösen Bindung entfremdet scheint er zu immerwährendem Leiden in hoffnungsloser Trauer verdammt: "Dios, siempre Dios. Qué dios triste, sin poder, ése del pobre indígena. No. No tenía dioses. Ni Dios. Tan solamente pena"
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Die Kirche Santo Domingo zählt zu den ältesten Kirchen Oaxacas und ist ein besonders augenfälliges Beispiel der Verschmelzung autochthonen und christlichen Glaubens, da die barocke Architektur mit indigenen Elementen durchsetzt ist.
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(ebd.)-71 Die Episode verdeutlicht die tiefe kulturelle Kluft zwischen offizieller Kirche und dem religiösen Empfinden des Volkes.72 Gerade auch die unrühmliche Rolle des Priesters während der Cristero-Kiiege wirft ein wenig vorteilhaftes Licht auf die Position der offiziellen Kirche. Als Anführer der Cristeros entlarvt er sich als erbärmlicher Duckmäuser. Während die gläubigen Anhänger, die einfachen Bauern, bereit waren, für ihre Überzeugung bis zum Tode einzustehen, und ihrer Hinrichtung noch mit dem Schlachtruf Viva Cristo Rey entgegensahen, betrieb er ein feiges Versteckspiel. Als Adán an der Spitze der konföderierten Truppen die Cristero-Führer Guadalupe und Valentin folterte und erschoß, beobachtete er das Geschehen bänglich aus einem sicheren Versteck heraus. In keinem Moment war er mutig genug, den vielfältigen Auswüchsen von Gewalt entgegenzutreten.73 Auch im Glauben fand er nicht genug Kraft, um dem Haß zu begegnen, der alle für ihre Überzeugung kämpfenden Parteien vorantrieb: "Preguntábase entonces si la verdad no estaría en ningún lado y toda aquella confusión trágica no era otra cosa que descubrir el abismo inesperado de los hombres, la sentina. ¿Podía creerse en algo? ¿Por qué todo era injusto? ¿Qué iba a ser del pueblo? ¿Dónde estaba su historia? Odio. Odio. Odio. Odio. Odio. Odio" (S. 176).
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Siehe zur Frage des Glaubens auch das Kapitel 3.3.1. "Der Kampf um den 'wahren' Glauben". Vgl. dazu die Ausführungen zur cultura popular im Einleitungskapitel. Als Beispiel für jene ungezügelte Grausamkeit sei auf die Episode verwiesen, in der die cristeros dem jungen Lehrer des Dorfes die Zunge abschneiden, und ihn zwingen, mit dem blutenden Mund Mezcal zu trinken: "-No quieres un poquito de mezcal -le preguntó Guadalupe, el jefe cristero- para que te refresques?" (S. 169). Den religiösen Fanatismus geißelt Revueltas auch in mehreren Kurzgeschichten. In Dios en la tierra (O.C. 8) rüstet sich ein Cristero-Dorí gegen die Bundessoldaten. Die räumliche Geschlossenheit des Dorfes verstärkt den Eindruck der mentalen Verschlossenheit der Bewohner. In ¿Cuánta sera la oscuridad? markiert die Dunkelheit das Wesen des Fanatismus und der Intoleranz der Cristeros. In El luto humano verurteilt Revueltas jedoch nicht nur den religiösen Fanatismus, sondern auch die Gewalt der Anti-Cristeros.
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Die Konfrontation mit der Verehrung des von Adán an einer kreuzförmigen Kaktee zu Tode gefolterten Valentin führt zur Erschütterung seines religiösen Selbstverständnisses.74 Der einst fanatisierte und erbarmungslose Valentin wird gleich dem Sohn Gottes von der Menge als Märtyrer verehrt: "Con riesgo de su vida, los habitantes del pueblo peregrinaban en secreto (...) hasta el cacto, hasta la monstruosa y verdadera cruz mexicana (...)" (S. 177). Das christliche Rahmenthema der Beweinung des Gottessohnes am Heiligen Kreuz durch Maria, Magdalena und Martha verschmilzt mit dem präkolumbischen Identitätszeichen zu einem plakativen Ausdruck des Leidens und der Sehnsucht nach Gerechtigkeit des Volkes. 75 Die Identifikation des Volkes mit dem gekreuzigten Valentin wird dergestalt zur Metapher des Machtverlustes der Kirche, der die Kontrolle über ihre Symbole entglitten ist. In allen Rückblenden offenbart sich das Unvermögen des Priesters, sein Amt zu erfüllen, um so mehr als sich zeigt, daß viel "geringere" Geschöpfe als er nach den Geboten christlicher Nächstenliebe zu handeln vermögen. 76 Anstatt Trost
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Adán schleift den blutenden Valentin quer durch das Dorf und bindet ihn schließlich an eine der kreuzförmigen Kakteen. Zuvor hatten Valentin und Guadelupe mit gleicher Kaltblütigkeit die Gegner behandelt (Vgl. Fußnote oben). Dazu konstatiert Borso: "Die doppelte Perspektive des Pfarrers auf das 'mexikanische Kreuz', das aus der Sicht der katholischen Theologie und Moral als blasphemisch erscheint, während es in den Augen der indianischen Bevölkerung als Indiz für konkretes Leiden erfahren wird, fuhrt zur Einsicht in die Ambiguität des symbolischen Gebäudes der mexikanischen Gesellschaft" (Borsó 1994: S. 203). Das Muster der Verkehrung der KreuzSymbolik hatte auch schon Azuela 1915 in dem Revolutionsroman Los de abajo praktiziert. Dort werden "Revolutionäre" an Kakteen gekreuzigt. Vgl. zur Symbolik des Kreuzes auch die Untersuchung des Anthropologen Werner Müller (1964), der die These verficht, daß das Kreuz schon vor der Christianisierung bei den Maya kultische Bedeutung hatte. 1972 greift der Maler Alberto Gironella bei seinem Bild Verónica, einem Bestandteil seines Zyklus über Leben und Martyrium Zapatas, ebenso auf die biblische Trauerszene zurück. Er zitiert ein zeitgenössisches Foto von 1919 mit dem Porträt einer um den Revolutionsflihrer trauernden Bäuerin. Haufe 1991: S. 338. Siehe dazu auch folgende Episoden: Die Sprachlosigkeit des Priesters gegenüber dem Indio, der aus Reue über seine Grausamkeit vermutete, daß in seinem geprügelten Hund Christus lebendig geworden war: "Ese perro, padre mío, ¿no sería Él? "
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zu spenden, mußte er getröstet werden. Anstatt Hoffnung zu verbreiten, verharrte er in Resignation. Anstatt die Gemeinde zu fuhren und ihr ein Vorbild zu sein, ließ er sich von ihr tragen. Sein passives Verhalten hatte ihn nicht nur an jenen schuldig werden lassen, die sich für ihren Glauben opferten, sondern auch gegenüber all denen, die von ihm Linderung ihrer Pein erwarteten. Im Sterben erkennt der Pater, daß er zeitlebens kläglich versagt hatte: "Porque ocurría que, próximo a la muerte, se le revelaba la esterilidad monstruosa de su existencia, cuyos propósitos, ahora, aparecíanle sin sentido. Todo su pasado era un error triste donde no hubo un solo momento de victoria" (S. 67).
Seine Versteinerung symbolisiert die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber einer Welt, die seiner Kontrolle entgleitet. Jedoch gewinnt der Priester durch die Annahme des eigenen Scheiterns zuletzt an menschlicher Integrität. In ihm vollzieht sich eine Wandlung vom Zustand zwischenmenschlicher Gleichgültigkeit, der sich in einer neugierig distanzierten Betrachtung des Anderen manifestiert, hin zur empathischen Anteilnahme am Nächsten als Mensch unter seinesgleichen. Im Verlauf seiner Metamorphose begreift er rassische, religiöse und kulturelle Identitätsbestrebungen zunehmend als obsolet. Die Erkenntnis und Akzeptanz seines eigenen "So-Seins" öffnet ihm einen Weg zu einer authentischen Existenz. Er findet sich auf sich selbst zurückgeworfen und erkennt, daß die theologische Sinnschöpfung für ihn ihre identitätsstiftende Kraft verloren hat. Er wird gewahr, daß er, da er den Tod geflohen hat, sich dem Leben nicht eigentlich hatte stellen können: "Huyo entonces aterrorizado, pues el pavor de la muerte circulaba por sus venas. Siempre tuvo miedo de morir, un gran miedo. Sentía que la muerte era como una vida especial, hiperbólica, de la conciencia; una vida en que tan sólo la conciencia,
(S. 72). Sein Versagen am Sterbebett einer Kranken. Die Begegnung mit der irdischen Nächstenliebe der Prostituierten Eduarda, die er als Erfahrung der erhabensten Form von Menschlichkeit in seinem Gedächtnis bewahrt. Sie gleicht einer Engelsgestalt, die Schutz und Heil verspricht:" (...) apareciendo extraña, singular, iniciadora de machos vírgenes, con algo de muy transparente y claro, limpio y sin mancha" (S. 75).
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sin limitaciones físicas ni sociales ni terrenales, actuaba para desnudar sin remedio el espíritu del hombre, penetrándolo como nadie lo había penetrado jamás" (S. 175). Der Priester ist bei seiner Suche nach dem Sinn des Daseins beim einzelnen Menschen angelangt, der sich selbst als Subjekt zu begründen hat. Suche und Antwort fordern jeden Einzelnen in der Kategorie des Jetzt im Angesicht des Todes. Diese Episode der "Todeserleuchtung" verweist bereits auf die zentrale Bedeutung des Todes im philosophischen Gebäude von Revueltas. Das Motiv wird im nachfolgenden Roman Los días terrenales abermals aufgegriffen und vertieft.77 Innerhalb der Diskursformation von El luto humano lassen sich zwei Bedeutungen des Todes unterscheiden: Die eine bezieht sich auf den "sterilen" da sinnentleerten Tod, der für den Einzelnen wie für die Menschheit folgenlos bleibt.78 Von dieser uneigentlichen Haltung distanziert sich Revueltas und präsentiert den Tod als dem Menschen einzig erkennbare absolute Wahrheit. Daher bildet die Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit den einzig gültigen Ausgangspunkt für den eigenen Lebensentwurf und ermöglicht eine Projektion auf die Zukunft. Wer die Begrenztheit des eigenen Selbst annimmt, dem bietet sich die Chance, im Bewußtsein authentischer Verantwortlichkeit zu leben.79
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Siehe insbesondere das Kapitel 4.3.3. "Die Botschaft des Todesengels". Wie in den Kapiteln 3.1.2. und 3.1.3. ausgeführt, exemplifiziert der Autor den sterilen Tod an den Figuren Úrsulo und Calixto. Auf den sterilen Tod der Mexikanischen Revolution werde ich im Kapitel 3.3.3. ausführlich eingehen. Im Verständnis des Autors muß die subjektive immer auch die gesellschaftlichpolitische Dimension einschließen. So erklärt er im Interview mit Norma Castro Quiteño: "Oponer al ahora y aquí de la vida, el ahora y aquí de la muerte. Es decir, estar tan dispuesto a no considerar la vida como persona, como propiedad privada, sino en atención al yo genérico del hombre. A que nuestra muerte no es la muerte del hombre. Ya con ese criterio, no consagraremos nuestra vida a manejarla como propiedad privada, por el régimen enajenante de la propiedad. En cuanto se puede elaborar el ahora y aquí de la muerte, se acaba con el ahora y aquí de la vida egoísta, individual. Así la muerte personal no es la muerte del género. La muerte es la dialéctica del proceso natural de la vida" (Oponer al ahora y aquí de la vida el ahora y aquí de la muerte (1967). In Sáinz 1977: S. 89-90).
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Anhand der Vergessenen und Auserwählten der Geschichte exponiert Revueltas Fragen nach der Bestimmung des Einzelnen. Die Masse scheint wie Schiffbrüchige orientierungslos dem Schicksal preisgegeben. Für sie bedeutet Historie Wiederholung immer gleicher Leidenszirkel ohne Aussicht auf eine in die Zukunft weisende Veränderung. Die Genealogie der Mestizenrasse, exemplifiziert an Úrsulo, vertieft die Bahnen des Circulus vitiosus. Der Fluch der zwiespältigen Herkunft verurteilt ihn zu Einsamkeit im Kosmos. Die Figur Adáns macht deutlich, daß der Mensch, der "alte Mensch", für immer verloren ist, und er, obwohl er seine Schuld anerkennt, wie Kain vor den Blicken der Menschen flüchten muß. Der Untergang des indianisch-mestizischen Paares Adán-Borrada deutet darauf, daß historisch-rassische Determinanten als Begründungszeichen von Identität versagen. Indem die Borrada die Fortpflanzung verweigert, tilgt sie die Mestizenrasse. Dennoch liegt gerade in der Auslöschung vergangenen Seins die Chance auf einen Neubeginn. Der Priester steht für Fragen der Glauben sdisposition. Er erscheint als Vertreter der Institution Kirche, die aufgrund ihrer machtpolitischen Interessen getrennt von den Bedürfnissen des Volkes agiert, das seinerseits eigene Glaubensformen entwickelt hat und bewahrt, die mit den Vorgaben der offiziellen Kirche nur wenig gemein haben. In seinem Todeskampf wird sich der Priester seines absoluten Glaubensverlustes bewußt. Er dringt zu sich als ein Subjekt vor, das sich selbst zu begründen hat und bereit ist, sich der eigenen Verantwortung gegenüber der Welt zu stellen. Auf diesem Wege wird die Ebene nationalen Denkens, das ethische Sinnentwürfe auf der Suche eines spezifischen ser mexicano entwickelte und propagierte, verlassen. Mit konsequenter Zielstrebigkeit destruiert Revueltas mythologisch oder utopisch begründete Identitätsentwürfe. Indem er den Menschen jenseits aller rassischer und kultureller Identitätsmuster als humanes Wesen bestätigt, macht er ihn zu einer universal gültigen Größe, zu einem Teil der Universalgeschichte, der sich durch keine spezifisch nationalen Kategorien auszeichnet.
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Dekonstruktion mythopoetologischer Beglaubigungsdiskurse der Mexikanischen Geschichte
El luto humano mag zunächst den Eindruck erwecken, Revueltas laste alles Unglück des heutigen Mexiko der Ambivalenz seiner Entstehung an.80 Jedoch kippt Revueltas die Bewertung der Historie als solche. Im Gegensatz zu vielen Denkern seiner Zeit beharrt er darauf, daß Geschichte als Produkt tradierter Erinnerungen nur ein zweifelhaftes Identifikationsparadigma anbietet. Insbesondere die Ambivalenz der Geschichte Mexikos verbietet es, sie als "das" kulturelle Gut zu begreifen, das das Selbstverständnis des Einzelnen und der Nation zwangsläufig determiniert. Aus seiner Perspektive muß eine Nation, deren Selbstverständnis aus den Interessen einer Minderheit -der sich im postrevolutionären Mexiko neu etablierenden bürgerlichen Schichten- resultiert, scheitern, da es den eigentlichen Bedürfnissen des Volkes keine Geltung verschafft. Im Unterschied zu den an der Vergangenheit orientierten Denkern sucht er einen Gesellschaftsentwurf aus der Realität der Gegenwart zu entwerfen. Jedoch projiziert er im Vertrauen auf eine marxistische Heilsversion einen zukünftigen "neuen Menschen" in Gestalt Natividads, der sein Leben in der Authentizität seines Selbst und in der Solidarität mit anderen gestaltet. In der Ikonographie des Romans zeigt die "Fluß-Schlange" die Grenze der überholten gesellschaftlichen Ordnung an. Die Regenerationskraft des Elementes verweist zugleich auf die Chance einer neuen Ära. Eine Gesellschaftsform bedarf jedoch der Identitätszeichen, die ihr Gültigkeit und Beständigkeit verleihen. In dieser Frage ist der Lebenskampf des Einzelnen mit dem Schicksal der Nation verknüpft.
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Insofern läge eine Übereinstimmung zum völkerpsychologischen Ansatz von Samuel Ramos vor.
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3.3.1. Der Kampf um den "wahren" Glauben Um "selbstverständliche" Identifikationsmuster aufzubrechen, nutzt der Autor gerne die Techniken der ironischen Distanzierung und Verfremdungen. Wenn der Erzähler beispielsweise zum Ursprung der Geschichte zurückführt, so tut er dies in der Absicht ironischer Brechung. Er überzeichnet die nostalgische Verzweiflung des Mexikaners, der sich nach einem ihn eindeutig bestimmenden Ursprung sehnt: "El mexicano tiene un sentido muy devoto, muy hondo y respetuoso, de su origen. Hay en esto algo de oscuro atavismo inconsciente. Como ignora su referencia primera y tan sólo de ella guarda un presentimiento confuso, padece siempre de incurable y pertinaz nostalgia. Entonces bebe, o bebe y canta, en medio de los más contradictorios sentimientos, rabioso en ocasiones, o tristísimo. Quizá aflore una madre terrenal y primigenia y quiera escuchar su voz y su llamado" (S. 143).
Geht man dessen ungeachtet von diesem Ursprungsgedanken aus, so zeigt sich die Gefühlswelt des ser mexicano durch das Empfinden einer als undurchdringlich verstandenen und im wesentlichen nicht greifbaren Vergangenheit geprägt. Daher hält ihn ein konstantes Gefühl der Verunsicherung gefangen. Revueltas sucht nun nachzuweisen, daß diese Tatsache hauptsächlich daraus resultiert, daß der Mexikaner in der Conquista der Religion an sich beraubt wurde. Unaufhörlich kreist er in einer Spirale spirituellen Leidens, da er jener "wahren" Religion entbehrt, die jenseits von christlichem oder indigenem Glauben, den Menschen an das Sein bindet: "Lo hicieron mal los espafloles cuando destruyeron, para construir otros católicos, los templos gentiles. Aquello no constituía realmente el acabar con una religión para que se implantase otra, sino el acabar con toda religión, con todo sentido de religión" (S. 171).
Aus der Einheit mit dem Kosmos hinausgestoßen wurde das Volk zu ewiger Suche nach einem verlorenen Teil seines Seins, dem urspünglichen paradiesischen Zustand, verdammt:
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"Algo quedó faltándole al pueblo desde entonces. La tierra, el dios, Tlóloc, Cristo, la tierra, sí. ¿Qué podía esperar ya? (...) Pero obsérvense en cualquier sitio, en Tlatelolco, (...) en Oaxaca y hay ahí, entre sus piedras, trepando con lentitud extática, con ojos, una serpiente tristísima de nostalgia, que deja su interrogación, el aire imposible que se pregunta dónde y en qué sitio" (S. 171-172). Der Autor erkennt, daß das Leben des modernen Mexikaners durch eine transzendentale Leere bestimmt ist, die auf die Enteignung des präkolumbinischen Glaubens durch die Evangelisierung, die desposesión, und die endgültige Zerstörung ihrer Kultur zurückzuführen ist.81 Der Mexikaner entbehrt, um es mit dem Begriffsinstrumentarium Ortega y Gassets zu benennen, einer Glaubensgewißheit, die seiner Existenz eine sichere Grundlage böte.82 Da er im Zweifel lebt, treibt ihn beständig die Suche nach transzendentaler Geborgenheit. Nur allzu bereitwillig ergreift er daher jeden sich bietenden "Glaubens-Strohhalm", der ihn aus der permanenten Unsicherheit zu befreien verspricht. Im postrevolutionären Mexiko potenzierte sich die Heimatlosigkeit der Bevölkerung, da sich die Revolution als unfähig erwies, die Verwirklichung der in der Revolution proklamierten Rechte des Volkes auch nur in Teilen zu bewerkstelligen. Die nunmehr doppelte Enteignung des Volkes -seiner Götter und seiner
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Die These der desposesión wird insbesondere von Trigo (1987) erörtert, der sie in seinen Studien zu widerlegen versucht. Revueltas bezieht das universal gültige Thema der Enteignung hier ausdrücklich auf die Wesensart des Mexikaners. Auch verschiedene Kurzgeschichten behandeln die kulturelle Entwurzelung insbesondere der indianischen Bevölkerung. So beispielsweise: Barra de navidad (In: O.C. 8); El Dios vivo, José María Arguedas gewidmet, handelt von der Wortbrüchigkeit des Weißen gegenüber dem Indianer; El lenguaje de nadie legt die Skrupellosigkeit einiger Weißer bloß, die die Unwissenheit eines Indianers ausnutzen, um ihm sein Land abzuluchsen. Die Sammlung Ensayos sobre México (O.C. 19), mit Aufsätzen zur nationalen Geschichte und Politik, dokumentiert die Auseinandersetzung Revueltas' mit dem ser mexicano unter einem rationalistischen und objektiven Blickwinkel. Deutlich mokiert er sich jedoch über die Tendenz der mexikanischen Denker, die eine allgemeingültige Definition des Mexikaners zu finden suchen (Vgl. O.C. 19: S. 45). Vgl. Ortega y Gasset 1970. Siehe dazu auch die Ausführungen zu Los días terrenales.
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Erde beraubt- rief eine nicht zu stillende Sehnsucht nach metaphysischer Geborgenheit hervor. Die umfassende Orientierungslosigkeit brach sich sehr schnell in erneuten Gewaltausbrüchen Bahn. In jenen Revolten zwischen 1926 und 1929, die unter dem Namen Cmfero-Kriege bekannt wurden, wurde Mexiko nach den Wirren der Revolution abermals in einen barbarischen Zustand versetzt. In diesem "Bruderkrieg" spaltete sich das Land in zwei unerbittliche feindliche Lager: "Un terrible río fue establecido a la mitad del país entero. Río sucio, con sangre, con ojos ciegos, con dientes apretados" (S. 170).
Während sich nun auf der einen Seite die Cristeros sammelten, um, getragen von dem Schlachtruf Viva Cristo Rey, ihren Anspruch auf den "Besitz Gottes" einzuklagen, standen auf der anderen Seite die Revolutionäre bereit, ihre Revolution mit ebenso unbarmherziger Entschlossenheit zu verteidigen. Im Namen höherer Ordnungen bedienten sich sowohl der Staat als auch die Kirche der einfachen Bevölkerung, der desamparados, um ihre Ziele durchzusetzen. Beide Institutionen verfolgten ihre machtpolitischen Interessen ohne Rücksicht auf den eigentlichen Nutzen für den Einzelnen. Revueltas zitiert einen der Hauptagitatoren auf der Seite der Cristeros, den Bischof von Huejutla, der mit fanatischem Eifer zur Rebellion gegen den antiklerikalen Staat aufruft: "¿Permitiréis, oh padres de familia, que vuestros hijos sean al fin presas de la revolución? -continuaba el obispo de Huejutla-. ¿Permitiréis que los pedazos de vuestras entrañas sean devorados por la jauría infernal que ha clavado sus garras en el seno de la patria? (...) ¿Toleraréis siquiera (...), toleraréis que el monstruo bolchevique penetre al santuario de las conciencias de vuestros vástagos para destrozar la religión de vuestros padres y plantar en él la bandera del demonio? (...). ¿(...) y vamos nosotros, los verdaderos mexicanos, los mancebos de la Iglesia católica, los vencedores de tantos y tan gloriosos combates, los mimados hijos de Cristo Rey (...)?" (S. 169-170).83
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Der Bischof muß als einer der Hauptagitatoren der Kirchenrevolution betrachtet werden. Seine Taten sind belegt: "Sobre el tablero de la iglesia, en el atrio, donde
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Wie dieser Bischof verstanden es auch andere geschickt, jene im Volk wirkenden Kräfte des Glaubens bzw. vielmehr Kräfte der Gaubenssehnsucht zu mobilisieren, die es bereit machten, die bedrohte Einheit ihres Daseins zu verteidigen.84 Auf diese Weise degradiert die christliche Mission zu einem aus Verzweiflung geborenen Fanatismus. Die Kette der Gewalttaten, die schließlich zum metonymischen Mord an Adán fuhren, den der cura in blinder Rachsucht verübt, signalisiert das endgültige Scheitern der Kirche in bezug auf die evangelización. Blickt man dann auf die Seite der Revolutionäre, so wird sichtbar, daß auch ihre Kampfeslust von religiösem Eifer durchtränkt ist: "La revolución, por su parte, se hizo, digamos, de una Iglesia" (S. 171). Auch Wut und Überzeugung der Revolutionäre nähren sich von der Quelle eben jener Glaubensmatrix, die sie zu bekämpfen vorgeben: "Con seguridad los federales creían en Dios, en Cristo y en la Iglesia. Inexplicable entonces por qué peleaban, pues también ponían rabia, odio" (S. 169). Die alte Macht (die Kirche) und die neue (der antiklerikale-liberale Staat) zogen jeweils mit dem Ziel zu Felde, ihre "Glaubens-Pfründe" zu behaupten. Wenn daher für den Aufstand der Cristeros gilt, er sei Ausdruck einer"(...) reivindicación gegen den sich wiederholenden Entzug des Rechtes auf religiöse Identität durch die revolutionären caudillos (...)", so gilt dies in eben umgekehrter Weise auch für die Revolutionäre.85 Die Sehnsucht nach einer Heimat im Glauben bil-
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fijábanse avisos religiosos, hoy un mensaje iracundo, con sus caracteres negros, con su negra cruz a cuyo pie podía leerse el nombre del obispo de Huejutla. Se trataba del célebre Tercer mensaje al mundo civilizado', en que el audaz obispo llamaba a la rebelión. Nadie conocía en el pueblo al obispo de Huejutla, ni siquiera en qué lugar del país se encontraba Huejutlav" (S. 168). Vgl. dazu Dussel: "Desde el proceso de la emancipación de España y Portugal, la religiosidad popular se autonomiza de la Iglesia institucional, y se transfoima en un campo de resistencia popular ante el régimen liberal, que no sólo es anticonservador sino igualmente antipopular" (Dussel 1988: S. 17). Borso geht davon aus, daß das Ursprungsmodell als Generator einer Serie (cuchillo primero) wirke:" (...) die unmittelbar (...) - s o scheint die Reihenfolge der Erinnerungen nahezulegen-, zur Revolution fiihrt. Die Serie konstruiert den Sinn der Re-
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det fiir Revueltas daher die eigentliche Triebkraft auch der jüngsten mexikanischen Geschichte: "Aquello descomunal, todo aquello insensato y extraviado, la inútil sangre, la fiereza, el odio, el río sucio a mitad del país, negro, con saliva, la serpiente reptando, ¿qué era? ¿Qué misterio? ¿Qué pueblo asombroso, qué pueblo espantoso? Sólo podía explicarse por la desposesión radical y terminante de qué había sido objeto el hombre, que si defendía a Dios era porque en él defendía la vaga, temblorosa, empavorecida noción de sentirse dueño de algo, dueño de Dios, dueño de la Iglesia, dueño de las piedras, de algo que jamás había poseído, la tierra, la verdad, la luz o quién sabe qué, magnífico y poderoso" (S. 172). Aus der Perspektive Revueltas' stellt der Cristero-Kríeg
nur eine neue Variante
der alten Kämpfe dar, die durch den Schock der Begegnung der Rassen und Kulturen ausgelöst wurde. Ein Zwang zur Wiederholung also, der bis heute den Habitus des Mexikaners kennzeichnet. So zitiert Armanda Alegría noch 1979: "Así han transcurrido varios siglos, reproduciéndose sin cesar las escenas de la vieja pugna entre las dos razas que viven y están destinadas a vivir sumidas en el estrecho canal de nuestra sangre. No hemos alcanzado aún la lucidez que nos permitirá ver que es necesario firmar ya la paz en el íntimo recinto de nuestros cuerpos. La secular discordia mexicana, más que doméstica es intravenosa La enemistad del hombre al hombre es, en su raíz, enemistad consigo mismo. Se amotinan bajo nuestra piel los diversos y revueltas elementos de que estamos formados, y hay en los obscuros corredores por donde debería fluir la vida, un tropel aguijado por el miedo y por el odio".86 Den Kampf um den "wahren" Glauben entdeckt der Autor als einen Atavismus, der als eigentliche destruktive Kraft den Lauf der mexikanischen Geschichte bestimmte und eine progressive Entwicklung vereitelte.
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volution als reivindicación des indianischen Ursprungs und als (scheinbar) definitiven Bruch mit Latifundismus und Klerus, jenen Institutionen, die in verschiedenen Gestalten die Zeichen des Eroberers bis ins 20. Jahrhundert getragen haben" (Borsö 1994: S. 180). Der Aufstand der Cristeros reihe sich in diese Kette ein. Damit haben die caudillos: "Formen und Funktion des Eroberers angenommen" (ebd.). Armanda Alegría 1979: S. 80. Sie zitiert nach Trueba Alfonso: Doña Eulalia, el mestizo y otros temas, o. J. und o.S.
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3.3.2. Der Exodus des mexikanischen Volkes Im Bestreben, das Wesen des Mexikaners und seiner Geschichte zu erfassen, denunziert Revueltas die immer wiederkehrenden Glaubenskämpfe als eines der hauptsächlichen Hindernisse für die ökonomische und soziale Entwicklung des Landes. Die zwanghaften Wiederholungen der Geschichte, die Fehler, die sowohl Conquista, Unabhängigkeitskriege, Reforma und zuletzt die Revolution charakterisieren, sind im Roman durch das Motiv des Exodus angezeigt. Die Revolution als wichtigstes historisches Moment Mexikos zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellt den herausragenden Referenzpunkt. Sie bildet den Bezugsrahmen zur Fabel von El luto humano, dem Exodus-Motiv der Rahmenhandlung, das auf der alttestamentarischen Vorlage, die den Weg des Volkes Israel aus der ägyptischen Knechtschaft in das Gelobte Land Kanaan nachzeichnet, basiert. In welcher Weise ist nun die Verbindung des Exodus-Motivs mit der Mexikanischen Revolution zu erklären? Die einschlägige Forschung zum Thema zeigt, daß dieser Mythos, der von Aufbruch, Wanderschaft (= Wandlung) und Ankunft erzählt, sich generell als Handlungsschablone auf die Abfolge revolutionärer Prozesse anlegen läßt.87 Betrachtet man den Roman Revueltas' unter diesem Blickwinkel, kann man zunächst folgenden Handlungsablauf filtern: Die Fabel beschreibt im wesentlichen den Auszug des mexikanischen Volkes aus der Despotie des Porfiriats, um den Fängen ungezügelter elitärer Herrschaft und kirchlicher Gewalt zu entfliehen. Glückverheißende Proklamationen vor Augen, durchlebt es die Irrungen und Wirrungen der Revolution, die Wanderjahre, die es schließlich zum Ziel, zu den vorher eingeforderten Reformen wie z.B. der Agrarreform führen sollen.
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Siehe dazu ausführlich Harth: "Die Stationen, die der Mythos erzählt -Auszug aus der Despotie, Ankunft im Gelobten Land, Kampf in der Wüste und Politik des Neuen Bundes-, liefern geradezu ein Handlungsmodell für den Ablauf revolutionärer Prozesse" (Harth 1992: S. 20).
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Harth hat den janusköpfigen Sinn des Revolutionsbegriffs herausgestellt: "(...) da er auf die alte Welt als seine Heimat zurückblickt und zugleich am Tor angeschlagen ist".88 Die vom Lateinischen abzuleitende Wortbedeutung verweist auf "Umwälzung", aber mit der Vorsilbe "re-" auch nach rückwärts: "Die Revolution ist demnach nicht nur als ein Umsturz des Alten zu verstehen, sondern auch als die Wiederholung eines Alten". 89 In Mexiko stand der Umsturz der Diktatur neben dem Einklagen alter indianischer Rechte. Die Revolution war sowohl Anliegen und Ausdruck einer hoffnungsvollen Aufbruchsstimmung seitens des Volkes und seiner Führer, wie andererseits auch Ausdruck des Herrschaftsanspruches der aufstrebenden liberalen Kreise. Die Gemeinsamkeit des Gefühls des Neuanfangs bei gleichzeitiger Divergenz der Ziele ist das Spezifikum, das der Mexikanischen Revolution ihre einmalige Originalität verleiht. Eine Originalität, die jedoch gleichwohl der Gefahr ausgesetzt war, sich in Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit zu verlieren: "Curiosa esta revolución que parecía no saberse a sí misma. Otras en el mundo extraían sus frases y sus banderas de las anteriores, y hasta los ejemplos de la antigüedad clásica, tornándose así graves, conservadoras, resucitadoras. Pero ésta de aquí parecía como si se desarrollara en el centro de África, sin que sus hombres supieran dónde habían comenzado ellos mismos y sus padres y sus abuelos. Algunos generales parecían participar en la revolución (...) tan sólo por darse el gusto de redactar manifiestos al estilo de Vargas Vila, y la masa sombría que iba detrás quizá tratase únicamente de vengar el sacrificio de Cuauhtémoc, a quien los españoles quemaron los pies durante la conquista. Pero en todo caso era algo oscuro, oculto de tan adentro como estaba y de tan grande como se sentía su profundidad" (S. 145).
In El luto humano wird das Volk zum legitimen Urheber der Mexikanischen Revolution erklärt. Der Autor-Erzähler verleugnet nicht, daß seine Gunst der zapatistischen Linie der Revolution gilt. Ja, er gerät geradezu ins Schwärmen, 88 89
Harth 1992: S. 9. Harth 1992: S. 10. Harth betont insbesondere, daß diese Begriffisbedeutung einem landläufigen Verständnis von Revolution widerspricht, das mit diesem zumeist die Vorstellung eines plötzlichen, ja gewaltsamen "Vorwärtsdrängens", "das Zerschlagen der alten Formen zugunsten des in der Zukunft utopisch sich abzeichnenden Neuen" verbindet.
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wenn er die urwüchsige Kraft des unverbildeten campesino als einzig rechtmäßigen Führungsanspruch begrüßt: "Zapata era un general del pueblo, completamente del pueblo. Ignoraba donde se encuentra Verdún. (...) Zapata era del pueblo, del pueblo puro y eterno, en medio de una revolución salvaje y justa. Las gentes que no ignoraban Verdún, ignoraban en cambio todo lo demás. (...) Y ahí las dejó la vida, de espaldas, vueltas contra todo aquello querido, tenebroso, alto, noble y siniestro que era la revolución" (S. 145).
Revueltas erhebt den Aufstand aus dem Süden zur eigentlichen, zur "wahren" Revolution, die es zu verteidigen gilt und für die es sich zu kämpfen lohnt. Die Verheißung auf eine gerechtere Verteilung des Bodens schien sich auch in der Konsolidierungsphase unter Cárdenas mit der Agrarreform (Ankunft im Gelobten Land) zu erfüllen. Der neue Bund der voranschreitenden Revolution aber versagt. 90 Er erweist sich als nicht in der Lage, die proklamierten Rechte des Volkes in die Realität umzusetzen, so daß die Agrarreform schließlich scheitert. Am Ende gehen Arbeiter und Bauern abermals als Verlierer aus den Umwälzungsprozessen hervor. Die Revolution hat dem Volk keine sichtbaren Verbesserungen gebracht. Sie bedeutet daher letztlich wenn nicht Stagnation, so doch eine Rückkehr zum Ausgangspunkt von Ausbeutung und Unterdrückung. Daher erscheint es geradezu als zwangsläufig, daß sich Revueltas über die erst siegreichen und dann staatstragenden Kräfte mokiert, die sich, einmal etabliert, mit verzerrtem Blick auf die Revolution berufen, um ihre Machtposition zu zementieren: "Pero el problema ahí era Natividad, un líder. No se quería de manera alguna que continuara aquella huelga de cinco mil peones, escándalo de la República, y hasta tal vez de la misma revolución" (S. 130).
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Harth weist auf die besondere Voraussetzung für die Adaptationsfahigkeit der biblischen Geschichte in der Tatsache:" (...), daß ein neuer Bund am Sinai die Überwindung der Knechtschaft gekrönt hat, ein Bund, dem kein Despot vorsaß, sondern an dem 'das Volk' partizipierte" (Harth 1992: S. 20).
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In diesem Zusammenhang werden auch jene Schriftsteller und Intellektuelle in die Verantwortung genommen, die aus bloßer Geltungssucht den Schulterschluß mit der Regierung suchen und den Diskurs der vollendeten Revolution fortschreiben: "El gobierno no ocultó jamás el júbilo que le causaba el experimento, y los intelectuales revolucionarios de la época redactaron profundos artículos y tesis nutridas de hondos pensamientos para comunicar al mundo la buena nueva del 'socialismo mexicano'" (S. 133).91
In der offiziellen Rhetorik wird durch die Analogsetzung menschlicher und naturgegebener Gewalten das revolutionäre Ereignis ins Metaphysische überhöht. Im Rückblick auf die kriegerischen Auseinandersetzungen wandeln sich Greueltaten zu sakralisierten Handlungen. Die politische Führung sucht zu vermitteln, daß Gewalt notwendig und gerechtfertigt ist. Das Niederreißen ethischer Schranken in der Ausnahmesituation des Krieges wird auf diese Weise sanktioniert. Der Kunstgriff der Legitimation von Kriegsverbrechen aus der Perspektive der sich etablierenden Sieger scheint insofern geboten, als nur auf diesem Wege eine Konsolidierung der neuen Ordnung geschehen kann. Die Forschung zur Funktionalisierung von Revolutionen stimmt darin überein, daß es möglich wird, auf der Mythisierung des Schreckens als kollektive geteilte Überzeugung eine Identität zu begründen, die den historischen Diskurs negiert. So konstatiert z.B. Harth: "Der rhetorische Logos der Revolutionsrede steht (...) mit der ihm notwendig erscheinenden Rechtfertigung von Gewalt immer schon im Zentrum des Mythos".92
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Schon in Los muros de agua kritisiert Revueltas diese Haltung (Vgl. S. 73-74). Jedoch vehementer dokumentiert sein Kollege Martin Luis Guzmän in La sombra del Caudillo die dummdreiste Gleichgültigkeit aller gegenüber den öffentlich verkündeten Werten: Da predigt der Intellektuelle Revolution, obgleich das Volk ihm fremd ist; und der Caudillo verherrlicht die revolutionäre Eintracht, während seine Schergen unliebsame Gegner beseitigen. In Los dias terrenales wird Revueltas die "verratene Revolution" erneut thematisieren. Harth 1992: S. 31.
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Revueltas trachtet danach, derlei politische Beglaubigungsambitionen in seinem Roman bloßzustellen. Die Episoden aus der "geheiligten Zeit", die er schildert, zeigen mit realistischer Nüchternheit auf Grausamkeiten, zu denen der Einzelne fähig ist, wenn ethische Schranken niedergerissen werden.93 Der Erzähler nennt Fanatismus und Verrat beim Namen, und scheut sich auch nicht, sogenannte Heldentaten als Ausdruck sadistischer Freude purer selbstherrlicher Gewalt darzustellen. Das Motiv des "blutigen Spiels", das die Übertretung moralischer Gebote und die Entfesselung der Triebe erlaubt, wie im ersten Teil mit dem eigennützigen Handeln Calixtos exponiert wurde, wird im zweiten Teil in der Begegnung Adán-Natividad erneut aufgegriffen und gedoppelt: "¡Encontrar a la revolución! Como si la revolución fuese una persona, una mujer, y se la buscase tangible, física, delimitada. El no podía decir nada de la revolución, que era apenas un desorden y un juego sangriento. La guerra, a lo sumo, una manera de buscar la sangre, de satisfacerla. (...) encontrar la revolución, ir, tomarle la mano, unírsele tan verdaderamente que de ella pudieran nacer los hijos, las casas, la tierra, el cielo, la patria entera. Pero Adán no podía decir nada. Su revolución era otra" (S. 152).
Die Revolution diskreditiert Revueltas vehement als "ungeheiligte Zeit", als Zeit eines Lebens in wildem Chaos, in der Willkür und großspurige Allmacht herrschen, in der Menschen "im Spiel" Menschenleben auslöschen, kurz, als Zeit, die den Menschen in eine Bestie verwandelt.94 Die Menschen verlieren in sinnloser Weise ihr Leben in einer Welt, die der Belanglosigkeit preisgegeben ist. Ihre Opfer bleiben vergeblich, da aus den Vergehen und der Schuld des
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Die Entmythisierung der Revolution mittels der in ihrem Namen begangenen Gewalttaten erfolgt auf den Seiten S. 135-155. Im Zentrum stehen die Erlebnisse und Beobachtungen des idealen Natividad und seines Gegenspielers Adán. Während ersterer auch aus der Revolution rein hervorgeht, da seine physische Gewaltausübung gerechtfertigt erscheint, verkörpert der andere eine elementare Gewalt, die steril bleibt, da sie nicht durch Ideale motiviert ist. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Darstellung der Cristero-Kiiege. Vgl. El luto humano: S. 152-153. Ein General erschießt aus Willkür einen Gefangenen, um sich für die Beleidigung eines Offiziers zu rächen.
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Krieges keine neue Ordnung geboren werden kann. Der Opfer-Tod der Mexikanischen Revolution ist ein steriler Tod: "La revolución era eso: muerte y sangre. Sangre y muerte estériles; lujo de no luchar por nada sino a lo más por que las puertas subterráneas del alma se abriesen de par en par dejando salir, como un alarido infinito, descorazonador, amargo, la tremenda soledad de bestia que el hombre lleva consigo" (S. 155).
Der Autor mißt den Diskurs der offiziellen politischen Rhetorik an den realen sozio-ökonomischen Kräfteverhältnissen: Während diese das transhistorische Schema von Aufbruch, Wandlung und Ankunft als vollzogen anpreist, entlarvt er ihren "revolutionären" Diskurs als identitätsstiftende Beschwörungen. Da sich die Verheißungen für die Massen real nicht verwirklicht haben, scheinen sie als ewige Verlierer dem Untergang preisgegeben. Revueltas verkehrt somit in konsequenter Weise den Mythos der Revolution. Gleichzeitig travestiert er den biblischen Ursprungsmythos des Exodus, um auf diese Weise auch die Tradition der christlichen Religion als Ausbeutung anzuprangern.95 Die Dekonstruktion des Revolutions-Mythos bezeugt die Ernüchterung über die Realität der nicht eingelösten, "wahren Revolution". Die Analogisierung des biblischchristlichen und des offiziell-nationalen Diskurses weist nicht nur auf die Vergeblichkeit einer religiösen Heilserwartung, sondern ebenso auf die Vergeblichkeit leerer, da unerfüllter bzw. unerfüllbarer revolutionärer Versprechen.
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Es mag sein, daß Revueltas Wladimir Majakowskis Mysterium buffo. Heroisches, episches und satirisches Abbild unseres Weltalters, eine Art Mysterienspiel, gekannt hat. Dieses erste sowjetische Revolutionsschauspiel beginnt mit der Sintflut und endet mit der Ankunft des befreiten Proletariats im "Gelobten Land". Dazwischen liegen der Bau einer neuen Arche Noah, auf deren Deck Monarchie, Demokratie und proletarische Revolution einander ablösen, die Erstürmung der Hölle und des Paradieses und die Aufräumarbeiten im "Tal des [ökonomischen] Ruins". Am Ende feiert das Stück die Weltrevolution und ihren neuen technischen Geist. Siehe dazu ausführlich Harth 1992: S. 26.
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3.3.3. Die menschliche Trauer Revueltas versuchte, durch Provokation im Volk einen Prozeß der Bewußtwerdung einzuleiten, indem er begann, "klassische" (abendländisch-christliche sowie indigene) Kulturzeichen für ein unabhängiges und auf sich selbst bezogenes Mexiko einzusetzen. Ähnlich wie bei der Wandmalerei Orozcos oder Siqueiros basiert seine Technik auf der Verkehrung traditioneller kultureller Zeichen. Er entsakralisiert archetypische mexikanische Kulturzeichen, um sie für eine säkularisierte -marxistische- Heilsversion zu präparieren. Beispielhaft für den Umwertungsprozeß eines kollektiven Identitätszeichens im Sinne des marxistisch orientierten Autors sei hier die Funktionalisierung der im indigenmestizischen Lebenskontext zentralen Gestalt Christi noch einmal gesondert nachvollzogen. Innerhalb der Praxis des synkretistischen Glaubenskontinuums wird dem Sohn Gottes mit unterschiedlich motivierten Glaubenserwartungen bzw. -haltungen begegnet. In ihrer religiösen Sehnsucht suchen die Vergessenen der Geschichte Trost und Stärkung im Glauben. Aufgrund seiner Geschichte hofft das entwurzelte Volk in Jesus Christus nicht auf den Erlöser, sondern erkennt in seinem Leidensweg sein eigenes Schicksal. Es verehrt in ihm den Cristo de la Paciencia, der sein Leid geduldig erträgt: "El mexicano venera al Cristo sangrante y humillado, golpeado por los soldados, condenado por los jueces, porque ve en el la imagen transfigurada de su propio destino".96 Das Volk fügt sich in die Erwartung seiner Kreuzigung, lebt andererseits aber auch in der Erwartung seiner Befreiung. 97 Das Symbol des Kreuzes veranschaulicht zudem, wie weit Volksglauben und die Dogmen der offziellen Kirche
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Paz 1989: S. 75. Dussel 1988: S. 25.
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divergieren. Das Kreuz erhält eine lebenspraktische Funktion, denn es soll Schutz vor bösen Geistern gewährleisten, wobei den Christuskreuzen ein besonderes Schutzpotential zugesprochen wird: " (...) no ya como el instrumento histórico de su muerte sino como poder antidemoníaco, en los caminos, las montañas, colgada en las paredes de las casas proletarias, (...):Por la Santa Cruz, Seflor, líbranos de todo mal'. En especial los 'Crucificados': esos Cristos blancos, plenos de dolor y de sangre que expresan el sacrificio del mismo pueblo explotado".98
Orozco zeigt in mehreren Visionen der Kreuzigung das Schicksal der indianischen Bauern in Einheit mit dem Leiden des Erlösers." Jedoch bietet Orozcos Heiland im Gegensatz zu seinen Repräsentationen im Dienste der offiziellen Kirche keinen himmlischen Trost, sondern symbolisiert das einsame Opfer eines Unschuldigen. Revueltas geht noch einen Schritt darüber hinaus, indem er aufzeigt, daß das Kreuz als Zeichen seiner ursprünglich christlichen, identitätsstiftenden Kraft verlustig gegangen ist, da es sich, unabhängig von Schuld und Unschuld, Erlösung oder Opfer, als Zeichen vereinnahmen läßt. Das Volk verehrt im Sinnbild des Kreuzes sein eigenes Leiden, wie die Verehrung des gekreuzigten Valentín, des einstigen Verbrechers, nahelegt. In seiner Glaubenssehnsucht bleibt es gegenüber der Realität gleichgültig. Wie Revueltas am Beispiel einer drastischen Episode darlegt, wird es sich Wundern nicht verweigern, wenn sie "geschehen": Als einem cristero im Kampf der Kopf abgeschlagen wird, spritzt sein Blut über ein Kreuz. Dieses beginnt nun wie ein Baum zu wachsen. In seiner Glaubensverzweiflung genügt den Menschen das Zeichen als Beweis der Existenz, des Willens und der Allmacht Gottes: "¿Podría dudarse entonces de la existencia de Dios? ¿De Dios misericordioso que borra los pecados del mundo?" (S. 170).
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Dussel 1988: S. 21. Dazu genauer Haufe 1991: S. 335.
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Der Glaube der Mexikaner reflektiert ihr eigenes Leiden und die Unterdrückung des Volkes. Kirche und Revolution haben es nicht vermocht, der religiösen Entfremdung zu begegnen und es zu einer wahren Geborgenheit im Glauben zu leiten. Mit El luto humano will der Autor der Unbehaustheit des Volkes eine realistische Alternative entgegenhalten. In dieser Romanwelt konzentriert sich alle Hoffnung auf den Befreier Natividad -die
indigen-christlich-
kommunistische-prometheische Heilsgestalt- der in der Vereinigung von Kopf und Hand die Aussicht auf ein irdisches Glück in eine (greifbare) Zukunft projiziert. 100 In ihm finden der Wille und die Sehnsüchte der Massen ihren Ausdruck. Es wird somit unübersehbar, daß Revueltas die tragende Kraft eines glückvollen Mexiko in der unverbrauchten, im Verborgenen liegenden Energie des mexikanischen Volkes entdeckt. Dem Leidens-Schicksal der proletarischen Schichten -hier konzentriert auf die Landbevölkerung- zu begegnen und das Gewissen der Eliten aufzurütteln, ist ein zentrales Anliegen des Romans. Durch die das Volk genuin repräsentierende, ideale Gestalt Natividad sieht dieses sich in positiver Form reflektiert. Natividad bietet sich als Spiegel, der es möglich erscheinen läßt, sich auf sich selbst zu besinnen und das eigene Schicksal zu bestimmen.
Revueltas destruiert in El luto humano die mythopoetisch begründeten Beglaubigungsdiskurse der aufstrebenden mexikanischen Revolutionseliten. Ihren Er100
Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß die Ambitionen von Revolutionären, Christus als Befreier, der sein eigenes Kreuz zerstört, zu instrumentalisieren, im Bewußtsein der Masse keine weitreichende Bedeutung gewonnen hat. Das Volk bewahrt sich bis heute seine Vorstellung von Christus, auf die all seine Hoffnung gerichtet ist: "El Jesucristo redentor tiene una dimensión política, social y cultural. El pueblo crucificado se reconoce en el Jesucristo sacrificado. Pero también, sabe que muere con Cristo y resucita con Cristo (Rom 6) y que participa de la obra de salvación de Jesús, sirviendo al prójimo (Gal 3,28) en la solidaridad (Le 1,46-48; 5153) y en la liberación de los oprimidos (...)" (Nebel 1988: S. 187). Nebel nimmt auch auf die Muralistas Bezug, insbesondere auf Orozcos: Cristo resucitado destruyendo su propia cruz (op.cit.: S. 182).
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folgsmythen setzt er ein Bild des Volkes entgegen, das zeigt, wie es wechselnden -göttlichen wie irdischen- Mächten ausgeliefert ist. Der einst bezähmte, nun aber unaufhaltsam ansteigende Fluß, der schließlich gleich einer apokalyptischen Sturmflut alles zu vernichten droht, symbolisiert die Ohnmacht des Einzelnen vor dem unberechenbaren Willen des Schicksals. Genau wie eine Naturkatastrophe überschwemmen ihn die revolutionären Ereignisse. Dennoch konzentriert sich die Hoffnung in El luto humano auf das gemeine Volk und auf den einzelnen Menschen. In der glückversprechenden Gestalt Natividad liegt die gemeinschaftsbildende, die Entwicklung der Menschheit fördernde, zukunftsentwerfende Kraft geborgen, da sein vorbildliches Handeln zur Nachahmung aufrufen soll. Auf dem Weg Natividads, dem Weg authentischen Lebens, kann sich der Einzelne zum "neuen Menschen" entwickeln. Auf diese Weise wird eine Basis geschaffen, die dem Volk den Platz als Protagonist der Geschichte zuweist. In diesem Ansinnen liegt der eigentlich epistemische Bruch, der für die Revolutionseliten wenig akzeptabel erscheinen konnte, da sie selbstverständlich sich selbst als die treibende Kraft der Geschichte begriffen: "Por su calidad, la clase media ha sido el eje de la historia nacional y sigue siendo la sustancia del país, a pesar de que es cuantitativamente una minoría".101 Der Autor bekundet seine Überzeugung, daß auf die Apokalypse der Revolution ein endgültiges Scheitern der mexikanischen Geschichte nicht die letzte Bestimmung sein muß. Die Möglichkeit der von Marx vorhergesagten proletarischen Weltrevolution bleibt für ihn als Projektion in die Zukunft lebendig. Er folgt damit einer Voraussage, die sich streng wissenschaftlich und rational gebärdet, letztlich aber in sich trägt, was sie zu negieren vorgibt. Das "Millenium" der Herrschaft des Proletariats entspricht dem Muster eschatologischer Vorstellungskraft und erlangt damit die Qualität mythischer Prophezeiung.102 Allzu
101 102
Ramos 1992: S. 68. Dazu ausfuhrlich Heuermann 1988: S. 44ff.
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mächtig erweist sich hier noch der Wirkungsgedanke einer Heil verkündenden Revolution, der auch im Denken Revueltas' als Glaubensmatrix den potentiellen Übergang zum mythischen Glaubensbesitz signalisiert. Revueltas lebt zu diesem Zeitpunkt noch in der Gewißheit der Möglichkeit einer neuen Ordnung, die einen neuen Habitus im Sinne Bourdieus bewirken kann. 103 Wie wenig sich letzten Endes jedoch diese mythische Disposition in seinem Denken verankert, wird nicht nur daran erkennbar, daß Revueltas aufgrund seiner Kritik 1943 -also im Erscheinungsjahr von El luto humano- aus der Partei ausgeschlossen wird, sondern wird gerade auch anhand der nachfolgenden Romane Los dias terrenales und Los errores ersichtlich, in denen er mit der proletarischen Weltrevolution verknüpfte mythische Leitbilder zerstört. 104 Wenn José Revueltas mit El luto humano auch seinen Glauben an die marxistische Utopie als realisierbares Heil für die Menschheit manifestiert, so verleugnet er doch nicht seine Zweifel, ob dies auf dem Wege einer bloßen Umgestaltung der Gesellschaft zu bewerkstelligen ist. Im Kern seiner philosophischen Überlegungen steht vielmehr der Mensch in seiner Verantwortung gegenüber sich selbst. Die Negation eines transzendentalen Sinns des Daseins wirft ihn auf sich selbst zurück. Es bleibt ihm anheimgestellt, seine Existenz im Angesicht des Nichts mit Sinn zu erfüllen. Im Roman präsentiert der Autor anhand Adäns und des Priesters verschiedene Wege der Erkenntnisgewinnung. Ganz im Sinne von Ortega y Gasset führt er uns Welten vor, die in keiner allgemeingültigen nur in der Akzeptanz des ihm vorbestimmten Schicksals, mit anderen Worten seiner subjektiven Wahrheit. Hierin liegt auch die den Text charakterisierende Widerspüchlichkeit: das marxistische Heilsversprechen kollidiert mit der Aufforderung an den Einzelnen, das eigene Schicksal zu erkennen.
103 104
Vgl. Bourdieu 1982. Vgl. dazu das Kapitel 4.3.2. "Das Sein in säkularisierter Glaubensgewißheit: una máquina de creer".
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Eine mögliche Bewältigung der Konflikte, die für den Einzelnen aus der Suche nach wahrhaftem Sinn gedoppelt durch den Dualismus zwischen Individuum und Kollektiv resultieren, wird im Roman in der Anerkennung des Todes nahegelegt. Revueltas erweitert hier den Kerngedanken der ewigen Erneuerung der Philosophie Ortega y Gassets um dieses entscheidende Moment. Der AutorErzähler begreift den Tod als unausweichliche, und vielleicht einzig allgemeingültige Wahrheit, derer sich der Mensch gewiß sein kann: "Se abandona la vida y un sentimiento indeñnible de resignación ansiosa impulsa a mirar todo con ojos detenidos y fervientes, y cobran las cosas su humanidad y un calor de pasos, de huellas habitadas. No está solo el mundo, sino que lo ocupa el hombre. (...) aquel planeta solitario, toda esta materia sinfónica que vibra, ordenada y rigurosa, ¿tendría algún significado si no hubiesen ojos para mirarla, ojos, simplemente ojos de animal o de hombre, desde cualquier punto, desde aquí o desde Urano? (...) Existo y me lo comunican mi cuerpo y mi espíritu, que van a dejar de existir; he participado del milagro indecible, he pertenecido. Fui parte y factor, y el vivir me otorgó una dignidad inmaculada, semejante a la que puede tener la estrella, el mar o la nebulosa" (S. 91).
Das Leben des Menschen erscheint vom Gewicht des Todes bestimmt. Auf diese Weise erfahrt die Leichtigkeit der Philosophie Ortegas im Denken Revueltas' eine einschneidende Begrenzung durch die allgegenwärtige Präsenz des Todes.105 Bereits zu Beginn der Rahmenhandlung findet sich im Tod Chonitas ein signifikantes Vorzeichen einer möglichen Interpretation: "No, no importaba en vida Chonita. Qué significado tenía el que alguien apareciese en la existencia si lo esencial era lo contrario, el desaparecer, cuando con ello se renueva la condición fatal del hombre" (S. 88).
Die Faktizität des Todes bestimmt vom ersten Moment an die Bewegung sowohl der Rahmen- als auch der Binnenhandlungen. Das allmähliche Verlöschen der Leben, das mit der Rückschau der Akteure einhergeht, lenkt die Deutung des Titels El luto humano. Der Mensch trauert angesichts seiner condición fatal. Der mexikanische Mensch trauert jedoch um so mehr, als sein Verhältnis zum 105
Siehe zur Bedeutung des Todes im Verständnis Revueltas' auch das Kapitel 4.3.3.
III. El luto
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Tod durch eine transzendentale Leere bestimmt ist. Seit dem Zusammenprall der Kulturen ist für ihn die eigentliche Bedeutung von Religion verloren gegangen, so daß das Leben, und damit auch der Tod, sinnlos erscheinen. Der Tod wird nurmehr als tragische Realität empfunden: "(...) la muerte mexicana que iba y venía, tierna, sangrienta, trágica" (S. 28). "Los muertos entierran a sus muertos en este país" (S. 25), sinniert Úrsulo, ohne jedoch die Bedeutung des Wortes zu begreifen. Das Bibelwort: "Sigúeme y deja que los muertos entierren a sus muertos" (ebd.) paraphrasierend, klagt der Autor das Recht des Menschen auf ein irdisches Glück ein. Wenn ihm dieses auf Erden verwehrt bleibt, so wandelt er als Toter auf Erden.106 Úrsulo und die Seinen ersehnen zuletzt den Tod, da er ihnen jene Geborgenheit in Aussicht stellt, die sich auf Erden nie erfüllte: "De no morir aquellos hombres, se suicidarían, a tal grado se había hecho noción dentro de sus almas la muerte: la deseaban e iban hacia ella con pasos fatales y seguros; nada más deseaban solemnidad, una solemnidad interior que les diese tiempo de recibirla familiarmente, amorosamente, dentro de la casa inexorable del cuerpo" (S. 82).
Jedoch kann sich das Bewußtsein des Menschen völlig ändern, wenn er der Dimension des Todes in seinem Leben Raum gibt. Wir wissen von Revueltas, daß er sich von einer Episode im Leben Dostojewskis sehr beeindruckt zeigte, die beschreibt, wie sich Dostojewskis Sicht auf die Welt angesichts seines Todes veränderte: "Empezó a ver el mundo con los ojos de la muerte y eso le dio una dimensión muy especial a su literatura".107 Der Chronotopos des Todes verge-
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Hier lassen sich Spuren Tolstois erkennen, der in Krieg und Frieden schreibt: "Pierre hatte recht, als er sagte, man müsse an die Möglichkeit des Glücks glauben, um glücklich zu sein; und ich glaube jetzt daran. Lassen wir die Toten ihre Toten begraben, solange man lebt, muß man auch leben und glücklich sein" (zitiert nach Striedter 1967: S. 414). Revueltas im Interview mit Ignacio Solares: La verdad es siempre revolucionaria (1974). In Sáinz 1977: S. 59. Siehe zur Bedeutung des Todes insbesondere auch das Kapitel 4.3.3. "Die Botschaft des Todesengels".
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genwärtigt die Begrenztheit der Lebenszeit. 108 Angesichts dieser Tatsache muß der Mensch aber nicht verzweifeln. Es besteht vielmehr die Möglichkeit, den Tod zu akzeptieren und die Existenz auf ein irdisches Leben hin auszurichten. In der Annahme des Todes liegt demnach der eigentliche Schlüssel zum Verständnis dieses Romans und damit auch der Lebenshaltung des Autors: Die Dimension des Todes wird zum Maßstab für die Handlungen der Lebenden und gleichzeitig Todgeweihten. Da er der Sterblichkeit nicht entrinnen kann, ist der Mensch aufgefordert, sich mit seinem Leben auseinanderzusetzen und seine "Disposition" zum Leben zu überdenken. Nur im Rückbezug auf den Tod vermag der Mensch seine conditio humana zu erkennen und sich ihr zu stellen. 109 Somit bricht Revueltas mit dem Ausblick auf eine sinnstiftende Transzendenz und begreift die Vergegenwärtigung des Todes als Chance der menschlichen Wahrheitsfindung.
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Mit Blick auf die mexikanische Geschichte treffen wir hier auf eine doppelte Negation im Denken des Autors: Einmal negiert er das im christlichen Glauben verankerte Vertrauen auf das Jenseits. Zum anderen verneint er das aztekische Vertrauen in eine transzendentale kosmische Eingebundenheit. Beiden Glaubensrichtungen ist, trotz ihrer deutlichen Gegensätze, das Verständnis der Transzendenz des Todes gemein: " (...) la vida, colectiva o individual, está abierta a la perspectiva de una muerte que es, a su modo, una nueva vida. (...) Para los cristianos la muerte es un tránsito, un salto mortal entre dos vidas, la temporal y la ultraterrena; para los aztecas, la manera más honda de participar en la continua regeneración de las fuerzas creadoras, siempre en peligro de extinguirse si no se les provee de sangre, alimento sagrado" (Paz 1989: S. 50-51). Die Konzeption des Todes rückt Revueltas in die Nähe des französischen Existentialismus, der die Verdrängung des Todes für ein Handeln in einem falschen Bewußtsein, mauvaise conscience, (vgl. Krauß 1970) verantwortlich macht. Erst vor dem Hintergrund existentialistischer Reflexionen kann dem Mißverständnis begegnet werden, José Revueltas sei der Überzeugung gewesen, daß im kollektiven Unterbewußtsein des mexikanischen Volkes eine Metaphysik des Todes wirke, die seit präkolumbischer Zeit im Bewußtsein der mexikanischen Bevölkerung eine große Rolle gespielt habe und auch in der Gegenwart noch bestimmend auf das Verhalten des Mexikaners einwirke, was sich an der Oberfläche in der Geringschätzung (Hervorhebung durch die Verfasserin) von Menschenleben manifestiere. Vgl. dazu Dessau 1967: S. 233ff.
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Nicht in der Akzeptanz des Génesis oscuro110 Mexikos, sondern in der Negation der Negation"111, die nur die (Über-)Lebenden in der Realität (die Leser) vollziehen können, liegt die Antwort verborgen. Während die Metaphern von Exodus und Sintflut die Drohung ewig dauernder Vernichtung nahelegen, bietet sich eine Überwindung der apokalyptischen Disposition des Menschen in einer konsequenten Rückbesinnung auf sich selbst in der Akzeptanz des unausweichlichen Todes. Die absolute Negation bindet den Leser in die Verantwortung als Mensch. Mit Blick auf die Zukunft ist er zu (eigen-) verantwortlicher Seinsgestaltung aufgerufen. 110
Der durch den Faktor Minderwertigkeitskomplex definierte Nationalcharakter manifestiert sich für Dessau in der für ihn zentralen Figur Adán, der besonders deutlich die Haltung des "permanente naufragio en que se vivia" (Dessau 1967: S. 234) verkörpere. Davon ausgehend, erscheint es nur folgerichtig, den Schluß zu ziehen, daß sich am Ende die angestauten und in ihr Gegenteil verkehrten Energien in apokalyptischer Form entladen und der Roman somit eine negative Deutung der mexikanischen Geschichte nahelegt. Vgl. dazu Dessau 1967: S. 233ff. Ruffinelli dagegen, der die christliche Perspektive betont, weist nach, daß im Roman selbst angelegt ist, daß die Mexikaner ihre dunkle Genesis zu überwinden vermögen. Für ihn ist durch die Figuren Calixto und Úrsulo eine mögliche "glückliche" Zukunft angedeutet: "En la novela Calixto y Úrsulo serían la transición hacia algo que aguarda en el porvenir. (...) este algo es (...) la incitación para el lector, la alusión a un futuro más justo que no le corresponde al narrador describir dado que aún no existe, sino apenas sugerir, poniendo en su esfuerzo de comunicación el germen de una inquietud superior, transformando así su novela en indicador, en índice y en praxis" (Ruffinelli 1977: S.
111
Es ist davon auszugehen, daß Revueltas den Marxschen Negationsbegriff mit Bezug auf den Kommunismus verinnerlicht hat. Harth erinnert: "Schon Marx hatte in den ökonomischen und philosophischen Manuskripten (...) von dem christologischen Mythenschema Aufbruch - Wandlung - Ankunft Gebrauch gemacht. Hieß es in Hegels Religionsphilosophie, mit der Auferstehung Christi sei die Negation überwunden und als Negation der Negation Teil der göttlichen Natur geworden, so übersetzte Marx: der Kommunismus bezeichne das Stadium der Negation der Negation und sei daher ein notwendiges Movens auf dem Weg zur emanzipativen Wiedereinsetzung des Menschen" (Harth 1992: S. 31). So erklärt Revueltas die Dialektik seiner Textwelten:"(...) la salida está implícita en la negación de la negación. Yo proponía mi tendencia literaria como negativista, pero ¿en qué sentido? En el sentido de que hay que saber encontrar en los fenómenos cuál es aquel punto en que se produce la negación de la negación, es decir, la afirmación de una fase superior" (Revueltas im Interview mit Norma Castro Quiteño: Oponer al ahora y aquí de la vida el ahora y aquí de la muerte (1967). In Sáinz 1977: S. 89).
62).
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Revueltas visualisiert auf der Zeichenebene die Tendenz mythischer Glaubensstruktur als regressive Dynamik. Er veranschaulicht die Wirkungsweise der archaiu2, deren positive Konnotation er verwirft. Im Gegensatz zur mythisch ausgerichteten Glaubensstruktur, der archai als: "(...) die Garanten einer bleibenden Paradigmatik gelten, und von denen angenommen wird, daß ihre Aufhebung oder Änderung zum Chaos führt" 113 , zeigt Revueltas die der Regressivität des Mythos inhärente Tendenz zur sinnentleerten und damit lebensbedrohlichen Verleugnung des Jetzt. Die Ausreizung und Umgestaltung der kollektiven Symbole vermag eine kritische Distanznahme des Bewußtseins zu mythologischer Glaubensdisposition zu bewirken. Wenn der Leser den dialektischen Pendelschlag vollzieht, so gelangt er zu einer Wahrheit, die über die Textebene hinausreicht. In dieser Hinsicht läßt sich festhalten, daß der Autor seinem spezifischen Anspruch im Sinne eines realismo crìtico gerecht wird. 114 Mit dieser apodiktisch verfolgten Strategie der Entmythisierung betreibt José Revueltas Aufklärungsarbeit, deren konstruktives Moment erst später - n a c h den Ereignissen von Tlatelolco- zum Tragen kommen sollte. In El luto humano verkehrt und rationalisiert er eine bis dato unhinterfragte Glaubensgewißheit. Er mahnt an, daß mythische Rede den Erfordernissen eines progressiven, postrevolutionären Mexiko nicht gerecht werden kann. Damit leitet er eine
112
113 114
Im mythischen Denken fallen Urbild und Abbild, Grundform und Derivat, Allgemeines und Besonderes in der Vorstellung der "arche" (der maßgeblichen Ersterscheinung) zusammen. Spätere Erscheinungen eines Phänomens verhalten sich homolog zur Ersterscheinung, und besitzen nur aufgrund dieser Homologie Wert. Vgl. Heuermann 1988: S. 198. Heuermann: ebd. Ähnlich auch das Ergebnis der Untersuchungen zur Kultur bei Borsö: "Revueltas' Analyse betrachtet die Identitätsmythen der mexicanidad nicht vor dem Hintergrund eines Realitätsbegriffes, der die Unwahrheit der Mythen im Verhältnis zu einer realistischen Betrachtung der empirischen Fakten offenlegt, wie dies der traditionelle realismo crítico des Revolutionsromans tut (...), sondern er stilisiert sie, zeigt ihre bewußtseins- und geschichtsbildende Wirkung" (Borsö 1994: S. 209).
III. El luto humano
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Entwicklung allmählich zunehmender Bewußtwerdung ein, die der Notwendigkeit konkreter soziopolitischer und ökonomischer Realitätsbezogenheit der Seinsbestimmung des Mexikaners Rechnung trägt. Bei Erscheinen des Romans mußte jedoch die intendierte Entmythisierung auf Widerstand stoßen, da das Bedürfnis nach Geborgenheit im Mythos in großen Teilen der Bevölkerung vordringlich war. Man konnte trotz einer offenkundig gescheiterten Revolution der sinnstiftenden Kraft des Mythos nicht entbehren. Somit hatten auch jene Bevölkerungsschichten leichtes Spiel, die in einer entmythisierten Realität eine Bedrohung für ihre mythisch begründete Existenz erkannten und ihren Führungsanspruch gefährdet sahen. Das soll nicht bedeuten, daß sie nicht selbst in bestem Glauben handelten. Die Sicht auf die historische Realität konnte sich deshalb erst dann gegen das mythisierte Geschichtsbild behaupten, als in den 60er Jahren der Druck des Zweifels die Legitimität des Regimes und dessen Glaubenssystems aufweichte.
IV. Los días terrenales
IV.
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LOS DÍAS TERRENALES
Mit dem Roman Los días terrenales, der 1949 im Verlag Editorial Stylo erscheint, erweitert José Revueltas seinen kritisch realistischen Blick auf die mexikanische Realität. Wenn er mit El luto humano (1943) seine Ablehnung mythopoetischer Deutung mexikanischer Geschichte zum Ausdruck bringt, so richtet er hier sein Augenmerk, wie der Titel auch programmatisch signalisiert, auf (Fehl-) Deutungen irdischer Seins-Bestimmung(en) des Menschen. Er beleuchtet den konkreten politisch-historischen Ist-Zustand seines Landes aus einer soziokulturellen Perspektive und knüpft daran die universale Frage nach der conditio humana, nach dem Sinn des menschlichen Lebens an sich. Da sich der Roman eindringlich mit dem Marxismus als Theorie einerseits, aber insbesondere auch mit der konkreten Entwicklung der Kommunistischen Parteien Mexikos andererseits auseinandersetzt, fühlten sich vor allem Mitglieder des Partido Popular und des Partido Comunista Mexicano sowie einige ihrer Sympathisanten provoziert. Die Genossen reagierten mit heftiger Empörung auf die ihnen zugedachte Kritik.1 Die wütende Diskussion konzentrierte sich daraufhin auf die politisch-ideologischen Inhalte und verdunkelte mögliche weiterführende Fragestellungen und Lesarten. Schließlich sah sich Revueltas aufgrund der erbitterten Anfeindungen in so starker Bedrängnis, daß er sich entschloß, das Buch aus dem Handel zu nehmen. Erst in den 70er Jahren richteten Kritiker erneut -wenn zunächst auch mehr oberflächlich- ihre Aufmerksamkeit auf diesen Roman. Die Beurteilung seiner ästhetischen Leistung fiel abermals -wie schon bei El luto humano- ausgesprochen negativ aus: die Kohä-
1
Vgl. dazu ausführlich Kapitel 4.3.2. "Das Sein in säkularisierter Glaubensgewißheit:
una máquina de creer".
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renz des Aufbaus sei mangelhaft, die "eingeschobenen" längeren monologisch essayistisch philosophischen Passagen störten, und die Ausgestaltung der Figuren sei psychologisch nicht konsistent. Orientiert man sich allein am makrostrukturellen Rahmen der Handlung, so wird man der traditionellen Kritik durchaus zustimmen müssen. Andererseits wird man dem Roman aber nicht gerecht, wenn man nur einen Aspekt besonders hervorhebt. Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, daß oftmals die ideologische Position oder das Forschungsinteresse bzw. der Forschungsansatz die Erkenntnisse maßgeblich bestimmen. Die Kritiker kommunistischer Provenienz attackierten Revueltas, weil sie das marxistische Dogma verraten sahen. Andere, die ihn neu zu bewerten suchten, vernachlässigten häufig die Gesamtheit seines Gedankengebäudes zugunsten eines Einzelaspekts. Die nordamerikanische Kritikerin Helia Sheldon beispielsweise beschäftigte in erster Linie die Funktion von Mythen und Archetypen in diesem Roman.2 Analog zur Matrix griechisch-mythologischer Heldensagen erkannte sie in
Gregorio
Saldívar einen nur mit negativen Vorzeichen versehenen mythologischen Helden: "Una observación detenida de las fases por las que va internándose el protagonista Gregorio Saldívar lleva a identificar a algunos mitemas sobresalientes de la aventura del héroe. Entre ellos se distinguen el viaje, la experencia de la noche, los personajes diabólicos, la caída o descenso a los infiernos, el laberinto, la persecución y el castigo".3
Diese Lesart ist natürlich legitim und weist auf einige entscheidende mythopoetische Funktionen im Werk Revueltas'. Jedoch möchte ich an die Überlegungen Janiks erinnern, der zu bedenken gibt: 2
3
Sheldon untersucht in ihrer Studie: Mito y desmitificación en dos novelas de José Revueltas (1985) die mythische Struktur von El luto humano und Los días terrenales. Sheldon 1985: S. 33. Den übrigen Figuren kann dann nur noch eine untergeordnete Bedeutung zugesprochen werden, d.h. unter diesem Blickwinkel wird nur etwa ein Drittel des Romans erfaßt.
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terrenales
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"(...) daß der in der kulturellen Wirklichkeit Lateinamerikas am tiefsten verwurzelte Bezugsrahmen für die Erfassung der symbolischen Dimensionen menschlichen Handelns und Leidens die katholisch-christliche Tradition ist. (...) Die Bindung der Romanciers, die durch ihre erzählerischen Entwürfe von der materiellen und geistigen Wirklichkeit Amerikas sprechen, an die biblischen Geschichten ist ungleich enger als die Bezugnahme zur klassischen Mythologie".4 Die Konzentration auf einen Gesichtspunkt birgt die Gefahr, die Gesamtaussage des Romans zu verzerren bzw. kann zu Fehldeutungen führen. Es ist daher mein Ziel, den Roman aufgrund einer diskursorientierten Lektüre in differenzierterer Form zu erfassen. Rückt man nämlich die Makrostruktur der Handlung in den Hintergrund und schlüsselt Los dias terrenales nach diskursiven Aspekten auf, so zeigt sich beispielsweise auch, daß der Roman nur zu einem Teil als "Streitschrift" gegen den orthodoxen Kommunismus angelegt ist.5 Zu offensichtlich sind die Attacken gegen das Dogma der Kommunistischen Partei Mexikos 6 . Daneben lassen sich wenigstens vier weitere Diskurse über die mexikanische Wirklichkeit in der Mitte der 40er Jahre dieses Jahrhunderts herauskristallisieren.7 Diese sind in ihrer Gesamtheit aufeinander zu beziehen und zu bewerten. Die Makrostruktur läßt folgende Konzeption erkennen: Der 232 Seiten umfassende Roman ist in neun überschriftslose Kapitel gegliedert. Das Geschehen eines Kapitels wird jeweils durch Handlungsweise und Gedankenwelt einer
4 5
6
7
Janik 1992: S. 132. Auch Revueltas selbst hat diesem Aspekt offenbar besondere Bedeutung beigemessen, da er in späteren Reflexionen (der 60er und 70er Jahre) vorwiegend auf diesen Bezug nimmt. Kurz nach Erscheinen des Romans betonte er jedoch: "No quise hacer la crítica de un grupo humano que lo mismo puede ser marxista que sinarquista, y no porque crea en un arte puro, libre de toda intención política; antes porque quise, única y exclusivamente, retratar la condición del hombre" (O.C. 18: S. 25). Im Text finden sich dazu zahlreiche Belege wie: "Fidel era como un cura. Un cura rojo (...)" (S. 34); Siehe dazu ebenfalls Kapitel 4.3.2. Der zeitliche Rahmen wird durch Hinweise auf zeitgleiche welthistorische Ereignisse wie den Holocaust der Nationalsozialisten in Deutschland und der Japaner in China in den 40er Jahren grob vorgegeben. Siehe Los días terrenales: S. 198.
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Figur dominiert. So nehmen Kapitel I und IV den Aufenthalt des Intellektuellen Gregorio Saldivar bei den Popoluca-indimem
in Acayucan, Veracruz, die Ka-
pitel II und V den Kommunistenfiihrer Fidel Serrano und seine Frau Julia, die Kapitel HI und VI die Parteigenossen Bautista und Rosendo, das Kapitel VII den Architekten Jorge Ramos und seine Frau Virginia in den Blickpunkt. Kapitel VIII ist der Begegnung der Hauptkontrahenten Fidel und Gregorio gewidmet und das letzte Kapitel (IX) dem Tod des Intellektuellen im Gefängnis. José Revueltas konzentriert die Entwicklung der Ereignisse an wenigen Schauplätzen und begrenzt den Rahmen der erzählten Zeit auf wenige Wochen. 8 Ein Überblick über die neun Kapitel legt die Vermutung nahe, daß der Autor in formaler Hinsicht den Plan verfolgt hatte, in den Kapiteln eins bis sechs durch die suggerierte Einheit der Zeit (Nacht bzw. frühe Morgenstunden) den Kontrast der dargestellten Lebenswelten zu verstärken, während er gleichzeitig auf die innere Verbundenheit der an verschiedenen Orten agierenden Personen deuten kann. 9 Tatsächlich liegt aber mindestens eine Woche zwischen den Ereignissen bei den Popolucas und der Lektüre des Berichts Saldivars in der oficina ilegal. Im siebten Kapitel kommt es zudem zum Bruch des ursprünglichen Aufbaus. Das soziale Spektrum von marginalisierten Gruppen (Kom-
Da ist einmal die oficina ilegal der im Untergrund agierenden kommunistischen Partei in Mexiko Stadt, dann ein Indianer-Dorf im Urwald, ein basurero - ein Müllberg, ein bürgerliches Wohnhaus, eine Armenküche, ein Armenhospital und zuletzt ein Gefängnis. Kapitel Zeit Orte 1(9-32) zwischen 3 und 4 Uhr; vgl. S. 9. indianisches Dorf (Acayucan, Veracruz) n (33-54) oficina ilegal zwischen 3 und 4 Uhr; vgl. S. 33. m (55-73) Müllberg zwischen 3 und 4 Uhr; vgl. S. 56. IV (74-95) früher Morgen; vgl. S. 74. indianisches Dorf oficina ilegal zwischen 3 und 4 Uhr; vgl. S. 104. V(96-119) Müllberg zwischen 3 und 4 Uhr; vgl. S. 138. VI (120-138) VE (139-168) Architektenwohnung S. 139ff; S. 179ff VIE (169-215) Puebla Nachmittag; vgl. S. 169ff IX (216-232) vgl. S. 216ff Gefängnis
IV. Los días terrenales
139
munisten, indianische Bauern und Arbeitslose) der mexikanischen Gesellschaft wird um die Lebenswelt eines bürgerlichen Ehepaares erweitert, und der bis dato vorgegeben Rahmen von Ort und Zeit gesprengt. Der leicht gezimmerte Handlungsrahmen verknüpft die Schicksale der einzelnen Figuren aufgrund ihrer -wenn auch unterschiedlich ausgeprägten- Bindung zum kommunistischen Zirkel in Mexiko-Stadt. An den verschiedenen Schauplätzen entwickeln sich vorderhand unverbundene Binnenhandlungen um die in den einzelnen Kapiteln wechselnden Hauptfiguren. Die Inkohärenz der Rahmenhandlung bedingt denn zunächst auch eine sperrig anmutende Lektüre: Da kontrolliert und bestimmt der charismatische Führer Tuerto Ventura den Verlauf eines nächtlichen Fischfangs, zu dem sich verschiedene indianische Dörfer unter seiner Führung zusammengefunden haben. Da begegnet man dem orthodoxen KP-Führer Fidel Serrano und seiner Frau Julia in der oficina ilegal in Mexiko-Stadt. Ihre nur zehn Monate alte Tochter stirbt in jener Nacht. Ihr Tod bewirkt in beiden eine Schocksituation. Während in Julia im Verlaufe ihrer Trauerarbeit der Entschluß wächst, Fidel zu verlassen, bleibt dieser angesichts der persönlichen Katastrophe äußerlich unbewegt. Danach sieht man Fidel im Hause des Architekten beim Geheimtreffen der KP-Führung, das ihn in mehrfacher Hinsicht auf die Probe stellt. Er mißversteht die Verführungskünste Virginias, der Frau des Architekten und Parteisymphatisanten Ramos, muß dann seine persönliche Niederlage, den Verlust Julias, offiziell bekanntgeben und schließlich noch seinen Freund Gregorio aus parteipolitischen Gründen verurteilen. Dazwischen verfolgt man den Weg des gemäßigten Parteigenossen Bautista und des Parteinovizen Rosendo durch Mexiko-Stadt, die Propagandamaterial an die Arbeiter einer Fabrik im Norden verteilen sollen.
Sie
überqueren dazu einen der vielen Müllberge, basureros, der Stadt, während Bautista sich in philosophischen Überlegungen verliert. Und da kann man den etablierten Architekten Jorge Ramos, der sein Haus gelegentlich den geheimen Parteitreffen zur Verfügung stellt, beobachten, wie er in seinem Atelier an der
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Fertigstellung eines kunstkritischen Artikels feilt, und seinem voyeuristischen Blick auf nachbarliche Terrassen folgen. Unübersehbar ist jedoch, daß der Intellektuelle Gregorio Saldivar eine Sonderrolle einnimmt und zum eigentlichen Protagonisten avanciert. 10 Nicht nur wirkt er gewissermaßen als Klammer der Rahmenhandlung, da er in das Geschehen einführt und es mit ihm auch sein Ende findet. Seine Gestalt ist auch am deutlichsten charakterisiert. Er erlebt einen inneren Reifungsprozeß, der durchaus an Helden von Bildungsromanen erinnert. Sein Aktionsradius reicht am weitesten: Im Auftrag der Partei reist er zu den Po/w/wca-Indianern nach Jalapa. Aufgrund eines vermeintlichen Fehlverhaltens wird er aber von der KP-Führung zurückbeordert. In Puebla trifft er Fidel Serrano, der ihm den Auftrag erteilt, zusammen mit Bautista für das Comité Central einen Protestmarsch von Puebla nach Mexiko-Stadt zu organisieren. Es folgen sein Krankenhausaufenthalt und seine Verhaftung durch Regierungssoldaten während der Demonstration. Im Gefängnis wird er mehrmals gefoltert und erliegt schließlich seinen Verletzungen. Durch dieses reiche Arsenal an ständig wechselnden Hauptfiguren wird der Leser in Los dias terrenales mit einem Panorama von Lebenswelten konfrontiert, die synchron in der sozialen Realität Mexikos existieren, die einander ausschließen, sich aber doch tangieren und in diffuser Weise miteinander verbunden sind. Durch ihre unmittelbare Kontrastierung werden die Widersprüchlichkeiten der heterogenen Sozialstruktur Mexikos besonders markiert. Allein die Konzeption des Romans erlaubt den Rückschluß, daß nicht beabsichtigt worden ist, in einem traditionellen Sinne Spannung zu erzeugen. Los dias
10
In der Figur Gregorio Saldivars finden sich deutlich autobiographische Züge, wie der Autor selbst in einem Interview bestätigt: "[Gregorio Saldivar, Eladio Pintos (...)] son el autor mismo en varias situaciones inventadas y recreadas" (Revueltas im Ge-
spräch mit Adolfo A Ortega: El realismo y el progreso de la literatura mexicana (1977). In Sáinz 1977: S. 45-51. Hier: S. 51.
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terrenales erschließt sich vielmehr als Thesenroman, mit dem der engagierte Autor Revueltas seine Ideologie- und Gesellschaftskritik fortführt. Es fällt auf, wie sehr sich der Erzähler zurückhält. Nur selten greift er in das Geschehen ein oder tritt durch Kommentare hervor. Deutlich ist ihm daran gelegen, in die Welt des Einzelnen, in seinen Mikrokosmos, einzudringen. Die Erzählweise erinnert an stilistische und technische Mittel, derer man sich beim Film bedient. Die Präsenz des Erzählers gleicht der eines Kameramannes, der sein Objektiv immer wieder neu ausrichtet, von Person zu Person schwenkt, und in einer Art Röntgenverfahren das Innenleben erhellt. Durch die Anwendung der Montagetechnik erreicht der Autor eine Spiegelung der einzelnen Figuren aus verschiedenen Perspektiven. Die Stilelemente der erlebten Rede und des inneren Monologs lassen den Leser emphatisch am Innenleben der Figuren teilhaben. In den einzelnen Gedankenwelten wird aktuelles Geschehen mit Erinnerungssegmenten und Zukunftsvisionen verbunden. Auf diese Weise wird der zeitliche Rahmen um Vergangenheit und Zukunft erweitert und Rahmenund Binnenerzählungen verschränkt. Bei näherer Betrachtung dieser Innenwelten ist zu erkennen, daß hier keine psychologisch ausgestalteten Individuen mit unverwechselbaren Charakteristika präsentiert werden. Die Gedankenströme, die von der Außenwelt nur für Momente modifiziert werden, scheinen vielmehr einer jeweils ausschließlich inhärenten Dynamik zu unterliegen, wobei die einzelnen Figuren in sich selbst Begrenzungen finden, die die eigenen Gedanken und Handlungsweisen sowohl abstecken, als auch aus sich selbst heraus beständig erklären und rechtfertigen. Man kann auch sagen, daß das individuelle Bewußtsein jeweils durch eine Art Lebens-Leitmotiv determiniert wird, d.h. den Figuren kommt eine prototypische Funktion zu, um Weltanschauungen und Lebenswelten zu exemplifizieren.
Innerhalb des Anliegens dieser Analyse spielt der vordergründige Konflikt zwischen Partei und Individuum, der den Roman durchzieht, nur eine unterge-
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ordnete Rolle. Eine Freilegung der diskursiven Formation soll vielmehr zu tiefergelegenen Botschaften des Romans fuhren. Dabei gilt es grundsätzlich, die Ebene des sozialkritischen von der des philosophischen Diskurses zu unterscheiden: So umfaßt der sozialkritische Diskurs eine Darstellung soziokultureller Realitäten der marginalisierten Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung in Kontrast zur privilegierten bürgerlichen Minderheit; andererseits dekonstruiert der Autor in bemerkenswerter Weise tradierte Personalideologeme von Männlichkeit und Weiblichkeit. Die außergewöhnliche und neuartige Behandlung
scheinbar
unantastbarer,
konventionalisierter
Rollenzuschreibungen
(Cortés und Malinche) verdient gesonderte Aufmerksamkeit und soll daher ausführlich diskutiert werden. Auf der zweiten Ebene werden vor dem Hintergrund mexikanischer Lebenswirklichkeiten der 40er Jahre philosophische Fragen entwickelt. Der Autor prüft Existenzformen des Menschen in der Welt, wobei er drei Positionen prototypisch heraushebt: Die Frage nach der religiösen Disposition webt er um die Gestalt und die Lebenswelt des Indianerführers Tuerto Ventura. Um die Person des kommunistischen Führers Fidel Serrano diskutiert er eine Form säkularisierten Glaubens. Und schließlich betont er in der Gestalt Gregorio Saldivars, anhand derer er die radikale Position eines Menschen auf der Suche nach Authentizität entwickelt, die Wichtigkeit des Subjekts.
4.1.
"Unbekannte" soziale Realitäten
Die Schauplätze, entlang derer sich die Handlung von Los días terrenales entwickelt,
bieten
ein
für den
mexikanischen
Roman
bis
dahin
völlig
ungewöhnliches Panorama sozialer Realitäten. Seine befremdliche Wirkung resultiert aber nicht allein aus der Präsentation von Formen der Armut, der Repression und "Primitivität" der marginalisierten unteren sozialen Gruppen.
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Diese Motive waren dem bürgerlichen Lesepublikum spätestens seit dem Aufkommen des Revolutionsromans bekannt. Das Schockierende liegt viel mehr in der radikal-konkreten Form der Darstellung und der Intensität begründet, mit der der Autor ein Bild der Hoffnungslosigkeit und der Not der unteren Schichten vermittelt, da er auf jegliche Form der Kompensation durch Stilisierung verzichtet. Die Blickrichtung des Autors zeigt die Welt der Randgruppen auch nicht aus der (gewohnten) Perspektive von oben nach unten, also aus der distanzierten Position der etablierten Klassen auf das Elend, sondern zwingt den Leser, gewissermaßen in face-to-face Situationen, zur direkten Konfrontation.11
4.1.1. Die "primitive" Lebenswelt der Indianer Der Roman nimmt seinen Anfang in einem abgelegenen Dorf im Urwald bei den Popoluca-Indianern,
die den Zeitgenossen als besonders rückständig und
primitiv galten. Im Diccionario
general de americanismos
ist folgendes Uber
diese Ethnie zu erfahren: "Uno de los significados del vocablo popoluca es el de "hombre degenerado, miserable' (S. 512). Estos indios pertenecen a uno de los grupos más atrasados de México; se distinguen por el estado de barbarie en que viven, su degeneración ha sido progresiva, al grado que por ello están condenados a la extinción. La religión católica está vista al tamiz de sus mitos y antiguas idolatrías. Creen en la reencamación y no tienen idea de lo que es el infierno ni el Bien ni el Mal".12
11
12
Klingler-Clavijo weist dies in bezug auf den zur kulturellen Elite zählenden Carlos Fuentes nach: Seinen politischen Anspruch, sich durch sein Werk zum Sprachrohr jener zu machen, "quienes no pueden hacerse escuchar", habe er eher in seinen Essays eingelöst -z.B. in Tiempo mexicano- als in seine literarischen Werk. Sie sieht in ihm einen hervorragenden Kritiker der Oligarchie und der Mittelklasse. Die Distanz zu den unteren Gesellschaftsschichten werde aber in seiner Sicht des Volkes deutlich. Siehe Klingler-Clavijo 1987: S. 69. Santamaría, Francisco J. Diccionario general de americanismos. México: Robredo, 1942, n, S. 512-515. Hier zitiert nach Sheldon 1985: S. 26.
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Es geht dem Autor aber keineswegs um ethnologische Studien. Er schildert vielmehr den Zusammenprall zweier Lebensformen aus der Sicht des Intellektuellen Gregorio, der nun erlebt, wie sein bisheriges, von Vernunft geleitetes Weltbild angesichts eines magisch-mythischen Weltverständnisses der "Primitiven" in Frage gestellt wird. Durch Gregorio wird der Bezugsrahmen deutlich vorgegeben. Er dient gewissermaßen als Filter, durch den der Blick gelenkt wird auf eine Welt, die dem zivilisierten Mexikaner der Städte vollkommen unbekannt ist, deren Existenz er sogar oftmals negiert und an die er sich nur dann erinnert, wenn vom Projekt der mexikanischen Nation die Rede ist, bei dem der Indio, der Andere, nicht ausgeschlossen werden kann.13 Gregorio, im Auftrag der Partei geschickt (S. 25-26), wird zum Beobachter und Teilhaber einer Welt, die dem verstandgeleiteten und "zivilisierten" Menschen fremd bleiben muß: "Tal vez nunca llegaría a comprender la naturaleza real de todo aquello, el misterio que encerraba" (S. 27).14 Doch fällt Gregorio kein gänzlich negatives Urteil über die atavistische Lebensweise, mit der er sich konfrontiert sieht. Hin- und hergerissen zwischen der Faszination, die ihr paradiesischursprünglich anmutendes Leben auf ihn ausübt, und der Ablehnung ihrer
13
14
José Revueltas erwähnt im Roman, daß er selbst bei den Popolucas gewesen ist. Dies ist bemerkenswert insofern, als die meisten mexikanischen Schriftsteller der Zeit Indianer nur vom Hörensagen kannten. Die geschilderten Erlebnisse Gregorios beruhen auf authentischen Erfahrungen des Autors und sollen dazu dienen, die Glaubwürdigkeit der Aussage zu verstärken: "(...) la aparición de mi nombre como personaje novelístico es para darle una data histórica". Zur Geschichte von Los días terrenales erinnert sich Revueltas: "Yo vivo en el recuerdo de esos personajes novelísticos. Yo trabajé también en la organización de los campesinos en la zona de Acayucan, al sur de Veracruz. Allí hice mis primeras experiencias de organizador revolucionario. Doy un testimonio vivo de la presencia mía en la novela no por vanidad personal alguna, sino como una afirmación documental que atestigua la acción novelística" (Revueltas im Interview mit Adolfo A Ortega: El realismo y el progreso de la literatura mexicana (1977). In Sáinz 1977: S. 50-51). Dieser Satz zielt auf die kommunikativen Probleme zwischen Indianern und Mestizen. Die Verständnisprobleme bzw. Verständnislosigkeit, die zwischen beiden Gruppen herrscht wird zum zentralen Thema in der Kurzgeschichte El lenguaje de nadie (O.C. 9).
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Nacktheit und primitiven Lebensführung, bleibt er in seinem Urteil ambivalent. So beobachtet er einerseits mit gemischten, aber doch wohlwollenden, Gefühlen das Treiben der Fischer: "(...) en todos sus ademanes y actitudes, se notara un cálculo firme, una determinación sólida y agresiva y un conocimiento de las cosas, desde el más lejano pasado hasta el más remoto porvenir, llenos de inclemente sabiduría a la vez que de impiedad"( S. 11). Andererseits verurteilt er das von den Indianern angewandte Verfahren "de envenenar el río" als Akt barbarischer Grausamkeit: "Habían envenenado el río. Eso era todo, pero Gregorio, dentro de sí, adivinaba en este hecho la existencia de algo más, bárbaro y estúpido. Sin embargo, la masa, casi lúbrica en su afán de poseer, no lo dejaba. No lo dejaba razonar, como si la claridad de pensamiento, los caminos normales de la lógica, sucumbieran ante lo subyugador e inaudito de aquella inconciencia bestial y única, pero que tal vez no radicase tan sólo en ellos ni en sus cuerpos desnudos, ni en sus ojos, cargados de una relampagueante, secreta y casi desinteresada codicia" ( S.14).15 Das Leben in der indianischen Gemeinschaft folgt eigenen Regeln. Kulturelle Einflüsse von außen werden von ihr zwar aufgenommen, jedoch oftmals uminterpretiert. Gregorio findet ihm vertraute Zeichen, die Eingang gefunden haben in neue Kontexte, so daß es ihm fragwürdig erscheint, ob den Popolucas
die
ursprüngliche Bedeutung überhaupt bewußt ist. Die durchaus rechtschaffenen Absichten der Kommunistischen Partei, die Lebensbedingungen der Campesinos zu verbessern, werden auf geradezu ironische Weise konterkariert. Gregorio, immerhin Repräsentant der Kommunistischen Partei, muß mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, daß diese indianischen Bauern ihren Mitgliedsausweis
15
Allerdings unterliegt Gregorio hier einer Fehleinschätzung, die vermutlich daraus resultiert, daß seine Vorstellungen von den Lebenspraktiken der Indianer mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Der "Akt der Barbarei" verliert auch gänzlich seinen Schrecken, wenn man weiß, daß diese von den Indianern seit Urzeiten ausgeübte Technik -die heute unter Umweltschützern sicher Anerkennung finden würdetatsächlich, durch das aus einer Baumrinde gewonnene Gift, nur die Fische tötet, den ökologischen Lebensraum als solchen aber intakt läßt.
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als eine Art Amulett betrachten: "Esos campesinos comunistas, que tenían carnet del Partido -algunos lo llevaban colgado al cuello a guisa de escapulario (...)" (S. 27). Auch die Existenz eines Comité Rosa Luxemburg wirkt in der Abgeschiedenheit des Urwalds, bei Menschen, die nicht einmal alphabetisiert sind, absurd: "En medio de la selva, entre los hombres desnudos, y las mujeres casi animales, resultaba fantástico oír el nombre de la socialista alemana, Rosa Luxemburgo. Nuestra Señora de Catemaco. Ambas debían ser, en efecto, figuras solamente celestiales" (S. 25).
Gänzlich grotesk aber erscheint das Comité, wenn man erfährt, daß nur die alten Frauen Mitglieder des Centro Femenil de Rosa Luxemburgo sind. Die Erklärung dafür, die von den jungen Frauen selbst gegeben wird, besticht ob der Schlichtheit ihrer Logik, und beweist den Sieg göttlichen Willens Uber die Vernunft: "Las jóvenes (...) tenemos nuestro deber de Dios, que es casarnos, acostarnos con nuestros maridos, parir y criar a nuestros hijos. Las ancianitas ya no pueden hacer nada de eso; la única obligación que les queda es luchar por los derechos de la mujer en el Centro Rosa Luxemburgo" (S. 26).
Die atavistische Lebensform der Popoluca-Indianer siedelt sie in einem teleologisch-historisch geprägten Weltverständnis auf der niedersten Zivilisationsstufe an. Gregorio ist aber fasziniert von ihrem Selbstverständnis, dem einfachen Leben, das sie im Einklang mit der Natur und im Bewußtsein einer von Gott gewollten Ordnung führen, so daß ihre Primitivität gleichsam kompensiert wird durch ihr Aufgehobensein in einer kosmisch-mythischen Dimension. Der ihnen eigene "sense for one's place" verleiht ihnen den Habitus menschlicher Würde, der mit den erniedrigenden Bedingungen, denen die Arbeitslosen und ihre Familien in den Städten ausgesetzt sind, scharf kontrastiert. Der Autor-Erzähler setzt hier die Schilderung der im Einklang mit dem Kosmos lebenden, unentfremdeten indianischen Identität, als Kontrast zum entfremdeten Proletariat der Städte. Revueltas selbst hatte in den 30er und 40er
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Jahren zahlreiche Reisen durch Mexiko unternommen und so die Realität der indianischen Ethnien auseigener Anschauung kennengelernt. Diese Erfahrungen ließen ihn sowohl den romantisierenden und die indianische Vergangenheit verherrlichenden Blick vom Schlage Riveras als auch das Aktionsprogramm des Indigenismus, das die indianische Lebenswirklichkeit mißachtet, ablehnen. 16 Revueltas betont die Notwendigkeit einer dialektischen Integration: "El indigenismo, tomado así, es objetivamente reaccionario. No pretendemos volver a las viejas comunidades prehispánicas. Queremos crear una sociedad nueva en nuestros países de América, que sea resultado dialéctico del desarrollo histórico donde el mestizaje aparezca como una de sus expresiones exteriores y la integración nacional el motor interno que todo lo determine".17
Ihm ist es ein Anliegen, manche Wunschvorstellung mestizischer Denker, denen zwar der Indianer rückständig und primitiv erscheint, dessen vermeintliche moralische Überlegenheit sie aber aus der Vergangenheit revitalisieren wollen, Ethnien nicht unberücksichtigt bleiben. Revueltas weist auf Grenzen möglichen Verstehens und Zusammenlebens von Mestizen und Indianern, ohne jedoch Lösungsvorschläge anzubieten. Es gilt, so macht seine Darstellung der Lebenswelt eines -aus nationalstaatlicher Perspektive- zu vernachlässigenden indianischen Volkes deutlich, sich nüchtern einer der Herausforderungen der postrevolutionären Konsolidierungsphase zu stellen, und sich nicht von verführerischem Wunschdenken ablenken zu lassen. Revueltas ruft jenes Postulat der Revolution ins Gedächtnis, auch den (indianischen) Bauern den Anschluß an die Geschichte zu ermöglichen. Ohne Schulbildung weiterhin in ihrer Ignoranz
16
17
Die "Indio-Frage" fuhrt zwangsläufig bis zur Conquista zurück. Entscheidend für die Ausformungen des Indigenismus bis zur Mitte des 20. Jh.s ist der Sieg der bürgerlich-nationalen Revolution, die den Grundstein für eine offizielle indigenistische Politik legt. Sie setzt das Primat, alle politische Anstrengung auf das Projekt einer homogenen Nation zu richten. Der Indigenismus wird so Teil eines sozialen Aktionsprogramms des Staates, das Aufschluß über die aktuelle Wertung und Behandlung des Indio-Problems fordert. Vgl. zur Problematik der Indianerfrage im mexikanischen Nationalstaat z.B. Maihold 1986a, Varese 1979, Villoro 1979. Mauricio de la Selva 1964: S. 112.
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verharrend, erscheint es aussichtslos, sie in das Ubergeordnete, abstrakte Gebilde eines modernen, homogenen nationalen Staates eingliedern zu wollen. Andererseits stellt die Lebenshaltung der Indianer den Erfolg jeglicher Integrationspolitik grundsätzlich in Frage, da sich ihre von Gott und der Natur gegebene Weltordnung und die Seinsform des aufgeklärten Menschen der Moderne nicht vereinbaren lassen.
4.1.2. Schauplätze menschlicher Erniedrigung in der "Zivilisation" Der kosmisch gefügten Ordnung indianischer Lebenswelt stellt der Autor Schauplätze in der sogenannten Zivilisation gegenüber, mit denen er darauf zielt, die Schattenseiten der industrialisierten Gesellschaft, die in der offiziellen Rhetorik keinen Platz finden, ins Bewußtsein zu rufen. 18 Wie ein Kameramann, der auf der Suche nach prägnantem Material die mexikanischen Städte durchwandert, richtet der Autor sein Objektiv auf radikal eindrückliche Motive, die Menschen zeigen, die besonders menschenunwürdigen
Lebensbedingungen
bzw. entwürdigenden Situationen ausgesetzt sind. Die Auswahl fällt auf einen basurero (einen Müllberg), den Consejo de Desocupados (ein Arbeitslosenasyl) und den Dispensario Numero Dos (ein Armenhospital). Abrupt wird der Leser in die ihm wahrscheinlich nicht allzu sehr vertraute Region eines ausgedehnten basurero der mexikanischen Hauptstadt geführt, den die Parteigenossen Bautista und Rosendo überqueren, da sie gezwungen sind, im Schutz der Dunkelheit und unter Ausnutzung von Schleichwegen zu agieren. Der Autor nötigt den Leser, diese Kehrseite der Industriegesellschaft, ihre 18
Der Problematik der Hoffnungslosigkeit der Armen, die im städtischen Leben eingesperrt sind, widmet sich Revueltas in dem Theaterstück El cuadrante de la soledad (1950). Dazu gedacht, die Aussage von Los dias terrenales klarzustellen, provoziert es im Gegenteil noch vehementer die Verurteilung seiner Kameraden.
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Auswürfe, als unumstößliche Tatsache zur Kenntnis zu nehmen. Doch der eigentliche Schrecken liegt nicht im Müll selbst, sondern darin, daß die Ausscheidung der Städte auch noch von Menschen bewohnt ist. Aber nicht irgend-welche in Lumpen gehüllte, unwirkliche Schatten drängen ins Blickfeld des Betrachters. Der Autor zieht ein krasseres Bild vor: der Mensch reduziert auf die Form seiner Exkremente. Bautista tritt in menschliche Notdurft: "Aquella miserable materia, dúctil y húmeda bajo el pie" (S. 127). Der Industriekapitalismus produziert nicht nur Abfall, er deklassiert den Menschen zu einer arm-seligen Kreatur, die ihr Dasein im Müll der anderen und in ihren eigenen Fäkalien
fristet.
Der Mensch wird reduziert auf eine primitive
Grundform, zu einem würdelosen Etwas, das nichts mehr zu verlieren hat, nicht einmal mehr seine elementare Scham: "En virtud de una asociación lógica pensó [Bautista] en los seres que habitaban el tiradero, en esas horribles sombras cuyos sentimientos aparecían siempre lo más cínica y crudamente desnudos. Ni más ni menos que sus semejantes. ¿Por qué iban a ser distintos a él, distintos a los demás hombres? Criaturas de Nuestro Señor. La única diferencia era que ahí, en el tiradero, no tenían necesidad alguna, de ninguna especie, de disfrazar sus pasiones y sus vergüenzas" (S. 127).
Die Exkremente stehen pars pro toto für den gigantischen basurero. Es läßt sich vermuten, daß Revueltas Kenntnis davon besaß, daß Sünden in den indianischen Codices in Form von Exkrementen dargestellt wurden: "(...) [los pecadores] extraen con espinas de maguey su culpa ante un sacerdote (...). Los pecados, representados en los códices en forma de excrementos, eran ante todo 'pecados públicos de la carne', que están penados con la muerte".19 In der Symbolsprache Revueltas' richtet sich nun die Anklage gegen die systeminhärenten Verbrechen des modernen Industriezeitalters, gegen den pecado social, der eine Form institutionalisierter Ungerechtigkeit und Gewalt darstellt.
19
Westheim 1985: S. 17. Er nimmt hier Bezug auf das Fest des Tocatl, das alle vier Jahre zu Ehren des Gottes Tezcatlipoca stattfand, um die Schuld in der Welt zu sühnen.
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Der Ort des letzten Treffens der Kontrahenten Fidel Serrano und Gregorio Saldívar, der Consejo de Desocupados, präsentiert einen weiteren Ausschnitt aus der Welt der Armut und unterstreicht die Auswüchse sozialer Degradierung. Der Innenhof des Consejo wird zum Schauplatz einer düsteren Wirklichkeit: "El aspecto del patio era una deprimente combinación de cárcel y mercado, pero, extrañamente, sin ningún movimiento, sin ningún ruido. Una cárcel de muertos" (S. 170). Er ist der Zufluchtsort der Arbeitslosen, die sich hier in der Hoffnung auf eine kärgliche Mahlzeit einfinden. Die ehemaligen Arbeiter sind zu elenden, entfremdeten Kreaturen herabgewürdigt: "En otro tiempo, antes de la crisis y el cierre de las fábricas, estas sombras habían sido obreros, mujeres de obreros e hijos de obreros. Pero la miseria terminó por restarles dignidad. (...) Ya no eran la misma gente intrépida de otros años, sino gente de espíritu reptante, desconfiado, egoísta, calculador" (S. 172-173).
Von der Gesamtaufnahme der bedrückenden Atmosphäre schwenkt der Erzähler sein Objektiv auf eine Einzelperson. Der Blick Gregorios bleibt haften auf einer verdreckten und verrückten Frau, die ein paar Weißblechdosen, ihre offensichtlich einzige Habe, in einem schmutzigen Rinnsal wäscht: "En el centro del patio una mujer puesta en cuclillas lavaba unos trastes de hojalata, apartándose con el dorso de la mano el sucio mechón de negros cabellos que le caía en la cara con terca insistencia, mientras por de la falda, hasta volverse algo impúdico y obsceno como si saliera de ella misma, se deslizaba con una especie de discernimiento vivo y animal, ora deteniéndose, ora rodeando las anfractuosidades de las baldosas, una sucia culebrilla de agua donde eran visibles algunos granos de arroz y otros desperdicios de comida" (S. 171).
Die Beschreibung der abstoßenden und erbärmlichen Frau ist darauf angelegt -ähnlich wie die "Notdurft-Episode" mit Bautista- beim Leser Widerwillen und Ekel zu provozieren.20 Die starke Konzentration auf diese jämmerliche Kreatur 20
Die Thematisierung von Exkrementen und Urin findet sich ebenfalls im Kurzroman En algún valle de lágrimas, der eine ausführliche Beschreibung des Defäkationsprozesses bietet (1956: S. 18ff)- Auch La frontera increíble synthetisiert in dieser Form
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verschärft den Gesamteindruck von Resignation und Sinnlosigkeit in einer Welt von ewigen Verlierern, die sich ihrem Schicksal ergeben haben. Ohne Hoffnung auf eine Änderung ihrer Lage suchen sie keinen Ausweg, sondern verharren in resignativem Fatalismus und Apathie: "Aquello parecía tener una actualidad extraordinaria ahí, en mitad de estas gentes que eran las mismas de cincuenta, de cien, de trescientos años atrás, con idéntica indiferencia ante su propio dolor y su propio desamparo. Porque quizá el saber que su congoja venía desde tan lejos fuese un consuelo, pues la canción produjo un movimiento de imperceptible nostalgia satisfecha, de acomodo tranquilo y de inmovilidad más firme y sosegada" (S. 171). Revueltas reiht hier das verelendete Proletariat der Städte in die Heerscharen der Vergessenen der Geschichte ein. Wie schon in El luto humano erscheint das Volk -hier die Industriearbeiter- als der ewige Verlierer. In stiller Resignation verharrt es in dem Gefängnis, das die Konditionen des Lebens für es bedeuten. Das entfremdete Individuum vermag nicht seiner Freiheit gewahr zu werden. Gerade aber die Bewußtwerdung der Freiheit des Einzelnen gilt Revueltas als Voraussetzung für ein Leben in Authentizität und solidarischer Gemeinschaft. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, ist ihm ein dringendes Anliegen: "Reconocemos, (...), que todas las clases obreras del mundo, inclusive las de los países socialistas, están enajenadas. Pero luchamos porque lleguen a darse cuenta de que son libres y pueden tomar decisiones, así como sus dirigentes las toman sobre ellos. Y confiamos en esas decisiones individuales. Estar enajenado es no darse cuenta de que se es libre, pero de ninguna manera significa no ser libre".21 Das Motiv der Entfremdung, des seiner selbst entäußerten Individuums, wird in einer weiteren Episode mit Gregorio Saldívar plastisch ausgebaut. Gregorio
21
menschliche Erniedrigung und Ekel (O.C. 9), während Cama 11 (O.C. 10, S. 25-48) ironisierend eine andere Sichtweise präsentiert, da diese Kurzgeschichte um die Sorge einiger Insassen einer psychiatrischen Abteilung kreist, daß einer von ihnen nicht defäkieren kann, und daher als Ausdruck von Verständnis und Solidarität interpretiert werden kann. In jedem Falle kann die bloße Nennung eines tabuisierten menschlichen Aktes bereits als subversiv betrachtet werden. Revueltas im Interview mit Ignacio Solares: La verdad es siempre revolucionaria (1974). InSáinz 1977: S. 56.
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sieht sich aufgrund seiner Geschlechtskrankheit genötigt, in Puebla medizinische Hilfe zu suchen. Bedingt durch seine Mittellosigkeit führt ihn sein Weg ins Dispensario Público Numero Dos (S. 204). Das heruntergekommene Gebäude, ausgestattet mit einem pobre jardincillo (S. 205), und versehen mit weißgestrichenen Fenstern "(que) hacía aparecer las puertas como amordazadas" (S. 205), weckt in Gregorio das Gefühl "de haber penetrado en una cárcel" (S. 205). Das Hospital gerät ihm zur Erfahrung irdischer Höllenqualen. In höchster Intensität erlebt er essentielle Momente äußerster Erniedrigung und Demütigung. Zunächst erscheint alles jedoch ganz harmlos. Wie die übrigen Hilfesuchenden erhält er eine Nummer, die ihn in eine Warteschlange einreiht. Möglicherweise durch seine Krankheit noch besonders sensibilisiert, enthüllt sich ihm unmittelbar die schäbige und groteske Wirklichkeit des Dispensariums. Die erdrückende Atmosphäre wird durch die Erbärmlichkeit der Hilfsbedürftigen fast unerträglich: "En la atmósfera flotaba una pequeña peste turbia de ácido fénico, de yodoformo, de orines, de mugre, de saliva, de vinagre, que más bien parecía provenir de las gentes ahí reunidas como si cada una la llevase consigo, con su triste humanidad, entre las ropas íntimas, pero a la vez apercibiéndose de ello con una suerte de vergüenza melancólica, humillada y suplicante" (S. 206).
Gesteigert noch durch ein Plakat einer Gesundheitskampagne, das einen blinden Jungen zeigt, der von einem Auto angefahren wird, und die Aufschrift trägt: "Ciego porque sus padres no se curaron a tiempo!", und das geringschätzige, aber gleichzeitig komplizenhafte Lächeln der Krankenschwestern und anderer Patienten, wächst sein Unbehagen zum Verlangen: "de huir de ese infierno" (S. 209). Die Ohnmacht und demütige Haltung der Patienten wird kontrastiv verstärkt durch das geschäftige Tun der Schwestern, die, ihre überlegene Stellung in ihrem kleinen Reich auskostend, ihre Macht ausspielen. Gleichwohl läßt sich ahnen, daß sie sich Höhergestellten um so unterwürfiger nähern:
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"Los ojos de los pacientes siguieron con una intensa expresión interrogativa el paso de una enfermera rechoncha, (...), quien atravesó el lugar con una prisa inútil pero que parecía dar la dosis justa de confianza y de superioridad que necesitaba, (...), sin mirar a nadie, muy duefla de esa jerarquía que, (...) pero al mismo tiempo sin que evitara un ligero énfasis artificial de ademanes en el que traicionaba el placer de aquella efímera superioridad, a causa de cuya falta de costumbre u ocasiones de ejercerla dicho énfasis era síntoma indudable de cuan distinta, cuán insignificante y servil sería frente a sus superiores" (S. 206-207). Im Operationssaal entfaltet sich die Absurdität und Monstrosität des Ortes in nicht mehr zu Uberbietender Form. Nur halbbekleidete Männer, die sich vollkommen hilflos der Situation überlassen, füllen den Raum. Sie starren wie paralysiert auf einen Punkt zwischen ihren Beinen, während sie auf das Ende ihrer Behandlung warten: "En un solo punto, entre sus piernas, la bárbara sonda de metal, del grueso de un dedo, con exactitud otro órgano más del cuerpo, la penetración de otro sexo no humano dentro del sexo del hombre, al que deshumanizaba emergiendo semejante a una llave, a un abrelatas monstruoso" (S. 210). Die menschenverachtende und doch menschliche Logik dieses Mikrokosmos entkleidet die Kranken ihrer letzten Schutzhülle. Aufgrund der Gleichsetzung zwischen Mensch und Nummer wird der Einzelne sukzessiv seiner menschlichen Würde und Individualität beraubt.22 Er wird entmenschlicht und auf die Stufe eines Objekts reduziert. Nicht nur wird die Operation unter den Augen der Krankenschwestern durchgeführt, was manchem schon die Schamröte ins Gesicht treibt. Die gestrengen Helferinnen neigen dazu, ihren Aufgaben mit allzu großer Genauigkeit nachzugehen: "Aquél era su reino, su dominio inalienable. Algo había en ella de conmovedora, asquerosamente digno y solemne. De pronto se detuvo con la expresión maligna y calculadora, y después de mirar su reloj, se inclinó, con la minuciosa impertinencia de los miopes, hacia el sexo de uno de los enfermos a quien la inopinada actitud lo hizo enrojecer hasta el martirio. La ayudante estaba en su reino. No iba a renunciar a esa suerte de protocolo de la humillación con el que se encarnizaba sobre los pacientes. El abrelatas emergía tenso, torturante. La mujer prolongó su examen 22
Das Motiv findet sich auch in Los muros de agua. Die Gefangenen werden auf eine Ansammlung von Nummern reduziert.
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durante minutos interminables, pero de pronto, sin previo aviso, a mansalva, en una forma cruelmente inesperada, tiró de la sonda haciendo que el enfermo se sacudiera en tanto ahogaba una sorda exclamación" (S. 211).
Der Dispensario Público führt in das Labyrinth der dunklen Regungen menschlichen Handelns. In einer Gesellschaft der Rechtlosen genügt ein kleines Quantum Macht, das dazu verführen kann, den weniger Glücklichen in seiner Hilflosigkeit noch mehr zu demütigen, um die eigene Überlegenheit -wenn auch nur für Momente- auszukosten.
Popolucas, basurero, Consejo de Desocupados
und der Dispensario
Público
bieten einen Aufriß der Rückständigkeit und des Elends der Massen. In ihrer Kombination konstituieren sie den sozialkritischen Diskurs von Los
días
terrenales. Zwar bildet die Sozialkritik nicht das zentrale Anliegen des Romans, sie kann aber aufgrund der schockierenden, geradezu
körperlich
spürbaren Bloßstellung der Negativseiten der Realität, um nicht zu sagen der Obszönität einzelner Episoden, nicht übersehen werden. Die Anhänger der offiziellen Rhetorik, die unablässig das Bild einer prosperierenden Nation propagierte, mußten diese unerwünschte Version der mexikanischen Wirklichkeit empört zurückweisen. Wenn diese Facette des Romans von der Kritik denn überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, so wurde sie dem Autor als Mißgeburt seiner morbiden Phantasie angelastet und ihre Funktion als politische Anklage mißachtet. Tatsache war aber, daß fast drei Jahrzehnte nach dem Ende der bewaffneten Phase der Revolution ihre Postúlate noch kaum eingelöst waren und das Bewußtsein der Eliten erneut wachgerüttelt werden mußte. Erst nachdem der Mythos der Revolution nach dem Schock von Tlatelolco 23 endgültig
23
Der Schock von Tlatelolco bezeichnet das Ereignis, als die Regierung unter dem Präsidenten Gustavo Diaz Ordaz am 2. Oktober 1968 eine Protestdemonstration von Studenten auf dem Platz der drei Kulturen in Mexiko-Stadt blutig niederschlägt. Unter Einwirkung des Schocks beginnen nun die Intellektuellen, sich verstärkt mit
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seine Wirkungskraft eingebüßt hatte, gab es vereinzelte Stimmen, die die sozialkritische Absicht des Autors anerkannten: "Si incorpora prostitutas, obreros sin trabajo o campesinos pobres y asesinos, no lo hace por morbo o fijaciones mentales como ha dicho la crítica hasta hoy difundida: esta selección de personajes tiene por objeto mostrar la división de clases que ha engendrado la devolución hecha gobierno'".24
4.2.
Dekonstruktion stereotyper geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibung
Auch wenn die Dekonstruktion stereotyper geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibung ebensowenig wie der Aufriß unbekannter sozialer Realitäten als eigentliches Anliegen des Romans gewertet werden kann, soll im folgenden dieser den sozial-kritischen Diskurs erweiternde Aspekt von Los dias
terrenales
untersucht werden. Eine detaillierte Analyse verspricht Aufschluß darüber, inwieweit in der offiziellen Rhetorik propagierte Bilder von Mann und Frau und die Lebenspraxis der Individuen übereinstimmen oder divergieren. Die mexikanische Gesellschaft ist eine traditionell patriarchal strukturierte Gesellschaft. 25 Innerhalb dieses anthropologischen Bezugsrahmens, der ge-
24
25
der Doktrin der Institutionalisierten Revolution bzw. deren Erfolgsmythen auseinanderzusetzen und von ihr abzugrenzen. Revueltas wird aufgrund seiner politischen und moralischen Standhaftigkeit zu ihrer Leitfigur. Francisco Torres: Los errores de José Revueltas. In Texto Crítico 1979, 13, S. 214. Der Autor bezieht sich hier explizit auf Los días terrenales. In dem Punkt, der Frau eine sekundäre Position zuzuweisen, stimmte das Selbstverständnis der männlichen Sieger und Besiegten der Conquista überein. Sowohl im Kaiserreich Karls V. als auch im aztekischen Ständestaat Moctezumas wurde das Leben der Frau auf ihre Rolle als Hausfrau, Ehefrau und Mutter eingegrenzt. Dafür sorgten in Spanien die katholische Kirche und ihre Morallehre, bei den Azteken übernahm die Priesterkaste eben diese Kontrollfunktion. Siehe dazu z.B. Armanda Alegría 1979: S. 43ff und S. 56ff, und Rünzler 1988: S. 45ff; S. 154ff Das patriarchale Bewußtsein dominiert bis heute in der mexikanischen Gesellschaft. Dazu konstatiert z.B. auch Hölz: "El cliché machista que degrada la mujer a un objeto
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schlechtsspezifische Sinn-Zuschreibungen etabliert und durch entsprechende Zugangs- und Verteilungskonventionen perpetuiert, ist die Frau auf eine dem Mann untergeordnete Position verwiesen. Die Entfaltungsmöglichkeiten der Frau sollen sich auf das private, familiäre Umfeld beschränken, während sich der Mann aktiv im öffentlichen Leben beweisen soll. Daß dem immer so war und dies tunlichst auch so bleiben sollte, bekräftigte 1953 -also vier Jahre nach Erscheinen des Romans- der damalige Präsident Mexikos Adolfo Ruiz Cortines in seiner Rede anläßlich der Verabschiedung der Gesetze, die den Mexikanerinnen erstmals das Wahlrecht und die Gleichstellung garantieren
soll-
ten. Vehement beschwört Ruiz Cortines die glorreiche Vergangenheit, d.h. die Erhabenheit der traditionellen Pflichten einer Frau: "Sobre ella [seil, la mujer] recae la patriótica tarea de conducir a la infancia e inculcarle los sentimientos de la mexicanidad, de conservar el hogar y de señalar las normas éticas de la vida social. (...) Estimamos que al conferirle plenitud de capacidad jurídica y política, vencidos ya prejuicios anacrónicos, afirmarán su feminidad, y que su intervención responsable y directa en los negocios públicos permitirá, en la solución de los problemas nacionales, asociar más íntimamente los intereses de la familia con los supremos intereses de la Patria. (...) Que en nada se turbe el ritmo de los hogares mexicanos: que continúe siendo la mujer abnegada, comprensiva, limpia, hacendosa, conforme a las gloriosas tradiciones de nuestra patria común".26
26
secundario y a disposición del hombre sigue determinando de manera general las pautas de la sociedad latinoamericana" (Hölz 1992: S. 33). Hervorhebung durch die Verfasserin. Ruiz Cortines, Adolfo (Hrsg.): Heroinas de México. Homenaje del Partido Revolucionario Institucional a la Mujer Mexicana. México, D.F. 1953: V-IX. Der im Código Civil von 1804 festgeschriebene Passus, daß die Frau sowohl in politisch-juristischer als auch ökonomischer Hinsicht unter der Vormundschaft des Mannes steht, wurde mit den Gesetzen zur Gleichstellung der Frau zwar de jure außer Kraft gesetzt, de facto hingegen behauptet der Mann weiterhin seine Vorrangstellung in der Gesellschaft. Seit den 70ern hat sich die Frauenbewegung als fester Bestandteil der mexikanischen Gesellschaft etabliert. Ihr Verdienst ist es, in der Öffentlichkeit ein Bewußtsein über die verschiedenen rassen-, klassen- und nicht zuletzt geschlechtsabhängigen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung geschaffen zu haben. Siehe zur Geschichte der Emanzipation der Frau in Mexiko ausfuhrlich Klingler-Clavijo 1987: S. 44ff. Eine Analyse der faktischen sozialen, politischen und ökonomischen Stellung der Frau nach ihrer juristischen Gleichstellung bietet Navarrete 1969.
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Die Rede des Präsidenten, dessen anerkanntes Verdienst es ist, sich für das Wahlrecht der Frauen eingesetzt zu haben, veranschaulicht vortrefflich, daß und wie innerhalb eines patriarchal konstituierten anthropologischen Paradimas dennoch der "autorisierte Diskurs" des Mannes über die Frau dominiert.27 Die Frau wird nicht als eigenständige Persönlichkeit gewertet, sondern dient als Projektionsfläche für eine Version männlichen Wunschdenkens, die ihr zumeist wenig Spielraum zur Entfaltung einer Selbstdefinition übrigläßt. Vorgefertigte Bilder bestimmen aber nicht nur die Fremd- und Selbstwahrnehmung der Frau, sondern natürlich auch die des Mannes. In Mexiko lassen sich zum Teil bis auf die Conquista zurückreichende tradierte Personalideologeme von Männlichkeit und Weiblichkeit erkennen, die im kollektiven Bewußtsein der mexikanischen Gesellschaft wirken.28 Sie sind in der Weise präsent, daß sie gleichsam: "(...) 'handliche', allgemein anwendbare Kriterien bei der Einschätzung und Beurteilung von Personen und Situationen [konstituieren]".29 Die Faszination, die die relative Einfachheit der entstandenen Stereotypen ausübt, bringt die Gefahr mit sich, daß die tatsächliche Komplexität und Kompliziertheit der zwischenmenschlichen Beziehungen ausgeblendet werden. Die Mythifizierungen des Eroberers Cortés und seiner Dolmetscherin und Geliebten Malinche prägen gleichsam als kognitive Schablonen Fremd- und Eigendefinitionen des Einzel-
27 28
29
Vgl. dazu Hassauer-Roos 1983: S. 439ff Eine ausführliche geschichtliche Darstellung der Entwicklung der Personalideologeme in Mexiko würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher möchte ich insbesondere auf die umfassende Studie von Franco, Jean: Las Conspiradoras. La Representación de la Mujer en México. México: 1994 aufmerksam machen. Sie betont den nachhaltigen Einfluß des Romans La Quijotita y su prima (1818) von Fernández de Lizardi auf das Bild der Frau des säkularisierten Staates der Unabhängigkeit. Das dualistische Schema von "la buena y obediente Pudenciana y la malvada 'Quijotita'" (Franco 1994: S. 118) weist einer richtigen Frau den Platz als ángel del hogar (Franco 1994: S. 131) zu. Rünzler 1988: S.10. Rünzler bietet unter Berücksichtigung sowohl historischer, kultureller als auch psychologischer und psychoanalytischer Aspekte eine differenzierte Darstellung der Ausprägungen und Auswirkungen des mexikanischen Machismo.
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nen und determinieren sein Verhalten.30 Der mexikanische Mann versucht dem Vorbild des spanischen Eroberers zu entsprechen, da dieser in mustergültiger Weise männliche "Tugenden", wie Aggressivität und Aktivität mit hermetischer Unverletzlichkeit und unbeirrbarem Gleichmut auf sich zu vereinen scheint. Die Aura autonomer Selbstbestimmung, die ihn umgibt, wird zum zentralen Kriterium eines Ideals, das den Adepten von jeglicher Rechenschaftsverpflichtung freispricht.31 Diese Haltung schlägt sich meist in einer Beliebigkeit und Unberechenbarkeit der Handlungen, der Ausübung arbiträrer Macht also, nieder: "El Macho' representa el polo masculino de la vida. (...) El Macho' es el Gran Chingón. Una palabra resume la agresividad, impasibilidad, invulnerabilidad, uso descarnado de la violencia, y demás atributos del 'macho': poder. La fuerza, pero desligada de toda noción de orden: el poder arbitrario, la voluntad sin freno y sin cauce".32 Während Männlichkeit mit absoluter Dominanz und Kontrolle gleichgesetzt wird, wird die Frau mit passiver Willfährigkeit assoziiert. Im Bild der Malinche ist weibliche Ohnmacht par excellence repräsentiert. Mißbraucht und doch als Schuldige verurteilt, lebt sie im Sprachgebrauch des Volkes in der mythischen Figur der Chingada weiter: "La Chingada es la Madre abierta, violada o burlada por la fuerza".33 Mehr noch als die Jungfrau Guadalupe -der mestizischen Ver30
31
32 33
Vgl. dazu die Ausführungen zum negativen Ursprungsmythos der Conquista, insbesondere zur "Verräterin" Malinche und zur mexikanischen Madonna, das Einleitungskapitel. Unter den unzähligen Definitionsversuchen zum mexikanischen Macho scheint mir folgende besonders gelungen: "El machista es muy hombre con las mujeres, pero también es muy hombre a la hora de ingerir licores, y en el momento de la pelea (...) lo que hay en el fondo de la conducta machista es una frase: Para que vean que no me importa lo que ella quiera. Yo hago lo que me da la regalada gana" (Salvador Reyes Nevares: El machismo en México. Paris: Mundo Nuevo 1970: S. 14-19. Zitiert nach Klingler-Clavijo 1987: S. 25-26). Paz 1989: S. 73. Das Verb chingar bedeutet: "sich aufzwingen" bzw. "den anderen unterwerfen". In Mexiko hat das Verb chingar unzählige Bedeutungen, die je nach Kontext variieren. Vgl. dazu Paz 1989: S. 68-72. Die Kernbedeutung läßt sich im wesentlichen mit folgenden Worten fassen: "Chingar (...) implica la idea del fracaso. (...) en casi todas partes chingarse es salir burlado, fracasar", und "El verbo denota violencia, salir de
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körperung von Jungfräulichkeit und Mutterschaft- verurteilt die Chingada die Frau zu einer Passivität, die bis zum Identitätsverlust führen kann: "Pierde su nombre, no es nadie ya, se confunde con la nada, es la Nada. Y sin embargo, es la atroz encarnación de la condición femenina".34 Das Bild der Frau ist somit in eine Gute und eine Böse, die Heilige, die Mutter, und die Hure polarisiert. Die beständigen Rekurse auf die Reinheit der Guadalupe, der Madre
virgen,
und die Schuld der Malinche perpetuieren Passivität und Ohnmacht der Frau in der mexikanischen Gesellschaft: "La mujer es considerada como un ser simple, cuya función en el mundo se subordina totalmente al papel del hombre. A esta concepción contribuye el que se ha dado en llamar complejo de virginidad, complejo complementario del machismo, la mujer ha de permanecer recluida en casa (enclaustración), no tiene necesidad de estudios especiales (inteligencia inferior) debe llegar al matrimonio virgen de todo conocimiento y experencia sexual (instrumento del marido) etc.".35 Das patriarchale Bezugsschema definiert idealiter die soziale und persönliche Position der Frau über ein männliches Pendant, sei es nun der Vater oder der Ehemann. 36 Hochgeschätzt werden zumeist Jungfräulichkeit und ein passiv abwartendes Verhalten. Beispielhaft finden sich diese Stereotypen von Weiblichkeit in den Canciones rancheras, die aus der Volkskultur nicht mehr wegzudenken sind. Sie glorifizieren die novia pura y bella, huldigen der esposa
34 35
36
si mismo y penetrar por fuerza el otro. Y también, herir, rasgar, violar -cuerpos, aimas, objetos-, destruir" (Paz 1989: S. 69). Paz 1989: S. 77. Ignacio Martin-Barô: El machismo en México. Mundo Nuevo, Paris 1970: S. 38; zitiert nach Klingler-Clavijo: S. 26. Siehe auch Rünzler 1988: S. 118. Zunehmend setzen sich heute Frauen gegen eine in der Schuld der Malinche begründete Schuld und in der Reinheit der Guadalupe begründete Position der Ohnmacht der mexikanischen Frau zur Wehr. Siehe dazu insbesondere Margo Glantz 1991. Simone de Beauvoir hat dieses Phänomen erstmalig formuliert: "Elle [seil, la femme] se détermine et se différence par rapport à l'homme et non celui-ci par rapport à elle. Elle est inessentielle en face de l'essentiel. Elle est le sujet, il est l'Absolu. Elle est l'Autre" (Beauvoir, Simone de: Le deuxième sexe. Band L Paris: Gallimard 1949: S. 16. Hier zitiert nach Hölz 1992: S. 34).
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abnegada y sufrida und beklagen die Ungehörigkeit der mala mujer.31 Als Idol schlechthin gilt die aufopferungsbereite, sich selbst verleugnende Ehefrau und Mutter: "La mujer abnegada es aquella que sabe soportar con resignación enfermiza las adversidades de la vida, es decir, la que no protesta, la que nunca se rebela, ni exige, la que se olvida de sí misma en favor de los intereses de otros, en resumen, la que se nulifica".38 Dagegen weckt jegliches, vor allem im sexuellen Bereich angesiedelte, eigenständige Verhalten einer Frau höchstes Mißtrauen, und erzeugt Geringschätzung und Ablehnung: "Es curioso advertir que la imagen de la 'mala mujer' casi siempre se presenta acompañada de la idea de actividad. A la inversa de la 'abnegada madre', de la 'novia que espera' y del ídolo hermético, seres estáticos, la 'mala' va y viene, busca a los hombres, los abandona. (...) su extrema movilidad la vuelve invulnerable. Actividad e impudicia se alian en ella y acaban por petrificar su alma. La 'mala' es dura, impía, independiente, como el 'macho'. Por caminos distintos, ella también trasciende su 39 fisiología y se cierra al mundo". Die unermüdliche symbolische Erhöhung der novia pura y bella und der esposa abnegada y sufrida, sowie die demonstrative Ablehnung der mala mujer halten die Frau im Mythos der ewig sanften Weiblichkeit des schwachen Geschlechts gefangen: "Según la filosofía del machismo, la disposición natural de la mujer está determinada por la debilidad, la necesidad de protección, la dulzura y la caridad. La mujer puede compensar esta negada autodeterminación cuando más con su encanto, belleza o sensibilidad moral o bien estética".40 Das Wertesystem der hombría "vergöttlicht" den Mann, verdammt ihn aber auch gleichzeitig zur "Göttlichkeit". Der Machismo, bestimmt von den Gegen37
38 39 40
Siehe zu den Stereotypen von Weiblichkeit Klingler-Clavijo 1987: S. 27ff. Insbesondere tragen heute auch die Massenmedien, wie die beliebten telenovelas und fotonovelas sowie das Kino zur Perpetuierung der tradierten Personalideologeme bei. Armanda Alegría 1979: S. 141. Paz 1989: S. 35. Hölz 1992: S. 33.
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polen Macht und Ohnmacht, Sieg oder Niederlage, zwingt einen "wirklichen" Mann, sich autonom und souverän in allen Lebensbereichen gemäß seinem Willen erfolgreich durchzusetzen: "El poder, la fuerza, la superioridad y autonomía del hombre son tan propios del culto masculino como la indiferencia e intrepidez en el plano sentimental, o como la potencia del hombre y el número de sus amantes o hijos legítimos e ilegítimos en el ámbito sexual".41
Auch das Musterbild eines Machos ist als Ideal entworfen und daher als Kunstprodukt aufzufassen, das in der Realität keine absolute Entsprechung haben kann. 42 Die meisten seiner Inhalte sind nicht schichtenspezifisch gebunden, wobei die Unterschiede sich in ihrer Umsetzung manifestieren. Gerne wird der Machismo als Rollenverhalten der Kultur der Armut qualifiziert. Gerade in der Unterschicht, so sehen es zumindest einige wissenschaftliche Studien, finde sich der Machismo in ursprünglicher, reiner Form. 43 Dies verwundert wenig, wenn man die Definition des Machismo bedenkt: "(...) aggressive Männlichkeit, die durch die Zurschaustellung von Gewalt und Furchtlosigkeit und vor allem durch sexuelle Eroberungen geprägt ist".44 Bei den Unterschichten kommt der Zwang, seine Männlichkeit zu beweisen, wohl am deutlichsten zum Ausdruck und führt oftmals zu einer plakativ überzogenen Demonstration von Autonomie und Überlegenheit. Der Machismo der Männer der Mittel- und Oberschichten der mexikanischen Gesellschaft erscheint dagegen subtiler und weniger auf die unmittelbare Körperlichkeit reduziert. Doch betont Rünzler, daß sich das emotionale Spektrum und die damit verbundene Zielsetzung bei rivalisierenden Politikern und Industriearbeitern nicht wesentlich unterscheiden, da es durch 41 42
43
44
Hölz 1992: S. 33. Rünzler verweist beispielsweise darauf, daß selbst ein "reiner Macho" wie Pancho Villa nicht gänzlich frei von Schwächen war. Vgl. Rünzler 1988: S. 7-8. Wegbereitend war hier die Studie einer Unterschichtsfamilie von Lewis, Oscar: Los hijos de Sánchez. México: Joaquín Mortiz '1965. Definition nach Jacobson-Michaelson und Goldschmid 1971; hier Rünzler 1988: S. 110.
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ein ähnliches männliches Rollenstereotyp vorgegeben ist: "Das Ziel ist die Durchsetzung des eigenen Willens! Kompromisse werden als Zeichen von Schwäche negativ bewertet und Überlegenheit mit Recht gleichgesetzt". 45 Jedoch klaffen zwischen dem dem Machismo geschuldeten Selbstverständnis und den realen Verhältnissen nicht selten Abgründe. 46 Dabei zeigt es sich, daß die idealen Bilder von Männer und Frauen von einer derart gewaltigen Präsenz sind, daß von ihnen abweichendes Verhalten nicht als solches wahrgenommen wird. Das Stereotyp Uberlagert scheinbar die Faktizität in der Weise, daß es sie im Schema bindet, um die von ihr ausgehende verändernde Energie, die eigene Persönlichkeit bedrohende Gefahr, zu bannen. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts hinterfragen die vorwiegend männlichen Autoren das anthropologische Paradigma des Patriarchats in ihren Romanen nicht. 47 Der mexikanische Roman spiegelt die "Männerwelt" Mexikos. Die Protagonisten und Helden sind ausnahmslos männlichen Geschlechts. Entsprechend klischeehaft gerät komplementär dazu die Darstellung von Frauen. Stereotyp findet sich ihre Präsentation innerhalb der Koordinaten der mujer abnegada y sufrida und der mala mujer. Der soziale Status determiniert ihre Rollendefinition 48 Stammt eine Frau beispielsweise aus dem bürgerlichen Mi45 46
47
48
Rünzler 1988: S. 112. Zum Mißverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit unter dem patriarchalen Paradigma aus historischer Sicht siehe auch Rünzler 1988: S. 158-162. Besonders beeindruckend finde ich die historisch belegbare Tatsache, daß ein beträchtlicher Teil des Landbesitzes und verschiedener anderer Wirtschaftszweige unter der Führung von Frauen stand. Diese und vergleichbare Tatsachen, wie ihre aktive und führende Rolle im Kriegsgeschehen der Mexikanischen Revolution, sind im kollektiven Gedächtnis nicht präsent. Frauen waren bis auf wenige Ausnahmen von einer aktiven Beteiligung am Kulturbetrieb ausgeschlossen. Gefragt waren sie schon eher als Kulturkonsumentinnen. Vgl. dazu die Ergebnisse von Klingler-Clavijo 1987: insbesondere S. 53ff.; und Franco 1994. Vgl. bei Klingler-Clavijo: "Den Vertretern der 'novela de la revolución', u.a. Azuela, Gúzman, José Mancisidor, gelingt es zwar, sich von europäischen Vorbildern zu lösen, in ihrer Darstellung von Frauen wiederholen sie jedoch die bekannten Klischees: Resignierte, leidende Mütter und Prostituierte sind ihre Protagonistinnen.
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lieu, so ist sie entweder unerreichbar oder auf Grund von Selbstaufopferung und Selbstaufgabe verbittert. Stammt sie hingegen aus der unteren Schicht bleiben nur die Rolle der Prostituierten oder des -stets namenlosen- Dienstmädchens. 49 Unterwürfig, passiv und sprachlos fungiert die Frau als dekoratives oder den Helden spiegelndes Element. Sie tritt als Randfigur in Erscheinung, die für den Handlungsverlauf meist ohne Bedeutung bleibt. Bestenfalls erlaubt die dominierende männliche Perspektive Idealkonzeptionen der Frau, die sie zum besseren erhöhten Ich und zugleich zum (unerreichbaren) Anderen werden lassen. Auch die "vergöttlichte" Frau ist eine Außenseiterin. Die in der Realität vorherrschende Instrumentalisierung der Frau erscheint in der Fiktion lediglich gespiegelt: "La mujer siempre ha sido para el hombre lo otro', su contrario y complemento. Si una parte de nuestro ser anhela fundirse a ella, otra no menos imperiosamente, la aparta y excluye. La mujer es un objeto, alternativamente precioso o nocivo, mas siempre diferente. Al convertirla en objeto, en ser aparte y al someterla a todas las deformaciones que su interés, su vanidad, su angustia y su mismo amor le dictan, el hombre la convierte en instrumento. Medio para obtener el conocimiento y el placer, vía para alcanzar la supervivencia, la mujer es ídolo, diosa, madre, hechicera o musa, (...) pero jamás puede ser ella misma. (...) Entre la mujer y nosotros se interpone un fantasma: el de su imagen, el de la imagen que nosotros nos hacemos de ella y con la que ella se reviste".50
49
50
Einzig die Prostituierten werden im sozialen Kontext der Epoche situiert. In der 'novela de la revolución' werden Frauen zu Opfern einer strengen Moral und eines ärmlichen Milieus. -Die kämpfenden Frauen der Revolution waren scheinbar schon vergessen" (Klingler-Clavijos 1987: S. 65). Nicht ohne Grund spielten Prostituierte eine wichtige Rolle in den Romanen, da Prostitution damals weit verbreitet war: 120 von tausend Frauen verdienten sich auf diese Weise ihren Lebensunterhalt. Das hatte dazu geführt: "(...) que las enfermedades venéreas habían alcanzado proporciones epidémicas" (Franco 1994: S. 132). Die Literaten verarbeiteten dieses Phänomen, indem sie Sexualität und Tod aufs Engste verknüpften. Federico Gamboa verbindet z.B. in Santa (1903) das Anliegen, die Verlogenheit der bürgerlichen Moral zu entlarven, mit einer sozialkritischen Studie der Prostitution. Die Prostituierte wird zum Symbol der durch den zersetzenden Einfluß der Städte unausbleiblichen Korruption in der Provinz. Dazu ausführlich Franco 1994: S. 132f. Paz 1989: S. 177.
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Als komplementäre Pendants den männlichen Akteuren zugeordnet, sind die Frauenfiguren auch in Los días terrenales auf Nebenrollen verwiesen. Dennoch weicht ihre Präsentation von der bis dahin üblichen, also auch "gewohnten" Zuschreibungsmatrix ab. Auch die männlichen Figuren wollen nicht gänzlich in den vorgefertigten Rahmen der hombría passen. Im folgenden sollen auf der soziokulturellen Ebene die Darstellung von Personalcharakteristika sowie Beziehungsstrukturen zwischen den prototypischen Paaren der im Roman repräsentierten sozialen Schichten in bezug auf geschlechtsspezifische Rollenzuweisung, Liebe und Sexualität untersucht werden. In den Mittelpunkt rückt die Frage, ob und inwieweit José Revueltas mit Los días terrenales einen Beitrag zur Dekonstruktion
tradierter Stereotypen
von "Weiblichkeit"
und
"Männlichkeit" leistet.
4.2.1. Geschlechtsspezifische Rollenzuweisung bei den unterprivilegierten sozialen Gruppen Der Uberwiegende Teil der in den Romanen und Kurzgeschichten Revueltas" präsentierten Frauen- und Männerfiguren ist nicht als psychologisches Porträt angelegt.51 Zwar negiert Revueltas keineswegs die conditio des Menschen als singulares Subjekt, das sein Ich mit der Welt konfrontiert sieht, doch trachtet er danach, den Menschen in seiner historischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Bedingtheit zu erfassen. Die Präsentation der Figuren erscheint in erster Linie von funktionalem Interesse geleitet. Die Paarkonfigurationen in Los días terrenales repräsentieren prototypisch drei verschiedene Stufen der sozialen Pyramide Mexikos: die Unterprivilegierten (Ventura und Jovita), die der
IV. Los días terrenales Oberschicht
(das
Ehepaar
165 Ramos)
und
ein
kleinbürgerliches
Intellek-
tuellenmilieu (der kommunistische Zirkel). Bauernfuhrer Tuerto Ventura und seine Frau Jovita können hier als exemplarisch sowohl für die indianischen Bauern als auch das Industrieproletariat der Städte genommen werden. Wenngleich ethnische und kulturelle Differenzen zwischen diesen sozialen Gruppen nicht übersehen werden dürfen, so zählen doch beide zu den Unterprivilegierten, deren Lebenssituation im wesentlichen durch Armut und mangelnde Bildung gekennzeichnet ist. Der Mann der Unterschichten erscheint entfremdet, da er entweder durch soziokulturell bedingte Defizite -wie bei den Popolucas- oder durch sozio-ökonomische Gründe -wie bei den städtischen Arbeitern- daran gehindert wird, sich authentisch zu entfalten. Aufgrund seiner Männlichkeit bewahrt er sich jedoch eine privilegierte Stellung gegenüber der Frau. Ihre durch das patriarchale Paradigma oktroyierte Abhängigkeit vom Mann erscheint als Zwang zu bedingungsloser Unterwerfung.
Die
Kombination
der
sich
wechselseitig
bedingenden
Faktoren
Unterdrückung und Unterordnung führt schließlich zu einem bizarren Phänomen. Die Frau löst sich in ihrer Qualität als Mensch auf: "Era extraordinario no haber notado a las mujeres. No haber advertido esos cuerpos que, sin embargo, habrían corrido con igual turia y anhelo que los demás, sólo que menos que en silencio, sin respiración, sombras de sombras junto a cada uno de sus tristes y despóticos machos. Una imagen viva de negra, hermética, amorosa e inamorosa sumisión y voluptuoso sufrimiento" (S. 15).
Die im kollektiven Bewußtsein verankerte Konzeption eines unabänderlichen Fatums untermauert überdies die tradierte Vorstellung geschlechtsspezifischer Rollenzuweisungen. So bejaht Jovita, augenscheinlich frei von jeglichen Zweifeln, die naturgegebene Ordnung der Verhältnisse: "Las jóvenes (...) tenemos nuestro deber de Dios, que es casarnos, acostarnos con nuestros maridos, parir y
51
Zur Analyse der Frauenfiguren im Werk Revueltas' vergleiche insbesondere Frankenthaler 1979: S. 110-116.
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criar a nuestros hijos" (S. 26). Für die Frau ist es natürlich und unumgänglich, sich unterzuordnen. Unter den gegebenen Voraussetzungen wird die Identifikation der Frau mit der ihr zugewiesenen Rolle schließlich als notwendige Überlebensstrategie erklärbar, da sie ihre Daseinsberechtigung erst in Bezug auf andere erhält. Ihr Wert definiert sich primär über die Zugehörigkeit zum Mann. Die soziale Determination macht es der Frau unmöglich, selbstbestimmt zu leben, wodurch
sie zunehmend entmenschlicht wirkt, bis sie
schließlich
vollkommen in das Reich des Unbewußten und Animalischen entrückt: "Las mujeres, a cada momento más bestiales, eran sólo ya como masas de resignación, fieles, tremendamente fieles, respirando". 52 In Los días
terrenales
degradiert Jovita zur tierhaften Existenz, als sie versucht, ihren Mann von einem Sandfloh, der sich zwischen dem Nagel und dem Fleisch seines großen Zeh eingenistet hat, zu befreien. Da sie mit ihren Fingern nichts ausrichten kann, benutzt sie ihre Zähne und nagt am Zeh wie ein Hund am Knochen. Das Sein dieser Frau erscheint eigentümlich reduziert auf das Symbol bedingungsloser Ergebenheit und blinden Gehorsams überhaupt: den Hund. 53 Das Paradigma der schattengleichen mujer abnegada
konkretisiert sich in
besonderer Weise in der indianischen Prostituierten Epifania, dem schwächsten Glied der sozialen Hierarchie. 54 Als Geliebte Gregorios wandelt sie sich zum selbstlosen, opferbereiten Engel. Nicht nur warnt sie ihn vor dem Polizeichef Macario Mendoza, der den unerwünschten Kommunisten beseitigen will, sondern sie geht in ihrer Loyalität sogar soweit, Mendoza zu töten, um ihren Geliebten vor dem verhaßten Polizeichef zu schützen. Ihre Handlungsfähigkeit -bis hin zur Bereitschaft einen Mord zu begehen- nährt sich aus einer übergro-
52
El luto hiunano: S. 58
53
Es sei hier an die Episode in El luto humano erinnert, wo der treuergebene Hund Principe trotz der bezogenen Prügel die Liebe seines Herrn sucht. Auf die besondere Bedeutung auch des Namens Epifania werde ich im Kapitel 4.3.3. "Die Botschaft des Todesengels" ausführlich eingehen.
54
IV. Los días
terrenales
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ßen irrationalen und bedingungslosen Liebe. Genausogroß aber ist ihre Furcht davor, für ihre selbständige Tat vom Mann bestraft zu werden: "No te vayas a enojar, Gregorio. (...) ¡Yo lo maté porque si no él te mata a ti...!" (S. 94). Die Gewohnheit, der Willkür anderer preisgegeben und gehorsam zu sein, die durch ihre Angst noch verstärkt wird, lähmt ihren Willen und ihre Entschlußfähigkeit. Wider besseren Wissens (über ihre Geschlechtskrankheit) gibt sie daher dem Drängen Gregorios nach und unterwirft sich seinem Verlangen: "Terminó por consentir, sin embargo, sin argumentos, sin palabras, únicamente por sumisión amorosa, igual que una bestia simple y oscura" (S. 214). So wird auch der Schutzengel Epifania, der das Schicksal des Helden bewacht und für seine Zukunft bestimmend werden soll, archetypisch animalisch.55 Das an Jovita und Epifania sich kristallisierende Bild der unterprivilegierten Frau läßt sich zweifellos auf den Archetyp der ohnmächtigen, gleichzeitig aber an der Unterwerfung Lust empfindenden Frau, den Mythos der Malinche, zurückbinden: "La (...) presencia de la mujer en Los días terrenales corresponde a la más típica y tradicional. En la descripción de la comunión ideal y comunista después de la pesca, el papel de la mujer sigue siendo la de una descendiente de la Malinche (...)".56
Ihre Lebenspraxis wurde von den historischen Entwicklungen des Landes nicht tangiert. Die Roilenzuschreibungen scheinen ihnen für alle Zeiten eingemeißelt.
55
56
Zu den weiterreichenden Implikationen dieses Liebesaktes siehe ebenfalls das Kapitel 4.3.3. Frankenthaler 1979: S. 113.
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4.2.2. Dekonstruktion von hombría und mujer abnegada innerhalb des kommunistischen Zirkels Auch das Ehepaar Serrano weist Verhaltensmuster auf, die dem Rahmen des machistisch geprägten Umfeldes entsprechen. Fidel Serrano zählt zu den führenden Köpfen innerhalb der parteilichen Basisarbeit der mexikanischen Kommunisten. Er erfüllt die Rolle des erfolgreichen líder, der -wenn auch begrenzte- Autorität und Macht im Feld der Öffentlichkeit besitzt. Julia Serrano dagegen hat ihr ruhiges Leben als Stenographin in einer Fabrik in San Bruno (Jalapa) aufgegeben und ist aus Liebe und Idealismus Fidel in die Hauptstadt gefolgt. Seit eineinhalb Jahren kommt sie nun ihren Pflichten als Frau an seiner Seite nach. Sie bestätigt zunächst das Bild der passiven und sprachlosen Frau, die weder ihren Gedanken adäquaten Ausdruck verleihen noch ihren Mann zur Rede stellen kann. Nach und nach erfährt der Leser jedoch von ihrer Vergangenheit als berufstätige Frau und wird Zeuge, wie sie über ihre Gefühle und Interessen Klarheit gewinnt. Fidel personifiziert den unbeirrbaren Führer, der sich in allen Bereichen des Lebens durchsetzt. Auch sein Privatleben bleibt davor nicht verschont. Symptomatisch ist seine Reaktion angesichts des Todes der zehn Monate alten Tochter Bandera, der ihn nicht davon abhält, seine Parteiarbeit fortzuführen. 57 In der Nacht der Totenwache für Bandera zeigt sich, wie sehr er in den bewußten sowie unbewußten Zwängen, die die hombría einfordert, gefangen ist. Er kann es
57
Sie stirbt in der oficina ilegal an Unterernährung. -Das Motiv des frühen Kindstodes ist bereits von El luto humano bekannt. Wie in dem vorangegangenen Roman löst dieses Ereignis einen Strudel von (inneren) Umwälzungen aus. Fidel hatte bestimmt, daß das Kind, wenn es ein Junge werden sollte, den Namen Octubre (S. 50) bekäme, eine kleine Reminiszenz also an die Oktoberrevolution. Jedoch kommt weder ein Junge zur Welt noch verwirklicht sich die sozialistische Revolution, sondern ein Mädchen, Bandera, die Fahne, das nackte Emblem, das früh stirbt und die Aussicht auf eine revolutionäre Zukunft zunichte macht.
IV. Los días terrenales
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sich nicht erlauben, der Welt zu zeigen, wie stark er tatsächlich innerlich bewegt ist. Nur sich selbst gegenüber vermag er den Schmerz über den Tod seiner Tochter einzugestehen: "Era doloroso. Conservar la semilla en poder de los campesinos. Un oscuro relámpago lo hizo pensar en Bandera, en la chamaquita de diez meses, en esa pequeña semilla corporal y humana. Muy doloroso" (S. 43).
Doch ist es ihm völlig unmöglich, seine Maske gegenüber Julia und den Genossen fallenzulassen. Nach außen bekundet er kein anderes Interesse als die Erfüllung seiner Parteipflichten. Unbarmherzig nötigt er Julia, den Bericht Gregorios zu lesen, den dieser eine Woche zuvor abgeschickt hatte. Während er sich ganz auf die politischen Fragen, die Gregorios Brief aufwirft, zu konzentrieren scheint, kreisen seine Gedanken nur um seine Frau. Eine erdrückende Atmosphäre "beredsamen" Schweigens lastet im Raum: "La habitación se hizo más silenciosa en tanto Julia leía las palabras de Gregorio" (S. 41). Die wenigen Minuten, die gemessen in objektiver Zeit tatsächlich verstreichen, werden durch die Dimension der subjektiven Zeit der Figuren gedehnt. 58 Dadurch entsteht der Eindruck totaler Kommunikationslosigkeit. Die oficina ilegal, dieser armselige, notdürftig möblierte Raum, ist die äußere Manifestation des inneren Gefängnisses Fidels, aber auch Julias. Ihre Unfähigkeit, die inneren Barrieren aufzu-brechen und zu überwinden, läßt sie andererseits auch die Leiden des anderen ignorieren. Gefangen in seinem selbstauferlegter Zwang, asuntos personales im Namen der Partei zurückzustellen, sucht Fidel vor sich selbst sein Verhalten zu rechtfertigen. Er, so redet er sich ein, dürfe sein ihm bestimmtes Schicksal nicht verraten: " (...) que cada quien, mediante una especie de selección natural voluntaria y premeditada, se otorga a sí propio, y de cuyo cumplimiento no debe permitir que 58
Siehe S. 33: "Las tres cuarenta y cinco de la mañana"; S. 45: "Las tres cincuenta de la madrugada"; S. 46: "las tres cincuenta y uno".
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nada ni nadie lo aparte, pues de lo contrario la vida perdería utilidad y significación" (S. 96-97).
So Uberzeugt er sich davon, daß das Schicksal den Tod des Kindes Julia auferlegte und sie dafür bestimmte, die Leiden der gemeinsamen Existenz beider zu ertragen, damit er sich währenddessen anderen, erhabenen Leiden stellen könne: "(...) le estaba prohibido contagiar tal clase inferior' de amarguras y dolores a Fidel, no obstante ser ambos los padres de la niña" (S. 97). Fidel kann sich aber nicht gänzlich selbst belügen. In seinem Innersten fühlt er, daß er sein hartherziges Verhalten mit dem Preis der Einsamkeit bezahlen würde, obgleich eine kleine Geste als Zeichen seiner Liebe genügte, um Julia für immer zurückzugewinnen. So aber steht er im Begriff, sie für immer zu verlieren. Die Angst und die Vorstellung, sie könne ihn verlassen und einem anderen gehören, werden übermächtig. Wie paralysiert sieht er zu, wie Julia ihm entgleitet. Seine Ohnmacht angesichts der Situation wandelt sich allmählich in Aggression: "Fidel se dio cuenta de que no sabría si golpearla hasta quitarle el sentido, poseerla hasta el exterminio o ambas cosas a la vez en una avalancha salvaje de lujuria sin freno" (S. 40). Als sie ihm jedoch ihren Entschluß mitteilt, sich für immer von ihm zu trennen, reagiert er völlig hilflos: "No lo comprendo -balbuceó-, pero tú eres libre de hacer lo que quieras" (S. 119). Das Unvermögen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, läßt Fidel zum Opfer eines kommunikationsfeindlichen Männlichkeitsideals werden, das Autonomie und Selbstbestimmung um jeden Preis fordert. Auf der anderen Seite zeigt das Verhalten Julias ihre Unfähigkeit, sich (aktiv) der Gegenwart zu stellen und ihrerseits das bedrückende Schweigen zu brechen. Aus der Unerträglichkeit ihrer momentanen Leidenssituation flieht sie in Gedanken in eine bessere Zukunft -vier oder fünf Jahre später- wenn ihre Seelenqualen vergangen und vergessen sein würden: "En aquel entonces (...), en aquel entonces fue cuando supe que el cariño entre nosotros había concluido. (...) Ahora puedo sonreír, pues todo ha pasado ya para
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siempre; puedo sonreír sin rencor ni remordimientos, pero en aquel minuto me sentí la mujer más triste y sola de la tierra" (S. 45).
Sie könnte einen ersten Schritt tun, bleibt aber in ihrer traditionellen passivabwartenden Haltung gefangen, die sich gegen Fidel richtet: "No hizo el menor esfuerzo para obligarme a regresar, aunque, de eso estoy segura, había comprendido en absoluto que yo dejaba de pertenecerle. Pudo referirse, con una palabra cualquiera, a lo que pasaba entre nosotros, pero en lugar de eso volvió a insistir en la maldita carta" (S. 46).
Der Verlust ihres Kindes und die Gefühlskälte Fidels läßt sie jedoch gegen ihr Schicksal aufbegehren und den Entschluß reifen, Fidel zu verlassen: "Había logrado obtener ese sentido de justicia con cuyo auxilio abondonaría a Fidel sin el menor remordimiento" (S. 111). Die Ehe von Fidel und Julia scheitert an beider Unzulänglichkeit, kommunikative Brücken zu schlagen. Beide kennzeichnet auch die mangelnde Bereitschaft, sich aufrichtig mit der Realität ihrer Vergangenheit zu konfrontieren, wie die Bewältigungsstrategien bezüglich des vorehelichen Verhältnisses Julias zu dem Genossen Santos Pérez zeigen. Während beide nach außen hin übereinstimmend den Mantel des Vergessens Uber die "bedeutungslose Episode" gelegt hatten, offenbaren ihre Gedanken in dieser Nacht, daß sie einander und sich selbst von Anfang an täuschten. Fidel wähnt sich immer noch als aufrichtiger, toleranter und progressiver Ehemann, wenn er an die vorbehaltlose Bereitschaft denkt, mit der er Julia den Fehltritt, die verlorene Jungfräulichkeit, verziehen hatte: "No tiene la menor importancia; lo esencial es creer en nuestra pureza y entregarnos uno al otro sin reservas (...)" (S. 104). Dagegen verspürt Julia auch jetzt noch den erbitterten Zorn, wenn sie sich seiner Verhöre entsinnt, deren sie sich ausgesetzt sah und die sie in ihrem Innersten verletzten: "Y todavía ha de ser tan estúpido (...) que sin duda esperará conocer todos los detalles" (S. 110). Sie will dieses kleine Geheimnis ihrer Vergangenheit als Andenken an die reine und wahre Liebe schützen. Ein leicht durchschaubarer Selbstbetrug, denn tatsächlich hatte sie jene Liebesnacht
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mit schwersten Gewissenskonflikten bezahlt, aus denen schließlich ihre Selbstachtung als Siegerin hervorgetreten war: "No tengo nada de qué arrepentirme, dijo para sus adentros, tan segura, limpia y solemne como si todo hubiera sido un sueño" (S. 107). Sowohl Julias als auch Fidels Haltung gleichen einer Flucht aus der Wirklichkeit. Julia träumt von einer romantischen, idealen Liebe, die sie in Wirklichkeit nie erlebt hat: "Julia encontraba la dolorosa satisfacción de no haber perdido a Santos y de haber recobrado (...) la imaginaria verdad de que el amor de Santos fue verdadero y leal" (S. 108). Fidels Unaufrichtigkeit dagegen resultiert aus einer alles übertünchenden Selbsttäuschung. Fidel liebt nicht Julia, einen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern bevorzugt die abstrakte Idee der Liebe, die in dem übermenschlichen Anspruch einer entrega total gipfelt. Er definiert die Regeln ihrer Liebe, die im Grunde nur darauf beruhen, daß er von Julia Gehorsam und Fügsamkeit erwartet. Angesichts des nun drohenden Endes ihrer Beziehung bemächtigt sich seiner die Angst, der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein. Rasch unterdrückt er daher das in ihm aufsteigende Gefühl der Trauer: "Experimentó una terrible alarma al imaginar que en esos momentos su rostro reflejara la misma expresión que aquella vez el rostro de Bautista, con los labios temblorosos y la mirada patética, ridiculamente triste" (S. 112).
Doch gerade diese Angst soll ihn in Situationen fuhren, die ihn bloßstellen. Er muß es ertragen, daß Virginia Ramos ihm ihre Verachtung ins Gesicht schleudert, als er ihre eindeutigen Avancen völlig zu ignorieren vorgibt: "Nadie hubiera creído que fuera usted tan imbécil" (S. 184). Und er muß vor allem den Moment auf der Versammlung des Comité Central überstehen, als er seine Genossen Uber die Trennung von Julia informiert: "Había sentido odio contra todos los presentes, pues adivinaba que bajo su apariencia de naturalidad y ese aspecto puritano y desenfadado, oían sus palabras con una suerte de delectación irónica y maligna" (S. 179).
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Stück für Stück wird das Gebilde abstrakter Liebe Fidels zersetzt. Der Verlust Julias macht ihn am Ende zu einem doppelten Verlierer, da er ihm nicht nur die Preisgabe einer menschlichen Liebe bedeutet, sondern mehr noch seines Ideals: "Con Julia, es cierto, pierdo una imagen del amor, algo que sin duda vale más que Julia misma" (S. 196). Fidel muß sich belügen, da sein Lebensgebäude zusammenzustürzen droht und es bereits zu spät für ihn ist, aus der Spirale seiner selbst gewählten Einsamkeit auszuscheren. Am Ende bleibt nur das Bekenntnis profaner Eifersucht, das ihn endgültig entlarvt: "Pero lo terrible es otra cosa (...); lo que no puedo soportar, lo que me enloquece, es la idea de que ella pueda pertenecer a otro. Y esto, esto es mi principal tortura" (S. 196). Noch eine weitere Paarkonfiguration innerhalb des kommunistischen Zirkels verdient in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit. Mehr noch als bei Julia und Fidel werden im Verhältnis von Rebeca und Bautista revolutionäre Momente in bezug auf die offiziell propagierten Personalideologeme deutlich. Rebeca tritt zwar nur in Form von Erinnerungssegmenten bei den inneren Monologen Fidels und Bautistas auf, trotzdem bleibt sie dem Leser aufgrund ihrer symbolischen Konnotation im Gedächtnis. Fidel erinnert sich daran, wie die eigentlich kurze und bedeutungslose Affäre, die Rebeca mit Gregorio hatte, als Bautista einmal verreist war, als Tagesordnungspunkt auf einer der üblichen Parteiversammlungen verhandelt wurde. Die Szene glich einem rituellen Zeremoniell, bei der die Schuldigen vorgeführt wurden und ihr Intimleben beichten sollten. Auf die Erklärung Bautistas, daß er sich nicht zwischen die "wahre" Liebe von Gregorio und Rebeca stellen würde, andererseits aber auch vergessen könnte, wenn sie aus reinem Vergnügen gehandelt hätten, reagierte Rebeca mit unerwarteter Heftigkeit. Sie weigerte sich entschieden, den Erwartungen der Genossen zu entsprechen und ihr Privatleben vor dem Tribunal der Partei offenzulegen: "Si ustedes han organizado este melodrama (...) a propósito de avergonzarme, se equivocan por completo. No tengo de qué avergonzarme (...); Bautista tenía seis largos meses de ausencia (...), y una también es un ser humano, !qué caray! Son
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cosas muy naturales. Si Bautista lo entiende así, yo no tengo inconveniente, porque lo quiero, en que continuemos nuestra misma vida de siempre" (S. 113). Rebeca
ist
es
schließlich
auch,
die
nach
vielen
weiteren
heftigen
Auseinandersetzungen die Entscheidung trifft, den Mann zurückzuweisen und ihn endgültig zu verlassen. Bautista dagegen bleibt mit der schmerzvollen Erinnerung an die Frau, die er immer noch liebt, allein zurück. Ganz im Gegensatz zu Fidel, versucht er nun aber, sich Uber seine Gefühle Klarheit zu verschaffen, und gesteht sich ein, daß er Uber derartig kleinbürgerliche Empfindungen wie Eifersucht und Groll keineswegs erhaben ist: "Con cólera y tristeza reconoció que sí, que aún la amaba y que la frustración de ese amor no sólo lo hacía muy desgraciado, sino que le creaba cierta incompatibilidad torturante para amoldarse a la vida toda, para convivir con las gentes sin que le fuera posible ignorar que todas ellas tenían dentro del alma un secreto rincón inconfesable, donde abrigaban las peores vergüenzas" (S. 133-134).59 Versucht man die Schablonen eines Cortés und einer Malinche auf dieses Paar anzulegen, wird deutlich, wie sehr es aus dem üblichen Rahmen der Rollenerwartungen fällt. Die aktiv für ihre Selbstbestimmung eintretende Frau und der passiv abwartende, zögerliche Mann bilden zumindest ein Novum in der zeitgenössischen mexikanischen Literatur.
59
Allerdings gab es immer schon Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Federico Gamboa z.B. hatte in Mi diario (1910) wegbereitend seine Gefühle, also "Schwächen", sichtbar werden lassen: "(...) parece pertenecer a la escritura 'privada' y femenina. Sin embargo, Gamboa 'masculinizó' el género al escribir su diario para que fuera publicado y al revelar sus pensamientos íntimos para construir una persona pública que puede trascender la muerte y la comipción que lo rodean" (Franco 1994: S. 133).
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4.2.3. Manifestation traditioneller Personalideologeme der Eliten: macho, mujer sufrida und amante Den Unterprivilegierten und dem kommunistischen Zirkel diametral entgegengesetzt steht das Ehepaar Ramos für die etablierte bürgerliche Oberschicht. Es repräsentiert die Welt des kultivierten Wohlstands der städtischen Eliten. In diesen elitären Höhen stellen sich die Fragen der Liebe eher in ästhetisierender philosophischer Form. Jorge Ramos definiert den Wert der Frauen aus der Position heraus, die sie in seinem Leben einnehmen. Aus dieser Perspektive schätzt er die Keuschheit seiner Ehefrau. Doch für sich selbst behält er vor, daß Liebe mehr als nur Treue bedeutet: "Ramos amaba a su mujer, pero al mismo tiempo le era infiel, porque de otro modo dejaría de quererla y el amor ha de ser siempre, en cualquiera circunstancia, una virtud más alta que la fidelidad" (S. 147). Ramos liebt seine Frau, braucht aber, um sein Gefühlsleben in der richtigen Balance zu halten, seine Geliebte Luisa. Beide Frauen zusammen bilden in ihrer komplementären Ergänzung die ideale Erfüllung seiner Bedürfnisse. Dabei, so wird deutlich, wären beide in ihren Rollen als Ehefrau und Geliebte durchaus austauschbar. Denn wäre Luisa seine Frau, so wäre sie ebenso unvollkommen wie ihm jetzt Virginia erscheint, so daß er dann notwendig Virginia zur Geliebten nehmen müßte. Seine Liebe zu Virginia zeichnet sich denn auch eher durch einen ihm durch die Gesellschaft gestatteten Besitzanspruch aus. Als Virginia ihn in seinem Atelier, kurz nachdem er zwei Mädchen bei ihren Liebesspielen beobachtet hat, aufsucht, erwacht bei Ramos -nach langer Zeit- die Begierde für seine Frau. Er begreift, daß hinter ihrer frigiden und ruhigen Erscheinung eine andere Frau voller Leidenschaft schlummert: "Tal vez una señal, una frase soez, una invitación obscena, y esta pulcra Virginia se convertiría en una perdularia, en una bacante incansable y depravada" (S. 162). Die Vorstel-
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lung, daß diese andere Frau nur von einem anderen Mann, el convidado de piedra60, entdeckt und erobert werden könnte, erfüllt ihn mit grenzenloser Eifersucht. Schon besinnt er sich auf seine Rechte als Ehemann, die es ihm erlauben würden, Virginia als sein Eigentum zu behandeln: "A guisa de consuelo quiso imaginar a Virginia en su condición de esposa, es decir, brutalmente como un objeto que era suyo y del cual podía disponer a su antojo en cualquier momento, (...)" (S. 163), um sich dann aber klarzumachen, daß sie ihn selbstverständlich ob des für ihre Ehe ungewöhnlichen Ansinnens zurückweisen würde. Einem Impuls folgend wirft er sich jedoch auf seine Gattin, die ihn denn auch tatsächlich mit einem: "¿Qué es lo que te sucede?" (S. 165) zurückstößt. Ihre Verweigerung verschafft ihr einen Moment des Triumphes, den sie bis zur Neige auskostet, indem sie, um ihn endgültig zu demütigen, hinzufügt: " (...) además, cielito mío, debes comprender que yo no soy una máquina insensible, ni un instrumento de placer -el giro estaba plagiado al lenguaje de las sufragistasdel que puedes servirte a tu capricho, sin que me dejes siquiera el derecho a la reciprocidad -monstruoso, abominable sufragismo de mujer 'sin prejuicios'" (S. 165).
Virginia benutzt Worte, die weder ihrem Bewußtsein noch ihrer Lebensführung entsprechen, aber ihr dienlich sind, um sich an ihrem Mann zu rächen. Während Ramos seine Frustration durch ein Treffen mit Luisa kompensieren wird, zieht Virginia zum ersten Mal die Möglichkeit in Betracht, es ihrem Gatten gleichzutun und ihre sexuellen Bedürfnisse außerehelich zu befriedigen. Daß ihre erste Wahl auf einen der compañeros ihres Mannes (Fidel) fällt und natürlich scheitert, ist wohl nur mit der Ironie des Schicksals zu erklären. Luisa wiederum hatte sich von ihrem Ehemann Francisco nach vielen Jahren einer aufrichtigen Beziehung getrennt. Aufgrund ihrer Vergangenheit, die rückblickend in Franciscos Augen als: "(...) lo más puro de su vida, la franqueza en las relaciones, la absoluta falta de mentiras en el trato y el amar" (S. 151), erstrahlt, bewahren beide eine wechselseitige Loyalität, die vor allem darin 60
Gemeint ist der Steinerne Gast im Don Juan.
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besteht, sich als Freunde zu betrachten. Obwohl Luisa nicht wirklich an die Gültigkeit dieses Anspruchs glaubt, versucht sie ihn doch umzusetzen. In imaginierten Dialogen offenbart sie ihm ihre geheimsten Gedanken, während sie ihrem Tagebuch die intimsten Ereignisse anvertraut. So schreibt sie beispielsweise kurz vor ihrem ersten Rendezvous mit Jorge Ramos: "(--) querido Francisco, quiero hacerte oír lo más íntimo y fidedigno de mi voz: en este día he resuelto entregarme a otro hombre. El porqué lo hago, yo misma lo ignoro. Quizá porque tú has sido muy injusto conmigo; quizá tan sólo por la morbosa curiosidad de saber cómo es aquello con otro, después de años enteros en que no lo supe sino por ti" (S. 151).
Ihre Liebesbeziehung zu Jorge Ramos hat nichts gemein mit brüsker Unterwerfung. Sie beruht auf dem wechselseitigen Einverständnis, eine bestimmte Etikette zu beachten und offenkundig "müßige" Fragen auszuklammern: "El convenio secreto que los unía para obligarse al uso de un idioma común de símbolos implicaba el no dar como sucedido lo que ocurrió en el cinematógrafo, no presentarlo como 'factura por cobrar', sino proceder al respecto con un sistema de señales de cuya correcta traducción mutua dependía la entrega" (S. 153).
Luisa und Jorge werden ein Paar, da sie "dieselbe Sprache der Liebe" sprechen. Sie sind in der privilegierten Situation, ein romantisches Ideal von Liebe zu pflegen, das sie aus der Gewöhnlichkeit ihres Alltags befreit.
Der Autor entwickelt Bewußtsein und Habitus der Prototypen in Los días terrenales, indem er besonders ihren jeweiligen schichten spezifischen Lebenszusammenhang berücksichtigt. Revueltas rüttelt an den klassischen Konzeptionen der hombría auf der einen und der mujer abnegada auf der anderen Seite. Auch wenn er in der Darstellung zum Teil den tradierten Mustern folgt, tut er dies, ohne sie als solche festzuschreiben oder gar zu idealisieren. Seine Figuren sind keine schematischen Inkarnationen eines bösen oder guten Prinzips. Wenn es ihrer psychologischen Ausgestaltung auch an Tiefe gebricht, so gewinnen sie durchaus mittels des inneren Monologes und in den dialogischen
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Konfliktsituationen an Lebendigkeit. In diesem Sinne fängt Revueltas mexikanische Wirklichkeit konkret realistisch ein. Das bedeutet für die Charakterisierung des Verhältnisses Mann-Frau bei den indianischen Bauern, aber auch dem städtischen Industrieproletariat, eine Rollenzuweisung, in der die Frau dem Mann unbedingt untergeordnet ist. Die Frau wird durch die dem Mann von Natur gegebene Autorität zu einem willenlosen und abhängigen Geschöpf deklassiert. Sie wird substanzlos und diffus. Die Frauen erscheinen passiv und unterwürfig, so als ob die Jahrhunderte seit der Conquista spurlos an ihnen vorübergegangen wären. Der hohe Grad ihrer Entfremdung, ihrer Entmenschlichung also, verwandelt sie in "animalische Schatten". Ausschluß und Selbstausschluß bedingen und verstärken sich schließlich reziprok. Der Frau bleibt die Möglichkeit verwehrt, in der Gesellschaft Raum einzunehmen, d.h. sich innerhalb des öffentlichen Lebens Geltung zu verschaffen. Die systemimmanenten Mechanismen verweisen sie permanent in die Schranken ihrer genau begrenzten Rolle zurück. Die unterprivilegierte Frau gerinnt zur Verkörperung des menschlichen Außenseiters schlechthin. Sie ist die Außenseiterin der Außenseiter, sie ist die fleischgewordene Chingada: "Representa, (...) un outsider al igual que el hombre que no se puede integrar al mundo de los demás porque su papel le define como un ser que nunca recibirá la aceptación de los otros".61
Aber auch die Männer der Unterschicht werden als triste und illusionslose Geschöpfe präsentiert. Allerdings ist ihnen aufgrund ihres Geschlechts das Privileg despotischer Entfaltung gegeben. Es wird deuüich, daß sich in der repressiven Gewalt die Verzweiflung über eine ausweglose Lebenssituation Bahn bricht. "El machismo es una práctica de indefensión (humillo a la mujer) para reproducir en mi espacio social lo que me acontece en el taller o en la calle bus-
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Frankenthaler 1979: S. 108.
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cando empleo" 62 konstatiert denn auch Carlos Monsiväis. Die unterprivilegierten Massen Mexikos sind Gefangene ihrer Lebensumstände. Sie scheinen der Willkür eines ominösen Fatum preisgegeben und einer gegebenen Ordnung unterworfen, die den sozio-ökonomischen Status unverrückbar determiniert. Vor diesem Hintergrund wird auch die existentielle Bedeutung des Bildes der animalischen Frau erkennbar: Die unterprivilegierte Frau figuriert als Inbegriff verweigerter Selbstbestimmung. Sie inkarniert die existentielle Bedingung des inauthentischen Menschen im eigentlichen Sinne: "Ella no tiene fuerzas contra el fatum: es un animal triste y esclavo".63 Ebenso unwandelbar ist die geschlechtsspezifische Roilenzuschreibung an der Spitze der sozialen Pyramide gezeichnet. Die Konstellation Jorge, Virginia und Luisa wirkt vertraut, da sie ein Dreiecksverhältnis der Art konstituieren, das einen Mann als Nutznießer seiner personalstrukturellen Macht ins Zentrum setzt. Jorge Ramos ist nicht nur im Besitz aller materiellen Güter, sondern genießt auch den Status und das Prestige eines Architekten und Kunstkritikers. Seine Frau Virginia schmeichelt ihm zusätzlich als geschmackvoll-elegantes Statussymbol. Daneben kann er sich den Luxus einer Geliebten leisten, der um so angenehmer erscheint, als sich Luisa standesbewußt gibt und sowohl auf materielle Sicherheiten als auch weiterreichende Verpflichtungen Jorges verzichtet. Der Mann kann aus der Monotonie einer aus Prestigebewußtsein aufrechterhaltenen Ehe zur Geliebten entfliehen, während die Ehefrau keinerlei Untreue riskieren darf, um ihren sozialen Status nicht zu gefährden. Sie ist als zurückgesetzte Ehefrau die eigentliche Leidtragende, der durchaus daran gelegen sein müßte, ihre Position zu verändern. Zwar sind Virginia die Argumente der Frau-
62
63
Monsiväis, Carlos: Cultura urbana y creación intelectual. In Uno mas Uno, 19.05.1979. Hier zitiert nach Klingler-Clavijo 1987: S. 39. Die Aussage Revueltas' über Lucrecia, eine Frauenfigur in Los errores, kennzeichnet die unterprivilegierte Frau schlechthin. Siehe Revueltas im Interview mit Josefina Tejera: Literatura y dialéctica (1968). In Sáinz 1977: S. 74.
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enrechtsbewegung bekannt, doch wird sie es nicht riskieren (können), ihren Platz in der Gesellschaft zu verlieren, da gerade in den Kreisen der Eliten die Frau nur an der Seite des Mannes anerkannt wird. Obgleich finanziell privilegiert, lebt sie in dem berühmten "Goldenen Käfig", aus dem es kein Entrinnen gibt, außer, sie wäre bereit, einen sozialen Abstieg in Kauf zu nehmen. Obwohl gut situiert, hat sie dennoch keinen Zugang zum öffentlichen Leben. Aufgrund der Konventionen bleibt ihr verwehrt, einen Beruf auszuüben oder gar zu versuchen, politisch Einfluß zu nehmen. In besonderer Weise abhängig von ihrem Ehemann, dessen Prestige auch ihre Stellung in der Gesellschaft bestimmt, ist sie die klassische "Frau aus gutem Hause", deren Entscheidungsmöglichkeiten sich auf die private Sphäre beschränken64: "Sin embargo, el grado de dominación a que está sometida la mujer burguesa, es mucho mayor que la de cualquier otra clase. Totalmente ociosa, queda recluida a ser objeto de lujo, cuya principal función es la de ser el escaparate a través del cual se mide el prestigio y el poder del marido".65
Auch wenn sie verbale Rache an ihrem Mann übt, also nicht völlig passiv bleibt, wird sie sich dennoch mit der Rolle der vernachlässigten und verbitterten Ehefrau abfinden. Paradoxerweise geht die amante aus diesem Spiel als Gewinnerin hervor. Ihre finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht es ihr, ein Leben gemäß ihren Neigun-
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In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf die mexikanische Autorin Elena Poniatowska verwiesen. Sie thematisiert in ihren Erzählungen und Romanen Klassenkonflikte, wobei sie die Unterdrückung der Frau aller Klassen fokussiert. In dem Roman La Flor de Lis und dem Essay \A Question Mark Engraved on My Eyelids! (1991) veranschaulicht sie, wie sehr die Frauen der Oberschicht in einer jaula de oro eingesperrt sind. Rosa Marta Fernández: Sexismo, una ideología. In: Urrutia, Elena: Imagen y realidad de la mujer. México 1975: S. 62-63. Vgl. dazu z.B. auch Carlos Fuentes, der in La frontera de cristal (México 1995) u.a. auch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Frauen der Elite beschreibt.
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gen zu führen. 66 Das Verhältnis zu Ramos bringt ihr neben emotionaler Bereicherung einen Zuwachs an sozialem Ansehen. Gleichzeitig aber bleibt ihre Freiheit als Nichtehefrau vollkommen unangetastet. Auch wenn Luisa nun ebensowenig wie Julia oder Rebeca die emanzipierte Frau verkörpert, so weist sie daraufhin, daß es in der mexikanischen Mittel- bzw. Oberschicht entgegen aller Proklamationen Frauen gab, denen es möglich war, ihr Leben selbständig zu gestalten. Während das Geschlechterverhältnis bei Ober- und Unterschicht erstarrt scheint, wird innerhalb des kommunistischen Zirkels eine Dynamik erkennbar, die die Auflösung traditioneller Personalideologeme anzeigt, obgleich die Typisierung des Ehepaares Fidel und Julia Serrano auf den ersten Blick der im patriarchalen Sinne traditionellen Rollenzuweisung an Mann und Frau entspricht. Man sieht sich enttäuscht, wenn man aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum marxistischen Zirkel ein anderes, im weitesten Sinne "emanzipiertes" Bewußtsein Uber Rollendefinitionen erwartet hat. Jedoch sollte man sich vergegenwärtigen, daß das übergeordnete Ziel der Kommunisten, das Volk zu befreien und aufzuklären, den privaten Bereich, insbesondere das Geschlechterverhältnis, nahezu ausklammerte. Emanzipation und Selbstbestimmung der Frau wurden gegenüber den "großen", nationalen Problemen als zweitrangig erachtet. Eine Überzeugung, die im übrigen auch von Revueltas geteilt wurde. Befragt zu seiner Einschätzung des movimiento de liberación femenina erklärt er noch 1975 in einem Interview: "Como un problema obsoleto, pues la mujer necesariamente tiene que llegar a tener las mismas obligaciones y derechos que el hombre. La mujer estuvo oprimida y sigue estándolo, pero esa sumisión es un residuo, un hecho residual de anteriores
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Die ökonomische Selbständigkeit läßt sich nur vermuten. Der Autor läßt die Frage, ob sie einen Beruf ausübt oder einfach eine mit pragmatischer Intelligenz ausgestattete Tochter aus gutem Hause ist, unbeantwortet.
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sumisiones. (...) la mujer por sí misma está obteniendo su libertad, porque ya tiene acceso a una gran cantidad de actividades productivas y direccionales".67
Man kann wohl sagen, daß Revueltas das Problem ein wenig unterschätzte. Für die Frauen, die sich aktiv politisch engagierten, war es oft bitter, daß sie von den eigenen Parteigenossen für ihre Bestrebungen keine Unterstützung erwarten konnten. Resigniert mußte eine aktive Kommunistin und Mitglied des "Frente único pro derecho de la mujer" zu der Einsicht gelangen: "Las mujeres revolucionarias militantes del partido Comunista, hemos tenido que combatir más los prejuicios y la discriminación dentro del Partido que afuera con la burguesía".68
Dennoch: Mit der Figur Julia Serranos führt Revueltas einen Frauentypus in den mexikanischen Roman ein, der in mehrfacher Hinsicht einer im patriarchalen Kontext verankerten Erwartungshaltung an die Rolle der Frau widerspricht. Ihr "Bekenntnis" verstößt gegen das ungeschriebene Gesetz, daß die "ideale" Frau jungfräulich bleibt und als mujer ignorante keinerlei sexuelle Erfahrungen vor der Ehe machen darf. Außerdem zählt sie zu den Frauen, die in der Lage sind, vom Mann unabhängig ihre Existenz zu sichern. Natürlich stellt Julia aus heutiger Sicht nicht die Verkörperung der emanzipierten Frau schlechthin dar, aber sie erkämpft sich -wenn auch erst vor sich selbst- das Recht auf eine eigene Sexualität und ein mündiges Leben als "Nichtehefrau" und "Nichtmutter". Ihr innerer Kampf setzt Zeichen für die Herausforderung der Frau, sich von tradierten Rollenzwängen zu befreien.
67
68
Vgl. Revueltas im Interview mit Ignacio Hernández: José Revueltas: balance existencial (1975). In Sáinz 1977: S. 32. Adelina Zendejas, In: Margarita García Flores: S. 35. 1935 schlössen sich Intellektuelle, Katholikinnen, Kommunistinnen sowie Frauen aus dem Volk zusammen und gründeten den "Frente único pro derecho de la mujer" im "Teatro de Hidalgo" in Mexiko Stadt. Ihr oberstes Ziel war, das Wahlrecht für die Frauen zu erkämpfen. Aber bereits drei Jahre nach der Gründung wurde der Frente von der kommunistischen Partei (sie!) aufgelöst.
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Unterstützt wird dieses Anliegen von der Persönlichkeit Rebecas, die ein kleines, aber temperamentvolles Plädoyer für das Recht der Frau auf eine selbstbestimmte Sexualität einlegt, welches im mexikanisch-machistischen Kontext von 1949 noch völlig unerhört war und deshalb bislang wohl auch von der Kritik nicht registriert wurde. Es ist unerhört, weil hier etwas gesagt wird, was es nach damaliger Auffassung gar nicht gab, da Sexualität für die Frau bis dahin mit einem doppelten Tabu belegt war: "De hecho, la separación de lo público y lo privado producía casi el mismo efecto en la sexualidad femenina que el que había tenido el discurso religioso, volviéndola una herejía o algo imposible. En cambio, la vida behemia le permitía al hombre introducirse en el bajo mundo de la promiscuidad sexual. (...) Con frecuencia en los textos literarios la sexualidad sólo se introduce para ser reprimida por el código moral (esto es típico en la novela) o se disfraza mediante eufemismos (lo típico en la poesía) ".69
Rebeca wird lebendig und in diesem Sinne zu einer authentischen Frauenpersönlichkeit, weil sie -wenn auch auf den privaten Bereich begrenzt- ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und eine eigenbestimmte Sexualität behauptet. Erachtet man die Selbständigkeit Rebecas als ein nicht natürliches Verhalten für eine Frau, dann bedeutet sie ein Skandalon und man wird sie leicht als mala mujer abwerten. Schätzt man dagegen ihr selbstbewußtes Auftreten, wird Rebeca zum Gegenentwurf, der jenseits der Stereotypen von mala mujer und mujer abnegada anzusiedeln ist. Dagegen bewirkt die Schilderung des Scheiterns der männlichen Figuren an ihrer eigenen Rollenerwartung eine Dekonstruktion des Männlichkeitsideals. Das Exemplum Fidels macht deutlich, daß ein starres Festhalten am Primat der unumstößlichen Überlegenheit extrem selbstzerstörerische Folgen haben kann. Von der Last seines idealen Glaubens niedergedrückt, bleibt er am Ende als kläglicher Versager zurück.
69
So Franco über die Fiktionalisierung von Sexualität zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Franco 1994: S. 132.
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Bezogen auf das maskuline Paradigma bildet Bautista eine bemerkenswerte Ausnahme. Die Enthüllung verborgener Gefühle und intimer Gedanken, aber auch die Offenlegung seiner Zweifel und Ängste, verstoßen deutlich gegen den Code des macho invulnerable. Bei Bautista treten somit dem schwachen Geschlecht zugeschriebene Eigenschaften zutage. Diese Form der "Verweiblichung" macht ihn aber in einem gewissen Sinne einer Figur wie Fidel überlegen, da sich seine Verunsicherung positiv in eine lebensbejahende Haltung verkehrt, die von der Bereitschaft gekennzeichnet ist, sich mit der Realität zwischenmenschlicher Beziehungen zu konfrontieren. So mag die Figur Bautistas, des verweiblichten Mannes, eine Provokation für jeden "echten" Mann bedeuten, in jedem Falle aber bietet sie eine Chance für eine Neubestimmung des männlichen Ideals. Die (sexuelle) Befreiung der Frau überhaupt zu thematisieren, kann -zwanzig Jahre vor den stürmischen Studentenunruhen- als eine revolutionäres Leistung bezogen auf die offiziellen Moralcodices gewertet werden. Der Liebesakt wird als solcher nicht nur genannt, sondern die Einstellung von Frauen -Julia, Rebeca, aber auch Virginia und Luisa- berücksichtigt und als ihre Willensentscheidung geschildert. Julia, Rebeca, bis zu einem gewissen Maße auch Virginia und Luisa begehren gegen die tradierten Rollenzwänge auf. Sie weisen auf die Möglichkeiten der Emanzipation, die bis heute problematisch bleiben.
4.3.
Drei Diskurse über den Sinn der menschlichen Existenz
Die Exposition führt den Leser in die morgendliche Dämmerung einer Urwaldszenerie. Zunächst ohne Orientierung, begreift er allmählich, daß seine Wahrnehmung durch den beobachtenden Blick des Intellektuellen Gregorio Saldívar geleitet wird, der sich einer Nebelwelt ausgesetzt sieht, die dem Auge
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das Erkennen fest umrissener Konturen verwehrt. Das distanzierte Staunen, das der Intellektuelle in Anbetracht der archaischen Unberührtheit des indianischen Mikrokosmos empfindet, überträgt sich ihm unmittelbar. Die Intensität der Fremdheit läßt ihn glauben, er werde zum Ursprung aller Zeit, zum Anbeginn alles Seins versetzt. Er wird zum Zeugen einer Genesis, die aus Chaos eine neue Ordnung zu gebären verspricht: "En el principio había sido el Caos, mas de pronto aquel lacerante sortilegio se disipó y la vida se hizo. La atroz vida humana" (S. 9). 70
Diese den Roman einleitende Paraphrase des Ersten Buches Mose (Genesis) weist grundlegend auf die philosophische Dimension des Romans. Zurückzukehren zu allem Anfang, um die Welt neu schaffen zu können, lautet scheinbar der Auftrag, der zu Beginn der Lesereise mit auf den Weg gegeben wird. Die zunächst naheliegende Berufung auf die biblische Gewißheit, die auf den göttlichen Willen vertraut, wird jedoch zugleich durch eine befremdlich wirkende Konnotation erschüttert. Während der originale Passus des Alten Testaments bekanntermaßen Gott zum Zentrum des Seins erklärt: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht" (1. Mose 1.),
heißt es hier ausdrücklich: "La atroz vida humana" (siehe oben), um schließlich in den paradigmatischen Satz zu münden: "En el principio había sido el Caos, antes del Hombre, hasta que las voces se escucharon" (S. 9).71
70
71
Siehe dazu auch Janik, der als ein allgemeineres Charakteristikum der von ihm untersuchten Romane:"(...) die von verschiedenen Autoren gestaltete Erfahrung, daß sich angesichts der Ursprünglichkeit der ganz fiir sich seienden Natur ein Gefühl der Nähe zur Genesis, zum Schöpfungsvorgang, einstellt" zusammenfaßt (Janik 1992: S. 133). Hervorhebung durch die Verfasserin.
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Gott bleibt ungenannt. An seiner Stelle rückt der Mensch in den Mittelpunkt des Weltgeschehens: Er ist es, der auf der Erde erscheint und der aufgerufen ist, sich mit seiner eigenen Existenz zu konfrontieren. Die tinieblas, Übergang der Nacht zum Tag, fungieren als Metapher einer Welt vor dem Licht, der Dunkelheit vor der Erkenntnis. Die Vernebelung der Wahrnehmung aktualisiert die Problematik der Wahrheitsfindung angesichts einer unbestimmbaren Seinsverfassung. Die tinieblas fuhren uns auf die Suche nach der Erkenntnis der conditio humana, die unweigerlich mit der Frage der Erkenntnisfähigkeit des Menschen verknüpft ist.
In den Hauptfiguren Gregorio Saldivar, Fidel Serrano und El Tuerto Ventura werden nun grundsätzliche Lebenshaltungen bzw. Glaubenshaltungen aktualisiert. Die Namen erweisen sich dabei als keineswegs zufällig gewählt, sondern als konstituierende Zeichen der ihnen repräsentativ zugewiesenen Lebensrolle. Der Name Gregorio Saldivar weist einmal auf die Legende des heiligen Georg, der um 300 nach Christus einen Märtyrertod starb und zum Vorbild christlicher Tapferkeit avancierte. 72 In ihm wird der Drachentöter verehrt, der durch selbstlose Hilfsbereitschaft und Liebe das Böse durch das Gute überwunden hat. 73 Die Anklänge der Initialen sowie des Vornamens Gregorio Saldivars an
72
Es ist in der Sekundärliteratur mehrfach darauf hingewiesen und belegt worden, daß sich der Autor Revueltas in seiner Jugend intensiv mit Heiligenlegenden beschäftigt
hat. Siehe z.B. Raquel Tibol: La infancia de José según consuelo, In: Revista de Bellas Artes, 29, México 1976, S. 20-24, hier: S. 21. Für Revueltas selbst lag die Bedeutung der Heiligen im wesentlichen in ihrer herausragenden moralischen Vorbildfunktion, wie er in einem Interview mit Elena Poniatowska 1975 betont: "Los santos son tipos morales, pero no son metafísicos, son tipos que por su conducta superaban la mediocridad de su contexto social, histórico, político" (Elena Ponia-
towska: Vivir dignamente en la zozobra (1975). In Sáinz 1977: S. 16). 73
Der Drache gilt in der abendländisch-christlichen Tradition bekanntlich als Metapher für die vielerlei Gestalten des Bösen, Häßlichen, Gemeinen, Unheimlichen und Heimtückischen. Der heilige Georg, Patron der Ritter wird in der katholischen Kirche daher als Ritter mit Schwert und Schild und einem besiegten Drachen zu Füßen abgebildet.
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den Protagonisten Gregor Samsa in Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung (1916) wecken andererseits die Erwartung einer Metamorphose.74 Der Intellektuelle tritt von Anfang an als Außenstehender, als Beobachter der Geschehnisse auf. Tatsächlich wird durch seine physisch-räumliche Abgrenzung von der Gemeinschaft der Popolucas ein Prozeß geistiger Reflexion ausgelöst, der ihn schließlich zum Begreifen der Wahrheit jenseits der unmittelbaren Realität des Menschen fuhren soll. Während Gregorio Saldívar sich dergestalt nun als Prinzip der Wandlung verstehen läßt, so verkörpern El Tuerto Ventura und Fidel Serrano im Kontrast dazu das Prinzip der Unveränderlichkeit. Der bildhafte Name des charismatischen Führers der Indianer Ventura läßt sich ins Deutsche mit Glück, glückliches Ereignis, Glücksfall aber auch Wagnis übertragen, während Tuerto = "der Einäugige" auf die Außergewöhnlichkeit seiner Erscheinung und Persönlichkeit anspielt. Die Verstümmelung Venturas -er verlor in der Kindheit ein Auge und einen Arm-, die ihn zum Außenseiter hätte degradieren können, bestimmte ihn im Gegenteil zu einem Leben als Auserwählter, wie ihm seine Mutter prophezeit hatte: "(...) tu verás más que los que tienen dos ojos, tu verás las cosas que no se ven" (S. 78). Er sollte den besonderen Schutz der Heiligen genießen.75 Das hervorstechende Merkmal Venturas, sein zyklopenhaft wirken-
74
75
Die hier angenommene Anleihe an Kafkas Erzählung von der Verwandlung Gregor Samsas bleibt -wie sich im Verlaufe der Lektüre zeigt- auf das wesentliche Phänomen der Metamorphose reduziert, da sich das literarische Vorbild ja mit seiner Vertierung abfindet. Der Sinn seiner unfreiwilligen Verwandlung vom Ernährer zur Bürde der Familie bleibt ihm ein Rätsel. Seine Verwandlung gerät zur Mahnung vor einer Welt, die im Streben nach materiellen Gütern keine Zeit zur echten Begegnung mit Menschen findet und in Verdinglichung zu erstarren droht. Als mögliche literarische Vorlage für Revueltas ist aber auch an Fjodor Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow (1850) zu denken, der von einer Metamorphose seelischer und geistiger Erneuerung erzählt. Dagegen ist die körperliche Ungestaltheit in vielen Kurzgeschichten Revueltas' und auch in seinem vorletzten Roman Los errores Ausdruck eines oftmals aufgrund äußerer Zwänge entfremdeten und deformierten Charakters. Auf die vielfältigen
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des Auge, signalisiert seine allgegenwärtige, sorgsame Wachsamkeit, die sogleich an die Omnipräsenz und Allwissenheit des biblischen Gottes, die im magischen Dreieck repräsentiert sind, denken läßt. In eine andere Richtung weist dagegen die Namengebung des kommunistischen Parteiführers Fidel Serrano. Fidel wäre mit Treue, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, aber auch treue Wiedergabe zu übersetzen, die -wie noch darzulegen ist- den buchstabengetreuen Adepten der kommunistischen Doktrin treffend benennt. Zugleich evoziert Serrano -wörtlich Ubersetzt: Bergbewohner- die Abgeschiedenheit und Verlassenheit der Sierra. Fidel Serrano, das ist der einsame Rufer auf einem Berggipfel, der ihn der Menschen enthebt.
4.3.1. Das Sein in göttlicher Glaubensgewißheit: el dios antiguo Die Popolucas leben in der Einheit von Religiosität und kultureller Lebenspraxis. Sie repräsentieren den Idealfall einer mythisch-magischen Welt, eines geschlossenen Ganzen, das innere Relationen aufweist, die dem Einzelnen seinen unentfremdeten Platz zuweisen. Gleichsam zurückversetzt zu einem paradiesischen Ursprung, treffen wir auf Menschen im Zustand mythologischer Reinheit. Wir erleben eine Welt, die gewissermaßen noch vor dem Sündenfall steht. Dennoch finden wir sowohl Glaubenszeichen christlichen als auch indigenen
Ursprungs,
die
hier
zu
einer
synkretistischen
Glaubenspraxis
verschmolzen scheinen und die die widersprüchliche Geschichte Mexikos lebendig werden lassen. Die Gemeinschaft der Popolucas ist durch einen unbedingten Gemeinschaftssinn der einzelnen Glieder gekennzeichnet. Sie erinnert an die von den Zapatisten wiederentdeckte Lebensform der Indianer, das symbolischen Konnotationen, die das "Auge" in der Prosa Revueltas erfährt, werde ich bei der Analyse von El apando abermals zurückkommen.
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calpulli, das sowohl das Vorbild einer christlichen Urgemeinde als auch das kommunistische Ideal menschlicher Solidarität in idealer Weise verwirklicht: "México no se concibe como un futuro que realizar, sino como un regreso a los orígenes. El radicalismo de la Revolución mexicana consiste en su originalidad, esto es, en volver a nuestra raíz, único fundamento de nuestras instituciones. Al hacer del calpulli el elemento básico de nuestra organización económica y social, el zapatismo no sólo rescataba la parte válida de la tradición colonial, sino que afirmaba que toda construcción política de veras fecunda debería partir de la porción más antigua, estable y duradera de nuestra nación: el pasado indígena".76
Das Leben im Dorf ist durch ritualisierte alltagspraktische und religiöse Handlungen geprägt. Die gemeinschaftliche Bewerkstelligung der Fischjagd suggeriert die Synthese erfahrbarer indianischer Lebenswirklichkeit mit der im Neuen Testament verbürgten Wundertätigkeit Christi. Die anschließende Verteilung der Beute gerät zu einem symbolischen Akt, in dessen Mittelpunkt der Führer Ventura steht. Er gleicht Christus, wenn er seine Gefolgschaft eindringlich ermahnt: "Hemos de dividirnos entre todos (...) todo lo que sale del río, porque el río pertenece a todos" (S. 20-21), und schließlich Gregorio, "que no sabe cometer injusticias" (S. 24), auffordert, die Verteilung der Fische zu Ubernehmen, denn keiner solle vergessen werden oder sich zurückgesetzt fühlen. Deutlich bedeutet die Geste Venturas gegenüber Gregorio mehr als ein bloßes Zeichen der Gastfreundschaft. Die Aufforderung weiht Gregorio zum "Jünger", der nun im Auftrag des Auserwählten handelt. Die unmittelbare Teilhabe am Ritus signalisiert seine Aufnahme in die indianische Gemeinschaft. Dieser Augenblick löscht die Vergangenheit, "su buen muerto pasado" (S. 27), des einst unbekümmerten Absolventen der Kunstakademie und jetzigen aktiven Mitglieds des P.C.M. Gregorio gerät zunehmend in den Bann der Anziehungskraft dieser vorrationalen, atavistischen Ordnung und der Magie Venturas: "Siempre su tenebroso humus de enigmas y profecías que era como la fuente nutricia de ese poder ante cuyo imperio Gregorio comenzaba a doblegarse sin remedio" (S. 75).
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Ventura spiegelt den Geist religiöser Wirklichkeit des mexikanischen Volkes. In ihm inkarniert seine nicht hinterfragte Glaubensgewißheit an eine göttliche Ordnung, in die es sich fügt. Er erscheint als fleischgewordene mexikanische Variante biblischer Patriarchen, die von Gott auserwählt wurden, um über die Geschicke ihrer Völker zu wachen: "(...) la misma actitud de grávido misterio que adoptan todos los jefes de tribu, la misma con que Moisés se habrá alejado de sus hombres para oír en el Sinaí los mandamientos de la Ley de Dios: »...y volvía Moisés a poner el velo sobre su rostro, hasta que entraba a hablar con Él...«" (S. 27). Auf der Suche nach kosmischem Schutz und Geborgenheit binden die Indianer ihre Hoffnung an den von Gott Gezeichneten. Fernab der römisch-katholischen Kirche vertrauen sie ihrem heilsbringenden santo donador, unter dessen Vorbild sie sich solidarisch zusammenschließen: "El 'santo donador' es el mismo pueblo (...) que genera en su seno a los héroes y santos y alcanza prácticamente su objeto (...): el don o el milagro es que el mismo pueblo se torna protagonista de la historia".77 Ventura stammt aus dem Volk, das sich in ihm reflektiert findet und ihn auserwählt, um sich ihm bedingungslos anzuvertrauen: "Muy pegado a la tierra, muy existente, muy sólido, no podía estar más lejos de lo que se concibe como una figura mítica o legendaria, pero tal vez la circunstancia de no haber muerto a pesar de tantos azares, o el hecho, cuando menos aparente, de que buscara en todo tiempo la ocasión de morir, hacía que las gentes, con algo así como una amorosa superstición, le otorgaran cierta potestad de taumaturgo, de sacerdote, de jefe, de patriarca" (S. 17). Er vereint in sich die Größe eines Caudillos
und die eines Propheten,
eine "wilde", von "Instinkten" geleitete Lebensweise, die ihn in machistischer
76 77
Paz 1989: S. 130. Dussel 1988: S. 18. Dussel verweist darauf, daß der Prophet in der Volksreligion gleichermaßen angesehen neben dem Schamanen steht. Da er selbst Teil des Volkes ist -im Gegensatz z.B. zu den Heiligen- fühlt sich dieses ihm ganz verbunden.
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Todesverachtung unzählige Gefahren bestehen läßt, mit dem spirituellen Weitblick des Schamanen. Er verkörpert eine Macht, die weit über den gegebenen Zeitbezug hinausweist, da sie aus der Vergangenheit, der Geschichte Mexikos, erwächst: "A la luz de las hogueras el rostro del Tuerto Ventura era visible en toda su inesperada y extraordinaria magnitud. Hombres con ese rostro habían gobernado al país desde tiempos inmemoriales, desde los tiempos de Tenoch. Sus rasgos mostraban algo impersonal y al mismo tiempo muy propio y consciente. Primero como si fuesen heredados de todos los caudillos y caciques anteriores, pero un poco más de las piedras y los árboles, como tal ver, (...) debió ser en los rostros de Acamapichtli o Maxtla, de Morelos o de Juárez, que eran rostros no humanos del todo, no vivos del todo, no del todo nacidos de mujer; como de cuero, como de tierra, como de Historia" (S. 16-17). Die unter Berufung auf legendäre Führer wie Acamapichtli oder Benito Juárez nahegelegte historische Kontinuität zurück bis zu den indianischen Wurzeln der Nation, erhöht in geradezu mythischer Weise seine Gestalt.78 Die Zeichen einer vergangenen Welt legitimieren die Faszination seiner Wirkungsmacht. Es sind die Zeichen einer Welt, die in der Einheit des Glaubens geborgen ist. Die hier geschilderte Religiösität ist Ausdruck der Lebenshaltung des Autors, Erzählers und der Person José Revueltas, der Religion in einem umfassenden Sinne begreift: "(...) tomamos la acepción de religión en un sentido más amplio: religare: unir, unir al ser genérico que es la humanidad. Tu trasladas la religión a las relaciones humanas y te da una especie de solución, no una solución absoluta puesto que la religión se encadena a la cotidiana idea y entonces crea el mito (...). Así vas despejando el panorama, despejando tu concepción del mundo sin poder llegar a la esencia de la verdad porque es inalcanzable. Sólo tienes verdades provisionales, pero la verdad absoluta sería Dios".79 Wenn aber Gott nun die absolute Wahrheit verkörpert, so kann die Allmacht des einäugigen Ventura nur die eines deformierten Gottes sein: "Un dios mu78
Acamapichtli war ein aztekischer König. Benito Juárez war der erste Präsident indianischer Abstammung nach der Unabhängkeit.
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tilado, un dios derrotado, que no podía ofrecer otra cosa que la piedra secular de la muerte" (S. 20). Sein blindes Auge deutet auf die dem Menschen eigene Blindheit: die Begrenzung seiner Erkenntnisfähigkeit. Die Kehrseite der Glaubenswelt, ihre Brüchigkeit, tritt denn auch zutage, als das beschauliche Treiben der Fischer jäh durch unheimliche Bewegungen im Ruß gestört wird. Abermals bestätigt sich die Allmacht des Tuerto, dessen okkulte Sinne die Geheimnisse der Nacht zu durchdringen vermögen, die den gewöhnlichen Menschen verborgen bleiben müssen. Er ist es, der furchtlos und unbeirrbar dem Unbekannten begegnet, während seine Gefolgschaft in abergläubischer Angst verharrt. Er ist es, der den Leichnam in der Furt "entdeckt", dessen Identität sich seinem sehenden (blinden) Auge enthüllt, noch bevor er ihn erblickt: "Yo ya estaba enterado (...) pero quise esperarme a que lo miraran ustedes con sus ojos: el difunto no es otro que Macario Mendoza" (S. 81), und er kann scheinbar mühelos die Gedanken Gregorios lesen, denn er nimmt sie auf und erwidert ihm seinerseits ohne zu sprechen: '"Tú también ya lo sabes -pensó a propósito de quién era el muerto- Pero lo que más te extraña es que yo lo haya sabido desde mucho antes', y sentía un enorme gozo, pues la inquietud de Gregorio no era sino el reconocimiento de que él, Ventura, fuese un ser superior que veía más allá de las cosas, 'que veía lo que no se ve"' (S. 78).
Trotz aller rationaler Anstrengungen vermag der skeptische Gregorio das Geheimnis Venturas nicht zu ergründen. Sein Glaube an die Vernunft ist zerbrochen. Er erliegt der Allmacht des ihm wohlgesonnenen Tuerto, der auch seinem Leben mit großem Einfühlungsvermögen begegnet, und erkennt in ihm: "El dios antiguo que todo lo contemplaba, que todo lo penetraba. Gregorio no se había equivocado" (S. 94). 80 79
80
Revueltas im Interview mit Elena Poniatowska: Vivir dignamente en la zozobra (1975). In Sáinz 1977: S. 16. Beispielsweise als Ventura seine Besorgnis darüber zum Ausdruck bringt, daß Gregorio von seinen Genossen für den Tod von Mendoza zur Verantwortung gezogen werden wird.
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Der Leser aber wird Zeuge der Entmythifizierung des Allwissenden, da zu einem späteren Zeitpunkt aus der Retrospektive erkennbar wird, daß die Prostituierte Epifanía Ventura den Mord an Macario Mendoza 'S. 94) längst eingestanden hatte. Nimmt man dies zur Kenntnis, wird die legendäre Gestalt durchschaubar. Der Indianerführer kennt die Erwartungen, die sein Volk in ihn setzt. Er akzeptiert und entspricht der ihm zugedachten Rolle. Durch seine bewußte Haltung schafft und affirmiert er die Glaubensrealität eines Lebens im Mythos. Die außergewöhnliche Macht des Tuerto beruht nicht allein auf den ihm gegebenen magischen Kräften, sondern gewinnt ihre Energie aus dem Wechselspiel mit einer den Glaubensbedürfnissen der Menschen geschuldeten Notwendigkeit: "(...) quizá para acrecentar ese humus de su liturgia de donde se alimentaba el desamparo de aquellas gentes, que, a falta de otro pan de esperanza, sólo tenían una especie de nostálgico deseo de algún dios, fuese éste como fuese" (S. 76).
Die Preisgabe der Identität des Toten, des von allen gehaßten und gefiirchteten Polizeichefs Macario Mendoza, wird von den Fischern mit Genugtuung zur Kenntnis genommen: "La satisfacción de todos por la muerte del odiado jefe de la Guardias Blancas se palpaba en el aire" (S. 81). Angesichts dieser Reaktion verweben sich vor dem inneren Auge Gregorios die Zeit- und Raumdimensionen der synkretistischen Glaubensform der Popolucas im veracruzanischen Urwald und des mittelalterlich katholischen Spaniens. In den im Widerschein des Feuers nur schemenhaft wahrnehmbaren Gestalten der Fischer wird für ihn eine mystisch-mythische Dimension der Bilder El Grecos lebendig.81 Die Ber-
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El Greco wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der expressionistischen Bewegung wiederentdeckt, die ihn zu ihrem Stammvater erklärt. Er gilt ihr als: "Inbegriff der spirituellen Malerei, die sich von den Fesseln der Naturnachahmung gelöst hatte" (Karge 1991: S. 16). Andererseits strebt sie wie er nach einer Vereinfachung und Steigerung der Ausdrucksformen, einer neuen Rhythmik und Farbigkeit, nach dekorativer Gestaltung (Karge ebd.).
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gung des Leichnams evoziert das Hauptwerk des Malers: Entierro del Conde de Orgaz (1586-88). Dieses geht auf eine Legende aus dem 14. Jahrhundert zurück, die erzählt, daß der wohltätige Graf damit belohnt wurde, daß die Heiligen Stephan und Augustin erschienen und ihn ins Grab legten.82 Durch die zunächst befremdend wirkende Analogsetzung mit diesem Gemälde wird deutlich ein Element der Glaubenshaltung der Popolucas reflektiert, das auch den katholischen Glauben kennzeichnet: die Hoffnung, durch mildtätige Barmherzigkeit zur Seligkeit zu gelangen. Der mittelalterliche Mensch handelt in der Hoffnung, daß sein Verhalten Gott wohlgefällig sei und daher belohnt werde. Ebenso betreiben die Popolucas ihr gottgefälliges Tun (das Fischen) nicht gänzlich ohne eigennützige Hintergedanken. Mit dem Erlös des gemeinsam erbrachten Fanges wollen sie auf den Markt von Acayucan zu der Schutzheiligen des Dorfes, der Jungfrau Virgen del Carmen, pilgern, um dieser Opfergaben darzubringen. "Lo contenta que se va a poner nuestra Señora de Catemaco! (...) Lo contenta que se va a poner, sí, gracias a Dios! (...) Porque el río pertenece a todos. Porque el río pertenece a nuestra Señora de Catemaco" (S. 21).
Der Anstrengung der Indianer liegt die tiefe Sehnsucht zugrunde, ihre Heilige und Gott gnädig zu stimmen: "Ésa era la razón de su codicia y de que, a pesar de las disposiciones en contrario de la Liga Regional Campesina, los pueblos de las márgenes del Ozuluapan accediesen a embarbascar el río, su río, del que la Revolución, junto con la tierra, les había dado el usufructo. Codicia cristiana. Ardiente deseo de tener contento a Dios Nuestro Señor" (S. 21).
Die Überzeugung der Popolucas, daß sie sich die Gunst ihres Gottes, ihrer Götter und ihrer Heiligen immer wieder aufs Neue erwerben müssen, ist eine Haltung, die im übrigen allgemein die lateinamerikanische bzw. mexikanische Volksfrömmigkeit kennzeichnet. Das Volk lebt in der Überzeugung, daß die: "(...) Götter der den Menschen umgebenden Natur immanent [sind]. Sie müssen 82
Vgl. Scholz-Hänsel 1991: S. 73. In Karge 1991.
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günstig gestimmt werden, um drohendes Unheil (Naturkatastrophen) abzuwenden".83 Nicht die Uneigennützigkeit des Gebots der christlichen Gottes- und Nächstenliebe, das keine Belohnung verspricht, sondern das eigene Wohlergehen nach dem Tode wird als eigentliche Triebkraft des Handelns bloßgestellt. In der offenkundigen Genugtuung der Indianer Uber den fremden Tod werde, so jedenfalls die Interpretation Gregorios, dieselbe Form von Heuchelei und Scheinheiligkeit erkennbar, die der spanische Mystiker denunziert habe. Es enthüllt sich ihm eine verleugnete Wahrheit des Glaubens: In der Freude Uber den Tod eines anderen kommt die Furcht vor dem eigenen Tod zum Ausdruck, und damit die Angst davor, daß das eigene Leben und Leiden vergeblich gewesen sein könnten: "La misma mezcla secreta e impúdica de reprimido goce, de disimulada hipocresía, de miedo a la muerte y de tranquilidad por no tratarse de la muerte propia (...)" (S. 81).
Gregorio muß bekennen, daß auch er das in ihm aufsteigende Gefühl der Befriedigung über den Tod seines größten Feindes kaum zu unterdrücken vermag. Der Polizeichef, der ihm im Auftrag der Großgrundbesitzer aufgelauert hatte, um ihn zu töten, liegt nun selbst vom Tod entstellt vor ihm. Verzweifelt versucht er, sich des sich einstellenden Hochgefühls des Triumphes zu erwehren: "(...) por no sentir, junto con los demás, que también sentirían lo mismo, esa dulzura innoble, esa emboscada sensación de triunfo dentro del corazón (...)" (S. 85). Er muß sich jedoch eingestehen, daß er diesem menschlichen Zug in ihm nicht Herr werden kann, ja, daß er sich Uber den Tod des Feindes freut. Gregorio ahnt, daß auch er einen Teil der Schuld am Tod Mendozas trägt, die sich aber im Bewußtsein einer kollektiven Erfahrung auflöst: "(...) pero de pronto ese mismo carácter común que nos hermana en el delito, al hacernos iguales a los demás delincuentes, parece absolvernos de la individualidad y la responsabilidad de nuestro pecado, (...), esto se compensa con el consuelo de que
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Vgl. Lustig 1989: S. 10.
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no somos peores ni mejores que el resto, de tal modo que asi nuestra culpa termina por disiparse casi sin dejar huella alguna de remordimiento (...)" (S. 85).
Das Eintauchen des Einzelnen in die Gemeinschaft lockt, denn es verspricht, ihn aus seiner individuellen Verantwortlichkeit zu befreien. Da er aber ihre geheimen Mechanismen erfaßt hat, widersteht er der Versuchung, seine Individualität preiszugeben und sein Ich dem Kollektiv zu überantworten. Gregorio will sich seiner Verantwortung als einzelner Mensch nicht entziehen. In dieser Hinsicht kann El Greco, der griechische Mystiker, als Vorbild begriffen werden, dem, auch wenn er religiöses Entzücken in einer entrückten Atmosphäre einprägsam zu gestalten wußte, das Bekenntnis zum christlichen Glauben als Frage der Erkenntnis- und Entscheidungsfähigkeit des Menschen galt. Dem konfessionellen Absolutheitsanspruch der Kirche begegnete er mit dem Anspruch an den Einzelnen, daß er sein Gewissen prüfen muß, um zum wahren Glauben zu gelangen.84 El Greco, der sich von naturalistischen Darstellungsformen der traditionellen Kirchenmalerei distanzierte, suchte in seinen Bildern, die Essenz der Dinge zu begreifen.85 Er weist auf eine Erkenntnissehnsucht, die das Sichtbare der menschlichen Existenz transzendiert. Gregorio, der moderne Ritter und Drachentöter, wird dem Streben nach Erkenntnis sein Leben widmen.
84
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Seine Bilder verweigern die bedingungslose Verehrung der dargestellten Heiligen. Beispielsweise rückt er bei der Gestaltung des Martyriums des Heiligen Mauritius dessen Gewissensentscheidung in den Vordergrund, während die überkommene Kirchenmalerei dem Martyrium die zentrale Bedeutung zuweist. Siehe dazu und zur allgemeinen Bedeutung Grecos Scholz-Hänsel, Michael: Vom Escorial nach Toledo: El Greco und die manieristische Malerei. In Karge 1991, S. 64-83. Hier: S. 65. Es sei hierzu noch angemerkt, daß auch die Kunst der präkolumbinen Völker, wie Westheim betont, danach strebte, die Essenz des Daseins zu erfassen: "Man muß sich bewußt sein, daß die altmexikanische Kunst nicht Objekte und bestimmte Ereignisse darzustellen hat, sie hat Ideen, Begriffen und übersinnlichen Vorstellungen Ausdruck zu geben. Der präcortezianische Künstler interessiert sich nicht für die äußere Erscheinung der Dinge; er fragt nach dem Sinn, der hinter der äußeren Erscheinung verborgen ist" (Westheim 1964: S. 14).
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Die christlichen Vorzeichen der Welt der Popolucas
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Ausdruck religiösen Empfindens, das sein Heil in der Transzendenz sucht, gewertet werden. Die utopische Szenerie, komponiert aus Zitaten der Genesis, der rituellen Verteilung des Fisches und die Evokation eines mittelalterlichen Begräbnisses dienen zur Vermittlung eines bestimmten Menschen- bzw. Gesellschaftsbildes. Die christliche Symbolik erscheint funktionalisiert, um die Wirkungsweisen einer spezifischen Glaubenshaltung bzw. Glaubensgewißheit gleichermaßen zu bestimmen und in Frage zu stellen. Der Indianer, der Gläubige, der Mensch, so gibt der Roman hier zu verstehen, ist bestrebt, das Wohlgefallen Gottes, der Heiligen oder der alten Götter zu erlangen, um sich so im Kosmos aufgehoben und geborgen zu wissen. Diese Sehnsucht bestimmt den "reinen" mittelalterlich-christlichen und den synkretistisch-mythischen bzw. Naturglauben gleichermaßen. Damit wird auch eine prinzipielle Verschiedenheit oder gar die Überlegenheit des einen Glaubens über den anderen, ausgeschlossen. So wie Ventura notwendig seine Position im Leben dieses indianischen Volkes einnimmt, entspricht Gott dem Sehnen der Menschen. Der Glaube erscheint als ontologische Notwendigkeit. Gott ist die Antwort, die der Mensch gibt, auf die Frage nach dem Sinn der Existenz.
Es wird deuüich, daß man sich ob des biblischen Fluidums auch von Los días terrenales
nicht täuschen lassen darf. Revueltas bleibt seiner fundamentalen
Überzeugung des atheistischen Marxisten auch in seinem literarischen Werk treu: " Y repito lo que dice Feuerbach en su Esencia del cristianismo: Dios no ha creado al hombre, sino que los hombres son quienes han creado a Dios'. Dios es una entidad social e histórica, y además ideológica, expresada en la religión, no puede prescindirse de ella. Rige social e históricamente las relaciones entre los hombres y,
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por lo tanto, no puede prescindirse de esta entidad, bien se crea en ella o no se crea".86
Am Anfang war und ist der Mensch, und er schafft sich die Welt. Gott ist nicht der Schöpfer der Menschen, sondern ihr Geschöpf. Der mutilierte Ventura repräsentiert eine nur "unvollkommene" Wahrheit. Der indigen-christlich-kommunistische Paradiesgarten ist ein verlorener Garten Eden. Er ist ein im Diesseits angesiedelter paraíso terrenal, der fehlbar ist. Die-
se irdische Gebundenheit, die bereits im Titel zum Ausdruck gebracht wird, charakterisiert sowohl die politische Haltung der Person als auch das gesamte literarische Werk des Autors. Revueltas konzentriert sich in seinem Handeln und Schaffen auf die irdischen Tage. Dies ist zugleich Auftrag und Vollendung seines Lebens, wie er auch in einem Interview zu verstehen gibt: "Yo hubiera querido denominar a toda mi obra Los días terrenales. A excepción tal vez de los cuentos, toda mi novelística se podría agrupar bajo el denominativo común de Los días terrenales, con sus diferentes nombres: El luto humano, Los muros de agua, etcétera".87
86
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Revueltas im Interview mit Gustavo Sáinz: La última entrevista con Revueltas (1976). In Sáinz 1977: S. 11. Revueltas im Interview mit Margarita García Flores: Diorama de la Cultura. Excélsior, 16 de abril de 1972. Zu diesem Zeitpunkt ist das literarische Werk bis auf die Sammlung Material de los sueños (1974) praktisch abgeschlossen.
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4.3.2. Das Sein in säkularisierter Glaubensgewißheit: una máquina de creer Der Roman provozierte bei seiner Publikation auf der außerliterarischen Ebene vor allem im öffentlich-politischen Feld der linksgerichteten Parteien Mexikos.88 Wenn Revueltas sich eine provokatorische Wirkung erhofft hatte, so wurde er doch von der Heftigkeit der Reaktionen geradezu überrollt. Während sich der mexikanischen Rechten -damit ist hier die nunmehr etablierte, bürgerlich-konservative, antisowjetisch orientierte Institutionalisierte Revolutionspartei gemeint- eine willkommene Gelegenheit bot, um gegen die "rote Gefahr" zu Felde zu ziehen, sah die Linke ihrerseit die Ideale der Partei verraten. Der mexikanische Kritiker Torres M. resümiert das politisch-ideologische Gefecht, bei dem der Autor zwischen alle Fronten geriet: terrenos no literarios, en juicios públicos de carácter político donde tanto la izqierda como la derecha quisieron sacar provecho: la derecha oficial pone los vicios comunistas consignados en el libro como muestra de la degeneración del P.C.M.; los seudomarxistas mexicanos lo acusan de revisionista y de instrumento de la burguesía por la crítica demoledora que hace de la estalinización del P.C.M. ".89 88
89
Die politische Dimension des Romans führte zu heftigen Debatten, die von verschiedenen Kritikern ausführlich nachvollzogen wurden. Daher werde ich mich auf einige im Zusammenhang dieser Arbeit wesentliche Aspekte beschränken. Vgl. zur Analyse der politischen Dimension ausfuhrlich beispielsweise bei Torres M. das Kapitel La literatura deextravio. In Torres M. 1985: S. 58-78. Oder bei Revueltas, Eugenia: José Revueltas en el banquillo de los acusados. In Revueltas, E. 1987: S. 38-47. Torres M. 1985: S. 59. Die Kritik seitens der Linken erfolgte durch ihre damals wichtigsten Repräsentanten: Vicente Lombardo Toledano und Enrique Ramirez y Ramirez. Letzterer schrieb einen Essay mit dem bezeichnenden Titel: Una literatura de extravio, in dem er Revueltas beschuldigt, ins bürgerliche Lager gewechselt zu haben. Diesem Bürgertum unterstellt er eine "existentialistische" Philosophie, die er als Rückschritt zum Irrationalismus und als Ausdruck erbitterten Individualismus begreift (Vgl. dazu Torres M. 1985: S. 73). Aus marxistischer Sicht stellt die Existentialphilosophie eine Weltanschauung dar, die jegliches Bemühen um Veränderung, und damit a priori jede politische Aktion als illusorisch verunglimpft und zum Scheitern verurteilt. Auch gilt es zu bedenken, daß Ramirez y Ramirez Literatur im Sinne des realismo socialista als blankes Abbild der Realität versteht. Aus der Perspektive seines marxistisch-teleologischen Glaubenssystems mußte er die Romanwelten Revueltas' ablehnen: "Por no observar con ojos claros la realidad,
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[el autor] da de ella un reflejo equívoco, muerto y estacionario. Y no pudiendo, o no queriendo, reflejar la marcha progresiva de la realidad mexicana, del hombre mexicano, le ofrece como única perspectiva la del hombre solo y desesperanzado: la angustia perenne y la destrucción implacable" (Ramírez y Ramírez, Enrique. In Revueltas, José: Cuestionamientos e intenciones. Sobre mi obra literaria. In O.C. 18: S. 45). Um seine Position klarzustellen, veröffentlicht Revueltas 1950 das Theaterstück El cuadrante de la soledad. Er erzielt jedoch gerade eine gegenteilige Wirkung. Aufgrund der Vehemenz der Reaktionen seiner Genossen, beschließt Revueltas, das Buch aus dem Handel zu nehmen. Rückblickend dazu befragt, äußert er, er habe vorbeugen wollen, von der Reaktion einverleibt zu werden: "Como el ataque de los marxistas era muy violento, la reacción guardaba silencio, esperando que yo fuera a entregarme, puesto que me estaban considerando como suyo. Pero para mostrar que se confundían y evitar equívocos, retiré mis obras de la circulación. No abdiqué. El propósito que me hice fue el de estudiarme a mi mismo, lo cual me resultó muy bueno, porque me volví más antiestalinista y más antidogmático" (Interview mit Josefina Tejera: Literatura y dialéctica (1968). In Sáinz 1977: S. 80). Tatsächlich zog sich Revueltas enttäuscht und literarisch verunsichert zurück, um seine Rolle als Autor neu zu überdenken. Es folgte ein Jahrzehnt, in dem er um Aussöhnung mit der Partei bemüht war. Zeugnis davon ist seine 1956 vor dem Comité Central des P.C.M. anläßlich seines Wiedereintritts in die Partei gehaltene Rede, in der er öffentlich Selbstkritik übt. Er bekennt seine Irrtümer, und bezichtigt sich selbst der literarischen und moralischen Verfehlung: "Los días terrenales parten de una consideración negativa, antidialéctica, anti-marxista, que es la de considerar al hombre como un ser sin finalidad alguna sobre la tierra. Los días terrenales juzgan al hombre valiéndose de la misma medida con que se juzga a los demás fenómenos de la naturaleza, es decir, como si el hombre fuera una entidad inconsciente. Aquí radica el error básico, mecanista, que me hizo caer de lleno en una filosofía reaccionaria y pintar un mundo falso, de seres abyectos, deshumanizados, extravagantes, enfermos moral y físicamente, para quienes no hay ninguna salida, fuera del suicidio. Es lógico que una novela semejante no tenga otro resultado que un efecto desmoralizador y que no tienda -de igual modo que la literatura decadente actual, que es inspirada por el imperialismo y sufragada por él- sino a desarmar al proletariado, calumniar a los comunistas y a predicar la disolución y quiebra de todos los valores" (José Revueltas: Declaración política ante el Comité Central del P.C.M., Februar 1956. Hier zitiert nach Mauricio de la Selva: Diálogos con América. "José Revueltas", S. 117. México: Cuadernos Americanos, 1964, S. 111-117.). Zeugnis davon sind aber auch der traditionell geschriebene und völlig auf Parteilinie liegende Roman En algún valle de lágrimas (1956), wo das kapitalistische Böse in Gestalt eines Pfandleihers sein Unwesen treibt, und der literarisch innovative Roman Los motivos de Caín (1957), der der Bestialität imperialer US-Politik den wahren, heroischen kommunistischen Menschen gegenüberstellt. In dem Essay El realismo en el arte macht Revueltas sich zur selben Zeit zum Fürsprecher des realismo socialista, auch wenn er einschränkt, daß man in seinem Sinne nur dann überzeugend schreiben könne, wenn man selbst absolut von ihm überzeugt sei. Dagegen betont er in Escuela mexicana de pintura y novela de la Revolución (In O.C. 18: S. 241-274), daß die Schönfärberei des realis-
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Es kann nicht bestritten werden, daß Revueltas in den 40er Jahren der Entwicklung der Kommunistischen Partei im hohen Maße skeptisch, wenn nicht sogar ablehnend gegenüberstand, was sich beispielsweise auch in dem bereits erwähnten Ausschluß aus der Partei 1943 manifestierte. Die unbeirrbare Ausrichtung auf Vorgaben sowjetischer Provenienz und die Beschlüsse der III. Internationale90 formten aus dem mexikanischen P.C.M. einen doktrinär stalinistischen Ableger, den eine eigentümliche Blindheit gegenüber den Belangen mexikanischer Lebenswirklichkeit im allgemeinen und den Bedürfnissen der mexikanischen Arbeiterschaft im Besonderen kennzeichnete. 91 Da er selbst durch die Auseinandersetzung mit den Schriften des peruanischen Theoretikers
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mo socialista, sich als perversión burguesa del marxismo selbst desavouiere. Bald darauf ändert er jedoch seine Position vollkommen. In dem erstmals 1958 publizierten Essay La disyuntiva histórica del Partido Comunista Mexicano (O.C. 13:, S. 1174) konstatiert er, daß die Partei keineswegs die Arbeiterklasse repräsentiere, und fordert ihre Veränderung oder gar Auflösung. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich nebenbei bemerkt mit Sartre vertraut gemacht und bedient sich hier sogar seines Begriffsinstrumentariums: "El Partido Comunista en sí, era la conciencia organizada y la vanguardia política; la faltaba convertirse en la vanguardia para sí, o sea, transformarse de una cosa en sí, en una cosa para sf (O.C. 13: S. 19). 1962 findet er in Ensayo sobre un proletariado sin cabeza (O.C. 17) zu jener kritischen Position gegenüber der Partei zurück, die sich mit dem Stichwort "historische Inexistenz des P.C.M." zusammenfassen läßt. Eine Folge davon ist der abermalige Ausschluß aus der Partei. Die Kommunistische Internationale (KI) oder auch Dritte Internationale, im März 1919 gegründet, operierte als straff organisierte Weltpartei mit nationalen Sektionen. Unter Stalin (ParteiVorsitz 1924-53) verstärkte sich die Abhängigkeit von der KPdSU. Revueltas selbst reiste 1935 nach Moskau, um am VL Weltkongreß der Internationalen teilzunehmen. Die Begegnung mit dem antistalinistisch agierenden Evelio Vadillo, einem Kameraden von den Islas Marias, verändert das politische Denken Revueltas' nachhaltig. In Los errores setzt er ihm in der Gestalt Emilio Padillas ein Denkmal. So äußert sich Revueltas auch zwanzig Jahre später im Interview mit Luis Mario Schneider: "El mundo de Los días terrenales es el de la contradicción entre los comunistas, como individuos, y un partido extraño a la realidad del país y que no logra adecuarse a dicha realidad, sino que la malentiende y se aparta - o está ya divorciado de lo que pude ser en México un partido marxista-leninista tal como lo concibe la teoría y como existe en otros países" (Revueltas im Interview mit Luis Mario Schneider: Revive la polémica sobre José Revueltas (1962). In Sáinz 1977: S. 95).
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Mariátegui92 zu der Überzeugung gekommen war, der Marxismus müsse den Gegebenheiten eines Landes entsprechend umgesetzt werden, sah sich Revueltas um so dringlicher herausgefordert, der Perversion marxistischer Ideale unter Stalin bzw. des stalinisierten P.C.M. zu einem alles erstickenden Dogma zu begegnen.93 Die Verurteilung dieser Entwicklung des P.C.M. im Roman ist unübersehbar, aber dennoch vielschichtiger als die politische Kontroverse zunächst vermuten läßt, die lange Zeit den Blick auf die innerliterarischen Bezüge verwehrte. Die Fragestellung des Autors weist über eine bloße Denunzierung der Fehlentwicklung der Kommunistischen Partei hinaus. Das zentrale Anliegen besteht vielmehr darin, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, in dem das ethische Bewußtsein des Subjekts mit den Erfordernissen politischen Engagements konfligiert, auszuloten. So konstatiert auch Frankenthaler: "La novedad de mayor importancia en esta novela es el elemento conflictivo político, no sólo como tema sino también como problematización en el nivel individual".94 In den Vordergrund rückt dabei die philosophisch grundlegende Frage nach dem "wahren", dem "unentfremdeten", dem "authentischen" und daher "freien" Menschen.
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Revueltas hat sich intensiv mit dem zentralen Werk Mariáteguis Siete ensayos de interpretación de la realidad peruana (1928) auseinandergesetzt hat: "Mariátegui ha sido siempre mi maestro, (...) en la cuestión ideológica. Fue él quien abrió los ojos a mi generación ante la necesidad de adaptar el marxismo a las condiciones nacionales y continentales y no hacer un marxismo de importación, zafio y de repetición de fórmulas, sino tratar de captar la realidad nacional..." (Interview mit Norma Castro Quiteño: Oponer al ahora y aquí de la vida el ahora y aquí de la muerte (1967). In Saínz 1977: S. 87-92. Hier: S. 87-88). Die Nachrichten von Stalins Säuberungsaktionen gegen Trotzkisten und Leninisten, von Schauprozessen gegen ungarische und tschechische Kommunisten, von Selbstmorden einzelner Schriftsteller sowie dem kollektiven Selbstmord polnischer Kommunisten usw. zwangen ihn förmlich in die Auseinandersetzung mit seiner Partei. Siehe Revueltas im Interview mit Luis Mario Schneider: Revive la polémica sobre José Revueltas (1962). In Sáinz 1977: S. 99. Frankenthaler 1979: S. 37.
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Als klassisch marxistisch läßt sich zunächst einmal die Auseinandersetzung mit dem mexikanischen Bürgertum werten. Das von Revueltas gezeichnete Bild des Architekten Ramos und seiner Frau Virginia zeigt den prototypischen, entfremdeten Menschen in Gestalt des vom Kapitalismus determinierten Bürgers.95 Zur Minderheit der politischen und ökonomischen Elite Mexikos zählend, fuhrt das Paar fernab jeglicher existentiellen Bedrängnis ein Leben genußvollen Müßiggangs in einer geschmackvoll gestalteten Umgebung. In ihrer Welt ist die egoistische Befriedigung der eigenen Bedürfnisse nicht nur erlaubt, sondern oberstes Gebot. Virginias Sorge gilt dem Schutz des Mobiliars -Teppiche werden vor Eintreffen der Genossen in Sicherheit gebracht- und der Verteidigung ihres Status. Die Mitgliedschaft des Gatten in der Kommunistischen Partei wirkt eher befremdend und fadenscheinig, da ihn Fragen der Ästhetik weit mehr beschäftigen als die praktische Politik. Das exquisite Interieur ihres Hauses spiegelt die Lebensauffassung einer Schicht, die sich verspielten Luxus erlauben kann, und deren Geschmack sich in der Lust des Nicht-Notwendigen manifestiert. In einem kleinen Oeuvre Braques erkennt der indignierte Parteiführer Fidel Serrano sogar den blanken Ausdruck bürgerlicher Dekadenz: den grenzenlosen Egoismus einer Klasse, die allein die Befriedigung ihrer Bedürfnisse im Blick hat. Er konstatiert in dem Objekt eine geradezu kriminelle Komponente, da diese Kunst für die Massen ebenso unerreichbar wie unverständlich bleiben müsse: "¿Por qué algo tan infecundo, tan carente de sentido? Aquello le pareció horrible ... e inmoral. (...) En todo caso resulta criminal (...) un arte incomprensible para las masas" (S. 183). Das Leben des selbstsüchtigen
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Der historische Materialismus richtet seine Kritik gegen das Bewußtsein des Bürgertums, das die begrenzten Ziele der Klasse zu allgemein menschlichen Zielen überhöhe. Ebenso wie Ramos, der sich in seinem Studio gottgleich fiihlt, steht der Pfandleiher von En algún valle de lágrimas (1956) repräsentativ für diese Überzeugung: "Detesta tener hijos no sólo por el hecho de engendrar un feto, antes bien porque se cree el objeto divino consumado, que en él y en su clase se han colmado las posibilidades humanas" (Torres M. 1985: S. 81).
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Klassenfeindes ist in höchstem Maße unmoralisch und verwerflich. Doch Revueltas beschränkt sich keineswegs darauf, Inauthentizität ausschließlich in Gestalt des kapitalistischen Bürgers anzuprangern. Die ironische Brechung des klassischen Beispiels des Marxismus -des in Gestalt des Kapitalisten personifizierten Bösen- wird an der nachfolgenden kritischen Betrachtung der eigenen Parteimitglieder erkennbar. Der Autor-Erzähler mokiert sich über die Parteispitze des P.C.M., die sich ausgerechnet im Hause des Architekten, des Klassenfeindes, versammelt. So erscheint auch der modisch elegant und teuer gekleidete Parteivorsitzende Germán Bordes96 als ein von der Bourgoisie kompromittierter Mann, dessen von Eigennutz geprägtes Handeln ihn dem bürgerlichen Lager näherstehen läßt als den Belangen der Arbeiterschaft: "Se trataba de elementos de cierta posición económica y social' -algunos hasta con relaciones entre altos personajes del Gobierno- que reducían los deberes de su conciencia política a simples donativos monetarios. (...) Gentuza" ( S. 181). Die harsche Verurteilung der vom Bürgertum korrumpierten Führung aus dem Munde des niederen Parteiführers verliert jedoch ihrerseits entschieden an Überzeugungskraft, wenn man sich vergegenwärtigt, daß dieser den Interessen des mexikanischen Proletariats kaum näherstehen dürfte.97 In Fidel Serrano ist jener Typus eines Kommunisten angelegt, der in "absoluter Gewißheit" um die Richtigkeit seiner politischen Überzeugung lebt. "No hay felicidad más grande que la de ser comunista" (S. 176), deklamiert er sein Credo, das jegliche Zweifel am Bekenntnis a priori ausschließt. Ihm schwebt das Wohl der Menschheit vor Augen, das durch den Sieg der proletarischen Weltrevolution in greifbare
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Der Name ist eine Anspielung auf Hernán Labordes, dem Vorsitzenden der mexikanischen Kommunistischen Partei. Los días terrenales handelt von den unteren Rängen der Parteihierarchie. Dagegen werden in Los errores (1964) die Spitzen der Parteiführung hinterfragt. In Los errores ist die Anklage noch schärfer gegen den Eigennutz der Parteiführer gerichtet, die auf Macht-Positionen in der Parteibürokratie spekulieren, und die daher dem Klassenfeind völlig ungefährlich werden.
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Nähe rückt. Sich auserwählt wissend, den Menschen das GLÜCK zu bringen, widmet er sich mit unbedingter Hingabe diesem Ziel, was auch bedeutet, daß gegenwärtige Bedürfnisse -eigene wie fremde- ausgeblendet werden müssen: "Nosotros no debemos tener tiempo para lamentarnos de nada. Nuestra tarea es luchar sin tregua. Ésa es nuestra única verdad" (S. 66). Den Tod seiner Tochter Bandera begreift er als ein Opfer, das im Namen einer höherstehenden Mission erbracht werden muß. Heroisch weist er die Geste Bautistas, der ihm für ihr Begräbnis sein letztes Geld anbietet, zurück: "La que puede esperar es ella, porque está muerta" (S. 120). Das Geld benötige man für dringendere Aufgaben, wie den Vertrieb der Parteizeitung. Diese für einen Führer nicht ungewöhnliche Haltung, die absolute Ergebenheit in die Sache demonstriert, kann Ablehnung oder Zustimmung hervorrufen, aber nicht gleichgültig lassen. So zeigt sich der Parteinovize Rosendo von dem "übermenschlichen" Verhalten Fidels denn auch zutiefst beieindruckt: "Para mí es una de las más bellas lecciones" (S. 123). Dagegen begreift Bautista, daß das Opfer Banderas das Glück des ser comunista fragwürdig erscheinen läßt. Wenngleich das Phänomen Hunger zum Alltag der unteren Schichten gehört, bedeutet der Tod Banderas aufgrund von Unterernährung ein selbstgerechtes Opfer im Namen der Ideologie: "Él [Bautista] podía haber replicado enérgicamente a las pretensiones absurdas de Fidel, pero en cambio se dejó aplastar por la religión de éste, por ese comunismo completamente católico de Fidel que presuponía los sacrificios gratuitos e inútiles, sin ningún otro sentido que la propia y egoísta edificación moral, no se sabía a cuenta de qué o por qué" (S. 123).
Die vermeintliche Selbstaufgabe des líder wird als heuchlerischer Selbstbetrug denunziert. Der kommunistische Ethos, einem Privatleben zu entsagen -und im Gegenzug dafür einen "wahrhaften" Lebenssinn zu gewinnen- als klebrige Falle gebrandmarkt, die Sinnsuchende in aller Welt in ihrer Begeisterungsfähigkeit und/oder Unwissenheit anzurühren und mit einer brennenden Überzeugung anzufüllen vermag:
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"Era un modo de sacrificio, sin duda, pero de ninguna manera una idea social o una doctrina. Como en los cristianos, pues a éstos también les habrá complacido morir entre las garras de los leones en su afán de imitar el sacrificio de Cristo. (...) una expresión tan ardiente, jubilosamente entusiasta y audaz como la de los jóvenes comunistas de aquí o de no importa qué país de la tierra que, con irreflexiva jactancia, se juzgaban capaces de no abrigar en su inmaculado e ingenuo corazón ninguna de las pasiones que son el tormento de los demás" (S. 122). Diese überzeugungsgeladene Energie erweist sich als meist unempfindlich gegenüber einem mahnenden Gewissen: Die durch den Tod des Kindes ausgelöste Gewissensprüfung Fidels mündet abermals in einer uneingeschränkten Bestätigung seiner Glaubensgewißheit. 98 Er beruhigt seine innere Stimme mit der Selbstversicherung, daß er sich ja nicht in den Dienst eines Mythos wie Gott, sondern in den realer sozialer Probleme stelle: "(...) sacrificar el imperativo de hacer el Bien cotidiano y concreto a pretexto de que se está al servicio de Dios, al hecho, (...), de dominar y reprimir nuestras tendencias sentimentales hacia la práctica de ese mismo Bien concreto y cotidiano, cuando no sólo no se está al servicio de un mito como el de Dios, sino ante la existencia de una causa social tangible y verdadera, a la cual es preciso entregar sin regateos todo el esfuerzo y la vida. Es absoluto distinto" (S. 99). Die "unantastbare Gewißheit" wird hier vorgefühlt als eine bedrohliche Form der menschlichen Entfremdung. In dem Maße, wie sich ein Fidel in seiner Glaubenshaltung radikalisiert, entzieht er sich der praktischen Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen. Die Bereitwilligkeit, das eigene oder ein fremdes Leben auf dem Altar der Parteiideologie darzubieten, ist ein Zeichen von Selbstentäußerung, das den Einzelnen in seinem Fühlen und Handeln entmenschlicht: 98
Bei dieser Gelegenheit erinnert er sich an ein Gespräch zweier "Frömmlerinnen", das er einmal belauschte. Die eine wollte ihrem im Sterben liegenden Bruder nicht beistehen, woraufhin ihr die andere gleichsam die Absolution erteilte: "¡Qué quiere usted! (...) ¡Así son las cosas! Que muera en paz con su conciencia y Nuestro Señor le perdone sus pecados!" (S. 98). Die unverhohlene Erleichterung der "Gottgefälligen" klingt ihm noch in den Ohren:"(...) Yo no vivo ya para otra cosa que para servir a Dios. A Él estoy entregada y no puedo distraerme de su servicio. Que el pobre de mi hermano muera en paz" (S. 98).
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"(...) nos plantea (...) uno de los aspectos de su enajenación humana, del no pertenecerse, ni en sus sentimientos ni en su acción, a sí mismo. (...) Para él, asumir una posición ideológica no va más allá de cumplir febrilmente una acción de la que ni siquiera pone en duda su validez".99 Fidels Bewußtsein klammert Zweifel -wie sie den "bedauernswerten" intelectual típico (S. 195) verzehren- einfach aus. Daher rührt auch die Bereitschaft, sich dem Parteiwillen bedenkenlos unterzuordnen, und pflichtbewußt Gregorio im Parteibericht an das Comité Central del Partido als "transgresor de la política del Partido" (S. 179) zu denunzieren: "Se agregaba ahí que Gregorio no comprendía la política del Partido, que sus defectos eran los de un intelectual pequeñoburgués y que, en términos generales, 'abrigaba la propensión a foijar teorías por su cuenta, con grave peligro para la pureza de la doctrina y la claridad de los principios'" (S. 114).100 Die Bereitwilligkeit Fidels, seinen einzigen Freund, seinen Nächsten im engsten Wortsinne, zu opfern, signalisiert, daß durch ein Abstraktum (die Partei) ein Absolutes gesetzt ist, das dem zur Gemeinschaft verpflichtenden marxistischen Postulat diametral entgegensteht. Die Gestalt des Strenggläubigen verdeutlicht die Konsequenzen eines Weltverständnisses, das den Menschen durch den Begriff Menschheit ersetzt hat. Die absolute Glaubensgewißheit läßt ihn die
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Torres M. 1985: S. 62-63. Der Bericht bietet zahlreiche Belege für die fanatische Haltung Fidels gegenüber der menschlichen Haltung Gregorios: Erkennt Gregorio in einem vermeintlichen politischen Feind den eigentlichen Freund, der zudem die Unterstützung durch die Massen erfährt, zeigt sich Fidel unbeirrbar: "Si el Partido había resuelto considerar a todo el Gobierno como integrado por traidores a la Revolución, resultaba insolente que alguien, dentro del propio Partido, se atreviese a calificar a uno de los miembros del Gobierno como elemento progresista y revolucionario" (S. 42). Macht sich Gregorio zum Fürsprecher von Kooperativen: "He intentado (...) inducir a los campesinos a organizarse en cooperativas con el propósito de que sean los comisariados ejidales los que conserven la semilla en su poder, y así se evite que caiga en manos de los acaparadores" (S. 42), kontert Fidel parteikonform: "Otra opinión tonta. Como si Gregorio desconociera el principio inmutable de que en una sociedad dividida en clases las cooperativas están destinadas al fracaso" (S. 42) usw.
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alttestamentarische Ur-Schuld des Brudermordes begehen. 101
Der Begriff
Menschheit wird zur Rechtfertigung von Menschenopfern ohne Gewissensprüfung mißbraucht. Die Ideologie hat Gott vom Thron gestürzt und ihn selbst in Besitz genommen. Deutlich setzt der Erzähler die Opfer- und Todesbereitschaft orthodoxer Kommunisten dem Märtyrertum der ersten Christen analog. 102 Beiden bescheinigt er eine Glaubensdisposition, in der der Keim eines aus ihr erwachsenden entmenschlichenden Fanatismus angelegt ist, und die Menschen wie Fidel zu Glaubensmaschinen mutieren läßt: "Fidel era un hombre (...) Más bien que un hombre, un esquema, un fenómeno de deformación, de esquematismo espiritual. (...) Un hombre que infundía miedo por el peligro de que se reprodujese, hoy, mañana, aquí en México o en cualquier parte del mundo, con cien mil rostros, inexorable, taimado, lleno de abnegación y generosidad, lleno de pureza, ciego, criminal y santo. Una máquina. Dios mío, una máquina de creer" (S. 175).103 101
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Wie ich bereits zu El luto humano dargelegt habe, bildet die Kainsnatur des Menschen ein zentrales Motiv im Denken von Revueltas. Den Brudermord innerhalb der kommunistischen Partei zu denunzieren, bedeutet für den Autor selbst die Aufgabe eines Zuhause in einer Glaubensgewißheit. Er verabschiedet sich hier gleichsam von einer kommunistischen Illusion der unbedingten Gemeinschaftlichkeit, zu der er zwar in Los motivos de Caín (1957) noch einmal zurückkehren wird, die er aber in Los errores abermals bloßstellt, wenn er zeigt, daß Eladio Pintos zuletzt von seinen eigenen Genossen liquidiert wird (vergleiche Los errores: S. 270). Los errores weist im übrigen kongeniale Inhalte zu Malraux1 La condition humaine auf. Beide fokussieren das Thema der Stalinisierung der Kommunistischen Partei. Negrin betont als eine Gemeinsamkeit beider Autoren das Spannungsverhältnis zwischen der ethischen Verantwortlichkeit und der Politik: "A José Revueltas, como a Malraux, le preocupa la respuesta de cada individuo en cada situación histórica, de acuerdo a sus convicciones éticas y políticas, las cuales a veces concuerdan entre sí y a veces entran en conflicto" (Negrín 1995: S. 170). Die wenig subtile Verfahrensweise erscheint aus heutiger Sicht geradezu penetrant. So ließe sich die Liste direkter Querverweise wie beispielsweise: "Como un cura Fidel era como un cura. Un cura rojo (...)" (S. 34); "De todos modos la joven soviética era conmovedora. Tan conmovedora como los primeros cristianos. Tan conmovedora como Rosendo o Fidel" (S. 122); "Era como si Fidel creyese en Dios. Desde luego en un dios materialista (...)" (S. 123), beliebig erweitern. Die Glaubensmaschine produziert gerne auch Phrasen, die nach Bedarf funktionalisiert werden können, wie beispielsweise: "Era la locución favorita, (...): echarle agua al molino de la burguesía, que empleaba para combatir opiniones opuestas a
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Die Auseinandersetzung mit den Glaubenssystemen der christlichen Religion und dem säkularisierten Vernunft-Glauben des kommunistischen Dogmas führt den Autor zur Anklage einer im Glauben wurzelnden, unreflektierten Erfüllungsmentalität: "Este tipo de personajes abunda mucho, el que cree que la abnegación es más que la inteligencia. Cree que si es un hombre abnegado, a su manera, que es una manera egoísta, ya con eso satisfacen su conciencia y se enorgullecen de ser un gran comunista, o un gran católico".104 Das Verdikt gegen die Unfehlbarkeit der marxistischen Doktrin gerät zu einer tiefergreifenden, da grundsätzlichen Kritik an der unreflektierten Übernahme von Ideen.105 Im Gegensatz zu Sartre, der diese inauthentische Haltung allein der bürgerlichen Ideologie zuordnet, versteht Revueltas sie als ein Grundproblem der menschlichen Existenz, das jenseits aller Klassen auf den Einzelnen zurückfällt.106 Wenn man erkennt, daß die Inauthentiziät des Seins in jenem menschlichen Egoismus begründet ist, der die solidarische Verpflichtung gegenüber dem Nächsten mißachtet, dann muß man die Haltung Fidels als eben
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las suyas o actitudes que a su juicio eran contrarias a las normas que deben observarse" (S. 34). Revueltas im Interview mit Norma Castro Quiteño (1967). In Sáinz 1977: S. 91. "La religiosidad es lo que ha peijudicado más al marxismo. Esa actitud fideista y de que no se discutan las cosas (...). Porque ya enfrentados con nuevos problemas, los partidos comunistas no han podido superar su dogmatismo. El primer dogma era la infalibilidad de los partidos comunistas; ahora se sabe que no son infalibles y que han de desencadenar una lucha crítica, ideológica, entre todos los comunistas del mundo y los nuevos marxistas, quienes comprenden el marxismo con mayor amplitud, sin dogma" (Revueltas im Interview mit Maria Josefina Tejera (1968). In Sáinz 1977: S. 81). Vgl. Krauss: "Gerede, die inauthentische Übernahme der 'idées reçues', ist der bürgerlichen Ideologie zugeordnet. Diese soziale Zuweisung der Uneigentlichkeit, die damit als gesellschaftlich aufhebbare erscheint, markiert einerseits Sartres Abstand von der deutschen Existenzphilosophie, andererseits seine schon frühe Distanz zu einer strikt absurdistischen Weltsicht" (Krauss 1982: S. 224).
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so "bürgerlich" wie die des Architekten verurteilen. 107 Gleich dem bürgerlichen Kapitalismus und dem religiösen Glauben führt das kommunistische Dogma den Menschen zu Entfremdung: "(...) ambas [el marxismo y la religión] son formas de enajenación, el marxismo dogmático es una forma de enajenación también, todavía más peligrosa que la enajenación religiosa, puesto que deforma la teoría de la libertad, del conocimiento".108
Obschon Revueltas den Weg der Kommunistischen Partei Mexikos aufgrund ihrer stalinistischen Ausrichtung explizit verurteilt und ihre Deformationen geißelt, bleibt er dem klassischen Marxismus als Grundlage aller seiner politischen Reflexionen treu. Er selbst verweist auf den frühen Marx als seinen eigentlichen Lehrmeister: "Yo no hago sino seguir los principios de Marx expuestos particularmente en los escritos filosóficos anteriores a 1844, que fueron olvidados (...), donde está expuesta la teoría de la alienación". 109 Doch auch wenn er innerhalb des Argumentationsrahmens bleibt, der durch die Koordinaten des säkularisierten Glaubenssystems vorgegeben ist, unterwirft er sich diesem nicht mehr wie noch in El luto humano bedingungslos. So teilt er zwar weiterhin die Auffassung seines Meisters, daß der heutige Mensch eine VorGeschichte der Menschheit lebe, da der Mensch noch nicht Mensch ist, sondern sich als Mensch erst erschaffen muß. Auch läßt er den teleologischen Glaubenssatz unangetastet, die proletarische Weltrevolution müsse sich aus dialektischen Prozessen zwangsläufig ergeben und das übergeordnete Ziel der klassenlosen Gesellschaft werde eines Tages erreicht:
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"Lo más importante es el pensamiento escueto que opone al ahora y aquí de la vida el ahora y aquí de la muerte, entendido de la siguiente forma: el burgués -por decir, por calificar a un individuo, porque burgués puede ser hasta un proletario- piensa el aquí de la vida, como el gozar de la vida y el después de mí el diluvio" (Revueltas im Interview mit Maña Josefina Tejera: Literatura y dialéctica (1968). In Sáinz 1977, S. 80). Revueltas im Interview mit Norma Castro Quiteflo (1967). In Sáinz 1977: S. 91. Revueltas im Interview mit Josefina Tejera: Literatura y dialéctica (1968). In Sáinz 1977: S. 82.
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"El hombre no ha nacido aún, entre muchas otras cosas, porque las clases no lo dejan nacer. Los hombres se han visto forzados a pensar y luchar en función de sus fines de clase y esto no los ha dejado conquistar su estirpe verdadera de materia que piensa, de materia que sufre por ser parte de un infinito mutable, y parte que muere, se extingue, se aniquila. ¡Luchemos por una sociedad sin clases! (...) ¡Pero no, no para hacer felices a los hombres, sino para hacerlos libremente desdichados, para arrebatarles toda esperanza, para hacerlos hombres!" (S. 177). Dann aber bricht er mit der Konformität. Er widerspricht der optimistischen Auffassung, die klassenlose Gesellschaft werde auch notwendig den propagierten neuen, den wahren Menschen hervorbringen, und betont, daß die Projektion eines idealen Menschen der Zukunft den unvoreingenommenen, freien Blick auf die Realität des unvollkommenen und fehlbaren Menschen der Gegenwart verstellt: "No quiero incurrir en ese poético y risible pecado de los soñadores sociales (...), en esa falta ingenua de pensar en el hombre futuro como un ser bueno, sin mancha, libre del mal (...), sino pensar, mucho mejor, en el único hombre que existe, en el hombre contemporáneo, real, esencialmente sucio, esencialmente innoble, ruin, despreciable" (S. 197). Das Glück der Menschheit im paradiesischen kommunistischen Weltreich zu erstreben, dekuvriert er als eine bloße Variante prophetischen Wunschdenkens: "(...) creían en el deber del Optimismo -del optimismo con mayúscula-, a la manera dogmática como otras gentes creían en Dios" (S. 200). Der skeptische Blick auf den Menschen wirkt in zweifacher Hinsicht. Zunächst einmal läßt sich festhalten, daß der Autor, indem er auf einen Bruch im Fundament der reinen Wissenschaftlichkeit auf dialektischer Basis weist, ein mythisches Substrat der kommunistischen Überzeugungwelt destilliert. Das Individuum transzendierende Begründungszusammenhänge, gleichgültig ob im Diesseits oder Jenseits angesiedelt, bewirken keine Änderung der gegebenen irdischen Herausforderungen: "Los hombres se inventan absolutos, Dios, Justicia, Libertad, Amor, etcétera, etcétera, porque necesitan un asidero para defenderse del Infinito, porque tienen miedo de descubrir la inutilidad intrínseca del hombre. Sí, lo asombroso no es la inexistencia de verdades absolutas, sino que el hombre las busque y las invente con ese afán
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febril, (...)• En cuanto cree haber descubierto esas verdades, respira tranquilamente. Ha hecho el gran negocio. Ha encontrado una razón de vivir. Bah! Hay que decirlo a voz en cuello: el hombre no tiene ninguna finalidad, ninguna 'razón' de vivir. Debe vivir en la conciencia de esto para que merezca llamarse hombre" (S. 177).
Gleichzeitig bringt er ein Problem zur Sprache, das der Marxismus negiert und auch kaum zu lösen vermag. Die historischen Bedingungen mögen sich verändern, doch der Kern des menschlichen Wesens bleibt unveränderlich. Der zukünftige Mensch dürfte dem heutigen in moralischer Hinsicht kaum überlegen sein: "Serían iguales dentro de normas distintas, en relación a normas distintas; es decir, iguales respecto a una moral nueva donde el mal y el bien tendrían nombres distintos a los que tienen dentro del mundo contemporáneo, pero nada más. Cuestión de traducir las cosas, de trasladarlas a la escala de que se trate" (S. 199).
Was einen Marxisten möglicherweise am Ende des Weges der kommunistischen Weltrevolution erwartet, vergegenwärtigt der Autor in einer ironisch verfremdenden Verkehrung marxistischen Hoffnungsstrebens. Er entwirft das Szenario einer allerletzten Revolution innerhalb des dogmatischen Kommunismus: eine revolución contra el remordimiento. Endlich wäre der Mensch frei von jeglichem Zweifel und könnte einen immerwährenden
Glückszustand
genießen. Um diesen wiederum zu schützen, müßten Risikofaktoren ausgeschlossen werden. Das bedeutet, daß die Partei auf denkende oder gar kritische Artgenossen zu verzichten gezwungen wären. Der Mensch wäre endgültig seiner selbst entfremdet und einer Vertierung preisgegeben: "Las grandes masas idiotamente felices, ebrias de la dicha conquistada, ajusticiarían a los filósofos, a los poetas, a los artistas, para que de una vez las dejaran en paz, tranquilas, prósperas, entregadas al deporte o algún otro tóxico análogo. Se cerraría así el ciclo de la historia para recomenzar una fantástica prehistoria de mamuts técnicos y brontosauros civilizados" (S. 200).
Die Einsicht, daß auch eine proletarische Weltrevolution die Entfremdung des Menschen nicht per se zu überwinden vermag, zwingt dazu, sich auf die Suche nach einer Größe zu begeben, die ihn tatsächlich -vor den Tieren- auszeichnet:
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"La cuestión es encontrar esa cosa específica que puede distinguir al hombre como hombre, que lo defina moralmente como una especie concreta diferente a las demás. La tarea, si alguna existe para el hombre, es llegar a serlo, separarse del reino animal. El problema radica en adquirir, desde ahora, la conciencia, dentro de uno mismo, (...) de lo que es el hombre en total en su condición de ser palpable y contingente, siempre contemporáneo, con sus vicios y virtudes" (S. 198-199). Die Antwort der Marxisten, die Distinktion läge in der Solidarität, läßt der Autor nicht gelten, da auch unter den Tieren eine instinktive Solidarität zu beobachten sei. Damit liegt ein weiteres Mythem des Kommunismus offen: Der Weg zur wahren Solidarität führt zwar auch für Revueltas über die klassenlose Gesellschaft, aber nur unter der Bedingung der Bewußtwerdung des Einzelnen: " (...) así que es imperioso buscar algo parecido a una forma, digamos, de solidaridad inversa, que nos destruya, que nos anule, que nos liquide, que nos despersonalice como individuos, y esa forma no puede ser sino la responsabilidad común en lo malo y en lo bueno, pero al grado, al extremo de que esa responsabilidad tenga nuestro mismo nombre y apellido" (S. 199).110 Der solidarische Schulterschluß der Menschen unter einem gesetzten, sprich "erfundenen" Absoluten ist inauthentisch, da die Solidarität auf eine Komplizenschaft von jeweils in ein Höheres Eingeweihten beschränkt bleibe. Dabei ist nicht der Akt des Engagements als solcher zu verurteilen. Inauthentizität resultiert notwendig aus der Erfindung der Transzendenz: "Esto no quiere decir que el hombre es inautèntico cuando se entrega a una causa (...) sino que tal entrega debe hacerse como un acto humano concreto, con plena conciencia de su terrenalidad, nunca como disparo hacia la nada en su apariencia transcendente. Cuando los seres humanos se olvidan de Dios y demás invenciones y se contemplan como un punto en el espacio y en el tiempo, asumen su dolor de perecer e ingresan a la 'desesperación pura' de lo efímero".11
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Revueltas erklärt dazu: "(...) nuestra solidaridad todavía no es una solidaridad humana, porque, por ejemplo, la solidaridad obrera es una solidaridad enajenada a la lucha frente a la otra parte del hombre que son los burgueses. Cuando no haya obreros ni burgueses, la solidaridad va a comenzar a ser una solidaridad humana" (Revueltas im Interview mit Norma Castro Quiteño (1967). In Sáinz 1977: S. 89). Torres M. 1985: S. 70.
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Der marxistischen Vision einer zukünftigen Welt, in der in einer glücklichen Gemeinschaft bessere Menschen leben, wird eine nüchterne Alternative entgegengehalten: Der Weg zum wahrhaften und authentischen Sein muß von jedem Individuum mit Hingabe begangen werden. Eine Menschwerdung kann nur erfolgen aus der unbedingten Akzeptanz der kosmischen Einsamkeit in einer begrenzten Lebensspanne: "El hombre es la materia que piensa. (...) La materia consciente de que existe, es decir, consciente también de que dejará de existir. (...) En esto, en la conciencia de esta extinción y de este acabamiento, radica la verdadera dignidad del hombre, quiere decir, su verdadero dolor, su desesperanza y su soledad más puras. (...) El dolor de conocer. El sufrimiento de la sabiduría. Un hombre heroico, alegremente desesperado, irremediablemente solo" (S. 176).
Der Komplex der Einsamkeit wird im Verständnis des Autor-Erzählers zum Ausgangspunkt für jede philosophische Überlegung über eine mögliche authentische Menschlichkeit. Das Grundproblem des Menschen ist der Mensch selbst in seiner Unzulänglichkeit und Einsamkeit im Angesicht der Unendlichkeit.112 In der Anerkennung der Begrenztheit des Seins und des Fehlens absoluter Wahrheiten verortet der Autor den ethischen Schlüssel dazu, daß der Einzelne seinen Egozentrismus zu überwinden vermag. Diese Frage fordert den Menschen und spaltet die Menschheit. Wer das Leben als individuell einmalig begreift, bleibt zwangsläufig in Opposition zu dem anderen gefangen. Dieser Dualismus kann nur unter der Voraussetzung der Einsicht in die Dialektik von Leben und Tod überwunden werden, wodurch eine irdisch humane Solidarität allererst möglich wird.
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Der wahre Mensch -der wahre Kommunist- scheut sich nicht davor, dies als die wahre Bedingung der conditio humana anzuerkennen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. An der Gestalt Gregorios wird -wie ich im nächsten Kapitel (4.3.3.) ausführen werde- diese Wahrheit bis in ihre letzten Konsequenzen exemplifiziert: "(...) la aceptaba como un hecho entrañable e iba hacia ella, sin dejarse vencer" (S. 197).
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Beim Durchqueren des marxistischen Gedankengebäudes beleuchtet der AutorErzähler die Glaubensstruktur der bildhaften Vorstellung der paradiesischkommunistischen Gesellschaft. Zugleich legt er dar, daß absoluter Gehorsam innerhalb des Parteiapparates den Einzelnen der Dynamik einer in der Konsequenz inhumanen Glaubensmaschinerie unterwirft, und macht deutlich, daß die Partei oftmals, reale gesellschaftliche Interessen ignorierend, zum allgemeinen Interesse erhebt, was doch nur einem dominierenden oder auf Dominanz bedachten Teil dient. Anders gesagt: Er legt mythologische und mythisierende Substrate eines Denkens bloß, daß sich als streng rational und wissenschaftlich begreift, und deshalb in seiner politischen Praxis in unzweifelhaftem Recht glaubt. Es lag zwar nicht im Interesse Revueltas', die Säulen des säkularisierten Glaubenssystems zum Einsturz zu bringen, doch belegt der Aufruhr der Parteigenossen,
daß er die
Achillesferse des säkularisierten
Glaubenssystems
getroffen hatte. Die Analyse der in Los días terrenales zum Ausdruck gebrachten Kritik zeigt, daß Revueltas den Prämissen des klassischen Marxismus folgte. Aus der Perspektive historischer Distanz ist es deshalb auch einem marxistischen Philosophen wie Adolfo Sánchez Vázquez möglich, diese Eigenheit im Denken des Autors anzuerkennen: "Se comprende (...) que José Revueltas se oponga no sólo al marxismo positivista de la Segunda Internacional y al objetivista y economicista de la Tercera, sino muy especialmente al seudomarxismo stalinista y neostalinista que ha llevado tan lejos la negación del objetivo humanista, liberador, del marxismo clásico".113 Die Kritik des Autors zielt auf die unreflektierte Übernahme auch der rational "unzweifelhaften" Ideen. 114 Die Allmacht des Vernunftglaubens erscheint brii113
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Sánchez Vázquez, Adolfo 1983: S. 130. In Varios: Revueltas en la mira, 1984: S. 129-150. Das bedeutet aber nicht, daß Revueltas die Vernunft grundsätzlich verdammen würde. In seinen Essays hebt er im Gegenteil hervor, daß er die Ratio im Zusammenspiel mit den Werten von Freiheit und Gerechtigkeit als unabdingbar für eine Besserung der äußeren Existenzbedingungen und der Sozialfahigkeit des Menschen schätzt. Vgl. O.C. 20: S. 197; und O.C: 18: S. 135.
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chig und verliert an eindeutiger Überzeugungskraft. Die Infragestellung der Ratio als solcher ist jedoch kein spezifisches Novum des Romans, sondern im gesamten Erzählwerk präsent. Dieses scheint geradezu durchdrungen vom Diktum Ortega y Gassets, der eine Krise des Vernunftglaubens in diesem Jahrhundert gewahrt und als eine der größten Herausforderungen für den Menschen begreift: "Se trata de preparar las mentes contemporáneas para que llegue a hacerse claridad sobre lo que acaso constituye la raíz última de todas las actuales angustias y miserias, a saber: que tras varios siglos de continuada y ubérrima creación intelecutal y, habiéndolo esperado todo de ella, empieza el hombre a no saber qué hacerse con la ideas. No se atreve, sin más ni más, a desentenderse radicalmente de ellas porque sigue creyendo, en el fondo, que es la función intelectiva algo maravilloso. Pero al mismo tiempo tiene la impresión de que el papel y puesto que en la vida humana corresponde a todo lo intelectual no son los que le fueron atrivuidos en los tres últimos siglos".115
Das entscheidende Novum von Los días terrenales liegt darin, daß die bislang vom Autor unangefochtene Dichotomie "wir, die guten Kommunisten" und "die bösen anderen" jetzt aufgehoben ist. - Man denke beispielsweise an den entmenschlichenden Fanatismus der Cristeros und Anticristeros in El luto humano, der durch die synkretistische Heilsgestalt Natividad -Vorbote des kommunistischen Paradieses- kontrastiert wurde. Der Gegensatz menschlicher
und
unmenschlicher Glaubensdispositionen ist hier in die Mitglieder der Kommunistischen Partei hineingelegt. Gregorio Saldívar weiß sich der Erbarmungslosigkeit einer Parteihörigkeit ausgeliefert, die die Gesetze rationaler Exaktheit auf alle Bereiche des Lebens appliziert: '"Allá arriba', en el Comité Central, era imposible que comprendiesen, (...) no podían ver las cosas a través del compacto tejido de fórmulas en que estaban envueltos; no podían razonar sino dentro de la aritmética atroz que aplicaban a la vida (...) La aritmética de la vida. Dos y dos son cuatro, dos y dos son cuatro, dos y dos son cuatro" (S. 92).
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Ortega y Gasset 1970: S. 395.
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Der kartesianische Grundsatz 116 , die Mathematik, da auf der Basis ewiger Wahrheiten errichtet, als die perfekte Methode der Rationalisierung anzunehmen, wird in den Augen des Autors zum unbarmherzigen Richtmaß menschlichen Handelns: "Así la lógica, la artimética, la geometría devienen expresiones de una racionalidad que, en un sentido muy lato, podría identificarse como cartesiana y que, para el sujeto narrador, es de signo negativo".117
Gleichgültig ob Gefangene wie in Los muros de agua zu Nummern reduziert werden, um anzuzeigen, daß der Strafvollzug den Einzelnen soweit entmenschlicht, daß er sich nurmehr an die Befriedigung seiner egoistischen Bedürfnisse klammert und jeglichen Gemeinschaftssinn verliert; oder ob Patienten den unfaßbaren Gesetzen eines Krankenhauses ausgeliefert werden, werden Zahlen zum Sinnbild fanatischer Besessenheit. Die metonymische Funktionalisierung des mathematischen Axioms "dos y dos son cuatro" gibt uns eine Spur, die zu Chestov zurückführt. Chestov hatte seine Wissenschaftskritik in verblüffend schlichter aber dennoch überzeugender Weise an diesem mathematischen Glaubenssatz illustriert: "Para Chestov el 'dos más dos son cuatro' equivale a 'la razón con todas sus evidencias', es decir, a lo que él llama una sugestión: 'Admito que dos más dos son cuatro es una cosa óptima, pero si se trata de elogiarlo todo, os diré que dos más dos son cinco es igualmente encantador'".118
Chestov verweist die Arithmetik bzw. die Mathematik in ihre Grenzen, da sie ein geschlossenes mentales System sei und nicht mehr. Revueltas ist zweifelsohne von Chestov beeinflußt. Dennoch dürfen die entscheidenden
116
117 118
kon-
Aus der Perspektive der Postmoderne und natürlich schon mit Ortega y Gasset ließe sich sagen, Descartes habe die Mathematik, indem er sie zur Basis eines Glaubenssystems erklärte, mythifiziert. Negrin 1995: S. 188. Negrin 1995: S. 226. Edith Negrin gebührt das Verdienst, Chestovs Bedeutung für das literarische Schaffen Revueltas' ausführlich nachgewiesen zu haben. Vgl. Negrin op.cit., S. 171-175 und S. 222-228.
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zeptionellen Unterschiede nicht Ubersehen werden. Chestov, der als einer der ersten religiösen Existentialisten betrachtet wird, geht es darum, daß die exakten Wissenschaften Gott nicht erkennen und die Transzendenz negieren. 119 Dagegen hinterfragt Revueltas die exakten Wissenschaften, weil ihre unbedingte Akzeptanz zur Entmenschlichung und einer antisolidarischen Haltung führen. Das Stilmittel der ironischen Verfremdung erweist sich ihm auch hierbei als dienlich: Descartes erhob Selbstgewißheit und Selbständigkeit im Denken zur eindeutigen Grundlage menschlicher Erkenntnisfähigkeit. Ihm galt die durch methodische Zweifel gewonnene Einsicht des Cogito, ergo sum als unbezweifelbar gewiß. Revueltas reizt nun die kartesianische Deduktion bis ins Extrem aus, um schließlich zu absurden bzw. absurd scheinenden Schlußfolgerungen zu gelangen. In Los días terrenales gerät Bautistas Tritt in menschliche Fäkalien zum Begründungsmoment einer neuen Ethik: "Tanto daba la deyección del hombre como la manzana de Newton, tratándose de puntos de partida. La gravitación universal o la defecación universal" (S. 127). Da ihn die Kontingenz des Seins vollständig erfaßt, wird es ihm möglich, wie andere vom Menschen "erfundene" Werte genauso Fäkalien zur Basis eines Wertesystems zu erklären: "Defeco, luego existo" (S. 132). Weniger drastisch wiederholt der Autor das logische Denkspiel in Los errores. Jacobo Ponce (vergleichbar konzipiert wie Gregorio Saldívar) betrachtet vom zehnten Stock aus das Treiben einer dicht befahrenen Straße. Er versucht sich in Gedanken in die Überlegungen eines Außerirdischen hineinzuversetzen, der - m i t Vernunft begabt- diese Wesen in sein Wissenssystem integrieren will. Dieser wird, so räsonniert er, möglicherweise, den philosophischen Leitsatz Descartes1 paraphrasierend, zu dem
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Chestov sucht die christliche Gotterfahrung und stellt den kartesianischen Rationalismus in Frage. Die Auseinandersetzung mit dem Blick des Menschen dient ihm als Ausgangspunkt, um die Vernunft und das von ihr abgeleitete Wissen kritisch zu hinterfragen.
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zwingenden Schluß kommen, daß es nichts Wirklicheres gibt als die Bewegung (von Autos): "Como lo que en aparencia tenía mayores visos de ser real, desde el principio, era la inquietud, el movimiento, la no-quietud de los objetos (...) comenzaría por la búsqueda de la primera, pues el movimiento en todo caso es lo más real de cuento existe: me muevo, luego existo" (S. 75). Revueltas relativiert auf diese Weise die Zwangsläufigkeit einer als eindeutig und logisch verstandenen Begründungskausalität. Die zweifelsfreien Gesetze gelten ihm als erfundene Systeme. Folglich genügen sie nicht, um vor der Arbitrarität des Seins unverbrüchlich Schutz zu gewährleisten und den Menschen zum Menschen zu erheben. Der puristische Kartesianismus ermangelt der Dimension ethisch-moralischer Fragestellungen.120 Ihr Fehlen leistet einer Glaubensbesessenheit, wie dem kommunistischen Dogma Vorschub. Der entmenschlichenden Doktrin stellt der Autor daher einen humanen Kommunismus entgegen, der ethisch-moralisches Verantwortungsbewußtsein als Direktive allem politischen Handeln voranstellt. Die wahren Kommunisten, wie beispiels-
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Negrin macht in diesem Zusammenhang auf einen der ersten Wissenschaftskritiker, Biaise Pascal (1623-62) aufmerksam, dessen Einfluß über Kierkegaard und Nietzsche bis heute auf den christlichen Existentialismus reicht. Pascal vertrat die Ansicht, daß ein methodisch nach axiomatisch-deduktiven Theorien und Wesensanalysen verfahrender Verstand nur unter der Voraussetzung einer weiteren Erkenntnisquelle, dem Organ der Intuition ('esprit de finesse"), des sentiment, der volonté, und vor allem der logique du coeur (Organ der Werterfahrung) funktionsfähig ist. Die Orientierungen über den Erkenntnisweg des Herzens, auf die der Mensch angewiesen ist, beruhen auf göttlichen Gnadenakten. Der berühmte Satz Pascals lautet in der deutschen Übersetzung: "Das Herz hat seine Vernunft, die der Verstand nicht kennt. Man weiß das aus tausend Beispielen" (Pascal: Die Dialektik der Wette. In: Gedanken, o.J., S. 47). Dabei gilt es die Doppelbedeutung von raison zu bedenken: "Vernunft" und "Grund", so daß der Satz nicht einfach ins Deutsche zu übertragen ist: "Le coeur a sa raison, que la raison ne connaît pas..." (ebd.: S. 48). In den Erkenntniswegen der Ratio und des Herzens lassen sich zwei Prinzipien der geistigen Disposition fassen: "Del corazón surge el 'espíritu de fineza' en tanto que de la razón el 'espíritu de geometría'" (Pascal zitiert nach Negrín 1995: S. 189). Diese Prinzipien sieht die Kritikerin im Roman durch Gregorio Saldívar und Fidel Serrano verkörpert.
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weise Gregorio Saldívar, Bautista und Jacobo Ponce bezweifeln absolute Gewißheiten und hinterfragen ihr Handeln. Sie sind mit Subjektivität und menschlichem Emphatievermögen begabt, und sie scheuen den Zweifel nicht. Die kritische Beleuchtung der Glaubensdispositionen eines dios antiguo und einer máquina de creer weist unbeirrbar darauf, daß es keinen wahren Ersatz für eine Bewußtwerdung und ein notwendiges Maß an humaner Verantwortung des Einzelnen gibt.
4.3.3. Die Botschaft des Todesengels Die Hinterfragung der christlich-synkretistischen Glaubensdisposition führt Revueltas mittels der Figur des Tuerto Ventura zum Verständnis Gottes als Resultat notwendiger Sinngebung. In ähnlicher Weise bietet er eine Erklärung für den orthodoxen Kommunismus eines Fidel Serrano, der als säkularisierte Glaubensform eine Rechtfertigung der eigenen Existenz darstellt. Wenn aber Glauben und Ratio als Glaubenssysteme erkannt sind, deren Wirkungskraft brüchig geworden scheint, so stellt sich drängend die Frage: was bleibt dem Menschen dann? Der Mensch bedarf eines Absoluten, dem er sich unterstellen kann: "No se puede vivir sin alguna instancia última cuya plena vigencia sintamos sobre nosotros. A ella referimos todas nuestras dudas y disputas como a un tribunal supremo. En los últimos siglos constituían esta sublime instancia las ideas, lo que solía llamarse la 'razón'. Ahora, esa fe en la razón vacila, se obnubila, y como ella soporta todo el resto de nuestra vida, resulta que no podemos vivir ni convivir".121
121
Ortega y Gasset 1970: S. 396.
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In Los días terrenales wird die Verñebelung, die "Erkrankung"122, des Glaubens
an die Vernunft vorgeführt. Aus dem Zusammenbruch überholter Glaubenssysteme ersteigt jedoch nicht Uber Nacht wie Phönix aus der Asche eine neue Glaubens-Welt, die dem Menschen Hort sein könnte im Angesicht der Kontingenz des Seins.123 Der Heilprozeß beansprucht Zeit und den Willen, sich der "Krankheit" aufrichtig zu stellen. In den Grundfesten seines Glaubenssystems erschüttert, wird der Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen. Der Verlust der Gewißheiten provoziert den Zweifel, dessen Wesen Ortega y Gasset durch die Dynamik einer zweideutigen Wirklichkeit gekennzeichnet sieht, und der vom Menschen dort Besitz ergreift, wo die Konturen des Eindeutigen drohend verschwimmen: "La duda, en suma, es estar en lo inestable como tal: es la vida en el instante del terremoto, de un terremoto permanente y definitivo".124 Dem Zweifel wohnt andererseits aber eine provokatorische Kraft inne, die den Weg zur authentischen Erfahrung des Selbst freilegen kann: " (...)se trate siempre de sustituir el mundo inestable, ambiguo, de la duda, por un mundo en que la ambigüedad desaparece. ¿Cómo se logra esto? Fantaseando, inventando mundos. La idea es imaginación. Al hombre no le es dado ningún mundo ya determinado. Sólo le son dadas las penalidades y la alegrías de su vida. Orientado por ellas, tiene que inventar el mundo. La mayor porción de él lo ha heredado de sus mayores y actúa en su vida como sistema de creencias firmes. Pero cada cual tiene que habérselas por su cuenta con todo lo dudoso, con todo lo que es cuestión. A este fin ensaya figuras imaginarias de mundos y de su posible conducta en ellos. Entre ellas, uno le parece idealmente más firme, y a eso llama verdad. Pero conste: lo verdadero, y aun lo científicamente verdadereo, no es sino un caso particular de lo 122
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Im Originaltext heißt es "la fe en la razón sufre una enfermedad" (Ortega y Gasset 1970: S. 396). Nach den Erfahrungen der Mexikanischen Revolution, der Oktoberrevolution, und beider Weltkriege, breitet sich sowohl in der Alten als auch Neuen Welt ein Lebenshaltung aus, die von der Kontingenz der Existenz überzeugt ist: "An die Stelle des Glaubens an die große natürliche Ordnung der Welt, an der der Mensch nur teilzuhaben braucht, an die 'Vernunft' in der Wirklichkeit, an die 'Vernunft in der Geschichte' (...) tritt die Erkenntnis, daß der Einzelne radikal auf sich selbst zurückgeworfen ist und die Welt von seinem Selbst her neu strukturieren mußt" (Krauss 1982: S. 220). Ortega y Gasset 1970: S. 393.
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fantástico. Hay fantasías exactas. Más aún: sólo puede ser exacto lo fantástico. No hay modo de entender bien al hombre si no se repara en que la matemática brota de la misma raíz que la poesía, del don imaginativo".125 In diesem Sinne hat auch Revueltas den Zweifel begriffen. Befragt dazu, wie er selbst seine Literatur etikettieren würde, erklärt er: "Como escéptica (...), yo no pertenezco a una escuela, a una moda, a una generación, pero sí creo en el escepticismo, en la duda, como uno de los grandes valores humanos. Qué importante es aprender a dudar. (...) - Yo creo que la mayor tragedia en el hombre es esa contradicción permanente en la que vive consigo mismo y con el medio que lo rodea. Y, sin embargo, creo que es esa contradicción la que lo mantiene vivo. Por eso cuando digo escepticismo hablo de algo muy distinto al pesimismo. El pesimista no cree en nada. El escéptico duda, pero cree". 26 In der Konfrontation mit der Welt des Popo/wca-Führers Ventura verliert der Intellektuelle Gregorio Saldívar den Glauben an die Allmacht der Vernunft. Seine bisherige Orientierung im Logos hebt sich angesichts der ihn umgebenden "Un-Vernunft" auf, während das Begreifen einer neuen Ordnung in eine unerreichbare Dimension rückt. Die tinieblas der Außenwelt werden zum Abbild der Innenwelt des Protagonisten, die Unbestimmtheit seines Seins gerät ihm ins Bewußsein: "Gregorio se internó un trecho en el monte para sentarse al pie de un árbol, en la oscuridad, otra vez rodeado de las tinieblas, solitario en medio de una tempestad de dudas. En el principio había sido el Caos, pero después la luz se hizo. Mas Gregorio no sabía si las tinieblas donde se encontraba progresarían hacia la luz o hacia una irremediable noche eterna" (S. 91). In der Figur Gregorios verdichten sich die Momente der Krisis, die aber -darauf wird später zurückzukommen sein- ein Münden des Chaos in eine Weltenschöpfung nicht ausschließen. Gregorio Saldívar, der Anti-Held, der skeptische
125 126
Ortega y Gasset 1970: S. 394. Revueltas im Interview mit Ignacio Solares: La verdad es siempre revolucionaria (1974). InSáinz 1977: S. 59.
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Held, inkarniert die Bürde des Menschen, sich seiner existentiellen Verantwortlichkeit bewußt zu werden. Neben der Begegnung mit Ventura wirkt das Eingreifen Epifanias entscheidend auf das weitere Schicksal des Helden.127 Die engelsgleiche und doch sündige Epifania, die bereits als Schutzengel Gregorios Wege behütete, wird nun zur Künderin einer Botschaft, einer Bestimmung, deren Urheber nun freilich nicht Gott sondern ein Unbekanntes ist.128 Die urspüngliche Bedeutung der Engel der christlichen Tradition, die ihre Funktion als Diener und Boten Gottes betont, dem Menschen die göttliche Wahrheit zu verkünden, bleibt so in Spuren erhalten.129 Die den Engeln zugeschriebene Schönheit, Reinheit und Erhabenheit kommen in der Gestalt der Außenseiterin jedoch nur entstellt zur Geltung.130 Epifania ist eine sehr irdische Schutzheilige, deren Schoß gleichzeitig die Frucht der Erkenntnis und den Keim tödlichen Verderbens birgt. Der Beischlaf mit ihr gewinnt für Gregorio in doppelter Hinsicht an Bedeutung: Er ist Initiationstod und Sühneopfer zugleich. Das synkretistische Textgewebe läßt sich hier auf zwei räumlich und zeiüich voneinander weit entfernte kulturelle 127
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Epiphanie bedeutet die Erscheinung einer Gottheit (besonders Christi) unter den Menschen. Epiphanias: Fest der "Erscheinung [des Herrn]" am 6. Januar; Dreikönigsfest. Engel treten in den Romanen Revueltas' in den verschiedensten Funktionen in Erscheinung. In Los errores erkennt die Prostituierte Lucrecia in der Gestalt des Fensterputzers:"(...) mi sucio ángel de la guarda (...). El ángel que todo lo ve" (S. 174). In Los días terrenales beobachten der Architekt Ramos und seine Frau die niñas angelitos. Bei Mohr ist die Aufgabe der Engel wie folgt zusammengefaßt: "Ihr Amt ist Anbetung und Lob Gottes (...), Botendienst als Träger der göttlichen Offenbarung (z.B. bei Abraham 1. Mose 18, 2; 19,1; Jakob 1. Mose 28, 12), Schutz und Hilfe fiir Personen und Völker (Tobias; Matthäus 18, 20; 22, 30; Hebr. 1,14)" (Mohr 1988: S. 87). Vgl. dazu Baumgart: "In der Engellehre des Mittelalters war ihre hochheilige Bedeutung allgegenwärtig. Kirchenväter suchten: '(...) die zugleich strenge und überwältigende Schönheit der Engel, ihre glühende Geistigkeit, ihre erhabene Reinheit, Kraft und Größe in immer neuen Bildern irdischen Begriffen faßbar zu machen"' (Baumgart 1958: S. 17). Engel verweisen auf die Wechselbeziehung zwischen der alltäglichen Wirklichkeit und dem Überirdischen (Vgl. Baumgart 1958: S. 66).
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Realitätsmuster zurückführen. Die Verbindung von Orgasmus und Erkenntnis spielte sowohl im Abendland bis ins Mittelalter und darüber hinaus als auch in den altmexikanischen Kulturen eine Rolle. Duerr schreibt über Höhlenkulte in Kleinasien und des Abendlandes und erzählt von mehrfachen Riten des "archaischen Initiationstodes"131: "Diesen Nachtfahrenden sind wir nachgegangen, und wir haben ihre Anführerinnen bis zu jenen >Erdmüttern< zurückverfolgt, in deren Schoß einstmals die Menschen ihre Individualität auflösten, >starbenVagina< nennen und die bei den Mexikanern >La Puerta< heißt. Die Indianer vermeiden den Inzest mit ihrer Mutter Wiriküta, indem sie vor dem Eintritt in deren Scheide alle Liebesgeschichten beichten und wieder zu den unschuldigen Kindern werden, als die sie einst den Mutterschoß verlassen hatten".133 Wenn man auch von Differenzen dieser unterschiedlichen Kulturen ausgehen muß, so eint sie im "archaischen Initiationstod" das wesentliche Moment, daß der Mensch seine gewohnte, seine alltägliche Perpektive verliert und sich verwandelt. Er erlebt eine Krisis in der Ordnung der Dinge. Die Normalität ist außer Kraft gesetzt. Die Maßstäbe von Ordnung und Chaos lösen sich auf. Das profane Leben stirbt und weicht der Geburt eines gereinigten und geheiligten Lebens. Im Liebesakt mit der indianischen Prostituierten gerät Gregorio an die
131 132 133
Vgl. Duerr 1978: S. 40ff; S. 215. Duerr 1978: S. 58. Duerr 1978: S. 42.
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Grenzen seiner alltäglichen Lebenswirklichkeit und tritt an die Schwelle der Uberirdischen Mächte: " (...) aquello fue una visita, un viaje a cierta atmósfera no terrestre. De súbito, la semejanza, la identidad del acto sexual con la muerte, se le hicieron claras e indudables. (...) Era una cesación. Exactamente una cesación de nada, una negrura informulable, una voluntad hacia el ser , hacia el existir, pero también hacia el Noser. (...) El paso por ese sitio anterior al pensamiento, donde la materia vibra en el segundo en que adquirirá una forma nueva o adquirirá la antigua. Antes del habla. La Muerte. Sin duda alguna la muerte" (S. 214). Im tödlichen Akt der Liebe erlebt er seine Neugeburt. Man kann den Besuch des von Krankheit gezeichneten Engels auch mit Blick auf den Todesengel Chestovs zu deuten versuchen. 134 Dieser hält eine besondere Gabe für die Menschen bereit: "Ocurre que el Ángel de la Muerte advierte haber llegado demasiado temprano, que el término del hombre no se ha cumplido aún; no se apodera entonces de su alma, no se muestra a ella siquiera; pero deja al hombre uno de los numerosos pares de ojos de que su cuerpo está cubierto. Y el hombre ve, luego, además de lo que ven los otros hombres y de lo que él mismo ve con sus ojos naturales, cosas extrañas y nuevas; y las ve diferentes a las de antes, no como ven los otros hombres, sino como ven los que pueblan los 'otros mundos' (...). El testimonio de los antiguos ojos naturales, de los ojos de 'todo el mundo' contradice completamente el de los ojos dejados por el ángel".135 Nach dem Besuch des Todesengels lebt der Mensch im Widerstreit zwischen zwei Visionen bzw. zwei Blicken, einer ist von dieser und einer von der jenseitigen Welt. Dieser Mensch weiß nun, daß zwischen Tod und Leben eine wechselseitige Abhängigkeit besteht, und verliert die aristotelische Glaubensgewißheit, daß Tod und Leben sich gegenseitig ausschließen: "Y 'trastornada' la
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Leon Chestov: Spekultation und Offenbarung. Chestov bezieht sich auf das Schlüsselerlebnis Dostojewskis, der zum Tode verurteilt worden war, und dessen Hinrichtung plötzlich abgebrochen wurde. Dieses Mal war der Todesengel, der zum Menschen herabsteigt, um die Seele vom Körper zu trennen, zu früh gekommen. Dadurch hatte sich der Blick Dostojewskis auf die Welt radikal verändert. Siehe auch Revueltas O.C. 24: Sobre un libro de Chestov: el arte y las evidencias, S. 195197. León Chestov zitiert nach Negrin 1995: S. 155.
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concepción sobre la vida y la muerte, todas las oposiciones establecidas por el sentido común se ponen en tela de juicio".136 Derjenige, der nun über diesen zweiten Blick der Wahrnehmung verfügt, gilt als auserwählt. Doch gleichzeitig erscheint er verdammt. Der Empfang des zweiten Augenpaares privilegiert und vernichtet zugleich, da der zweite Blick den Einzelnen seiner Sicherheit und Gewißheit entäußert, und ihn von den übrigen Menschen entfernt: "(...) priva a quien cuenta con ella [la segunda visión] de toda seguridad o certeza; revela verdades terribles e impide la comunicación con el resto de los seres humanos. El que ha recibido la visita del ángel está, pues, sentenciado a la soledad".137
Wenn nun der Auserwählte, der das Geschenk des zweiten Augenpaares erhalten hat, es müde wird, mehr zu sehen als die anderen, wenn er es nicht mehr ertragen kann, versteckte und tieferliegende Wahrheiten zu erkennen, wird er die Augen schließen wollen, um der Welt nur noch mit seinen gewöhnlichen Augen zu begegnen: "(...) Esto es lo que le obliga a cerrar a veces su segundo par de ojos y a contemplar el universo con ojos ordinarios, ciegos".138 Er wird danach trachten, aus der konfliktiven Spannung, die die Blicke aus der diesseitigen und jenseitigen Welt freisetzen, zu fliehen. Gregorio Saldívar allerdings erhält nach dem Besuch des Todesengels keine Möglichkeit mehr, in die Welt der Schlafenden zurückzukehren. Bis zum Ende seines Weges wird er das Augenpaar des jenseitigen Sehens nicht mehr schließen können und zur Wahrhaftigkeit getrieben werden.
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Zitiert nach Negrin 1995: S. 173. Negrin 1995: S. 174. Chestov zitiert nach Negrin 1995: S. 174. Diejenigen, die den zweiten Blick nicht besitzen, benennt Revueltas auch als Schlafende wie in La frontera increíble (Dormir en tierra). Im Interview mit Ignacio Solares erwähnt Revueltas ausdrücklich Chestovs Las revelaciones de la muerte, und erklärt: "Yo creo que, en cierta forma, el verdadero artista siempre ve la vida con los ojos de la muerte, y este es sus gran drama" (Revueltas im Interview mit Ignacio Solares: La verdad es siempre revolucionaria (1974). In Sáinz 1977: S. 59).
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Der Liebesakt mit Epifania bedeutet aber - w i e gesagt- auch ein Sühneopfer. In der freiwilligen Ansteckung mit einer Geschlechtskrankheit reinigt sich Gregorio von seiner menschlichen "Schuld"139, zu der er sich im Bewußtsein der unbedingten Verantwortlichkeit des Subjekts uneingeschränkt bekennt: "Me pueden horrorizar todas las inauditas crueldades de los nazis en Alemania o de los japoneses en China, pero yo, Gregorio Saldívar, soy culpable de ellas porque esas crueldades las han consumado hombres como yo. Me avergüenzo por mí mismo de que las guerras existan; me avergüenzo por mi mismo, y no tengo exculpante que me valga, a causa de todos los crímenes, las bajezas, las ruindades, los pecados que se cometan en no importa qué parte de la tierra por los hombres, por mis semejantes. Y nada de buscar consuelo en la idea de que, en cambio, yo soy un ser moral, noble, recto y demás. ¡Nada de eso! Soy responsable por los otros tanto como por mí mismo" (S. 198).140
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Die Schuld zählt zu den Hauptmotiven des literarischen Werkes Revueltas'. Nur selten entgeht eine Figur dieser Bürde: "La mayor parte de los habitantes del universo narrativo de Revueltas son culpables, hayan o no transgredido alguna norma. A veces algún inocente asume en forma voluntaria la culpa colectiva, pero de cualquier manera nadie se mantiene al margen de la problemática de culpabilidad" (Negrín 1995: S. 264). In El algún valle de lágrimas verspürt der von kapitalistischem Egoismus zersetzte Pfandleiher keinerlei Schuldgefühle bei der Ausbeutung seiner Mitmenschen. Dagegen wird die Hauptfigur Jack Mendoza in Los motivos de Caín schuldig, weil er in der Isolation verharrt und zu keinem Kompromiß fähig ist: "Jack paga su culpa, el rechazo al compromiso, condenado a la no pertenencia, a semejanza del Caín bíblico (...)" (Negrín 1995: S. 243). Auch die Kurzgeschichten: Dios en la tierra-, ¿Cuánta será la oscuridad?; El corazón verde-. El quebranto-, La soledad-. El abismo-, El dios vivo-, La caída (O.C. 8, Dios en la tierra, 1979)); und La palabra sagrada; Los hombres en el puntano\ Noche de Epifanía-, La hermana enemiga-, (O.C. 9, Dormir en tierra, 1987), insistieren in der Thematisierung von Schuld. In der Sammlung Material de los Sueños (O.C. 10, 1974) wird die Schuld allumgreifend: Hegel y yo-, Cama 77; Sinfonía pastoral-, Resurrección sin vida-, El reojo del yo und Ezequiel o la matanza de los inocentes-, Dagegen findet sich Unschuld explizit nur bei den niños inocentes wie Chonita in El luto humano oder Bandera in Los días terrenales, in diesem verkörpern auch die lesbischen Mädchen paradiesische bzw. sexuelle Unschuld.
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Die von ihm als Individuum abstrahierende Annahme der Schuld und Betonung der Verantwortlichkeit des Subjekts differenziert ihn nach der Auffassung Frankenthalers von der Konzeption der französischen Existentialisten, die die freie Projektion des Individuums vertreten: "La culpa de Gregorio abarca más que una relación fenomenológica de culpa, y se basa más bien en la ética individual y propia que Gregorio se ha inventado para sí mismo, utilizando su propia escala de valores" (Frankenthaler 1979: S. 141). Dagegen sieht Negrín ihn aufgrund des Schuldbegriffs nur stärker in die Tradition des christlichen Existentialisten León Chestov einge-
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Er sühnt seine Schuld, die genuin menschliche Schuld, mit dem ihm am wertvollsten erscheinenden Gut, seinem Geschlecht und möglicherweise seinem Leben: "Un acto de amor, de agradecimiento, de desesperación. Tal vez, sin embargo, algo muy próximo al suicidio también. Con ese contagio consciente y deliberado, Gregorio se limpiaba, hacía un sacrificio de su sexo, un acto afirmativo de renuncia, con el cual reintegraba a su ser la noción de pureza, de aislamiento, de soledad esenciales que le servirían para adquirir el indicio, (...) acerca del destino de sus semejantes, pues si él era capaz de desprenderse de uno de esos bienes supremos inalienables (...) que son tan querido por uno y gracias a ello, precisamente, pueden llegar a convertirse en el obstáculo, supremo en igual medida, que nos impedirá resistir la verdadera desesperanza, la verdadera soledad a que debe aspirar el hombre, entonces esto indicaba que otros hombres, otros seres humanos como él (...) podrían consumar también, en el orden de cosas que fuese, los desprendimientos absolutos, las renuncias absolutas, que harían del hombre el ser humano por excelencia, el ser más orgulloso, doloroso y desesperadamente consciente de su humanidad" (S. 213). Das Opfer eines subjektiv wertvoll empfundenen Besitzes, das jeder Einzelne darzubringen vermag, bietet die Chance, sich von der inhärenten Schuld des Menschen, der Menschheit, zu reinigen. Der freiwillige Verzicht als Akt der Überwindung des Egoismus erlaubt die Hoffnung, daß der Mensch zu sich selbst finde. Auch das Motiv des Opfers ist in das Wertekontinuum der mestizischen Kultur eingebunden und impliziert zahlreiche Konnotationen. Im indianisch-mesoamerikanischen Glauben hat das Opfer seinen festen Platz: Die Götter schufen die Welt auf der Basis von Opfergaben (siehe die zahlreichen Mythen von Schöpfung und Opfern bzw. auch die zahlreichen Opferrituale); die Menschen sind Verbündete der Götter und bürgen für die Kontinuität der Schöp-
bunden:"(...) el hombre es siempre culpable, porque ha heredado el pecado original (...). A esta primera culpa se agrega el fratricidio, de ahí que el hombre esté condenado al desarraigo y la perpetua fuga, así como a vivir vigilado y perseguido por una mirada transcendente" (Chestov zitiert nach Negrín 1995: S. 257).
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fung. 141 Sie erhalten den Kosmos durch ihre Opfer, wobei wesentlich ist, daß das Opfer einiger die anderen rettet. Die Liebes- und Opferbereitschaft Gregorios werden zur Grundlage seiner Selbstfindung: "He aquí una enfermedad contraída por razones éticas" (S. 202). Der Liebesakt, der eine Bejahung des physischen Körpers und der erotischen Liebe bedeutet, vertieft die Bindung seiner menschlichen Liebe an das Diesseits. Nicht in der Überwindung des Eros, sondern in seiner Akzeptanz begreift er die Chance, im Leben einen tieferen Sinn auf der Basis einer ethisch begründeten Liebesbereitschaft zu finden: "El desamor a la muerte (...) implica a su vez un desamor y falta de respeto al sexo; es decir, lo que puede conducirnos a las peores perversidades" (S. 221). Die Erfahrung der Liebe löst Gregorio, wenn auch nur für Momente, aus seiner Selbstbezogenheit, und eröffnet ihm die Möglichkeit der Transzendenz des Ich. Diese wahrhafte Begegnung mit einem anderen wird sich gleichwohl nicht wiederholen. Im Gegenteil bezahlt Gregorio Saldívar die Erweiterung seiner inneren Wahrnehmungsfähigkeit mit einer zunehmenden
sozialen
Ausgrenzung.
Als
Intellektueller,
Repräsentant
der
kommunistischen Partei, und schließlich als Jünger Venturas partizipiert er gewissermaßen
als teilhabender
Beobachter
inmitten
seiner
tinieblas
am
Gemeinschaftsleben der Indianer. Er erfährt, wie sich die Schranken seiner geistigen Disposition aufheben. Die geradezu idyllisch-romantisch
141
wirkende
Vgl. Nebel 1988: S. 179; Paz 1989: S. 49ff. Paz weist auf den fundamentalen Unterschied in der aztekischen und der christlichen Konzeption: "Posiblemente el rasgo más característico de esta concepción es el sentido impersonal del sacrificio. Del mismo modo que su vida no les pertenecía, su muerte carecía de todo propósito personal. (...) Nuestros antepasados indígenas no creían que su muerte les pertenecía como jamás pensaron que su vida fuese realmente 'su vida', en el sentido cristiano de la palabra. (...) El azteca era tan poco responsable de sus actos como de su muerte" (S. 49). Dagegen die Konzeption des Opfers in der christlichen Tradition: "Para los cristianos, el individuo es lo que cuenta. El mundo - l a historia, la sociedad- está condenado de antemano. La muerte de Cristo salva a cada hombre en particular. Cada uno de nosotros es el hombre y en cada uno están depositadas las esperanzas y posibilidades de la especie. La redención es obra personal" (S. 50).
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Serrano
Distanzierung zu sich selbst und seiner Umgebung verliert sich jedoch rasch. An ihre Stelle tritt die Erfahrung einer Verengung der Welt. Die sich steigernde räumliche Begrenzung verschärft den Eindruck einer unentrinnbaren Entfremdung. In das aggressive Motiv des unaufhaltsamen Zusammenschrumpfens des Raumes sind die Themenkreise: Unterdrückung und Elend, Krankheit und Einsamkeit, Fanatismus und Gewalttätigkeit eingeschlossen.142 Die Unmöglichkeit einer wahren Kommunikation wird deutlich, als das Gespräch mit Fidel Serrano in dem an einen Gefängnishof erinnernden Patio des Consejo de
Desocupados
scheitert. Gregorios Erkenntnisstreben prallt hier auf Kontrollinstanzen und -mechanismen, die durch die Koordinaten des Dogmas einerseits und des Machtapparates andererseits vorgegeben sind. Das anwachsende Gefühl der Isolation wird durch die geschlossenen Fenster des Armenhospitals zusätzlich verstärkt. Zur Nummer degradiert, ist er der Verachtung durch die ihn behandelnden Ärzte und Krankenschwestern preisgeben: "Son peores que los animales -dijo [el médico] en tono de desconsuelo (...)-; este amigo debió presentarse hace dos semanas cuando menos. Mire usted nada más - y señalaba. Los labios de la enfermera se contrajeron de repugnancia" (S. 213).
Unüberwindbar scheint die Mauer, die ihn auch von den übrigen Kranken trennt. Ausgeschlossen von allen, wird das Gefühl des Nicht-Dazugehörens übermächtig: "Pero lo peor de todo (...) es esa sensación de de invalidez, de sentirme distinto, inferior a todos, separado por un muro de los demás" (S. 202). Verlassen und ohne Schutz sieht er sich seiner eigenen Existenz gegenübergestellt: "'Para ella no soy un hombre, un ser humano', pensó con una sensación de orfandad" (S. 205). Unfähig, noch Verbindung zu seinen Mitmenschen aufzu142
Die Begrenzung der menschlichen Freiheit, angezeigt durch das Motiv der Reduzierung des Raumes, beschäftigt Revueltas seit Los muros de agua in allen seinen Romanen und in fast allen Kurzgeschichten. In El luto humano ist sie angezeigt durch die Kreisbewegung des Exodus der Siedlerfamilien. In El apando schließlich ist die totale Geschlossenheit des Raumes auf Zeichen- und Inhaltsebene perfektioniert.
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nehmen, überläßt er sich der Einsamkeit und verstummt. Das Motiv der Isolation ist schließlich
in der absoluten räumlichen
Geschlossenheit
einer
Gefängniszelle, die das Innerste der repressiven Spirale des Staatsapparates verkörpert, maximal ausgereizt. Gregorio stößt auf Kain, auf die Häscher, die bereit sind, ihren Bruder zu töten. Gleich dem christlichen Erlöser erleidet er die Qual der Folter und der Demütigung durch die Henkersknechte des Staates: "'¡No le gusta al desgraciado! ¡Nos cree unos cabrones!' Ahora Gregorio se transformaba, de ofendido, en ofensor. Aquella frase había sido como un botón mágico al que se oprimiera para absolver de toda culpa, para limpiar de todo pecado a los verdugos. 'Sed tengo' Entonces le dieron a beber vinagre: nada más lógicamente humano. Los esbirros tenían ahora una bandera (S. 227). Die physische Grausamkeit rückt gegenüber der Grausamkeit einer bedrückenden Wahrheit in den Hintergrund. Die Gesicher der Henker spiegeln ihre Gewißheit, das Recht auf ihrer Seite zu haben. In unerschütterlichem Glauben sehen sie ihre Macht Uber den anderen gerechtfertigt: "Todo comenzó igual a un entretenimiento inocente, risueño y divertido. Aquellos hombres tenían algo de infantil y despreocupado, como colegiales que jugasen a un deporte apenas brusco. (...) Un rostro descompuesto, alarmado, de ojos iracundos, y a mismo tiempo un rostro de hombre, de ninguna otra cosa que de hombre, reveladora, alucinantemente puro y justo, descompuesto por la idea de la justicia y el bien. (...) Un rostro fanático, extraordinario, lleno de asombro y de santo furor" (S. 226227). Das Gesicht des Menschen, das Gregorio als nicht dechiffrierbare Maske143 erschienen war, das es dem einzelnen erlaubt, sein Innerstes verborgen zu halten, um in der Gemeinschaft mit anderen zu überleben, verliert in entfesselten 143
Vgl. dazu im Roman: "La fisonomía del hombre es un conjunto de cifras convencionales (...) un conjunto de simulaciones a través de las cuales es muy difícil, cuando no imposible, descubrir la verdad interna de cada individuo, pues el rostro no es el 'espejo del alma', sino el instrumento de que el hombre se vale para negar su alma, para disfrazarla, para dar de ella (...) la versión que reclaman las circunstancias" (S. 82). Sein wahres Gesicht kann der Mensch in extremen Situationen nicht mehr verborgen halten. Bereits in Los muros de agua sind verzerrt entstellte Gesichter als Motiv eingeführt, als die Sträflinge an Bord des Schiffes auf dem Weg zu den Strafinseln eine Schlacht mit ihren eigenen Exkrementen fuhren (S. 55).
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Momenten seine schützende Funktion und offenbart ein verstecktes, ein anderes Gesicht: "El rostro del hombre que ninguna bestia puede tener. El rostro del héroe mientras en un combate aniquila con saña a su enemigo. El rostro del aviador que deja caer una bomba sobre una ciudad abierta. (...) El rostro de Savonarola al execrar a los pecadores. El rostro de un náufrago al apoderarse del sitio que correspondía a un niño en el bote salvavidas. El rostro, el rostro de Dios, porque el hombre está hecho a su imagen y semejanza. (...) Ya los hombres no podrían ocultarle la verdad secreta de ese rostro oculto y verdadero. Nadie, nadie podría ocultárselo jamás" (S. 227-228). Der Mensch ist nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Aber wer ist dieser Gott? Der Autor spricht vom zürnenden und strafenden Gott des alten Testaments, diesen allmächtigen Gott, der auch zu Haß und Zerstörung fähig ist. 144 Aber beruft er sich tatsächlich auf den dios antiguo? Mit Gregorio läßt sich diese Frage beantworten: "(...), lo que había ocurrido con Gregorio en la cárcel le distenciaba en definitiva, transformándolo en un ser aparte, dolorosamente sabio y desnudo. Guardaba por ello una inmensa gratitud a su destino, que le permitía morir en paz, de mano de los hombres. (...) Era preciso recordar los hechos, repasarlos, asimilarlos. Ninguna otra forma que ésa para disponerse con dignidad para la muerte. Era lo mismo que si a un creyente se le presentase, en el último momento, la figura de Dios vivo. Esto era su Dios vivo. Y temible cosa es estar en manos del Dios vivo" (S. 225).145 Die Paraphrase des Bibelwortes: "Y que terrible cosa es estar en las manos de dios vivo" (Heb. 10.31.)146, führt uns zurück zur Ursprungsszene von Los días terrenales, zur menschlichen Schöpfung: "En el principio había sido el Caos, antes del Hombre, hasta que las voces se escucharon" (S. 9). 147 Der Satz: "Der 144
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146 147
Siehe auch Dios en la tierra (In O.C. 8): "Era otra vez Dios cuyos brazos apretaban la tierra como dos tenazas de cólera". Hervorhebung durch die Verfasserin. Vgl. auch die Kurzgeschichte El dios vivo (In: O.C. 8), die von einem Indianer erzählt, der die Gesetze seines Volkes überschritten hat. Im Bewußtsein seiner Schuld waltet der lebendige Gott in ihm und fuhrt ihn zu Sühne und Opfer: "(...) hermético y superior (...); era un dios lejano, corporal, presente" (S. 149). Bekannt auch als Diktum Kierkegaards. Hervorhebung durch die Verfasserin.
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Mensch ist nach dem Ebenbild Gottes geschaffen" läßt sich auch umkehren: "Gott ist nach dem Ebenbild des Menschen geschaffen". Der Mensch ist Gott, der Mensch ist der dios vivo. Der Mensch ist es, der "allmächtig" und auch zu Haß, Bösartigkeit und Zerstörung fähig ist: "Una masa que de lejos parecía blanca, estaba ahí compacta, de cerca fea, brutal, porfiada como una maldición. '¡Cristo Rey!' Era otra vez Dios, cuyos brazos apretaban la tierra como dos tenazas de cólera. Dios vivo y enojado, iracundo, ciego como Él mismo, como no puede ser más que Dios, que cuando baja tiene un solo ojo en mitad de la frente, no para ver sino para arrojar rayos e incendiar, castigar, vencer".148 Jeder Mensch ist schuldig, weil er Kain und Abel, Abraham und Isaak, Gott und Christus ist. Blasphemisch und doch zugleich von einem hohen moralischen Ethos durchdrungen, konfrontiert der Autor in der Gestalt Gregorios die Frage nach der conditio humana. Er nimmt den Menschen ganz in die Pflicht: "Gregorio se responsabiliza como comunista y como individuo, como hombre que no puede renunciar ni a su soledad ni a su responsabilidad individual"
U9
Wie der neutestamentarische Christus sühnt er durch seine Selbstopferung die Sünde der Menschheit. 150 In seinem Leiden bietet sich dem Volk eine Möglich-
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O.C. 8: Dios en la tierra, S. 15. Vgl. Frankenthaler 1979: S. 41. Frankenthaler betont in diesem Zusammenhang, daß Revueltas dem Einzelnen eine größere Verantwortung aufbürdet als ein Existentialist sartreanischer Prägung, da dieser sich auf die freie Projektion des Einzelnen auf die Zukunft beschränke. Beispielsweise vermag Roquentin das Bewußtsein der Kontingenz im Engagement -in seinem Fall durch Schreiben- durch die Ausrichtung auf die Zukunft, zu überwinden. Vgl. dazu im vorangehenden Kapitel zu El luto humano die Analyse der Bedeutung des Kreuzes und der Kreuzigung. Der Ursprung des synkretistischen Volksglaubens liegt in der Begegnung der indianischen Bevölkerung mit Kreuzen und Kruzifixen, sowie dem gepeinigten Jesus. Da das Kreuz in ihrer eigenen Glaubenswelt von zentraler Bedeutung gewesen war, fand es als Symbol wie selbstverständlich Eingang in ihr Glaubenskontinuum: "El sacrificio de la cruz no era para ellos un 'scandalum crucis' como para los hombres de la Antiguedad Europea, por el contrario, era algo familiar: el hombre es salvado y redimido con la penitencia y los sacrificios" (Nebel 1988: S. 181). Das Motiv wird von Revueltas immer wieder aufgegriffen: In Los errores (1964) wird Eladio Pintos auf höheren Paiteibefehl geopfert, und ebenfalls mit Christus am Kreuz verglichen. In El apando (1969) lesen wir:"(...) y dejarlos [a los presos] cruci-
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keit, dem eigenen Leid zu begegnen. 151 Seine subjektive Sinnsuche macht ihn zugleich auch zu einer existentialistischen Christus-Gestalt. Deutlich haben sich im Vergleich zu El luto humano die Akzente verschoben. Während die synkretistische Heilsfigur Natividad unbeirrt auf das Glück einer kommunistischen Eschatologie verweist, vermag Revueltas acht Jahre später die Zukunft des Menschen mit Blick auf die Erfahrungen des real existierenden Sozialismus nicht mehr in die Realisierung kommunistischer Heilsversprechen zu legen. Dennoch sind positive kommunistische und menschliche Werte vor allen an Gregorio geknüpft. In der freiwilligen Absonderung von der Gemeinschaft bietet sich ihm die Chance der absoluten Freiheit, den wahrhaften Sinn des menschlichen Daseins zu enträtseln: "Der Vorgang der Bewußtwerdung bezeichnet eine Schwelle, hinter die nicht mehr zurückgeschritten werden kann. Er ist der Sündenfall des Menschen, der in diesem Augenblick die Unschuld des vorreflexiven Stadiums der spontanen Handlungen verloren hat und nun seine absolute Freiheit erkennt".152
An Gregorio veranschaulicht Revueltas die Freiheit des Einzelnen. Eine Freiheit, die er nicht wählen kann, sondern zu der er verpflichtet ist. Gregorio ist der Unbehauste, der Verlassenste und Einsamste, aber zugleich der fähigste Charakter, da er den Weg aus der Unbehaustheit, aus der Offenbarung des Nichts, zu einem authentischen Leben findet. 153 Was auf den ersten Blick negativ und bedrohlich wirkt, wird als Chance erkennbar: Wenn sich der Mensch aus seiner Einsamkeit heraus gegenüber der Welt öffnet, wenn er sich über die
ficados" (S. 55). Ebenfalls tritt das Motiv in den Kurzgeschichten in Erscheinung.
Vgl. in O.C. 8: La acusación-, Cuánta será la oscuridad; La frontera increíble; und Cama 11. Relato autobiográficoi O. C. 10). 151
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Analog zu der Möglichkeit, sich im bekannten Bild des leidenden Christus wiederzufinden; vgl. Westheim 1985; Nebel 1988; Lustig 1989; Paz 1989. Krauss 1982: S. 227. Hinsichtlich dieser Auffassung stimme ich mit der Einschätzung Frankenthalers überein. Diese positive Bewertung hat sich allerdings bei der Kritik bislang nicht völlig durchgesetzt. Auch Negrin (1995) sieht in Gregorio das verlorene Subjekt, "que no pertenece", y "está perdido en el universo".
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Sinnlosigkeit seiner Existenz Rechenschaft ablegt, kann er zu wahrem Sinn gelangen. Der Tragik des äußeren Scheiterns Gregorios ist die Größe seiner Erkenntnis entgegengesetzt, da sein Bewußtsein, seine Haltung "im Zweifel zu leben" es ihm ermöglichen aus seiner Einsamkeit kreativ zu wirken. Wissend und anerkennend, ihr nicht entrinnen zu können, bereitet er sich darauf vor, sich ihr ganz zu stellen. Die Annahme der Einsamkeit bedeutet die Grundlage einer authentischen Existenz: "(...) aprender a vivir en la soledad de espíritu, amarla a pesar o sobre todo porque de ella se derivan todos los sufrimientos y todas las angustias que son lo único real y verdadero" (S. 197).154
Revueltas hat sich vom zielstrebigen Wirken des Hegeischen Weltgeistes verabschiedet. Er betrachtet den Einzelnen nicht mehr als Teil einer Totalität, innerhalb der ihm eine besondere Funktion zukommt. Gregorio erschafft seine Wahrheit in absoluter Einsamkeit aus eigener Kraft und subjektivem Verstehen. Dagegen wirkt die Einsamkeit Fidel Serranos, der ohne Reflexion am kommunistischen Glaubensgerüst festhält, nur mehr zerstörerisch. Die Einsamkeit erscheint hier als unaufhebbarer Zustand des menschlichen Daseins, dem jeder einzelne ausgesetzt ist, und der er sich zu stellen hat. Diese Botschaft mußte Feindschaft im kommunistischen Lager provozieren, da sie dem marxistischen Verständnis, das Einsamkeit als historisch bedingtes und damit aufhebbares Phänomen begreift, diametral entgegengesetzt ist. Die existentialistische Konzeption des Lebens dagegen impliziert, daß kein Glauben den Menschen vor der kosmischen Unbehaustheit bewahren kann: "Der Existentialismus hatte das Individuum zu höchster wertschöpfender Moralität
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Revueltas' alter ego Gregorio stellt sich dem einsamen Kampf im Bewußtsein, daß dies der einzige Weg zu einem authentischen Leben ist. Dagegen wird Jack Mendoza, der Protagonist von Los motivos de Cain (1957), die Einsamkeit fliehen, und sich damit selbst zur Inauthentizität verdammen.
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verpflichtet, die Freiheit und Verantwortung des Einzelnen ins Unendliche gesteigert".155 Die Radikalität der Existenzphilosophie birgt aber auch eine Hoffnung: In der Entdeckung des einsamen Ich liegt die Chance, dem anderen begegnen zu können. Miguel de Unamuno hat bereits zu Beginn des Jahrhunderts die Akzeptanz der Einsamkeit als Voraussetzung erachtet, die ihre Überwindung allererst ermöglicht: " [...] creo que es la soledad la que hace a los hombres verdaderamente sociables y humanos. [...] es la soledad la gran escuela de sociabilidad".156
In der Akzeptanz der soledad, in der wahren Begegnung mit sich selbst, liegt die Chance der wahren solidaridad. Gregorio verbindet die existentialphilosophische Reflexion des inneren Handelns und das marxistische Postulat der gesellschaftlichen Praxis, also der Solidarität.157 Der skeptische Held gerät hier unmittelbar zum Abbild des Autors, der sich im beständigen Widerstreit mit sich selbst zwischen den Extremen der menschlichen Subjektivität und der Notwendigkeit zur politischen Verpflichtung bewegte: "Revueltas führte einen ständigen Dialog -besser gesagt: ein ständiges Streitgespräch- mit seinen philosophischen,
ästhetischen
und
politischen
Ideen.
Seine
Kritik
der
kommunistischen Orthodoxie war gleichzeitig Selbstkritik".158 Vor den Pforten des eigenen Todes, angesichts der Endlichkeit des Seins, begreift Gregorio die Essenz der conditio humana:
155 156
157
158
Krauss 1982: S. 247. Miguel de Unamuno: Soledad (1905). In Obras Completas. Ed. Manuel Garcia Bianco, Bd. 1, Madrid 1966, S. 1257 und S. 1263. Zitiert nach Schräder, Ludwig: Aspekte der 'soledad' in der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Lopez de Abiada/Heydenreich 1983, S. 811-830. So hat beispielsweise Kierkegaard die umfassende Verantwortung des aus seinen Bezugssystemen abstrahierten, vereinzelten Einzelnen betont. Vgl. Krauss 1982: S. 220. Octavio Paz: José Revueltas. Christentum und Revolution. Zweite Anmerkung (1979): S. 211-212. In: Zwiesprache. Essays zur Kunst und Literatur, 1984.
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"Fantástica oscuridad, amadas tinieblas. Eran la memoria del ser, la más remota memoria zoológica (...) El círculo inacabable de la noche humana, desde la del vientre materno hasta la del cosmos; la incertidumbre, la desazón, la tristeza, la desesperanza del hombre, como fruto de ese origen terrible de tinieblas, de ese dardo primero con que lo hirió la vida consciente, y después, esa insensata y torpe lucha, ese loco combate contra algo de que el hombre no podrá despojarse jamás, pues lo lleva dentro de si como su signo y su definición: la muerte. ¿Por qué entonces no reconocerla, no amarla como parte que es nuestro, en lugar de engañarnos y mentirnos acerca de ella? ¿Por qué no aceptar la incertidumbre, el desasosiego eterno y sin fin como la verdadera e inalienable condición humana, la única heroica y valiente? La única capaz de darnos la auténtica dignidad?" (S. 224).159 Dem Menschen bleibe nur, die eigene Wahrheit zu ertragen, indem er akzeptiert, daß es keine andere Wahrheit gibt: "En cierta forma es un asunto privado, personal, de temperamento, y cada quien debe encontrarlo. Porque el problema consiste en soportar, resistir la verdad interna de uno mismo, aunque esa verdad sea mentira. (...) Soportar la verdad (...) pero también la carencia de cualquier verdad" (S. 232).160 Mit dieser Einsicht wird Gregorio zum nächsten Verhör, zur nächsten Folter geführt: "Para crucificarlo. Ésa era su verdad. Estaba bien" (S. 232). Gregorio ist am Ziel seiner Lebensreise angelangt. Das Streben nach Erkenntnis mündet, ausgehend von der Ursprungserfahrung vorreflexiver kosmischer Geborgenheit über die Grunderfahrungen von Leid, Schuld und Tod, in der Erkenntnis der einzig gültigen Wahrheit: der Negation jeglicher absoluter
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160
Konzentriert man die Lektüre auf den "círculo inacabable de la noche humana, desde la del vientre materno hasta la del cosmos", so wird eine negative Interpretationsfolie zwingend. Vgl. Negrín: "El círculo implica el encierro sin escapatoria. La noche, las tinieblas, sintetizan simbólicamente la negatividad: ausencia de amanecer, privación de futuro" (Negrín 1995: S. 183). So folgert die Autorin auch konsequent: "Los distintos elementos del discurso de Gregorio conducen a la concepción que (...) el hombre habita irremisiblemente und prisión existencial. Las innúmeras cárceles padecidas por los personajes son metáforas de la condición humana" (Negrín 1995: S. 183). Auch in Los errores (1964) wird das Topos der Wahrheit zum Thema. Die Hauptfigur Jacobo Ponce schließt die Möglichkeit einer einzigen und wahrhaftigen Wahrheit aus: "¿Qué es la verdad? La pregunta de Poncio Pilato encarna la más alta y serena sabiduría, y para los que sabemos la mentira de Cristo, la única verdad es la falta de verdad: verdades concretas, transitorias, tangibles".
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Wahrheit.161 Er erlebt in einem Höchstmaß an subjektiver Gewißheit seine wahrhafte Menschwerdung in der Anerkennung der einzig menschlich greifbaren Wahrheit: der Endlichkeit der Existenz.
Ende der 40er Jahre mußte in Mexiko die Haltung Gregorios auf Unverständnis und Abwehr stoßen, da sie dem Bestreben der Eliten entgegenstand, eine Nation auf der Basis allgemeingültiger nationaler Werte zu schaffen. Sinn war gegeben, indem man dem Fortschritt nach angelsächsischem Muster nacheiferte. Für existentialistische oder marxistische Weltdeutungen war kein Raum, wie auch Frankenthaler hervorhebt: "En aquella época, dado el antagonismo entre el existencialismo y el marxismo en México, habría sido totalmente inaceptable una propuesta de posible solidaridad a base de la aceptación de la condición solitaria del individuo".162 Das Ideal des skeptischen Helden provoziert, da er vorgegebene Grenzen Uberschreitet. Keine Glaubensgewißheit bleibt unhinterfragt, kein Dogma unangetastet. Die aristotelische Glaubensannahme einer 161
162
Die Annahme, daß der Mensch seine Existenz in einer "Grunderfahrung" oder einem existentiellen Erlebnis erfahren kann, ist dem Gedankengut des der christlichen Tradition verbundenen Existenzphilosophen Karl Jaspers kongenial. Dieser sieht: "(...) eine unauflösliche Verbindung zwischen der Erfahrung der Existenz und der der Transzendenz als des 'Umgreifenden', das in den 'Grenzsituationen' (Leiden, Tod, Schuld) bewußt wird. Weder von der Existenz als Möglichkeit des Daseins noch von Transzendenz sei ein objektivierbares Wissen möglich; (...)" (Mayers, 11, S. 22). Jedoch bleibt die Möglichkeit, die Jaspers dem Menschen in der Suche nach Wahrheit eröffnet, "in totaler Kommunikation" mit anderen Menschen existentielle Freiheit zu gewinnen, für den Intellektuellen unerreichbar, da er sich einer offenen Kommunikation versagt. Gregorio Saldívar durchlebt existentielle Grenzsituationen, die jedoch weder motiviert sind durch ein Moment der "Angst" (entscheidend bei Kierkegaard), die ihre Auflösung im Glauben findet, noch im "Ekel" (entscheidendes Moment bei Sartre), der in einer Sinngebung durch absolutes Engagement aufgehoben werden kann. Frankenthaler 1979: S. 71. Das komplementäre Gegenstück präsentiert Revueltas in dem Roman En algún valle de lágrimas (1956). Der geizige Pfandleiher verkörpert das Höchstmaß inauthentischen Lebens, da er nicht Herr seiner Taten ist, sondern sie mechanisch wiederholt. Unter den Gesichtspunkten des sozialistischen Realismus ist er zudem der Inbegriff alles Verabscheuungswürdigen sowohl hinsichtlich seiner Klasse als auch seines Berufs.
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homogenen Welt wird als obsolet begreifbar und jeglicher Absolutheitsanspruch von Wahrheit vehement denunziert. Aber der Autor beläßt es nicht bei einer bloßen Dekonstruktion der gültigen Sems-Diskurse. Ebensowenig stellt er ausschließlich die negativen Seiten des menschlichen Wesens heraus, wie ihm traditionelle Kritiker entgegenhielten. Die Botschaft liegt vielmehr im Anspruch, der Pluralität des Seins Rechnung zu tragen, und die objektive Existenz der Einzelnen als einmalig gültige Wirklichkeit anzuerkennen. Jede als transzendentale Sinnkonzeption Allgemeingültigkeit beanspruchende Weltanschauung wird als Selbstflucht und Selbstbetrug und in letzter Konsequenz als inhuman dekonstruiert. Jeder einzelne ist aufgefordert, sich mit seiner existentiellen Situation, seiner Teilhabe an der Schuld und seinem Leben zum Tod zu konfrontieren und sie als Teil seines Seins zu akzeptieren. Erst ein Eingeständnis der Sinnlosigkeit, die Annahme der Einsamkeit, könnte eine andere gerechtere- Welt ermöglichen. Jeder ist aufgerufen, dem Beispiel Gregorios zu folgen und die Verantwortung für sich selbst und seine Mitmenschen zu übernehmen. Der Mensch, auf sich selbst zurückgeworfen, ist aufgefordert, seine
Refugien
vorbehaltloser
Glaubensgewißheiten
aufzugeben,
seine
Entfremdung zu überwinden, um in Authentizität zu leben. Der Anspruch erscheint unerfüllbar, da er jeden Menschen bis an die Grenzen seiner subjektiven Fähigkeit der Schuld und Verantwortlichkeit fordert. Aber gerade in der Bereitschaft zur uneingeschränkten Übernahme der Verantwortung für das eigene Sein liegt die Chance für ein menschliches Dasein in Würde. Revueltas präsentiert einen Kompromiß, der es ihm erlaubt, marxistische, humanistische und existentialistische Postulate zu verbinden. Er fordert das Recht des Einzelnen auf ein Leben in Authentizität, entläßt ihn aber nicht aus der solidarischen Verantwortung gegenüber dem anderen. Gregorio verkörpert den "comunismo del hombre solitario"163, wie es Frankenthaler prägnant aus163
Frankenthaler 1979: S. 39.
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drückt, und wird so zu dem Menschen in dem die tiefste Bedeutung des Wortes human ausgelotet ist. Die konsequente Negation eines Jenseits führt zur Überzeugung, daß nur der Mensch sich die Wahrheit schafft. Das Anerkennen von Schuld und die Übernahme von Verantwortung durch Gregorio erwecken die Zuversicht auf den Menschen, dem es möglich ist, authentisch in einer wahrhaft humanen und solidarischen Gesellschaft zu leben. Aber Gregorio scheitert, muß -wie Christus- an den realen sozialen und (macht-) politischen Verhältnissen scheitern. Er scheitert aber auch, da er den comunista verdadero verkörpert. Nach Auffassung Revueltas1 ist die Literatur dies dem lado moridor der Realität schuldig. Da es in der historischen mexikanischen Lebenswirklichkeit keinen Raum für einen wahren Kommunisten gab, hatte er auch in einer mexikanischen Romanwelt keine Daseinsberechtigung: "El camino no deprimente, el camino esperado, hubiera sido el de escoger la tendencia negativa de contradicción, o sea aquello que la negara, aquello que anunciara una transformación del Partido en una cosa diferente, superior. Pero las premisas de esa negación de la negación no estaban dadas aún en la realidad objetiva, era posible inventarlas -cuando ni siquiera habían nacido en la mente política de los ideólogossin caer en el amaflamento de la realidad y en los recursos tramposos de los predicadores".164
Der Tod Gregorios hinterläßt nun eine Leerstelle im Roman. Diese haben die marxistischen Kritiker zum Anlaß einer síntesis negativa165 (wie schon bei El luto humano) genommen, Revueltas fehle -wie Sartre- der Glaube an den Menschen, ja an die Menschheit Uberhaupt: " (...) ambos persiguen la finalidad de demostrar que el partido del proletariado rebaja y aniquila la dignidad humana (...) ambos son el producto de la misma
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Revueltas im Interview mit Luis Mario Schneider: Revive la polémica sobre José Revueltas (1962). In Sáinz 1977: S. 95. Vgl. dazu die Stellungnahmen aus dem marxistischen Lager in Fußnote 2 des Kapitels 4.3.2.
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descomposición social, de la misma podredumbre, de la misma falta de fe en el hombre (...)".166
Wie ich jedoch gezeigt habe, ist der Roman nicht von einem fehlenden Glauben an den Menschen inspiriert, sondern von der Dialektik der menschlichen Existenz, mit der sich der Autor auseinandersetzt. Er selbst dient als lebendiges Zeugnis dafür, daß er trotz aller Widrigkeiten in der politisch-sozialen Realität Mexikos nie aufgegeben hat, für seine politische und persönliche Integrität zu kämpfen. Nicht der utopische, zweifelsfreie und unbesiegbare Held wird zum Prototypen den neuen Menschen, sondern der Mensch, der sich der Widersprüchlichkeit und Kontingenz des Seins bewußt stellt und dennoch in der Verantwortlichkeit der Liebe zum Menschen handelt. Diese Lebenshaltung bestimmt die Figuren im Erzählwerk, die die "wahren Kommunisten" wie Gregorio Saldívar verkörpern: "Mira (...), la vida es algo muy lleno de confusiones, algo repugnante y miserable en multitud de aspectos, pero hay que tener el valor de vivirla como si fuera todo lo contrario" ( S. 138).
Bleibt die Frage nach der Leerstelle, bleibt die Frage nach dem Leser. Die Botschaft des Romans läßt sich dann entschlüsseln, wenn man den Leser -ganz im Sinne Sartres- als aktiven Teilhaber der Lektüre versteht: "Das Kunstwerk ist also leserbezogen -und muß es auch noch aus einem weiteren Grund sein: das Werk —für seinen Autor Teil der eigenen Subjektivität- wird erst in der Rezeption durch den freien Anderen zum Objekt".167
Die Metamorphose Gregorios weist auf die Wandlungsfähigkeit des Menschen. Sein Selbstopfer richtet sich an die Verantwortlichkeit jedes Einzelnen: Der 166
167
Der Kritiker und ehemalige Weggefährte Revueltas' Antonio Rodríguez in: José Revueltas: Cuestionamientos e intenciones. Sobre mi obra literaria (O.C. 18: S. 105). Rodríguez verurteilt die "fatalistische" Weltsicht von Los días terrenales. "Existentialist" wird auch von ihm als Schimpfwort benutzt, um den "Häretiker" zu denunzieren. Krauss 1982: S. 229.
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Leser ist aufgerufen, die eigene egoistische Begrenztheit zu überwinden, und sich seiner subjektiven Wahrheit zu stellen. Und noch ein weiterer Aspekt gewinnt für den heutigen Leser an Bedeutung: Los días terrenales interessiert, wie ich noch einmal betonen möchte, vor allem als Repräsentation der heterogenen sozio-politischen Realität Mexikos, da der Roman ein breites Spektrum menschlicher Lebenswirklichkeiten bietet, das die "Gleichzeitigkeit des Ungleichen" demonstriert. Er präsentiert sich nicht nur als formales Experiment -beispielsweise die Verwendung verschiedener narrativer Techniken, die u. a. auf filmische Verfahren zurückgreifen- sondern insbesondere als inhaltliches Wagnis. Die ihn kennzeichnende Hybris fordert eine hohe Kooperationsbereitschaft vom Leser, sich auf diese totale Gesamtkonzeption einzulassen. 168 Revueltas dekonstruiert die historische Identität des Mestizen mit literarischen Mitteln, die erst von der Postmoderne geschätzt werden. Mit der Frage nach der conditio humana weist er Uber die Belange der mexikanischen Nation hinaus und löst den Anspruch auf Universalität ein. Hatte er mit El luto humano kulturelle Identitätszeichen der Vergangenheit dekonstruiert, so rüttelt er mit Los días terrenales an Glaubensgewißheiten. In dieser Hinsicht liest sich der Roman wie eine alle attackierende Streitschrift: Er denunziert den Verrat an den Idealen der Revolution und die Willkür der postrevolutionären Regime und weist auf die Kehrseiten des desarrollismo.
Er unterläuft traditio-
nelle Personalideologeme im Sinne des machismo und der mujer abnegada wie sie sonst in der mexikanischen Literatur vorherrschen. Er richtet sich auf der anderen Seite aber auch gegen weit- und menschenfremde kommunistische
168
Heute gilt Carlos Fuentes als allgemein anerkannter Meister der postmodernen novela totalizadora, die gerade von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen lebt. Siehe Febel, Gisela: Implizite Kulturtheorie in neueren Texten von Carlos Fuentes, S. 208. In Scharlau 1994, S. 198-215. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf Theorie und Praxis der novela total von Vargas Llosa. Vgl. Scheerer 1991: S. 75ff. Dagegen vermochte Ende der 40er Jahre das Lesepublikum die innovative Leistung Revueltas' nicht zu erkennen.
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Parteigänger, die sich Dogma und Parteiapparat bedingunglos unterwerfen, und erhebt Anklage gegen die Entfremdung des P.C.M.: "(...) que se ha desviado hacia un fanatismo abstracto, olvidándose de la humanidad del marxismo"169 von der ursprünglichen marxistischen Lehre. Hätte Revueltas seine Kritik allein gegen das Versagen der Institutionalisierten Revolutionspartei gerichtet, wäre er von den Genossen "verstanden" und gefeiert worden. Hätte er seine Kritik auf die mexikanischen Kommunisten beschränkt, wäre es für die institutionalisierte Revolutionspartei möglich gewesen, die Anklage Revueltas' in ihrem Sinne zu interpretieren. Da er jedoch jede Form von Heilslehre, Utopie oder offizieller Rhetorik bekämpft, die die reale Lebenssituation des Menschen -seine conditio humana- ignorieren, konnte das Buch in keinen der ideologischen Rechtfertigungsdiskurse eingebunden werden.
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Frankenthaler 1979: S. 38.
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V. EL APANDO Der 1969 im Gefängnis entstandene Kurzroman El apando wird von vielen als der eigentliche Höhepunkt1 und als Synthese2 des erzählerischen Schaffens Revueltas' angesehen. Nicht nur, weil dies der letzte Roman ist, den er vollendet, sondern wesentlich, weil eine perfektionierte Erzähltechnik in überzeugender Konzentration seine Aussage betont. Die Struktur des Textes ist von einer auffälligen typographischen Geschlossenheit: Ein wahrer Textstrom ergießt sich auf 56 Seiten, der durch keinerlei Überschriften, Absätze oder Einschöbe unterbrochen wird. Der Eindruck einer hermetischen Einheit wird dazu durch die dominante Erzählperspektive eines allwissenden Erzählers in der dritten Person verstärkt. In die fast durchgängige Verwendung des Präteritums ist das Spiel mit mehreren Zeitebenen integriert. In innere Monologe gekleidete Rückblenden erinnern Bruchstücke der Vergangenheit der Hauptfiguren und erweitern die Dimension der erzählten Zeit. Die unter verschiedenen Blickwinkeln aufgenommenen Zeiten und Räume sind durch eine gezielte und knappe Darstellung in ausgewogener Weise miteinander komponiert. Der zentrale Ort der Hand-
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So das Urteil beispielsweise bei Eugenia Revueltas: "Revueltas escribe El apando y Material de los sueños, obras que se caracterizan por un dominio de las estructuras narrativas y una posesión cabal e irrepetible de un mundo expresivo y verbal, que lo convierte en uno de nuestros mejores escritores; para algunos, el mejor. Ni la cárcel, ni la incomprensión o el alcohol pudieron acallar su poderosa voz" (In Eugenia Revueltas 1987: De Santiago al Universo, S. 18-37; hier S. 36-37). z.B. Ruffinelli, der El apando als literarisches Testament Revueltas' versteht: "epílogo de su obra narrativa, en el que confluyen, (...), el pesimismo y el nihilismo más profundos". Oder Torres: "La novela (...) sintetiza la práctica literaria del autor en un doble sentido: por su brevedad y porque en ella aparecen todos los recursos, todas las situaciones y problemas que ha manejado Revueltas a lo largo de su trabajo" (Torres 1985: S. 104). Die positive Resonanz auf El apando läßt sich aber auch darin erkennen, daß der Roman bereits wenige Jahre nach seinem Erscheinen (von Felipe Cazals 1975) verfilmt wurde.
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lung ist ein Gefängnis, die Entwicklung des Geschehens auf drei Figurenpaare begrenzt. Im Gegensatz zu seinen vorangegangenen Romanen leistet die Codierung dieser Romanwelt in einem hohen Maße literarästhetischen Ansprüchen Genüge. Zwar hatte sich Revueltas auch in den früheren Romanen und Kurzgeschichten innovativer Techniken bedient, die aber oftmals in den Hintergrund rücken, wenn er seine philosophischen Überlegungen -wie beispielsweise die Marxismuskritik, die er Gregorio Saldivar explizit in den Mund legt- in weitschweifenden Diskursen in den Handlungsablauf hineinschleust. Dagegen treten in El apando die ethisch-moralischen Dämonen des Autors nun in Form einer erbarmungslos konzentrierten Essenz ans Licht. Die Geschlossenheit der Symbolik, die Präzision des sprachlichen Ausdrucks und der Stilelemente verleihen dem Roman eine Intensität, die im Leser eine gewisse Atemlosigkeit provoziert. Die Dichte der Zeichen erweckt den Eindruck, daß bereits der kleinste Teilsatz zum Ausgangspunkt einer philosophischen Betrachtung über den Menschen und seine ethisch-moralischen
sowie gesellschaftlichen Verflechtungen
erhoben
werden könnte. Dieses Phänomen läßt sich gewiß zu einem großen Teil mit dem ungewöhnlichen biographischen Hintergrund des Autors erklären. Zum Zeitpunkt der Niederschrift -Februar/März 1969- ist Revueltas 55 Jahre alt. Er war im November 1968 mit der Begründung inhaftiert worden, in der Studentenbewegung eine führende Rolle eingenommen zu haben.3 Es ist, wie wir wissen, nicht die erste Haftstrafe, vielmehr blickt er auf mehrere Gefängnisaufenthalte in seinem Leben zurück.4 Nun schreibt er im Gefängnis über die
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Trotz zahlreicher Petitionen, u. a. auch von Schriftstellern mit internationaler Reputation wie Pablo Neruda, muß Revueltas fünf Jahre (1968-1973) auf seine Freilassung warten. El apando ist der letzte Roman, den er vollendet, da er schwer erkrankt und keine drei Jahre nach seiner Haftentlassung stirbt. Die Erfahrung der Freiheitsberaubung wird zum Schlüsselerlebnis des jungen Revueltas und zum auslösenden Moment seiner erzählerischen Ambitionen, wie an zahllosen Beispielen belegt werden kann. Die Erlebnisse als Jugendlicher in einer Besserungsanstalt werden im Debutroman El quebranto (1939) verarbeitet. Von die-
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Erfahrung des Gefängnisses, in das er gesperrt wurde. - Wie am Ende des Romans zu erfahren ist, handelt es sich um den Cárcel Preventiva de la Ciudad der mexikanischen Hauptstadt, der auch als Palacio negro de Lecumberri
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rüchtigt ist. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der Problematik des Freiheitsentzuges, das erneute eigene Erleben, das mit der Intensität heftigster erlittener Gefühle gekoppelt ist, kondensieren nun wie aus einer Perspektive emotionsloser Distanz in einer brutalen Schilderung der in der Haft reduzierten menschlichen Existenz. Die Rahmenhandlung läßt sich rasch zusammenfassen: Die Gefangenen Polonio, Albino und El Carajo erwarten den Besuch ihrer Frauen: La Chata, Meche und der Mutter El Carajos. Sie sehen diesem mit Spannung entgegen, da die für sie lebensnotwendige Droge zum ersten Mal Uber die Mutter El Carajos eingeschmuggelt werden soll. Damit sich die Mutter weitgehend unbemerkt dem apando nähern und den Häftlingen den "Stoff' zustecken kann, täuschen Meche und La Chata eine Art Aufstand vor, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Für einen Augenblick scheint es, als ob der Plan gelingen würde. Doch die beiden Frauen machen ihre Sache zu gut. Sie erregen derart viel Aufsehen, daß eine Wachmannschaft herbeieilt, die die drei Gefangenen und ihre Frauen von den übrigen Insassen trennt, um sie in einen Nebenraum zu führen, in dem es
sem konnte nur das erste Kapitel veröffentlicht werden, da das übrige Manuskript auf dem Bahnhof von Guadalajara gestohlen wurde. Zu finden ist es jetzt in der Kurzgeschichtensammlung Dios en la tierra, O.C. 8, Ediciones Era 1979 [1944], In Los muros de agua (1941), in dem Revueltas seine eigenen Erlebnisse auf den Gefängnisinseln Las Islas Marias (1932-34) verarbeitet, wird bei der Schilderung der Überführung der Kommunisten auf die Strafinsel die Reduktion des Raumes -Auto, Eisenbahn, Schiff, verbundene Augen- greifbar. In En algún valle de lágrimas (1956) resigniert ein ehemaliger Schuldirektor todos estamos presos (S. 100). In Los motivos de Caín (1957) desertiert der Protagonist Jack Mendoza. Anstatt seine "Freiheit zu genießen", fühlt er seine Begrenztheit und Einsamkeit so erdrückend wie noch nie in seinem Leben. In Los errores (1964) sind die militanten Kommunisten ständig der Bedrohung des Freiheitsentzuges ausgesetzt. Gleichzeitig werden sich einige der Figuren ihrer Begrenztheit bewußt. Die Prostituierte Lucrecia beispielsweise fühlt sich auf der Welt: "como una presa que va en un tren presa" (S. 133).
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schließlich zu einem blutigen Kampf kommt. Während Polonio und Albino der Übermacht der staatlichen Gewalt erliegen, denunziert El Carajo seine Mutter. Niemand erhält die Droge. Der Plan ist gescheitert. Auch bei diesem Roman rückt die Rahmenhandlung zugunsten eines Eindringens in die Welt der Gefühle und Motivationen der Hauptfiguren in den Hintergrund. Unter der Oberfläche brodelt ein Gemisch aus wechselseitigen Abhängigkeiten und dunklen Trieben, das in die wesenhaften Abgründe des menschlichen Daseins führt. Dieses monströse Beziehungsgewirr gilt es zu entflechten, will man den Alptraum der entfremdeten Existenz bändigen: Der Zufall hat Polonio, Albino und El Carajo in dieselbe Zelle, den apando, geführt. Von ihren begangenen Delikten erfahren wir nichts. Die Vergangenheit scheint ausgelöscht oder bedeutungslos. Was zählt, ist allein die unmittelbare Gegenwart. Wir lernen sie in dem Moment kennen, als sich all ihre Sinne und Gedanken auf den bevorstehenden Besuch ihrer Frauen konzentrieren. Polonio erwartet La Chata, Albino erwartet Meche, und El Carajo wartet auf seine Mutter, la madre. Und noch ein weiteres -drängenderes- Ansinnen verbindet sie in diesem Moment, denn mit ihren Besucherinnen erwarten sie den Nachschub von Drogen. Eine aggressive Spannung liegt von Anfang an drohend im Raum. Schnell wird deutlich, daß das Verhältnis der Männer untereinander von ihrer Sucht dominiert wird. Polonio und Albino organisieren den Drogenhandel innerhalb dieses Gefängnisses und genießen daher eine herausragende Stellung unter den Insassen. Sie sind wenn nicht als Freunde so doch als ebenbürtige Verbündete einzuschätzen, die wissen, daß sie, wollen sie ihr Ziel erreichen, kooperieren müssen. Dazu eint sie ein abgrundtiefer Haß auf den dritten Bewohner der Zelle: El Carajo. Diese Außenseiterfigur innerhalb der Außenseiter vereinigt auf sich ein abstoßendes Äußeres und einen degradierten Charakter. Sein Benehmen, das ein Repertoire von hündischem Verhalten bis hin zu selbstzerstörerischen Tendenzen aufweist, wirkt unerträglich provokativ. Wenn allein seine Gestalt Polonio und Albino schon mit Ekel erfüllt, so löst mehr
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noch seine Haltung in ihnen Eruptionen kaum kontrollierbarer Aggressionen aus, die sich in physischer Gewalt gegen den Schwächling Bahn brechen und Mordgelüste wecken. Nur mit Mühe gelingt es ihnen, diese Impulse zu unterdrücken und ihren Plan, ihn ein für alle Mal zu beseitigen, nicht auf der Stelle in die Tat umzusetzen. Dies freilich nicht aus Edelmut, sondern weil sie groteskerweise von der Existenz El Carajos abhängig sind, da nur noch Uber ihn das Rauschgift zu erhalten ist. Die Begrenzungen, die die Häftlinge durch die Außenwelt erfahren, determinieren die Begrenzungen ihrer Erkenntnisfähigkeit. Ihre Wahrnehmung kreist allein um die Befriedigung körperlicher Begierden, die den Erhalt von Drogen in den Lebensmittelpunkt stellt. Diese stehen gleich einer entrückten Gottheit an der Spitze ihres Wertesystems und avancieren somit zum eigentlichen Protagonisten des Romans. Revueltas entfaltet ein metaphorisches Spiel mit dem Raum nach dem bekannten Muster der cajas chinas.5 Die Handlung konzentriert sich im wesentlichen auf einen abgeschlossenen Ort innerhalb des Gefängnisses. Es handelt sich um eine gesonderte Zelle, die als apando bezeichnet wird. Wie Revueltas erläutert, konnotiert apando darüberhinaus noch weitere Bedeutungen: "Inicialmente, apando es una celda de castigo, pero la connotación es más extensa: te puedes apandar voluntariamente para que no te molesten, en especial cuando recibes visita conyugal. Entonces te apandas y nadie puede entrar a la celda. Hay incluso un clavo largo (llamado apando) que se introduce en los agujeros en la puerta de la celda y la cierra. Este clavo es, entonces, también un apando. Decimos Mi apando', 'Qué buen apando tengo', para referirnos a él".6
Den nächsten, ebenfalls fest umgrenzten Raum bildet der patio, der Hof, der von den Insassen bezeichnenderweise als cajón -mit Kasten oder auch Mülleimer zu übersetzen- empfunden wird. Auf der anderen Seite suggeriert der Text,
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Das Muster der cajas chinas ist romantheoretisch immer wieder von Vargas Llosa expliziert und praktiziert worden. Vgl. Scheerer 1991: S. 51ff. Revueltas in Diálogo sobre el apando (1975). In Sáinz 1977: S. 39.
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daß das Gefängnis von weiteren Gefängnissen umgeben ist: der Stadt, der Gesellschaft, der ganzen Welt. Zwar wird der Name der Stadt bis zum Schluß nicht erwähnt, doch sie ist von Beginn an spürbar: "(...) aquella ciudad y aquellas calles con rejas, estas barras multiplicadas por todas partes" (S. 13). Der zeichenhafte Entzug des Raumes, des freien Lebensraumes, unterstreicht metaphorisch die eigentlich philosophische Dimension. Er gibt dem hartnäckigsten Revueltas bestürmenden Dämon Gestalt, der in der Dialektik der entfremdeten menschlichen Existenz begründet ist: Der Mensch ist ein in seinem irdischen Dasein Gefangener, der unaufhörlich von einer unstillbaren Sehnsucht nach Freiheit getrieben wird.
5.1. Das Gefängnis: Metapher der Erkenntnisfähigkeit des Menschen Im apando verringern sich die Lebensperspektiven der drei Häftlinge in räumlicher und mentaler Hinsicht. Ihr Zugang zur Außenwelt ist auf ein kleines Guckloch minimiert. Doch ist auch diese Sicht wiederum eingeschränkt, da der Blick auf die Welt der crujías nur mit dem rechten Auge möglich ist: "(...) Polonio los miraba desde lo alto con el ojo derecho clavado hacia la nariz en tajante línea oblicua (...). Uno primero y otro después, (...) tomados desde arriba del segundo piso por aquella cabeza que no podía disponer sino de un solo ojo para mirarlos, la cabeza sobre la charola de Salomé, fuera del postigo, la cabeza parlante de las ferias, desprendida del tronco -igual que en las ferias, la cabeza que adivina el porvenir y declama versos, la cabeza del Bautista, sólo que aquí horizontal, recostada sobre la oreja-, que no dejaba mirar nada de allá abajo al ojo izquierdo (...)" (S. 12).
Der Drang, die Welt zu erkennen, ist in der Literatur zumeist verbunden mit der Suche nach Wahrheit und dem Streben nach menschlicher Vollkommenheit. 7 Das Auge bildet das Fenster zur Welt, den Schnittpunkt zwischen dem
Revueltas hat dies anhand Gregorio Saldívars in Los días terrenales exemplifiziert.
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Erfahren der Außenwelt und der Wahrnehmungsmöglichkeit des Subjekts. Die metonymische Begrenzung des Ausblicks deutet auf eine generell reduzierte Urteilsgabe der drei Insassen. Im Gegensatz zu der in manchen Kulturen verbreiteten Bedeutung von Einäugigkeit als Ausdruck von Allwissenheit und Allmacht weist hier die Folterposition auf eine Brechung der Validität des Zeichens. 8 Das Auge in dem vom Rumpf abgetrennten Kopf symbolisiert die Ohnmacht gegenüber Kerkermauern und Wächtern. So bleibt auch der gegen die Wachen gerichtete Fluch Polonios: "(...) los mandaba a chingar a su madre cada vez que uno y otro incidía dentro del plano visual del ojo libre" (S. 12) ais bloße Phrase der Verwünschung folgenlos. Die Wärter, die bei ihren Rundgängen in regelmäßigen Abständen in das Blickfeld des beobachtenden Auges geraten, stehen nur dem Anschein nach auf der anderen Seite des apando. Ihre Überlegenheit gegenüber den Häftlingen erweist sich als vordergründig, denn auch sie besitzen nicht das rechte Maß des Blickes. Ihre Körper sind mit aus Augen geknüpften Panzerhemden übersät: "(...) cubiertos de ojos de la cabeza a los pies, una malla de ojos por todo el cuerpo, un río de pupilas recorriéndoles cada parte, la nuca, el cuello, los brazos, el tórax, los güevos (...)" (S. 13-14).9 Ihr Blick bzw. ihre Blicke sind ganz auf die Außenwelt gerichtet, es fehlt ihnen der Bezug zu ihrem inneren Selbst. Sie ignorieren, wer sie sind oder was sie sind. Sie sind sich ihrer Existenz nicht bewußt: "Estaban presos ahí los monos, nada menos que ellos, mona y mono; bien, mono y mono, los dos, en su jaula, todavía sin desesperación, sin desesperarse del todo, con sus pasos de extremo a extremo, detenidos pero en movimiento, atrapados por la escala zoológica como si alguien, los demás, la humanidad, impiadosamente ya no quisiera ocuparse de su asunto, de ese asunto de ser monos, del que por otra parte
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Siehe Daemmrich 1995: S. 62ff.Vgl. auch die Bedeutung der Einäugigkeit bei Ventura in Kapitel 4.3. Das Beispiel der Zeichenverwendung des "Auges" demonstriert abermals, daß der Autor diesem wie anderen Symbolen keine eindeutige Codierung zuweist. Versuche, Gebrauchsformen zu katalogisieren, sind daher nur bedingt hillreich, da sie nicht unter ein Paradigma zu zwängen und außerhalb eines je spezifischen kontextuellen Zusammenhanges nicht zu erklären sind.
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ellos tampoco querían enterarse, monos al fin, o no sabían ni querían, presos en cualquier sentido que se los mirara, enjaulados dentro del cajón de altas rejas de dos pisos, dentro del traje azul de paño y la escarapela brillante encima de la cabeza, dentro de su ir y venir sin amaestramiento, natural, sin embargo fijo, que no acertaba a dar el paso que pudiera hacerlos salir de la interespecie donde se movían, caminaban, copulaban, crueles y sin memoria, mona y mono dentro del Paraíso, idénticos, de la misma pelambre y del mismo sexo, pero mono y mona, encarcelados, jodidos" (S. 11). Die Präsenz der Wärter erinnert an die beständige und machtvolle Anwesenheit des Staates, der bis in die äußersten und verborgensten Winkel eines Einzellebens vorzudringen vermag. Die Designation als Wärter-Affen oder AffenWärter stellt ihre Gegenwart jedoch in ein anderes Licht. Die Titulierung entblößt ihre pervertierte Daseinsform. Neben der politischen Implikation wird eine anthropologische erkennbar, die den Menschen in das Tierreich zurückverweist.10 Die Wärter verkörpern den unbewußten Menschen, der innerhalb der zoologischen Skala auf einer bestimmten Stufe stehengeblieben ist, von der es kein Entkommen gibt: "Tan estúpidos como para no darse cuenta de que los presos eran ellos y no nadie más con todo y sus madres y sus hijos y los padres de sus padres" (S. 13). "Wärter" und "Gefangene" erweisen sich angesichts der anthropologischen Dimension als bloße Denominationen. Das Gefängnis bedeutet die Welt, die über das Sein aller gleichermaßen herrscht. Der Mikrokosmos des apando wird zum Zentrum und gleichzeitig zum Symbol des Universums: "La cárcel misma no es sino un símbolo porque es la ciudad cárcel, la sociedad cárcel".11 Die
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Die Designation entspringt nun nicht der Auffassung oder einer Eingebung Revueltas', sondern verdankt sich dem Umstand, daß die Wärter nach ihrer Arbeit befragt, antworten: "Soy mono en Lecumberri", ganz als ob die Bezeichnung sie nicht herabsetzen würde. Jedoch räumt Revueltas ein, daß er dadurch angeregt wurde, die Gesellschaft zoologisch zu betrachten: "Esta implicación zoológica (no mía, ya digo, sino previa) me llevó a ver la sociedad como zoología, a través del Estado" (Revueltas im Gespräch mit dem Seminario del CILL: Diálogo sobre el apando (1975). In Sáinz 1977: S. 40). Revueltas in Diálogo sobre el aparulo (1975). In Sáinz 1977: S. 37.
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monos, die Mensch-Affen haben es ihrerseits versäumt, ihre Anlagen zu entwickeln und sich der wahren conditio humana bewußt zu werden. Der Mensch verharrt auf einer tierischen Entwicklungsstufe, über die er nicht hinauszuwachsen vermag.
5.1.1. Die Bestie Mensch: Violenz und Eros Die anthropologische Dimension der Bestialisierung wird im Roman durch die Verwendung zahlreicher tierhafter Vergleiche und Metaphern allumgreifend: Die Wärter heißen im Gefängnisjargon monos; die Wärterinnen werden als "cabronas lesbianas" (S. 23) beschimpft; das Auge El Carajos ist "quieto y artificial como el de un ave" (S. 19) oder er gleicht einem Geier "endemoniado con el ojo de buitre colérico al que asomaba la asfixia" (S. 37); sein Verhalten dagegen ist hündisch "aullaba como un perro" (S. 18); "no hacía otra cosa que aullar" (S. 54) oder dümmlich "podría gritar como un chivo" (S. 41). Die Frauen erinnern an "fieles perras rabiosas" (S. 28) und werden als "bestiales" (S. 46) tituliert.12 Die bestialische Charakterisierung gipfelt schließlich in der Herabwürdigung der heiligen Figur der Madre zur "vaca ordeñada", "muía vieja" (S. 44), und zum "pajarraco al que se le hubiera olvidado volar, un eslabón prehistórico entre los reptiles y las aves" (S. 50). Am Ende wird auch die Vernichtung Polonios und Albinos mit tierhafter Verdinglichung angezeigt: "Polonio y Albino parecían harapos sanguinolentos, monos descuartizados y puestos a secar al sol" (S. 56). Darüber hinaus verstärkt die Wortwahl, mit dem die Lebensbedingungen der Häftlinge bzw. der monos geschildert werden, den Eindruck einer tierhaften
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Vgl. dazu auch die Anmerkungen des Seminario del CILL zur animalizacion: Diälogo sobre el apando (1975). In Säinz 1977: S. 43-47.
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conditio des Menschen. Die Behandlung, die ihnen zuteil wird läßt an eine brachiale Domestizierung von Bestien denken: "enjaulados", "sin amaestramiento" "cajön de altas rejas", "pelambre" (S. 11).
Auch bei der Thematisierung des menschlichen Körpers schreckt der Erzähler vor einer Degradierung im Sinne einer Animalisierung nicht zurück. Nimmt man den menschlichen Körper als unveräußerlichen Besitz des Einzelnen, so trägt jede Verletzung seines Raumes, jede Überschreitung der durch ihn gebotenen Grenzen, dazu bei, das Individuum seiner selbst zu entäußern und es zu entmenschlichen. Das gewaltsame Eindringen in die intimste Sphäre -ob verbal oder tätlich- bedeutet eine Mißachtung und Herabwürdigung der Existenz des anderen. Das Leben unter dem Signum des apando manifestiert eine Haltung der fast schrankenlosen Grenzverletzungen. Beispielsweise beziehen sich die Süchtigen auf das Geschlecht der Mutter El Carajos, das zum Drogentransport mißbraucht wird, abschätzig mit saco placentario oder celda. An anderer Stelle schrecken die Wärterinnen bei der Leibesvisitation der Besucherinnen nicht davor zurück, bis in das Innerste der Vagina vorzudringen. Gleichzeitig aber kann der Körper als Fluchtpunkt benutzt werden, wie am Ziel der Hauptfiguren erkennbar wird, das ja keineswegs darin besteht, dem Gefängnis als geschlossenem Raum zu entkommen. Ihr Freiheitsbestreben äußert sich vielmehr in einer pervertierten Form der immer selben Besessenheit, mit Hilfe von Drogen ihrem Körper-Gefängnis zu entweichen. Die Dialektik von menschlicher Freiheit und Reduktion des Raumes kulminiert in der Dialektik von Freiheitsbestreben und der Begrenzung des menschlichen Körperraumes. Der Körper wird eingesperrt, er wird mißhandelt, er wird mißbraucht, er dient andererseits aber auch als unverbrüchlicher Fluchtpunkt, als Ort, der ein Gefühl von Freiheit ahnen läßt. In einem ursprünglichen Sinne ist der Körper unzweifelhaft als die Stätte angelegt, an dem die Energien des Eros walten. Wie ich anhand von Los dias terrenales gezeigt habe, spricht Revueltas
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nicht nur in erstaunlich offener Weise Uber sinnliches Begehren, sondern sanktioniert die Sexualität als Ausdruck der Bejahung der eigenen Existenz. Sie ist in seinem erzählerischen Werk grundsätzlich als lebensspendende Kraft positiv konnotiert. Dagegen durchdringt den apando eine von Violenz und Eros gezeichnete Atmosphäre. Neben den Gedanken an Drogen beherrschen sexuelle Phantasien die Hauptfiguren, die sich an der Tätowierung Albinos entzünden, einer Hindufigur, die den brahmanischen Baum des Guten und Bösen zeigt, unter dem sich ein junges Paar zum Liebesspiel eingefunden hat. Die Figur ist dergestalt um den Bauchnabel eingraviert, daß bestimmte Muskelbewegungen und Kontraktionen zu einer "magischen Einheit" verschmelzen, die das "Wunder der Schöpfimg" abermals entstehen läßt: "(...) una unidad mágica donde se repetía el milagro de la Creación y el copular humano se daba por entero en toda su magnífica y portentosa esplendidez" (S. 26). Die Veranstaltungen Albinos provozieren bei den Mithäftlingen eine Erregtheit, die sich in kollektiven Masturbationen entlädt. Auf diese Weise verschaffen sich die Gefangenen einen Freiraum in der Realität des Gefängnisses. Da Sexualität und das Erleben von Freiheit nur in Form eines mechanistischen und voyeuristischen Ersatzes möglich werden, erscheint die Entfemdung gedoppelt: Der illusionäre Tanz evoziert und negiert gleichzeitig das "Wunder der Schöpfung", da die das Leben affirmierende Begegnung mit dem anderen fehlt. Eng verbunden mit dieser Art sexueller Entfremdung sind die Phantasien von Meche, Albino und Polonio, die durch die Leibesvisitation der Wächterinnen ausgelöst werden. Mit Meche und La Chata sind zwar Erinnerungsmomente an ein glückliches Leben in Freiheit und eine wahrhafte, befriedigende Sexualität verbunden (S. 22), doch müssen sie die Kontrollen der Aufseherinnen als eine Form der Vergewaltigung erleiden: "Nos meten el dedo. Mo-nas hi-jas de to-da su chin-ga-da ma-dre, cabrones lesbianas" (S. 22-23). Auf die Prozedur reagieren die beiden Frauen normalerweise mit der Haltung aggressiver Duldung. In
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Verbindung mit der Erinnerung an den Bauchtanz Albinos verspürt Meche jedoch eine unangemessene Erregung, der sie sich nicht erwehren kann: "(...) Meche presentía los próximos movimientos de la mano de la celadora, y la agitaban entonces, cosa que antes no ocurriera, extrañas e indiscernibles disposiciones de ánimo y una imprecisa prevención, pero en la cual se transparentaba la presencia misma de Albino (...), que no la dejaban asumir la orgullosa indiferencia y el desenfado agresivo con los que debiera soportar, paciente, colérica y fría, el manoseo de la mujer entre sus piernas" (S. 27).
Zur gleichen Zeit hegt La Chata keinen anderen Gedanken, als einmal -wenn auch nicht ohne vorher Meche um Erlaubnis zu fragen- mit Albino zu schlafen. Beide Frauen fließen in einer zusammen, denn auch ihre Antriebskraft ist letztlich wie bei ihren Männern auf die sexuelle Instinkthaftigkeit reduziert. An ihnen wird deutlich, daß niemand in diesem Roman der Entfremdung der sexuellen Liebeserfahrung entgeht. Zeitlich parallel erleiden sowohl Polonio als auch Albino bei der Vorstellung, daß die Vagina ihrer Frauen untersucht wird, Eifersuchtsattacken, die sich mit heftigem Begehren mischen. Die triebhaften Begierden (Sexualität und Drogen) dominieren die minimierte Lebenswelt der Hauptfiguren vollständig und rauben ihnen jegliches Bewußtsein ihrer Existenz. Das bedeutet, daß auch sie weniger als Menschen ihrer instinkthaften Animalität preisgegeben sind. Das Urteil der ausnahmslosen Animalisierung des Menschen geht über das von Revueltas verinnerlichte marxistische Verständnis vom heutigen Menschen als bloßer Vorstufe des kommenden, wahren Menschen hinaus. Innerhalb des Kontextes eines primär apolitisch angelegten Romans erfährt diese Überzeugung eine andere Gewichtung: Sie signalisiert eine tiefgehende Resignation, die die Hoffnung auf eine mögliche Wandlung des Menschen hin zum idealen neuen Menschen aufgegeben hat. Revueltas setzt sich hier Uber die Grenzen des historischen Materialismus hinweg und erklärt die Unbewußtheit, d.h. Unbehaustheit, zur Konstanten der menschlichen Existenz, die nicht überwunden werden kann. Der sich selbst entfremdete Mensch ist allgegenwärtig: "Todo era
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un no darse cuenta de nada. De la vida (...)" (S. 14). Zu machtvoll scheinen die Determinanten der Außenwelt, der Gesellschaft, die den Einzelnen bedrängen. Er kann sich über seine Abhängigkeiten nicht hinwegsetzen, sondern bleibt angesichts allmächtiger Gewalten hilflos und ohnmächtig. Er ist allem entfremdet: der Arbeit, den Mitmenschen, den abstrakten Normen, denen er sich ahnungslos unterwirft. Er ist -weit entfernt vom aristotelischen zoon politiköndas unbewußte, sich selbst fremde und entfremdete Wesen.
5.1.2. Der Trieb der Freiheit Der Erbarmungswürdigste im menschlichen Kosmos dieses Romans ist der physisch entstellte, drogenabhängige und moralisch-ethisch verkommene Sohn einer namenlosen Mutter: El Carajo. Diesen Spitznamen verdankt er seinen zahllosen entwürdigenden körperlichen Deformationen: "(...) ya que valía un carajo, con su ojo tuerto, la pierna tullida y los temblores con que se arrastraba de aquí para allá, sin dignidad" (S. 15). Da ihm eben jenes rechte Auge fehlt, das nötig ist, um einen Blick durch das Guckloch auf die Außenwelt zu erheischen, ist ihm die Möglichkeit verwehrt, sich in der Welt der Gefangenen über seinen entmenschlichten Zustand zu erheben. In ihrer Hierarchie ist er ein Paria. Dennoch designiert ihn sein Manko -ähnlich wie bei dem Führer der Popolucas El Tuerto Ventura (Los días terrenales)- zum Auserwählten unter negativen Vorzeichen. In dieser grotesken Gestalt wird das dichotomische Spiel von physischer Erniedrigung und luziden geistigen Momenten, der Kampf der gefesselten Kreatur um ihre Freiheit, verlebendigt. El Carajo bewegt sich ausschließlich an den äußersten Grenzen seiner Existenz, indem er das einzige, was ihm unveräußerlich ist und ihm ganz gehört, bis zur Neige ausschöpft: sei-
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nen Körper. Über diesen bestimmt er in dem für ihn maximal realisierbaren Maße: "(...) abandonado hasta lo ultimo, hundido, siempre en el límite, sin importarle nada de su persona, de ese cuerpo que parecía no pertenecerle, pero del que disfrutaba, se resguardaba, se escondía, apropiándoselo encarnizadamente, (...) cuando lograba poseerlo, (...) acostarse en su abismo, al fondo, inundado de una felicidad viscosa y tibia, meterse dentro de su propia caja corporal, con la droga como un ángel blanco y sin rostro que lo conduciría de la mano a través de los ríos de la sangre (...)" (S. 15-16).
Sein Körper gehört ihm ganz. Er bereitet ihm Vergnügen und er bietet ihm eine Möglichkeit aus seinem Gefängnis auszubrechen. Die Droge ist für ihn ein weißer Engel, ein Bote, der ihn von seinem Körper kündet, d.h. von seiner Lebendigkeit. Dieses Moment verleiht dem Drogenabhängigen eine Antriebskraft, die ihn bis an die Schranken des Todes führt. Die zahllosen Narben zeugen von seinen unzähligen Selbstmordinszenierungen, die einzig dem Zweck dienen, aus dem apando befreit und auf die Krankenstation verlegt zu werden. Einmal dort, gelingt es ihm stets, Drogen zu erhalten. Die Aufenthalte in der Krankenstation können als die glücklichen Momente seines Lebens gelten. Die Freude über die Einheit mit seinem Körper bringt er in einem bizarren Tanz zum Ausdruck: "(...) bailaba una suerte de danza semi-ortopédica y recitaba de un modo atropellado y febril versículos de la Biblia" (S. 18). In diesen Augenblicken, die Welt vergessend, ist El Carajo ganz bei sich: "(...) y la mirada legañosa del ojo sano tenía un aire malicioso, calculador, burlón, autocompasivo y tierno, bajo el párpado semicaído, rígido y sin pestañas" (S. 19). Das Auge gibt Zeugnis von seiner Lebendigkeit und seiner Liebe zu sich selbst. Im Tanz vergißt sich El Carajo ganz. Er vergißt sogar seine körperlichen Behinderungen, so daß er sich zu gewagten Sprüngen hinreißen läßt, die ihn unweigerlich zu Boden werfen. Nur unter größten Anstrengungen gelingt es ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Er weiß, daß er von niemandem Hilfe erwarten kann. Sein Blick erlischt: "Entonces el ojo parecía morírsele, quieto y artificial como el de un ave" (S. 19). Die fehlende Solidarität bringt ihm seine absolute Ein-
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samkeit erneut zu Bewußtsein. Er ist ausgeschlossen aus den Bündnissen der übrigen Gefangenen, was ihn zur Nicht-Existenz unter ihnen verdammt. Von diesem Punkt an wird sich die Todesspirale seines Lebens von neuem drehen. Dennoch können Selbstmordversuch und Tanz als Akte einer gewissen Hellsichtigkeit bezüglich seiner Lebenssituation gewertet werden. El Carajo weiß um seine Begrenzungen, und vermag sich innerhalb dieser in seiner Realität als Drogenabhängiger zu verwirklichen. El Carajo ist eine erbärmliche Kreatur, dennoch ist er Albino und Polonio Uberlegen. Denn während diese nur in der und durch die (erotische) Sinnenwelt existieren, erlangt der Verstümmelte ein Bewußtsein von seiner Körperlichkeit. Dies ist eine mögliche Definition von Freiheit innerhalb der Dialektik der Umkehrung: "El problema de la libertad se condensa tan claramente en El Carajo, que representa toda la infamia, toda la humillación, toda la ignominia de estar preso. Esto le da cierta lucidez respecto a sus problemas, mientras los demás lo toman como pura sensualidad. El lo toma como conceptualización, a su nivel, pero en los demás drogadictos aquello no es más que la sensualidad, el goce del cuerpo y la satisfacción".13
El Carajo trifft bewußt die Entscheidung, sich der Macht der Droge zu überlassen. In der Selbstaufgabe und absoluten Unbewußtheit findet sein Freiheitsstreben die Erfüllung. Die Wahl einer Freiheit unter negativen Vorzeichen, die zwangsläufig in der Selbstzerstörung endet, unterstreicht die Tatsache, daß den Menschen keine endgültige, absolute Ethik gegeben ist. Der Mensch, so hatte Gregorio kurz vor seinem Tod erkannt, muß unter den vielfältigen Wahrheiten wählen, um zu seinem wahren authentischen Sein zu gelange: "El destino no significa (...) sino la consumación de la propia vida de acuerdo con algo a lo que uno desea llegar, aunque las formas de esa consumación resulten inesperadas y sorprendentes no sólo para los otros, sino para uno mismo en primer término".14
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Revueltas im Gespräch mit dem Seminario del CILL: Diálogo sobre el apando (1975). InSáinz 1977: S. 40.
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Geichgültig ob sich Gregorio dem Weg der Erkenntnis, Fidel einer Ideologie oder El Carajo der Droge verschreibt, sie verdeutlichen, daß das Moment der Wahrheit notwendig immer durch eine subjektive Entscheidung bedingt ist.
Doch niemand vermag in bloßer Autarkie zu existieren. Das Leben El Carajos hängt an einem zerfledderten Band, das am anderen Ende mit seiner Mutter verknüpft ist. Mutter und Sohn sind in einer symbiotischen und gleichzeitig ambivalenten Beziehung miteinander verstrickt, die sich von wechselseitigem Haß, Abhängigkeit und aus Verzweiflung geborener Zuneigung nährt. Dennoch bedeutet die Mutter die entscheidende Verbindung des Carajo zur Außenwelt: "Con todo, la madre iba a visitarlo, existía, a pesar de lo inconcebible que resultaba su existencia" (S. 16). Von dem Leben der Mutter erfahren wir nichts. Ihre Identität erschließt sich allein aus ihrer Verflechtung mit der Frucht ihres Leibes, die ihrerseits ihrem Dasein einzig Berechtigung verleiht. Fern einer idealen Mutterliebe verkörpert auch diese Mutter die Madre Terrible15, die den Tod ihres Sohnes sehnlichst herbeiwünscht: "La rabia de tener ahora aquí a El Carajo, (...) y el deseo agudo, imperioso, suplicante, de que se muriera y dejara por fin de rodar en el mundo con ese cuerpo envilecido. La madre también lo deseaba con igual fuerza, con la misma ansiedad, se veía. Muérete, muérete, muérete" (S. 17).
Ihr häßlicher Körper birgt keine hehren Tugenden. Er ist ganz Zeichen eines Bewußtseins, das von Selbstvorwürfen und Groll -"la actitud cargada de rencor, reproches y remordimientos" (S. 17)- zerfressen ist. Die Physis der madre wird zu einer Uber ihr eigenes Leben hinausreichenden Metapher einer an ihr klebenden originären Schuld: '"La culpa no es de nadien, más que mía, por haberte tenido'. En la memoria de Polonio la palabra nadien se había clavado, insólita, singular, como si fuese la suma de un número infinito de significaciones. (...) Nadien, este plural triste. De nadie era
15
Vgl. dazu die Ausführungen zu der Figur Cecilias in El luto humano.
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la culpa, del destino, de la vida, de la pinche suerte, de nadien. Por haberte tenido" (S. 17). Ein Rückblick auf die Mutterfiguren in der Erzähllandschaft Revueltas' zeigt, daß der Autor die Idee der Mutterschaft konsequent und in zunehmend gesteigerter Form pervertiert.16 In El apando wird die Umdeutung des Zeichens zu einem erschreckenden Höhepunkt gefuhrt. Nicht genug damit, daß sich die Mutter El Carajos als Drogenlieferantin mißbrauchen läßt, sie führt das Drogenpäckchen in ihrer Vagina in das Gefängnis ein: "Se había dejado introducir el tapón anticonceptivo, por Meche y La Chata, como si tal cosa, con la indiferencia de una vaca a la que se ordeñara. Ahí estaban las ubres, pues; ahí estaba la vagina. Como lo calcularon, con ella no hubo registro, la respetaron por su edad, la vaca ordeñada pasó tan insospechable como una virgen" (S. 43). Der Ort der Fortpflanzung mutiert zur Brutstätte einer tödlichen Gewalt, die den Sohn endgültig vernichten würde. Die Mutter selbst erscheint im höchsten Grade entwürdigt. Ihre Passivität und Gleichgültigkeit gegenüber dem Mißbrauch ihrer Person, ihres Körpers und ihres Geschlechts degradieren sie zum bewußtlosen und ohnmächtigen Tier, das geschehen läßt und wehrlos bleibt. Die Verkehrung des Bildes der "Heiligen Kuh"17 bzw. der "Heiligen Mutter"
16
17
In der Kurzgeschichte El quebranto fragt sich der junge Cristóbal: "¿Por rencor había olvidado ahora el nombre de su madre"? Die Kurzgeschichte El hijo tonto (O.C. 8) erzählt von einer durch Krankheit und Armut ausgelaugten Mutter, deren Elend durch ihre religiöse Schuld noch gesteigert wird. Im selben Sammelband erscheint in La caída die Schuld überproportional vergrößert, da das Kind aus einer inzestuösen Beziehung hervorgeht. In der Prostituierten La Chunca (O.C. 9) inkarniert der entwürdigte Mensch. Sie träumt davon, sich ihres Sohnes in einem aborto tardío zu entledigen. In Los errores erinnert sich der Kriminelle Mario Cobán daran, wie er seine Mutter beim Urinieren beobachtet hat. Als bloße Schandtat hat auch die Prostituierte und Geliebte Cobáns, Lucrecia, die Prokreation vor Augen. Kinder auf die Welt zu bringen bedeutet, sie zu einem Leben im Gefängnis zu verurteilen:"(...) su madre la condujo a esta prisión perpetua de la que Lucrecia siempre estaba huyendo, pero de la que jamás salía" (S. 133). Die Heilige Kuh weckt Assoziationen sowohl an das Goldene Kalb des Alten Testaments, als auch an die Heilige Kuh Indiens. Fest steht jedenfalls, daß die Kuh in manchen Kulturen als Sinnbild der Mutter bzw. weibliche Gottheit der Fortpflanzung verehrt wird.
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zum Sinnbild der "gemolkenen Kuh", also der ausgebeuteten Mutterfigur, bedeutet einen
unmißverständlichen
Affront gegen
das oberste
geheiligte
Kollektivsymbol der mexikanischen Nation. 18 Die Zerstörung dieses Einzelwertes wirkt umgreifend auf der biologischen,
sozialen,
geistigen
und
spirituellen Ebene. Sie steht metonymisch für eine generelle Erschütterung traditioneller Werte, die im Auflösen begriffen sind, so wie die Mutter schließlich unfaßlich im Numinosen der unbelebten Materie entschwindet: "Era muy posible que la madre no escuchara en realidad. Parecía un mole de piedra, apenas esculpida por el hacha de pedernal del periodo neolítico, vasta, pasada, espantosa y solemne. Su silencio tenía algo de zoológico y rupestre, como si la ausencia del órgano adecuado le impidiera emitir sonido alguno, hablar o gritar, una bestia muda de nacimiento" (S. 47).
Animalisierung und Versteinerung künden vom regredierenden Trieb der Menschheit, die, befangen in permanenter irdischer Ambivalenz, auf ewig dazu verdammt scheint, an den Grenzen ihrer Erkenntnisfähigkeit zu leiden. Der Mutter fehlt die Sprache -una bestia muda de nacimiento-, und somit das entscheidende Medium für den Weg der Erkenntnis. Die Sprachlosigkeit der Mutter El Carajos signalisiert die höchste Stufe der Entfremdung, der kognitiven Bewußtlosigkeit, zu der der Mensch verurteilt ist. Es ist diese Hilflosigkeit gegenüber dem Leben, die in allen Mutterfiguren des erzählerischen Werkes Revueltas' ein Schuldgefühl anklingen läßt. Nur die Borrada (El luto humano) durchbricht den Kreislauf der Schuld, und verweigert sich der Konzeption des mestizischen Mutterbildes konsequent. La madre jedoch wird abermals zum steinernen Symbol der Schmerzensmutter, wenngleich das Idol entstellt und gebrochen darniederliegt: "(...) una Dolorosa bárbara, sin desbastar, hecha de barro y de piedras y de adobes, un ídolo viejo y roto" (S. 49). An der Figur der madre wird ein Mangel an Bewußtheit, der sich in Resignation und Passivität manifestiert, erkennbar. Dieser wird aus der Last der jahrhun-
18
So übereinstimmend auch beispielsweise Ruffinelli 1977; Frankenthaler 1979; Negrín 1995.
V. El apando
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dertealten Roilenzuschreibung der Malinche erklärbar, die der Frau die Möglichkeit der Selbstfindung hin zu einem authentischen Sein verwehrt: "La actitud aquí expresada parece ser la más frecuente entre las mujeres revueltianas, la resignación y el pesimismo. Es como si no valiera la pena luchar o lanzarse desde la soledad hacia la vida auténtica. Tras tantos siglos de la imagen de la Malinche, es sumamente difícil lograr cambiar".19 Mutter und Sohn sind in einem prekären Netz aus urstofflichen Gefühlen gefangen, die einer Veränderung oder gar einem Entwicklungsprozeß entgegenwirken: "(...) aún no terminaba de parir a este hijo que se asía a sus entrañas mirándola con su ojo criminal, sin querer salirse del claustro materno, metido en el saco placentario, en la celda, rodeado de rejas, (...) sin poder salir del vientre de su madre, apandado ahí dentro de su madre" (S. 20). Sie sind in ihrer Beziehung zueinander entfremdet, da sie einander nicht frei begegnen können. El Carajo verharrt hartnäckig im Uterus seiner Mutter. Indem er seine Geburt verweigert, erhält er die kindliche Abhängigkeit zur "Mama" aufrecht, wohl berechnend, daß die Mutter sich dem Pflichtgefühl der Fürsorge nicht entziehen kann. Während er sie mißbraucht, um sich mit Drogen versorgen zu lassen, gedenkt er ihrer mit ironisch anmutender Rührseligkeit: "Su mamá no iba a ser tan tonta como para darles la droga a otros, terqueaba El Carajo. Puras mentiras. Tanto como deseaba ver a su madre ahora mismo, aquí, necesitándola tan desesperadamente. Le contaría todo, sin quedarse callado como otras veces. Todo" (S. 44). Unaufhörlich wiederholt die gebrochene Göttin mit ihrem würdelosen Sohn das Spiel der Geburt, die Rückkehr zum Ursprung, ohne daß die Entbindung je vollzogen würde: "La cabeza de Albino se sumió trabajosamente en la celda y la madre pudo ver casi en seguida, igual que si se mirara en un espejo, cómo paría de nueva cuenta a su hijo, (...), carne de su carne, y sangre de su sangre, marchitas, amargas y vencidas" (S. 48-49).
19
Frankenthaler 1979: S. 115-116. Ihre Synthese bezieht sich explizit auf die Prostituierte Lucrecia von Los errores.
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Erst als der Sohn die Mutter verrät: "Ella -musitó mientras señalaba a su madre con un sesgo del ojo opaco y lacrimeante- ella es la que trái la droga dentro, metida entre las verijas. Mándela a esculcar pa que lo vea" (S. 55-56), befreit er sich aus der Unmündigkeit, und vermag die Grenzen der doppelten Gefangenschaft zu transzendieren. Der Verrat bedeutet die Abnabelung von der Mutter, die Befreiung aus dem claustro materno, der Todeszelle seiner Existenz. Indem er sie negiert, gebiert er sich selbst. Diese Negation bedeutet in der Ausdeutung auf der Basis dialektischer Synthese nichts anderes als die Bejahung des eigenen Seins: "Reafirma su esencia, reafirma su ser. Se convierte en hijo; no en el hijo supuesto, no en el hijo no parido. Su parto es la negación y también su libertad frente a los demás, frente a los otros".20
Die dialektische Synthese, so verdeutlicht dieses Beispiel die Auffassung des Autors, muß nicht notwendig den Schritt nach vorne bedeuten. Auch in der absoluten Negation der Humanitas kann sich das Selbst affirmieren.
5.1.3. Die entfremdete Geometrie: geometría enajenada Das Spiel mit der zunehmenden Begrenzung des Raumes untermalt die Dynamik der sich steigernden Aggression, die in einem Kampf auf Leben und Tod zwischen Albino und Polonio auf der einen und den Aufsehern auf der anderen Seite gipfelt: "Ahora estaban solos con el Comandante y los tres celadores,
20
Revueltas in Diálogo sobre el apando (1975). In Sáinz 1977: S. 38. Er betont ausdriicklich: "(...)que la síntesis no sea progresiva es una cosa muy importante. Los marxistas vulgares consideran que la dialéctica es progresiva, que va de lo menos a lo más, de lo atrasado a lo avanzado. Eso es falso, porque la síntesis puede ser absolutamente negativa (...). La síntesis dialéctica que sigue a la interpenetración de contrarios no da un más o un avance, nos da una cosa sombría y totalmente negadora del ser humano, y afirmativa dentro de la negación" (ebd.).
V. El apando
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encerrados en la misma jaula de monos" (S. 53). Sie finden sich in einer Art Käfigzelle wieder, die von außen durch neu hinzukommende Aufseher mit Eisenstangen immer weiter verengt wird, bis die Aufständischen gezwungen sind, bewegungslos zu verharren: "Llegaron de la Comandancia otros monos, veinte o más, provistos de largos tubos de hierro. La cuestión era introducirlos, tubo por tubo, entre los barrotes, de reja a reja de la jaula, y con la ayuda de los celadores que habían quedado en el patio de la Crujía, mantenerlos firmes, con dos otros hombres sujetos a cada extremo, a fin de ir levantando barreras sucesivas a lo largo y lo alto del rectángulo, (...) conforme a lo que exigieran las necesidades de la lucha contra las dos bestias, y al mismo tiempo atentos a no entorpecer o anular la acción del Comandante y los tres monos, en un diabólico sucederse de mutilaciones del espacio, triángulos, trapecios, paralelas, segmentos oblicuos o perpendiculares, líneas y más líneas, rejas y más rejas, hasta impedir cualquier movimiento de los gladiadores y dejarlos crucificados sobre el esquema monstruoso de esta gigantesca derrota de libertad a manos de geometría" (S.55). 21
Die Wärter schlagen die Gefängnisrebellion mit Hilfe von Rohren nieder, in dem sie diese solange aufeinander schichten, bis sie Albino und Polonio kreuzförmig eingekeilt haben. Die Kreuzigung der Gladiatoren evoziert den Kreuzestod Christi in einer universal gültigen, jenseits von Ideologie und Religion
angesiedelten
Ausdeutung:
Die Freiheit
des
Einzelnen
fällt
der
Grausamkeit eines (hier staatlichen) Unterdrückungsapparates zum Opfer. In diesem Zusammenhang wird die Geometrie, die im Vernunftglauben eine der höchsten Stufen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit bedeutet, durch ihren Mißbrauch zur essentiellen Metapher menschlicher Erniedrigung. Sie tritt als übergeordnete Macht in Erscheinung, die fesselt und entmenschlicht, und die Möglichkeiten der Befreiung, mehr noch jeglichen Freiheitsbestrebens, annulliert. In dem von ihr dominierten Raum wird die Freiheit gekreuzigt. Die Gewalt im Zeichen der geometría enajenada signalisiert die maximale Entfremdung der conditio humana.22
21 22
Hervorhebung durch die Verfasserin. Diese Ausführungen greifen einerseits auf die Erklärung Revueltas' zurück: "La geometría es una de las conquistas del pensamiento humano, una de las más
266
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Auch wenn Revueltas keinen direkten Bezug zum nationalstaatlichen Kontext der Zeit herstellt, kann die politische Dimension von El apando nicht übersehen werden. Der Roman ist in den zeithistorischen Kontext der 68er Studentenbewegung zu situieren, denn nur so vermag sich der historische Sinn der in den Text eingemeißelten Gewalt zu erhellen. Die Anklage richtet sich implizit gegen die institutionalisierte Gewalt, den P.R.I., der die absolute Kontrolle über den Einzelnen behalten will. Der Text wird, wie ihn das Seminar des CILL der veracruzanischen Universität interpretiert, zur metáfora de la opresión eines Staates, der sich demokratisch gibt und doch das Recht des Einzelnen auf Freiheit und Freiheit der Ideen mißachtet. Das Klima der Gewalt von Lecumberri steht daher auch -pars pro toto- für das Klima der politischen Gewalt Ende der 60er Jahre in Mexiko.23
23
elevadas en su desarrollo. Entonces, hablar de geometría enajenada es hablar de la enajenación suprema de la esencia del hombre" (Revueltas in Diálogo sobre el apando (1975). In Sáinz 1977: S. 43). Andererseits schließen sie an die Ausfuhrungen zur Kritik Revueltas' am cartesianischen Grundsatz an. Siehe das Kapitel 4.3.2. "Das Sein in säkularisierter Glaubensgewißheit: una máquina de creer". Die Entfremdung des Menschen, die aus seinen wissenschaftlichen Leistungen resultiert, thematisiert Revueltas auch in dem Roman Los motivos de Caín, in dem er das Barbarentum der Kriegsmaschinerie anprangert. Zur selben Zeit -noch während der Haft- richtet sich Revueltas in einem Brief an Arthur Miller, den damaligen Präsidenten des internationalen Pen-Club, explizit gegen die Diktatur des Staates. Auslöser des Briefes war der von staatlicher Seite offensichtlich tolerierte, wenn nicht sogar unterstützte Raubzug der gewöhnlichen Häftlinge gegen die politischen Gefangenen: "Cuando se examinan los acontecimientos ocurridos el primero de enero de 1970 en la Cárcel Preventiva - donde las autoridades del penal liberan a los criminales de tres crujías para que agredan a estudiantes, maestros, y obreros detenidos en la misma prisión y luego se entreguen durante dos horas al saqueo más desenfrenado e impune- la explicación del inaudito y bárbaro atentado no debe buscarse en ningún otro punto que no sea aquel de que arranca el dogma presidencial de que 'en México no hay presos políticos'. El empecinamiento de que da muestras el gobierno mexicano por conservar este dogma no reside tan sólo en la estupidez de quien trata de negar una evidencia y cree que con darle otro nombre ya consumó el milagro de abolir la realidad. (...) Ha querido decir que en México no existe una dictadura, que en México no existe el monopolio político de Estado, que en México hay libertades democráticas. En suma, este dogma, pese a su irracionalidad (...) y al cretinismo político que encierra, viene a convertirse de tal modo, en uno de los pilares fundamentales en que se sustenta el régimen, y de lo que era un simple modus operandi hipócrita, chapucero, de la
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Der letzte Roman, den Revueltas vollendet, überschreitet die Grenzen der nationalstaatlichen Belange Mexikos. Seine Botschaft erlangt eine universale Dimension in der Kategorie des Subjekts. Wenn die menschliche Existenz der Dialektik von Freiheit und Unfreiheit unterworfen ist, so muß der Einzelne in der Auseinandersetzung zwischen Ich und Welt die Begrenzungen, die ihm durch die conditio gesetzt sind -in der Sprache Revueltas': "(...) las rejas de El apando, son las rejas de la ciudad, y las rejas del pais y las rejas del mundo" 24 auf seine je genuine Weise begegnen.
5.2. Die Determination der Unfreiheit Der symbolische Charakter des Gefängnisses im gesamten erzählerischen Werk Revueltas' wurde von Kritikern mehrfach besprochen. In ihren Interpretationen beschränken sie sich jedoch zumeist darauf, das Gefängnis als äußerliches Symbol im Wertverständnis des Autors anzunehmen. 25 Bei näherer Betrachtung wird dagegen die enge Verbindung zwischen dem Raum-Gefängnis und dem mentalen Gefängnis deutlich, die den Menschen doppelt gefangenhält. Mit einem mentalen Gefängnis ist jenes zum Fanatismus neigende Weltverständnis
24
25
dictadura contra sus opositores, ha terminado por transformarse en el Talón de Aquiles de la misma" (José Revueltas: Carta a Arthur Miller, Presidente del Pen Club Internacional. 11.01.1970. In O.C. 15: México 68: Juventud y Revolución; S. 223-244, hier S. 225-226). Revueltas im Interview mit Gustavo Sáinz: La última entrevista con Revueltas (1976). InSáinz 1977: S. 12. Vgl. dazu ausfuhrlich bei Negrín das Kapitel 2. El narrador José Revueltas frente a la cárcel de la razón: Función de los espacios cerrados (Negrín 1995: insbesondere S. 186-187), in dem sie auch die Stellungnahmen der Kritik zu dieser Problematik zusammenfaßt. Ihre Analyse der Kunzgeschichte Dios en la tierra (O.C. 8) verdeutlicht, wie äußerer Rahmen und innere Bedingung einander komplementär ergänzen: "La clausura física del pueblo cristero, preparado para recibir agresivamente a los soldados federales, es apenas un complemento y una expresión de la clausura de las ideas y de los sentimientos" (Negrín 1995: S. 187).
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gemeint, das nur eine Wahrheit anerkennen will, und Widersprüche des Lebens daher negieren muß. Das mentale Gefängnis ist also das Gefängnis einer verabsolutierten Idee, die sich in verschiedenster Gestalt im Gesamtwerk manifestiert. 26 In Los muros de agua verstärkt die räumliche Begrenzung die mentale Unterdrückung. Da ist die Isolation auf der Gefängnis-Insel einerseits. Da ist andererseits, und das wiegt schwerer, das Joch der unentrinnbaren Zwangsmechanismen
eines degradierenden
Strafvollzuges. Das mentale
Gefängnis,
ausgeübt durch eine burocracia de misterio, tilgt die Möglichkeit jeglichen brüderlichen Handelns. 27 Die Gefangenen akzeptieren in passiver Ohnmacht ihr Schicksal. Ihre Leiden stehen dem Machtgebaren der Befehlshaber der Insel diametral entgegen. Dennoch erhellt ein Hoffnungsschimmer diesen Roman, da die kommunistischen Häftlinge fähig sind, der Entmenschlichung Widerstand zu leisten. Diese Hoffnung kennzeichnet auch noch den Roman El luto humano, die dem im ewigen Kreislauf der Unterdrückung gefangenen Volk in der synkretistischen Heilsgestalt Natividads angeboten wird. Dagegen geißelt Revueltas in den Romanen Los días terrenales und Los errores die Blindheit der orthodoxen Kommunisten als eine Glaubensdisposition, die einer fanatischen Barbarei alle Tore öffnet. Gleichwohl bietet auch dieser Roman einen Ausweg (aus der oficina ilegal, aber auch aus den Folterkammern der staatlichen Repression), der in der Gestalt des Zweiflers Gregorio auf die ethisch-moralische Verantwortung des Einzelnen weist. Die Geschlossenheit von El apando scheint hin-
26
27
Die Problematik des mentalen Gefängnisses greift Revueltas natürlich auch in seinen Kurzgeschichten auf: In La acusación (O.C. 8) denunziert er die Ignoranz des Aberglaubens; in Dios en la tierra (O.C. 8) und Cuánta será la oscuridad (O.C. 8) beschäftigt ihn der Fanatismus der Cristeros; kritisch beleuchtet er die Frage der Haltung im Leben auch in Resurrección sin vida (O.C. 10). Ein Häftling faßt die Unentrinnbarkeit des geistigen Gefängnisses in die Worte: "(...), en las Islas, donde no existía la menor solidaridad y el hombre era un animal de egoísmo, entregado con todo el cuerpo y los sentidos a evitar su propio sufrimiento" (Los muros de agua: S. 122).
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gegen endgültig jede Möglichkeit auszuschließen, der Kerkerhaft zu entfliehen. In dieser Romanwelt sind, so jedenfalls das abschließende Urteil Negrins, alle positiven menschlichen Werte vernichtet: "En el universo de El apando se ha impuesto la impotencia, la apatía, la animalización, la cosificación, la cárcel lo ha invadido todo, hasta el último resquicio".28
5.2.1. Das Stigma der Vereinzelung Wie ein Röntgenapparat den Körper durchleuchtet, so entledigt das Gefängnis den Menschen seiner Masken, macht ihn durchschaubar und entdeckt seine verborgenen niederen Instinkte und Triebe. In El apando ist die archetypische Opposition von Christus und Kain nicht nur aufgelöst, vielmehr scheint es, als ob Kain die Oberhand gewonnen habe. Es herrschen allein Vereinzelung und Egoismus, und die Bereitschaft zum Brudermord ist allgegenwärtig. Die Ausrichtung des Fokus auf die Welt hat sich deutlich verschoben. Revueltas schreibt nicht mehr aus der Perspektive des überzeugten Kommunisten, sondern konzentriert sich ausschließlich auf die Rolle des Einzelmenschen, den Verblendung und Feindseligkeit in dem Maße beherrschen, daß sie jegliche Anzeichen von Solidarität pervertieren oder ausschließen. Das Gefängnis egalisiert Wärter und Gefangene, es zwängt sie in die Verhaltenskonditionierung von monos: "(...) en El apando todos son monos, todos sienten la clausura de la sociedad entera y se distinguen únicamente por las rejas. Es más: inclusive pueden parecer más monos los de afuera, pues en la cárcel, en la jaula, por lo menos varia la extremada libertad de la bestia, mientras los monos tienen que seguir e imitar las reglas de la sociedad, las cuales niegan la libertad del ser humano, cuajándole en moldes que le enajenan".29
28 29
Negrin 1995: S. 297. Frankenthaler 1979: S. 86.
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Eine Gesellschaft, die das Freiheitsstreben ihrer Mitglieder beschränkt oder gar unterdrückt, beläßt sie im Entwicklungsstadium der Animalität. Eine Gesellschaft ohne Freiheit ist eine animalische Gesellschaft. Für Revueltas bedeutet das Gefängnis den Ort, an dem sich menschliche Eigenschaften in schonungsloser Nacktheit offenbaren. Das Grundproblem der menschlichen Freiheit wird dort in Extremen ausgereizt, wo selbst die Werterelevanzen der vermeintlich einfachsten menschlichen
Belange sich zu
größenwahnsinnigen Dimensionen wandeln: "Donde la libertad se configura más cabalmente es en la cárcel, tal vez porque reduce el individuo a su pura dimensión imaginaria y, por ende, desnuda a toda la sociedad en su auténtico espectro solar. En la cárcel todo adquiere una significación mayor, el sentido de la propiedad privada, el pocilio, la comida. Esa falta de libertad animaliza y zoologiza a la sociedad".30 Die Wirklichkeit des Gefängnisses bestialisiert. Die Insassen eines Gefängnisses bilden ihrerseits eine eigene strenge hierarchische Ordnung, in der der Einzelne gezwungen ist, seinen Platz zu behaupten. Der Einzelne wird in diesem System der Repression vollkommen auf sich selbst verwiesen. Die räumliche Isolation des apando kann daher als Metapher für die Isolation des Menschen, seinen Ausschluß aus einer wie auch immer definierten Gemeinschaft, begriffen werden. Die Zwänge der Außenwelt nötigen ihn, sich in der soledad einzurichten und zu bestehen. Auffälliges Zeichen der Vereinzelung ist eine reduzierte Sprache, die das Fehlen einer verbindenden und solidarisierenden Verständigung signalisiert. Der Mangel an wahrhafter Kommunikation schafft ein Aggressionspotential, das unvermeidlich zu Eruptionen von Gewalt drängt. Eine latente Kampfbereitschaft kennzeichnet sowohl die Beziehung zwischen den Gefangenen als auch zwischen ihnen und den Wärtern. Die enge Verbindung zwischen Kommunikationslosigkeit und Gewalt manifestiert sich in El apando in der blutigen Niederschlagung der Gefängnisrebellion. Je heftiger und erbarmungs-
30
Revueltas im Interview mit Margarita García Flores: La libertad como conocimiento y transformación (1969). In Sáinz 1977: S. 71.
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loser die Männer ringen, um so bedrohlicher und drückender wird die Last des Schweigens: "Los apandados mismos enmudecieron" (S. 51); "pelicula anterior a la banda de sonido" (S. 52), "La pelea era callada, acechante (...)" (S. 53). Das Wort trägt substantiell zur Schaffung einer dialektischen Relation bei oder zeigt umgekehrt ihr Fehlen in den zwischenmenschlichen Beziehungen an. In der Sprache findet sich die (Un-)Ordnung der Welt repräsentiert. Die hohe Bedeutung des Wortes hat Revueltas in seinen Ausführungen zu El oficio de escritor betont: "El material del escritor son las palabras -esto parece obvio decirlo- porque no hay literatura sin palabra, no hay comunicación sin lenguaje, establecida una distinción entre palabra y lenguaje. La noción del lenguaje es mucho más genérica (...).Volviendo al punto de partida, la palabra nos lleva al personaje, y el personaje a su vez va creando un mundo a su alrededor si es un personaje vivo -no distorsionado- que corresponda a una formación de compuestos contenidos ya en la realidad".31 Auf die Bedeutung des Wortes, das allererst eine Begegnung mit dem anderen ermöglicht, hat Revueltas in seinem literarischen Schaffen immer wieder Bezug genommen.32 Wenn beispielsweise in El luto humano wahre Kommunikation auch auf ein Minimum reduziert ist, so wird der Wert des Wortes indes durch die Wirkungsmacht Natividads anschaulich: "Para Natividad como que la vida era enormemente rica, fértil, y cualquiera de sus detalles, aun los mínimos, como encerrando un universo lleno de pasión. ¿Conoce usted -preguntó- a un jornalero de nombre Jerónimo Gutiérrez? Y el tono de la pre-
31 32
Revueltas, José: Oficio del escritor, S. 3-5. In Los días terrenales versteht der Popoluca-Führer Ventura das Wesentliche, ohne auf die Worte zu achten, die gesagt oder auch nicht gesagt werden: "¡Tú sí que ni te miras en la oscuridad, de tan silencito...! "; "Te miro triste"; "Desde luego -pensó Gregorio-, él no necesita los ojos para mirarme; me mira con otros sentidos. Le bastaba con saber que callo, le basta con no escucharme y con eso me ve" (S. 12-13). Dagegen führt das Verstehen in Los motivos de Caín -wenn auch unabsichtlichzum Verrat. Die sprachliche Solidarität zwischen Jack und Kim wird zur Falle, denn die Foltermeisterin Jessica kann sie verstehen, und ihre Pläne durchkreuzen. In Los errores fuhrt Revueltas vor, daß der Stalinismus auch die wahren Kommunisten zum schweigen verurteilt, es gibt nichts mehr zwischen ihnen, daß sie noch sagen müßten. Die Sprache ist im Besitz der anderen, der Bürokraten und Dogmatiker.
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Serrano
gunta elevaba a Jerónimo Gutiérrez, simple jornalero, otorgándole dignidad legítima, inalienable estirpe" (S. 131-132).
Mangelnde Liebe und Solidarität schlagen sich dagegen stets auch im Mißbrauch des Wortes nieder. In der Kurzgeschichte El lenguaje de nadie33 (O.C. 9) illustriert Revueltas beispielsweise den engen Zusammenhang zwischen dem Besitz der "richtigen" Sprache und den Herrschaftsverhältnissen. Die Worte enthüllen nicht die Tatsachen, sie werden vielmehr benutzt, um diese zu verschleiern. Sie dienen als Maske. In El apando schließlich erscheint die Violenz der Sprache als Ausdruck der repressiven Gewaltstrukturen. Die Bedeutung von Sprache in ihrer Funktion als Nexus zwischen den Menschen versagt gänzlich: "Meche no podía formular de un modo coherente y lógico, ni con palabras ni con pensamientos, lo que pasaba" (S. 29-30).34 Die Wörter haben ihre konventionalisierte Bedeutung und damit die Kraft, Kohärenz zu schaffen, verloren. Die Entfremdung manifestiert sich in dieser ausgegrenzten sozialen Gruppe nicht zuletzt in ihrer defizitären Sprache, die zugleich Ausdruck und Ursache ihres Mangels an Authentizität ist.
33
34
Dofla Aquilina überhört das Ansinnen des Indianers Carmelo, ihm ein Stück unbenutztes Land zu überlassen. Später erklärt sie ihn jedoch zum Erben ihrer Ländereien, doch ihre leiblichen Nachfahren übermitteln dem Indianer die Nachricht nicht. Carmelo begräbt unabsichtlich seine noch lebende Herrin und wird für dieses Verbrechen vor Gericht gestellt. Unfähig zu begreifen, was ihm geschieht, wird er vor die Wahl gestellt, auf sein rechtmäßiges Erbe zu verzichten und freigesprochen zu werden, oder, wenn er auf diesem bestehen sollte, ins Gefängnis gehen zu müssen. Der Verlust von Sprache wird zum zentralen Thema in der Sammlung Material de los Sueños (O.C. 10). Siehe insbesondere Ezequiel o la matanza de los inocentes und Sinfonía pastoral.
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5.2.2. Wege aus der Isolations-Haft Auf die naheliegende Frage, wie Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit überwunden werden können, bleibt der Autor in seinen Romanen und Kurzgeschichten eine erlösende Antwort schuldig. Eine Befreiung aus der Isolation kann nur über eine Bewußtwerdung der eigenen Existenz und die Überwindung der Grenzen des Ich führen. Die Auseinandersetzung mit der Einsamkeit führt zum Versuch, diese in der Kommunikation mit dem anderen zu überwinden. Scheitert das Bemühen, wird man wieder auf die Einsamkeit zurückgeworfen. Die Dialektik zwischen Ich und Welt bestimmen die je subjektive Interpretation von Realität. Eine Chance, der eigenen Existenz bewußt zu werden, liegt in den Grenzerfahrungen von Schmerz und Tod. Indem der Mensch durch das Erleiden des Schmerzes zur Erkenntnis gelangen kann, vermag er sich über seine Unbewußtheit zu erheben. In der Kurzgeschichte La frontera increíble wird das Begreifen des Schmerzes zur essentiellen Erfahrung des Lebens: "Testimonio, cuerpo mío duéleme, que eres mi último sufrimiento antes de que me entregue al sufrimiento puro, al que no tiene principio ni fin, ni mezcla de alegría ni de esperanza".35 Der Schmerz ist hier Signum des Menschen. Durch ihn gewinnt er Klarheit und Verstandesschärfe, auch wenn sich diese in der Zerstörung verwirklichen. In der bewußten Negation seiner Existenz, die ihn an die Grenze des Todes heranführt, überwindet El Carajo die Entfremdung seines Seins. Am Archetypus der entwürdigten - i m eigentlichen Sinne gezeichneten- Gestalt wird die ethisch absolute Frage der menschlichen Freiheit exemplifiziert, die dem Roman die Dimension universaler Gültigkeit in bezug auf die Bestimmung der Menschheit verleiht:
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In O.C. 9: La frontera increíble, S. 40.
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"La deformidad dolorosa y enferma como signo eminentemente humano que lleva consigo la lucidez de la materia pensante que se asume como destrucción".36
Wie die Analyse der Metamorphose Gregorios ergeben hat, liegt auch in der sexuellen Liebeserfahrung die Chance, Bewußtheit über die Existenz zu erlangen. Das Liebeserlebnis vermag den Einzelnen aus der Unbewußtheit und Kontingenz seines Daseins herauszureißen und läßt ihn eine Kontinuität jenseits des Todes erahnen. Die Schilderung entfremdeter Sexualität sollte nicht als bloßes Überschreiten von Tabugrenzen mißgedeutet werden, mit dem der AutorErzählers gegenüber den idealisierten offiziellen und konventionalisierten personalideologischen Zuschreibungsmustern der patriarchalischen Gesellschaft spottet.37 Die sexuelle Entfremdung als Zeichen der menschlichen Isolation steht metonymisch für die Uneigentlichkeit der Existenz als anthropologische Konstante. Nur Ausnahmefälle wie die Verbindungen Natividad und Cecilia (El luto humano) oder Rebeca und Bautista (Los días terrenales) deuten auf eine Überschreitung individueller Grenzen, indem sich das Ich zum Nächsten hinwendet. In ihrer Liebesfähigkeit wird die Chance einer Transzendierung der Einsamkeit, einer wahrhaften Kommunikation, sichtbar. Doch ihre Liebe muß unerfüllt bleiben oder vernichtet werden, da auch diese Tugend -wie alles Menschlichenur unvollkommen entwickelt ist: "El amor me parece una de las pasiones más depuradas que tiene el ser humano, pero que inclusive exige un gran perfeccionamiento, porque es un amor totalmente retorcido, totalmente mediatizado y deformado en la sociedad actual y en la historia actual del ser humano. Todavía no tenemos ejemplo de gran amor de los seres humanos (...)".38
36 37
38
Torres 1979: S. 106. Vgl. dazu das Kapitel 4.2. Dekonstruktion stereotyper geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibung. Margarita García Flores: José Revueltas: Entre lúcidos y atormentados. Diorama de la Cultura, Beilage von Excélsior (México), Jahr LVI, Bd. n, Nr. 20,114 (16.04. 1972), S. 10-11. Hier zitiert nach Frankenthaler 1979: S. 130.
V. El apando
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Eine wahre Liebe wird solange Illusion bleiben, solange das Paradigma von Herrschaft und Autorität der bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaftsordnung eine Liebe aus freier Entscheidung und Zuwendung verhindert.39 Authentizität und Liebe (Kommunikationsfähigkeit) sind die Charakteristika des unentfremdeten Einzelnen. Brüderlichkeit und Solidarität sind die Tugenden einer unentfremdeten Menschheit. Revueltas sieht die vornehmliche Aufgabe der Politik als "una forma de enajenación, desenajenante, (...) como contradicción dialéctica"40, die ihren Beitrag hin zu einer eigentlichen Menschheit zu leisten habe. Man könne in den heutigen Formen der Solidarität, wie beispielsweise der Solidarität des Proletariats, noch nicht von einer wahrhaften Solidarität ausgehen, da es seine Interessen im Gegensatz zu anderen verstehe. Erst wenn die Gegensätze der Klassen aufgehoben seien, werde die unentfremdete Solidarität Wirklichkeit: "(...) nuestra solidaridad todavía no es una solidaridad humana, porque, por ejemplo, la solidaridad obrera es una solidaridad enajenada a la lucha frente a la otra parte delhombre que son los burgueses. Cuando no haya obreros ni burgueses, la solidaridad va a comenzar a ser una solidaridad humana".41 Denn nur wenn das Individuum seinen Egoismus überwindet, und lernt, sich als einen historisch vergänglichen Teil des Menschengeschlechts zu begreifen, vermag die Vision der Humanitas Wirklichkeit werden:
39
40
41
Den Variantenreichtum authentischer und nicht-authentischer Liebe hat Franken thalerim dritten Kapitel ihrer Studie: El solitario ... y el otro (1979) nachgezeichnet. Sie weist u.a. darauf hin, daß Revueltas das wahre Glück der Liebe oftmals in homoerotische Beziehungen hineinverlegt. So z.B. verzichtet Soledad auf die Erfüllung ihrer Liebe zu Rosario, und wird zu ihrer zuverlässigen Beschützerin (Los muros de agua). So wie in diesem Beispiel manifestiert sich Liebe zumeist in solidarischem Handeln, das auch extreme Handlungsweisen wie Selbstaufgabe oder Mord einschließt: In der Kurzgeschichte La palabra sagrada (O.C. 9) opfert sich der Lehrer Mendizábal, um die Schandtat einer Schülerin zu verheimlichen. Aus Liebe zu Gregorio tötet Epifanía in Los días terrenales den Polizeichef. Solidarität prägt andererseits aber auch die Freundschaft Venturas zu Gregorio. Revueltas im Interview mit Norma Castro Quiteño: Oponer al ahora y aquí de la vida, el ahora y aquí de la muerte (1967). In Sáinz 1977: S. 87. Revueltas im Interview mit Norma Castro Quiteño: Oponer al ahora y aquí de la vida, el ahora y aquí de la muerte (1967). In Sáinz 1977: S. 87.
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"(...) vivir como ser genérico precisa preferir el aquí y el ahora de la muerte, lo cual implica vivir para los demás, como ser consciente de la colectividad, de la historia y no de un momento".42 Die freigelegten moralisch-ethischen Koordinaten von El apando lassen sich grundsätzlich in drei Begriffspaaren fixieren: Der Uneigentlichkeit und Entfremdung der menschlichen Existenz steht dichotomisch die Suche nach Authentizität, der Vereinzelung des Individuums die wahrhafte Solidarität, und der gefängnisgleichen Determination ein Leben in Freiheit gegenüber. Damit gelangen wir zur zentralen Fragestellung des Romans, die sich aus der Diskussion um das Gefängnis dialektisch ableiten läßt: Der Kampf für die Freiheit ist das zentrale Anliegen Revueltas', der schon in El luto humano die Ohnmacht des Menschen angesichts seiner Ketten beklagt: "¿Qué es el viento y de dónde parte, de qué rincón? (...) Su llanto sobre la tierra es para llorar las cadenas del hombre, que las siente más profundas cuando la palabra del viento corre por el mundo. Estoy aquí, calcinada planta, rama oscura, y afuera el viento. Espada, hermano, flor furiosa, libértame de la cárcel, líbrame".43 Das Streben nach Freiheit wird zur schicksalhaften Herausforderung des ohnmächtigen Subjekts, der dies als Grundbedingung der conditio
humana be-
greifen muß. Der kritische Marxist hat die Problematik der libertas zum Leitmotiv seines Lebens deklariert: "He considerado el problema de la enajenación y el de la libertad como problemas principales de toda mi problemática marxista" 44 , das keine Kompromisse zuläßt. Die Idee der Freiheit fordert den Kampf für die absolute Freiheit des Menschen: "(...) la idea absoluta de Hegel en la dialéctica de Marx se traduce en la libertad absoluta del hombre. Ese proceso de la dialéctica encarnada en las contradicciones objetivas que señala Hegel, no es sino la libertad absoluta. Luchas por la libertad absoluta. Que no se nos venga a decir que la libertad es relativa, porque el hombre es un ser absoluto. La libertad absoluta implica el grado más elevado de la 42
43 44
Revueltas im Interview mit Margarita García Flores: La libertad como conocimiento y transformación (1969). In Sáinz 1977: S. 71. El luto humano-, S. 166. Revueltas im Gespräch mit Josefina Tejera: Literatura y dialéctica (1968). In Sáinz 1977: S. 82.
V. El
apando
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conciencia colectiva, la ruptura entre lo negativo de la conciencia y la conciencia histórica más alta, más general".45
Die Freiheit liegt im Bewußtwerden des eigenen Selbst und der bewußten Annahme der Verantwortung für sich und den anderen. Der Begriff der Freiheit setzt das Streben nach Erkenntnis voraus. Da der Erkenntnisprozeß zwangsläufig Veränderungen provoziert, kann es sich auch bei der Freiheit um kein statisches und unveränderlich auf Ewigkeit eingerichtetes Phänomen handeln. Das Freiheitsstreben muß vielmehr als eine sich permanent erneuernde Vision begriffen werden: "Como conocimiento y transformación. Si yo conozco, yo soy libre, pero esta es la mitad de mi libertad, puesto que todo conocimiento transforma lo que conoce. Esto lo dirijo al régimen actual, que pretende no perseguir las ideas, pero lo que persigue es que esas ideas no se realicen, no se cuestionan".46
Der Roman ist weit entfernt von einer von Marx, Engels und Lenin ausgehenden Praxisphilosophie anzusiedeln, die Entfremdung als eine historisch bedingte Deformierungserscheinung der kapitalistischen Gesellschaft definiert. Revueltas begreift Entfremdung als untilgbares Signum der conditio humana, und nähert sich damit der existentialistischen Seinsbestimmung an. Die Verdichtung der Zeichen seines Weltverständnisses ist jenseits aller historischen Begründungszusammenhänge Ausdruck eines höchsten Maßes von universal ausgerichtetem Bewußtsein.
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Revueltas im Gespräch mit Josefina Tejera: Literatura y dialéctica (1968). In Sáinz 1977: S. 82. Revueltas im Interview mit Margarita García Flores: La libertad como conocimiento y transformación (1969). In Sáinz 1977: S. 71.
VI. Resümee
VI.
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RESÜMEE
Da diese Arbeit auf die Verfremdung mexikanischer Identitätszeichen im erzählerischen Werk von José Revueltas konzentriert ist, habe ich bewußt auf eine ausführliche Analyse aller Romane und Kurzgeschichten verzichtet. Unliebsame Wiederholungen wären nicht zu vermeiden gewesen.
Die Entwicklung der literarischen Strategien des Autors spiegelt einerseits sein politisches Leben und philosophisches Bewußtsein, andererseits können seine Textwelten als zeithistorisches Dokument anerkannt werden, das die politische und soziale Realität Mexikos aus der Perspektive der sogenannten marginalisierten Bevölkerungsschichten erfaßt. Dabei gerät die Auseinandersetzung mit der Kommunistischen Partei Mexikos, dem P.C.M., zum persönlichen Leitfaden des zweifelnden Denkers: Sein Leben ist von Annahme und von Distanzierung der parteipolitischen Vorgaben gezeichnet. Das marxistisch-leninistische Paradigma, das den jungen Autodidakten formt, bildet das Fundament seines philosophisch-ethischen Gedankengebäudes, auch wenn sich im späten Revueltas zunehmend "existentialistisches" Denken manifestiert. Mit El luto humano setzt Revueltas den Leiden und Opfern der mexikanischen Bevölkerung ein Denkmal. Im Gegensatz zur offiziellen Geschichtsschreibung, die die Helden der Revolution konserviert, erinnert er an die, denen kein Eitrag in die Geschichtsbücher gewährt wird. Er evoziert den Exodus des mexikanischen Volkes, das durch den in der Conquista erlittenen Verlust echter irdisch-religiöser Bindung in Trauer befangen ist. Der Roman sprengt die Kohäsionskraft der postrevolutionären Gründungsmythen, um Raum für die Welt des "neuen" Menschen zu schaffen. Wenn in der Figur des promethischen Natividad das Versprechen auf ein eschatologisches Heil aufleuchtet, so schuldet sich dies der Glaubensgewißheit des jungen Marxisten, der in der Vision einer
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siegreichen proletarischen Revolution die Überwindung der zeitgenössischen Aporien Mexikos in Aussicht stellt. Im Angesicht der historischen Herausforderung wird die Ausrichtung auf den kommenden "neuen" Menschen für das Handeln eines jeden zum Maßstab, der ihn zur aktiven historischen Partizipation verpflichtet. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Kräftefeld des zur Solidarität gemahnenden Kommunismus und dem existentiellen Bedürfnis des Subjekts nach Authentizität prägt vor allem die zweite Schaffensperiode. In Los días terrenales bricht Revueltas mit der säkularisierten Glaubensgewißheit des Marxismus. Er verabschiedet sich von jenen Utopien, die jenseits der irdischen Wirklichkeit liegen, und nähert sich einer existentialistischen Weltsicht, die der Entfremdung und Einsamkeit der menschlichen Existenz Rechnung trägt. Der kommunistisch revolutionäre Glaube hat nicht die Macht, den Einzelnen aus der Verantwortung für sein Schicksal zu befreien. Der Mikrokosmos des El apando schließlich steht metonymisch für die irdischen Begrenzungen menschlichen Seins. Jenseits aller rassischen, kulturellen, politischen oder ökonomischen Determination führt die Dialektik der Grenzerfahrung des apando zur Erkenntnis des absoluten Wertes subjektiver Freiheit. Die Hauptfiguren dieser Romanwelten werden vor die Wahl gestellt, die Wahrheit ihres Menschseins zu ergründen oder dem Zustand der anthropologischen Inexistenz -der Vertierungpreisgegeben zu bleiben. In der Zeitspanne zwischen der Veröffentlichung von Los días terrenales und Los errores kämpft Revueltas um seine wahrhafte politische und ethische Position. Mit Los errores bestätigt er jene in Los días terrenales entworfene Grundhaltung der menschlichen Freiheit im Gegensatz zu einer dogmatischen Erfüllungsmentalität. Wenn der Mensch die Summe seiner Möglichkeiten ist, so realisiert er sich in seinen Taten. Der Freiheit als Mensch gewahr zu werden, bedeutet allerdings nicht, der Verantwortung gegenüber dem nächsten entbunden zu sein. Dieser Widerspruch kann notwendig nur im Kompromiß aufgelöst
VI. Resümee
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werden: In der Verbindlichkeit und im Engagement als Bedingung für eine wahre Solidarität, die den verdadero revolucionario auszeichnen. Die Romanwelten entwickeln eine auf den ersten Blick ausschließlich negative Weltsicht. Vergegenwärtigt man sich dagegen die im Text dialektisch angelegte appelative Struktur, so wird der Prozeß der Synthesenbildung in den Leser verlegt. Freilich ist hier nicht gemeint, eine Synthese im Sinne eines leichtfertigen, optimistischen Fortschrittsglaubens zu vollziehen. Aus der Perspektive des realismo crítico führt die Synthese eines dialektischen Prozesses nicht notwendig zu einem -positiv gedachten- Progreß, sie führt auch nicht zu einem -negativ gedachten- Leugnen des Fortschritts und damit zur Bestätigung des Immergleichen. Sie wird vielmehr in die Verantwortlichkeit des Einzelnen gelegt, der nach seinen Kräften und Kapazitäten aktiv am Weltgeschehen teilhaben soll. Da Revueltas keine trostreichen, hoffnungsvollen Visionen bietet, die eine Belohnung nach bestandener Feuerprobe versprechen, bleibt, wer nach dem authentischen Leben sucht, immer auf sich selbst verwiesen. Die Suche nach Authentizität wird zur Frage der subjektiven Haltung gegenüber der eigenen Existenz. Jeder ist aufgerufen, den Kompromiß zwischen Freiheit und solidarischer Verantwortung zu suchen. Die Lebensperspektive des Einzelnen projektiert sich in der irdischen Dimension der Wahrheit, die er sich selbst wählt. Die zum Teil ironische Verfremdung und Verkehrung kultureller Identitätszeichen scheint den Entwicklungen der 70er Jahre vorzugreifen. Die gezielt eingesetzte Umdeutung biblisch-religiöser Motive weist auf Elemente der Befreiungstheologie, die im Gegensatz zur traditionellen Jenseitsorientierung die Ausrichtung der menschlichen Existenz auf das Diesseits postuliert. 1 Revueltas wendet sich gegen eine Haltung, welche den Status Quo der Ungerechtigkeit
Vgl. Lustig 1989: S. 105. In dem Essay La iglesia y la juventud setzt sich Revueltas ausdrücklich mit der Rolle der Kirche und ihrer sozialen Funktion auseinander. Für ihn ist der Sinn der Institution immer dann gerechtfertigt, wenn sie tatsächlich ihre Rolle als "agente, un vehículo de lo cristiano" wahrnimmt.
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und Unterdrückung als von der Vorsehung oder einem unberechenbaren Gott gegeben hinnimmt, und fordert dazu auf, das eigene Schicksal und die Geschikke der Nation selbst in die Hand zu nehmen. Mit der literarischen Entmythisierung offizieller Beglaubigungsdiskurse relativiert bzw. negiert Revueltas jene Begründungen des ser mexicano, die dem Mexikaner Einmaligkeit zusprechen. Er verdeutlicht, daß der Versuch, die Heterogenität mexikanischer Lebenswelten in einer mestizisch definierten Homogenität zu binden, ausschließlich den Interessen der elitären Minderheit des Landes dient. Im Verständnis Revueltas' erhält eine Wesensbegründung ihre Gültigkeit erst aus einer universalistischen Gesamtperspektive. Es genügt nicht, allein auf einer abstrakten Ebene um lo mexicano zu ringen. Da die offiziellen Identitätsdiskurse nicht über die Aporien des anthropologischen Seins und politischen Wollens hinwegzutäuschen vermögen, muß die Suche nach Identität notwendig eine Analyse der konkreten sozialen und individuellen mexikanischen Befindlichkeiten) einschließen. Die spezifische Aneignungs- und Ausdrucksform Revueltas' spiegelt ganz das Bewußtsein einer eigenen durch Heterogenität geprägten kulturellen Identität, mit dem der Autor den Problemen seines Landes und seiner Menschen begegnet: "Me tienen por un heterodoxo del marxismo, pero en realidad no saben lo que soy: un fruto de México, país monstruoso al que simbólicamente podríamos representar como un ser que tuviese al mismo tiempo forma de caballo, de serpiente y de águila. Todo es entre nosotros contradicción".2
Die Textwelten legen Zeugnis ab von einer als konfliktiv begriffenen Wirklichkeit. Die Konzeption einer heterogenen Kultur, die die literarische Produktion von José Revueltas lenkte, basiert zwar auf einem Modell, das von einer als historische und kulturelle Totalität gedachten nationalen Kultur ausgeht. Andererseits ermöglicht es aber, Kultur und Gesellschaft als in einer widersprüchli-
2
Revueltas: A propòsito de Los Días Terrenales. In O.C. 18: S. 23-46, hier S. 26.
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chen Dynamik verlaufenden Prozeß zu denken. Der Wahrheitsbegriff des historischen Materialismus wird um die Dimension der synchronen Koexistenz von Wahrheiten erweitert. Erst mit dem Epistemenwechsel von der Moderne zur Postmoderne wird es seit den 70er Jahren möglich, Wirklichkeit als totalidad conflictiva zu begreifen. Das Dilemma zwischen Authentizität und Solidarität wird aus soziokultureller Perspektive in der Formel der Hybridisierung gebunden. Revueltas hielt dafür keine Antwort bereit. Als Autor-Erzähler zieht er sich auf eine subjektivindividuelle Ebene zurück. Mit seinem literarischen Engagement zielt er auf eine Gesellschaft, in der die Realisierung der eigenen Lebensaufgabe zum höchsten Maßstab erhoben wird. Die Frage nach potentiellen Lesern dürfte in den 40er Jahren in Mexiko für die meisten Romanciers mit Sicherheit wenig motivierend gewesen sein. Da die analphabetischen Massen kein Publikum bildeten, blieb die Leserschaft auf einen kleinen Kreis der Eliten und Intellektuellen reduziert. 3 Es ist daher nachvollziehbar, wenn die provokatorische Kraft der Romane El luto humano und Los dias terrenales zunächst wesentlich innerhalb der kommunistischen Parteien und ihrer Sympathisanten Wirkung zeigte, und erst zweieinhalb Jahrzehnte später unter dem Eindruck der Ereignisse von Tlatelolco ein breiteres Publikum erreichte. Revueltas hält dem Regime der Revolutionspartei einen kritischen Spiegel vor, der dessen autoritären Charakter entgegen aller Proklamationen offenlegt. Auf der anderen Seite spricht er im zweitgenannten Roman der Kommunistischen Partei den Willen ab, im Sinne einer positiven revolutionären Veränderung für das Volk zu agieren. Eine Umkehr war auch aufgrund der stalinistischen Aus-
Dessau weist in seiner Studie über den mexikanischen Revolutionsroman darauf hin, daß die Anerkennung von Literatur bis in die 30er Jahre so gering war, daß die meisten Romane ungedruckt blieben und die heute als Klassiker geltenden selten eine Auflage von 3000 Exemplaren erreichten. Vergleiche dazu Dessau 1965: S. 5.
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richtung der Partei, die ihre Anhänger von äußeren Einflüssen rein zu halten trachtete, für die nahe Zukunft nicht zu erwarten. Kurz gesagt boten die Romanwelten weder für die Partei noch für die herrschende Elite eine (verlokkende) Identifikationsfläche, so daß sich Revueltas im eigentlichen Sinne an ein noch nicht oder jedenfalls kaum vorhandenes "anti-bourgoises", sozial heterogenes Lesepublikum wendet. Trotz zahlreicher Rückschläge streitet der Autor Revueltas zeitlebens für seine politische Überzeugung. Er vertraut auf die subversive Kraft des Wortes, und sieht es als vorrangige Aufgabe des Schriftstellers, seine Fähigkeit -die Macht der Sprache- zu nutzen, um sich nicht der Komplizenschaft mit Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit schuldig zu machen. Auch wenn der Schriftsteller dazu verdammt scheint, sich kein Gehör verschaffen zu können, muß er doch bis zuletzt mit seinen Worten kämpfen, um das Schweigen zu brechen. Revueltas lebt seine Rebellion bis in die letzte Konsequenz, wofür ihm gegen Ende seines Lebens Anerkennung und Achtung all jener zuteil wird, die durch den Schock von Tlatelolco aufgeschreckt waren.4 Da die historischen Deutungsschemata ihre Unmittelbarkeit eingebüßt hatten, war die Akzeptanz einer Kritik an den nationalen Begründungsmythen möglich geworden. Die literarische Öffentlichkeit würdigte in der Folge die herausragende Rolle des bislang verschmähten Autors. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß sich die politischen, sozialen, und kulturellen Kontextbedingungen der mexikanischen Gesellschaft im Vergleich zu den 40er Jahren nicht wesentlich verändert haben.
4
So lobt beispielsweise Avilés Fabila: "Pocos escritores (...) han llegado a la vejez manteniendo una actitud de choque frontal con el sistema, una actitud de firmeza revolucionaria. Casi todos han pasado por las filas revolucionarias, pero han sido muy pocos los que han permanecido en ellas. Habría que pensar de inmediato en José Revueltas, en Juan de la Cabada, en Efraín Huerta... y los nombres empiezan a escasear, escritores que optaron desde un principio por una lucha difícil, (...) que da cárceles y no embajadas, persecuciones y no premios literarios, hambres y no empleos burocráticos, modestas ediciones y no empastadas en piel para consumo de funcionarios" (Avilés Fabila 1976: S. 84).
VI. Resümee
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Die Partizipation am kulturellen Leben ist weiterhin einer -wenn auch größer gewordenen- Minderheit vorbehalten, während große Teile der Bevölkerung aufgrund ökonomischer und bildungspolitischer Defizite von diesem ausgeschlossen bleiben. Der Wirkungsmacht des subversiven Potentials einer Literatur sind daher auch heute Grenzen gesetzt: "Por otra parte, el escritor está dotado para convertirse en un propagandista, en un vulgarizador de ideas políticas, filosóficas, económicas, etcétera. Pero, como es natural, en el subdesarrollo, su fuerza, su poder explosivo se pierde entre los millones de obreros y campesinos analfabetos y desarrapados, incapaces no sólo de comprar sino de entender una obra literaria. Esto lo sabe el Estado burgués y por ello, en ocasiones, como en México, se permite el lujo de una cierta libertad de expresión en cuanto a literatura se refiere. ¿Quiénes leerán el libro subversivo, el que critica ásperamente al sistema, al imperialismo? Pues los convencidos, el mínimo sector de clase media con acceso a la cultura, los estudiantes y los trabajadores intelectuales para quienes muchas veces los fenómenos sociales son simple motivo de aprendizaje, la forma de enriquecer el acervo cultural y no la forma de buscar el cambio (...)".5
Revueltas initiiert auf literarischem Wege die Suche nach alternativen Bewältigungsstrategien für die kulturellen, politischen, ökonomischen und sprachlichen Gegensätze des postrevolutionären Mexiko, ohne jedoch wie viele der nationalen Denker LösungsVisionen anzubieten. Er bedient sich dabei einer Schreibpraxis, die im eigenüichen Sinne revolutionär zu nennen ist. Die Verwendung nicht bekannter Erzähltechniken und die besondere Verwobenheit der Episteme, die die diskursive Struktur seiner Romane kennzeichnet, definieren ihn als einen Avantgardisten der mexikanischen Schriftsteller der ersten Jahrhunderthälfte, als einen Erneuerer der mexikanischen Literatur. Somit ist in ihm ein wichtiger Wegbereiter der mexikanischen und lateinamerikanischen nueva novela anzuerkennen. Dieses Ergebnis bedeutet die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit, den etablierten Kanon der mexikanischen Literaturgeschichte so zu verändern, daß Revueltas der ihm gebührende Platz als herausragender revolutionärer mexikanischer Autor gewährt wird.
5
Avilés Fabila 1976: S. 79-80.
VII. Lebensdaten
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VII. LEBENSDATEN 1914 1920 1923 1925 1929
1930 1932 1934
1935
1936 1937 1938 1939 1940 1941 1943
1944 1945 1947
1948
Geburt von José Revueltas am 20. 11.1914 in Durango, Mexiko. Umzug der ganzen Familie nach Mexiko-Stadt. Tod des Vaters. Die Familie gerät zunehmend in finanzielle Not. Revueltas beginnt sein Leben als Autodidakt. Teilnahme an einer Versammlung auf dem Zócalo im November. Anklage wegen Rebellion und Einweisung in eine Besserungsanstalt. Freilassung gegen Kaution nach sechs Monaten. Eintritt in den Partido Comunista Mexicano (P.C.M.) im August. Politischer Gefangener auf den Gefängnisinseln Islas Marías. Freilassung wegen Minderjährigkeit. Teilnahme am Streik der Landarbeiter in Camarón (Nuevo León). Erneute Deportation auf die Islas Marías. Freilassung nach neun Monaten. Reise nach Moskau (Juli-November). Delegierter des P.C.M. auf dem VI. Kongreß der Internationalen. Im September stirbt sein Bruder Fermín im Alter von 33 Jahren. Mitbegründung der Juventudes Unificadas de México. Lehrer für Arbeitsrecht in der Sekundärschule für Arbeiter. Heirat mit Olivia Peralta am 15. Mai. Sie haben vier Kinder. Erste literarische Versuche (El quebranto). Aufenthalt in Mérida, Yucatán. Tod der Mutter. Tod seines Bruders Silvestre und seiner Schwester Luz. Los muros de agua Januar: Verleihung des Premio Nacional für El luto humano. November: Ausschluß aus dem P.C.M. Dezember: Reise nach Peru. Gründung des marxistischen Bundes El Insurgente. Dios en la tierra Mitarbeit in der Zeitschrift 1945. Inszenierung von Puschkins Mozart y Salieri mit der Gruppe La Linterna Mágica. Preis für die beste Verfilmung von La otra. Scheidung von Olivia Peralta. Heirat mit Maria Teresa Retes. Sie haben ein Kind. Reise nach Beiice. Im Mai Erstaufführung von Israel. Im Juni Eintritt in den Partido Popular.
288 1949 1950
1955 1956
1957 1958 1960
1961 1962 1963 1964 1965 1967 1968
1969 1970
1971 1972 1973 1974
1976
Monika Pipping de Serrano Los días terrenales El Cuadrante de la soledad. Aufgrund der heftigen Polemik Rücknahme von Los días terrenales und Suspendierung von El Cuadrante de la soledad. Austritt aus dem Partido Popular. Wiederaufnahme der Mitgliedschaft im P.C.M. Declaración política ante el Comité Central del P.C.M.. En algún valle de lágrimas Reise nach Berlin, Moskau, Budapest, Prag und Triest. Los motivos de Caín. México: una democracia bárbara April: Eintritt in den P.O.C.M. Ausschluß aus dem P.C.M. September: Austritt aus dem P.O.C.M.und Gründung des LLE. Dormir en tierra Dezember: Hungerstreik zur Unterstützung der politischen Gefangenen. Reise nach Kuba. Ensayo sobre un proletariado sin cabeza Ausschluß aus dem LLE. Los errores El conocimiento cinematográfico y sus problemas Premio Xavier Villaurrutia. Februar: Reise nach Kuba als Jury-Mitglied der Casa de las Américas. Juli-Oktober: Teilnahme an der Studentenbewegung. November: Festnahme und Einweisung in das Gefängnis von Lecumberri. Dezember: Hungerstreik mit mehr als 80 politischen Gefangenen. El apando September: Scheinprozeß gegen die politischen Gefangenen der 68er. November: Verurteilung zu 16 Jahren Haft. Scheidung von Maria Teresa Retes. Mai: Entlassung auf Ehrenwort. Gastdozent der Universität Stanford, Californien. Heirat mit Ema Barrón Licona. Gastdozent der Universität Berkeley, Californien. Reise nach Paris. Material de los sueños Revueltas stirbt am 14. April in Mexiko-Stadt.
VIII. Literaturverzeichnis
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VIIL LITERATURVERZEICHNIS
8.1. Primärtexte 8.1.1. Erzähltexte Revueltas, José: Los muros de agua. Obras Completas [O.C.].Bd.l. México, D.F.: Ediciones Era 1978 ('1941). ders.: El luto humano. O.C. Bd.2. México, D.F.: Ediciones Era 1985 (1980) ('1943). ders.: Dios en la tierra. O.C. Bd.8. México, D.F.: Ediciones Era 1984 (1979) (11944). ders.: Los días terrenales. O.C. Bd.3. México, D.F.: Ediciones Era 1979 (4949). ders.: El cuadrante de la soledad. Y otras obras de teatro. O.C. Bd.21. México, D.F.: Ediciones Era 1978 ('1953). ders.: En algún valle de lágrimas. O.C. Bd.4. México, D.F.: Ediciones Era 1979 (l1956). ders.: Los motivos de Caín. O.C. Bd.5. México, D.F.: Ediciones Era 1979 ('1957). ders.: Dormir en tierra. O.C. Bd.9. México, D.F.: Ediciones Era 1984 (1978) ('1960). ders.: Los errores. O.C. Bd.6. México, D.F.: Ediciones Era 1979 ('1964) ders.: El apando. O.C. Bd.7. México, D.F.: Ediciones Era 1978 (11969). ders.: Material de los sueños Bd.10. México, D.F.: Ediciones Era 1974. ders.: Las cenizas. O.C. Bd.ll. México, D.F.: Ediciones Era 1981.
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8.1.2. Theoretische und politische Schriften Revueltas, José: México 68: juventud y revolución. O.C. Bd.15. México, D.F.: Ediciones Era 1978. ders.: México: una democracia bárbara. O.C. Bd.16. México, D.F.: Ediciones Era 1983 (1958). ders.: Ensayo sobre un proletariado sin cabeza. O.C. Bd.17. México, D.F.: Ediciones Era 1984 (1980) (1962). ders.: Cuestionamientos e intenciones. O.C. Bd.18. México, D.F.: Ediciones Era 1981 (1978). ders.: Tierra y libertad. Guión cinemategráfico. O.C. Bd.23. México, D.F.: Ediciones Era 1981. ders.: El conocimiento cinematográfico y sus problemas. O.C. Bd.22. México, D.F.: Ediciones Era 1981 (1965). ders.: Dialéctica de la conciencia. O.C. Bd.20. México, D.F.: Ediciones Era 1982. ders.: Visión del Paricutín. O.C. Bd.24. México, D.F.: Ediciones Era 1983. ders.: Escritos Políticos I, II, III. O.C. Bd.12, 13, 14. México, D.F.: Ediciones Era 1984. ders.: Ensayos sobre México. O.C. Bd.19. México, D.F.: Ediciones Era 1985. ders.: Las evocaciones requeridas I, II. O.C. Bd.25, 26.
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VIII. Literaturverzeichnis
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Einführung.
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