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German Pages 369 [372] Year 1998
»EXCENTRISCHE EINSÄTZE«
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»EXCENTRISCHE EINSÄTZE« Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers
Herausgegeben von Kai Luehrs
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1998
@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme „Excentrische Einsätze" : Studien und Essays zum Werk Heimito von Doderers / hrsg. von Kai Luehrs. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 ISBN 3-11-015198-7
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin unter Verwendung eines Fotos von Helmut Baar, Wien Druck: Arthur CoUignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Inhaltsverzeichnis
SIGLEN VORWORT
vm IX
ADOLF HASLINGER (SALZBURG):
Heimito von Doderer heute
1
RUDOLF HELMSTETTER (KONSTANZ);
Der doppelte Doderer und die andere Moderne
12
MARTIN LOEW-CADONNA (WIEN):
Doderers Alles-und-nichts-Denken
30
GERALD SOMMER (BERLIN):
Sündenbock und Prügelknabe. Antisemitismus und Antibochewismus bei Heimito von Doderer
39
KAI LUEHRS (BERLIN):
Charakterfehler als Lebensaufgabe. Zur Idee dts punctum minimae resistentiae im Werk Heimito von Doderers
52
RODERICK H . WATT (GLASGOW):
Sexual Constellations in the Novels of Heimito von Doderer
64
TORSTEN BUCHHOLZ (FREIBURG):
„Eine Art von ZEN des Erzählers?" Doderer und die Gedankenwelt Asiens
78
MARTIN VORACEK (WIEN):
Rand der Wissenschaft, Beginn des Magischen. Zu Doderers Figurennamen
88
VI KAI LUEHRS (BERLIN):
Leuchtpunkt der Topographie. Stadt als Erkenntnismetapher in Doderers Roman Ein Mord den jeder begeht
108
FRIEDRICH ACHLEITNER(WIEN):
Von der UnmögUchkeit, Orte zu beschreiben. Zu Heimito von Doderers Strudlhofstiege
126
WENDELIN SCHMIDT-DENGLER (WIEN):
Antrieb und Verzögerung. Zur Funktion der Parenthese in Doderers Epik: Anmerkungen zur Strudlhofstiege und zu den Dämonen
136
RALPH KRAY (BERLIN):
Poetik und Anthropologie der Revolution. Annäherungen an ein Sujet ^zweiter Wirklichkeit' in Doderers Roman Die Dämonen
148
MARLIES MICHAELIS (BERLIN):
Vorstellungen von Hexen und Dämonen in Doderers Roman Die Dämonen vor dem Hintergrund des Hexenhammers
175
ACHIM HÖLTER (MÜNSTER):
„Das Gesetz der Serie". Eine Notiz zu Heimito von Doderers Roman Die Dämonen
192
MATTHIAS MEYER (BERLIN):
Genealogie, Geschichte und Gregor. Zur Funktion von Geschichtlichem in Doderers Merowingem
206
KLAUS ZELEWITZ (SALZBURG):
Reiben von Zeiten und Räumen: Die Wasserfälle von Slunj
225
MICHAEL BACHEM (OXFORD, OHIO):
Deperception und Schuld. Untersuchungen zu Doderers Spätwerk
237
vn WENDELIN SCHMIDT-DENGLER (WIEN):
Das Verbrechen, die Verbrecher und der Autor als Leser. Anmerkungen zu Heimito von Doderers Romanfragment Der Grenzwald
247
ANDREW BARKER (EDINBURGH):
Tiefe der Zeit, Untiefen der Jahre. Heimito von Doderers „österreichische Idee" und die „Athener Rede"
263
FRIEDHELM KEMP (MÜNCHEN):
„Mein zartes Gesetz ohne Namen". Selbstrettung eines Desperaten: Heimito von Doderers „Tagebuch eines Schriftstellers"
273
ANDREW BARKER (EDINBURGH):
Heimito von Doderer and Peter Altenberg: An Anglo-Saxon approach
284
GERALD SOMMER (BERLIN):
Doderer und Weininger. Anmerkungen zur produktiven Rezeption höchst fragwürdiger Ideologeme
292
WOLFGANG RATH (BERLIN):
Leben als maximale Forderung. Der „Andere Zustand" bei Robert Musil und Heimito von Doderers „Erste Wirklichkeit"
PETER MARGINTER (BADFISCHAU):
Doderer & Gütersloh - Metaphern en gros
HELMUT EISENDLE (WIEN):
Literatur und Psyche
DIETRICH WEBER (WUPPERTAL):
Wolfgang Fleischers Doderer-Biographie
PERSONENREGISTER
302 319 335 346
351
Siglen
Erzählerische Werke: Zitiert nach: Heimito von Doderer, Das erzählerische Werk in neun Leinenbänden, München (C.H. Beck) 1995. D E EF
Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff Die Erzählungen Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal FP Frühe Prosa (Die sibirische Klarheit; Die Bresche; Jutta Bamberger; Das Geheimnis des Reichs) G Der Grenzwald M Ein Mord den jeder begeht Mer Die Merowinger oder Die totale Familie S Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre U Ein Umweg WS Die Wasserfälle von Slunj Tagebücher, Repertorium, Essays und Briefe: BG
Briefwechsel 1928 - 1962 (gemeinsam mit Albert Paris Gütersloh), hrsg. von Reinhold Treml, München (Biederstein) 1986. CI Commentarii 1951 bis 1956. Tagebücher aus dem Nachlaß, Erster Band, hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler, München (Biederstein) 1976. C n Commentarii 1957 bis 1966. Tagebücher aus dem Nachlaß,. Zweiter Band, hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler, München (Biederstein) 1986. T Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 1940 - 1950, 3. Aufl. München (C.H. Beck) 1996. TB Tagebücher 1920 - 1939, hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler, Martin Loew-Cadonna und Gerald Sommer, München (C.H. Beck) 1996. R Repertorium. Ein Begreifbuch von höheren und niederen LebensSachen, hrsg. von Dietrich Weber, 2. Aufl. München (C.H. Beck) 1996. WdD Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze/Traktate/Reden, hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler. Mit einem Vorwort von Wolfgang H. Fleischer, 2. Aufl. München (C.H. Beck) 1996.
Vorwort
Excentrische Einsätze - so bezeichnete Heimito von Doderer eine von zahlreichen erzähltechnischen Regeln und Praktiken, mit denen er den Primat der Form des Romans gegenüber seinen Inhalten einlösen und den formalen Vorsprung der Musik gegenüber dem Roman einholen wollte. Der „excentrische[] Einsatz" und Erzählanfang, jenseits und entfernt vom thematischen Zentrum (C I 286) der Geschichte, sollte wie von selbst zu diesem Zentrum hin und durch es hindurch führen, um die Verbindung der Extreme gerade auch durch Einbezug des scheinbar Nebensächlichen und Marginalen aufzuzeigen. „Mit den extrem excentrischen Einschlägen glaube ich jetzt das Compositions-Prinzip von DD überhaupt in der Hand zu haben" (C I 288): Vor allem seit Wiederaufnahme seiner Arbeit an seinem Roman Die Dämonen (DD) im Jahre 1952 - und mit Vorschaltung eines neuen 1. Kapitels mit dem bezeichnenden Titel „Draussen am Rande" (1954) - bildete der excentrische Einsatz das wohl entscheidende kompositionstechnische Mittel, durch welches auch die Verbindung zum roman muet des Spätwerks gegeben war. Einen unerwarteten, in gewissem Sinne gleichfalls .excentrischen' Einsatz bildete im Jahre 1996 auch die große Resonanz auf Doderers 100. Geburtstag. Nach Jahren der Vernachlässigung oder ideologischen Verurteilung dieses Autors in Deutschland galt ein wider Erwarten lückenloses Presseecho dem Hinweis auf einen außerhalb Österreichs nun schon beinahe Vergessenen. Excentrisch war dieses Echo schließlich auch im Hinblick auf ein zentrales Ereignis der Doderer-Forschung: die im selben Jahr erschienene, umfassende Doderer-Biographie von Wolfgang Fleischer. Während der ehemalige Sekretär Doderers nach jahrelangen Recherchen ein zunehmend distanziertes Verhältnis zur Person Doderers gewonnen hatte, bestätigte das entsprechend vorbehaltvolle Doderer-Bild, das Fleischer aufgrund biographischer Erkenntnisse zeichnete, ausgerechnet jene Tendenz zur Ablehnung des Autors, die bereits in den 70er Jahren aus einem Mißtrauen gegenüber der Biographie und den Gedanken Do-
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Vorwort
derers Schlüsse auf die Fragwürdigkeit seiner Werke gezogen hatte. Fleischers Hervorkehrung des „verleugneten Lebens" Doderers macht diesen Schritt von der Person zum Werk zwar durchaus nicht mit. Im Gegensatz zu der gewichtigen Stimme, mit welcher Fleischer den Tenor eines maßgeblichen Teils der Forschung der vergangenen Jahrzehnte indirekt bestätigte, suchten zahlreiche wissenschaftliche Veranstaltungen und Vortragsreihen den Autor jedoch - seinen eigenen Intentionen gemäßer - an den gleichsam excentrischen Orten seiner biographischen Existenz auf: bei den Werken also, zu deren Gunsten Doderer sein Leben programmatisch zu verleugnen unternam. Neben Veranstaltungen in Doderers Heimatstadt Wien waren es vor allem zwei wissenschaftliche Tagungen in Berlin und Edinburgh, die sich, wiederum excentrisch, von der Peripherie der heutigen DodererRezeption aus dem Werk des Autors in umfassender Weise widmeten. Die Beiträge beider Veranstaltungen werden im vorliegenden Band, einander ergänzend, dokumentiert. Die Absicht beider Symposien war es, die Spannweite des seit 1938 erschienenen zentralen Romanwerkes Doderers zu ermessen, ohne den Vorentscheidungen der vergangenen Jahrzehnte in positiver wie in negativer Weise zu erliegen. Während sich die Edinburgher Tagung vor allem der Untersuchung des Früh- und Spätwerks (einschließlich seiner geistesgeschichtlichen Koordinaten) widmete, wandte sich das Berliner Colloquium schwerpunktmäßig den (innerhalb der Werkchronologie) mittleren Romanen Doderers zu. Bei den Veranstaltungen trafen sich Doderer-Forscher aller Generationen: Den Repräsentanten einer Doderer-Forschung der ersten Stunde, ohne deren grundlegende Arbeit Doderer für die Literaturwissenschaft heute vielleicht verloren wäre (Dietrich Weber und Wendelin SchmidtDengler), und weiteren Kennern und Forschern, welche Doderer noch selbst persönlich kannten (Friedrich Achleitner, Friedhelm Kemp und Peter Marginter), stand hier eine Mehrheit der jetzt 30- bis 40-jährigen gegenüber. Die Besonderheit der Treffen, der methodische Reiz und die Spannung der verschiedenen Zugangsweisen ergab sich zudem aus der Begegnung internationaler Forscher, die für die Bekanntheit Doderers nicht nur im deutschsprachigen, sondern auch im englischsprachigen Raum entscheidendes geleistet haben (Michael Bachem und Andrew Barker), und aus der Tatsache, daß neben Wissenschaftlern auch Schriftsteller (Friedrich Achleitner, Helmut Eisendle und Peter Marginter) mit Beiträgen und Essays die Diskussion mitprägten. Trotz signifikanter methodischer Unterschiede erschien es doch als die gemeinsame Intention aller, auf den ideologiekritischen Erkenntnissen der 70er Jahre aufbauend den Faden gerade dort wiederaufzunehmen, wo ihn die Kri-
Vorwort
XI
tiker Doderers ostentativ hatten fallen lassen: bei der Erkenntnis der Disparatheit und der Widersprüchlichkeit eines Schriftstellers, dessen ausladende und überaus komplexe Erzählweise bis heute eine Provokation der Moderne darstellt. Excentrisch nämlich war auch Doderers eigenes Verhältnis zur erzählerischen Tradition seines Jahrhunderts. Ohne Einsichten in den Zerfall der modernen Welt und in die daraus erwachsenden veränderten Bedingungen des Erzählens preiszugeben, fand sein entschiedenes Festhalten an der Erzählbarkeit dieser Welt den Weg zu eigenen Darstellungsweisen und Realitätsmustern, welche ein kontinuierliches Thema auch der hier dargebotenen Studien und Essays bilden. Die „Auflösung des Naturalismus" war bereits von Doderer selbst als sein - kaum dem öffentlichen Bild dieses Autors entsprechendes - „ganzes Bemühen" erkannt worden (C I 99). Entsprechend anerkennt die Mehrzahl der im vorliegenden Band versammelten Beiträge Doderer nicht mehr nur als ,Epochenverschlepper' oder als „trotzige[n] Gegenspieler" der Moderne (Wolfgang Rath), sondern als einen Autor mit spezifischem Modernitätsanspruch. So führt etwa der von Rudolf Helmstetter konstatierte „Überschuß der Sprache über die Dinge" innerhalb von Doderers „sprach-, fiktionsund formenreflexive[m] Roman[]" dazu, dessen Zugehörigkeit zur Tradition eines erzählerischen Realismus im Ganzen fraglich erscheinen zu lassen. Es ist demgegenüber genau jene „fiktions- und realitätsironische Pointe", die Doderer als exponiert modernen, zuweilen sogar als einen „postmodernen" Autor (Matthias Meyer) erscheinen lassen kann. Das schließt nicht aus, ihn zugleich als Vertreter einer typisch österreichischen Verdrängung der Wirklichkeit „über die Sprache" (Helmut Eisendle) zu interpretieren. Die sprachliche Beschreibung, die sich über die Gegenstände erhebt, ermächtigt Doderer jedoch zur realismusfernen - und im Einzelfall auch realitätsfremden - „Erschaffung von Orten" (Friedrich Achleitner) und von Wirklichkeit durch Literatur. Auch über den topographisch scheinbar privilegierten Bezug zu Österreich hebt ihn jener wirklichkeitserschaffende Aspekt möglicherweise hinaus (Kai Luehrs), um Phänomene wie das einer „literarische[n] Landschaft" (Klaus Zelewitz) zu erzeugen. Das wohl markanteste Problem der bisherigen Doderer-Rezeption, nämlich die NS-Parteimitgliedschaft des Autors seit 1933, hat in den siebziger Jahren zu einem radikalen Kehraus mit Doderer geführt. So wissenschaftlich fundiert und wirkungsvoll die Ablehnung (vor allem in Gestalt der Arbeiten von Hans Joachim Schröder und Anton Reininger) formuliert war, so wenig befriedigt heute die pauschale Verrechnung
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Vorwort
der politischen Fragwürdigkeiten des Theoretikers Doderer (auch nach dessen Abkehr vom Nationalsozialismus noch vor 1938) mit seinen Romanen und Erzählungen. Mit seiner Universalismuskritik vollzieht gerade Doderers politischer Roman Die Dämonen in der Ablehnung der Revolution eine anthropologische Bewegung gegen die Geschichtsphilosophie (Ralph Kray): den Verzicht auf die geschichtsphilosophischen Utopien und eine anthropologische Rückbesinnung auf die endlichen Gegebenheiten der Gegenwart, wie sich dies - als konservative Gegenbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg - nicht nur bei Doderer belegen läßt. Es treten die politischen Ideen und Beweggründe Doderers (Andrew Barker) heute deutlicher und in weniger erhitzter und skandalträchtiger Form hervor wie auch die historischen Bezüge seiner Romane (Marlies Michaelis). Der Wirkungsimpuls Doderers mag dabei gemildert scheinen: Der Primat der Artikulation gegenüber der Kommunikation seiner Auffassungen (Martin Loew-Cadonna) führt, wie auf den Veranstaltungen mehrfach bestätigt wurde, zu jener besonderen »Nullstellung' der Romane, in denen Widersprüche und Inkoinzidenzen um so eher Platz finden, als sie gerade keiner übergeordneten Botschaft geopfert sind, sondern als Momente eines durchaus pragmatisch orientierten Formwillens erscheinen. Die Einsicht z.B. in die Parallelität von „Antisemitismus und Antibochewismus", der Juden-, Deutschen- und sogar Osterreicherfeindlichkeit Doderers (Gerald Sommer) läßt die politische Problematik Doderers heute auch biographisch eingrenzbar erscheinen, ohne daß die Romane hierdurch pauschalen Werturteilen verfallen - oder von diesen Werturteilen pauschal freizusprechen wären. Ideologische Fragwürdigkeiten auch der Texte scheinen sich heute insgesamt lokalisieren zu lassen, ohne daß die Beschäftigung mit Doderer hiermit zugleich für beendet erklärt werden müßte. Demgegenüber erscheint das Tagebuch, vorzügliches und zugleich irritierendes Vehikel der „neugierigen Sucht, nach dem Autor zu fragen" (Wendelin Schmidt-Dengler), inzwischen nicht mehr nur als Quellgebiet der großen Romane, sondern als ein Text mit eigener Faktur und eigenem Recht. Als autobiographisches Mittel von Doderers „Auseinandersetzungen mit seinen eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten" wird es dabei zugleich als Versuch der „Selbstrettung eines Desperaten" (Friedhelm Kemp) kenntlich. Daß diesem Selbstrettungsversuch, wie dem gesamten CEuvre, Elemente einer „tiefenpsychologische[n]" „Reaktionsbildung" eingeschrieben bleiben (Martin Voracek), muß hierdurch allerdings nicht bestritten werden. Gerade die skandalisierten Einzelheiten aus Doderers Biographie lassen sich heute - wie im Fall der Interpretation der Sexualität als Metapher der
Vorwort
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Apperzeption (Roderick H. Watt) - auf ihren fiktional fruchtbaren Kern zurückführen, ohne bloß Befremden oder gar Empörung auszulösen. Ein besonderes Gewicht legen viele der hier versammelten Beiträge auf die Herstellung von literaturgeschichtlichen Verbindungen, die von Doderer selbst z.T. bestritten worden wären: Nicht allein die Wirkung Doderers (Adolf Haslinger), sondern der mögliche Einfluß auf Doderer durch kulturell entfernte (Torsten Buchholz) oder naheliegende Gedankenelemente (Achim Hölter, Peter Marginter) sind hier ebenso Gegenstand der Diskussion wie die thematische Verbindung mit z.T. heftig abgelehnten Autoren wie Robert Musil (Wolfgang Rath). Einen Schlußpunkt in der Reihe der versammelten Beiträge bildet endlich - in Gestalt einer kritischen Notiz zu Fleischers Doderer-Biographie (Dietrich Weber) - die Replik auf einen ansonsten weitgehend ausgesparten Diskussionspunkt: auf die verschiedentlich als so brisant empfundene Biographie Heimito von Doderers. Die Beiträge von Michael Bachem, Andrew Barker („Tiefe der Zeiten..."), Achim Hölter, Kai Luehrs („Charakterfehler..."), Peter Marginter, Wendelin Schmidt-Dengler („Das Verbrechen..."), Gerald Sommer („Doderer und Weininger"), Martin Voracek und Roderick H. Watt wurden auf dem Symposion der University of Edinburgh vom 19. bis 21. September 1996 gehalten; ein weiterer, dort vorgestellter Beitrag von Krishna Winston („Translating Doderer") wird erst später im DodererJahrbuch der Heimito von Doderer-Gesellschaft (Berlin) erscheinen. Die übrigen Aufsätze entstammen Vorträgen des Berliner Doderer-Colloquiums, das vom 25. bis 27. Oktober 1996 unter dem Titel Spurweiten im Literarischen Colloquium Berlin veranstaltet wurde. Die Berliner Beiträge von Imke Henkel („Heilung durch Bilder - Aspekte einer neuen Lektüre der Strudlhofstiege'^, Eva Reichmann („Doderers Frauenbild") und Norbert Miller konnten hier nicht dokumentiert werden. Anstelle des (frei gehaltenen) Vortrags von Friedrich Achleitner wurde dessen Wiener Vortrag vom 13. Juni 1996 (innerhalb der Wiener FremdGänge zu Doderers 100. Geburtstag) in diesen Band aufgenommen. Der für das Berliner Colloquium vorgesehene Beitrag von Ralph Kray konnte dort nicht gehalten werden und erscheint hier erstmals. Der Herausgeber hat zahlreichen Personen zu danken, ohne deren tatkräftige Unterstützung die vorliegenden Beiträge hier nicht hätten dokumentien werden können. Allen voran Andrew Barker: ohne seine Konzeption und Organisation des Symposions in Edinburgh und ohne seine freundliche Bereitschaft, die Beiträge des Symposions mit denen von Berlin zu vereinigen, wäre die umfassende Sammlung dieses Bandes nicht zustandegekommen. In Berlin gebühren Dank vor allem Ulrich
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Vorwort
Janetzki und Norbert Miller vom Literarischen Colloquium Berlin sowie Konsulin Barbara Wicha vom Österreichischen Generalkonsulat (Berlin). Erhard Schütz und Sonja Vandenrath haben bei der Ermutigung und Beförderung des Berliner Projektes wesentlich mitgewirkt. Im Verlag Walter de Gruyter hat Brigitte Schöning den Abschluß des Projekts und die Publikation der Beiträge in angenehmster und sachkundigster Weise betreut. Schließlich wäre das gesamte Unternehmen ohne die praktische Hilfe und den Rat von Matthias Meyer sowie die Mithilfe von Ursula Gelis, Gerald Sommer und Corinna Ziegler nicht möglich gewesen. Ihnen allen danke ich herzlich.
Kai Luehrs
Berlin, im August 1997
ADOLF HASLINGER
Heimito von Doderer heute Gedenktage können die Forschung anregen, manchmal sogar anheizen, andererseits aber auch kak lassen. Zum 100. Geburtstag Heimito von Doderers fanden im In- und Ausland Doderer-Symposien statt, Podiumsdiskussionen, Ausstellungen, Wanderungen auf seinen Wegen, Spurensuche allenthalben. O b daraus bereits eine Doderer-Renaissance entsteht, läßt sich jetzt noch nicht beurteilen. Ich möchte daher und hier statt dessen der Frage nachgehen: In welcher Weise existiert Doderer heute noch in den Köpfen der Leser und Autoren? Ein Vorurteil als Präambel: Wolfgang Fleischer erinnert sich an eine Meinung Heimito von Doderers zu unserem Thema: Von wenigen Ausnahmen, aus seinem persönlichen Bekanntenkreis abgesehen, hegte Doderer eine allgemeine und tiefe Abneigung gegen Germanisten. Ein naheliegender Grund dafür ist derjenige, daß die Germanisten von Haus aus gar keine Instrumente für Doderers technische Vorgangsweise mitbrachten; psychologische, soziologische oder andere Interpretationen des rein Inhaltlichen verärgerten ihn bloß und galten ihm als ebenso dumm wie langweilig [...]. Daß ein Schriftsteller keine einzige germanistische Vorlesung besuchen dürfe, galt Doderer als Gesetz.'
Was würde er zur Germanisten- und Akademikerquote der heutigen Schriftsteller sagen? Auf Anhieb fallen mir 30 bis 35 Autorinnen und Autoren ein, die beispielsweise an der Universität Salzburg studiert und Vorlesungen gehört haben, viele davon sogar in Germanistik.
1. Edition und Rezeption Einen ersten Befund zur Rezeption von Doderers Schaffen vermittelt ein Überblick über die Editionen. Die Doderer-Editions- oder WerksLage^ ist geprägt von den hervorragenden Aktivitäten einiger weniger 1 2
Erinnerungen an Heimito von Doderer, hrsg. von Xaver Schaffgotsch, München 1972, S. 56 f. Deren Grundvoraussetzung bildet nicht zuletzt der literarische Nachlaß: Er befindet
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Adolf Haslinger
Germanisten. Besonderes Verdienst gebührt hier Wendelin SchmidtDengler. Ohne seine unermüdliche Tätigkeit, editorisch, publizistisch und kritisch, würde das Werk Doderers heute wesentlich weniger bekannt und beachtet sein. Aber auch Dietrich Weber und Wolfgang Fleischer sind als besonders verdienstvoll zu nennen, weil sie an der Vermittlung von Doderers Werk und Biographie maßgeblich mitgewirkt haben. Nach Doderers Tod im Jahre 1966 erschienen erwünschte und erwartete Einzeleditionen und Sammelbände nach vorwiegend gattungsmäßigen Gesichtspunkten: Frühe Prosa (hrsg. von Hans Flesch-Brunningen) 1968; Die Wiederkehr der Drachen (Aufsätze, Traktate, Reden, hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler) 1970; und Die Erzählungen (hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler) 1972. Diese Publikationen hielten das Interesse an Heimito von Doderers Werk wach. Anreizen konnten es Neueditionen, besonders unveröffentlichte Einzelwerke wie Der Grenzwald als Fragment des Zweiten Teils von Roman No 7 (hrsg. von Dietrich Weber) 1967. Ein Desiderat war die Fortführung der Tagebuch-Edition Doderers (nach den Tangenten 1940 -1950) und den beiden von Wendelin Schmidt-Dengler herausgegebenen Commentarii-^'inAtn von 1976 (betreffend die Jahre 1951 -1956) und 1986 (betreffend die Jahre 19571966). Das gesamte Briefwerk Doderers ist mit wenigen Ausnahmen noch unpubliziert. Ausnahmen bilden der Briefwechsel mit Albert Paris Gütersloh 1928 -1962 (hrsg. von Reinhold Treml im Jahre 1986) und die Korrespondenz mit Ivar Ivask {Von Figur zu Figur, hrsg. von Wolfgang Fleischer und W. Schmidt-Dengler im Jahre 1996).' Die sicher hochinteressanten Notizbücher und Skizzenbücher sind noch unpublizien. Die Frage einer Gesamtausgabe schwebt bei einem solchen Autor längst im Raum, nährt und lockt die Erwartung einer Lesergemeinde. sich seit 1968 - dank der Großzügigkeit der Witwe Doderers und dank der tatkräftigen Vermittlung des Wiener Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler - nahezu geschlossen in der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) in Wien (Signaturengruppe der Series nova-Handschriften: Cod. Vindob. Ser. n. 14.043 - 14.356). Vgl. Dietrich Weber, Heimito von Doderer, München 1987, S. 136. - Vgl. auch Murray G. Hall/Gerhard Renner, Handbuch der Nachlässe und Sammlungen österreichischer Autoren, 2., neubearb. und erweit. Aufl. Wien, Köln, Weimar 1995, S. 71. - Das lange bestehende Desiderat einer Veröffentlichung der noch fehlenden frühen Tagebücher wurde inzwischen erfüllt: Heimito von Doderer, Tagebücher 1920 bis 1939, hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler, Martin Loew-Cadonna und Gerald Sommer, München 1996. Korrespondenzen Doderers liegen in der Osterreichischen Nationalbibliothek, am Germanistischen Institut der Universität Wien und in der Wiener Stadtbibliothek. Für Literatur und Information dazu vgl. Murray G. Hall/Gerhard Renner, Handbuch der Nachlässe und Sammlungen, a.a.O.
Heimito von Doderer heute
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Verschiedene Gründe können die flüssige oder schleppende Edition von Texten aus dem literarischen Nachlaß eines Autors bestimmen. Fragen der Rezeption ebenso wie das Atmosphärische des literarischen Klimas. Tatsächlich entsprach die literarische Situation in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und nach dem Tod Doderers dem Charakter seines Werks nur wenig. Damals begann eine neue Generation, speziell in Osterreich, zu schreiben und damit die Aufmerksamkeit der Leser zu erregen. Peter Handke debütierte 1966 mit dem Homissen-Komzn und hatte im April desselben Jahres einen vielbeachteten Auftritt in Princeton."* Barbara Frischmuth schrieb ihren ersten Roman Die Klosterschule (1968), Gert F. Jonke erregte Aufsehen mit seinem Geometrischen Heimatroman (1969) und Elfriede Jelinek veröffentlichte den ersten und einzigen österreichischen Pop-Roman mit dem ,Austausch'-Titel wir sind lockvögel baby (1970). Neuanfänge und Debütanten allenthalben erregten die literarische Aufmerksamkeit. Es kam gerade in diesen Jahren zu einer „Umorientierung"^ von besonderer Bedeutung. Das literarische Selbstverständnis wandelte sich rapide innerhalb weniger Jahre. Das Interesse fiel auf neue Verfahren in der Literatur; Verfahren, welche, die Sprache als Sprache fassend, Gattungsdestruktion betrieben. Im weiteren Sinne wurde das „Thematisierung der Sprache"^ genannt. Alles in allem keine günstigen Perspektiven für ein Werk wie das episch breit angelegte von Heimito von Doderer. Schon vom Umfang her unterschieden sich diese kurzen Debütromane von Doderers umfassenden Epen; und der Umfang literarischer Werke ist ja ein sensibles literatursoziologisches Phänomen. Daß man Doderer allerdings nicht als platten Realisten und eindimensionalen Konservativen gegen diese avantgardistischen Tendenzen stellen darf, hat Wendelin Schmidt-Dengler^ eindrucksvoll gezeigt. Die Bedeutungsverminderung des Inhaltlichen gegenüber der Bedeutungsbetonung des Formalen: eben das charakterisiert den Erzähler Heimito von Doderer. Oder anders formuliert: die .subjektive' Erzähltheorie und ihre gestalterischen Konsequenzen machen den „Realisten" Doderer zu einem modernen Erzähler und Formkünstler.
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Vgl. Adolf Haslinger, Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers, Salzburg 1992, S. 110 115. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien, Salzburg 1995, S. 223 ff. Vgl. Waker Weiss, „Zur Thematisierung der Sprache in der Literatur der Gegenwart", in: Festschrift für Hans Eggers zum 65. Geburtstag, hrsg. von Herbert Backes, Tübingen 1972, S. 6 6 9 - 6 9 3 . Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien, a.a.O., S. 171 f.
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Adolf Haslinger
2. Probleme der Doderer-Forschung Doderers Rezeption in den 50er und 60er Jahren ist oft beschrieben worden. Lapidar und etikettenhaft: In den 50er und 60er Jahren galt Heimito von Doderer als Realist; und dementsprechend betrieb man, von der wissenschaftlichen Methodik her, weitgehend und vorwiegend eine textimmanente Doderer-Interpretation. Ausgehend von Dietrich Webers grundlegender Arbeit (1963)' analysierte man den zentralen Begriffsapparat Doderers, um ihn dann an der Erzählpraxis seines Werks zu messen oder bestätigt zu finden. Doderer selbst gab gewissermaßen das interpretatorische Instrumentarium vor. Auch Lutz-Werner Wolffs Arbeit Wiedereroberte Außenwelt (1969)' gehört mit Meriten hierher. In den 70er Jahren wandelte sich die Situation: Doderer erschien plötzlich als Feinbild eines ahistorischen und (erz)konservativen Autors. Die Figuren Doderers erschienen als autobiographisch initiierter literarischer Ausdruck subjektiver Erfahrung, ohne mit einer über das Werk hinausreichenden Geschichtlichkeit ausgestattet zu sein.^° Dem Mangel und der Absenz von Geschichtlichkeit in Figur, Vorgang und Setting galten die Angriffe. Das passierte infolge eines Paradigmenwechsels und einer Methodendiskussion innerhalb der Literaturwissenschaft. Vorgetragen wurden die Thesen und Beurteilungen vor allem von Hans Joachim Schröder in seinem Buch Apperzeption und Vorurteil (1976)" und Anton Reininger in seiner Arbeit Die Erlösung des Bürgers (1975)'^. War Doderers Werk in den 60er Jahren noch beliebt als .Dissertationsacker', und wurden seine Bücher auch viel gelesen, so schwand nun seine Beliebtheit in vielfacher Hinsicht. In den 80er Jahren begann man nach der erst werkimmanenten, dann ideologiekritischen Phase neue Fragen in der Doderer-Forschung zu stellen. Da Roland Kochs Fragen an die Doderer-Forschung in seinem Aufsatz -Die verdunkelten Fenster"" von 1986 noch immer aktuell 8 9
Dietrich Weber, Heimito von Doderer. Studien zu seinem Romanwerk. München 1963. Lutz-Werner Wolff, Wiederoberte Außenwelt. Studien zur Erzählweise Heimito von Doderers am Beispiel des „Romans No 7", Göppingen 1969.
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Vgl. dagegen Ulrike Schupp, Ordnung und Bruch. Antinomien in Heimito von Doderers Roman „Die Dämonen", Frankfurt a.M. [etc.] 1994, S. 19. Hans Joachim Schröder, Apperzeption und Vorurteil. Untersuchungen zur Reflexion Heimito von Doderers, Heidelberg 1976. Anton Reininger, Die Erlösung des Bürgers. Eine ideologiekritische Studie zum Werk Heimito von Doderers, Bonn 1975. Roland Koch, „Die verdunkelten Fenster. Fragen an die Doderer-Forschung", in: Internationales Symposion Heimito von Doderer.- Ergebnisse, hrsg. von der Niederösterreich-Gesellschaft für Kunst und Kultur, Wien. o.J. [1988], 5. 5 0 - 5 8 .
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Heimito von Doderer heute
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sind, möchte ich hier anschheßen, manches aufgreifen und weiterdenken. Es müßte mit der Bereitschaft der Doderer-Forschung beginnen, die eigenen methodischen Arbeitsansätze und die bisher gewonnenen Arbeitsergebnisse offen zu hinterfragen. - Roland Koch behauptet, daß die Doderer-Forschung die Doderer-Rezeption beeinträchtige: „Wenn fast eine ganze Generation von Germanisten Doderer ablehnt, ohne ihn gelesen zu haben, so müßte sich die mit Doderer befaßte etablierte Forschung immer noch fragen lassen müssen, ob sie nicht diese Haltung mitinszeniert hat, insofern als die Beschäftigung mit Doderer immer ein wenig die Aura des Exklusiven hatte, neuerdings auch zur Unverständlichkeit neigt, ohne daß dahinter eine besondere Qualität deutlich würde."'"* - Weiter wäre es notwendig, das Verhältnis von Doderer-Reflexion, etwa in den Tagebüchern, und Doderer-Fiktion, etwa in den Romanen, nochmals zu diskutieren, um daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen, und zwar generell zur Frage einer „Diskrepanz und Inkongruenz zwischen Theorien und Praktiken Doderers"'^ - Die reine Doderer-Forschung wäre durch eine vergleichende DodererForschung zu ergänzen, zu reflektieren und endlich zu bereichern.'^ - Neue Zugänge zum Werk müßten neue Lektüre-Vorschläge erarbeiten. Der rein sprachlich-syntaktische Ansatz, den W. Schmidt-Deng1er bei dem Berliner Symposion 1996 vorlegte, scheint mir hier eine Möglichkeit zu bieten.'^ - Der Vorwurf an die Doderer-Forschung, aus einem komplexen und widersprüchlichen Werk ein Bild der Harmonie zaubern zu wollen, besteht m. E. heute noch. - Das Manko, daß Heimito von Doderers Schriftstellerpersönlichkeit und sein literarisches Werk nicht wirklich in die (österreichische) Literaturgeschichte integriert sind, wäre zu beheben. Eine neue Konzeption von „Literaturgeschichte", die das Geben und Nehmen, die Vorbildfunktionen sowie Ubernahmen und Wirkungen in einem dynamischen Fluß von Entwicklungen darstellt, müßte das „literaturgeschichtlich Spezifische"'' an Doderer herausarbeiten. - Dazu wäre eine (empirische) Erforschung des typisch Dodererschen Lesepublikums notwendig ebenso wie eine Aufarbeitung seiner Wirkung auf die Autoren als Zeitgenossen und Nachfolger. 14 15 16 17 18
Ebd., S. 51. Ebd. Vgl. ebd., S. 52. Siehe S. 136 ff. dieses Bandes Roland Koch, „Die verdunkeken Fenster", a.a.O., S. 56.
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Adolf Haslinger
- Voranzubringen wäre grundsätzlich der Versuch, Doderer in dem veränderten Licht unserer Gegenwart neu zu lesen und den daraus sich ergebenden Sichtweisen nachzuspüren. Denn, wie sich zuletzt aus den mannigfaltigen Reaktionen auf Doderers 100. Geburtstag ergab: „Offenkundig ist jetzt erst der Zeitpunkt gekommen, über Doderer zu reden"." Die Diskussion über das Leben Doderers kann erst heute auf gesicherter wissenschaftlicher Grundlage geführt werden, seit wir Wolfgang Fleischers Doderer-Biographie sowie auch Lutz-Werner Wolffs DodererMonographie^°, jubiläumszeitgerecht, haben. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Leben und Werk kann neu gestellt und muß neu diskutiert werden. Vielleicht trifft indes Wendelin Schmidt-Dengler hier mit seiner salopp-journalistischen Aussage den Kern der Sache: „Doderer habe den Mist, den er gebaut habe, zum besten Dünger seines Spätwerks gemacht"^'
3. Fortleben im literarischen Werk anderer Autoren An erster Stelle sind hier sicher Herben Eisenreich (1925 -1986) und Peter von Tramin (1932 - 1981) zu nennen. In seinem Essay-Band Reaktionen (1964) bezieht Eisenreich offen Stellung gegen die Modernität in der Kunst. Für ihn steht Kunst, „weil sie immer das Lebens-Ganze meint, außerhalb jeder Frage nach Aktualität; oder umgekehrt: bleibt immer aktuell" Eisenreich baut eine eigene österreichische Literaturtradition auf, als deren für ihn maßgebende Vorbilder er Stifter und Doderer und sich selbst als „Sohn" und „literarischer Erbe"^' sieht. Mit dieser konservativen Ideologie steht er aber im Gegensatz zu Doderer und vor allem zu Gütersloh. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jenes seltsame Kapitel der österreichischen Literaturgeschichte, in dem Heimito von Doderer, obwohl bei grundsätzlich anderem Literaturverständnis, sich mit den Autoren der „Wiener Gruppe" anfreundete. Manche sahen darin eine unnötige Harmonisierung von Gegensätzen, die Doderer für wiederum andere in seiner Literatur gestaket haben sollte. Aus welchen Gründen 19 Wendelin Schmidt-Dengler, „Was schärfer wird", in: Die Presse vom 31.8.1996. 20 Wolfgang Fleischer, Das verleugnete Lehen. Die Biographie des Heimito von Doderer, Wien 1996; Lutz-W. Wolff, Heimito von Doderer, Reinbek b. Hamburg 1996. 21 Salzburger Nachrichten vom 18.7.1996. 22 Herbert Eisenreich, Reaktionen. Essays zur Literatur, Gütersloh 1964, S. 312. 23 Ebd., S. 314.
Heimito von Doderer heute
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immer: Doderer war jedenfalls mit den Autoren der „Wiener Gruppe" der Name stammt übrigens von Doderers Freundin Dorothea Zeemann (1958) - oft zusammen. Er schrieb die Einleitung zu dem Sammelband von Dialektgedichten von H.C. Artmann, Friedrich Achleitner und Gerhard Rühm: hosn rosn bau (1959); und zwar zu einer Zeit, als in Osterreich solche Lyrik erbittert bekämpft wurde. „Drei Dichter entdecken den Dialekt" heißt Doderers Vorwort, in dem er diesen Texten „eine Fülle klanglicher Valeurs, welche das Hochdeutsche gar nicht bietet", bescheinigt und nach dem Lob der drei jungen Dichter von der „eigentlichen Kunstgesinnung dieser neuen Wiener Dialektdichtung" spricht.^"* Aber schon ein Jahr vorher hatte Doderer seine Mitarbeit bei der Wiener Zeitung Kurier wütend gekündigt, weil er dort in einer von ihm ständig betreuten literarischen Sonntagsbeilage Gedichte seiner jungen Freunde bringen wollte - und dies vom Chefredakteur energisch verhindert wurde. Es war damals unvorstellbar schwierig, experimentelle Literatur in Osterreich zu verbreiten. Das konservative Klima der 50er Jahre, speziell bis zum Staatsvertrag 1955, war solchen Unterfangen gegenüber äußerst ablehnend gesinnt. Die Reaktionen des Publikums waren vernichtend, die Leserbriefe manches Oberlehrers zeugten von erschreckender Provinzialität. Besonders beachtenswert - im Sinne eines Fortlebens von Doderer in den Werken anderer und jüngerer Autoren - erscheint demgegenüber das Kapitel „PURIM. Ein Fest für heimito dr. von doderer" in Oswald Wieners bedeutendem Roman Die Verbesserung von Mitteleuropa (1969). Zuvor - und das scheint mir eine bedeutsame Form der Publikation erschien der Roman in Textpartien fortlaufend in den manuskripten. Alfred Kolleritsch drängte Wiener von Heft zu Heft und arbeitete selbst mit bei Korrekturen und Textaufbereitung; auch Handke half angeblich tippen. Es ist sicher eine Hommage, die Doderer besonders gefreut hätte, denn dieses von Wiener beschriebene Fest ist eine einzige, sprachliche Prügel- und Gewaltorgie. Assoziationen laufen zu Doderers Merowinger-Satire und lassen dieses Kapitel wie einen narrativen Dialog dazu lesen. Friedbert Aspetsberger hat vor kurzem eindrucksvoll darauf aufmerksam gemacht, daß Oswald Wieners 1991 erschienener Computerroman Nicht schon wieder. eine auf einer Floppy gefundene Datei (hrsg. von Eva Präkgogler) intensiv mit Doderer-Themen korrespondiert.^^ Er fördert erstaunliche Korrespondenzen zutage, die keinesfalls zufällig sind. 24 25
Heimito von Doderer, „Drei Dichter entdecken den Dialekt", in: Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Gerhard Rühm, hosn rosn haa, Wien 1959, S. 5 f. Friedbert Aspetsberger, „Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis. Oswald Wieners f/o/Tpy-Roman", in: Etudes Germaniques 50 (1995), S. 2 2 3 - 2 6 0 .
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Natürlich muß man hier auch an die Doderer-Reminiszenzen in Dorothea Zeemanns offenherzigen Büchern erinnern, vor allem an Jungfrau und Reptil (1970). Viele Doderer-Zitate in Peter Handkes Notizbüchern legen seine Doderer-Lektüre durch die Jahre immer wieder nahe; etwa im Gewicht der Welt (1977). In seinem großen Prosatext Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) greift Handke, rund zwanzig Jahre später, wieder Doderer auf, allerdings nicht im Sinne eines simplen name dropping. Der Ich-Erzähler konstatiert, daß er in einer bestimmten „Periode seines Lebens" die Vorstellung hatte, sich „alle wechselnden unbestimmbaren Völker, an die ich glaubte, zu erhalten in etwas mehr Beständigem, und das konnte schon damals nur etwas Schriftliches sein, keine Prozeßkarte, allein ein Buch".^^ Was ihm zu schreiben vorschwebt, ist eine „Gesellschaftserzählung" „frei nach Balzac".^^ Er hat auch schon einen vorläufigen Titel, nämlich „Der Apotheker von Erdberg",^' und die Figuren, die ihm vorschweben, kommen ihm - je näher sein Schreibvorhaben zu rücken scheint - so vor, als ob sie nicht in sein eigenes, sondern in ein anderes Buch paßten, „das längst geschrieben war, zum Beispiel die .Strudlhofstiege'"."' Abschließend unterläßt er sein Vorhaben, dieses bestimmte Buch mit dem Untertitel „Die Gesellschaft der Beflügelten" zu schreiben, und resigniert: „Meine menschliche Komödie aus dem Osterreich jener Jahre, frei nach Balzac und Doderer und dem Bürgerlichen Gesetzbuch, blieb ein Gedankenspiel".'® Immer wieder gehört in Peter Handkes fiktiv-reales Gedankenspiel, daß er, oft mit genauem Titel, auf kommende Werke verweist. So findet sich für den aufmerksamen Leser in der Niemandsbucht der namentliche Hinweis auf das Drama Zurüstungen für die Unsterblichkeit, das der Autor dann tatsächlich zu schreiben begann. Gleiches gilt auch für die sogenannte Gesellschaftskomödie in Prosa „frei nach Balzac und Doderer". Vor kurzem schrieb Peter Handke dem Vf. eine Ansichtskarte aus Spanien, auf der er meint, er müsse jetzt nach zwei Monaten Pause mit dem „Apotheker", den er im Spätsommer begonnen habe, wieder „weiter tun"; dieser Roman erschien im Frühjahr 1997 unter dem Titel In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Auf augenfällige thematische Assoziationen zwischen Handke und Doderer weist Wendelin Schmidt-Dengler in einer Rezension zum Versuch über den geglückten Tag hin: „Daß Handke 26 27 28 29 30
Peter Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,
Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, Frankfurt a.M. 1994, S. 93. S. 94. S. 95. S. 104.
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nicht nur mich - sehr stark an Doderer erinnert, hat auch Gründe. Schon 1977 notiene er zu dessen Roman ,Die Wasserfälle von Slunj' im Journal die Sätze: ,Es gab also das Glück. Chwostik kannte es aus eigener Erfahrung'./Was Doderer durch die Gestaltung der .Anatomie des Augenblicks' oder des .Zerfalls der Lage' in seinen Tagebüchern anstrebte, exerziert Handke in seinen Schriften vor." Hier bedarf es wieiterer Forschung, ein Vergleich diesbezüglich zwischen Doderer und Handke wäre ein sicher lohnendes Thema.'^ Neben diesen augenfälligen Auseinandersetzungen von Herbert Eisenreich, Oswald Wiener und Peter Handke, die ich damit keinesfalls in einen wie immer gearteten Zusammenhang bringen möchte, gibt es Einzelhinweise auf Doderer, die ich als vorläufige Resultate kurz erwähnen möchte. In Franz Innerhofers letztem Roman Um die Wette leben (1993) geht es auch um Österreich-Kritik, eingebaut in eine kontrastive Themenstruktur zwischen Nord und Süd. Im Umfeld der Salzburg-Kritik charakterisiert Innerhofer eine typische Literaturliebhaberin. Im Zusammenhang mit ihrem geistigen Ambiente taucht Doderer als Phänomen auf, und zwar als Gegensatz zu Henry Miller. Wobei die Funktion Doderers eigentlich darin besteht, Tradition und geordnete Herkömmlichkeit (in Leben und Werk?) zu vertreten, was als Thematisierung sehr wohl zu verwundern vermag. Robert Menasse kommt etliche Male auf Doderer, sein Werk und seine literarhistorische Funktion und Bedeutung, zu sprechen. Vor allem angetan hat es ihm die Bemerkung von Walter Weiss: „Es ist symptomatisch dafür", so schreibt Weiss, „wie der fast siebzigjährige Heimito von Doderer für die avantgardistische Wiener Gruppe eintrat."'^ Allerdings setzt er kritisch, bezogen auf die politische Haltung Doderers, fort: „Doderer, der in den unmittelbaren Nachkriegsjahren wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft Veröffentlichungsverbot gehabt hatte, war in den fünfziger Jahren kometenhaft aufgestiegen und wurde zum idealtypischen Repräsentanten der neuen österreichischen Literatur: ein großer, anspruchsvoller, politischer Romancier, ein Genie aber der politischen Balance und Harmonisierung, verankert im alten Osterreich, zugleich auch ein Förderer der Jungen, alles in einem, einer für alle."" Die Kritik ist ironisch, aber deutlich und unüberhörbar. Der Vorwurf richtet sich gegen die Harmonisierung der Gegensätze, die damals an die Stelle einer profilierenden Klarstellung der Positionen trat. Erst Jahr31 32 33
Wendelin Schmidt-Dengler, „Wenn das Nichts bedeutet", in: Profil 42 (1991) v o m 14.10.1991. Robert Menasse, Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik, Wien 1990, S. 39 Ebd.
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zehnte später sollte in der österreichischen (Literatur-) Geschichte diese Analysenarbeit geleistet werden. Für diese Harmonisierung sieht Robert Menasse weiterhin eine Parallele zwischen Doderer und Gerhard Fritsch, allerdings in verschiedenen Funktionen. Er erkennt, daß Doderer „jene Harmonisierung und Synthetisierung der Gegensätze" „in seiner Literatur herstellte": „Wenn zu recht gesagt wird, daß Doderer die österreichische Literatur der 60er Jahre unangefochten dominierte, so hatte Fritsch sich im Lauf der 60er Jahre in eine entsprechende Position im Literaturbetrieb gebracht".''* Hilde Spiel kannte Doderer gut: „Denn .vertrackt' wie er selbst waren Fleschs Freunde Lernet und Doderer"." Und es ist seltsam, wie offenherzig die jüdische Emigrantin die politischen und maskulinen „Verzerrungen" sieht,'^ benennt und gleichwohl in einer Hommage gegenüber dem Sprachkünstler Doderer verzieh.^'' Sicher sind das nur einige Beispiele, die sich jederzeit vermehren oder breiter ausführen ließen. Die Doderer-Rezeption ist ein komplexes Phänomen und hat viele Facetten. Sie entzündet sich häufig an konträren Positionen. In verschiedenen Formen werden Werk und Leben gegeneinander ausgespielt. Ein anderes Gegensatzpaar der Doderer-Analyse ist zweifelsohne die Erzähltheorie und die Erzählpraxis, anders formuliert die Reflexion und die Fiktion bei Doderer. Natürlich hat Doderer über weite Strecken selbst das Instrumentarium für die Methode seiner Interpreten bereit gelegt. Wichtig scheint mir hierzu gerade auch die Verarbeitung von Werk und Biographie Doderers in literarischen Texten anderer Autoren." Und schließlich wird es in Zukunft eine germanistische Aufgabe sein, Heimito von Doderers Position und Wirkung innerhalb der österreichischen Literaturgeschichte zu beschreiben und zu charakterisieren. Doderer wurde seltsamerweise immer als Schriftstellerpersönlichkeit mehr oder weniger isoliert behandelt und sein Werk auch so beschrieben und interpretiert. Es ist notwendig, Doderer als Persönlichkeit nicht nur moralisch zu werten, ihn weder einseitig abzuurteilen noch ihn einseitig entschuldigen zu wollen.
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Ebd., S. 132. Hilde Spiel, Welche Welt ist meine Welt? Erinnerungen 1946-1989, München 1990, S. 222. 36 Ebd. 37 Vgl. ebd., S. 224 f. 38 Es gehören sicher auch die Texte jener jungen Autoren dazu, die in Wien seit einigen Jahren mit dem „Doderer-Preis" ausgezeichnet wurden. - Natürlich auch der Text „Literatur und Psyche", den Helmut Eisendle auf dem Berliner Colloquium las, vgl. in diesem Band, S. 335 ff.
Heimito von Doderer heute
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Der Tatbestand des Komplexen und zugleich zutiefst Widersprüchlichen, was Werk und Biographie betrifft, ist inzwischen zu Tage getreten. Das ist sicher ein Verdienst von Fleischers Biographie. Eben diese Widersprüchlichkeit macht Einordnungen, Kategorisierungen schwierig und zeiht sich leicht der Falsifikation. Das gilt vor allem auch für Versuche der Glättung. Was wird für die Zukunft wichtig sein? Zum ersten der Aufruf zum radikalen Überdenken des Methodenspektrums, das in den letzten Jahrzehnten in der Doderer-Forschung angelegt wurde. Also erneute und selbstkritische Reflexion aller methodischen Ansätze! Zum zweiten der Aufruf zum genauen Wieder-Lesen der Texte Doderers, vor allem jener, die wir schon 50 gut zu kennen glauben. Unsere Lektüre liegt, Hand aufs Herz, oft Jahre zurück. Also neue Lektüre der uns anscheinend längst bekannten Texte Doderers! Und drittens: Wenn es gelänge, ein präzises Instrumentarium zu entwickeln, das Doderer und seiner literarischen Leistung gerecht wird, dann kämen wir weiter. Vielleicht liefern die Vorträge dieses Bandes auf diese Weise Beiträge und Vorschläge zum Thema „Doderer heute".
RUDOLF HELMSTETTER
Der doppelte Doderer und die andere Moderne^ F ü r Kristin Vierzig zum 5.9.1996
Die Beiträge, die im vergangenen September zu Doderers hundertstem Geburtstag in den großen deutschen Feuilletons erschienen sind,^ geben Anlaß zu der hoffnungsvollen Vermutung, daß nun endlich, dreißig Jahre nach Doderers Tod, vierzig Jahre nach der Publikation seiner Hauptwerke, eine neue, unbefangenere Lesergeneration herangewachsen ist, daß eine neue und neugierigere Phase der Doderer-Rezeption begonnen hat und nun Abstand gewonnen ist von der ersten Rezeptionsphase - zu der auch noch die Versuche „ideologiekritischer" Lektüren zu rechnen sind, boten sie doch (bei weitgehend gleichen literaturtheoretischen und lektürepraktischen Prämissen) nicht mehr als Kontrafakturen der ersten Interpretationen, die kaum (Primär-) TextKontakt aufweisen.' Es dürfte das Rezeptionsschicksal Doderers mitbestimmt haben, daß er zum einen der „Gruppe 47" wohl nicht recht geheuer war,"* daß zum andern prominente Kritiker (die über das AkadeDer Beitrag resümiert und variiert Ergebnisse meiner Dissertation: Rudolf Helmstetter, Das Ornament der Grammatik in der Eskalation der Zitate. „Die Strudlhofstiege", Doderers moderne Poetik des Romans und die Rezeptionsgeschichte, München 1995. Thesen und Gedankengänge, die hier womöglich etwas vollmundig und verkürzt erscheinen, sind d o n detaillierter ausgeführt Siehe Hans-Albrecht Koch, „Ein prunkvoller Epilog", in: Neue Zürcher Zeitung vom 31.8./1.9.1996; Peter Laemmle, „Herr mit Lavendelduft. Sexualität als schöpferischer Impuls", in: Süddeutsche Zeitung, Beilage v o m 3 1 . 8 . / 1 . 9 . 1 9 9 6 ; Kai Luehrs, „Ein Leben zwischen den Zeilen", in: tageszeitung vom 5.9.1996; Elke Schmitter, „Das Ineinander der Zeiten", in: Die Zeit vom 5.9.1996; Gustav Seibt, „Menschwerdung im Roman: Salut für Heimito von Doderer zum Hundertsten", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Beilage vom 7.9./8.9.1996. Siehe Anton Reininger, Die Erlösung des Bürgers. Eine ideologie-kritische Studie zum Werk Heimito von Doderers, Bonn 1975; Hans Joachim Schröder, Apperzeption und Vorurteil. Untersuchungen zur Reflexion Heimito von Doderers, Heidelberg 1976. Repräsentativ und wegweisend für die erste Rezeptionsphase Dietrich Weber, Heimito von Doderer. Studien zu seinem Romanwerk, München 1963. Vgl. Ulrich Greiner, „Zwei deutsche Literaturen", in: Die Zeit vom 2.11.1990, einer
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mische hinaus einflußreich waren) ihn nicht durchgesetzt, ihn nicht einmal erwähnt oder nur abschätzig erwähnt haben (z.B. Hans Mayer). Adorno hat sich zwar insgesamt kaum zu zeitgenössischen Autoren geäußert, und Doderer dürfte, denkt man, geradezu die Inkarnation alles dessen gewesen sein, was er mit Gründen und Idiosynkrasien perhorreszierte und tabuierte, immerhin aber scheint er auf Doderer neugierig gewesen zu sein: Dorothea Zeemann kolportiert eine seltsame, grotesk anmutende Begegnung der beiden: ein Mittagessen im Hotel Sacher! Daß diese zwei Antipoden oder Parallelaktionen der Moderne sich einmal die Hand geschüttelt und zusammen gespeist haben, hat geradezu surrealistische Qualitäten.' Vielleicht hätte eine Fußnote Adornos genügt, daß eine ganze Generation, die Doderer nicht einmal las, Doderer zumindest zur Kenntnis genommen hätte. Wer seine intellektuelle Adoleszenz in den vergangenen 20 Jahren absolvierte, wuchs eher mit Adorno als mit Doderer auf.' Doch nicht nur damit hängt es zusammen, daß, wer vor zehn oder 15 Jahren zufällig Doderer las oder gar begann, sich mit ihm zu beschäftigen, sich für ihn zu interessieren, nicht recht wußte, was er von diesem Autor halten sollte, was er von ihm zu halten hatte.^ Für diese Verlegenheit, die ein Reflex des kritischen Zeitgeistes ist, läßt sich ein neuerer Beleg anführen: Ivar Ivasks schreibt in der Einleitung zu den 1996 publizierten Briefen, die Doderer zwischen 1957 und 1965 an ihn geschrieben hat: „Die Strudlhofstiege erreichte mich gleich in ihrem Erscheinungsjahr 1951, öffnete sich mir jedoch nicht. Konnte scheinbar so leicht Dargebotenes im Zeitalter Kafkas wirklich gewichtig sein?"' der wenigen verstreuten Hinweise, daß Doderer zwischen 1970 und 1990 zwar out of fashion und aus dem literarischen Bewußtsein weitgehend verschwunden, aber doch nie so ganz vergessen war. Vgl. Dorothea Zeemann, Jungfrau und Reptil. Leben zwischen 1945 und 1972, Frankfurt a.M. 1982, S. 99. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, „Das Ritual hatte Sinn", in: Begegnung mit Heimito von Doderer, hrsg. von Michael Horowitz, Wien, München 1983, S. 127: „Die Zeitläufte nach Doderers Tod waren der Verbreitung seines Werks nicht förderlich. Die Politisierung der Literatur um 1968 schien der Umformung des Direkten, der Akzentuierung der Form vor den Inhalten, ja der ,konservativen' Haltung Doderers radikal entgegengesetzt. Es wurde bei vielen Kritikern und Germanisten Brauch, sein Werk mit Hochmut zu übergehen oder ihn als Verfechter überholter Positionen zu attackieren." Immerhin kannten heimliche Doderer-Leser damals schon die Lektüre-Notate Peter Handkes in Das Gewicht der Welt, Salzburg 1977, S. 172, 229, 311 f.; vgl. auch die Bemerkungen in den Gesprächen mit Herbert Gamper, Ich lebe nur von den Zwischenräumen, Zürich 1987, S. 74 u. 143 f. Ivar Ivask, „Der Brunnen im Garten", in: Heimito von Doderer, Von Figur zu Figur.
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Heranwachsende Leser, zumal germanistisch belastete, tun sich schwer, ihre Faszination und Liebe ohne den Segen der Literaturgeschichte zu kultivieren, und die Literaturgeschichten der letzten Jahrzehnte boten und bieten (mit einer Ausnahme') eigentlich nur Reflexe der Verlegenheit, in die Doderer seine Zeitgenossen gebracht hatte. Vielleicht ist die Wirkungs- oder eher: Wirkungslosigkeitsgeschichte Doderers symptomatisch für Schwierigkeiten mit der Rezeption moderner Literatur insgesamt, für ein Versagen, das Zweifel wecken könnte, ob die Rezeption denn auch in den anderen Fällen, bei bekannteren, kanonisierten und assimilierten Autoren wirklich gelungen ist oder womöglich auf produktiv-rezeptiven Mißverständnissen beruht. Aber was könnte überhaupt gelungene Rezeption heißen und woran könnte man sie messen? Der citational index der Schönen Literatur ist nur ein sehr oberflächlicher Gradmesser, aber man bedenke nur, wie oft zum Beispiel Thomas Mann auch dort zitiert wird, wo es nicht sein müßte, um zu erwägen, wie oft Doderer nicht zitiert wird, wo es durchaus sein könnte.^" Selten stößt man auf Philosophen oder Soziologen, die Doderer mit derselben Selbstverständlichkeit zitieren wie Musil, Döblin oder Kafka, um Sachverhalte, Gedanken, Argumente zu illustrieren, und die dabei auch mit Selbstverständlichkeit von Doderers Modernität sprechen: „[...] um halbwegs ,ideologisch' unverfänglich [...] Autorität auszustrahlen, müßte man, so Heimito von Doderers großer moderner Roman Die Dämonen, schon ein [...] Hausmeister wie der .Waschler' sein."" Ein verbreiteter Beitrag zur „Theorie des modernen Romans" dagegen schreibt in einem Zusatz der Neuauflage von 1993: „Heute ist Doderer nur noch ein Beispiel für das allgemeine Restaurationsbedürfnis der da-
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Briefe an Ivarivask über Literatur und Kritik, hrsg. von Wolfgang Fleischer und Wendelin Schmidt-Dengler, München 1996, S. 16. Vgl. Kindlers Literaturlexikon, Bd. X, Zürich 1970. Eine der wenigen in letzter Zeit zufällig gefundenen Ausnahmen: Carola Hilmes erwähnt in ihrem Artikel „Moderne europäische Autobiographie" auch Doderers „Anti-"Autobiographie „Meine 19 Lebensläufe" - zwischen Alain Robbe-Grillet und Roland Barthes. Eine ganz richtige, aber lange Zeit undenkbare oder ungedachte Konstellation. Siehe Die literarische Moderne in Europa, Bd. 3: Aspekte der Moderne in der Literatur bis zur Gegenwart, hrsg. von Hans Joachim Piechotta, Opladen 1994, S. 387). Hier - im Vorwort zu einem Band, der sich mit „der geschichtlichen Exploration von Inszenierungen autoritativer Fiktionsprofile" beschäftigt - folgt dann ein längeres Zitat aus Doderers Dämonen. Siehe Ralph Kray/K. Ludwig Pfeiffer/Thomas Studer, „Autorität. Geschichtliche Performanz und kulturelle Fiktionalität", in: Autorität. Spektren harter Kommunikation, hrsg. von Ralph Kray, K. Ludwig Pfeiffer und Thomas Studer, Opladen 1992, S. 18 f.
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maligen Zeit."'^ Solche Urteile sind natürlich nur noch ein Beispiel für gewisse Pathologien der Zunft: flüchtige Lektüre, kritisch gemeinter Konformismus und rigide Selektion nach vordergründigen Kriterien; und in diesem Fall hat der Kritiker ohnehin nur die expliziten poetologischen Stellungnahmen zur Kenntnis genommen, also Doderers Grundlagen und Funktion des Romans (daß sich Doderer dort etwas kokett von approbierten Modernen wie Joyce und Musil distanziert, genügte, ihn seinerseits als un- oder antimodern zu diskriminieren). Aber bei solchen Urteilen handelt es sich um Spätfolgen der zeitgenössischen Rezep" tion." Man kann jedenfalls heute zahllose Publikationen, die „Moderner deutscher Roman" im Titel führen, in die Hand nehmen, und wird den Namen Doderer nicht einmal im Register finden.''' Das zitierte Verdikt aus einer kommentierten Sammlung von Texten zur „Theorie des modernen Romans" ist über die gescheiterte oder verweigerte Rezeption Doderers hinaus symptomatisch für gewisse mentalitäts- und meinungsbildende Mißverständnisse einer trotz oder vielleicht sogar wegen solcher Mißverständnisse rasch vollzogenen Kanonisierung der literarischen „Moderne". Doderers Wirkungs- und Wirkungslosigkeitsgeschichte ist jedenfalls auch auf die (hier nur mit einigen Streiflichtern konturierte) Akademisierung, die akademische Reduktion der Moderne zurückzuführen. So verengt und vage das vorherrschende Modernitätsverständnis auch war, es hatte zumindest normative und autoritative Wirkung: Man konnte sich bald an dem orientieren, was nun einmal als modern kano12
Bruno Hillebrand, Theorie des Romans, Stuttgart 1993, S. 382 (in der ersten Auflage von 1980 findet sich der Satz noch nicht). - Daß der Autor mehr von Doderer gelesen hätte als den (rasch abgehakten) Roman-Essay, ist seinen Bemerkungen nicht zu entnehmen. In meiner Dissertation habe ich versucht zu zeigen, daß es sich bei Doderers Essay um einen genuinen Beitrag zu einer modernen Theorie des Romans handelt. Siehe Rudolf Helmstetter, Das Ornament der Grammatik in der Eskalation der Zitate, a.a.O., S. 163 - 188.
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Natürlich hatte Doderer zu Lebzeiten auch positive bis euphorische Kritiker - Karl August Horst oder Martin Swales u.a. - , nur saßen diese nicht an den wichtigen Schaltstellen bzw. gehörten nicht dem ausschlaggebenden und meinungsbildenden Lager an. Gelegentlich wurde Doderer nicht einmal in Literaturgeschichten aufgenommen, so etwa 1989 im Fall von Metzlers Deutscher Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart-, auch in der derzeit neuesten Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, hrsg. v. Ralf Schnell, Stuttgart 1993, wird Doderer im Kapitel zur „Nachkriegsliteratur in Osterreich" ein einziges Mal erwähnt und abgehakt: „Von zentraler Bedeutung ist die Publikation von Heimito von Doderers monumentalen Romanen [...] mit ihrem grundlegend konservativen künstlerischen und weltanschaulichen Programm" (S. 128).
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nisiert war, an mustergültigen Autoren, an oft nur atmosphärisch erfaßten Oberflächenmerkmalen prominenter Texte, an bereits abgesegneten Paradigmen (die sich mehr oder weniger unter der Parole „Uberwindung des traditionellen Romans" versammeln ließen), und benutzte nun einen Moderne-Begriff aus zweiter und dritter Hand: diese moderne Welt war „entzaubert" und „entfremdet", „nicht mehr abbildbar"; die Werte waren, wie man seit Hermann Broch wußte, „zerfallen" - also mußte auch ein moderner Roman „zerfallen" sein. Der Kurzschluß von Krise der Wirklichkeit und Roman-Krise führte zu einem engen argumentativen Zirkel, aus dem kaum herauszukommen, von dem aus kaum noch zu den Texten selbst zu kommen war, weil eine solche Kombination von Wirklichkeitsklischees und impliziter Mimesis-Forderung oder -erwartung bei gleichzeitigem Realismusverbot nun einmal die Textwahrnehmung blockiert.'^ Eine Weile schien man tatsächlich zu glauben, allein das Vorkommen des sog. „allwissenden Erzählers" mache einen Roman schon „unmodern" (nur ein toter Erzähler ist ein guter, ein moderner Erzähler!), weil man, vermeintlich „fiktionskritisch", romaneske „Manieren der Allwissenheit" (Uwe Johnson) mit außerliterarischer Allwissenheit konnotierte, und die kann es - es schien nötig zu sein, dergleichen zu betonen - unter modernen Weltverhältnissen schlechterdings nicht geben. Daß man von Literatur Diagnostik und Seismographie des Weltzustandes erwartet und sie als solche verstehen und zu verstehen geben wollte - ohne sich indes ernstlich um eigene kritische Analysen dieses Weltzustandes zu bemühen ist ein Indiz der Legitimationskrise der Literatur in der modernen Gesellschaft, aber auch Indiz eines Theoriedefizits der Literaturwissenschaft. Irgendwann hatte sich jedenfalls der Eindruck festgesetzt, daß Doderer den überwindungswürdigen, ja -bedürftigen „traditionellen Roman" ungeniert fortsetze; wer das begrüßte, gehörte zu den Gestrigen, und die progressiv-Heutigen brauchten ihn garnicht erst zu ignorieren. Daher 15
Gerhart von Graevenitz hat in einer kritischen Durchleuchtung des topischen Arguments „desintegrierte moderne Wirklichkeit" (und seiner Funktion in Romantheorien) bereits vor zwanzig Jahren auf die „grenzenlose Banalität der aus diesem Wirklichkeitsklischee abgeleiteten Dichtungserklärungen" hingewiesen, ohne daß dies die Zunft und die germanistische Literatur zur Moderne aufgeweckt hätte. Siehe Gerhart von Graevenitz, Die Setzung des Subjekts. Untersuchungen zur Romantheorie, Tübingen 1973, S. 142 u. 145. - In einem neueren, großangelegten Werk zur literarischen Moderne in Europa von 1994 (hrsg. v. H.J. Piechotta u.a.) werden solche Klischees immer noch benutzt - dies sei angedeutet, um die ungebrochene Aktualität der mit Doderers Rezeption verbundenen Probleme, aber auch die mögliche Aktualität seiner Poetik zu belegen.
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wohl hat man seine besondere Weise der „Überwindung" nicht bemerkt. Zum Syndrom der verflachenden Modernerezeption gehört abgesehen von der ubiquitären oberflächlichen Lektüre - ein reduzierter Literaturbegriff, einer, der sozusagen keinen Spaß versteht, aber auch keine Fiktion und keine literarischen Förmlichkeiten. (Welche akademischen Traditionen dies mitverschuldet haben, aber auch inwiefern der Ernst des existentialistischen, dann „gesellschaftskritischen" Zeitgeistes hieran mitgewirkt hat, kann hier nur im Vorübergehen zu bedenken gegeben werden.) Im Kontext der zeitgenössischen Rezeption polarisierte das rigide Entweder-Oder (.traditionell' vs. .modern') Aufnahme und Bewertung von Texten und die Kategorisierung von Autoren. (Und Doderers Alter und Selbststilisierung dürfte viel zum Image des altösterreichisch-alteuropäischen Traditionalisten beigetragen haben). In dem Maße, in dem der Bruch mit traditionellen Erzählformen zum Markenzeichen von Modernität avancierte, entfaltete die angesprochene Polarisierung (modernistisch, avantgardistisch, progressiv, kritisch, experimentell, antinarrativ, „Schluß mit dem Erzählen!" vs. regressiv, konservativ, traditionell, überholt) eine eigene Dynamik. Man konnte allenfalls konservativ oder apologetisch versuchen, die ältere Formensprache zur zeit- und kontextresistenten Norm zu erklären; das dominante progressive Lager jedoch machte den „Traditionsbruch", die „Formzertrümmerung" normativ. Vor dem Hintergrund der Krise des Romans und der („bürgerlichen") Literatur überhaupt also schien Doderer an krisenfeste Funktionserwartungen anzuknüpfen und eine diskreditierte Tradition zu pflegen. Er war geradezu der Antipode des geläufigen Modernitätsverständnisses, das sich kurz und bündig mit einem Adorno-Zitat aufzeigen läßt: ein Antipode der „moderne[n], nämlich das naiv-realistische Normalbewußtsein schockierenden Literatur".Anders als die sozusagen idiotensicher-bürgerschreckliche moderne, schockierende Literatur schien Doderer eine vertraute, verständliche, konziliante Sprache zu sprechen und keine Modernitäts-Schwierigkeiten zu bereiten. Er galt als „Realist in einem Zeitalter, dem der Realismus abhanden gekommen ist",'^ und 16
Theodor W. Adorno, „Wider den mißverstandenen Realismus", in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 257. 17 Martin Swales, „Ordnung und Verworrenheit", in: Wirkendes Wort 11 (1961), S. 130. - Man müßte sich eingehender mit dem schwierigen Begriff (Realismus) auseinandersetzen; ich kann an dieser Stelle nur auf seine Ideologisierung hinweisen. - Gerade in der Adorno-Tradition Stehende tun sich schwer in der unvoreingenommenen Betrachtung realistischer Schreibweisen. Daß man aber dazulernt, zeigt etwa die von Peter Bürger aufgeworfene Frage, „ob eine vornehmlich an erzähltechnischen Verfahren interessierte Lektüre eines realistischen Romans nicht dessen eigentümliche
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schließlich hatte er - sogar und wohl gerade deswegen - Erfolg beim Lesepublikum." Zu dem hier (etwas plakativ) skizzierten Modernitätsbewußtsein gehört auch die Denkgewohnheit, aus Reaktionen der Leserschaft auf die literarische Qualität von Texten zu schließen: das sog. .breite' Publikum sollte eher brüskiert als befriedigt werden. Intellektuelle oder kritische Leser verlangen Literatur, deren implizite Leser intellektuell und kritisch sind. Ein Rezensent konnte Doderer damals sogar den „Musil der kleinen Mannes" nennen.^' Als Kenn- und Wahrzeichen moderner Literatur gilt, daß sie als Kritik, Negation, Überschreitung etablierter Konventionen auftritt, daß sie antritt, die literarischen und kulturellen Normen zu revolutionieren, kurz, eine Art prägnanter und offensiv-offensichtlicher Negativität. Und über diesen Horizont wird man so bald wohl auch nicht hinausgelangen. Aber man sollte doch die Bezugspunkte und -felder der Negativität genauer betrachten - der alt/neu-Schematismus erfaßt ja nur die zeitliche Dimension (und die Verfallsdaten und Alterungszyklen des Neuen werden immer kürzer); das Schema populär/esoterisch erfaßt nur die soziale Dimension, nicht die sachliche. Je weniger man sich von dem Verdacht einschüchtern oder ablenken läßt, Doderer habe lediglich
Leistung gerade verfehlt. Man kann sogar noch weitergehen und sich fragen, ob der Roman nicht allererst dadurch zum autonomen, von der Lebenspraxis der Individuen abgekoppelten Kunstwerk wird, daß ein bestimmter Diskurs ihn als solches bezeichnet. Was zunächst nur als Kulturlosigkeit erschien, könnte sich als Ansatzpunkt eines neuen Umgangs mit Kunstwerken erweisen, der die einseitige Fixierung auf die Form überwindet und zugleich das Werk wieder in eine Beziehung zu den Erfahrungen des Rezipienten setzt." Siehe Peter Bürger, „Das Altern der Moderne", in: Adorno-Konferenz 1983, hrsg. von Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 1984, S. 188. 18 Realistische Erzähltechniken waren erst dann nicht mehr verpönt, als Peter Weiss, ausgewiesener Avantgardist und „Linker", sie verwendete... - Vgl. Peter Bürger „Das Altern der Moderne", a.a.O., S. 193. Man sollte allerdings nicht vergessen, daß Doderer durch eine bestimmte Form von Trivialrezeption tatsächlich in ein nicht unbedingt attraktives Licht geriet. Hilde Spiel hat den „Identifikationseffekt" beschrieben, der ein wesentlicher Faktor von Doderers Erfolg gewesen sein dürfte: „[...] seine Romane wurden sofort nach ihrem Erscheinen zum Gegenstand der Konversation eben jener Schichten, die er selbst beschreibt und die noch immer das konstituieren, was man an Wien als das ,Wienerische' empfindet - das Großbürgertum und der Kleinadel." Siehe Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart, hrsg. von Hilde Spiel, Frankfurt 1980, S.181. - Zum „Gesellschaftsspiel der Frage nach der Originalvorlage" vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, „Aus dem Quellgebiet der .Dämonen'", in: Literatur und Kritik 80 (1973), S. 579. 19 Zit. in Karl Heinrich Schneider, Die technisch-moderne Welt im Werk Heimito von Doderers, Frankfurt a.M. [etc.] 1985, S. 28.
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das durch den richtigen modernen Roman explorierte Krisenbewußtsein der Moderne wieder stabilisiert (so etwa könnte man sein Programm der „Wiedereroberung der Außenwelt" verstehen), desto mehr dürften in Zukunft seine literarästhetischen und sprachreflexiven Qualitäten in den Blick kommen. Es gibt eine Grammatik und Stilistik der Negativität, die noch zu entdecken ist.^° Die erste, nun hoffentlich abgeschlossene Rezeptionsphase schien entweder fasziniert oder aber skandalisiert davon, daß ein Autor mitten im „Zeitalter des Argwohns", des „unbehausten Menschen", des „Zerfalls der Wirklichkeit (und der Werte)" - und wie immer die Formeln lauteten schon wieder oder immer noch ... ja was eigentlich? Realistisch erzählte? Durchaus. Aber: was heißt das eigentlich? Und ist das alles? Bei allem Oberflächenrealismus: Doderer führt zugleich vor, wie realistisches Erzählen funktioniert und was seine Prämissen und Probleme oder Defizite sind. Doderer ist - so könnte man mit dem Attribut des Rittmeisters Eulenfeld aus der Strudlhofstiege formulieren - der Zerrüttmeister des realistischen Schreibens, er zeichnet sich aus durch eine Promiskuität der Formen und Verfahren. Spätestens seit den Merowingem (1962) hätte man es merken können. Aber bereits in der Strudlhofstiege (1951) wird der Realismus einer gründlichen Revision unterzogen, auf eine Weise jedoch, die das unverwüstliche Interesse am „Erzählgemütlichen" (Dietrich Weber) nicht schroff vor den Kopf stößt. Man kann die Strudlhofstiege auch naiv, unmittelbar, kulinarisch lesen. Daher müssen sich die Doderer-Kritiker, die ihm Traditionalismus und Konventionalismus vorwarfen, ihrerseits vorwerfen lassen, daß ihre Kritik gar nicht den integralen Text, sondern eben nur eine Ebene und eine reduzierte Lesart betrifft. Es ist auch diese konziliante Doppelkodierung, die ganz unterschiedliche Lektüreinteressen zuläßt (oder „bedient" oder „abholt", wie man heute auch sagt), durch die sich Doderer vom elitärasketischen negativistischen Modernismus unterscheidet. Der Roman, schreibt Doderer, müsse „durchaus .verständlich' sein, mindestens aber einer großen Zahl von Lesern so erscheinen, die ihn garnicht verstehen" (R200).^' 20
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Nicht zu vergessen: eine rezeptive Pragmatik der Negativität - schließlich ist es ein Problem, wie in der Rezeption, in der Verarbeitung, womöglich .Applikation', mit der Negativität der Texte umzugehen ist; was man also damit .anfangen' kann. Daß Doderer .Konzilianz' kultivierte und auf Schock-Ästhetik verzichtete, hat nichts mit Harmlosigkeit zu tun und schließt Radikalität nicht aus. Vielleicht ist ja diese Konzilianz selbst eine moderne Tugend. - Vgl. „Prosa muß .talking' sein. [...]. Talking ist die Auflösung einer integral vollbrachten Leistung in Konzilianz." (R 240). Vgl. hier auch: „Prosa, Erzählende"-. .,[...] ihre Grundlage, welche eben zwei Punkte verbindet: deren einer, der Leser [...], sich draußen im Exoteron, im Sozialen befin-
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An der Einheit der Differenz von Naivität und Reflexion, oder besser: durch die Arbeit an dieser Differenz, durch die Versuche, Naivität und Reflexion zu vermitteln, in ein Verhältnis zu setzen, ließe sich der „doppelte Doderer" insgesamt charakterisieren: die „Befangenheit" und die (nicht immer unschuldige) Unschuld des unmittelbaren Welterlebens, der primären Wahrnehmungsformen, des Selbstbildes und der „Posen" - und die Formen des Verlusts der Unschuld, des Heraustretens aus der Befangenheit, der immer nachträglichen Reflexion, die ja in Doderers Theorie des Erzählers und des Erzählens zu einer Aufhebung und Verwandlung des Ichs des Erzählers führt (Schreiben heißt, sich überleben, sich überlebt haben... Solche Denkfiguren werden in den Romanen nicht etwa „umgesetzt" - diese Auffassung führt leicht dazu, das Verhältnis von Theorie oder „Denksystem" und literarischem Werk als Ableitungsverhältnis zu denken - , sie finden dort ihre andere, literarische, romaneske Form (und umgekehrt muß sich die „Reflexion", müssen Denkfiguren und Theoreme sich im Roman erst bewähren). Doderer verfällt auch nie der Naivität, man könne ein für allemal aus Naivität und Befangenheit heraustreten - die Reflexion ist ein unendlicher, lebenslanger Prozeß, der nicht in einem „absoluten Wissen" terminiert, sondern immer wieder nur in nachträglich-vorläufigen Texten. Man darf sich den „doppelten Doderer" also nicht etwa als Addition eines reflektierenden „Theoretikers" oder „Philosophen" mit einem erzählgemütlichen Romancier denken, eher als einen Philosophen, der sich radikal dem Problem der Darstellung stellt (und kaum ein Philosoph, der das tut, bleibt dann noch einer). Oder als einen erzählgemütlich-erzählreflexiven Romancier, der sich dem Problem der Reflexion aussetzt und der in die Reflexion sein eigenes Tun einbezieht, sein Material, die Sprache, die Zusammenhänge der Unterschiede von Sprechen und Schreiben, Hören und Lesen, Hörensagen und Erfahrung. Doderer verbindet eine narratologisch-epistemologische Produktionstheorie mit einer leserbewußten Rezeptionstheorie. Doderers spielerisch-reflexiver Erzähler beharrt nicht nur darauf, daß er erlebt-vergessen-wiedererinnert haben muß, was er erzählt nur so, nachdem sie durch den Magen der Biographie gegangen sind, werden die Erzählgegenstände als solche zugänglich - , er vergißt auch nicht, daß gelesen werden wird, was er geschrieben haben wird. Ein
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det. Darum konstituiert den Erzähler auch die Konzilianz [...]." (R 188). Zum „sociablen Zug des Erzählers" siehe T 340. Vgl.: „Die Sprache, worin man sich antraf, überleben kraft der verliehenen: das ist die Lebensgeschichte eines Schriftstellers." (T 11). Oder: „Man muß als schreibender Mensch einer nach sich selbst sein, einer, der sich selbst überlebt hat." (R 218).
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solches Erzählen jongliert mit einer ganz anderen Tiefe der Zeiten, als die „Tiefe der Jahre" (der Untertitel der Strudlhofstiege) zunächst ahnen läßt: das Leben ist nicht nur die Vergangenheit des Schreibens und die Zukunft des Lebens - das Schreiben ist auch die Zukunft des Gelesenwerdens. Der „doppelte Doderer", das ist auch der grüblerische Selbstanalytiker und Selbstzerfleischer, der das Tagebuch zum Ort einer „Begriffswäsche", zur Arena einer permanenten Selbst-Desavouierung, einer Selbst-De- und Rekonstruktion macht, dann aber im Roman von sich abrückt und mit den Lesern, zu einem Publikum hin spricht." Diese Thesen haben sehr verstreute und systematisierungsbedürftige Überlegungen Doderers zur Grundlage. Doch läßt sich auch anhand einer kursorischen Lektüre der Strudlhofstiege der sprach- und subjektanalytische, der erkenntnis- und kommunikationstheoretische Untergrund des Dodererschen Schreibens aufzeigen. Um die ganze Komplexität der Strudlhofstiege nicht von vornherein, mit einem zu eiligen Aufschlagen des Buches, zu coupieren, darf man nicht übersehen, daß der Roman in lateinischer Sprache beginnt (mit dem Epitaph auf den Erbauer der Stiege, der dann im Roman überhaupt keine Rolle spielt), daß der Roman also ab ovo (um diesen lieben Ausdruck, für den der Sektionsrat Geyrenhoff irgendeine tickartige Vorliebe hatte, vgl. S 659,^'' zu zitieren) mehr ist als seine Erzählung, mehr als die „Handlung", und daß mit dem Beginn der Erzählung, mit dem ersten Prosasatz in deutscher Sprache, schon die Mehrsprachigkeit, die Sprachen-, Stil- und Genremischung des Romans eingeführt ist (denn zwischen dem lateinischen Epitaph und der Exposition steht ja noch ein lyrisches Gedicht) Das Epitaph ist zugleich die Einschreibung des Namens der Stiege, des topographischen Referenten, ins Buch, die ro23
Hier wäre ausführlicher zu erörtern, daß die Schreibweise - in der sich auch das „soziale Bewußtsein" manifestiert, eine Moral der Form impliziert; vgl. Barthes' Problematisierung der Schreibweise: „Da sie im Kern der literarischen Problematik liegt [...],ist die Schreibweise also wesentlich die Moral der Form; sie bedeutet die Wahl des sozialen Bereichs, innerhalb dessen der Schriftsteller die Natur seiner Sprache zu situieren gewillt ist. Doch dieser soziale Bereich ist keineswegs der des tatsächlichen Konsums [...]. Seine Schreibweise bedeutet eine Art und Weise, Literatur zu konzipieren, nicht, sie zu verbreiten." Siehe Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt a.M. 1982, S. 22.
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Man kann nicht über diesen Roman sprechen, ohne mit ihm zu sprechen. Man beachte auch, wie die Exposition des Romans weniger in die .Handlung' einführt, als vielmehr die Vorzeichen inszeniert, das Relief der Zeiten, Perspektivik und Rahmen markiert - als eine Art narrativ-narratologischer Propädeutik und immanenter Poetik in nuce. Vgl. ausführlicher Rudolf Helmstetter, Das Ornament der Grammatik, a.a.O., S. 241 ff.
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maneske Referenz („cuius nomen libello inscribitur"). Es bedarf des ganzen Werkzeugkastens der Erzählsemiotik und der Narratologie, um diese Komplexität in der gebührenden Ausführlichkeit zu beschreiben. Auch in der Romanerzählung hat dann jedes thematische und kompositorische Element mehrfache Funktion, und diese Polyfunktionalität erschwert eine eindeutige Hierarchisierung, verlangt die doppelte Aufmerksamkeit und analytische Buchführung: für den Aufbau und die Verwicklung der thematischen Linien, für die Thematisierung und damit Bloßlegung von Verfahren sowie für die narrative Umsetzung und Ausgestaltung von Themen. Man darf eine wichtige Maxime Doderers nie vergessen, daß nämlich „ein Roman auf .thematische' Art und Weise überhaupt nicht entstehen kann [...] ein Thema [...] darf der Erzähler überhaupt nicht anerkennen" (T 38). Man könnte ergänzen: Eine Form darf der Erzähler nie bloß benutzen, er muß sie auch bemerken und bemerklich machen und zeigen, daß er sie benutzt, aber nicht mit didaktischem Zeigefinger, sondern - mit anderen Formen, durch Modulationen, Konfigurationen und Kontrastierungen, durch die wechselseitige Perspektivierung von Formen und Verfahren. In seinen Variationen über das „Thema" Umweg steigt der Roman stilistisch und generisch eine ganze romaneske Tonleiter hinauf und hinab, verbindet Elemente der Kolportage, des Bildungs- und Gesellschaftsromans mit philosophisch-moralistischer Betrachtung, Zeitdiagnostik (in Renes Gespräch mit Melzer) u.a.m. Doderers Definition des Romans als „Wissenschaft vom Leben" (WdD 173, vgl. auch D 1230) ist in dieser Form etwas mißverständlich, weil lebensphilosophische Konnotationen weckend. Rene von Stangelers Formel der „Grammatik als Erfahrungswissenschaft" (S 127) kommt der Sache schon näher. Man könnte sagen, Doderers Roman ist eine Wissenschaft von den Formen, von den Sprach-, Wahrnehmungs- und Lebensformen und ihrem vielfach verschlungenen Band. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, sagt Ludwig Wittgenstein und gibt damit eine typisch philosophische Sprach- und Welt-Definition. Der grammatologische Romancier dagegen zeigt, daß jede Welt größer ist als die Grenzen, die die Sprache, das Allgemeine der symbolischen Ordnung und der kommunikativen Kodes, zieht. Die Sprache ist der Unterschied, der alle weiteren Unterschiede macht. U m den Unterschied der philosophischen und der grammatologisch-romanesken Sprache und Sprachphiosophie anzudeuten, nur ein marginales Beispiel aus der Strudlhofstiege-, Man erfährt, wie mitunter eine einzige Vokabel die Grenze zweier Welten markiert. Für den Amtsdiener Kroissenbrunner ist es unverzeihlich, daß ein vom Amtsrat Melzer eigenhändig gezeichnetes Dokument für
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diesen nur ein „Wisch" ist (S 705). Nur noch eine weitere, ebenfalls ganz marginale Stelle, um zu demonstrieren, wie in Doderers romanesker Wissenschaft vom Leben und der Sprache das „Thema" am sprachlichen Material oder aus dem sprachlichen Material heraus entwickelt wird: „[...] nicht der kleinste Stummel (kein megot, wie man in Paris, oder Tschik, wie man in Wien, keine Kippe, wie man zu Berlin sagt) [...]" (S 903). Mit dieser mehrsprachigen Synonymliste des Zigarettenstummels schießt der Erzähldiskurs über das Ziel der Erzählgegenstände weit hinaus und figuriert den Uberschuß der Sprache(n) über die Dinge, auch den Ubermut der Zeichen gegenüber dem Bezeichneten. Doch ist diese Kapriole zugleich ein ganz funktional-funktionsloses Muster auf dem thematischen Grund des Romans. Für das ludistisch-systematische Umspielen, Uberschreiten und Uberformen der Ebene der histoire, des Erzählten, sowie für Aufwertung und Ausspielen von handlungsmäßigen Marginalien, ließe sich der Begriff einer transnarrativen (das Narrative durchquerenden, überschreitenden) und ornamentalen^^ Schreibweise vorschlagen. Dadurch steht Doderer in der Tradition des humoristischen, selbstreflexiven - und das heißt: sprach-, fiktions- und formenreflexiven - Romans. Auf dieser Ebene der eigentlich gar nicht zu übersehenden Dominanz der humoristischen Schreibweise findet Doderers Auseinandersetzung mit dem literarischen Realismus statt (genauer vielleicht: mit dem „mißverstandenen Realismus"), den man formelhaft durch Kaschieren der Medialität, der Sprachlichkeit und Konstruiertheit des literarischen Textes kennzeichnen kann.^^ (In realistischen Texten verschwindet die Darstellung, die sprachliche Arbeit, das narrative Medium, im Dargestellten und in der 26
Ornamental ist der Roman in vielerlei Hinsicht: auf der Ebene des Diskurses durch eine überbordende Metaphorik und die Selbstinszenierung des Erzählers, durch die Autonomie des Diskurses gegenüber der zu erzählenden Geschichte, durch seine Stilmischung, durch Parallelismen und Symmetrien in der Zeitgestaltung sowie durch lexikalische und narrative Rekurrenzen - im Grunde sind das lauter Gemeinheiten (S 357, 360, 403, 454, 457, 533, 586, 599, 665, 705, 729, 859, 904, 908). Durch seine spezifisch literarische Thematisierung von Geschichte und Geschichtsschreibung sowie Psyche und Psycho-Analyse läßt sich der Roman zudem als Ornament der Historiographie wie auch der wissenschaftlichen Psycho-Logie lesen. In dieser differenziellen Bezogenheit auf andere Diskurse oder Disziplinen ergibt sich eine genuin literar-ästhetische Funktionsbestimmung des Romans (die von Doderers expliziter Romanpoetik sekundiert ist, man denke an die Definition aus der RomanRede: „Der Roman ist der geometrische Ort zwischen Kunst, Wissenschaft und dem Leben tel qu'elle est." (WdD 174).
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Siehe dazu Renate Lachmann, „Die Zerstörung der .schönen Rede'. RhetorismusKritik im Kontext realistischer Konzepte", in: dies., Die Zerstörung der schönen Rede. Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen, München 1994, S. 284 - 305.
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Illusion der Unmittelbarkeit.) Zu dem, was man Doderers ornamentale Liquidierung oder Zerrüttung des Realismus nennen könnte, gehört die Übertreibung, Massierung und das Ausreizen realistischer Verfahren, sowie die hochgetriebene Konstruktivität, die letztlich wohl als eine Hyperbel des realistischen Schreibens anzusehen ist. Die Summierung anzitierter Genres und Genreelemente, die in ihrer Aufhäufung und Kombination eine seltsame „Fälsche" (S 105) bekommen, erhält einen parodistischen Unterton.^^ Doderer ist hier ganz realistischer „Zerrüttmeister" - um an den Sprachgebrauch des Sektionsrates a.D. Julius Zihal zu gemahnen (S20 u. pass.). Umfunktionierung, Bloßlegung, Parodierung und Re-Literarisierung realistischer Verfahren - das ist die literarhistorische und literatur-theoretische bzw. -praktische Leistung der Strudlhofstiege. Da hier nicht der Raum für eine ausführliche Strukturbeschreibung ist, seien nur kurz die wichtigsten Verfahren genannt: die wechselnde Einstellung des Erzählers zu den Figuren, der Wechsel, ja geradezu Wechselbäder von Empathie und Distanzierung entsprechen; dazu Wechsel der Erzählsituation (von personal-szenischem und plakativ auktorialem Erzählen);^' das Markieren der textuellen Eckpunkte Anfang und Ende, also die Reflexion des Text-Rahmens; die Verwendung von Kolportage-Elementen, z.B. die „Tabaks-Romantik" (Edithas Tabakschmuggel und „Tabak-Regie"; der melodramatische Skandal auf der Strudlhofstiege, das happy end in der Art des Wiener Vorstadttheaters („die Hochzeits-Kutsche von einem Karussel des Wiener Wurstlpraters", S 908, vgl. S 760 f.); Geyrenhoffs Chronik als Parodie der Historiographie, die vorbehaltliche Verwendung von Elementen des Bildungs-, des Brief- und des Familienromans; das Einstreuen von selbständigen, mit der Handlung unverbundenen Anekdoten (vgl. bes. 28
Frappante Korrespondenzen Doderers zur Romankonzeption Bachtins stellen sich nicht nur über die literarische Praxis her (v.a. Strudlhofstiege und Merowingei), sondern auch über theoretische Überlegungen Doderers - dieser hier nicht zuletzt als Leser Dostojewskijs. - Vgl. Michail M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hrsg. von Rainer Grübel, Frankfurt a.M. 1979; Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval, hrsg. von Alexander Kaempfe, München 1985; Michail M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1985. - A m 17. Juli 1945 schreibt Doderer expressis verhis vom „Karneval des Romans" (T 348). Auch wenn Doderer seine Idee der „Commentarii" ausführt, entspricht das aufs genaueste Bachtins Konzept der „Menippeischen Satire": „Commentarii müssen das Verschiedenartigste enthalten: Chroniken, Abhandlungen, Erzählungen, Briefe, Aphorismen, Berichte, Verse. [...]" (T 459). Vgl. ausführlicher Rudolf Helmstetter, Das Ornament der Grammatik, a.a.O., S. 162.
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Vgl. etwa: „Sie schritt bergab. Was dachte sie? Sah sie sich um? Ja, sie blieb stehen und sah sich um. [...] Warum stand, warum hielt sie hier? Was dachte sie? [...] Man sieht sie da, auf der Paß-Straße, durch das umgekehrte Opernglas von mehr als zwei Jahrzehnten" (S 417).
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S 185 f.), das Einstreuen und Markieren von Aphorismen und abgehobenen Reflexionen. Hinzu kommen die aus dem Handlungszusammenhang fallenden Anreden des Lesers sowie die Thematisierungen des Lesens, die mit der Erzählgeschichte verwoben sind (Briefe, Romane, Philosophie).^® Nicht nur die Briefe im Roman - man denke v.a. an den Abschiedsbrief der Etelka - reflektieren Struktur und Funktionsweise einer Schrift, die sich von ihrem Schreiber ablöst und ein nicht mehr kontrollierbares Eigenleben in Lesern führen kann. Selbst mündliche Äußerungen und schließlich sogar Düfte (das Eau de Cologne Geyrenhoffs, das Rene sich aneignet) haben Zeichen- und Schriftcharakter, werden zu einer Schrift, die in Abwesenheit ihres Urhebers ganz ungeplante und ungeahnte Wirkungen entfalten kann. Das Zitieren, SichAneignen, Verwenden, aber auch Sich-Verstricken in der Sprache des anderen ist eines der untergründigen und strukturbildenden Themen der Strudlhofstiege. Aber die Figuren zitieren sich nicht nur gegenseitig, schließlich zitiert sogar der Erzähler seine Figuren und führt sie als Gewährsmänner für Daten und Begebenheiten der Handlung vor. Diese m.W. noch kaum beachtete fiktions- und realitätsironische Pointe, die wiederum die Darstellungsebenen durchkreuzt, besteht darin, daß der Erzähler (fiktive) Figuren zur Beglaubigung seiner Fiktion anführt, sozusagen als Quellen, als Informanten - aber Gewährsmann der Gewährsmänner ist natürlich immer nur der Autor, ist der nun real und verläßlich oder fiktiv oder fiktional?'' Jedenfalls zerrüttet er so schließlich auch die ontologische Unterscheidung der Fiktion von der „Realität", bzw. zeigt nur, daß die Sprache selbst diese Unterscheidung ständig zerrüttet. Das Ambivalenzen schaffende und ausspielende Zusammenspiel von Illusionsbruch und Illusionspotenzienmg, die gleichzeitige Verwendung und Bloßlegung realistischer Verfahren, ist charakteristisch für die Fiktionskonstitution der Strudlhofstiege insgesamt. 30
So schlägt etwa Melzer gleich bei seiner Einführung ein Buch auf (S 66), eine Lektüre, die dann 15 Jahre und 700 Seiten später wieder aufgegriffen wird (mit ganz anderer Rezeption). Man denke außerdem an die gemeinsame Schopenhauer-Lektüre von Etelka, Grauermann und Honegger, an Grauermanns Weininger-Lektüre, über der er einschläft u.a.m.
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Durch die Thematisierung des (paradigmatisch) intertextuellen Verfahrens des Zitats gewinnt der Text auch eine metatextuelle Dimension, die wiederum nicht nur auf literarische Texte bezogen ist, sondern auf Textualität schlechthin. Die charakteristische Markierung und Inszenierung der Literarizität des Romans mündet bei Doderer immer wieder in die paradoxe Revision der Opposition des Fiktiven und Faktischen, der Polarität von Literatur und Leben. Der Roman als ästhetische Figuration der außerästhetischen Sprachlichkeit des Weltbezugs und Lebensvollzugs wird zum Medium einer Sprach-Lehre.
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Aber die Stiegen selbst, werden realistische Leser vielleicht sagen, die Stiegen selbst sind doch wohl keine Fiktion und nicht nur Sprache? Keine Fiktion im Sinne von ausgedachter Erfindung, wohl aber eine Findung, ein zu Ende gedachter Fund. Die Strudlhofstiege in Wien ist mehr als der realistische Boden, auf dem die realismuskritische Konstruktion des Romans errichtet ist. In der Beschreibung des titelgebenden Bauwerks ist auch das literarische und kunsttheoretische Programm des Romans emblematisch verdichtet, ein Programm, das allerdings über eine rein literarische und kunsttheoretische Problematik hinausgeht. Die Strudlhofstiege figuriert eine Überschreitung des idealistischen und wohl auch „bürgerlichen" Konzepts des Ästhetischen als vom praktischen Lebensvollzug, vom „Reich der Zwecke" ausgegrenzter, also zweckloser und dem interesselosen Wohlgefallen anheimgegebener Bereich. Die Stiegen führen es vor, der Roman als eine Art Begleittext und Gebrauchsanweisung exemplifiziert und amplifiziert das Programm, die Idee der existentiell-pragmatischen Virulenz des Ästhetischen als das „Umwegige", Indirekte, Distanz-Schaffende und -Überbrückende, Distanzen Verwaltende, Gestaltende und Verwandelnde (ein Gedanke, der sich übrigens auch bei Georg Simmel findet).'^ Wenn man zitiert: „Der Weg ist das Ziel" (und eigentlich: „mehr als das Ziel", S 331), darf man nicht bei dieser aphoristischen Abkürzung stehenbleiben, diese „Botschaft" der Strudlhofstiege und der Strudlhofstiege darf nicht von der Form der Darstellung und den kunsttheoretischen Implikationen abgelöst werden. Ein bekannter Satz von Schopenhauer lautet: Die Kunst ist immer am Ziel. Speziell für die Sprachkunst ließe sich Roman Jakobsons Definition der poetischen Rede als Einstellung der Rede auf sich selbst, auf die Rede selbst, anführen.^' Wenn anhand der Stiege zudem das ästhetisch Schöne zugleich als pragmatisch brauchbar und ins Leben einbezogen erscheint, überschreitet sie - oder ihr Interpret Doderer - die idealistische Konzeption der Kunst als der Alltagspraxis enthoben und entfremdet. Damit verdichtet sich auf der Strudlhofstiege und in der Strudlhofstiege die ganze gesellschaftliche Problematik der modernen Kunst. Was in der Kritik der Autonomie-Ästhetik „Abtrennung" oder „Entfremdung" von der Lebenspraxis genannt wird, ist hier überwunden, was in den Avantgarden als Überführung der Kunst ins Leben propagiert wurde, ist hier ganz 32
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Als Emblem gelesen ist das zentrale „Ding-Symbol" (bzw. die pictura) des Romans auch seine Strukturformel, als Allegorie steht es für den Prozeß des Lesens (oder eher für eine besondere Möglichkeit des Lesens, es enthült eine Lesenslehre. Als Lebenslehre kann man es dann immer noch lesen - aber bitte: lesen!). Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze, Frankfurt a.M. 1979, S. 79, 92 u. pass.
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schlicht und unspektakulär ausgeführt - in der Beschreibung einer von jedermann, also ohne Exklusivität verifizierbaren Treppenanlage: „Die Stiegen lagen da für jedermann" (S 331). Mit einer kleinen Bemerkung von Adorno komme ich zum Schluß, der noch einmal zum Anfang zurückführt. In seinem Zemlinsky-Aufsatz bemerkt Adorno, daß aus späterer Perspektive das „einst Zurückgebliebene" sich mitunter als beständiger erweise als das Avancierteste von ehedem.''' Allmählich wird Doderer vielleicht kenntlich werden als ein von den Wertkriterien einer mißverstandenen, verkürzten Modernität unbeirrter Autor, der eine andere, eigene, sanfte, sozusagen homöopathische Modernität verfolgt hat, die jedoch nur in den Blick kommt, wenn man literarische Modernität zur Kenntlichkeit abstrahiert, wenn man kanonische modernistische Oberflächenmerkmale auf ihren historischen und systematischen Ort bezieht, die Formen auf ihre Funktion hin liest und den Form-Funktion-Zusammenhang in seinem Problembezug erkennt, und das ist der Verlust von Fiktions- und Formenbewußtsein in der Folge einer Generalisierung des Realismus. Um es noch einmal oder bündiger zusagen: Doderer arbeitet sich ab an der literaturgeschichtlichen Hypothek des Realismus und einer generalisierten realistischen Leseweise; er macht den Roman zum Medium der Erkundung der eigenen biographischen Strukturmuster und des sprachlichen Habitus; er exploriert die Sprache, den sprachlichen Habitus in seiner erkenntnispraktischen, nämlich Wahrnehmungen kanalisierenden, Erfahrungen typisierenden und interpretierenden und damit Lebensgeschichte herstellenden Funktion; er kontrastiert und konfiguriert Sprachen, in deren Pluralität und Inkommensurabilität sich die Pluralität und Inkommensurabilität derWelten spiegelt, in denen wir leben und nicht leben, von denen wir aber wissen, weil andere in ihnen leben, die uns davon in irgendeiner Form in Kenntnis setzen, mit denen wir in irgendeiner Form in Kontakt treten. Es gehört zur condition moderne: die Inkongruenzen von gelebter und aufgeschnappter, angelesener, medial vermittelter Erfahrung. Postskriptum: Die Hartnäckigkeit des asketischen Modernismus dokumentiert die Attacke, die im vergangenen Jahr der untadelige Altmodernist F.J. Czernin gegen den Neo-, Post- oder Soft-Modernisten Durs Grünbein geritten hat." Grünbein nennt Czernin in seiner Replik einen 34 35
Zit. nach Peter Bürger, „Das Altern der Moderne", a.a.O., S. 197 (Anm. 12). Schreibheft 45 (1995). - Grünbeins Replik siehe Schreibheft 46 (1995), S. 191 f.
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Vertreter der „guten alten herrschsüchtigen Moderne". Aus Michael Brauns Replik auf Czernins Vorwurf, Grünbein bediene sich modernistischer Verfahren nur in „allgemein verträglicher Form", verdient folgendes zitiert zu werden: „Die Modernität und Radikalität eines Textes bemißt sich wohl kaum an seiner Fähigkeit zur Erzeugung einer allgemein unverträglichen Form."'' Die ästhetischen Denkgewohnheiten, die die bisherige Rezeption Doderers beeinträchtigt haben, sind noch immer nicht ganz abgelegt. Die Suche nach der „allgemein verträglichen Form" gerät immer noch in Flachheits- und Popularitätsverdacht. Und die guten-wahren-kompromißlosen hardcore-iAodtvntn ziehen sich naserümpfend und berührungsscheu ins ästhetische Reservat zurück... Diese polemische Volte möchte nur demonstrieren, wie schwer man sich den Polarisierungen entziehen kann. Es wäre gut, diese Spaltung unserer literarischen Kultur nicht als unversöhnliche Polarität zu institutionalisieren, sondern - wenn man so sagen kann und wenn das geht: - unversöhnlich zu vermitteln, auf eine gemeinsame Problemlage zu beziehen: auf die Ortlosigkeit und die Funktionssuche der Literatur in der modernen Gesellschaft und auf den Konflikt zwischen sachlichen und sozialen Verpflichtungen. Doderer scheint gerade eine solche unversöhnte Vermittlung gelungen zu sein. Vor dem Hintergrund der „literarischen Moderne" könnte man Doderers Profil dadurch bestimmen, daß er nicht mit traditionellen Erzählweisen gebrochen, sondern ihre Summe gezogen, sie rekapituliert und umfunktioniert hat, daß er auf konventionell erscheinende Weise historische („obsolet" gewordene) Verfahren (re-) aktiviert - mit provokativer Unbefangenheit gegenüber dem „Kanon des Verbotenen".'^ Doderer ließe sich verstehen als Vertreter einer literarischen Ästhetik, die 36 Schreibheft 46 (1995), S. 194. 37 Theodor W. Adorno, Ohne Leitbild. Parva Ästhetica. Frankfurt a.M. 1967, S. 33. Vgl. auch: „Der rigorose Modernismus der letzten Jahrzehnte, das Dogma vom irreversiblen Fortschritt der künstlerischen Mittel, hat zu deren immer rigoroserer Reduzierung und Minimalisierung in den fünfziger und sechziger Jahren geführt. Der ,Kanon des Verbotenen' [...] wurde zunehmend erweitert: Erinnert sei an das Verbot der Gegenständlichkeit in der Malerei, der Mittel der Tonalität in der Musik, der Leichtigkeit anekdotischen Erzählens in der Literatur. Die .avantgardistische' Forderung nach beständiger Selbsttransgression und die dadurch bedingte Restriktion hat zumal die Literatur vielfach an den Rand des Verstummens gebracht. Vor der gänzlichen Aphasie hat sie sich [...] nur durch die ironische Wiederverwendung des .Kanons des Verbotenen', durch Repluralisierung ihrer Mittel retten können." So Dieter Borchmeyer in einer Sammelbesprechung von Publikationen zur sog. .Postmoderne', in: Poetica 21 (1989), S. 210.
Der doppelte Doderer und die andere Moderne
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Alternativen sucht zu den agonalen Konsequenzen einer sich in permanenter Selbstüberholung verzehrenden und sich dabei kulturell marginalisierenden Moderne (zunehmende Radikalisierung und Spezialisierung der künstlerischen Produktion rekrutiert immer weniger kompetente und interessierte Rezipienten und produziert hinterrücks immer mehr ästhetischen Analphabetismus).'' Ein weiterer Pol, an dem sich der geometrische Ort des Romans nach Doderer ausrichtet, ist die „Amüsierbranche"; allerdings ist Doderers Distanzierung ohne Berührungsscheu und von sozusagen präpostmoderner Nonchalance: „Womit wir zwischen dem Roman mit universalem Anspruch und dem Amüsement einen wirkungsmäßigen Gegensatz keineswegs statuiert haben wollen." (WdD 165) Literatur hat für Doderer - diesseits des „Amüsements", jenseits der „Amüsierbranche" - die Funktion einer sprachanalytischen Sprachtherapie: literarische Texte lehren Sprache und tragen dazu bei, die „versteinerte Fülle der fertigen Formen" (WdD 50) abzuräumen. Sie explorieren und demonstrieren die sprachliche Produktivität der Formenbildung. Literatur dient dem „Zerschlagen der [...] sprachlichen Erstarrungsformen - die sich als bequeme Särge stets angeboten haben, in denen wir ein gut Teil unserer angeborenen Sprachlichkeit bestatteten"; der Leser soll „zu seiner eigenen Sprache erwache[n], indem er das Entstehen von Sprache überhaupt nacherlebt; nun kann er das Konventionelle abwerfen, nun erst eigentlich ein Leser werden. Und, Hand aufs Herz: es gibt kaum Höheres, als ein guter Leser zu sein."''
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Vgl. dazu Jürgen Habermas' Bemerkungen zur Ambivalenz der (nachauratischen) Kunst zwischen den Möglichkeiten der „Degeneration zu propagandistischer Massenkunst oder kommerzialisierter Massenkultur" und der „Umsetzung in eine subversive Gegenkultur": „Ebenso ambivalent ist das Festhalten am formalistischen Kunstwerk, das einerseits den Zwängen zur Assimilation an die vom Markt bestimmten Bedürfnisse und Einstellungen der Konsumenten und damit einer falschen Aufhebung der Kunst widersteht, das aber andererseits den Massen unzugänglich bleibt und so auch die exoterische Rettung der emphatischen Erfahrungen, in Benjamins Worten: profane Erleuchtungen, verhindert." (Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973, S. 120) Heimito von Doderer, „Innsbrucker Rede. Zum Thema Epik", in: Akzente 2 (1953), S. 523, ähnlich bereits 1931 (siehe WdD 197 u. 199).
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Doderers Alles-und-nichts-Denken 1. Alles und nichts im Zusammenhang Was ich ,Alles-und-nichts-Denken' nenne, das könnte man auch als eine zugleich exklusive und inklusive Einstellung betrachten. Auffällig ist, daß Doderers Hang zur Kontinuität prinzipiell sich selbst genug ist. Er dient keinem übergeordneten Argument, ist weder Ergebnis noch Bedingung eines irgend abgrenzbaren eigenständigen Ideals. Doderers Konservatismus ist wirklich ein Konservatismus sui generis, er erschöpft sich in sich selbst und schöpft sich selbst aus. Er soll nicht fruchtbar werden für Visionen oder Utopien. Im Repertorium schreibt Doderer unter dem Stichwort „Schriftsteller - seine Vergangenheit und Zukunft"-. „Der einzige Ort, wo ein Schriftsteller von einiger Zukunft sich aufhalten kann, ist seine Vergangenheit; auf die Zukunft hat er [...] keinesfalls einen freien Blick." (R 218) Ein Mann „von einiger Zukunft" kann und soll diese Zukunft nicht kennen: so wird Zukunft zu einem rollenspielerischen Begriff, die Formel „Schriftsteller von einiger Zukunft" zu einer ironisch, ja sarkastisch gebrauchten Formel. Der Rest ist Zukunft als purer vegetativer Rest. Das oft bemühte Wort ,Zukunft braucht Herkunft' ist auf Doderer schwerlich anwendbar, denn die in seinen Werken beschworene Herkunft speist keine konkrete Erwartung an die Zukunft. Doderer hat JPanik"' (R 179) mit einem „Abreißen der historischen Kontinuität des Lebens" gleichgesetzt. Er hat diese Gleichung eindrucksvoll in seinen Erzählungen und Romanen abgewandelt, aber sobald jene Kontinuität wiederhergestellt ist (und hier darf man das Partizip ,hergestellt' vehement betonen), sobald die Kontinuität wiederhergestellt ist, da ist die ,Panik' bekämpft, und die erzählerische Mission ist im wesentlichen erfüllt. Alles ist Vergangenheit, und die Vergangenheit ist alles. Das Bevorstehende ist nichts, denn nichts steht bevor. Anders gesagt: alles ist Darstellung, nichts ist Vorstellung. Doderesker gesagt: alles ist Form, nichts ist Inhalt.
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Auch von daher wäre zu berücksichtigen, daß Doderer unermüdlich sich der analytischen Erzählform bedient hat, der rückwärtsgewandten Ermittlungsform. Diese Form ist selbstbezüglich wie keine andere narrative Großstruktur, die analytische Fabel zielt ab auf die Vervollständigung ihrer selbst. Sobald die entscheidende Bresche ausgemacht ist, das entscheidende Geheimnis des Reichs angesprochen ist, sobald die Dämonen Levielles oder Meisgeiers gebannt sind - da fällt die Tür ins Schloß des plots, und zwar so, daß man nach lang anhaltender Spannung befriedigt ist, daß die Tür nun überhaupt hat geschlossen werden können. Es gehört zur Natur (Kunst) der Sache, daß man den epischen Salon nun nicht mehr betreten oder verlassen mag.
2. Alles ist gerichtet, und nichts ist gerettet Die Dodererschen Erzählschlüsse muten oft parodistisch an oder augenzwinkernd märchenhaft oder depressiv, darauf ist verschiedentlich bereits hingewiesen worden. Die mehr oder minder charmante Ratlosigkeit aber, die der Erzähler am Ende der jeweiligen epischen Strecke offenbart, diese Ratlosigkeit rührt unmittelbar her von der entsprechenden Rätsellosigkeit: alles ist im Rückblick geklärt, dafür gibt es zum Ausblick nichts Wesentliches zu sagen. Die story ist komplett, und allein damit scheint ihr Sinn gesichert. Aber dieser Sinn ist eigentlich keiner, zumindest ist er durch nichts Eigentliches belastet, glücklicherweise nicht einmal durch den Jargon der Eigentlichkeit. Er verdankt sich der denkbar schlanksten Produktion von Sinn - der nachträglichen Füllung einer längst eingeplanten Lücke. Der Sinn der Lücke ist die Füllung, der Sinn der Füllung ist die Lücke; der Sinn des Problems ist dessen Klärung, und der Sinn der Klärung ist das Problem, einerlei ob es „Melzer" getauft ist oder „Mary K." oder „Stangeier" oder „Castiletz". Der Sinn des Knotens ist dessen Lösung. In den Tangenten hat Doderer deponiert: „Nicht Sinn-Geben will ich meinem Buche" (T 527). Wobei man unter dem betreffenden Buche die Strudlhofstiege ebenso verstehen kann wie die anderen Bücher des Lebens, denen da kein Sinn verliehen werden soll: dies einerseits. Und andererseits heißt es im älteren Tagebuch, eigentümlich rhapsodisch und doch auch recht markant: „Gelitten wie ein Vieh.... wo bleibt der Sinn? Er kann nur im Ausgang liegen." (TB 516) Hier die Frage nach dem Sinn und dessen Verknüpfung mit dem .Ausgang', dort entschiedene SinnVerweigerung! Aber ich glaube, daß der Gegensatz hinfällig wird, wenn man erstens den zitierten .Ausgang' auf jeden Fall als end begreift und
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nicht etwa als exit, und wenn man zweitens das Wort ,Sinn' versuchsweise ersetzt durch die Vokabel .Richtung'. Dann hätte man zum einen die Verbindung von .Richtung' und .Ausgang' und zum anderen das Programm .nicht Richtung geben will ich meinem Buche'. Und damit wäre man wieder bei Doderers künstlerischer Praxis: Er hat es gar nicht notwendig gehabt, seinem Oeuvre einen Sinn/eine Richtung zu geben, insofern als die Richtung notwendig vorgegeben ist in all jenen Parabeln der Nachträglichkeit. Es ist die Richtung hin bzw. die Richtung zurück zu unterschlagenen Geldern und Geschäften, es ist die Richtung hin bzw. zurück zu verdrängten Erlebnissen und Empfindungen. Hauptsache, der Abschluß glückt, Hauptsache, das Schreckbild Fragment bleibt in weiter Ferne. Glücklich muß der Abschluß für den Entwurf sein, glücklich innerhalb der Fiktion braucht der Ausgang ja deswegen noch lange nicht zu sein. Er kann dem jeweiligen Akteur alles nehmen, wie einem Conrad Castiletz oder einem Donald Clayton; er kann ihm alles geben oder ihm jedenfalls nichts anhaben, wie einem Zdenko von Chlamtatsch - das ist nachrangig im Verhältnis zur Anforderung, daß das epische Licht genau die Dinge erhellt, die vorher absichtsvoll in Finsternis getaucht worden waren. Vollständigkeit ist auch schon Vollkommenheit. Doderer ist nicht so sehr Hüter der Tradition als vielmehr ihr Designer, ein, je nachdem, exklusiver oder inklusiver Designer. Es geht ihm um die Prägnanz jenes Ornamentalen, auf das sich Rudolf Helmstetter konzentriert hat.^ Abseits solcher Prägnanz kann alles auch archäologische Substanz beanspruchen, wie es in den beiden großen Wiener Romanen der 50er Jahre geschieht; es kann einem vorkommen, daß nichts mehr substantiell festlegbar ist, wie im Roman No 7; es kann auch alles Substanz dementieren, wie in mancher Kurz- und Kürzestgeschichte. Es kann sogar die Fiktion von Prägnanz zur ,Kruzi-Fiktion' werden, wie im perfiden kleinen Text, der schlicht Erzählung heißt (E 345). Hier wird in aberwitziger Weise alles versprochen und ausdrücklich nichts gehalten.
3. Alles geschieht gezielt, und das Ziel ist nichts Es stimmt schon, daß der Weg bei Doderer das Ziel ist. nur gilt das vor allem auch deshalb, weil über das textuelle Ziel nichts hinausweist. 1
Vgl. Rudolf Helmstetter, Das Ornament der Grammatik in der Eskalation der Zitate. JDie Strudlhofstiege", Doderers moderne Poetik des Romans und die Rezeptionsgeschichte, München 1995, S. 92.
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Wenn der Autor der Strudlhofstiege die »Richtung' einmal einen .Vorwand' nennt (S 330 f.), dann ist das auch so verstehen, daß hinter dem (bzw. der) Vor-Wand der Richtung eben die Wand des Ergebnisses sich erhebt. Diese Wand ist vom Anfang des Wegs an die Grenze von allem und nichts. Nach ihr kommt bares Brachland. „Liegt nur das letzte Wegstück [...] gangbar, plan, und mit Sicherheit zu durchmessen vor dem menschlichen Auge", heißt es in der Geschichte von den zihalistisch Erleuchteten Fenstern, „dann scheint alles, nämlich der ganze bis dahin durchmessene spannungsreiche Weg, bereits wie mit Unfruchtbarkeit geschlagen [...]" (EF 122). Wendelin Schmidt-Dengler hat unlängst geschrieben vom doderesken Hochhalten der „Fähigkeit, sich eine Wegstrecke zu erschreiten und dabei die Absichten zu löschen, denen sich diese Fortbewegung verdankt".^ Die .Absichten' werden aber auch so .gelöscht', wie eine Schiffsladung gelöscht wird. Die Absichten werden buchstäblich en passant erledigt, und eine erledigte, eine erfüllte Aufgabe ist nun freilich keine mehr. Sistierte Bewegung, Verbrauch und Nachschub in einem, ähnlich der Chiffre vom Wasserfall, die Roland Koch als liquide Kernchiffre der Wasserfälle von Slunj beschrieben hat.' A propos liquide: im Repertorium schreibt Doderer: „Ein profundes Appercipieren scheint wirklich alles liquidieren zu können" (R 193: Jiechts und Links"), und an anderer Stelle, ganz dezidiert: „Die Apperception vernichtet die Sache" (R 27: „Apperception ihre verändernde Macht"). Die analytische Spannung löscht sich selbst, sie geht ja fortschreitend zurück, am Ende ist alles da, und es gibt nichts mehr zu holen. Wie eine Kontinuität ohne Hoffnung und ohne Botschaft, wie ein um seiner selbst willen hergestellter Rahmen sich von selbst erledigt, auf dieses Exempel machen die Schlußsätze des Romans Ein Umweg die Probe: „Und endlich stand Brandter auf der einsamen Sterbehöhe der Galgenleiter. [...] Einen Augenblick lang, während ihm der Henker die Schlinge um den Hals legte, schien es, als wollten sich die letzten fünf Jahre noch einmal glitzernd erheben. Jedoch sie sanken zurück, ihr Anfang und Ende floß in eins zusammen, und nun waren sie schon nichts mehr als ein blasser [...] Traum zwischen zwei Sterbestunden." (U 299) - .Sterbestunden' erfassen das Leben, fassen es ein. Die Kette erst macht ihre Glieder zu solchen Gliedern. Die Silhouetten definieren die Körper. Wendelin Schmidt-Dengler, „Umwege erhöhen die Ortskenntnis", in: Franz Hubmann, Auf den Spuren von Heimito von Doderer. Eine photographisch-literarische Reise rundum die „StrTidlhofstiege" in Wien, Wien, München 1996, S. 7. Roland Koch, Die Verbildlichung des Glücks. Untersuchungen zum Werk Heimito von Doderers, Tübingen 1989, bes. S. 216 ff.
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Der Rahmen erzeugt das Bild. Für den von privaten und politischen Schocks verfolgten Doderer ist bereits das Ausmachen einer ununterbrochenen Linie eine gewaltige Leistung; Schlußfolgerungen oder gar Veränderungen sind Nebensache. Daher werden im Rahmen der doderesken Enthüllungs-, Ergänzungs-, Ganzheitsfabeln herkömmliche Hierarchien eingezogen. Nichts muß wichtig sein trotz konventioneller Bedeutungszuschreibungen, alles kann wichtig sein. Das Gefälle kann permanent kippen zwischen Nichtigkeiten und Glanzpunkten. Das Trauma der Unberechenbarkeit wird umfunktioniert zum Traum der Unerschöpflichkeit.
4. Alles ist heilig und nichts Bekannt ist die Doderersche Maxime, wonach „dem Erzähler nichts heilig" sei, „weil alles" (BG 190). Wo alles etwas Besonderes zu sein imstande ist, da ist die singuläre Besonderheit letztlich nichts Besonderes mehr. Wo alles möglicherweise super ist, dort ist alles auch möglicherweise normal. Bei der Überprüfung historischer Entwicklungen ist Heimito von Doderer wiederum ganz Okkasionalist. „Die Grenze", heißt es in den Dämonen, „wo die nähere persönliche Umgebung eines Menschen aufhört und sozusagen sein Zeitalter schlechthin beginnt, läßt sich nicht genau und generell angeben. Aber es braucht einer nur aus Widerwillen gegen das allzu Gewohnte sein Wirtshaus meiden und weiter weggehen in ein anderes: so hat er zweifellos schon jene Grenze überschritten." (D 138) Und in der Strudlhofstiege raunt Rene Stangeier als Historiker und Okkasionalist von „Veränderungen, welche [...] in die [...] noch nicht zur Katastrophe verhärtete Situation hätten hineinwirken können". „Nein", fährt er fort: „Es gab nie eine europäische Situation, die früher oder später zum Kriege führen mußte. Das sind feierliche Erfindungen von Interessierten [...]. Es gibt nur Sessel, auf denen man zu lange sitzen bleibt, auch Minister-Sessel, oder Zimmer, die man zu früh verläßt, vielleicht nur zehn Minuten zu früh, oder Depeschen, die man zu lang in der Hand behahen hat..." (S 495). In dieser Angelegenheit schreibt Rudolf Helmstetter daher mit gutem Grund von „kontingenztheoretischem Geschichtsdenken" f"
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Rudolf Helmstetter, Das Ornament der Grammatik, a.a.O., S. 269 (Anm. 118).
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5. Alles verletzt die Regeln und nichts Im Hinblick auf den Zufallsepiker Doderer darf man indes, wie ich meine, von total gemischten Kontingenzgefühlen sprechen. Es kommen bei ihm alles entscheidende Zufälle vor und alles entscheidende Willensregungen (Paradebeispiele sind hierfür das Leben des Leonhard Kakabsa, dafür der Tod des Strommeisters Schachl). Es gibt Konstellationen, an denen nichtswürdige Subjekte und alles berührende Fatalitäten beteiligt sind. (Am diffusesten dürften solche Konstellationen im Roman No 7 erscheinen.) Festzuhalten bleibt, noch diesseits des einzelnen Zufalls oder Zusammenfalls von Aktion und Reaktion, das Prinzip der Zufälligkeit ah solcher; festzuhalten bleibt, daß Doderer in den Tangenten wie in der Wiederkehr der Drachen gewiß unterstreicht, daß alles möglich ist und daß es Fälle gibt, die in kein konventionelles System passen - hinzu kommt aber noch, daß die drachen-ähnlichen Fälle selbst abermals keine Regel bilden! So kommt jeder Unterschied von Regel und Ausnahme abhanden. An die Stelle der Differenz rückt „das streng Beispielhafte (Bei-Spiel zu einer nicht festlegbaren Regel) von allem und jedem überhaupt." (TB 441) Und als die „eigentlichste Kunst des Romans" wird später die Fähigkeit genannt, alles als „zugleich trivial und absolut wunderbar" einzuschätzen (R 199: jjioman"). Daher ist es eine maßvolle Übertreibung, wenn derselbe Autor meint, es sei „ganz gleichgültig [...], was man schreibt" und „auch vollends gleichgültig, was man liest" (R210: „Schreiben und Lesen"). Eine maßvolle Übertreibung sind ferner die Sätze der Tangenten: „Es muß alles möglicherweise gewesen sein, was ich erzähle, mehr als das, es muß sicher so gewesen sein" (T 269). Wenn nichts unmöglich ist, dann ist alles unsicher und versicherbar zugleich, und das ist eine denkbar gute Garantie formaler Stimmigkeit. Eine weitere Variation aufs Thema .Alles ist banal und doch auch wieder nichts' findet man im Repertorium unter dem Stichwort „Trivialität"-. „Alles hat zwei Seiten und kehrt sie uns wechselnd zu, wie ein fallendes Blatt: die eine Seite ist ganz trivial - und schon haben wir sie weitaus falsch eingeschätzt! - die andere leuchtend und abgründig: und schon haben wir das vorübergehen lassen und nicht erfaßt, weil wir diesmal gescheiter sein wollten, [...] weil wir es unbedingt vermeiden wollten, der Trivialität ein zweites Mal hereinzufallen." (R 248) Zudem erkennt der Überraschungsstratege Doderer: Es ist, wo nicht sinnvoll, so doch reizvoll, das Unscheinbare auf- und das sogenannte Epochale abzuwerten, und da liegt eine hübsche wahrnehmungspsychologische Begründung nahe: „Nur angesichts des Selbstverständlichen
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kann unser Staunen unendlich bleiben. Dem Besonderen gegenüber staunt man doch einmal zu Ende" (R 235: „Staunen'^. Der Leser will sich ja schließlich lustvoll düpieren lassen. Er weiß, zumal wenn er den religiösen Doderer kennt, daß in dessen CEuvre alles dereguliert sein kann, weil es am Anfang wie am Ende doch in einer gottgefälligen Ordnung aufgeht. Um wieder mit dem Prosaisten zu sprechen: „Der Mut zur Ordnung ist der Mut zum Chaos" (R 175: „Ordnung - der Mut zu ihr").
6. Alles & nichts & die Sprache Den Transfer vom Chaos zur Ordnung übernimmt die Sprache. Auch in dieser Hinsicht läßt sich auf die Konjunktion .alles und nichts' verweisen. Zum einen ist Artikulation für Doderer alles, Kommunikation jedoch nichts. Die Prämisse ist klar: „Wer restlos appercipiert, will nichts mehr mitteilen." (R 158: Jüitteilung") Die Folge ist das Bemühen, den bescheidensten Gestalten mit dem behutsamsten Vokabular nachzuspüren: die Sprache soll aus jeglichem Konkurrenzverhältnis zur Wirklichkeit herausgehalten werden. Poetische Suggestion: Ja! Prosaische Sensation: Nein! So bekommt Sprache etwas im Doppelsinn Beschwörendes: alles wird beschwörerisch evoziert, alles wird beschwörerisch gebannt, domestiziert. Sprache benennt nach Dodererschem Verständnis - je subtiler, desto besser - alle nur erdenklichen Nuancen, sie zeigt die entlegensten Unterschiede, zeigt, daß alles ein wenig anders ist - und doch nichts wirklich neu. Für den Erzähler gibt es ja nichts wahrhaftig Neues unter der Sonne. „Das vorschreitende Leben bringt das Neue hervor wie eine Enthüllung oder Entdeckung, nicht, als käme etwas hinzu: es wird nur alles deklariert" (CI 356). „Die Sprache des Schriftstellers schwebt" weniger „über einer neugeschaffenen Welt von Tatsachen" als vielmehr über einer Welt „von neu entdeckten Tatsachen, ent-deckelt durch die Sprache" (CI 160). Stehende Bewegung, die Weh als Wille und Wasserfall. Das heißt freilich, daß all das, was bei sprachloser Betrachtung unvergleichlich erscheinen mag, als Versprachlichtes notgedrungen vermittelt und vergleichbar ist: wieder sind wir beim Ubergang vom Wunderbaren zum Trivialen. Das vorsprachlich Unglaubliche ist mit der sprachlichen Beglaubigung eben nichts Besonderes mehr. Es gilt die Erkenntnis, daß die „bannende Macht der Vergleichbarkeit [...] allein die Dinge bewältigen kann" (S 181). Und der Umstand, daß die genaue Benennung für den Schriftsteller eine unausweichliche und unerbittliche Aufgabe darstellt, der Vorgang der Ergänzung oder Ganzheitsstiftung durch Sprache erinnert an den
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Grundsatz: Alles, was komplett ist, ist unkompliziert; nichts, was kompliziert ist, ist komplett. Mit Doderer zu sprechen: „Ganze Sachen sind immer einfach [...]. Nur die halben Sachen sind kompUziert." (R 91: „Ganz und Halb") Bei halben Sachen, rebus imperfectis, da sind so viele Dinge noch unklar; ist die Sache ganz, ist die Menschwerdung vollzogen, ist das Grab der Jahre ausgehoben, jedenfalls: rebus perfectis, so ist die Sache auch ganz klar und, zumindest dem auktorialen Anspruch nach, ganz klar benannt. Jetzt ist alles wirklich - und nichts mehr möglich. „Jeder wirkliche Entschluß tötet eine Möglichkeit", schreibt Doderer (R 67: „Entschluss"), und welcher Entschluß könnte für den Prosaisten wirklicher und wirklichkeitsstiftender sein als ein sprachlich fixierter Entschluß! Alles mögliche/Mögliche geht in die Sprache ein, alles mögliche/Mögliche geht in der Sprache ein. Alle Möglichkeiten werden als solche durch die Sprache zugrunde gerichtet. Von Möglichkeiten, „die nur kurz uns angeschienen haben und dadurch unsere reizendsten geblieben sind", von solchen Möglichkeiten ist etwa in den Dämonen (D 75) die Rede: das steht gewiß für ein antinomisches Begreifen von Glück und Dauer, es steht aber auch für ein polares Verständnis von Freiheit versus Sprachlichkeit. Bezeichnenderweise liest man in den „Commentarü" von 1934 einmal von der „still kommenden besten Möglichkeit, die [...] sichtbar wird als ein zarter Ruf ohne Laut" (TB 625). Und bezeichnenderweise (re-)konstruieren die Dodererschen Erzählpläne immer wieder, teils manisch, teils melancholisch, den Umsprung von der vorsprachlichen Freiheit zur grammatischen Bindung. Als Konservativer ohne Utopien, ohne Visionen, als empirisch Konservativer (heute ließe sich sagen: als eine Art aussitzungsbewegter CDU-Konservativer) zieht Heimito von Doderer sich auf einen elementaren Anspruch zurück: einfach zu zeigen, wie alles so hat kommen können, wie es gekommen ist, wie alle Möglichkeiten zu nichts als einer Wirklichkeit sich verjüngt haben. Und so kreisen seine Erzählpläne jedesmal aufs neue um den Moment, da ein namenloses Glück im Namen der Sprache aufgegangen, oder aber (meist) untergegangen ist. Am Ende ist es ja doch die Grammatik, die alles gibt. Geschenkt wird dabei nichts. Schon am Beginn eines frühen Divertimento heißt es: „[...] da wächst [...] das Namhafte, namentliche Gerüst eines Lebens, und in diesem Wachsen steht eine Süßigkeit auf, die fast erdrückend ist". Vor solchem Druck lagen „erhelltere, flüssigere" Jahre, die seligen Jahre, die „noch [...] oft geändert, gewendet" bekommen, „was sie schon als Namen für immer fast haben sollten" (E 42). Mitten in den Dämonen erhebt sich der Wunsch, zurückkriechen zu
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können „in die Zeit, welche vor alledem gewesen war". Vor alledem war eine „schräge Sonnenbahn, die sich [...] auf die Wiese vor meinen Fenstern stützte". Vor alledem war ein „hohes Einfahrtsgitter mit Fliederbüschen und einem dahinter seitwärts sich wegwendenden Parkweg". Vor alledem war „leerer, feucht spiegelnder Asphalt der Straßen". Vor alledem war „der intakte Duft einer heileren Welt" (D 480). In alledem werden all die frivolen und vor allem all die furchtbaren Ereignisse liegen, die in dem Maß benennbar werden, in dem sie nicht mehr veränderbar sind.
7. Alles ist vorbei, was ist schon dabei Der Erzähler träumt sich zurück in den Dispens von Sprache und Schicksal. Im schmerzlichen Rückblick hinter die Einschläge des (sprachgewaltigen) Fatums leuchtet das namenlose Glück der Freiheit um so heller auf. Es ist eine krebsgängige, inverse, fast perverse, weil insgeheim a priori abgeschlossene Suche nach dem Leben unter der Losung: ,Da war noch alles drin! Da war noch nichts dran!'. Nur als Vergangenheit mag Doderer das darstellen, was im Divertimento No III „zarte Zukunft" heißt (E 72). Für den „nach rückwärts gekehrten Propheten" ( D i l ) ist alles Zukunft - aus der Warte der Vorvergangenheit. Für den nach rückwärts gekehrten Propheten gibt es keine Zukunft aus der Sicht der Gegenwart. Viel eher als dem Satz, wonach alles einen Wert hat, stimmt er dem Satz zu: alles hat(te) einen Preis. Vielleicht aber hält er es auch mit Leibniz' Theodizee, mit der Formel bina venena iuvant, doppeltes Unheil kehrt sich zum Vorteil. Ich denke da an Herrn Brandters Umweg „zwischen zwei Sterbestunden" (U 299), ans stupende Nullsummenspiel zwischen Zwei Lügen in der gleichnamigen antikischen Tragödie auf dem Dorfe (E 375-385). Ich denke ans vorgeblich segensreiche Hin- und Rückspiel des Lebens im Mord den jeder begeht: Hat man unwissentlich ein Verbrechen begangen, so besteht der perfekte Ausgleich darin, nach anstrengenden Ermittlungen zu wissen, daß man ein Verbrechen begangen hat. Und ich denke an das Repertorium (R 193: Jiechts und Links"), in dem das anything goes-/rien ne va /7/«5-Nullsummenspiel folgendermaßen umschrieben wird: „Neugeboren werden zu dem, was immer war: damit sind Konservativität und Revolution, rechts und links [...] überwunden [...]. Damit ist alles noch einmal gegeben; nicht zu unserer Selbstrettung, nicht, daß wir's neu sammelten und ordneten; sondern damit wir's endlich sähen, grad im aufblitzenden Scheine des Verlustes."
GERALD SOMMER
Sündenbock und Prügelknabe. Antisemitismus und Antibochewismus bei Heimito von Doderer
Das Thema dieses Beitrags scheint däfür prädestiniert zu sein, Irritationen auszulösen. Im geringsten Fall gibt der Y>t%r\ii Antihochewismm Anlaß zu der Frage, ob der besagte Ausdruck nicht vielleicht versehentlich zwei Buchstaben in seiner Mitte entbehren müsse - das ist natürlich nicht der Fall, das Zentrum des Wortes bildet zu Recht die wenig schmeichelhafte Bezeichnung der Franzosen für die Deutschen. Von wesentlicher Bedeutung ist indes die Frage, ob man Doderers Aversionen gegenüber Juden und Deutschen, Antisemitismus und Antibochewismus, guten Gewissens miteinander vergleichen und gemeinsam untersuchen könne oder dürfe. Ich meine, man kommt gar nicht umhin, das zu tun, wenn man die Struktur Dodererscher Ressentiments untersuchen möchte. Und nicht nur deren Struktur scheint mir eine gemeinsame Untersuchung zu rechtfertigen, auch die spezifische Form des Dodererschen Antisemitismus' ist für mein Dafürhalten noch keineswegs endgültig geklärt.
Antisemitismus Der Antisemitismus-Vorwurf wurde schon des öfteren gegen Doderer vorgebracht, und er trifft ihn durchaus zu Recht. Doderers Judenbild' war familiär (vgl. z.B. TB 79 und 144) wie gesellschaftlich geprägt von den zu Beginn dieses Jahrhunderts gängigen antisemitischen Klischees und Vorurteilen wie etwa ,jüdischer' Physiognomie, wirtschaftlicher Vgl. Kai Luehrs, Gerald Sommer, „Nach Katharsis verreist. Heimito von Doderer und der Nationalsozialismus", in: Dichtung im Dritten Reichf Zur Literatur in Deutschland 1933 - 1945, hrsg. von Christiane Caemmerer und Walter Delabar, Opladen 1996, S. 53 - 75, hier: S. 56 f.
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Dominanz der Juden (vgl. TB 630) auf der Basis - wie Spengler es nennt - „jüdischen Geld-Denken[s]" (vgl. C I 1 1 4 und 129) oder von der Vorstellung einer sexuellen Allbereitschaft jüdischer Frauen (vgl. TB 583). Entsprechende Wiederholungen dieser Vorurteile finden sich in seinen privaten Aufzeichnungen bis weit in die fünfziger Jahre hinein (vgl. z.B. C I 114, 129 und CII166). Doderers Sichtweise korreliert, wie sich anhand seiner frühen Tagebücher unschwer nachvollziehen läßt, stark mit dem jeweils aktuellen Stand seiner Beziehung zu seiner langjährigen Geliebten (1921 - 1930) und späteren Ehefrau (1930 - 1938), der Jüdin Gusti Hasterlik. Je nach Gefühlslage tendierte Doderer stärker zu antisemitischen oder zu philosemitischen Auffassungen, wobei sexualisierter Philosemitismus, ideologisierter Antisemitismus, das Judentum als Chiffre der Unbürgerlichkeit und - gleichzeitig - als Verkörperung eines kapitalistischen Bürgertums, aber auch private Auseinandersetzungen mit seiner Geliebten sowie seine eigene prekäre wirtschaftliche Situation sich miteinander in unterschiedlicher Gewichtung verbanden. Ungeachtet wiederholter kollektiver Abwertung der Juden exponiert sich Doderer in Einzelfällen als Philosemit: Durch Zufall kamen wir auf Mechner - der war für sie [die Braut Immo von Doderers] einfach „ein schrecklich kleiner Jud'". Ich deutete ihr etwas von Scheuklappen an und teilte mit, dass ich diesen selben M.[echner] in Russland in Situationen gesehen habe, die geeignet sind, das Wesentliche am Charakter eines Menschen aufzuzeigen; und dass jener kleine Mann, der so wenig reputabel aussieht, dabei besser abgeschnitten habe, als dies wahrscheinlich bei einer Reihe von durchaus repräsentativen Personen der Fall gewesen wäre. Ich deutete auf's Wesentliche, auf den Menschen. (TB 139)
Eine Parteinahme, die nur wenig zu überraschen vermag - folgt sie doch dem bekannten Muster, einzelne Mitglieder einer Gruppe bei gleichzeitiger sozialer Ausgrenzung der Gruppe gesellschaftlich zu akzeptieren (vgl. z.B. TB 63 und 84). Man sollte sich jedoch von dieser und anderen Ausnahmen nicht allzusehr beeindrucken lassen. Eine antisemitische Grundtendenz war und blieb für Doderer zeitlebens bestimmend.^ Nicht umsonst plante Doderer mit den Dämonen der Ostmark einen Roman mit offen „antisemitische[r] Grundanlage".^ Deren „wesentlichefsj Thema" war - so Doderer - „die Zerlegung der Gesellschaft durch die Entscheidung jenes [...] Komplexes, den man gemeinhin mit dem Vgl. Gerald Sommer, Vom „Sinn aller Metaphorie". Zur Funktion komplexer Bildgestaltungen in Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege" - dargestellt anhand einer Interpretation der Entwicklung der Figuren Mary K. und Melzer, Frankfurt a.M.[etc.] 1994, S. 171 - 180. Kai Luehrs, „Das ausgefallene Zentrum der Dämonen. Heimito von Doderers Studien I - III zu den Dämonen der Ostmark", in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 36 (1995), S. 243 - 276, hier: S. 245.
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Worte Judenfrage zu bezeichnen pflegt", und am Ende des dritten Bandes sollten sich „zwei völlig wesensfremde Fronten geschlossen einander gegenüber[stehen]".'' Gewissermaßen ein literarischer Testfall für Apartheid, gemildert lediglich dadurch, daß - wie Reininger feststellt diese nicht vornehmlich rassischen, sondern „geistige[n] und moralische[n] Ordnungsprinzipien"^ folgen sollte. Diese Ordnungsprinzipien und - als deren Basis - Doderers ursprünglich eher von antisemitischen Konventionen geprägter „Begriff des Judentums" wurden ganz wesentlich von den Thesen Otto Weiningers beeinflußt,^ der das Judentum in Geschlecht und Charakter nicht etwa als „Rasse" oder „Volk", sondern als „ G e i s t e s r i c h t u n g " definiert hatte, als „psychische K o n s t i t u t i o n [...], w e l c h e für alle M e n s c h e n eine Möglichkeit b i l d e t , und im h i s t o r i s c h e n J u d e n t u m b l o ß die grandioseste Verwirklichung ^einnAen hat."^ Alle Untersuchungen, die sich mit Doderers Antisemitismus auseinandersetzen, tun dies zwangsläufig vor dem Hintergrund des Holocaust. Daß Antisemitismus, bevor er im Dritten Reich zur Staatsdoktrin erhoben wurde, in weiten Teilen Europas eine gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweise darstellte, ist ein Umstand, der für uns nach Auschwitz kaum noch nachvollziehbar erscheint. Diesen Umstand zu berücksichtigen, scheint mir indes notwendig, weil allein dadurch die Basis, auf welcher der Autor der Dämonen der Ostmark noch bis ins Jahr 1940 hinein schreiben und agieren konnte, vorstellbar wird. Ich erwähne das nicht, um Doderers Auffassungen in irgendeiner Weise zu relativieren oder gar zu verharmlosen, im Gegenteil: Gedankengänge, wie er sie artikuliert, dürften wohl mit zu den Voraussetzungen gezählt haben, die Antisemiten in „willige Vollstrecker" verwandeln konnten. Antisemitismus ist heute eine Randerscheinung, die ihre Exponenten, kaum daß sie sich dazu bekannt haben, auch schon ins gesellschaftliche Abseits stellt. Doderer indes agierte vor einem gänzlich anderen Hintergrund, und Sanktionen irgendwelcher Art hatte er nicht zu erwarten - weder in Deutschland noch in Osterreich. Als geradezu skandalös erscheint denn auch aus heutiger Sicht die fiktionale Ausformung gesell4
Heimito von Doderer, „Aide-memoire zu ,Die Dämonen der Ostmark'", zit. nach Elizabeth C. Hesson, Twentieth Century Odyssey. A study of Heimito von Doderer's Die Dämonen, Columbia 1992, S. 102 - 115, hier: S. 108.
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Anton Reininger, Die Erlösung des Bürgers. Eine ideologiekritische Studie zum Werk Heimito von Doderers, Bonn 1975, S. 51. Vgl. Anton Reininger, Die Erlösung des Bürgers, a.a.O., S. 5 0 - 53. O t t o Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, 18., unveränd. Aufl. Wien u. Leipzig 1919, S. 412. (Der Fettdruck im Original erscheint hier kursiv, die Sperrungen entsprechen dem Original.)
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schaftlicher ReaHtät, die sich in einer 1940 für das Diäwonew-Kapitel „Auf offener Strecke" geschriebenen Textpassage abzeichnet: Er [Geza von Orkay] ärgert sich, wenn er zu viel Israeliten sieht, weil das für einen Ungarn sich einfach gehört, und vergisst es wieder, wenn es ihm nicht mehr auffällt. Das kann zum Tolerieren führen oder zum Pogromisieren, je nachdem, beides unverbindlich, weil es nicht erheblich ist, weil man sich damit nicht quält.'
Im Zuge seiner Revision des vorliegenden Textmaterials, 1952, hat Doderer diese Passage getilgt. Ihm dürfte zweifellos klar gewesen sein, daß es nach dem vorangegangenen Massenmord keinen Platz mehr gab für ein ,unverbindliches, weil nicht erhebliches' Gesellschaftsspiel namens Antisemitismus. Den Opfern wie den Uberlebenden gegenüber hätte das nurmehr höhnisch gewirkt und das angezielte Lesepublikum hätte den Passus und die dahinterstehende Realität zwar noch verstehen aber gewiß nicht mehr honorieren können. Seine Uberarbeitungs-Maxime, die „antisemitischen Komplexe" einzelner Figuren der Dämonen zu „Objekte[n] der Darstellung" (CI67) zu machen, und damit via Perspektivenwechsel auf die „faschistisch inklinierten"' Dämonen der Ostmark kurzerhand eine Faschismuskritik aus konservativer Sicht draufzusatteln, schien - und erwies sich dann auch - als erfolgversprechendere Politik. Reiningers Resümee, daß Doderers Antisemitismus sich in der Formel einer „Projektion alles Negativen auf das Judentum"'" fassen lasse, kann ich indes in dieser Form nicht zustimmen. Seiner Schlußfolgerung soll zwar per se nicht widersprochen werden, dennoch gilt es, sie zu präzisieren und zu erweitern, sofern sie für die hier relevante komplexere Situation ihre Gültigkeit bewahren soll. Inwiefern sie komplexer ist, zeigt der folgende Ausschnitt aus einer Tagebucheintragung vom 19. Dezember 1944: Erstirbt das unbewußte Denken, der Träger des Schicksals, der persönlichen Kontinuität und des Gedächtnisses, dann kann es zu einer innigen Durchdringung zwischen uns und der Objektswelt nicht mehr kommen [...]. (T 265)
Daß die politische Brisanz dieser philosophischen Einlassung Niemandem aufgeht, ist nicht weiter erstaunlich, denn sie wurde gezielt entschärft, wenn auch erst in den Druckfahnen der Tangenten und nachweislich auf Initiative von Doderers Lektor Horst Wiemer. Der pikante Passus, der hier zwischen „Erstirbt das unbewußte Denken," und „der 8
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Heimito von Doderer, Ser. n. 14.184 der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) (Roman-Studien IV („Dämonen") [ / ] 1940 [ / ] ^uf offener Strecke'^, fol. 10. [Textanschluß: D 481: „Warum sagten Sie, Herr Hofrat".] Kai Luehrs, Gerald Sommer, „Nach Katharsis verreist", a.a.O., S. 54. Anton Reininger, Die Erlösung des Bürgers, a.a.O., S. 51.
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Träger des Schicksals" getilgt wurde, lautet: „(wie bei den heutigen Deutschen und Juden vielfach zu beobachten)"." Zweifellos und zu Recht hätte dieser Nebensatz, der Deutsche und Juden, Täter und Opfer in ungebührlicher Weise miteinander verbindet, wäre er nicht gestrichen worden, entrüstete Reaktionen auf eine außerordentliche Geschmacklosigkeit provoziert. Gleichwohl möchte ich auf zwei andere Punkte hinweisen: Zum einen beginnt die Reiningersche Projektionsfläche nach diesem gemeinsamen Auftritt von Sündenbock und Prügelknabe diffus zu werden. Zum anderen markiert dieses Zitat eine Trendwende, denn in den Tangenten beginnt nun die Hätz auf die bösen Deutschen, die boches.
Antibochewismus Den Begriff „Bochewismus" verwendet Doderer erstmals angesichts des „deutschen Phänomens dienstlicher Einpuppung und Einspinnung innerhalb der Kriegsgefangenschaft" (T 324 f.) in Norwegen, das durch das Zugeständnis zur autonomen Regelung der inneren Angelegenheiten noch gefördert wird: Schon sind neue Dienststellen entstanden, ja es werden ,Einheiten' aufgestellt und von .Führern' übernommen! Quousque tandem? Wann werd' ich all diesen Bochewismus (wie Gütersloh sagt) endlich aus den Augen haben? (T 325, s.a. 413)
Man könnte sich die Sache leicht machen und erklären, daß man am Beispiel Doderer den Initialpunkt einer spezifisch österreichischen Vergangenheitsbewältigung studieren könne, der polarisierend die Österreicher zu Opfern und die Deutschen zu Tätern verallgemeinert. Man könnte damit durchaus Erfolg haben und in den Tangenten Belege dafür finden, etwa daß die Deutschen als „Volk der Richter und Henker" (T 413) per se von „Inhumanität" (T 260) gekennzeichnet, „notwendig anti-christlich" (T 282) und überhaupt „schrecklich", weil „unansprechbar" (T 355) seien oder daß sie „kommissig" (T 390) in ihrer Lebensart, schon bei der Erwähnung von „,Atom-Bomben'" „Vemichtungsgenüsse" (T 364) empfänden. Man könnte zur endgültigen Erledigung den aus den Tangenten getilgten Teil der Dodererschen Definition von „Militarismus" nachlie11
Heimito von Doderer, Ser. n. 14.351 (Druckfahnen zu Tangenten (korrigiertes Autorenexemplar), fol. 214 [ = T 265]. (Ebenfalls konsultiert wurden das korrigierte Druckereiexemplar und das korrigierte Lektorenexemplar Horst Wiemers, beide ohne Signatur im Doderer-Archiv des Instituts für Germanistik der Universität Wien.)
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fern: „Karl Kraus sagt einmal von den Wiener Juden, sie redeten von Beethoven und meinten die Börs'. Hier hat ihm mehr die Assonanz als die Wahrheit die Feder geführt. Aber die Deutschen, wenn sie von Goethe reden, meinen wirklich Gewehrgriffe.'"^ Die in beiden längeren Zitaten von Doderer geübte Sprachkritik" im ersten Zitat wird nicht etwa die mit der Regelung der inneren Angelegenheiten gestattete Fortsetzung der deutschen Militärjustiz vermerkt, sondern die Kontinuität des Jargons, die sich in Begriffen wie „Dienststellen", „,Einheiten"' oder „,Führer'" manifestiert; im zweiten versucht sich Doderer an einer Steigerung der Krausschen Kulturkritik und behauptet die Pervertierung der deutschen Sprache am Beispiel eines ihrer Exponenten - seine Sprachkritik also legt nahe, daß eine bloße Reduktion der Dodererschen Invektiven auf das Modell österreichischer Vergangenheitsbewältigung zu kurz greifen und Wesentliches außer Acht lassen könnte.
Ergriffenheit Die Notwendigkeit zu einem Exkurs über die als antiquiert und ,tränenrührig' geltende „Ergriffenheit" wird vielleicht nicht sofon einleuchten; eine Analyse gerade dieses Begriffs ist jedoch von grundlegender Bedeutung für den gesamten im Titel genannten Komplex. Indem nämlich Doderer erklärt, „Deutschen und Juden" sei das „unbewußte Denken" verloren gegangen, spricht er ihnen zugleich auch die Fähigkeit zu „inniger Durchdringung" von Person und „Objektswelt" (T 265) ab. Diese Aussage wäre auch dann im Sinne Doderers und überdies terminologisch korrekt, wenn man an die Stelle von „inniger Durchdringung" Ergriffenheit setzen würde, da er beides als produktive Verbindungen zwischen Innen- und Außenwelt und damit als synonym angesehen hätte. Zweifellos, die Ergriffenheit ist kein prominenter Begriff weder in Doderers Philosophie noch in seinem (Euvre. Daß sie letztlich nicht dazu wurde, ist indes weniger auf ihre geringe Relevanz als auf ihre Er12 13
Heimito von Doderer, Ser. n. 14.351 (Druckfahnen zu Tangenten}, fol. 313 [ = T 390 nach „Holofernes zu reden."]. Zu Bochewismus und Sprachkritik vgl. Elisabeth Kato, „Vom Ruass und von den Bochewisten. Doderer, der Dialekt und die Dialektsprecher", in: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergehnisse (4., 5. Oktober 1986 Prein/Rax, NO), hrsg. von der Niederösterreich-Gesellschaft für Kunst und Kultur. Wien o.J. [1988], S. 42 - 49, hier: S. 42 f.
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Setzung durch einen in wesentlichen Teilen mit ihr übereinstimmenden Begriff zurückzuführen, der bei Doderer selbst wie bei seinen Interpreten sehr viel leichter zu reüssieren vermochte. Kurz: ein Begriff ohne Fortüne und ohne - und hierin dürfte ein Grund für sein Scheitern liegen - ohne große philosophische Tradition. Zunächst verwendet Doderer ergreifen und ergriffen werden in ihren konventionellen Bedeutungen. Gleichwohl sind beide Verben von Anfang an in signifikanter Weise lebensphilosophisch aufgeladen: Es war die Angst, ! am Lehen vorbeizukommen, davon ! abgeschnürt zu werden ! - da schien es mir hesser [...] einfach zu ergreifen wonach mich verlangte, nicht in die immer schiefe Pose des Verzichters um höherer Aufgaben willen zu geraten [...]. (TB 155) Damit beginne ich dieses Jahr, in der Gegenwart lebend, auf's Wesentliche gerichtet, durch die Tat ergreifend [...]. (TB 169)
In den Jahren 1923/24 soll das Leben noch auf zupackende Art gemeistert werden, und damit im strikten Widerspruch zum 1948 aufgestellten Axiom: „Nie nehmen wollen, was nur hinzu gegeben werden kann." (T 594) Zu einer Lebensphase wächst sich das zupackende „Ergreifen" indes nicht aus. Schon bald bewertet Doderer das „Ergriffen-Werden" resp. das „Ergriffen-Sein" an sich und speziell seiner Person als wesentlich erstrebenswerter. So scheint es ihm in gewisser Weise selbstverständlich, von „Erinnerung" (TB 245), Katharsis (vgl. TB 771) oder der „zeitliche[n] und ... fleischliclie[n] Anwesenheit" (TB 356) einer Person (i.e. Gütersloh) ergriffen zu werden, oder-wie er in einer weiteren Tagebuchnotiz betont - daß sich unter den Zuhörern seiner Divertimenti „auch einmal der begabte Regisseur" befinde, „den diese Dichtung ergreift und [zu einer Verfilmung] anregt" (TB 346). Dem entspricht auch die Verwendung des Begriffs in der erzählenden Prosa: so „ergriff es Jan plötzlich wie eine Faust aus innen: sein Elend und Einsamsein richteten sich mit eins überraschend empor, standen, waren ein Halt" (FP 139) bzw. es „ergriff ihn ein Anblick"''*, der Tanzbewegung eines Liebespaares nämlich, „die ihr Gefühl überraschend und ergreifend bloßlegte, in rätselhafter Weise, da doch die Haltung in nichts von der üblichen Art abwich?" (FP 142) Oder Sascha Alexejwitsch Slobedeff verfällt während seines ersten Gesprächs mit Jan Herzka plötzlich in einen Zustand der Ergriffenheit, der seinen „Blick [...] seltsam scharf und abwesend zugleich" (FP 170) erscheinen läßt. 14
Vgl. dazu auch E 441: „Herr Ruy atmete tief. Als ergriffe den Heimgekehrten der Anblick vertrauten Hügelschwunges, so ihn, was er dort über dem Felsen sah. Er breitete die Arme aus, [...] Seine Lippen öffneten sich, und nun geschah, was Herr Gamuret schon am Hofe von Montefal klug bemerkt hatte: der freie Herr von Fanez wußte manchmal Verse."
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Julius Zihal wird dagegen - was Wunder - vom „Jagdfieber" (EF 35) ergriffen, aber auch von „äußerste[r] Angst" (EF 140). Ebenfalls in den Erleuchteten Fenstern beschreibt Doderer zum ersten Mal die schmerzhaft empfundene Unfähigkeit, etwas nicht ergreifen zu können, sei es nun ein Gedanke (vgl. EF 61 f.) oder seien es unscheinbare aber „hartnäckige Kräfte" (EF 87). Bis zu diesem Punkt ist Doderers Hochschätzung des psychischen Phänomens der „Ergriffenheit" nicht weiter ungewöhnlich, es sei denn, man störte sich an dessen zeitverhafteter Benennung, die heute leicht pathetisch und ein wenig verkitscht anmutet. Mitte der 30er Jahre baut Doderer jedoch das bisherige Phänomen mit ungeschriebener Theorie zu einer regelrechten Theorie der Ergriffenheit aus, die er in enge Beziehung zu anderen für ihn zentralen Begriffen wie Sprache'^ und Wirklichkeit'^ setzt. Der „geminderte Wirklichkeitsgrad unserer Zeit" - so Doderer im August 1936 - zeige sich „an der vornehmsten Brücke zwischen »Inwärts' und ,Aussen': an der Sprache", und „zwar sowohl vom Sprechenden oder Schreibenden, wie vom Hörenden oder Lesenden her gesehen". Geprägt von Krausscher Sprachkritik, eigenem Elitebewußtsein und orientiert an der Entwicklungsmetapher von Aufstieg und Fall, beschreibt Doderer die kulturell höchste Entwicklung von „Sprache" als aus dem „Urgestein [...] herausmodelliert[e] [...] Gipfel", die nur erreichen konnte, wer „auch mit seiner Person den Aufstieg nicht scheute." Die „mit Rotationsdruck, Zeitungen und Rundfunk" einsetzende „Erosion" habe diese Gipfel als unverbundenen Sprach-„Schutt" zu Tal befördert, in welcher Form sie von „literarischen oder journalistischen Touristen" bequem zu verwenden seien: „Nicht mehr wurde die Sprache aus Ergriffenheit hervorgebracht, nicht mehr aus Ergriffenheit aufgenommen. Sie verlor ihren verbindlichen, ihren Wirklichkeits-schaffenden Grundzug." (TB 840) Der allgemeine Gebrauch dieser sprachlichen Versatzstücke habe Pathos und Feierlichkeit profaniert, was wiederum zu „Gewöhnung, Ermüdung und Abstumpfung" gegenüber den inflationär auftretenden „pathetischen Wurfgeschosse[n]" geführt habe. Nach dem Verlust von Sprache und Ergriffenheit seien an Stelle der „festen Brücke der Wirklichkeit [...] bequeme Laufstege kürzester Art" (TB 840) zwischen den vereinzelten Punkten der Außenwelt entstanden, die eine Erkenntnis 15 16
Vgl. im folgenden sowie TB 797 (Eintragung vom 30. Juni 1936) und 876 (Eintragung vom 11. November 1936). Vgl. im folgenden sowie TB 957 (Eintragung vom 15. März 1937).
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des G a n z e n nicht m e h r erlaubten. Allein der „spirituelle M e n s c h " ^^ sei jetzt n o c h befähigt, Sprache ( h e r v o r z u b r i n g e n ' o d e r z u
.empfangen'
resp. aus seiner „Ergriffenheit" ( T B 8 4 1 ) heraus, W i r k l i c h k e i t z u schauen. K a u m ein J a h r später beschreibt D o d e r e r Ergriffenheit ausdrücklich als Basis der Sprache: Ich stelle hiemit fest: dass ich es ablehne zu glauben, es könne jemand von dem Inhalte eines Gedankens ergriffen sein, ohne damit auch gleich die jeweils zuständige, also eigenständige, also vortrefflichste sprachliche Ausdrucksform zu gewinnen. Wer in einer übernommenen Weise und flach schreibt, der hat auch in einer übernommenen Weise und flach gedacht, also nichts Neues, also garnicht. [Wem es] [...] nicht auf die Sprache und deren Form an[kommt], [...] weiss weder was innen und aussen, noch was ein Gedanke und dessen Ausdruck [...] ist. Das oben Gesagte ist von nun an für mich kriteriell. (TB 1004 f., s.a. 1095)
Definitionen P r o b l e m a t i s c h ist hier weniger die T h e o r i e b i l d u n g auf der Basis einer subjektiven E m p f i n d u n g als v i e l m e h r deren Kriteriellwerden.
Indem
D o d e r e r Ergriffenheit, genauer das v e r m u t e t e T a l e n t z u r Ergriffenheit, als M a ß s t a b für eine Beurteilung v o n Individuen o d e r G r u p p e n geb r a u c h t , entzieht er einer objektivierbaren B e w e r t u n g jede G r u n d l a g e u n d instrumentalisiert zugleich den selbst aufgestellten Begriff der E r griffenheit: Von dem Terminus der „Ergriffenheit" oder „Nicht-Ergriffenheit" ausgehend, kann man zu mancherlei Definitionen gelangen. Etwa: Juden sind die Nachkommen jener Leute, die bei unmittelbarer Nähe des Gottes-Sohnes im Stande der Nicht-Ergriffenheit zu verharren fähig waren und also darin verharrten. Die Zivilisation als solche ist, besonders die technisierte, die Consolidierung der „Nicht-Ergriffenheit" schlechthin. Das psychologische Korrelat der „Nicht-Ergriffenheit" ist die Frechheit. Mit ihr ist logischerweise das jüdische Antlitz gezeichnet. [...] Auch in andere Gebiete kann von der „Ergriffenheit" und „Nicht-Ergriffenheit" aus definierend eingetreten werden. (TB 719 f., Eintragung vom 21. Juni 1935) Z u den „Gebieten", die D o d e r e r einige J a h r e später, 1944, v o n der „ N i c h t E r g r i f f e n h e i t " aus z u definieren v e r s u c h t , zählen a u c h die D e u t s c h e n , genauer die G r ü n d e , w a r u m sie gerechterweise z u hassen seien: Deutschenhaß, seine Ursachen • Das auch ist es - nämlich die Abgestorbenheit des unbewußten Denkens - was den Kulturbetrieb der neueren Deutschen so widerwärtig macht: diese wohlmeinende Zustimmung aus der Helle des Bewußtseins, dieser optimistische Besitzer-Ton in Bezug auf die sogenannten Kulturgüter, diese wenende Auf17
Zu Doderers Begriff und Verhältnis zur Spiritualität vgl. TB 127, 142, 590, 603, 612, 613, 784, 814, 834, 845 ff., 869, 893, 953 ff., 985, 1028 f., 1035, 1038, 1052, 1069, 1125, 1153, 1162, 1190, 1205, 1241, 1248.
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Gerald Sommer fassung und Konstatierung, welche den Geist eben doch auch für was recht Nützliches hält, diese Aufgeschlossenheit ohne Ergriffenheit oder Erschütterung, der selbe befremdliche Eindruck [...][wie] das korrekt inventarisierte Nichts... (T 261 f.)
Ein Vergleich der bisher zitierten, Juden resp. Deutsche herabsetzenden Textpassagen ergibt zwei Ubereinstimmungen: „Abgestorbenheit des unbewußten Denkens" und „Nicht-Ergriffenheit". Hinzu kommen noch zwei weitere Vorhahungen aus Doderers ressentimentalen Fundus, die sich ebenfalls gegen beide Gruppen richten. Diese finden sich in einer bisher unpublizierten und unbetitelten Rede über das Judentum,^® die - wie eine darin enthaltene Anspielung auf die »Nürnberger Gesetze' nahelegt'' - vermutlich 1936 geschrieben wurde. Darin heißt es, in Analogie zum „korrekt inventarisierte[n] Nichts": Von ihr [der Ergriffenheit]^" ist der Jude frei. Seine entschiedene [...] Rolle und Mission ist, den Ergriffenen aller Grade die kalte Prüfung des fleischgewordenen Nichts entgegenzuhalten. Diese Mission wird heute allerdings [...] schon von vielen erfüllt, die keinen Tropfen jüdischen Blutes in den Adern haben. Es erhebt sich auf unserem Wege hier die merkwürdige Frage: wie wird man Jude?^'
Die Antwort folgt im Zusammenhang mit der Entsprechung der oben anzitierten „Helle des Bewußtseins":^^ Wer nämlich, welcher Schicksalsgemeinschaft immer angehörend, in deren entscheidendem Stadium den profunden Stoss nicht spürt, welcher da erfolgt, [...] wer hell und geordnet bleibt, wo nur Dumpfheit und Erschütterung ist: ein solcher ist, sei er wer er wolle, seiner Schicksalsgmeinschaft gegenüber - Jude."'
Was läßt sich nun aus einem solchen Sammelsurium diskriminierender Unterstellungen ableiten? Mit Sicherheit ein fruchtbarer Einfluß Otto Weiningers, der mit seiner Definition des Judentums als „Geistesrichtung" sozusagen das Thema für eine Vielzahl Dodererscher Variationen vorgegeben hat, nur eben mit dem Unterschied, daß Doderer eine Geistesrichtung, die der Nicht-Ergriffenheit nämlich, per se als negativ qualifiziert, um sie abwechselnd von Juden oder Deutschen verkörpern zu lassen. Die nunmehr zweiseitige Reiningersche Projektionsfläche bedarf
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Heimito von Doderer, Ser. n. 14.311 (Beilage) (Unbetitelte Rede über das Judentum). Vgl. ebd., fol. 1: die „Tatsache [...], dass es [...] im Deutschen Reich, heute eine ,Judenfrage' nicht mehr gibt. Der nach aussen gerichtete Gebrauch welcher von der Erkenntnis des Judentums zu machen war, ist dort längst gesetzlich festgelegt." Vgl. ebd., fol. 4: „[...] gerann das jüdische Antlitz [...] zum wirklichen und deutlichsten Sinnbild der Nichtergriffenheit: zur Frechheit." . Vgl. ebd., fol. 3. Zur „Helligkeit des Bewußtseins" vgl. auch S 37, 631 und bes. S 684 f., 689 und 700. Heimito von Doderer, Ser. n. 14.311 (Beilage) (Unbetitelte Rede über das Judentum), fol. 4.
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demnach einer Erweiterung hinsichtlich der boches, um als Aussage weiterhin Gültigkeit beanspruchen zu können.
Apperzeption Um auch die letzten Bezüge herzustellen, gilt es nun, die bereits zitierte Tagebucheintragung vom 19. Dezember 1944 ein zweites Mal zu komplettieren und den bisher ausgelassenen Schluß des Satzes nachzuliefern: Erstirbt das unbewußte Denken, der Träger des Schicksals, [(wie bei den heutigen Deutschen und Juden vielfach zu beobachten)] der persönlichen Kontinuität und des Gedächtnisses, dann kann es zu einer innigen Durchdringung zwischen uns und der Objektswelt nicht mehr kommen: weil der Resonanzboden jeder komplexen Apperzeption fehlt. (T 265)
Von der mit „inniger Durchdringung" von Person und „Objektswelt" gleichgesetzten „Ergriffenheit" führt somit ein direkter Weg zu dem zentralen Begriff von Doderers Wirklichkeitsverständnis, der „Apperzeption". Diese, einer „chemischen Verbindung" vergleichbare „existentiell veränderende Wahrnehmung" (T 264 f.), umschrieben auch als „unio chymica zwischen Innen und Außen" gilt Doderer als „die psychische Erscheinungsform der Analogia entis." (T 725) „Sie allein" - so Doderer-verbinde „den Menschen" in „produktiv[er]" Weise „mit der Objektswelt." (T 265) „Ergriffenheit" und „Apperzeption" sind wenig mehr als unterschiedliche Bezeichnungen des selben, Sprache und Wirklichkeit definierenden, Dodererschen Ideologems. Oder um es in einer etwas griffigeren Formel zu fassen: Apperzeption ist gleich Ergriffenheit plus Analogia entis. Eine entwicklungsgeschichtliche Analyse des Ideologems könnte Ergriffenheit als ein durch Antipathien und Vorurteile belastetes und also diskreditiertes Frühstadium beschreiben und die Apperzeption als auf die philosophische Tradition der Scholastik gestütztes und theoretisch perfektioniertes Funktions-Modell dagegensetzen oder - polemisch gesprochen - als philosophischen Reinerlös Dodererscher Selbstentnazifizierung. Dem steht indes das nur schwer in eine solche Begriffsgenese zu integrierende Faktum entgegen, daß Doderer nachweislich bereits im Jahr 1932 mit der Scholastik vertraut war.^"* 24
Vgl. Heimito von Doderer, Ser. n. 14.178 {„STUDIEN IX. (kleine Prosa, Übungsbuch)"), fol. 28 (Eintragung vom 1. Juli 1932): „in der Zeit nach dem Kriege [...] Das Nichts wurde - aktiv. Es bekam zwar keine Realität im höchsten Sinne [...] Seine Anwälte aber fälschten vor aller Welt einfache Defekte in Tugenden um." - Und fol. 30 (Eintragung vom 1. Juli 1932): „wir sind, scheint es, wirklich dazu gezwungen,
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Auch werkgeschichtlich läßt sich aufgrund eines zeitlich verschobenen Übergangs von der Ergriffenheit zur Apperzeption eine klare Trennlinie zwischen beiden Phasen nicht ziehen. In der Strudlhofstiege, deren Abfassungszeitraum sich im wesentlichen mit der Entstehungszeit der Dodererschen Apperzeptionstheorie deckt, ist, wenn das dahinter stehende Ideologem umschrieben werden soll, stets und teilweise geradezu exemplarisch von Ergriffenheit die Rede.^^ Erst danach erfolgt die Ablösung von Ergriffenheit und Nicht-Ergriffenheit durch Apperzeption und Apperzeptionsverweigerung, die in den Dämonen, den Merowingem und den Wasserfällen von Slunj als Theoriebegriffe offen in die Erzählprosa integriert werden.^' Schluß Was noch fehlt, ist eine Bemerkung zur Spezies der Watschenmänner, will heißen zu Doderers Umgang mit den Österreichern. Die aus den Tangenten bekannten simplen Distanzierungen wie „unsere Landsleute bieten nur zu einem kleinen Teile ein sympathisches Bild" (T 377) oder „daß ich [...] Österreicher bin, ist mir mit einer solchen Fülle widerwärtigster Individuen gemeinsam" (T 324), legen zwar nahe, daß Doderer mit den Österreichern in bekannter Weise verfährt, genügen aber nicht, dies auch nachzuweisen, da er in diesen Passagen nicht die dafür typischen Vorwürfe erhebt. Ein solcher Nachweis gelingt nur mit Hilfe einer Tagebucheintragung, die Doderer im Zuge seiner Redaktion der für die Tangenten vorgesehenen Texte von einer Publikation ausgenommen hat. Erst durch die „unausrottbare österreichische Polizei = Gesinnung", die der „stets gleiche[n] Partei der Unproduktiven" unterstellt wird, „welche den [...] schließlich im Totalismus [sie] offen kriminell gewordenen [österreichischen] Staat durchsetzt [...] hat werden die Österreicher auf eine Stufe mit Juden und Bochewisten gestellt und somit zu Watschenmännern reduziert, denn - eingedenk Doderers These, daß „die Apperzeption [...] kein rein empfangender, sondern ein durchaus produktiver Akt" (T 141) sei^' - ist die „Partei der Unproduktiven"
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in den Kampf einzutreten gegen einen Feind, dem eine Realität im strengsten (.scholastischen') Sinne garnicht eignet." - Zur Beeinflussung Doderers durch die Scholastik bereits in den 30er Jahren vgl. außerdem TB 610, 835, 1007. Vgl. S 117, 679, 690 u. 781. Vgl. D 822, 828, 851, 942 f., 1083, 1159, 1282; Mer 196; WS 101, 316 f., 340, 353. Heimito von Doderer, Ser. n. 14.078 (Grünes Buch), Eintragung vom 14. Juni 1946. Zur Ergriffenheit als „produktiver Akt" vgl. TB 1004 und T 332 f.
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lediglich ein weiteres Synonym für apperzeptionsverweigernde oder „im Stande der Nicht-Ergriffenheit" befindliche Personen. Was bleibt, ist die Feststellung, daß Doderer zur offenbar notwendigen Abfuhr seiner feststehenden Ressentiments jeweils Objekte benötigte, auf welche er diese projizieren konnte. Da die Kontinuität also nicht im Objekt der Verachtung sondern im Verachten selbst liegt, greift Reiningers Formel einer „Projektion alles Negativen auf das Judentum" - ungeachtet der zutreffenden Beschreibung des Grundprinzips - in ihrer Beschränkung auf nur eine Projektionsfläche wesentlich zu kurz. Doderers Projektionsflächen wechseln entsprechend seiner Fähigkeit, potentielle oder echte Gegner auszumachen. Die erkennbaren Verhaltensmuster sind im höchsten Maße banal: Beziehungsprobleme führen zu Antisemitismus, Dienst bei der Wehrmacht zu Antibochewismus und Steuerbescheide zu Antiaustriazismus. U m seinen Ressentiments vor sich selbst den Anschein von Objektivität zu geben, erhalten die diesen zu Grunde liegenden niederen Motive eine Camouflage, zurechtgezimmert aus persönlichem Elitebewußtsein, romantisch überhöhtem Künstlertum und philosophischer Verbrämung. Die Ursache für Doderers Bedürfnis nach Sündenböcken, Prügelknaben oder Watschenmännern liegt wohl in seinem tief empfundenen Gefühl eigener Schwäche und Unterlegenheit begründet.^' Auch Doderer selbst ist das nicht entgangen und so hat er den Mechanismus, den zu erklären mir die vorangegangenen Seiten kaum genügen, ohne weitere Umstände in einem Satz zusammengefaßt: „Jede Schwäche sucht sich selbst zu entgehen, gleichgültig in welches Material." (R 219)
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Vgl. dazu TB 10 f., 56, 64 ff., 103, 113, 132, 172 ff., 244, 251, 262, 267, 278, 308, 322, 355, 357 f., 400, 413, 440 f., 466, 490, 590, 674, 719, 814, 850, 859, 888 ff., 900, 902 ff., 928, 942, 954 f., 957, 965, 979, 999, 1014, 1027, 1039 ff., 1055, 1082 f., 1106 f., 1109, 1121, 1134, 1140, 1144, 1148, 1180, 1186, 1189 f., 1194 f., 1224, 1230, 1240, 1243, 1245, 1249, 1270 sowie speziell zum Antisemitismus C I 118.
KAI LUEHRS
Charakterfehler als Lebensaufgabe. Zur Idee des punctum minimae resistentiae im Werk Heimito von Doderers
Als Heimito von Doderer im Jahre 1958 daran ging, einen vierteiligen Roman nach dem formalen Vorbild von Beethovens A-Dur Symphonie zu schreiben, mag ihm wenig daran gelegen gewesen sein, durch die hierbei entstehende Romantetralogie in eine historische Nähe vierteiliger Werkzyklen zu rücken, die auf musikalischem Gebiet weniger mit dem Namen Beethovens als mit dem Namen Wagners in Verbindung stehen. Die Oper im allgemeinen und Wagners Bühnentetralogie vom Ring des Nibelungen im besonderen hat dem Autor zeit seines Lebens wenig bedeutet. Und dennoch hat nicht nur die vierteilige Anlage von Doderers Roman No 7 eine gewisse Ähnlichkeit mit Wagners monumentalem Hauptwerk. Um beim Abzählen seiner bisher geschriebenen Romane auf die Zahl 7 kommen zu können, muß Doderer den Takt der hier von ihm selbst angezählten Werkgeschichte zumindest später beginnen lassen als möglich. Damit sein Roman No 7 auch tatsächlich als der siebte Roman im Schaffen Doderers gelten kann, muß das Gesamtwerk des Autors von ihm selbst in einer Weise ,bayreuthisiert' werden, die den Autor erneut in eine merkwürdige Nachbarschaft zu Wagner bringt. Liebesverbot, Feen und Rienzi werden in Bayreuth nicht gespielt. Aber auch Jutta Bamberger, Bresche und Geheimnis des Reichs, von den damals verschollenen sibirischen Texten und anderem zu schweigen, gehören im Fall Doderers nicht zum autorisierten Kanon eines auf sieben Romane disponierten Gesamtwerks. Diese Entscheidung gegen die Frühwerke Doderers kann aus zwei Gründen nur wenig erstaunen: Die augenscheinliche, thematische Einheitlichkeit des Gesamtwerks provoziert den Eindruck, daß der Grund des Weiterarbeitens an den nur wenigen Themen garnicht auf inhaltlichem, sondern auf formalem Gebiet zu suchen ist. Und tatsächlich bestätigt Doderers unwillkürliche Neigung, seine jeweils letzten Bücher für die besten zu halten, den Verdacht, die Entstehung seines CEuvres sei
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vom Autor als ein Prozeß der formalen Weiterentwicklung und Perfektionierung begriffen worden, und die Frühwerke stünden von daher ganz natürlich hinter den vollkommener entworfenen und komponierten Werken seit dem Mord den jeder begeht (1936) zurück. Nun ist auf die Bedeutung der frühen Doderer-Texte in den namhaften Doderer-Monographien immer wieder hingewiesen worden. Dennoch entspricht es der angedeuteten Orthodoxie der Werkzählung, wenn die frühen Romane Doderers bis heute verlagstechnisch unter dem Titel Frühe Prosa rubriziert und herausgegeben werden und auf diese Weise gleichsam als ein Vorlauf der eigentlichen Romane erscheinen. Es mag auch auf diesen Umstand zurückzuführen sein, wenn eine Monographie über die frühen Romane Doderers, so über seine erste Prosaveröffentlichung überhaupt {pie Bresche), bis heute auf sich warten läßt. Doderers Anfänge stehen unter einem hartnäckig sich haltenden Vorurteil. Dieses Vorurteil lautet: Expressionismus. Es mag dahingestellt bleiben, Doderers versammelte Romane als Spätausläufer einer literarischen Moderne gegen das hier obwaltende Klischee des Expressionismus grundsätzlich in Schutz zu nehmen. Im momentanen Kontext kommt es lediglich darauf an, daß es einen formal-stilistischen Unterschied zwischen dem angeblich expressionistischen frühen und dem dann wohl nicht mehr expressionistischen späteren Doderer nicht gibt! Nicht nur das Menschheitspathos, die atmosphärische Uberintensität und das Wesensverständnis des Expressionismus geht den frühen ebenso wie den späteren Texten Doderers ab. Auch formale Kennzeichen wie das Stilmittel der Ellipse, die athmosphärische Überzeichnung und Denaturalisierung, der Antipsychologismus usw. lassen sich zumindest in der Bresche keineswegs bestätigen. Dagegen haben wir es mit einem Text zu tun, der sich stilistisch und inhaltlich sowohl mit der auf Intensität der Fabel angelegten Prosa des zum Prager Dichterkreis gezählten Leo Perutz wie mit der zu neusachlicher Verknappung neigenden Prosa Horväths vergleichen läßt. Mit letzterem verbindet Doderer im Fall der Bresche darüber hinaus das Beispiel eines nach dem Stundenumfang der Geschichte berechneten und benannten Vorgangs. Ein Vorgang in vierundzwanzig Stunden: Dieser Untertitel der Bresche versachlicht den Prozeß der Selbstfindung, um welchen es wie in den meisten Büchern Doderers geht, sogar noch weiter als dies im Fall von Horvaths (grandiosem) Roman Sechsunddreißig Stunden zu beobachten ist. Die in thematischer Hinsicht augenscheinliche Einheitlichkeit von Doderers Werk bringt es mit sich, die Konzeptualisierung von Doderers Entwicklungsmodell, das er nicht gleich zu Beginn seines CEuvres auch begrifflich auf den Punkt gebracht hat, aus einem späteren Roman zu
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beziehen. Indem wir es auf den Text der Bresche zurückwenden, haben wir hier die Chance (aber freilich auch die Aufgabe) uns zu fragen, inwieweit die Romane einer konzeptuellen Vereinheitlichung anhand des Bildungs- oder Entwicklungsmodells Doderers nicht doch widerstehen. Wenn wir den - aus dem Roman Ein Mord den jeder begeht entlehnten - Begriff des punctum minimae resistentiae auf die Bresche zurückbeziehen, so steht andererseits doch außer Frage, daß die Entwicklungs- oder Bildungsverhältnisse innerhalb der Bresche zumindest den Anfang einer Motivkette markieren, von dem aus sich alle möglichen Veränderungen beschreiben und mit dem sich diese Veränderungen in einem weiten Sinne auch vereinbaren lassen. Wenn wir das punctum minimae resistentiae, jenen Punkt des geringsten Widerstandes also, der einen Umschlag der Biographie veranlassen kann, weil durch ihn die Notwendigkeit der Apperzeption des Lebens in dieses Leben eintritt, wenn wir also das punctum minimae resistentiae als ein Nadelöhr der individuellen Entwicklung betrachten, so müssen wir zugleich im Mord-Komis^ eine charakteristische Verschiebung des Bildungsvorgangs zugestehen, der mit dem scheinbaren Gang der Sache ganz und gar nicht übereinstimmt. Während nämlich die Geschichte des Afori^-Romans ganz der Entdeckungsreise Conrad Castiletz' angehört, wird die Existenz jenes punctum minimae resistentiae durchaus nicht ihm zugeschrieben, sondern einerseits der Frau Schubert, jener Haushälterin des Herrn von Hohenlocher, durch deren Unglück, Unachtsamkeit und Rausch Conrad Castiletz am Schluß des Romans ums Leben kommt (M 130), und andererseits dem Berliner Zugführer Botulitzky, durch welchen Castiletz die Auflösung des Mordfalles erfährt. Beschrieben wird das punctum minimae resistentiae als ein „vom Schöpfer tief eingebaute[r] absichtliche[r] Konstruktionsfehler" jedes Charakters, der „die größte Gefahr, aber auch die größte Möglichkeit für das Leben des Trägers" repräsentiert (M 130).' Diese Möglichkeit wird so beschrieben, „daß einer nur diese Stelle zu entdecken braucht, um damit auch schon seinen ganzen übrigen Charakter aus den Angeln heben zu können, ihn aufzuheben, und völlig frei zu werden [...]: jeder Charakterfehler eine Lebensaufgabe" (M 130). Unabhängig voneinander bestehen in diesem Entwicklungskonzept offenbar folgende zwei Sachverhalte: die Erkenntnis jener schwachen Stelle im Charakter und der fatale ,Durchbruch' einer solchen Stelle in Form einer Fehlentscheidung, einer zwanghaften Handlungsweise etc. 1
Zum Vergleich mit Peter Altenberg vgl. hier Andrew Barker, „Heimito von Doderer und Peter Altenberg: An Anglo-Saxon approach", in diesem Band, S. 284 ff.
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Das bedeutet: Eine solche Fehlentscheidung kann ohne anschließende Entdeckung des charakterlichen Schwachpunktes erfolgen; die Entdekkung kann aber auch unabhängig von einem ,Durchbruch' der Stelle geschehen, insofern als zur Befreiung, welche Doderer hier inauguriert, theoretisch nur die Entdeckung, aber nicht der Fehltritt gehört. Die Lebensaufgabe des Charakterfehlers könnte sich also auch im Uberspringen des Durchbrechens dieses Fehlers ergeben und nur in Gestalt einer Erkenntnis stattfinden. Die Vermutung liegt nahe, daß Doderer von dieser Möglichkeit, den Erkenntnisprozeß v o m Vorgang des Durchbrechens eines Lebens- und Charakterfehlers loszulösen, in seinen späteren Romanen, in denen er eine Theorie der Apperzeption stärker entwickelte, Gebrauch gemacht hat. Innerhalb des Afon^-Romans werden wir mit Beispielen für ein punctum minimae resistentiae tatsächlich nur zweimal konfrontiert. Im Fall der Schubert bezieht sich der Schwachpunkt ihres Charakters auf die fixe Idee, sich zu verheiraten. Die Erkenntnis dieses Schwachpunktes entgeht ihr, der Untergang der Haushälterin erscheint von daher als beschlossene Sache. Anders im Fall Botulitzky: sein punctum minimae resistentiae besteht in einem - von ihm selbst eingestandenen - Hang zur Angeberei, der ihn im Zugabteil zu jenem Vorzeigen des Kopfskeletts veranlaßt, das den T o d Louisen Veiks und damit den titelgebenden Mord nach sich zieht. Es ist dagegen überaus charakteristisch und von herausragender Bedeutung für den AforJ-Roman als solchen, daß von einem punctum minimae resistentiae, dem offenbar nicht nur die Kraft eines Verhängnisses, sondern auch eines Erlösungsmittels zukommt, im Hinblick auf Conrad Castiletz durchaus nicht die Rede ist. Fragt man nach dem Grund hierfür, so kann es kaum verborgen bleiben, daß der Fehler Castiletz' eben nicht charakterlich begründet ist oder auch nur Rückschlüsse auf seinen Charakter erlaubt. D a ß Castiletz sich auf eine umständliche Suche nach dem Mörder der Louisen Veik einlassen muß, kann zwar durchaus mit seiner mangelnden Apperzeptionskraft erklärt werden. Daß er die Lösung des Rätsels jedoch nicht durch eigenen Augenschein erreicht, sondern daß ihm diese Lösung von Botulitzky (dem Teiresias in dieser Ödipus-Vtrsioü) vorgegeben werden muß, kann als hinreichender Beleg dafür aufgefaßt werden, daß wir es im Fall der Geschichte von Conrad Castiletz überhaupt nicht mit einem zutreffenden Beispiel für den von Doderer beschriebenen Entwicklungsmodus zu tun haben, sondern daß sich die Entwicklungsgeschichte des Romans - so rudimentär sie ausgebildet ist - eben anderswo ereignet, nämlich im Leben des Zugführers Botulitzky. Diese überraschende Erkenntnis erklärt die für die Interpreten des Romans von jeher problematische Tat-
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Sache, daß Castiletz am Schluß des Romans unvermittelt sterben muß, ohne von der Einsicht in des Rätsels Lösung für sein Leben profitiert zu haben. Dies ist kein einzigartiger Sachverhalt im Werk des Autors. Im Kontext des Mord-Kormns entbehrt der Tod von Castiletz jedoch nicht nur des Sinns im Hinblick auf Doderers Entwicklungsmodell. Der Tod Conrads ist vielmehr Zeichen oder Funktion des mißlungenen Bildungsprozesses einer anderen Figur des Romans, nämlich der Schubert, welche den Tod Conrads indirekt verschuldet. Wenn nun der Geschichte Conrads auch ein gewisser Aufklärungsprozeß nicht abzusprechen ist, der gleichwohl keinen rechten Bildungseffekt zeitigt, so befinden wir uns hiermit bereits im Besitz eines Beleges für die (innerhalb des AforiZ-Romans) charakteristische Mehrfältigkeit und Bedeutungspolyvalenz der Bildungsprozesse. Sie können wir mit dem Modell des punctum minimae resistentiae - jedenfalls insofern wir an Conrad Castiletz als einer positiven Bildungsfigur festhalten wollen - offenbar nicht zur Gänze, sondern bestenfalls zur Hälfte beschreiben. Denn Conrads Bildungsgeschichte entbehrt eben jenes punctum minimae resistentiae (samt seines optimistischen Potentials), welches die Bildungsprozesse des Romans insgesamt daher nur scheinbar auszeichnet. Wenn die Interpretation des Bildungsprozesses auf der Grundlage der Idee des punctum minimae resistentiae auch hiermit bereits erhebliche Schwierigkeiten zeitigt, so kommt der Bestimmung eines Bildungsprozesses mithilfe dieses Interpretamentes als Ursprung von Doderers Entwicklungsmodellen doch, wie sich bei der Rückwendung zum Anfang von Doderers Schreibkarriere zeigt, ein erhebliches Maß an Plausibilität zu. Der erzählte Vorgang der Bresche kann nämlich in gewissem Sinne geradezu als ein Modellfall der späteren Fabeln Doderers betrachtet werden. Obwohl der Zeitraum der erzählten Zeit, den sich Doderer hier vornimmt, auf bloße vierundzwanzig Stunden begrenzt ist, findet sich die Lebensgeschichte ihres Helden Jan Herzka gleichsam in nuce wieder, und zwar insofern als der .Schwachpunkt' im Charakter Jan Herzkas hier den Wendepunkt im Leben dieses Helden markiert. Der Roman der Bresche steht ganz ausgesprochen im Zeichen eines in diesem Sinne zu verstehenden und funktionierenden punctum minimae resistentiae. Der Roman, nach schulgerechter, aber überaus kurzgefaßter Art ab ovo erzähh, benutzt den Einstieg in die Handlung zur Bezeichnung jener Versuchsbedingungen, welche den Helden schon nach kürzester Zeit mit dem Punkte seines schwächsten Widerstandes konfrontieren. Der Kauf eines alten Folianten, eines sog. „Passional[s]'' (FP 126) mit Abbildung christlicher Märtyrerinnen und „Dulderinnen" (FP 126), ist Ausdruck einer inneren, plötzlich sich meldenden Neigung, welcher der
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Held nachgibt. Sensibel gemacht durch den „strengen Duft des Leders und der reinen Ausdünstung des kostbaren Papiers" (FP 124 f.) eines jener „entzückenden Einbände^" (FP 124), die Herzka an diesem Tag für seine Freundin kauft, wird er empfänglich für die Reize einer „alte[n] Schwarte", deren aufgeschlagene Stelle ihm einen „Text in sehr schönem Druck mit roten Initialen" und einem Kupferstich zukehrt (FP 125). Bereits der Kontext und das Angesicht der Sache antizipiert denjenigen sexuellen Affekt, welcher nach dem ,Durchbruch' des punctum minimae resistentiae den fetischisierten Gehalt von Herzkas eigenen Passionen bestimmt. Dies sind nicht nur Gerüche. Vielmehr suggeriert bereits jener „strenge[] Duft des Leders", ja die „Ausdünstung" des Papiers (s.o.) eine Atmosphäre sanften und gewaltbereiten Nachdrucks. Vollends nimmt die metaphorisch interpretierbare Rede vom „schönen Druck", mit den blut-„roten Initialen", die „aufgeschlagene Stelle", an der ein „Kupferstich" den Betrachter sofort „fesselt[]" (FP 125), jene Elemente gleichsam aufgepeitschter Sinnlichkeit auch sprachlich vorweg, auf deren praktische Umsetzung der Roman - im Anschluß an den Kauf des Passionais - zuläuft. Die Neigung Herzkas wird als eine solche beschrieben, die im Inneren des Helden auf Grundsätzliches reagiert: „Der hier abgebildete Gegenstand fesselte Jan sofort, traf bei ihm ins Schwarze, wahrhaftig ins Schwarze, in eine Art von Abgrund in seinem Wesen." (FP 125) Der auf „Genauigkeit, Peinlichkeit und Vorsicht, beinahe Ängstlichkeit" (FP 122) angelegte Charakter Herzkas schlägt bei dieser Gelegenheit erstmals in sein abgründiges Gegenteil um, und es kann kein Zweifel daran bestehen, daß jene „Ansätze einer mitunter geradezu orientalischen Phantasie" (FP 122), die als Gegengewicht zu bürgerlicher Tugend schon zuvor sichtbar waren, hier gerade in ihren charakterlichen Schattenseiten und Konsequenzen erstmals stärker hervortreten. „So stand Herzka wieder auf der Straße, in jeder Hand ein Buch und das war für einen Augenblick wirklich so als wäge er zwei Seiten seines Wesens gegeneinander ab" (FP 127). Da aber seine diesmalige Handlung einem „stets beseite geschobene[n] Teil seines Wesens" erstmals Ausdruck gibt, wirkt auch das, was hier zur Wirklichkeit geworden ist, „wie verpflichtend, wie etwas tatsächlich begonnenes" (FP 127): als Prophezeiung künftiger Aktion. Man sieht, daß die Verankerung des Schwachpunktes im „Wesen" (s.o.) des Helden von Doderer mit beinahe aufdringlicher Ausgesprochenheit vonstatten geht. Man erkennt, wenn man die Spontaneität und die Direktheit der erzählerischen Exposition der Bresche bedenkt, desgleichen, daß der Verzicht auf die kompositorische Einkleidung, auf die
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reichhaltige Instrumentierung der Motive, die Idee des Ganzen bloß und unverdeckt vor uns erscheinen läßt. Von dieser Direktheit sollte man sich nun zwar umso weniger täuschen lassen, als sie als Kunstgriff einer paradigmatischen Gestaltung zugleich eine Entschlackung und formale Reinigung bewirken soll. Mit dem oben genannten Horvath verbindet Doderer jedoch hier ganz ohne Zweifel die Idee eines die Welt repräsentierenden zeitlichen Mikrokosmos. Als frühe, formalere Version der späteren Konzeption einer analogia entis intendiert Doderers Neigung zur inhaltlichen Direktheit und zur zeitlichen Askese einen Sinn kunstvoller Vereinfachung, den Doderer in seinen späteren Werken nicht wieder erreicht, freilich aber auch nicht wieder gesucht hat. In diesem Kontext tritt daher eine konzeptionelle Idee des Gesamtwerks mit einer Deutlichkeit hervor, die nicht so sehr die Einheitlichkeit als die Ausdehnung des Gesamtwerkes aufscheinen läßt, welches der Bresche in den folgenden 40 Jahren von Doderers Schaffen folgen sollte. Wenn wir die eben zitierte Idee der analogia entis aus Doderers späterem Werk auf seine Frühphase für einen Augenblick zurückprojizieren, so kann dies nur mit der Einschränkung geschehen, daß in diesem Frühwerk nicht mehr als eine analogia entis ohne Transzendenz begegnet. Die zeitliche Totalität, auf die hin sich der Vorgang in vierundzwanzig Stunden symbolisch erweitern läßt bzw. auf die hin er über sich hinausweist, ist eine Totalität der Immanenz. Herzkas Schwachpunkt läßt Rückschlüsse auf sein gesamtes Leben zu, ebenso wie sein Fall auch Rückschlüsse auf die Situation des Menschen überhaupt erlauben mag. Eben weil die Idee der Krise, die in diesem Modell Ausdruck findet, aber keinen Rückschluß auf eine z.B. göttliche Weltordnung erlaubt, fällt die von Doderer hier dargestellte Welt weit unbehüteter, weit weniger harmonisch und sommerlich aus als in den Werken seiner späteren Zeit. Die Himmelsrelation ist ausgeschlossen, dem immanenten Begriff von Totalität jedoch, der sich in diesen Grenzen denken läßt, fehlt jenes Maß an Metaphysik, das auch den Kontakt zur Romantheorie Lukacs' erst bei den späteren Werken erlauben wird. Der unmetaphysische Grundduktus der Frühwerke bewirkt so innerhalb der Bresche eine Uberdeutlichkeit des Menschwerdungsmodells. Inwieweit dieses Modell sich auf den Krisis-Gedanken zurückführen läßt, wie er im Modell des punctum minimae resistentiae angedeutet wird, kann nun freilich erst durch einen Vergleich mit den späteren Entwicklungsbiographien in Doderers CEuvre deutlich werden. Ich werde mich hier auf einige Andeutungen beschränken. Bereits die Geschichte des Conrad Castiletz im Mord-Koman erweist sich, obgleich erst in diesem Ro-
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man die Idee des punctum minimae resistentiae terminologisch ausgesprochen wird, als modellüberschreitend. Zwar befindet sich auch Castiletz zum Zeitpunkt der Verunglückung Louison Veiks im Bahnabteil an jenem punctum minimae resistentiae, der ihn zum Mitspielen bei einem Treiben verleitet, welches sein Leben maßgeblich beinflussen wird. Dieser Punkt des geringsten Widerstandes läßt sich jedoch bereits nicht mehr als Ausdruck jenes Charakterfehlers bestimmen, welcher dem Helden zur Lebensaufgabe werden könnte. Dagegen zeigt sich die Tatsache, daß wir es bereits hier mit einem Wendepunkt zum Spätwerk zu tun haben, an dem Umstand, daß sich der Schwachpunkt Conrads weit weniger als die Austrittsstelle einer Charakterschwäche denn als Eintrittsstelle eines Fatums erweist. Diese schicksalhafte, fatologische Orientierung des gesamten Romans rechtfertigt nicht nur die Anknüpfung Doderers an das Odipus-Motiv, es bindet die Entwicklungsidee, die sich in diesem Motiv ausspricht, auch gleichzeitig an jene Philosophie der Unausweichlichkeit, die sich mit dem Selbsthilfemodell der Bresche nur schlecht oder garnicht vereinbaren läßt. Da die biographische Krisis des Individuums nicht mehr unter Bezug auf den Charakter definiert wird, ist die Durchlässigkeit dieses Charakters für die eigenen Schwächen auch nicht mehr in der Lage, die Genesung des Subjekts zu bewirken. Auf diese Weise ist die Ausschnittsdramaturgie der vierundzwanzig Stunden in der Bresche in den späteren Romanen nicht mehr länger fähig, einen charakterlich motivierten Wendepunkt als kathartisch wirksam vorzuführen. Das Katharsis-Modell des Frühwerks wird von daher suspendiert. Es ist erstaunlich, daß die Ablösung des teleologischen Modells, wie es mit dem punctum minimae resistentiae noch in der Bresche zum Einsatz gelangt, ausgerechnet durch einen sozialpsychologischen Fokus veranlaßt wird, der zu Beginn des Mord-Komzns zum Ausdruck kommt: Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war." (M 5) Die Ermächtigung des Fatologischen, die bis ins Spätwerk hinein wirksam bleibt, wird gerade durch eine Verschiebung der Perspektive weg von der Charakterbestimmung und hin zur sozialen Prägung vollzogen. So paradox diese Bewegung indes erscheint, so sehr ist zuzugestehen, daß sie Doderers Romane gerade um jene soziale Perspektive bereichert hat, deren angebliche Reduktivität besonders von der Literaturwissenschaft der 70er Jahre so gern beklagt wurde. Tatsächlich ist der soziale Hintergrund von Figuren wie Melzer, wie des Amtsrates Zihal in den Erleuchteten Fenstern, wie Leonhard Kakabsas in den Dämonen oder Donald Claytons in den Wasserfällen stets ein Verbindungsglied zur Idee der Unabänderlichkeit der Le-
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bensgeschichte dieser Helden. Diese soziale Dimension fatologischer Prozesse unterstreicht Doderers Verbindung von Fatologie und sozialer Romankunst, sie macht jedoch auch ein Stück weit deutlich, weshalb Doderer die Programmatik des Charakterfehlers als Lebensaufgabe zugunsten sozialanalytisch weit differenzierterer Modelle zurückstellen kann und muß: das Beispiel Jan Herzkas in der Bresche nämlich lehrt, daß der Charakterfehler eine weit aussichtsreichere Lebensaufgabe und ein viel erfolgversprechenderes Entwicklungsmodell bereithält, als Doderer dies in späterer Zeit seinen Figuren zuzubilligen bereit ist. Zur Illustration des fatologischen Gewebes ist also das Modell des punctum minimae resistentiae gerade deswegen nicht in ausreichendem Maße geeignet, weil es dem Individuum eine reelle Chance der Selbstüberwindung läßt, die zugleich als Konfliktbewältigungsmodell einen Ausweg aus dem Schicksal weist. Dieses Modell führt in Doderers Frühzeit zur Version eines nüchtern kalkulierten, gleichsam kalten Optimismus, den der Autor in seinen späte(re)n Texten in einen beinahe sanften Fatalismus umkehren wird. Freilich bleibt gegen das Modell des punctum minimae resistentiae auch abseits von Doderers eigenen, fatologischen .Interessen' einiges einzuwenden. So liegt dem Modell ein Psychologismus zugrunde, der dem Prinzip des trosas iasetai in ähnlicher Weise folgt wie etwa Freuds Theorie der Psychoanalyse. Als ein Modell der Heilung eines Fehlers durch sich selbst trägt Doderers Einsatz des punctum minimae resistentiae wesentlich mythische Züge. Dies wäre freilich für ein Erzählwerk noch kein fataler Umstand. Der Variationsspielraum des Modells erschöpft sich jedoch in der Auswechselung eben jenes Charakterfehlers, den es zu reanimieren und zu überwinden gilt, und zieht dem Handlungsgefüge eines Romans von daher enge Grenzen. Schließlich führt das Modell aber auch zur Ausklammerung des gesamten Bereichs sozialer Verflechtungen, die zur Breite und zum Reichtum der späteren Romane Doderers maßgebliches beigetragen haben und den Charakter seiner (mit einem inzwischen altertümlichen Ausdruck zu sprechen:) Raumromane zu einem Gutteil ausmachen. Obgleich sich auch entwicklungskonstitutive Schwachpunkte in den Lebensgeschichten der mittleren Romane lokalisieren lassen, wird doch der Umschlag etwa im Leben Melzers oder Kakabsas nicht durch die charakterliche Definition der entsprechenden .Schwachstelle' definiert. Als (zumindest vorübergehende) Lebensaufgabe Melzers kann zwar die biographische Rückwendung und Einsicht in das eigene Leben gelten; dieses Leben ist aber nicht durch Fehler bestimmt, die durch eine charakterliche Schwachstelle erneut zum Ausbruch zu gelangen drohen.
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Auch die Chancen der Apperzeption, die sich für Melzers Leben ergeben, sind von daher weit mehr mit der Wahrnehmung einer objektivierten Welt, z.B. einer objektivierten Lebensgeschichte, einer abgetrennten Zeit usw. verbunden als mit dem Wiederausbruch eines zeitlos bestimmten Charakteristikums. Wenn das Modell des punctum minimae resistentiae im Schaffen Doderers dennoch so etwas wie eine Klammer darstellt, innerhalb deren sich das Werk des Autors entwickelt hat, so liegt dies eindeutig an seiner Wiederaufnahme im Spätwerk. Bereits die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal kommt durch einen charakterlichen Atavismus, nämlich durch den aufbrechenden Voyeurismus des Helden zustande. Gleichwohl wird das Modell hier mit dem Motiv der Apperzeption so verbunden, daß der Voyeurismus Zihals deswegen Heilung verspricht, weil er am Motiv der Apperzeption partizipiert. - Es sind dagegen die Merowinger, in denen das Modell des punctum minimae resistentiae schließlich massiv wieder zum Einsatz kommt. Doderers nachdrückliches Bekenntnis zu diesem in der Forschung mit Befremden aufgenommenen Buch signalisiert zwar nicht die Rückkehr zum Prinzip des punctum minimae resistentiae, wohl aber Doderers Bewußtsein der Bedeutung des Modells für sein gesamtes Werk. Als eine Art unmittelbarer Charakterausbruch kann der Wutanfall, innerhalb der Merowinger in zahllosen Varianten vorgeführt, als motivische Rückkehr zu den Charakterkonflikten der frühen Romane gelten. Abreagiert hat Doderer hier bestimmte Affektbeträge auch in dem Sinne, als er die Reanimierung und nachgiebige Rückkehr zu den drohenden Charakterfehlern auf sein eigenes Werk angewendet hat: Die Merowinger repräsentieren im Werk Doderers eben jenes punctum minimae resistentiae, an dem eine Charaktereigenschaft ein letztes Mal definitiv zum Ausbruche gelangt, die als unwillkürlicher Wahlspruch über dem Eingang seines Gesamtwerkes zu lesen war. Die Merowinger reaktivieren einen Fehler aus der Bresche, nämlich den Hang zur Gewalt, und ihr Autor veranlaßt dies, indem er einen Affekt abzureagieren unternimmt, den er zu überwinden wünscht. Als Motiv des Frühwerks, das Doderer im Mord-Komzn vom Helden des Romans abtrennt, um es vor allem in den Erleuchteten Fenstern und in den Merowingem wieder ins Zentrum des Geschehens einzurücken, markiert das Motiv des punctum minimae resistentiae damit ein Zentralmotiv des .anderen Doderer', wie er sich abseits der großen Romane Die Strudlhofstiege, Die Dämonen und Die Wasserfälle von Slunj ausspricht. In ihnen wird jener Charakterfehler, aus dem sich paradoxe pädagogische Entwicklungspotentiale für das Individuum ergeben, zugun-
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sten des polykausal beschriebenen, sozialen Panoramas zurückgedrängt. Wie im Fall Kajetan von Schlaggenbergs oder Jan Herzkas in den Dämonen spielt die Bedeutung des Motivs aber auch in diese Romane noch hinein. Die Mechanik des Motivs erscheint seit Doderers Anfängen in der Bresche festgelegt und mit sich selbst identisch. Daß die Einheitlichkeit der motivischen Orientierung, die sich hierin erweist, noch wenig für die strukturelle Einheit von Doderers Gesamtwerk besagt, zeigt sich dagegen an den verschiedenen Formen einer Relativierung jenes Entwicklungspotentials. Denn alle Figuren Doderers bleiben - auch dort, wo sich ihre Konflikte mit der Welt aus ähnlichen charakterlichen Schwachstellen ergeben - auf völlig unterschiedliche Weise auf ihre Zukunft und auf den Erfolg oder Mißerfolg ihrer Entwicklung bezogen. Sie scheitern oder reüssieren aus verschiedensten Gründen, die sich keineswegs aus der Dynamik des punctum minimae resistentiae ableiten lassen. Und dies allein läßt wohl auch das Motiv in seiner literarischen Verarbeitung bei Doderer genießbar erscheinen. Während sich Doderer in der Bresche noch deutlich zugunsten eines Aufbrechens der Charakterschwäche auszusprechen scheint, hat er bereits im Mord-Komzn offenbar erkannt, daß das Motiv für die eher schwachen Helden, die in der Zukunft seine Sache sind, zu wenig Anwendungsmöglichkeiten enthält. Castiletz' Problematik läßt sich daher nicht mit derjenigen des punctum minimae resistentiae identifizieren. Während das Motiv in der Gestalt Zihals dann später ironisch überhöht und damit preisgegeben wird, wirkt es innerhalb der Merowinger vollends konfliktbegründend, nicht konfliktlösend. Das groteske Ende Childerichs HI. ist eine Reaktion auf die Charakterausbrüche des Helden, aber keineswegs Werk eines Fatums. Die Wirkungen, die vom Ausbruch jener Charakterschwachstelle ausgehen, sind also vollständig verschiedene. Identisch bleibt ihnen lediglich die Kraft des Anstoßes, den sie für das Leben der Figuren und den Gang der Handlung repräsentieren. Außerhalb des literarischen Werkes Doderers erscheint dagegen das Motiv gerade deswegen originell, weil der Autor den Voraussetzungen seiner Helden eine Eigendynamik zutraut, die sich ebensowenig als Naturgabe wie als soziale Wirkung klassifizieren läßt. Im punctum minimae resistentiae wird den Figuren Doderers ein in seiner Genese höchst fragwürdiges, gerade darum aber merkwürdiges und originelles Kapital zuteil. Sie sind im Besitz eines höchst handlungsintensiven Problems. Dieses Problem macht sie zu Außenseitern der Gesellschaft. Sie werden in diese Gesellschaft aber auch dann nicht unbedingt zurückkehren,
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wenn die Bewältigung ihrer Lebensaufgabe gelingen sollte. Die Technik Doderers, seine Helden von innen heraus zu Außenseitern zu bestimmen, die den Entwicklungsprozeß ihrer selbst voranzutreiben versuchen, ohne ihr Verhältnis zur Gesellschaft hierdurch überhaupt neu definieren zu wollen (oder zu können), konstituiert eine höchst eigenwillige und bemerkenswerte Form des Individualismus und der poetisch gestalteten Individualität. Sie beschreibt das Subjekt als ein substanzhaftes und zugleich substantielles Gebilde, als ein ebenso kernhaft widerstandsfähiges wie sinntragendes Wesen, aus dem sich wesentliche Entwicklungsmöglichkeiten des Subjekts ergeben. Dieses Subjekt entwickelt sich gerade dadurch zu sich selbst, daß es durch eine peinliche Schwäche und durch ein Ungenügen ausgezeichnet ist. Es erscheint in sich bewegt, und stellt auf diese Weise keine konservative, relativierende, in sich stimmige und mit sich einige Einheit dar. Es birgt aber auch ein ausreichendes Potential von Sonderbarkeit, um an den Widerständen der Weh nicht einfach spurlos zu zergehen. In der Gestalt eines so sich abzeichnenden Sonderweges des Subjektvertrauens, den Doderer durch den Entwurf seiner Geschichten gegangen ist, bemißt sich heute nicht nur der biographische Erfolg des punctum minimae resistentiae, sondern zugleich ein Teil der Originalität und der Bedeutung, die Doderer für uns beanspi-uchen kann.
RODERICK H . WATT
Sexual Constellations in the Novels of Heimito von Doderer
In his published diaries Heimito von Doderer regularly analyses and presents spontaneous sexual response or experience as a model, paradigm, or metaphor of apperception. With advancing years, which in Doderer's case is certainly not synonymous with any increasing sense of gravitas, he elaborates this model of apperception in ever greater detail, resorting to progressively more explicit terminology and Images, and clearly taking a mischievous relish in the potentially shocking effect of a racy, ribald, or bawdy formulation. Parallel to this, the diaries, and particularly those of the 1960s, show Doderer also cultivating and developing a ränge of imagery drawn from astronomy in order to give graphic expression to the function of apperception as he understood it. Eventually, and most notably in the novels of the 1950s and 1960s, these two initially discrete elements in Doderer's presentation of apperception, namely the model of spontaneous sexual response and the terminology of astronomy, combine to produce some of the most memorable and enjoyable scenes in Doderer's fiction. This paper examines first the diaries and then the novels chronologically^ in Order to trace the development of this particular figuration of apperception which came to feature so prominently in Doderer's work. Any diary entry representing working notes for a specific novel will be examined in conjunction with the latter.
Doderer's first recorded use in his diaries of an astronomical metaphor as a vehicle to illustrate his understanding of possible human responses Just as this paper was completed in September 1996 Biederstein announced the publication of a two-volume edition of Doderer's diaries for the period 1920 to 1939. This material could not be evaluated for this paper.
Sexual Constellations
to life's promptings is found in a cryptic comment in Repertorium dated 1941: „Wissen ist selbstleuchtend, Fixstern, Sonne. Das Wissen geht aus Erlebnissen hervor und enthält sie. Kenntnisse sind unter Umständen beleuchtet, Planeten." (R 133) The first explicit application of such a metaphor to the key concept of apperception occurs in Tangenten under an entry of 5 November 1949: Wenn die Intelligenz sich wirklich aufspreitet, so entfällt ihr jedesmal fast alles an gehabten Ponierungen und sie ist, wenn auch im Augenblicke passiv, wie man zu sagen pflegt, doch zugleich im höchsten Grade aktiv beim Apperzipieren: das ganze Leben, unser ganzes Dasein wird zur nova, zum neu entdeckten Sterne. (T 694)
A year later, on 9 November 1950, alluding to his affinity with the Vienna district of Liechtenwerd, Doderer records what is clearly his apperceptive response in sexual terms and introduces the further simile of an explosion, which in later years frequently serves to link astronomical and sexual imagery in his description of apperception: An jene oben erwähnte Gegend bindet mich ein Erotisches, das heißt, eine Treibkraft, die keinen sexuellen Namen mehr trägt, sondern unter mir wohnt, nicht seitwärts rechts oder links zur Hand. So aber muß das Geschlecht in uns wirken: wie die Kartusche hinter dem Projektil, das sie durch Explosion ihres Inhaltes aus dem Rohre schießt. (T 833)
In both of the above quotations the distinguishing characteristics of the State of apperceptivity and the process or function of apperception, namely an open alertness to respond spontaneously to the Stimuli of life without any preconceived programme of action are already evident, but the astronomical imagery introduced here is not further developed or consistently exploited until the 1960s when Doderer is working on Die Wasserfälle von Slunj. Instead, as illustrated by the following diary entries from the 1950s and 1960s, the experience of spontaneous sexual response is ever more frequently, intensively, and explicitly explored as a paradigm of the experience of apperception. Die UnVoreingenommenheit im Sexuellen, dessen Hinzugegebenheit jederzeit eine in jedem Sinne bereite Fläche zum Antreffen in uns finden muß [...] diese Unvoreingenommenheit wäre nur das Modell und Grundschema voraussetzungsloser Apperzeption auf einem Gebiete eben, das den Apperzeptions-Vorgang, die chymische Bindung von Innen und Außen, am intensivsten zur Darstellung bringt. (T 746, 22 May 1950) Die Grundlage aller Apperzeption - als deren intensivster Fall! - ist die Sexualität, also die sexuelle Unvoreingenommenheit. Während eine laterale Sexualität sich vom übrigen Lebenscontinuum seitwärts setzt, und damit sich der Apperzeptivität, dem Gedächtnis und so auch der Intelligenz entzieht [...] wird die fundamentale Sexualität [...] zur stets bereiten intensivsten und universalsten Form der Apperzeption und damit zur Grundlage der Intelligentia. (T 752, 8 June 1950) Das Erotische ist unser wirksamstes Apperzeptions-Organ. (T 838, 16 November 1950) Sexuelle Erotik ist in allen Fällen unsere intensivste Form der Apperception. (R 70, 1952)
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Roderick H. Watt Die Sexual-Organe sind für den Schrifsteller solche der Apperception und in sehr indirekter Weise nur Organe der Zeugung; vielmehr wird das Scrotum hier eine Art detachiertes Gehirn. (Gl 66, 23 August 1951)
In 1952, Doderer notes that the writer's „intensivstes ApperceptionsOrgan" is „die Sexualität" ( C I 1 1 3 , 15 March 1952), and asserts that the most important changes in an individual's life, which for Doderer are always prompted by an apperceptive response, are experienced in the field of sexuality: „Die epochalsten Unterschiede erlebt der Mensch in den Wandlungen seines Sexuallebens, der Art des sexuellen Verhaltens nach, nicht den Objekten nach." (R 265 f.) The gnomic nature of this assertion, presented as it is without any contextualization, is typical of Repertorium, but the wording does suggest that Doderer is focusing on a certain pattern of sexual response, i.e. a spontaneous one, rather than on specific sexual encounters as the catalyst for changes in life. Almost ten years later Doderer returns to his description of sexual response as a model of apperception, frequently drawing graphic parallels between the physiology of sexual arousal and the linguistic response of the Creative writer and, one suspects, enjoying the potentially shocking effect of deliberately explicit language and imagery: Ganz ebenso wie eine wirksame Erektion nur aus der anonymen, noch besser gesagt: unvorgeordneten sexuellen Apperception kommen kann, so die Sprache nur aus dem Zerfall der Lage und einer unvorgeordneten Apperceptivität ihr gegenüber, wodurch ihr Zerfall bis auf den unternüchterten Grund geht und diesen sichtbar werden läßt. Die Fähigkeit dazu macht den Schriftsteller aus [...]. (GII 300, 14 O a o b e r 1961) Parallelität der Potenzen: Apperceptivität (unvorgeordnet) - Apperception des Objektiven - Sprache Sexuelle Apperceptivität (unvorgeordnet) - Sexuelle Apperception - Erektion. Die Erektionsfähigkeit muß nicht nur die Apperceptivität als „Gegenwicht" haben, sondern jene entsteht geradezu aus dieser. (GII 300, 18 October 1961) Die Wieder-Einsetzung des Sexuellen in seine primäre apperceptive Funktion, geschehe dies auch in vorgerücktesten Jahren, kommt der Entdeckung einer neuen Begabung gleich. (GII 358, 26 January 1963) Wenn der Schwanz steht, sagt ein slowakisches Bauernsprichwort, ist der Verstand im Arsch. Aber ich glaube, der Schwanz hat einen ganz guten Verstand in seinem Köpflein und ein sicheres Urteil. (G II 364, 23 March 1963) Die intensiven kleinen Apperceptionen, von denen alles ausgeht und die alles bedingen, jede Erection, auf welcher Ebene immer, sie vermögen uns nur anzutreffen bei zerfallenden Lagen, deren Wert die Zuflüssigkeit allein ausmacht, und bei unvorgeordneter Apperceptivität, die sofort sich öffnet, und anders sich selbst negieren würde. ( G I I 3 7 6 , 7 J u l y 1963)
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2 We turn now to a chronological examination of the novels. It is in the novels of the 1950s and 1960s that the two elements of sexual response as a model of apperception and the imagery of astronomy eventually coalesce, usually in the person and activities of a mature, fuller-figured woman who takes the sexual initiative or at least strikes a sexual spark with an unexpecting male partner who is frequently, although not exclusively, her junior. Just as Doderer seems to have evolved and refined the sexual and astronomical imagery of apperception in his diaries over a period of years, so too the novels show him progressively exploring, developing and elaborating these motifs in his creative writing. There is little evidence in Doderer's first three novels either of sexual responsiveness being systematically used as a model of apperception or of its finding expression through the terminology of astronomy. In Jutta Bamberger (1923-24) the heroine's dawning awareness of her own sexuality is expressed through the hackneyed metaphor „ein Stern geht auf" (FP 231), and her tentative effort to conform to the norms of heterosexual behaviour takes place, predictably enough, by moonlight (FP 247-250). In Die Bresche (1924), the flagellation scene between Jan Herzka and Magdalena Güllich takes place by moonlight. Immediately prior to it there is a moment's silence when the latter's unsuspecting, purer passion confronts Herzka's secret, violent and uncontrollable sexual desires, whose imminent eruption is signalled for the reader by the spark of lust flaring in his eyes: Ihr Blick, ihr Antlitz waren ganz und gar Hingabe, verklärt lieblich, sanft wie Milch; und eingehüllt in ihr süßes Gefühl wie in milden, fließenden Mondschein, bezaubert, sah sie nicht einmal das häßliche Stechen seiner Augen, auf deren dunklem Grund die Flamme förmlich wuchs. (FP 135)
After the flagellation Herzka feels exhilarated, a feeling that seems to find an objective correlative in the stars of the sky: „Über der Gassenschlucht hoch und fremd ein Stern. [...] Der Himmel war tief und klar, zeigte jeden Stern. Eine Turmuhr gab zwei schwer nachschwingende Schläge, ihm war es, als hätte der erzerne Hammer die gewaltige bestirnte Kuppel selbst angeschlagen." (FP 137) In his sexual exhilaration Herzka associates his memory of Magdalena's golden hair with the gold of the distant stars, „das Gold der Sterne hoch und fremd" (FP 140), and the description of her leaving the scene of her humiliation and of his self-abandonment repeats verbatim the opening words of the account of his initial exultation: „Uber der Gassenschlucht hoch und fremd ein
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Stern" (FP 156). The 24-hour episode of Herzka's flight into what could, if obsessively cultivated, become a sexual second reality ends, as it began, at night. His newly found self-knowledge, based on the acting out of his sexual fantasies, has opened his eyes to his personal strengths and weaknesses. And yet he has to return from this episode of sexual crisis to the reality of normal life, a return symbolically marked by the paling of the stars against the city lights: „Schon zerriß der leuchtende Kern [der Stadt] den Nachthimmel, nahm ihm seine Wölbung, schlug die Sterne tot und zerrte ihn zu sich herab." (FP 198) Das Geheimnis des Reichs (1930) contains four references to stars (FP 393 f., 408, 449, 471), only two of which have even the remotest association with any form of sexual activity. It is on a star-lit night that Jan Alwersik discovers he is having an affair with Katharina Stöckl, the girl whom his protege, Dorian, had loved and lost in his youth (FP 393 f.). Under the emotional pressure of concealing this relationship from Dorian, Alwersik flees from the logging camp and takes work on a river steamer with view to escaping from his Situation. In his newly found relief he looks up into the starry sky: „die Sterne funkelten." (FP 408) None of these three novels yet even hints at a systematic elaboration of imagery drawn from astronomy as a vehicle for illustrating spontaneous sexual response as model of apperception. With the benefit of hindsight and from a knowledge of all Doderer's novels it might be possible to argue that the first three show a very rudimentary and tentative stage in the development of this figuration, but in the individual context of each of these early novels the not infrequent association of sexual activity with moon-lit or starry nights seems to be little more than the Standard literary trappings and commonplaces of romantic Trivialliteratur.
Ein Mord den jeder begeht (1938) provides the first clear indication, admittedly supported by retrospective analysis based on a reading of the later novels, of Doderer's use of the metaphor of sexual constellations to present an incident where an experienced and physically well-endowed woman initiates a younger man into the pleasures of mature sex as a paradigm of apperception. In later novels this imagery is then progressively elaborated and refined. A comparison of Conrad Castiletz's two sexual affairs as young man is revealing. His involvement with the young, slim Ida Plangl, in which he takes the initiative, is entirely banal.
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Their meetings, which regularly take place by moonlight (M 73 f., 84, 86), lack any sense of sexual excitement or wonder, and the moonlit setting merely provides the conventional romantic framework for a conventional relationship. Conrad's seduction by his father's secretary, Anny Hedeleg, stands in stark contrast to this. She is much older, sexually experienced, of ample physical proportions, and she takes the initiative, releasing not only an elemental physical pleasure in Conrad, but also opening his eyes, if perhaps only temporarily at this stage, to the wholly unpredictable and unforeseeable nature of life to which, ideally, one should always be ready to respond spontaneously. The vocabulary chosen by Doderer to describe their first sexual encounter is significant. Anny's eyes sparkle and her breasts seem to explode out of her petticoat into Conrad's hands: Conrad taumelte, erblickte etwas wie ein weit sich zurücklehnendes rotes Ruhelager, und jetzt verlor er das Gleichgewicht und fiel darauf hin. Vielleicht „sah er gut aus" dabei, um mit Albert Lehnder zu reden, jedenfalls war Frau Anny, deren Augenlider ein starrer Funke spreizte, schon bei ihm, es gab Arme, Schultern, viel weiße Haut und wenig sehr gespanntes Hemd, aus dem unter Conrads verwildertem Griff die Brüste sprangen, wie eine Explosion dicht vor seiner Nase. (M 92 f.)
Doderer's description of Conrad's seduction by Anny Hedeleg, both in respect of the physical setting and the particular ränge of vocabulary and imagery used, can be seen as the prototype for a number of other sexual episodes in later novels, most notably in Die Dämonen and Die Wasserfälle von Slunj. The significant similarities and differences will be discussed in due course. A reading of Ein Umweg (1940) adds little to the study of the imagery of sexual constellations, first hinted at in Ein Mord den jeder begeht, where the arousal of startling and sudden sexual passion is expressed through a metaphor and a simile which can be seen to prefigure or embryonically anticipate the explicitly astronomical imagery associated with such sexual activity in some of the later novels. The final, bloody resolution of the relationship linking Manuel Cuendias, Hanna, and Paul Brandter is certainly played out by moonlight (U 259-275), but again it is difficult to discern here anything more than an appropriately melodramatic backdrop.
It is, of course, in Die erleuchteten Fenster (1951) that Doderer first systematically deploys the imagery of astronomy to explore and express
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sexual experience as a model of apperception. Although the whole novel can be read as an extended astronomical conceit or metaphor, there is only one aspect of this relevant here. Zihal's voyeuristic „terrestrische[] Astronomie" (EF 91, 115, 120) is a perversion, an obsession which seeks to systematize, regulate, and, although he is not initially aware of this, depersonalize sexual experience by keeping it at a safe distance. This second reality is finally shattered for Zihal by Rosl Oplatek when two discrete strands of experience which have been kept apart by his lack of apperceptivity merge. Throughout the novel we see him becoming ever more obsessed with one of the most distant „stars" in his cosmos of illuminated windows, a greenish-blue one (EF 64, 72, 83, 88, 97, 106, 127, 133 f.). He concurrently develops a platonic friendship with Rosl Oplatek, a mature, fuller-figured woman often dressed in green or blue (EF 28, 43, 59, 66, 76, 135). When Zihal finally buys a more powerful telescope which enables him to distinguish the distant greenish-blue „star" clearly, he sees Rosl Oplatek unrobing her ample proportipns. Given the magnification of the new telescope she explodes into his room and into his life as a sexual being, destroying the barrier which he has created to separate his inner world, the artificial second reality of his voyeuristic obsession, from the outer world of his everyday social life. He eventually comes to realize that sexual attraction is quite normal in a healthy relationship between man and woman: Der Kometensucher in Zihals Hand zitterte so übermächtig, daß er ihn kaum vor die Augen zu bringen vermochte. Das erste, was er auffaßte [...] war, daß seine Taxierung der Höhenlage von ,Grün-Blau' vollkommen stimmte. E r befand sich mit dem Gestirn in einer Horizontal-Ebene, sogar etwas darüber. Zwei Fenster waren scharf beleuchtet und unverhangen. Der bewegliche Kern zeigte heute himmelblaue Farbe, wie von einer Bluse oder Jacke, einem Jäckchen, einem Strickjäckchen. E r schwenkte den Tubus, als säße er hoch und allein im Weltraum und im leeren, ihn allseits umschließenden, fein moussierenden Äther. Wieder erfüllte das Rohr sich mit tief hereinstrahlendem Feuer, das in qualliger Helligkeit stand, wie eine durchleuchtete Gelatine: als diese zerriß, stürzte Zihal schlotternden Gebeins geradewegs wie ein Nachtinsekt auf die erleuchteten Fenster zu. Dahinter bemühte man sich aus dem blauen Strickjäckchen; und rascher, als des Amtsrates Auffassungs-Vermögen überhaupt nachkommen konnte, bauten sich dort drüben schon sämtliche Stockwerke einer Persönlichkeit in kernigen Blöcken blütenweiß auf. Die Herrschaft über seine Glieder ging ihm nun endgültig verloren [...]. (EF 134 f.)
There is an astonishing disparity between Die erleucheten Fenster (1951) and Die Strudlhofstiege (1951). Where the former, minor novel can be read as a single extended metaphor or conceit feeding off the language and imagery of astronomy, the latter, major novel, although so closely related to the former in its conception, makes absolutely no use of such allusions. Although Die Strudlhofstiege is rieh in sexual encounter and
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innuendo, not once do we find in it the imagery of sexual constellations, be it as metaphor, simile, or symbol in any form. On one occasion shooting stars provide the natural background against which Melzer and Mimi Scarlez or, as he thinks, Editha Pastre, kiss and plan to consummate their passion (S 721), but here Doderer is almost certainly simply playing on the populär superstition of making a wish when one sees a shooting star. Die Dämonen (1956), however, shows a further elaboration and refinement in the use of astronomical imagery to illuminate sexual response as a paradigm of apperception. This is most evident in the figure of Friederike Ruthmayr and her relationship to Sektionsrat Geyrenhoff. Although he only gradually becomes aware of it, Geyrenhoff, as a bachelor, retired bureaucrat, and civil servant, has been denied the human fulfilment provided by a loving sexual relationship. Friederike Ruthmayr, a mature woman of statuesque proportions and with a strong sexual presence of which she seems quite unaware, makes an immediate and progressively stronger impact on Geyrenhoff^ opening his eyes to the complex unpredictability of life which can only enrich the human experience of those alert and open enough to respond to it. Friederike appears on Geyrenhoff's horizon as „ein astronomisches Ereignis von einmaliger Art [...] eine Nova, ein Stern" (D 75), again „eine Nova" (D 206). Geyrenhoff's friend Kajetan von Schlaggenberg analyses her significance for the Sektionsrat in terms of a „Stern" p 1131,1138, 1142), a „Zentral-Sonne" (D 1138), and an „Explosion" p 1142). The metaphor of a „Zentral-Sonne" is also applied in a sexual context in this novel to Agnes Gebaur: as the focal point for Jan Herzka's dark, sadistic obsessions she is the „schwarze Zentral-Sonne einer zweiten Wirklichkeit" (D 1045). Eventually though, by agreeing to play out his fantasies for and with him, she dispels that second reality and releases him from his pathological obsession.^ The metaphor of an explosion to describe the potent sexual charge of a woman on a man has already been met in the scene in Ein Mord den jeder begeht where Anny Hedeleg seduces Conrad Castiletz (M 93), and it occurs again in Die Dämonen at a very early stage in Leonhard Kakabsa's Menschwerdung when Malva Fiedler's ample bosom is described as „die Ahnung einer Explosion" (D 153). In Die Wasserfälle von Slunj the metaphor will be elaborated even further. In Die Dämonen we find another seduction scene with significant similarities to, yet no less significant differences from, that described in Ein Mord den jeder begeht. When Rene von Stangeier seduces Käthe As already noted, an entry in Repertorium dated 1941 describes knowledge based on personal experience as „selbstleuchtend, Fixstern, Sonne" (R 133).
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Storch on a chaise-longue in Grete Siebenschein's flat (D 511) we cannot help remembering Conrad Castiletz's seduction by Anny Hedeleg on a similar piece of furniture, „ein weit sich zurücklehnendes rotes Ruhelager" (M 92); like Anny Hedeleg, Käthe Storch is a mature, physically well-endowed woman; but there the parallels cease. Käthe Storch is a passive, if by no means unwilling partner; Rene von Stangeier takes the initiative, and although he manifestly finds the sex act enjoyable, there is no suggestion at all that it is an elemental experience which sharpens his apperceptivity. And most significantly for the thesis argued in this paper, there is nothing to correspond to the incipient or embryonic astronomical metaphors such as „Funke" (M 92) and „Explosion" (M 93) associated with the seduction in Ein Mord den jeder begeht where the woman takes the dominant role. Of the three novels of the 1960s, Die Merowinger (1962), Die Wasserfälle von Slunj (1963), and the posthumously published fragment Der Grenzwald (1967), only the second shows a major development in Doderer's use of spontaneous sexual response expressed through the vehicle of astronomical metaphors to exemplify the act of apperception, revealing a quite startling proliferation and intensification both of such relevant episodes and of the astronomical imagery in which they are couched.^ In marked contrast to Die Merowinger, which does not offer a Single incident germane to the thesis of this paper, Die Wasserfälle von Slunj contains no less than five such episodes or relationships. There are three successful seductions and two failures, and in each case the woman involved is mature and amply proportioned. In descriptions of the successful seductions, where the male partner responds spontaneously to the woman's advances, the language and imagery of astronomy are very much in evidence; where the male partner fails to respond or, indeed, takes the initiative such a lexis is, by comparison, markedly absent. We look first at the explosive encounter between Henriette Frehlinger and the teenager Zdenko von Chlamtatsch which paradoxically stuns the latter into a heightened State of apperceptivity. When Zdenko meets Henriette for the first time, his impression is described as follows: „sie explodierte immerwährend nach allen Seiten, vernichtete den Raum rund um sich und machte sowohl Menschen wie Dinge unsichtbar." (WS 217) Later, when she actually seduces him in Monica Bachler's flat in the Auhofstraße, he sees her on the divan as „eine schwere grundbreit is surely no coincidence that this proliferation and intensification coincides with Doderer's increasingly detailed and graphic exploration and formulation in his diaries of the late 1950s and early 1960s of spontaneous sexual response as a model of apperception.
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chende Explosion: im Hemd und im großen Mieder" (WS 226). The scene represents a clear echo and elaboration of the seduction of Conrad Castiletz by Anny Hedeleg in Ein Mord den jeder begeht (M 92 f.). Both Conrad and Zdenko enter a darkened hall and are led by their seducers, who have already stripped down to their underwear, into a brightly lit room where they are pushed back onto a divan. In both cases the young man experience this mature female sexuality as some form of explosion. Compared to Ein Mord den jeder begeht, however, Die Wasserfälle von Slunj then proceeds to offer a much more detailed analysis of the seduction as a formative event, drawing heavily on the terminology of astronomy to do so: Ja, es gibt plötzliche und abrupte Ereignisse in unserem Dasein, die bis auf den heutigen Tag als einsam glühende Sonnen dort rückwärts im leeren Räume stehen, ohne daß irgend etwas um sie kreisen würde, das auf sie Bezug hätte. [...] Jene einsamen Sonnen sind uns unendlich kostbar. Manchmal fragen wir zu ihnen hin. Aber sie antworten nie. Sie sind zu vornehm dazu. Sie haben sich nie unter das Volk der wimmelnden Tatsachen gemischt. (WS 227)
The first sentence of the above quotation is lifted verbatim from the Commentarii, with the omission of the adjective „sexuelle" before „Ereignisse" (C II 223), where curiously it refers to the sexual constellation of Monica Bachler and Chwostik. Although Zdenko's seduction by Henriette Frehlinger opens his eyes to a latent richness and complexity of life previously quite unsuspected, thereby heightening his apperceptive awareness, it remains for him a unique and traumatic experience which he internalizes and assimilates at such a deep level of his consciousness that it is almost repressed, and this too is expressed through an astronomical metaphor: „jene schneeweiße Explosion auf der Causeuse. Diese blieb ein Muttergestirn, eine Sternmutter, ein ,Algol', wie die Astronomie jene ungeheuren, einsamen und trabantlosen Ansammlungen von Materie im Weltraum auch nennt, Reserven des Universums." (WS 229) Before leaving the impact of Henriette Frehlinger on Zdenko von Chlamtatsch we may note that in his diaries Doderer refers to her and this episode in images which have a strong visual affinity with those in the novel drawn from the lexis of astronomy. „Heute morgens bis zum neuen Einschlag mit Frau Heini [!] Frehlinger: das ist eine Leuchtkugel, die aus dem Text steigt." (CII224) „Elysion Henriette und Einstreuung in Leuchtpunkten!" (CII 230) Monica Bachler's abortive attempt to seduce Donald Clayton takes place in the same flat, the very same room as that where Henriette exploded into Zdenko's life (WS 234-237), but there the parallels cease. Monica's sexual initiative is too subtle and low-key to be able to pro-
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voke any response from Donald, whose apperceptivity is virtually nil. Not surprisingly, the astronomical metaphors which so highlighted the sedurtion of Zdenko by Henriette are wholly absent. In contrast to the above sexual debacle or non-event, the scene where Chwostik and Monica are drawn spontaneously to each other and which culminates in their making love is again, like the meeting between Henriette and Zdenko, characterized by the extensive and intensive use of the imagery of astronomy/ Here, too, it is clear that the woman takes the initiative and that her male partner is the astonished and grateful recipient of her favours: Hier war ein neues Licht aufgesteckt worden, ein ihm bisher nicht bekannter starker Beleuchtungskörper strahlte in seiner kleinen Wohnung, ja, es war ein paradoxaler Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang. [...] So also kam das Ganze über ihn, und so ward es von ihm empfangen. [...] Denn sie wurde hier als ein herabgelangter Stern mit Ehrfurcht und mit Erstaunen gesehen, und unser Pepi kreiste um diesen wie ein nur blaß sichtbarer, fast dunkler Trabant. [...] War ihm jetzt sozusagen ein Stern vom Himmel auf die Knie gefallen - und das passiert verhältnismäßig selten, manchen nie so empfand auch sie mit Zutrauen und Getröstet-Sein das Ausnahmenhafte dieser schwimmenden Insel hier auf dem Strome der Zeit [...]. Er umfing seinen Stern, der jetzt weißleuchtend geworden war. (WS 253 f.)
Later Monica is referred to variously as Chwostik's „Stern", his „Göttin" (WS 258), and his „weißleuchtender Stern" (WS 299), an unmistakable echo of Doderer's description of her and her relationship to Chwostik in his diaries (CH 223, 233). The third successful seduction takes place only in the emotional and perhaps, cerebral, dimension, never leaving the psychological plane of relationships for the physical, but even here we find the imagery of sexual constellations. Margot Putnik, whose dreadful disfigurement prevents her from enjoying a normal, healthy, sexual relationship with her husband, lives in a State of „vollständig geschlossene Unzugänglichkeit" (WS 329). The description continues: „Es war dies grauenvoll und unvorstellbar, wie ein erloschenes Gestirn etwa, das da im leeren Raum schwebte." (WS 329) Margot may be described as an extinguished star, perhaps, but still as a star with the power to fascinate and attract men as a star's gravitational pull may hold satellites in their orbit. She plans a dinner where she deliberately, and successfully, sets out to win the admiration and respect of her husband, Laszlo, and his friend, Tibor GerThere can be no doubt that Doderer intended to focus attention on the similarities linking the two sexual encounters between Henriette and Zdenko and Monica and Chwostik. We have already seen that one of the more extended applications of the astronomical metaphor to Zdenko's response to Henriette (WS 227) was originally conceived to describe Chwostik's response to Monica (C II 223).
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gelffi, even taking the risk of using her newly acquired Hungarian in conversation: „Sie selbst bewegte, und zwar diese beiden schlanken und zartgebauten jungen Männer um sich herum, wie Satelliten um eine Zentralsonne. [...] einmal sprach sie Hungarisch - und eben von da ab geschah's, daß sie die beiden Burschen zu Trabanten machte." (WS 332) Margot Putnik is also involved in the final of our five seduction scenes and the second unsuccessful one. As an antidote to his only vaguely appreciated failure to respond to Monica Bachler's sexual advances Donald Clayton takes the initiative and decides to seduce Margot as matter of „programmatische Aktivität" (WS 350). This, of course, runs entirely contrary to any notion of spontaneity, sexual or otherwise, which is so central to the State of apperceptivity and any act of apperception. As we know, Donald is then psychologically destroyed by the grotesque scene into which Margot manoeuvres him (WS 363 365), but for the purposes of this paper the crucial fact is that, as in the scene of the abortive sexual encounter between Donald and Monica (WS 234-237), no astronomical imagery of any kind occurs in the description. It should be noted that when Rene von Stangeier takes the initiative and seduces Käthe Storch in Die Dämonen (D 511) no astronomical imagery is used either, even although frenzied sexual activity does take place. The language of astronomy seems to be a vehicle solely for expressing the female sexual initiative, and a spontaneous male response to this is presented as a paradigm or model of apperception. The published fragment of Der Grenzwald contains only one detailed description of a seduction, successful or otherwise. In a scene at least superficially similar to the exuberant encounters between Anny Hedeleg and Conrad Castiletz in Ein Mord den jeder begeht and Henriette Frehlinger and Zdenko von Chlamtatsch in Die Wasserfälle von Slunj Thamar Halfon, a 23-year old married woman, seduces the 17-year old Heinrich Zienhammer: Sie hatte den Befehl: mit kurzen, alles andere ausschließenden Gebärden. Schon lag er gänzlich entkleidet auf dem Bett. Das Geräusch, welches sie erzeugte, indem sie alles von sich warf, war erheblich und ungehemmt, ihr auf einen Stuhl geworfenes Mieder tat geradezu einen Schlag. Dann kam eine weiße Hitze und ein unbeschreiblicher Dunst über ihn, sie ging mit ihm um wie mit einem gänzlichen Unwissenden, der er ja auch war, und schon auch stand sie wieder ganz angekleidet da, die weiße Tür klappte und sie war verschwunden. (G 70 f.)
Here any similarities end. For Heinrich Zienhammer there is no joy or wonder, no liberation, no hint of latent excitement at the possibilities of widening horizons or the hitherto unsuspected possibilities of life. He never suceeds in assimilating, evaluating, or benefiting from this expe-
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rience: „Der in sein Wasser geworfene Stein sank einfach blitzschnell zum Grunde und blieb liegen." (G 71) We learn later that Thamar Halfen resorted to this joyless coupling with a total stranger for the sole purpose of conceiving a child for her hitherto barren marriage: „Sie hatte geraubt, wessen sie bedurfte und trug es mit sich: und damit auch die Möglichkeit, weiterzuleben mit Ephraim Halfon." (G 175) While the description of this seduction lacks any explicitly astronomical imagery Heinrich Zienhammer's experiencing of Thamar Halfon as „eine weiße Hitze" at least faintly echoes the explosive white heat of a star-burst associated with the sexual aura of Friederike Ruthmayr in Die Dämonen and with the sexual energy of Henriette Frehlinger and Monica Bachler as feit by Zdenko von Chlamtatsch and Chwostik respectively in Die Wasserfälle von Slunj. It is precisely this visual memory of his seduction by Thamar Halfon which returns just once to haunt Heinrich Zienhammer briefly, surfacing momentarily from the depths of his psyche to which he had relegated it, unable to respond any further to its challenge: In ihm platzte eine weiße dunstige Hitze: daß dies gewesen war und jetzt eben nicht mehr war und sein würde, das erschien ihm keineswegs selbstverständlich, er begriff es überhaupt nicht. [...] Den weißglühenden Kern, der in ihm strahlte, versuchte er garnicht mehr zu erdrücken; aber jetzt warf dieser Kern lauter Einzelheiten aus [...]: wie sie über ihm her gewesen war voll wildem Eifer und ein Bild bietend, daß er schlotterte und nicht nach seinem Weinglas greifen konnte, denn er hätte es verschüttet. [...] Der weißglühende Kern von einst war wieder zum leblosen Stein geworden und auf den Grund hinabgesunken, wohin er gehörte. (G 75 f.)
In conclusion, while a study of Doderer's diaries and novels suggests strongly that over the years he progressively evolved and elaborated a model or paradigm of apperception based on the spontaneous male response to a female sexual initiative, we may note significant differences between the sexual priorities of the diaries and the novels. As we have Seen, in the analytical, self-reflective writings of the diaries, and particularly in the entries of the 1960s which exemplify the act of apperception with provocative allusions to „Erektion" and „Schwanz", Doderer clearly and deliberately foregrounds male, phallic, sexual activity. In the novels, however, in the creative writings, the emphasis is markedly different. Although the spontaneous male response, or lack of it, is still used to illustrate the success, or failure, of the act of apperception, in the novels attention is focused very much more on the unexpected female
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initiative to which the male is invited or challenged to react, an initiative most frequently taken by mature, sexually experienced, and physically well-endowed women, and regularly expressed through the imagery of astronomy. The obsession with „dicke Damen" may reflect Doderer's own fantasies,5 but it is interesting to speculate as to why the language and imagery of astronomy should be employed so extensively and intensively in this model of apperception. As demonstrated in the course of this paper, the male partner in such sexual encounters often, indeed regularly, experiences his female seducer as „Sonne", „Stern", „Gestirn", „Nova", „Explosion". While these images all communicate the sense of a unique, dazzling explosion of new matter into the cosmos of the receptive male, they undoubtedly symbolize the female sexual experience rather than that of the male. If the symbolism may be seen as orgasmic, as I am sure that it is, in part at least, meant to be, then it is the expansive explosion of the female orgasm we witness here rather than the phallic or penetrative symbolism of male sexuality. In this model of apperception woman, particularly in her sexual function, is the source and bearer of the mystery of life and so comes to represent life itself with all its unforeseen and unforeseeable opportunities which invite the individual's apperceptive response, thereby challenging him to realize his own potential and fulfil his personal destiny, whatever that may be.
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See, for example, Begegnung mit Heimito von Doderer, ed. by Michael Horowitz, Vienna, Munich 1983, pp.l51 f.
TORSTEN BUCHHOLZ
„Eine Art von ZEN des Erzählers?" Doderer und die Gedankenwelt Asiens Am 11. April 1953 schreibt Doderer im Rückblick auf seine Wahl, Schriftsteller zu werden, in den Commentarii-. Ich rede hier nicht von den zahllosen nachfolgenden Schüben, die einer solchen Wahl nachkommen mußten, und sie bis heute nicht eingeholt haben, sondern von der primären Wahl, welche die Gesinnung meines Lebens fortan bestimmte. Es war am Beginne meines einundzwanzigsten Lebensjahres, in Ost-Asien. (CI 203)
Als Doderer die wichtigste Entscheidung seines Lebens in Sibirien traf, war er zumindest geographisch China näher als Osterreich. Aber das würde als Grund für diesen Beitrag genausowenig ausreichen, wie Doderers Interesse für Drachen, das in der chinesischen Kultur seine Parallele findet. Darum geht es auch nicht. Das Thema ist bei Doderer konkreter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, und der schon erwähnten geographischen Nähe entspricht tatsächlich eine gedankliche zur Philosophie Chinas und Japans. Wobei man nun diese enger fassen muß. Es handelt sich vorrangig um den Taoismus und den aus der Verschmelzung von Buddhismus und Taoismus hervorgegangenen Zen-Buddhismus. Bei diesen beiden Richtungen geht es natürlich weniger um die religiöse als um die damit verbundene gedanklich-philosophische Seite. Doderer selbst hatte seine religiöse Heimat spätestens 1940 gefunden, als er zum Katholizismus konvertierte. Er war gläubiger Christ, aber vor allem anderen war Doderer eines: Schriftsteller, der seiner Kunstausübung alles andere unterordnete und nur das aufkommen ließ, was dieser gedanklich förderlich war oder entsprach. Erst kam der Romancier, dann der Thomist. Thomas von Aquin wurde für Doderer deshalb so attraktiv, weil dessen Philosophie der eigenen Kunstauffassung so gut entgegenkam. Dabei ist es nicht entscheidend, ob Doderer als Experte auftrat. Er verwendete manche Begrifflichkeit nach Gutdünken. Entscheidend ist vielmehr, daß Doderer für die unterschiedlichen Einflüsse offen war, die er sich dann produktiv sowohl beim Schreiben seiner
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Romane und Erzählungen wie auch hinsichtlich der dahinter stehenden Theorie anverwandelte. Diese Einflüsse reichen von der Psychologie bis hin zur Musik und ihrer Formenwelt.^ Was ich im folgenden tun werde, um das Thema im ansprechenden Rahmen zu halten, wird ein Herausstellen der ostasiatischen Komponenten in Doderers Werk und Denken sein, welche dann mit direkten Zitaten Doderers zu diesem Komplex verbunden werden. Es soll gezeigt werden, wie nahe einzelne Denkpositionen Doderers dem ostasiatischen Denken stehen, wenn sie nicht sogar von diesen im einen oder anderen Fall mitbeeinflußt worden sind. In den zwanziger Jahren erlebte die chinesische Kultur und Philosophie einen enormen Aufschwung. Wichtige Auslöser dafür waren vor allem die Übersetzungen des Sinologen Richard Wilhelm, z.B. die des Buchs der Wandlungen, des I Ging sowie die Übersetzung des Tao te king von Laotse, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren haben. In dieser Zeit war überhaupt jedoch schon eine Fülle von Übenragungen des Tao te king von Laotse erhältlich. Richard Wilhelm übersetzte es unter dem Titel Vom Sinn und Leben im Jahre 1911, Hermann Hesses erste Begegnung mit Laotse hatte bereits durch Alexander Ulars Übertragung mit dem Titel Die Bahn und der rechte Weg (1903) stattgefunden.^ Doderer kannte schon früh beide Übersetzungen. In den Tagebüchern schreibt er im Mai 1924: Laotse - von allgemeinster Bedeutung! - ich habe etwa 20 von den Sprüchen gelesen. [Fußnote:] Nämlich aus „Die Bahn ... etc." „Vom Sinn u. Leben" kannte ich bereits (TB 212).
Dann zitiert er einen Spruch aus Ulars Übersetzung. Zur Zeit dieser Tagebucheintragung liest er ebenfalls Viktor Engelhardts Untersuchung Zur geistigen Kultur Indiens und Ostasiens (vgl. TB 212). Zum Tao schreibt Engelhardt: Keine Offenbarung des Himmels ist Laotses Tao, sondern Weltprinzip in vollster Abstraktheit. Es ist die vernünftige Ordnung der Dinge, es ist, könnte man mit modernen Ausdrücken sagen, das Naturgesetz in seiner Gesamtheit. Als solches kann es dem altchinesischen Denker freilich noch nicht mit voller Klarheit erscheinen. Er stammelt, wenn er das Wesen des Begriffs bezeichnet: er vermag nur zu sagen, was Tao nicht ist, da es als Urprinzip aller Dinge keinem der Dinge unserer Erfahrungswelt ähnlich sein kann.'
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Vgl. Torsten Buchholz, Musik im Werk Heimito von Doderers, Frankfurt a.M. [etc.] 1996. Adrian Hsia, Hermann Hesse und China. Darstellung, Materialien und Interpretation, Frankfurt a.M. 1974, S. 55. Viktor Engelhardt, Zur geistigen Kultur Indiens und Ostasiens, Leipzig 1923, S. 183 f.
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Dazu ist zu sagen, daß nicht nur der altchinesische Denker stammelt. Das Tao selbst gilt als nicht ausdrückbar, wir wissen allerdings zugleich, daß ihm die Potenz der Schöpfung innewohnt. Es ist die Leere (das Nichtsein), aus dem die Welt (das Sein) entspringt; wie dies geschieht, dazu schreibt Engelhardt: Im einheitlichen Urgrund der Dinge sind die Gegensätze noch nicht getrennt, aber aus ihm gehen sie paarweise hervor, oder besser, in Gegensätzen entfaltet sich die Welt der Dinge, die im Tao, ,der Möglichkeit' nach (potentiell) geschlummert hat."
Zu dieser Gegensätzlichkeit der zweite Spruch des Tao te king in der Ubersetzung Richard Wilhelms. Spruch 2: Pflege der Persönlichkeit Wenn auf Erden alle das Schöne als schön erkennen, so ist dadurch schon das Häßliche gesetzt. Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt. Denn Sein und Nichtsein erzeugen einander. [...] Schwer und Leicht vollenden einander. Lang und Kurz gestalten einander. Hoch und Tief verkehren einander. Stimme und Ton sich vermählen einander. Vorher und Nachher folgen einander.®
Das Ziel des Taoisten besteht nun darin, den anfänglichen Urzustand des Tao wiederzugewinnen, also wieder leer zu werden. Die Leere nimmt bei den Taoisten einen hohen Rang ein und ist nicht von der Welt abgewandt, wie der indisch-buddhistische Begriff der Leere nahelegt, sondern ist mit der positiven lebensspendenden Kraft des Schöpferischen ausgestattet, die die Welt erst schafft. Ein berühmter Spruch zeigt die Wichtigkeit der Leere (Ubersetzung von Alexander Ular): Der elfte Spruch: Dreißig Speichen treffen die Nabe, aber das Leere zwischen ihnen erwirkt das Wesen des Rades; Aus Ton entstehen Töpfe, aber das Leere in ihnen wirkt das Wesen des Topfes; Mauern mit Fenstern und Türen bilden das Haus, aber das Leere in ihnen erwirkt das Wesen des Hauses. Grundsätzlich: Das Stoffliche birgt Nutzbarkeit; Das Unstoffliche wirkt Wesenheit.'
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Ebd., S. 184. Laotse, Tao Te King. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben, aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert von Richard Wilhelm, Jena 1921, S. 4.
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In dieselbe Richtung weist Doderer, wenn er in den Tangenten schreibt: Aber auch in der überfülltesten Gemälde-Galerie (die meisten sind überfüllt), ja, selbst wenn man sich eine solche würde denken wollen, wo Bild an Bild rahmenlos und namenlos dicht nebeneinander hinge, ist immer wieder ein Ort, zwischen zwei Bildern, sei er gleich schmal wie ein Faden, ja, ohne jede Breite fast wie eine mathematische Linie - wo eben kein Bild ist, wo das eine aufhört und das andere noch nicht beginnt. Wäre dem nicht so: kein Bild könnte mehr ein Bild bleiben, sie würden ineinander rinnen. Was ist nun dort? Nichts, wird man sagen. Zugegeben, nichts; aber eben nicht das Nichts, sondern die Leere. Sie also ist es, welche die Voraussetzung aller Form und Gestalt bildet [...]. (T 96 f.)
Immer wieder umkreist Doderer im Tagebuch den Begriff der Leere, die er ebenso taoistisch als schöpferischen Ursprungsort begreift. Als Gegenbegriff zur Leere sieht Doderer das Nichts, welches nur „durch eines Haares Breite" (T 365) davon getrennt ist. Erst mit der Zeit erfahren diese beiden Begriffe ihre Umwandlung in die psychologischen Begriffe der Apperzeption und Deperzeption (vgl. T 365). Die Apperzeption (die Leere im Sinne der Aufnahmebereitschaft) als Zustand des uneingeschränkten Verschmelzens von innerer und äußerer Welt liegt somit ganz auf der taoistischen Linie. Auch bei Doderer ist das Ausschalten des eigenen Egos wesentliche Voraussetzung für das Erreichen der Leere: Sich unvollendet stehn zu lassen; damit unbesorgt zu werden in bezug auf sich selbst; endlich die Leere zu erreichen: das sind die drei Stationen, welche allein dahin führen können, umfassend und allseitig Objekt [!] zu sehen; ein Dreiklang; oder meinetwegen die drei Beine des Schemels, auf dem die perfekte und buchhändlerisch unmöglich gewordene literarische Pythia sitzt. (T 97 f.)
Leer zu werden, das Tao zu erreichen, bedeutet also einfach, offen zu sein für alles, was von außen auf uns eindringt. Das bedeutet aber auf der anderen Seite, daß man seinerseits keinen Versuch unternimmt, die äußere Welt zu ändern, in sie einzugreifen. Doderer übernimmt genau diese Ansicht aus dem Taoismus. A m 19. Mai 1945 schreibt er unter dem Stichwort Konservatismus: In den Sprüchen des Tao steht einer ,Vom Nicht-Handeln'. (,Der Weise handelt nicht und das Volk lebt glücklich...') Nicht-Handeln ist ein Nicht-Alterieren der Umgebung, dies vor allem. Man benehme sich wie die Polizei am Tatort vor dem Eintreffen der Mordkommission: da darf kein Sessel gerückt, kein Fältchen verschoben, kein Stäubchen geblasen werden, bevor nicht viele photographische Aufnahmen gemacht sind. Ein solches Verhalten ist Voraussetzung wirksamer Apperzeption. (T 321)
Im Taoismus gibt es einen zentralen Begriff für dieses Nicht-Handeln es ist das Wu-wei, zu deutsch das Nicht-Tun. Dieses Wu-wei darf man Lao-Tse, Die Bahn und der rechte Weg, der chinesischen Urschrift nachgedacht von Alexander Ular, Leipzig 1917, S. 17.
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aber nicht im Sinne von gleichgültiger Passivität interpretieren. Es bedeutet spontanes, von Begierde und Intention freies Handeln, das dem Natürlichen und Notwendigen entspricht und dadurch richtig ist/ Es ist nicht vom Ego-Ich motiviert, sondern geht aus dem Urgrund seines Seins, seines Taos hervor. Dem Wu-wei entspricht in der obigen Tagebuchnotiz die Apperzeption, aus der das wahre Handeln bzw. das wahre, nicht vom kleinen, wenig bedeutungsvollen Ich gesteuerte Schreiben hervorgeht. Aus dem einheitlichen Tao entfaltet sich die Welt in Gegensätzen. Doderer nannte dies die Dialektik des Lebens. Wie auch immer man es jedoch nennt, fest steht, daß Doderers dialektisch-antithetische Weltsicht der chinesischen sehr nahe steht und daß Zitate wie das folgende auch auf der ersten Seite eines Buches über Taoismus stehen könnten: „Das heißt nämlich leben. Die Gegensätze in der Schwebe halten. So ist's. Ganz einfach." (D 368) Das Wort „tao" bedeutet im wörtlichen Sinne Weg oder auch, wie es z.B. Alexander Ular übersetzt, Bahn. Es ist sowohl Weg des Alls, des Kosmos als auch Weg des Menschen. Dabei gibt es keinen Endpunkt, kein Ziel des Weges, der einen immerwährenden Wechsel von Werden und Vergehen darstellt. Das Ziel des Taoisten besteht darin, seinen Weg mit dem Weg des Alls in Einklang zu bringen. Der Weg ist das Ziel, wandelt der Mensch auf dem rechten Weg, dann entspricht er seinem Tao und damit also dem kosmischen Prinzip.' Auch der Zen-Buddhismus hat viel zu einer Entwicklung des WegeVerständnisses beigetragen. Hier gibt es wiederum erstaunliche Parallelen zu Doderer, bei dem ebenfalls eine Wege-Theorie große Bedeutung hat. Grundlage im Geist wie im Leben ist der „indirekte Weg". Direkt bedeutet nach Doderer „vollkommen gerade; das kommt im Leben, welches nur Kurven kennt, nicht vor."' Die Sicht des Lebens als Kurvenbahn entspricht im übrigen auch derjenigen des / Ging, daß sich das Leben (in der Zeit fortschreitend, aber in der Richtung sich von Gegensatz zu Gegensatz bewegend) als Kurve darstellt. Das Leben macht stets Umwege, ein lineares Weg-zum-Ziel-Denken ist daher immer zum Scheitern verurteilt. 7 8
Vgl. hierzu C. J. Cooper, Der Weg des Tao, Bern 1977. Vgl. hierzu auch Hans Joachim Stein, Kyudo. Die Kunst des Bogenschießens, Hamburg 1990, S. 6 7 - 7 8 , bes. S. 68: „Von dieser Sicht her wird verständlich, daß der Begriff ,Weg' besonders in die verschiedenen Künste und Wissenschaften Eingang gefunden hat, denn zu den Künsten zählt z.B. all das, was dazu beiträgt, den Menschen in seiner Menschwerdung zu fördern und ihn in seinem Streben nach Vollendung seines Lebens voranzubringen."
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Zitiert nach Dietrich Weber, Heimito von Doderer. Studien zu seinem München 1963, S. 44.
Romanwerk,
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Alle Romanfiguren Doderers haben für Glück und Zufriedenheit auf einem indirekten Weg zu wandeln, sie dürfen es nicht willkürlich anvisieren, sondern werden durch den Weg geführt. Nirgendwo hat Doderer den indirekten Weg schöner beschrieben, nirgends wird er gleichzeitig taoistischer als bei einer berühmten Beschreibung der Strudlhofstiege: Hier wurde mehr als wortbar, nämlich schaubar deutlich, daß jeder Weg und jeder Pfad (und auch im unsrigen Garten) mehr ist als eine Verbindung zweier Punkte, deren einen man verläßt, um den anderen zu erreichen, sondern eigenen Wesens, und auch mehr als seine Richtung, die ihn nur absteckt, ein Vorwand, der versinken kann noch bei währendem Gehen. (S 330 f.) ... sie ermüden nie uns zu sagen, daß jeder Weg seine eigene Würde hat und auf jeden Fall mehr ist als das Ziel. (S 331)
In eine Art Dialog mit dem Leser (in jenem Sinne, welcher .Leserführung' mit einschließt und den Gerald Sommer beschrieben hat)'° begibt sich Doderer eine knappe Seite zuvor bei Melzers Weg zur Stiege: Melzer strebte also aus der Strömung, wandte sich nach rechts, ging an dem schweren, barocken Portal des Liechtenstein-Parks vorbei - der Park dahinter hatte für ihn immer etwas Alt-Chinesisches, noch aus der strengen Zeit - und nun wieder nach rechts, schräg über die etwas weniger belebte Liechtensteinstraße. Da war sie bald, die Strudlhofstiege. (S 329 f.. Hervorheb. v.m.)
Die taoistische Passage ist also eingebettet in chinesisches Ambiente. Melzer, die Hauptfigur des Romans, wird im Verlauf der Handlung desselben Romans korrekt auf dem indirekten Weg wandeln und die Menschwerdung, die Apperzeption oder in diesem Zusammenhang also das Tao erreichen: Melzer dachte nichts. Er überlegte nichts. Er spielte kein Alternativen-Domino oder Entschluß-Puzzle. Er ging. Geradewegs auf eine sichtbare Wand zu, von welcher er wußte, daß sie unsichtbar werden und ihn aber auch durchlassen müsse im Augenblicke des wirklichen Antretens, das sodann und sogleich in's Eintreten sich verwandeln würde (bemerkenswerte Vorstellungen! wie ein chinesischer Tao-Schüler!). (S 767)
Woher kommt dieses Bild? Eine wahrscheinliche Quelle ist ein Buch über chinesische Landschaftsmalerei, erschienen im Kurt Wolff Verlag 1921. Hier wird über den Tod des berühmtesten chinesischen Malers berichtet, des Wu Tao Tse, der vor dem Kaiser auf einer Wand des Kaiserpalastes ein Landschaftsbild malt, dann magisch in das Bild hineingeht und in der gemalten Höhle - mitsamt dem Bild - verschwindet." 10 Gerald Sommer, Vom „Sinn aller Metaphorie". Zur Funktion komplexer Bildgestaltungen in Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege" - Dargestellt anhand der Interpretation der Entwicklung der Figuren Mary K. und Melzer, Frankfurt a.M. [etc.] 1994. 11 Siehe Otto Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei, München 1921, S. 13, 146 u. 152 ff..
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Diese Geschichte nimmt Doderer in den Dämonen wieder auf, diesmal auf den Graphiker Imre von Gyurkicz bezogen: Alte chinesische Legenden berichten, daß große Meister in ihre Bilder hineingegangen seien und dann verschwunden blieben. Imre war kein großer Meister. Aber es gelang ihm doch, durch seine Bildchen wie durch eine Hintertüre aus der sonstigen .Emblematik' seines Lebens zeitweis zu verschwinden. Freilich beherrschte er das Technische seines Fachs, er hatte ja das Handwerk gelernt, sehr gut sogar, muß man sagen, p 929)
Das Bild des chinesischen Meisters bedeutet ganz offenbar das Eingehen in das Tao. Nichts anderes ist es bei Melzer, der die Menschwerdung erreicht, welche gleichzeitig das Abstreifen des früheren Lebens bedeutet: „[...] es war, als zöge ihn die Sprache, die er fand, hinter sich her und in ein neues Leben hinüber." (S 763) Hier muß man nun auf die weltzugewandte Seite des Taoismus und Zen zu sprechen kommen, denn die innere Entwicklung hat immer ihren Bezug zur konkreten Wirklichkeit. Der apperzeptive Melzer ist daher alles andere als weltentrückt, im Gegenteil, er handelt stets richtig. Dem Tao entspringt das Wu-Wei, und eine typische Handlung in diesem Sinne ist die Hilfe bei der verunglückten Mary K. Er macht alles richtig, all das, was er im Krieg gelernt hat, ist parat, und auch im Fortgang der Handlung wird Melzer weiterhin situationsadäquat aus dem Moment heraus handeln. Als der indische Buddhismus in China Eingang fand, verband er sich mit dem dortigen taoistischen Gedankengut zum Zen-Buddhismus, der im 12. Jahrhundert schließlich nach Japan gelangte, wo er seitdem tiefe geistige Wurzeln geschlagen hat. So hat der Weg-Begriff auch im ZenBuddhismus große Bedeutung erlangt. Weg heißt im Japanischen „do", und einige dos sind uns sicher vom Namen her bekannt, z.B. Judo (Weichheitsweg), aber es gibt auch den Tee-Weg, den Blumen weg usw. Man kann sagen, alle Zen-Künste sind solche Wege; Wege deshalb, weil sie in erster Linie Mittel sind, den eigentlichen Zustand der Leere (die Buddha-Natur) zu erreichen. Es handelt sich also um lauter Umwege hin zu einem, von der jeweiligen Kunst schließlich losgelösten Ziel. Zen ist wie das Tao in Worten nicht ausdrückbar, es muß Gegenstand eigener Erfahrung geworden sein. Deshalb kann man sich dem Wesen des Zen ebenfalls nur indirekt nähern, über die Schilderung einer ZenKunst. Eine der Zen-Künste, die für Doderer Bedeutung erlangen mußte, war der Kyudo, der Weg des Bogens: Denken wie der Tiger springt; schreiben wie der Bogenschütze schießt; wachsam sein und scharf sehen wie ein Raubvogel in den Lüften: das zusammen macht einen Autor. (T724) Jetzt ist der Augenblick gekommen bei zerfallender Lage in atmosphärischer Apper-
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ceptivität ohne Hemmung und furchtlos zu leben. Eine Art von Z E N des Erzählers? Ich traf gestern auf diese Art von der Veranda eine achtzig Schritte entfernt im Garten stehende Scheibe von fünfzig cm Durchmesser mit dem Pfeil in's Zentrum. (CU 201)
Schreiben wie ein Zen-Schütze schießt: Sicher ist, daß Doderer mit japanischem Bogenschießen durch Thomas Marcottys Buch Bogen und Pfeile^^ in Berührung kam, das Doderer 1960 kenntnisreich rezensierte," und dessen Gedicht „An meinen Bogen" als Vorspruch in Marcottys Buch dient, in welchem das letzte Kapitel von der Zen-Kunst handelt. Eine weitere Quelle ist bei Doderer zwar nicht belegt, doch ist es kaum vorstellbar, daß ein Bogenenthusiast wie er mit Eugen Herrigels kleinem Büchlein ZEN in der Kunst des Bogenschießens nicht in Berührung gekommen ist.''* Herrigels Buch, das auch bei Marcotty zitiert ist, erschien 1951, wurde zu einem regelrechten Bestseller und in 13 Sprachen übersetzt. Was ist das Kyudo? Bekannt sind die beeindruckenden Bilder z.T uralter japanischer Zen-Meister, wie sie mit einem überdimensionalen Bogen, die Augen geschlossen, ruhig atmend in das Zentrum einer weit entfernten Scheibe treffen, Herrigel beschreibt den jahrelangen Weg hin zu einem solchen gelungenen Schuß. Gelingt dieser im Zen-Sinne richtige Schuß, so ist er nicht mehr vom Schützen selbst abgegeben worden, sondern im Zustand eines vollkommenen Einsseins mit der Leere, in dem das kleine Ego-Ich des Schützen, also alles Persönliche, ausgeschaltet ist. Dieser Zustand, im Zen auch das Erreichen der BuddhaNatur, ist der eigentliche Beweggrund für die Ausübung der jeweiligen Kunst. Es ist derselbe Zustand, der auch durch bloße, dem Zen entsprechende Meditationen zu erreichen ist; das Bogenschießen, wie alle anderen Zen-Künste, ist einfach ein anderer Weg dahin. Übungen der Technik und der Bewegungsabläufe, eingebettet in meditative Versenkung, führen zu einer Transformation des Schußvorgangs zum absichtslosen Dasein des Zen. Erst in diesem Zustand ist der wahre Bogenschütze zu erkennen, denn er ist in die Tiefen des Seins eingedrungen und lebt mit diesem in Verbindung. Daraus erklärt sich das Paradox, daß der Schütze die Scheibe gar nicht willentlich anvisiert; sobald er das täte, behielte das zielgerichtete Ego-Ich noch die Ober12 13
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Thomas Marcotty, Bogen und Pfeile, München 1958. Heimito von Doderer, „Wie ihr den Bogen spannt, so spannt auch eure Seele", in: Sonntagsblatt (Hamburg) vom 29.3.59. - Vgl. Engelbert Pfeiffer, „Bogenschütze Heimito von Doderer. Der Romancier - ein Tao-Schüler", in: Pamass 5 (1985), S. 72-76. Hier verwendete Ausgabe: Eugen Herrigel, ZEN in der Kunst des Bogenschießens, 35. Auflage Bern 1994.
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hand. Der wahre Schütze denkt an gar nichts mehr. Er läßt es strömen, alles andere geschieht von selbst. Jeder Zen-Schiiler, der sich entschließt, den Bogenweg einzuschlagen, visiert von vornherein zunächst sich selbst, nicht aber ein Schußergebnis an, solange, bis auch das Sich-selbst-Anvisieren als letzte Absicht verschwindet. Für die Außenstehenden ist die innerlich abgeschlossene Entwicklung sichtbar an dem perfekten Schuß, der ja indirekt über den Zustand des Schützen zustande kommt. Die Treffer bestätigen äußerlich, was sich innerlich ereignet. So sagt der Meister zu Herrigel: Die Treffer auf der Scheibe dort sind nur äußere Proben und Bestätigung Ihrer aufs höchste gesteigerten Absichtslosigkeit, Ichlosigkeit, Versunkenheit, oder wie sie sonst diesen Stand nennen wollen. Es gibt Stufen der Meisterschaft, und erst, wer die letzte erreicht hat, kann auch das äußere Ziel nicht mehr verfehlen."
Was bei den Zen-Künsten immer wieder beeindruckt, ist die Schnelligkeit, mit der sie im entsprechenden Zustand ausgeübt werden, denkt man z.B. an Bushido, den Weg der Samurai-Kämpfer, die aufgrund ihrer Schnelligkeit kaum zu besiegen waren. Auch beim Bogenschießen gibt es das blitzartige Lösen des Schusses, den Wechsel von meditativer Ruhe und blitzschnellem Handeln - wie sich vergleichsweise auch am Beispiel des Zen-Malers zeigen läßt: Gleich einem Samurai-Krieger vor der Schlacht, verbannt er alle Gedanken an die Welt; in einem Zustand der Kontemplation sammelt und ordnet er seine Energien, um zur plötzlichen Tat bereit zu sein. Wenn die Tusche fertig und das Papier geglättet ist, wenn er einen geeigneten Pinsel ausprobiert hat und sein Geist zur Ruhe gekommen ist - dann führt er den ersten Strich. [...] Das Werk muß aus der ZEN-Disziplin des Nicht-Denkens herausfließen. Der Künstler macht nie eine Pause, um sein Werk prüfend zu betrachten; die Tusche fließt mit unaufhörlichen, schnellen Pinselstrichen, kräftig oder schmäler, hell oder dunkel, wie es gerade erforderlich ist [ . . . ] . "
Doderer schreibt demgemäß in „Grundlagen und Funktion des Romans": Aus alledem ergibt sich, daß der Erzähler ein wesentlich passiver Typus ist, der die eintretende Constellation erwartet (um sich, wenn diese Grundbedingung gegeben, in die energischste Aktion zu setzen, aber das ist nebensächlich). (WdD 160)
Doderers Vorstellungen vom idealen Schreibvorgang zeigen so eine erstaunliche Parallele zu denen der Zen-Künste. Auch hier setzt Doderer vor die Aktion, also das Schreiben, das, was er den „erzählerischen Zustand" nennt (WdD 158). Den Zustand kennen wir, es ist der apperzeptive Zustand, der zahlreiche taoistische und damit auch Zen-Gedanken in sich trägt. Auch bei Doderer muß das Schreiben insgesamt aus dem Nicht-Denken kommen. So schreibt er in den Tangenten: 15 16
E b d , S . 71 Thomas Hoover, Die Kultur des Zen, Düsseldorf, Köln 1978, S. 125.
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Vom Denken führt kein direkter Weg zum Schreiben, dies liegt nicht in der Verlängerung von jenem. [...] Wir denken nicht, um zu schreiben, wir wollen uns keineswegs was ausdenken oder erdenken. (T 256) Die Entwicklung eines Schriftstellers führt zu einer immer vollständigeren Verlegung seiner Tätigkeit in den Raum vor dem Ergreifen der Feder: er wird ein sorgfältiger Weichensteller seiner Gedankengeleise, über welche dann der endlich ausfahrende Zug glatt und mühelos gleich ein paar hundert Seiten weit dahinbraust. (T 322)
Wie sieht das auf der inhaltlichen Ebene aus? Auch hier entspricht Doderer den Zen-Künsten, denn ebenso wie in einer Zen-Malerei oder im Zen-Bogenschuß der Wille und die Persönlichkeit des Ausübenden nicht maßgeblich sein darf, ist auch bei Doderer die Persönlichkeit des Autors (im Idealfall) ausgeschaltet. Die „ungerufen aufsteigenden Erinnerungen" (WdD 158), die jede gute Erzählung nach Doderer ausmachen, sollen von jedem Willenszugriff des Autors frei sein, sie müssen „ganz gestorben, voll vergessen und vergangen, und von allen Wünschbarkeiten und Sinngebungen gereinigt sein." (WdD 158) Doderers Worte über den erzählerischen Zustand, daß es, wenn man diesen erreicht hat, „vollends gleichgültig und gleichwertig wird - was man dann denkt und schreibt" (WdD 161), klingen für westliche Ohren befremdender als für östliche. Vor allen Dingen in den letzten Jahren seines Lebens, im Spätwerk, kam Doderer zu dem Schluß, daß große, eigentliche Kunst nur möglich ist, wenn alles Persönliche und Individuelle des Autors ausgeschlossen bleibt. Eine Forderung, die jeder Zen-Künstler teilen könnte. „Erst bricht man Fenster, dann wird man selbst eines":'^ Dieser Satz Doderers ist auch in taoistischer und Zen-buddhistischer Sicht sehr weise. Er zeigt in seinen beiden Hälften die Bewegung vom Handeln zum Nicht-Handeln, gleichbedeutend mit der Leere, um die Doderers Denken ständig kreiste. Erst die Leere des Fensters macht es für uns brauchbar.
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Heimito von Doderer, Meine neunzehn Lebensläufe und neun andere Geschichten, München 1966, S. 10.
MARTIN VORACEK
Rand der Wissenschaft, Beginn des Magischen. Zu Doderers Figurennamen^
Deine beiden sehr bedeutsamen Arbeiten über die „Strudlhofstiege" habe ich mit größtem Interesse gelesen. Diejenige in der „Wiener Zeitung" dürfte [...] wohl die ausführlichste Würdigung des Werkes bisher überhaupt sein. Frappiert hat mich darin der Abschnitt über die Namengebung: Derartiges hab' ich noch nie bei einem Kritiker gelesen. Dabei erscheint es mir ganz wesentlich; es ist ein durchaus Irrationales, worum es hier geht, Rand der Wissenschaft, Beginn des Magischen. Aber mich dünkt, diesen Rand muß ein Literarhistoriker so bewandern können wie Du. Intimste Kenntnis des Milieu's war hier allerdings Voraussetzung. Heimito von Doderer an Ernst Alker, Brief vom 2. Mai 1952
1. Accessus: D o d e r e r und die N a m e n - der N a m e Doderers H e i m i t o v o n D o d e r e r hat über 9 0 0 namentlich benannte Figuren in sein erzählerisches W e r k integriert. In der Sekundärliteratur z u D o d e r e r finden sich seit m e h r als 4 0 Jahren, v o r allem in den umfangreicheren Monografien, m e h r oder weniger ausgeführte literar-onomastische Passagen, einige Kurzanalysen oder auch allgemeinere Bemerkungen z u m Namenthema.
Der Beitrag beruht auf einer vom Autor erstellten und von Andrew Barker für die Veröffentlichung gekürzten Zusammenfassung der bislang unveröffentlichten Dissertation: Martin Voracek, Rand der Wissenschaft, Beginn des Magischen. Eine literaronomastische Studie zu den Figurenrutmen im Werk Heimito von Doderers, Diss. Wien 1992.
Rand der Wissenschaft, Beginn des Magischen
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Als erste Annäherung an die Namen in Doderers Werk sei ein Rekurs vom Werk auf das .Dichterleben' unternommen: Doderer trug einen aparten, ungewöhnlichen und klanglich reizvollen Vornamen, von dem bekannt ist, daß er unter ihm zumindest zeitweilig gelitten hat. Hilde Spiel berichtet, daß der junge, damals noch unbekannte Doderer Ende der 20er Jahre Zufallstanzpartner ihrer Mutter gewesen sei. Nach jener Redoute, anderntags, ließ Doderer durch einen Dienstmann ein Blumenbouquet samt Karte im Hause Spiel abgeben - wo man dann Hilde Spiels Mutter wegen des ungewöhnlichen Namens ihres Tänzers und Galans neckte.^ Der Familienname Doderer ist alt, schon im 14. Jahrhundert urkundlich bezeugt, und war ursprünglich der Übername für einen Stotterer.' Es ist nicht bekannt, ob Doderer um diese Etymologie wußte jedenfalls hat er durch sein literarisches Werk dieser Namenbedeutung ein Leben lang Hohn gesprochen und sie quasi annulliert). Abgesehen von der despektierlichen Etymologie ist es ein Leichtes, diesen Familiennamen zu verhunzen (wegen seiner repetitiven silbischen Struktur und der klanglichen Nähe zu ,Dodel' = einfältiger Mensch), und es ist eine nicht allzu gewagte Hypothese, daß eine Namenverunstaltung dieser oder gleichwertiger Art dem Schüler Doderer auch widerfahren ist. Ernst Alker, Doderers Klassenkollege von 1902 bis 1914, berichtet jedenfalls, daß sich gegen die preziöse Auffälligkeit des Vornamens ,Heimito' sogar Lehrer sträubten, die ihn lieber bei einem seiner weiteren Vornamen (Franz, Carl) riefen.'' Ein Blick auf Doderer und seine Geschwister: Ilse (1882 -1979), Almuth (1884-1978), Immo (1886-1975), Helga (1887-1927), Astri (1893 -1989) und schließlich auf ihn selbst (1896-1966). Nach dem Geburtsjahr gereiht, ergeben die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen die Reihe I-A-I-H-A-H, eine mehrfach ineinandergeschachtelte Symmetrie, ähnlich den Ornamenten gründerzeitlichen Hausfassaden (Doderer entstammte einer Architektenfamilie). Erstens werden sechs Kindern NaVgl. Erinnerungen an Heimito von Doderer, hrsg. von Xaver Schaffgotsch, München 1972, S. 154 f. Josef Karlmann Brechenmacher, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Familiennamen, Bd. 1, Limburg a.d. Lahn 1957 ff., S. 262, 322. Erinnerungen an Heimito von Doderer, a.a.O., S. 13. - Ein Bhck in die Klassenbücher aus Doderers Gymnasialzeit (Schulbibliothek des Bundesoberstufenrealgymnasiums Kundmanngasse, Kundmanngasse 20, 1030 Wien) bestätigt die Erinnerungen Alkers: In dem der la (1906/07) lautet die Eintragung auf .Franz von Doderer', in späteren Klassen findet sich (z.B. IVa, 1909/10) .Franz Karl Heimito Ritter von Doderer' oder ,Heimito Franz Karl Ritter von Doderer'. Im Schuljahresbericht 1913/14 schließlich ist der .vertrackte' Vorname verdruckt (.Heimilo').
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men mit nur drei verschiedenen Anfangsbuchstaben gegeben, zweitens so, daß keiner dieser Buchstaben auf einen gleichen folgt (also alternierend), drittens so, daß zwei Subsymmetrien entstehen, indem sich zwei identische Buchstaben jeweils um ein A gruppieren, und viertens ist Heimito der einzige dreisilbige Name (sozusagen der .Webfehler' des Namenmusters) - so wie Etelka später in der Strudlhofstiege, wo die anderen namentlich erwähnten Mitglieder der Familie Stangeier Asta und Rene heißen dies, obwohl sich ,Heimo' anböte und Ilse schon eine Kurzform ist (von Elisabeth). Die Struktur dieser Buchstabenreihe (a-b-ac-b-c) zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit der Strophenform der Terzine (Endreimschema a-b-a-b-c-b-c-d-c...), und es ist schwer vorstellbar, daß diese Namenauffälligkeiten von ihren Trägern und deren Beziehungsumfeld nicht registriert wurden.^ Der nicht alltägliche Autorenname ist von Verehrern immer wieder zu Begriffsbildungen herangezogen worden, wodurch die Namenfaszination hinreichend bekundet wird. Als ,Doderismus' bezeichnete Gunther Martin „jenes Bündel von hochkarätigen Eigenschaften, für das der Engländer das vielschichtige Wort ,smart' hat", das sich mit „einer betont wienerischen Geistigkeit und Kultur zu einer originellen Lebenshaltung, die fast eine Weltanschauung ist"^, mischt. Für Peter von Tramin ist der Doderer-Leser ein ,Fernheimitist', zum Unterschied von den wahren „Heimitisten"^, die, wie er, noch persönlichen und vertrauten Umgang mit dem Autor pflegen konnten. Doderer hat, durchaus selbstironisch bis selbstkritisch, seinen eigenen Namen dreimal in eigene Werke eingebracht. In den Dämonen heißt einer der unseligen Helfersknechte jener mühsam als Hexenprozeß kaschierten, sexualdevianten (skopophilen) Vorgänge Heimo, in den Wasserfällen von Slunj und im Grenzw^iW-Fragment kommt ein Schüler Doderer („der Doderer mit den Schlitzaugen", WS 9) vor. Doderer ist mehrfach^ wenn auch bislang nur in peripherem Ausmaß, in die Literatur eingegangen: Vor allem in Albert Paris Güterslohs Roman Sonne und Mond (1962), wo er in der Gestalt des Antisemiten und Präfaschisten Ariovist von Wissendrum auf eine unfeine, das Geschmacklose hart streifende Weise karikiert wird. Der Name, den GüVgl z.B. die Stammtafel in Heimito von Doderer, Meine neunzehn Lehensläufe und neun andere Geschichten, München 1966, S. 85. Gunther Martin, „Von denen Doderers und anderen Doderisten", in: Wiener Zeitung vom 2.8.1969, Beilage, S. III. Erinnerungen an Heimito von Doderer. Hrsg. von Xaver Schaffgotsch, a.a.O., S. 179. Vgl. Martin Voracek, Rand der Wissenschaft, Beginn des Magischen. Eine literar-onomastischeStudie, a.a.O., S. 7 7 - 8 1 .
Rand der Wissenschaft, Beginn des Magischen
zunehmender Ähnlichkeit bis zur endlichen Ubereinstimmung und Personalunion" einschieben können. Anstatt (was unwahrscheinlich wäre und durch kein Beispiel erhärtet wird) in der Wirklichkeit beliebig viele solcher Mitttelglieder anzunehmen, verweist Kammerer - nach dem Muster der „Trikymia", der jeweils dritten und höchsten Welle - auf die gerade in den antiken Vorstellungen verwurzelte „Triplizität der Fälle".^" Zwar fehlt auch in der jüngsten Studie zu den Dämonen^'* ein Hinweis auf Kammerer, vielleicht, weil er in den bisher edierten"*® Abhandlungen Doderers keine Rolle spielt, auch nicht im Briefwechsel mit Albert Paris Gütersloh oder in den Commentarii, den Tagebüchern 1951 bis 1966 (wo jeweils aber auch Scholz kein Thema ist), vielleicht auch, weil er in Schröders Liste der „Lektüretexte Doderers" ebensowenig begegnet wie
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Ebd., S. 75 f. (Kursive im Original unterstrichen). Ebd., S. 40. Weitere Fälle von scheinbar .angekündigtem' Zusammentreffen - in Wien natürlich - berichtet Kammerer in seinen Beispielen N r . 18 und 20, vgl. ebd., S. 26 f.
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Ebd., S. 21; vgl. S. 233 f. Ulrike Schupp, Ordnung und Bruch. Antonomien in Heimito von Doderers Roman „DieDämonen", Frankfurt a.M. 1994. Für eine weit darüber hinausgehende Bibliographie der theoretischen Schriften vgl. WdD 3 1 3 - 3 2 2 .
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in dessen Register/' Eingedenk der Problematik einer .Herleitung' von Doderers Denken in dem inzwischen dokumentierten Fall Weininger geht es hier nicht en detail, mit Jacques Le Rider bzw. der von ihm kritisierten Gisela Brude-Firnau zu sprechen, um den positivistischen, „unmittelbar aus dem Text oder der Korrespondenz gewonnene[n] Nachweis" einer Kenntnis Kammerers oder nur bei diesem nachweisbarer Thesen oder von direkten Zitaten, Paraphrasen oder „unverkennbare[n] Analogien"/^ Jedenfalls würde eine Kammerer-Rezeption, die hier nicht positiv behauptet, sondern nur zur Diskussion gestellt werden soll, ohne daß eine minutiöse einschlägige Auswertung des DodererNachlasses in der Handschriftensammlung der Osterreichischen Nationalbibliothek"*' große Aussichten auf eine handfeste Bestätigung bieten kann, die „Tendenz Doderers zur Verehrung abseits stehender und nicht allgemein anerkannter Persönlichkeiten wie etwa auch des Psychologen Otto Weininger" erhärten,'''* die in groben Zügen genauso ja auch für seinen Umgang mit dem Literaturkanon galt. Er nahm sich das Recht, die gängigen Diskursregeln zu ignorieren und praktizierte, was er selbst einmal die „sehr ertragreiche Grenzüberschreitung in ein ganz anderes Fachgebiet hinein" (WdD 18) nannte. Tatsache ist, daß Kammerers Name in den bisher bekannten Dokumenten nicht begegnet, auch nicht in den jüngst edierten Tagebüchern 1920 - 1939, wo Doderer hingegen im April 1935 über Scholz festhält, dessen Auffassung habe „mein Denken bis heute gelenkt" (TB 702, vgl. auch TB 703). Immerhin notierte er jedoch im Februar 1926, es sei „eine Zeit jetzt, in der Viele wiederkommen, die im Ausland gelebt haben, von der Bildfläche verschwunden waren, eine ganze Serie ist das", und vor allem hielt er bei der Planung der Dämonen im Juni 1936 einmal zur „Ouvert." und zu „Levielle" das Wort „Serien-M[otiv]" fest, was zwar durchaus nicht unbedingt für die Kammerer-Fährte, um so mehr aber für die Benennung des narrativen Verfahrens auf dem Hintergrund des biologisch-fatologischen Diskurses einen Schlüssel bietet (TB 347, 791).''^ Es gibt Motive genug, sich mit Blick auf Doderers Denken und For41 42
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Hans Joachim Schröder, Apperzeption und Vorurteil, a.a.O., S. 454 - 456, 469 - 474. Vgl. Jacques Le Rider, „Heimito von Doderer und Otto Weininger", in: L'actualite de Doderer. Actes du colloque international tenu a Metz, hrsg. von Pierre Grappin und Jean-Pierre Christophe, Paris, Metz 1986, S. 3 7 - 4 5 , hier: S. 39. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, „Zum Nachlaß Heimito von Doderer", in: Literatur und Kritik 4 (1969), S. 1 7 7 - 1 8 0 ; Laurenz Strebl, „Der Doderer-Nachlaß in der Österreichischen Nationalbibliothek", in: Bihlos2\ (1972), S. 1 7 - 2 5 . Ingrid Werkgartner Ryan, Zufall und Freiheit, a.a.O., S. 15. Für die letztgenannten Hinweise danke ich Gerald Sommer (Berlin).
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mulieren nicht nur bei Swoboda/^ Weininger, Gütersloh und Scholz umzusehen, sondern auch im Gesetz der Serie, denn: Kammerer entwikkelt ausführlich eine Erinnerungstheorie.''^ Er behandelt explizit den Aberglauben''^ und stellt „echter Periodizität" ausdrücklich sogenannte „Pseudoperioden" gegenüber,'" solche nämlich, die der Betroffene selbst beeinflußt hat („Nie könnte man es veranstalten", denkt Stangeier, s.o.), und spricht auch dort von „Pseudokorrelation", wo getrennte Ursachen vorliegen.'® Dies „Pseudo" soll vor naiver Annahme von Serialität schützen, fungiert also nicht auf derselben Ebene wie Doderers zur Serie notwendiger „Pseudo-Kammerrat". Immerhin formuliert Doderer nach demselben Muster; und nebenbei: mag nicht doch schon der Titel „Kammerrat" spielerisch an den Namen des Serienforschers erinnern? Kammerer untersucht, inwieweit die Wahrnehmung von Serialität „Lebensgestaltung" und „Lebensbeherrschung"'' unterstützt. Kaum ein Bild führt ja die Serialität einer als sinnvoll empfundenen Lebensstruktur besser vor Augen als Doderers häufig direkt, in Paraphrasen oder abgeleiteten Wortfeldern gespiegelte Metapher vom Gleis des Lebens." Kammerer war Biologe. Daß die Typreihenbildung in engstem Zusammenhang mit physiognomischen Ordnungsvorgängen steht, liegt auf der Hand.'' Der Romancier Doderer verfährt in solchen Dingen vermeintlich oder wirklich - als Empiriker.''* Es bleibt daher zu betonen, daß die Serie als solche durch die Wahrnehmung, durch Apperzeption von außen konstituiert wird. Die Elemente der Serie selbst brauchen sich ihrer Zugehörigkeit zu dieser und zueinander nicht bewußt zu sein. Wie oft wird nicht gerade bei Personen gleichen Namens und/ oder weiterer auffälliger Persönlichkeitsmerkmale unterstrichen, daß sie einander vor Feststellung der Koinzidenz nicht kannten. Nun ähneln Kammerers wie auch Scholz' Kurzerzählungen von Zufälligkeiten häu46
Vgl. die Zusammenstellung von Belegen für Doderers Swoboda-Begeisterung vgl. Heimito von Doderer 1896 - 1966. Selbstzeugnisse zu Lehen und Werk, hrsg. von Martin Loew-Cadonna, München 1995, S. 58 f. - Auch Wolfgang Fleischer (WdD 7, Vorwort) betont, daß Doderer in „Gesprächen weit häufiger als in seinen Schriften" auf Swoboda Bezug genommen habe.
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Paul Kammerer, Das Gesetz der Serie, a.a.O., S. 281 - 327. Ebd., S. 3 2 9 - 3 4 4 . Ebd., S. 239. Ebd., S. 422. Ebd., S. 345 u. 361. Karl Heinrich Schneider, Die technisch-moderne Welt im Werk Heimito von Doderers, Frankfurt a.M. [etc.] 1985, S. 7 0 - 7 6 . Dazu Hans Joachim Schröder, Apperzeption und Vorurteil, a.a.O., bes. S. 301 - 340. Dietrich Weber, Heimito von Doderer. Studien, a.a.O., S. 21 f.
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fig Jolles' „einfacher Form" Memorabile,^' sind aber deswegen noch nicht unbedingt Erzähhexte. Was im engeren Sinn erzähh wird, ist ja erst die Geschichte oder zumindest das Faktum der Entdeckung des Zufalls. Wenn aber der Beobachter die Beobachtung nur dem Leser, nicht aber den Betroffenen mitteilt? Dann handelt es sich offenbar um die Keimzelle zu dem, was Doderer im Roman No. 7/II als „roman muet" konzipierte, in dem die Wahrnehmung der Schicksalsverstrikkung den Romanfiguren nunmehr ganz vorenthalten werden soll, z.B. „die Duplizität der Geschichten Thamar Halfons und Ernst von Rottensteins".Was die Figuren jedoch nicht einsehen können, ist nichts anderes als das „Gesetz der Serie": Gesetzt den Fall, ich erblicke in Unter-St.-Veit einen Herrn am Bahnsteig, der dem mir bekannten Herrn K. ähnlich ist, so kann ich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten, daß in Hietzing Herr K. selbst einsteigen wird [...]. Der „Vorläufer" des Herrn K. muß nicht immer derselbe sein
Hier fällt nicht nur die Einsicht ins Auge, mit der die relative Willkür der Auswahl eines Präcursors erfolgt, so daß die Verantwortung (oder sollte man sagen: der Wille?) des Wahrnehmenden für die Serienbildung implizit deutlich wird, sondern überdies die Verwandtschaft mit der literarischen Doppelgängermotivik,^' sind doch Doppelgänger gleichsam der Vexierfall der Serialität. Was wunder, daß Doderer sich dieses Motivs im Fall der Schwestern Pastre in der Strudlhofstiege bedienen wird? Die Möglichkeiten der Zufallsmechanik und ihrer Fallstricke führt Kammerer kasuistisch mit „Fräulein X" und „Herrn Y" aus,'' fast wie eine Bauanleitung für Autoren besserer Romane. Der Weg zum Durchleuchten des räumlichen Zusammentreffens auf einer Aktionsbühne wie eben der Strudlhofstiege ist damit beschritten. Aber auch die Gruppierung, die gleichsam geometrische Anordnung von Personen, ergibt sich ja erst durch einen spezifischen Beobachterstandpunkt. Gleich nach dem weiter oben zitierten führt Kammerer folgendes Beispiel eines Serientypus an: Man lasse sich auf einer Bank am Rande eines nicht allzu dicht bevölkerten, doch viel-
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Andre Jolles, Einfache Formen, 5. Aufl. Tübingen 1974, S. 200 - 217. Dietrich Weber, „Fatologisches Gewebe: Heimito von Doderers ,Roman N o 7'", in: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergebnisse, hrsg. von der Niederösterreich-Gesellschaft für Kunst und Kultur, Wien o.J. [1986], S. 1 1 0 - 1 2 7 , hier: S. 122.
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Paul Kammerer, Das Gesetz der Serie, a.a.O., S. 362. Vgl. Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 4., Überarb. u. erg. Aufl. Stuttgart 1992, S. 9 4 - 1 1 3 . Paul Kammerer, Das Gesetz der Serie, a.a.O., S. 423 f.
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begangenen Promenadeweges nieder und beobachte das Kommen und Gehen der Passanten-, man wird sie niemals auch nur einigermaßen diffus verteilt sehen, sondern sie ziehen schubweise vorüber, und dann herrscht wieder eine Weile Ruhe.'°
Nun, dies ist kaum verwunderlich, wenngleich die Formulierung: „niemals auch nur einigermaßen diffus verteilt" wohl eine unbeweisbare Übertreibung bleibt. Die Grundbeobachtung aber hängt natürlich erstens zusammen mit menschlichen Verhaltensmustern, die z.B. vom Uberholen abhalten und deshalb auch in lockeren Fußgängergruppen Staus verursachen, indes auch zweitens mit dem Hang zur Gruppierung in der Wahrnehmung, damit also, daß es schwerfällt, eine diffuse Verteilung als solche gelten zu lassen. Nun aber der eigentlich bedeutsame Satz Kammerers: Die Gruppen bestehen nicht nur aus Leuten, die zusammengehen, weil sie zusammengehören, etwa miteinander reden oder sonst gemeinsam ihres Weges ziehen; sondern namentlich aus solchen, die nur der sogenannte Zufall als „Gruppe" erhält."
Eine solche nur äußerlich als Gruppe erscheinende Akkumulation von Menschen wird in den Dämonen entlarvt, wenn Licea durch ihr Hindurchschreiten einen geometrischen Schnitt durch die zwei innerlich nicht zusammengehörigen Hälften legt (D 307 u. D 17). Heimito von Doderers Werk weist, das stellt sich mehr und mehr heraus, eine Reihe unterirdischer Beziehungen zur schicksalsbesessenen Romantik auf, einfach deshalb schon, weil es sich bewußt der irrationalen Strömung der österreichischen Literatur in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts einschreibt, ganz wie dies auch, mit anderen Folgen, für Richard Billinger" galt, mit dem Doderer bis 1925 befreundet war.^' Ob nun Kammerer eine Quelle für Doderer ist oder beide gemeinsame Quellen benutzen: die in Kammerers Buch fixierte Auswahl lenkt unseren Blick doch immer wieder auf sehr spezifische Bahnen: So ist ein Gewährsmann Kammerers für die kleineren Un- und Zufälle ausgerechnet Friedrich Theodor Vischer, der bekanntlich in Auch Einer u.a. den „Hausrat" behandelt, welcher uns, wie nicht etwa Doderer in den Merowingem, sondern Kammerer in typisch Dodererscher Diktion formuliert, „kleinweise martert".^'* Und der von Kammerer herangezogene
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Ebd., S. 77 (Kursive im Original unterstrichen). Ebd. Vgl. Achim Hölter, „Richard Billinger: ,Rauhnacht' (1931). Historisches Interpretieren oder Gattungsgeschichte?" In: Interferenzen. Studien zum Verhältnis von Literatur und Geschichte, hrsg. von Lothar Bluhm, Friedhelm Marx und Andreas Meier, Heidelberg 1992, S. 8 5 - 1 1 0 .
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Vgl. Wolfgang Fleischer, Das verleugnete Leben, a.a.O., S. 164. Paul Kammerer, Das Gesetz der Serie, a.a.O., S. 47, bes. auch S. 349.
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Othmar Sterzinger nennt das Phänomen der Serialität die „Erscheinung von der durchgängig auftretenden Knäuelung",^' prägt also eine hochgradig Doderer antizipierende Formel, die sich freilich in der Wahrscheinlichkeitslehre nicht durchgesetzt zu haben scheint. Schließlich: Sind nicht Schlaggenbergs Unternehmung einer Suche nach dem „Dicke-Damen-Idealtypus" oder Zihals buchhalterischer Voyeurismus in den Erleuchteten Fenstern deutlichste Spekulationen auf einen Typus, der sich aus den „Typenreihen"'^ ergibt, auf ein Gesetz der Serie? Sind ihre Urheber nicht nach Art Kammererscher Vererbungsbiologie auf Ähnlichkeit und Abweichung spezialisiert, wenn nicht fixiert? Erinnert sei an Doderers eigenes Suchinserat in der Neuen Freien Presse vom 26. Mai 1930 unter der Chiffre „Restlos dieser Typ".''' Auch Schlaggenberg ordnet ja regelrechte Testserien an („Liquidierung der Rest-Reihen I und II", D 856): nicht nur dem Dämon der Sexualität verfallen, sondern auch dem Dämon der Serialität? Ist es zu guter Letzt ein Zufall, daß wir es in Stangeier, Schlaggenberg und Geyrenhoff mit genau drei „(mehr oder weniger) auto(bio)graphische[n] Figuren"'® zu tun haben? Wenn schon Hans Flesch-Brunningen beschrieb: „Kein Prosawerk Doderers hängt in der Luft. Das Gesamtoeuvre ist eine Kettenproduktion",'' so zeigte sich darin: Nicht nur die Serie der personalen Ich-Masken, sondern auch die der textgewordenen, der erzählten Ich-Masken also, gehorcht demselben Gesetz.
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Othmar Sterzinger, Zur Logik und Naturphilosophie der Wahrscheinlichkeitslehre, Leipzig 1911; vgl. Paul Kammerer, Das Gesetz der Serie, a.a.O., S. 175.
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Dietrich Weber, Heimito von Doderer, a.a.O., S. 68. Vgl. ebd., S. 58. Roland Koch, Die Verbildlichung des Glücks. Untersuchungen zum Werk Heimito von Doderers, Tübingen 1989, S. 130. Nachwort zu: Heimito von Doderer, Frühe Prosa. Die Bresche/Jutta Bamberger/Das Geheimnis des Reichs, hrsg. und mit einem Nachw. vers. von Hans Flesch-Brunningen. München 1968, S. 389. (Das Nachwort ist in der neueren Ausgabe der Frühen Prosa ( = F P ) nicht mehr enthalten.)
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Genealogie, Geschichte und Gregor. Zur Funktion von Geschichtlichem in Doderers Merowingern „Und obschon dies [ = die Mordpläne der Königin Fredegunde] König Gunthramn hinterbracht und auch seinem Neffen Childebert zur Kenntnis mitgeteih worden war, heß Fredegunde doch zwei Dolche von Eisen machen, die sie tief ritzen und mit Gift bestreichen ließ; wenn der Todesstoß die Lebensnerven nicht träfe, sollte mindestens das beigebrachte Gift schnell dem Leben ein Ende machen. Diese Dolche übergab sie zwei Geistlichen [...]", die sich als Bettler verkleiden und so in die Nähe von König Childebert schleichen sollten. Die Geistlichen wurden noch durch einen Zaubertrank gestärkt, von dem sie auch am Tage des geplanten Mordes etwas nehmen sollten.' Der Plan wurde durch rechtzeitige Inhaftierung der Mörder vereitelt, und im Verhör gestanden sie. ,„Und hätten wir den Dolch nicht heftig genug eingestoßen, so wäre doch das Gift, mit dem das Eisen bestrichen war, dir schnell ans Leben gegangen.' So sprachen sie. Da marterte man sie auf alle mögliche Art, schnitt ihnen Hände, Ohren und Nasen ab, und sie fanden auf verschiedene Weise den Tod."^ Dies ist ein kurzer Ausschnitt aus chronikalisch belegten Vorgängen im Merowingerreich, der mehr mit Doderers Roman über das Ende der Merowinger im 20. Jahrhundert zu tun hat als auf den ersten Blick erkennbar. In den folgenden Überlegungen beschäftige ich mich mit der Rezeption des Mittelalters in Doderers Merowingern und ihrer Funktion. Am Schluß stehen Überlegungen zu den Merowingern als Roman über Geschichte. Gregorii Episcopi Turonensis, Historiarum libri decem, post Brunonem Krusch hoc opus iterum edendum curavit Rudolfus Buchner / Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten, auf Grund der Übersetzung W. Giesebrechts neubearb. von Rudolf Buchner, Bd. 2, Buch 6-10, Darmstadt 1959, dt. Text: S. 197, 1-6. Die berichteten Ereignisse datieren vermutlich auf das Jahr 585. Ebd., S. 199,3-7.
Genealogie, Geschichte und Gregor
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Es ist ein Topos der nicht allzu umfangreichen Forschung zu den Merowingem, daß dieser Roman aus dem Rahmen des Dodererschen Schaffens herausfällt.^ Der Roman ist ja tatsächlich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zwar enthält er thematisch wenig, was man nicht in anderen Werken Doderers findet, allerdings ist die Zentrierung auf die Wut, ein bislang den Kurzformen vorbehaltenes Thema, eine Neuerung. Auch fehlen fast vollkommen jene atmosphärischen Beschreibungen, deren Meister Doderer ist. Der weitgehende Verzicht auf Atmosphärisches läßt eine in den anderen Texten eher versteckte Eigenart Doderers ans Licht treten: die auffällige Distanz zu seinen Figuren. Zudem ist es der einzige größere Roman Doderers, der zu weiten Teilen nach dem zweiten Weltkrieg in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Zeit der Abfassung angesiedelt ist. Die Zurückhaltung der Forschung hat Gründe. Das in der DodererForschung übliche (und methodisch problematische) Verfahren, die Romane weitgehend von den Äußerungen in den Tagebüchern her zu interpretieren, muß an den Merowingem scheitern, da sich zu ihnen nur wenige Einträge finden.'' Einschätzungen des Romans als Wissenschaftssatire oder als Satire auf Merowingische Heiratspolitik sind sicher nicht von der Hand zu weisen, doch es fragt sich, ob man dann nicht eine grobe UnVerhältnismäßigkeit der satirischen Mittel annimmt.^ Selbst wenn man Doderers äußerst gespaltenes Verhältnis zu seinen universitären Studien, besonders zu seinem zweiten Besuch des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1948 - 1950 berücksichtigt, muß man eingestehen, daß eine Interpretation des Romans als bloßes Abreagieren des Institutsfrusts zu kurz greift. Weitergehende Überlegungen haben in den Merowingem und ihrem Ende eine Allegorie auf den NaDieser Topos findet sich auch noch in neuesten Monographien, die auf den Roman im Gang ihrer Argumentation eingehen; cf. die summarischen Forschungsberichte bei Albrecht Huber, Die Epiphanie des „Punkts" oder: ,Die Begegnung mit einem Lichte'. Heimito von Doderers ,mythisch-musikalische Poetik' im Kem-Raum des ,Ereignisses', Würzburg 1994, S. 372 f.; Imke Henkel, Lebens-Bilder. Beobachtungen zur Wahrnehmung in Heimito von Doderers Romanwerk, Tübingen 1995, S. 175 f. F ü r diese allgemeine Tendenz der Forschung ist es wohl müßig, Beispiele zu geben. Genannt sei nur die Zentrierung der Forschung auf den Begriff der Apperzeption, die damit - ohne N o t - den Vorgaben des Autors folgt. Zu diesem Problem auch Kai Luehrs, „Leuchtbild der Topographie", in diesem Band S. 108 ff. Beide Einschätzungen bei Dietrich Weber, Heimito von Doderer, München 1987; als Satire auf merowingische Heiratspolitik: S. 92, als Wissenschaftssatire: S. 87. Hervorzuheben ist, daß Weber den Roman nicht in diesen Kategorisierungen erschöpft sieht. Zur Einschätzung als Wissenschaftssatire vgl. ausführlich Dieter Liewerscheidt, Satirischer Anspruch und Selbstpersiflage in Heimito von Doderers Roman „Die Merowinger", Diss. Köln 1976, bes. S. 48 - 59.
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tionalsozialismus und dessen Ende sehen wollen.^ Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine solch allegorische Lesart den Roman nicht überfrachtet. 1. Genealogie und andere Mittelalterlichkeiten Eine genaue Entsprechung zwischen Ereignissen des Romans und Ereignissen der merowingischen Geschichte gibt es, abgesehen vom Ende Childerichs III., nicht.^ Zwar existiert eine ausführliche Geschichte des Frankenreichs unter merowingischer Herrschaft, die Historiarum Libri decem des Bischofs Gregor von Tours, die jedoch 594, also weit vor dem Untergang der Merowinger, endet. Uber diesen berichtet nur kurz und vernichtend die karolingische Geschichtsschreibung - hier schreiben Sieger über Besiegte. Die Fakten: Im Laufe des 7. Jahrhunderts müssen die merowingischen Könige aus praktischen und politischen Gründen die Regierungsgewalt zum Großteil an Verwaltungsbeamte, die Hausmeier, abgeben. So wie das Königtum erblich ist (hinter dieser Erblichkeit steht die auch in Doderers Roman evozierte Vorstellung vom Königsheil, vom erblichen Charisma), entwickelt sich auch in der Familie der Pippiniden eine Erblichkeit des Maior Domus-Amtes. Drei Hausmeier namens Pippin weist dies Geschlecht auf (der älteste, wirklich Pippin von Landen wie in Doderers Roman, stirbt 640); erst Pippin der Jüngere kann die Herrschaft wirklich an sich reißen. 751 fühlte er sich stark genug, die Merowinger abzusetzen. Childerich III., der regierende merowingische Schattenkönig, sowie sein Sohn Childerich IV. werden geschoren und in einem Kloster festgesetzt. Die Scherung (sie betrifft nicht wie bei Doderer den Bart, sondern das Haupthaar, denn die Lokken der Merowinger sind äußeres Symbol ihres Charismas, des Königsheils) und die Klosterhaft (bei Doderer in Kastration umgewandelt, was aus genealogischer Sicht natürlich den Kern der Klosterhaft trifft) sind wirklich das einzige, was von den letzten Merowingern bekannt ist. Die Geschichte der Merowinger bietet weitere Anknüpfungspunkte für Doderer. In der Tat ist die obsessive Genealogie Childerichs III. in Doderers Roman eine merowingische wie allgemein mittelalterliche Georg Schmid, Doderer lesen. Zu einer historischen Theorie der literarischen Praxis. Essai, Salzburg 1978, bes. S. 114-117. Zum Folgenden vgl. Hans K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen. Merowinger und Karolinger, Berlin 1994, S. 21 -100, der einen komprimierten Überblick über die merowingische Geschichte bietet.
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Obsession. Sie stellt ein Leitthema dar, ist doch eine der großen kulturanthropologischen Entwicklungen des Mittelalters die unter starkem Druck der Kirche vollbrachte Wendung des Adels von der endogamen zur exogamen Ehepolitik.^ Zwar transzendiert Doderer die politische, primär an der Machtsicherung interessierte mittelalterliche Heiratspolitik, wenn er Childerichs Ehebemühungen zum vermeintlichen verwandtschaftlichen Selbstzweck werden läßt. Doch spielt ja gerade der pekuniäre Aspekt von Childerichs Bemühungen eine zentrale Rolle im Roman, denn das Scheitern Childerichs ist ursächlich mit der Konstruktion der „Subkontisten" verbunden, einer aus finanzpolitischen Gründen entstandenen Gruppe des Bartenbruchschen Stammbaums. Es gibt in beiden Handlungssphären des Romans, der merowingischen wie der um die Wuttherapie des Dr. Horn kreisenden psychologischen, eine Reihe von Bezügen zum Mittelalter. Sie finden sich häufig als Erklärungen oder als Parodie einer Erklärung - im Zusammenhang mit mehr oder weniger absurden Episoden des Romans. So werden die „Aufplusterungen" ^ e r 106) Childerichs, die Aufmärsche mit seiner Musikkapelle, als „mittelalterliche Volksbelustigungen" (Merll5) bezeichnet - es sind klassische Aufzüge der höfischen Repräsentation. Die Figur Wänzrödls, des Hofzwergs, wird ausdrücklich durch den Hinweis auf merowingische Traditionen gerechtfertigt. Auch Childerichs kurzzeitiger Ausflug ins Mäzenatentum mag als aus dem höfischen Mittelalter übernommener Zug gelten. Ausdrücklich den Bezug zum Mittelaher stellt das in „waffen-geschichtlichen Abschweifungen" (Mer 40) historisch korrekt beschriebene Frankenschwert dar, an dem gleichzeitig die Untiefen frühmittelalterlicher Sachgeschichte vorgeführt werden.' Das Motiv des Bartes - ein Zentralmotiv von Childerichs genealogischem Wahn - kann ebenfalls mittelalterlichen Vorstellungen geschuldet sein. Zwar ist es, was die historischen Merowinger anbelangt, ungerechtfertigt, dennoch ist der Bart Childerichs eine Umsetzung von im Zur Grundinformation cf. die einschlägigen Handbuchartikel, besonders: P. Mikat, Art. „Ehe", in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. I, Berlin 1971, Sp. 809-833; F. Merzbecher, Art. „Ehe, kirchenrechtlich", ebd., Sp. 833-836; „Ehe" (Sammelartikel), in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, 2. Aufl. Freiburg 1959, Sp. 675-695; Joseph Wenner, Art. „Ehehindernisse", ebd., Sp. 702-706. - Die Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Ehemodelle ist eines der Grundthemen mittelalterlicher höfischer Literatur. Die Ausführlichkeit der Schwertbeschreibung hat m.E. ihren Grund in eben dieser Ironisierung der Fundbegeisterung der Frühmittelalterhistoriker. Vgl. dagegen: Albrecht Huber, Die Epiphanie des „Punkts", a.a.O., S. 378 f.; er sieht eine symbolische Bedeutung.
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Mittelalter belegten Vorstellungen, daß im Bart der Sitz der Persönlichkeit zu suchen sei, der Abt Burchard von Bellevaux gründet darauf seine Apologia de barbis. Daß auch der psychologische Bereich nicht frei von Mittelalterlichkeiten ist, kann bei Doderers Einschätzung der Psychologie nicht verwundern. „Unsere ganze Psychologie ist desinfizierte Dämonologie. Entwest, entkeimt, und steril", äußert sich Stangeier in der Strudlhofstiege (S 689). Deutlichstes Beispiel einer Redämonisierung in den Merowingem ist der ,Beutelstich', die von Dr. Schajo angewandte Konkurrenzmethode zur Hornschen Wutbehandlung, die in mehreren Fußnoten (Mer 174 f.) auf „Analogiehandlungszauber" (Mer 173) zurückgeführt wird. Der wissenschaftliche Apparat, der anMlich dieses Nachweises aufgefahren wird, ironisiert wissenschaftliches Arbeiten. Ausgehend von einem Anikel im Bächthold-Stäubli (trotz des Dodererschen Namens wirklich der Herausgeber des Handwörterbuchs des deutschen Aberglaubens^^) wird etwa die Unzulänglichkeit bibliographischer Usancen kritisiert: „Einen Menschen namens Meyer ohne Vornamen zu zitieren, darf als inhuman bezeichnet werden." (Mer 175) Gleichzeitig wird ein solides mediävistisches Wissen entfaltet. Allerdings werfen die Häufung von absurden Parallelen und die plötzlich auftretende Pseudo-Wissenschaftlichkeit ein ironisches Licht auf den .Beutelstich', wodurch das abschließende Diktum des Erzählers relativiert wird: „Eines aber schon jetzt und im voraus: wir halten's mit den Beutelstechern." (Mer 176) Dies ist eine Parteinahme für die mittelalterliche Dämonologie und gegen die vermeintlich wissenschaftliche Psychologie Horns, die durch die ironischen Fußnoten ins Absurde gezogen wird. Mit dieser Relativierung aber ist Doderers eigene Position getroffen: Denn mittelalterliches Analogiedenken in seiner theoretischen Ausprägung steht im Zentrum
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Burchard de Bellevaux: Apologia de barbis, ed. E. Ph. Goldschmidt, Cambridge 1935; die maßgebliche Ausgabe jetzt in: Apologiae Dvae, ed. by R. B. C. Huygens. With an introduaion on beards in the Middle Agas by Giles Constable, Tvrnholti 1985 ( = Corpvs Christianorvm, Continvatio Mardiaeualis LXII); vgl. Helmut Hundsbich1er, Art. „Bart", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. I, München, Zürich 1980, Sp. 1 4 9 0 1491. Natürlich ist auch der Name des letzten merowingischen Geschlechts, von Bartenbruch, mit diesem Komplex verknüpft - ein Name, der neuzeitlich anmutet und weder in den einschlägigen mittelalterlichen noch in den biographischen Standardnachschlagewerken verzeichnet ist.
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Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. von Hanns Bächthold-Stäubli, Berlin, Leipzig 1927. Die beiden von Doderer angegebenen Stellen (I, 394 und I, 1293) sind (auch inhaltlich) korrekte Angaben und beziehen sich auf die Artikel „Analogiezauber", Unterpunkt Analogiehandlungszauber, und „Bildzauber"; das Zitieren eines Meyer ohne Vornahmen passiert allerdings erst Sp. 1298.
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von Doderers Weltbild, genannt sei nur der Bezug zu Thomas von Aquin und der Vorstellung einer analogia entis. Das ist kein Einzelfall. Man kann in den Merowingem immer wieder zeigen, wie Doderer die mittelalterliche Welt und die wissenschaftliche Welt gegeneinander ausspielt. Doderer setzt das Wechselspiel von Geschichte und Psychologie dazu ein, seine bisherigen Grundpositionen zu relativieren.'^ 2. Geschichte und Geschichtssynkretismus Das Mittelalter ist eine allen Ebenen des Romans hinterlegte Folie, aber die Darstellung dieses Mittelalter ist (absichtlich) unpräzise: Es reicht synkretistisch vom 6. Jahrhundert bis in die frühe Neuzeit. Viele Anklänge ans Mittelalter sind darüber hinaus nur Hinweise auf repräsentatives Zeremonialhandeln. Sie verweisen allgemein auf die feudale Gesellschaft, nicht auf das Mittelalter. Damit erhält die Mittelalterrezeption eine erste konkrete Funktion: Sie vertritt im Roman die adelige Welt, die Doderer in der Figur des Childerich zwar ironisiert, jedoch nie vernichtend kritisiert - es sei nur an die permanente Freigebigkeit Childerichs erinnert, etwa als Entschädiger für Wutanfälle. Der Erzähler steht (zumindest oberflächlich) auf der Seite Childerichs, nicht auf der des Barbiers oder der Diener, die sich bereitwillig malträtieren lassen, um abkassieren zu können. Zu den verschiedenen Zeitschichten des historischen Mittelalters tritt noch die Schicht eines bereits rezipierten Mittelalters. So ist etwa die Beschreibung der Wutorgel im Park (besonders auch die bei der seltenen Betätigung dieses Instruments heraufbeschworene Atmosphäre) eine Aufnahme von Motiven aus der Gothic Novel." Der unpräzise Mittelalterbezug fördert den Eindruck einer Entzeitlichung des Romans. Zwar sind die Merowinger der einzige Roman Doderers, der in seinen umfangreichsten Partien nach dem Ende des Zwei12
Die Tendenz zur Relativierung beschreibt auch Dieter Liewerscheidt, Satirischer Anspruch und Selbstpersiflage, a.a.O., bes. S. 154-156, der in den Merowingem die großen Themen Doderers wie Apperzeption und Fatologie parodiert sieht; vgl. auch Andrew W. Barker, „Heimito von Doderer and the .Science' of Physiognomy", in: New German Studies 5 (1977), S. 91 - 1 0 9 , der in den Merowingem eine Parodie physiognomischer Positionen sieht.
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Das zeigt sich schon bei der ersten Beschreibung der Orgel, die „tief im Forste" gebaut wird, die ein „Höllenregister" erhält und Blitz und Donner erzeugen kann (Mer 130), dazu noch „schwer und finster" wirkt, wie ein „Tempel des Grimms" (Mer 131). Es ist dies der Topos eines bösen Gebäudes (mit den obligaten Naturbegleiterscheinungen), wie er sich paradigmatisch im Castle of Otranto von Horace Walpole findet, und bereits von Jane Austen in Northanger Ahhey ironisiert wird.
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ten Weltkriegs spielt, zwar ist er in Franken verortet, doch ist der spezifische Chronotopos''' des Romans so angelegt, daß er sich einer genauen Bestimmung widersetzt. Franken ist natürlich wegen der frühmittelalterlichen Konnotationen zum Schauplatz ausgewählt worden (und bleibt ebenso konturlos wie das mittelalterliche fränkische Reich der Merowinger'^). Die Moderne ist durch höfische Relikte wie durch verschiedene mittelalterliche Zeitebenen so aufgeweicht, daß man konstatieren muß, daß die Welt des Romans zwar aus Elementen der uns allen geläufigen historischen Welt aufgebaut ist, offenkundig aber gänzlich eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Childerichs großangelegter genealogischer Versuch hat ebenso wie mittelalterliche Heiratspolitik pekuniäre Grundlagen, wie zu Beginn des Romans in der Konstruktion der Subkontisten deutlich wird. Der Ausheiratung des Vermögens weiß Childerich immer wieder Hemmnisse entgegenzusetzen. Auch in der Eheschließung mit den jeweils letzten Gattinnen von Vater und Großvater liegt ein nachvollziehbares pekuniäres Kalkül. Bis hier kann man die Ereignisse kaum als Parodie auf mittelalterlich-merowingische Zustände beschreiben, da die Ehepolitik dieses Geschlechts das bei Doderer Geschilderte weit überbietet. So bleibt Childerich III. in Doderers Roman bei der sukzessiven Monogamie - und damit hinter den Möglichkeiten genealogischer Komplikation der mittelalterlichen Merowinger durchaus zurück. Die Grenzen der Dodererschen Satire sind die Grenzen der Moral der Nachkriegszeit: Childerich hat keine Nebenfrauen, das Problem der Bastarde wird im Roman in die Geschichte abgedrängt; auch der Gewaltausübung bleiben Grenzen gesetzt. Sie reicht vom Plombieren und Plautzen bis hin zur Kastration; der von den historischen Merowingern relativ freizügig eingesetzte politische Mord fehlt. Das Resultat der Heiratspolitik, die totale Familie, macht bekanntlich Childerich zu seinem eigenen Vater, Großvater, Schwiegervater und Schwiegersohn (bei gleichzeitiger, dem Analogiedenken verhafteter, entsprechender Ausdehnung der Barttracht). „Hier, an dem Punkte, wo wir jetzt halten, begann eine neue Periode im Leben Childerichs III., näm14
Zum Terminus cf. Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hrsg. von E. Kowalski und M. Wegner, Frankfurt a.M. 1989, eine erste Definition dort: S. 7 - 9 . Wie immer bei Bachtin ist aber die Definition kaum von den folgenden Untersuchungen zu trennen.
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Natürlich wird durch die Ansiedlung in Deutschland, genauer, in einem Landstrich Deutschlands, der zwar nicht historisch, aber von der Bezeichnung her mit dem ersten Deutschen Reich in der Geschichte verbunden ist, der implizite Bezug zum Dritten Reich des Nationalsozialismus möglich.
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lieh die der Adoptionen: nicht etwa, daß er selbst irgendwen adoptierte; aber zu den ihm noch fehlenden familiären Chargen zu gelangen, nämlich sein eigener Schwager, ja Oheim und Neffe zu werden, konnte er nur auf dem Wege der Adoption hoffen [...]. Nur so blieb das Ein-MannPrincip realisierbar." (Mar 53) Das Ein-Mann-Prinzip ist der Triumph der Zeitlosigkeit: wenn das Leben einer Person gleichzeitig vier Generationen umfaßt, ist die Dimension der Zeit in ihrer Bedeutung reduziert. So spielt denn auch Geschichte (die Ereignisgeschichte der Jahre, in denen die Handlung vorgeblich abläuft) eine ebenso untergeordnete Rolle wie das Alter der Personen. Zwar wird Childerichs Biographie thematisiert, doch erlangt sie - auch wegen des den Beginn der Handlung stark raffenden Erzählstils - keine Prägnanz. Daß der Zweite Wehkrieg nur in wenigen Sätzen erwähnt wird (als für die Familie Bartenbruch fast ereignislos), hat die Forschung in verschiedene Richtungen interpretiert: als Hinweis auf Doderers Vermeidungsstrategie angesichts des Nationalsozialismus sowie als Indiz dafür, hinter den Merowingem eine Allegorie auf die nationalsozialistische Herrschaft zu sehen.'' Die Ambivalenz der Dodererschen Konstruktion ist offenkundig. Einerseits ist Childerichs Streben ein zentrifugales Streben aus der Geschichte hinaus. Andererseits hat er zu Beginn seines Planes den entscheidenden Fehler begangen, Childerich IV. zu zeugen, was späterhin zur Äußerung des Dr. Döblinger führt, „die kastrative Problemlösung war Childerich III. ab ovo, um nicht zu sagen ab ovis, als Entelechie im16
Georg Schmid, Doderer lesen, a.a.O., S. 1 0 4 - 1 2 2 , bes. S. 114f., verbindet beide Ansichten, wenn er zwar Doderer generell eine Vermeidungsstrategie angesichts der direkten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bescheinigt, andererseits aber in den Merowingem eine Allegorisierung dieses Komplexes sieht. Der Zusammenhang zwischen der im Roman besonders in der Handlungsschiene um Dr. Döblinger wichtigen Physiognomie und der nationalsozialistischen Rassentheorie wird streng ideologiekritisch dargestellt von Hans Joachim Schröder, Apperzeption und Vorurteil. Untersuchung zur Reflexion Heimito von Doderers, Heidelberg 1976, S. 3 7 2 - 4 1 1 . Eine Ironisierung der eigenen physiognomischen Position sehen dagegen Dieter Liewerscheidt Satirischer Anspruch und Selbstpersiflage, a.a.O., und Andrew W. Barker, „Heimito von Doderer and the ,Science' of Physiognomy", a.a.O., bes. S. 100 (u. ff.); ders., „Das Romanschaffen Heimito von Doderers im Bannkreis des Faschismus", in: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergebnisse, Prein/ Rax, Wien o.J. [1988], S. 1 5 - 2 7 , erwähnt dagegen die Merowinger nicht. Albrecht Huber, Die Epiphanie des „Punkts", a.a.O., bes. S. 409, verstehe ich in Richtung der AllegoriePosition. Unterschiedlich akzentuiert wird jeweils, was das Bild für den Nationalsozialismus darstellen soll: entweder die aus physiognomischen Gründen prügelnde erste Bande des Dr. Döblinger (mit der Anknüpfungsmöglichkeit der Verstrickung Doderers in den Nationalsozialismus) oder die totale Familie Childerichs. Auch Dietrich Weber, Heimito von Doderer, a.a.O., S. 95 - 1 0 0 , deutet einen Zusammenhang von Physiognomie und Rassentheorie an.
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pliziert" (Mer 363). In der genealogischen Kernszene des Romans wird dies deutlich. In einer durch einen Wutanfall des Vaters ausgelösten Konfrontation mit dem Sohn kommt es nicht zur erwartbaren Verprügelung des Alten, sondern der riesenhafte Sohn ergreift seinen zwergigen Vater und setzt ihn „außerhalb der Reichweite des eigenen Armes überhaupt" wieder ab. (Wie das gehen soll, verschweigt Doderer leider.) E r stellte Childerich III. sachte ab, richtete sich auf und sagte [...] indem er ruhig auf den völlig verdutzten herabsah: „Wie sprichst Du mit deinem Oheim?" Dies war zu viel. „Was soll's?!" brüllte der Merowinger auf. „Ich bin der Sohn deiner Großmutter", sagte Schnippedilderich in aller Ruhe, „demnach, wenn schon nicht dein Vater, so doch wohl mindestens dein Oheim. [...] Childerich III. erstarrte. Es war ein Schock. Es war, als wäre er im vollen Laufe gegen eine Mauer gerannt. [...] Hier war das Loch in seinem System (Mer 83).
Und erst ab jetzt schwillt der „finstere Paroxysmus" (Mer 82) ins Unermeßliche, die hellen Augenblicke werden weniger - kurz, erst ab jetzt verwandelt sich Childerich III. endgültig in das Wutwesen, das von seinen Verwandten entmachtet wird. Die Erkenntnis, daß sein Plan scheitern muß (die immerhin nicht die alt-merowingischen Lösung des Filiozids heraufbeschwört), führt jedoch nicht zur Aufgabe; Childerich richtet nun sein Augenmerk verstärkt auf die adoptive Lösung. Wie sich aus dieser Konstellation „unumgänglich" (Mer 362), also mit epischer Konsequenz, die castrative Lösung entwickelt, ist eine weitere Mittelalterlichkeit des Romans.
3. Gregor oder Episches Erzählen zwischen Geschichte und Geschichten Das Erzählen in den Merowingem ist wesentlich durch mittelalterliche Erzählmodelle beeinflußt. An erster Stelle sind die 10 Bücher Geschichten des Gregor von Tours und, für die Ereignisse um die Scherung und Entmannung Childerichs III., das Nibelungenlied zu nennen. Die Beschäftigung mit der Narratologie von Geschichtsschreibung hat eine Auffälligkeit der Historiarum libri decem des Gregor von Tours zutage treten lassen. Ihr Stil ist von einer erstaunlichen Distanz zum Berichteten. Gregor, Bischof von Tours, zeigt sich unbeeindruckt von den alles andere als christlichen Umgangsformen an den merowingischen Höfen. Dieser über weite Strecken nicht wertende Erzählstil - der, um Doderers Terminus zu gebrauchen, eine weitgehende Apperzeption nahe-
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legt'^ - ist in klerikaler Geschichtsschreibung fast einmalig. Eine zufriedenstellende Erklärung steht aus, doch lassen sich unabdingbare Elemente einer solchen Erklärung nennen: Daß Gregor die christlichen Geboten oft nicht einmal rudimentär folgenden Handlungen der merowingischen Könige weitgehend entschuldigt, hängt sicher mit Gregors Amt als Bischof, also als Weltgeistlicher, der zwischen den Fronten der Klosterkleriker und den Adligen vermitteln muß, zusammen. Gregor ist im gleichen Maße Politiker wie Kirchenmann. Hinzu tritt die Bereitschaft, den Frankenfürsten einiges nachzusehen, da sie sich zum Katholizismus und nicht, wie die anderen Germanen, zum mittlerweile als häretisch eingestuften arianischen Christentum haben bekehren lassen.'^ Diese Stellung zwischen den Welten und die Zweigleisigkeit der Handlung, hier Hofintrigen, da religiöse Auseinandersetzungen sowie Mirakelerzählungen, repliziert Doderer in den Merowingem mit der Zweiteilung von Psychologie und Merowingerchronik. Die Grundstruktur der Merowinger zeigt also eine deutliche Parallele zu der des Geschichtswerks Gregors; für einzelne Episoden treten weitere Texte hinzu. Als sofort erkennbarer Fremdkörper im genealogischen Geflecht der Merowinger wirkt - nicht nur wegen seines Namens - Hagen von Tronje, ein Stiefsohn aus der ersten Ehe Childerichs mit Christiane Paust. „Von Barbara's drei Brüdern war, als ihre Mutter noch einmal heiratete, nur der älteste schon eigentlich erwachsen, ein riesenhafter, stark-knochiger Mann mit dem schwarzen Roßhaar der geborenen von Knötelbrech, den man im Familienkreise Hagen von Tronje nannte. Er sah auch wirklich so aus." (Mer 51)" Hagen verschwindet aus dem Roman, um an entscheidender Stelle aktiviert zu werden, bei der „Entscheidung im Endkampfe" (Mer 298). Dieser nimmt bekanntHch seine Treibkraft aus dem bereits erwähnten Paustschen Sack: „[...] Agnes stellte die eigentliche Seele der Revolte dar" (Mer 295), zusammen mit der ihr wesensverwandten Cousine Anneliese. „Dem Pippin war der Weiber Wut was wert, weil sie ja stets gegen Childerich III. hetzten; und vor allem hetzten sie die eigenen Männer auf. [...] Einer besonders war's, den er an sich zu ziehen trachtete [...]: Hagen von Tronje" (Mer 297). Hagen von Tronje verweist natürlich auf das Nibelungenlied. Die finstere Erscheinung der Dodererschen Hagen bezieht sich allerdings weniger 17 18
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So scheint es auch Doderer gesehen zu haben, s.u., Abschnitt 4. Vgl. Hans K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen, a.a.O., S. 76 80. Hier allerdings wie Doderer einen Musterfall der Apperzeption zu sehen, ist ahistorisch und verkennt gerade die Bedingtheit von Gregors Sichtweise. ,Hagen von Tronjes' wirklicher Name ist und bleibt also im Roman unbekannt - ein wahrhaft mittelalterliches Stück Namensmagie!
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auf den mittelalterlichen Text als auf volksläufige Bearbeitungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts oder auf Wagners Ring-Tetralogie. Über das - letztlich periphere - Auftreten Hagens hinaus häufen sich Hinweise auf den Schluß des Nibelungenliedes. Das Motiv der ,Wut der Weiber' als Movens der Handlung ist hier ebenso zu nennen wie die Ansiedlung wichtiger Ereignisse in der Halle des Wohnsitzes Childerichs - ein Hinweis auf die typischen Hallenszenen der germanischen Epik, die gerade in der Darstellung der Katastrophe des mittelalterlichen Nibelungenliedes wieder evoziert werden. Auch die - mehrfach betonte - Statuarik der Wut-Wechselreden zwischen Childerich und Pippin (sowie die Flucht ins lyrisch-dramatische) sind teils ironisierte Nibelungigkeiten. Es geht mir nicht um den Nachweis einer mehr oder minder exakten Rezeption des Nibelungenliedes. Die Erzählweise des großen Untergangs aber nimmt eindeutig epische Muster auf, wie sie in der deutschen Literatur erstmalig im Nibelungenlied verschriftlicht wurden. Eine augenfällige Differenz zum mittelalterlichen Nibelungenlied erweist sich bei genauerer Betrachtung als weiteres Indiz für die Richtigkeit dieser Assoziation. Während der Untergang im Nibelungenlied wesentlich durch die Rachegelüste einer Frau bestimmt wird, sind in den Merowingem zwei weibliche Mitglieder des Paustschen Sacks das Movens der Handlung. Dies Motiv scheint eher Gregors Frankengeschichte entnommen: Das Motiv von zwei Frauen, die eine langfristige und mordgierige Intrige spinnen, strukturiert große Strecken des Geschichtswerks. In dieser Erzählsequenz Gregors hat man die historische Grundlage des Nibelungenliedes referiert sehen wollen. Sie betrifft Ereignisse um Brunichildis, die Gattin des Merowingerkönigs Sigibert, und um die eingangs zitierte Fredegunde, die ehemalige Mätresse und spätere Gattin Chilperichs I., eines anderen merowingischen Teilkönigs. Es ist unwichtig, ob diese Einschätzung bei genauerer Untersuchung zutrifft, wichtig ist, daß die Lehre an der Wiener Universität immer stark diese Art der historischen Situierung heroischer Literatur betont hat.^° So könnte sich, fern von aller Zufälligkeit, das Auftreten Hagens sowie die Kombination Nibelungenlied - Gregor von Tours als einer besonderen Forschungssituation geschuldet erweisen. Doch auch wenn Doderer diese Forschungsrichtung unbekannt geblieben ist, liegt die oberflächliche Verbindung der beiden Texte nahe. 20
Vgl. Otfried Ehrismann, Nibelungenlied. Epoche - Werk - Wirkung, München 1987, S. 6 2 - 6 9 (mit weiteren Literaturangaben). Bereits vor O t t o Höfler in den SOiger Jahren ist diese These in den sagengeschichtlich orientierten Forschungen zum Nibelungenlied aus der ersten Jahrhunderthälfte stets präsent gewesen.
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Ebenfalls dürfte das stilistische Hauptmerkmal des Nibelungenliedes die epische Vorausdeutung - Doderer fasziniert haben, ersetzt doch der durch diese Vorausdeutungen geschaffene Ereignishorizont eine kausale Handlungskette. Dieser Verzicht auf handlungslogische Motivationen erlaubt auch den Schluß-Coup des Romans, durch den Childerichs Leben einen nach den Ereignissen eingeforderten Sinn erhält: die auktoriale Setzung einer ,kastrativen Entelechie'. Das Epos stellt dem Erzähler die formalen Mittel bereit, weitgehend auf eine Individualisierung seiner Personen zu verzichten und dennoch eine Ereigniskette zu ihrem fatalistisch oder fatologisch begründeten Ende zu führen. Ein epischer Text wie das Nibelungenlied bietet (auch in seinen modernen Bearbeitungen und Übersetzungen) obendrein einen passenden stilistischen Subtext, der als Vorlage für den Szenenstil des Schlusses gelten kann (sowie auch für den streckenweise schlichtweg schlechten, altertümlichalliterierenden Stil der versifizierten Passagen). Ein weiteres stilistisches Merkmal eines Epos, das sich in allen Theorien zu diesem Genre findet, ist die epische Distanz; eine Distanz, die Doderer in den Merowingem ganz bewußt durch seinen Geschichtssynkretismus potenziert. Es entsteht - trotz der Kontinuität, die durch die Implementierung des Erzählers in den Roman insinuiert wird - in den Merowingem der Eindruck einer geschlossenen epischen, endgültig verlorenen Welt, von der aus keine Verbindung zur Gegenwart mehr besteht.^' Am Schluß des Romans steht expressis verbis die Trauer über diesen Verlust. 4. Distanz und Geschichte Gregor von Tours gilt Doderer als ein Beispiel einer gelungenen Apperzeption. In den Tangenten heißt es (Eintragung vom 31. Januar 1940): ,„Wir stehen jetzt im Greisenalter der Welt, darum hat die Schärfe des Geistes nachgelassen, und niemand vermag es, in dieser Zeit den früheren Schriftstellern gleichzukommen' (Fredegarius, Fortsetzer der Historia Francorum des Gregor von Tours, ca. 640 n.Chr.) F. ist ein sehr schwacher Autor. Wär' er's heut', wär' er solcher Einsicht nicht fähig. Aber noch befindet er sich auf derselben Leiter wie die intelligentia, nur 21
Die Merowinger sind ein Roman, der erstaunlich wenig .romanhafte' Merkmale, dafür aber wesentliche Elemente verschiedener Epos-Definitionen aufweist. (Die oben genannten Merkmale orientieren sich an der Definition von Michail M. Bachtin, „Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung", in: Disput über den Roman. Beiträge zur Romantheorie aus der Sowjetunion 1917-1941, hrsg. von M. Wegner, B. Hiller, P. Kessler und G. Schaumann, Berlin, Weimar 1988, S. 4 9 0 - 5 3 2 .
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eben auf einer tiefen Sprosse, noch hat er mit jener das gleiche Maß, verweigert nicht ihre Apperzeption." (T 38) ImpHzit stelh Doderer hier Gregor von Tours ein sehr gutes Zeugnis aus, was die Apperzeptionsfähigkeit anbelangt. Dieser 1940 formulierte Gedanke belegt zunächst, daß Doderer auch zwischen den weit auseinanderliegenden Perioden seines Geschichtsstudiums die sachliche Basis frühmittelaherlicher Geschichte nicht aus den Augen verloren hat. Aus den Tagebüchern erfährt man wenig über das Geschichtsstudium Doderers. Das gilt mehr noch als für das Universitätsstudium für den zweiten Besuch des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Immerhin attestiert Günther Hamann in einem Nachruf auf Doderer, daß dieser „flüssig [...] die unfreundliche Schrift einer Merowinger-Urkunde herunterlas oder [...] beschlagen in den Fragen der Zusammensetzung eines mittelalterlichen Domkapitels war".^^ Aus den. frühen Tagebüchern geht für das Geschichtsstudium folgendes Bild hervor: Doderer nimmt es ernster als das Studium der Psychologie oder die philosophischen Kollegien, die er ebenfalls besuchen will (und häufiger streicht). Innerhalb des Geschichtsstudiums liegen die Veranstaltungen von Oswald Redlich und Alfons Dopsch an erster Stelle - die bei Heinrich Ritter von Srbik werden zwar ebenfalls erwähnt, allerdings häufiger mit dem Hinweis ,gestrichen/versäumt'. Zu den in der Forschung meist als prägend genannten Redlich und Srbik ist also Dopsch mit hinzuzunehmen.^' Darauf zu insistieren hat einen Grund. 22
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Günther Hamann, „Heimito von Doderer. Erinnerungen eines Studienfreundes", in: Mitteilungm des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (MIÖG) LUV (1967), S. 4 8 9 - 4 9 2 , hier: S. 490. Daß der Besuch des Instituts ein „Jiinglingstraum" (ebd.) war, und daß Doderer in den Jahren 1948 - 1 9 5 0 „in fast rührender Anhänghchkeit unter veränderten Umständen das nachhohe, was ihm dereinst wegen geringen Fehles versagt worden war" (ebd., S. 491), ist eine verklärende Einschätzung, die Doderers offenkundigen Widerwillen gegen die aus Existenzangst gewählte Ausbildung verkennt. (Der .geringe Fehl' bezieht sich auf das Gerücht, Doderer sei bei seinem ersten Besuch des Instituts wegen unerlaubten Damenbesuchs relegiert worden.) Wolfgang Fleischer, Heimito von Doderer. Das Lehen. Das Umfeld des Werks in Fotos und Dokumenten, Wien 1995, S. 77, nennt etwa Redlich und Srbik als einflußreiche Lehrer bei den Historikern. Vgl. dagegen TB 107 und TB 128, die Eintragungen beziehen sich auf solche .Ausfälle', es sind immerhin 2 von insgesamt 6 im Register ausgewiesenen Erwähnungen Srbiks. Redlich hat 12 Einträge, Dopsch 7. Neben den frühen Tagebüchern wichtig für die Einschätzung von Doderers Geschichtsstudium: Elisabeth Lebensaft (unter Mitwirkung von Hubert Reitterer), „Die Eskapade in die Wissenschaft. Materialien zum Geschichtsstudium Heimito von Doderers", in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (MIÖG) XCII (1984), S. 4 0 7 - 4 4 0 ; Lebensaft veröffentlicht Gutachten und Zeugnisse in einem Anhang; außerdem hat sie die Angaben Doderers zu seinem Studium anhand der veröffentlichten Vorlesungsverzeichnisse überprüft. Vgl. auch Wendelin Schmidt-Dengler.
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Es ist ja keineswegs leicht erklärlich, wie Doderer auf die Merowinger als Thema eines Romans verfallen ist. Denn die Merowinger sind seit den Karolingern (und im Prinzip noch heute) ein Stiefkind der Geschichtsschreibung und -forschung.^'' Das meist schlechte Bild der karolingischen Geschichtsschreibung von den Merowingern hat sich bis ins 20. Jahrhundert fortgesetzt. Zur Zeit von Doderers Geschichtsstudium war es die communis opinio. Ich zitiere aus einem Standardwerk der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts: „Die Raubsucht war bei den Franken [...] groß und [...] allgemein. [...] Was die rohe Sinnlichkeit der fränkischen Fürsten angeht, so ward nicht nur die Annahme von Konkubinen zu einer herrschenden Gewohnheit, sondern sie zog auch alle Übel orientalischer Vielweiberei nach sich und löste den Bund der Ehe so sehr auf, daß tierische Wildheit fast notwendig eintreten mußte."^^ Man kann fragen, ob nicht den von sexuellen Obsessionen geprägten Doderer schon diese übliche Aburteilung zu einer detaillierten Beschäftigung mit den Merowingern anreizte, doch ist der Anlaß wohl genauer zu bestimmen. Die Geschichtsschreibung der Zeit feierte die Karolinger als triumphale Gründer eines Kirche und Herrschaft aussöhnenden Reiches. Diese Einschätzung ist sachlich falsch. Alfons Dopsch nun legte die Grundlagen für eine Umwertung der merowingischen Herrschaft, indem er gegen die These von der karolingischen „Kulturcäsur" den Nachweis einer Kontinuität der Kulturentwicklung setzte.^^ Die Auseinandersetzung von Dopsch mit seinen Kritikern findet in der Zeit „Scylla und Charybdis. Der junge Doderer zwischen Journalismus und Fachwissenschaft", in: Heimito von Doderer 1896-1966. Symposium anläßlich des 80. Geburtstages, Salzburg 1978, S. 9 - 2 4 . 24
Wenn neuerdings in populärwissenschaftlichen Werken die Existenz der Merowinger komplett geleugnet wird, ist das der Höhepunkt dieser Entwicklung.
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Friedrich Christoph Schlosser, Geschichte des Mittelalters, durchgesehen und ergänzt von Dr. Franz Wolff, 5. Ausgabe, 25. Auflage Stuttgart, Leipzig o.J. [1906] (Schlossers Weltgeschichte Bd. 4,1), S. 313. Schlossers Werk stammt noch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, wird aber bis ins 20. Jahrhundert weitergeführt und gehört zu den prägenden Standardwerken. Es folgt bei Schlosser eine Nacherzählung der oben erwähnten Geschichte der Königinnen Fredegunde und Brunichildis.
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Alfons Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung. Aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den Großen, 2. Aufl. Wien 1923; Bd. I, S. XIII. (Erste Auflage 1918). Doderer hat den Optimismus von Dopsch sicher nicht (mehr) teilen können: „Als ein über alle großen Völkerbewegungen erhabenes Grundgesetz der Historie tritt mit dem Nachweis der Kontinuität der Kulturentwicklung seit prähistorischen Zeiten her die innere Beständigkeit und internationale Zusammensetzung dieser deutlich zutage. Es läßt an Stelle trostlosen Verzweifeins an dem Kulturvermögen der einzelnen Völker frohe Zuversicht ins Ganze und gesicherten Zukunftsglauben an die Fortentwicklung reifen..." (ebd., S. XI).
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Statt, als Doderer bei ihm Lehrveranstaltungen besucht. Diese programmatische Aufwertung der Merowinger dürfte den Anlaß zu Doderers Beschäftigung mit ihnen gebildet haben. Dem Geschichtsentwurf von Dopsch entsprechend fehlt in Doderers Merowingem also die sonst übliche Überhöhung der karolingischen Hausmeier. Sie darf auch in der Interpretation nicht vorausgesetzt werden.^^
5. Geschichten über Geschichte Eine Deutung des Romans muß sich fragen lassen, ob es Sinn macht, nach dem Sinn dieses Unsinns zu suchen. Das ist auch nicht nötig - der Roman ist als „Mordsblödsinn" (Mer 363) eminent lesbar und lesenswert.^^ Eine konsistente Deutung des Romans erweist sich als schwierig. Das ist sicher Programm, Folge der skizzierten ambiA'alenten Erzählhaltung. Die Suche nach einer Figur, der man die Repräsentation einer Quintessenz des Romans zuschreiben würde,^' ist ebenso erfolglos geblieben wie die Sinnsuche im Schwellentext des Epilogs.'" Bekanntlich entpuppt sich auf den letzten Seiten der Dr. Döblinger, bislang handelnde Figur, auch als Erzähler, der die Handlung seinem ersten Kritiker gegenüber mit Zitaten Heideggers rechtfertigt. „[...] Wie sagt der Philosoph? ,Aus dem Dingen des Dinges ereignet sich und bestimmt sich auch erst das Anwesen des Anwesenden' und: ,Wie aber west das Ding? Das Ding dingt. Das Dingen versammelt.' Diese Sätze geben in äußerster Kürze und Prägnanz auch eine ganze Theorie der totalen Familie. Anders: die kastrative Problemlösung war Childerich III. ab ovo, um nicht zu sagen ab ovis, als Entelechie impliziert." Mr. Aldershot schwieg einige Augenblicke und sah auf den Doctor Döblinger hinab, der über das eigene Maß hinaus sich streckte und mit größestem Schwünge ihm
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Albrecht Huber, Die Epiphanie des „Punkts", a.a.O., S. 378 und 409, scheint ein positives Bild von den Karolingern vorauszusetzen. Die Frage nach dem Sinn ist letztlich eine typisch deutsche germanistische Konvention, nach deren Sinn man an anderer Stelle einmal systematisch fragen müßte. Genannt wurden viele, Spitzenreiter sind die alter ego-Figur des Autors, der Dr. Döblinger, sowie Pelimbert der Indiskutable, dessen Indiskutabilität vielfach als das eigentlich Diskutable des Romans gesehen wird. Doch ist auch diese Position nicht unwidersprochen geblieben. Das Heidegger-Zitat, das m.E. zu ironisien ist, um als Interpretationsbasis zu dienen, wird von Huber zwar als parodistisch, aber doch zentral angesehen, siehe Albrecht Huber, Die Epiphanie des „Punkts", a.a.O., S. 401 und ff. Affirmativ liest es Helga Blaschek-Hahn, aber das Ganze ist doch ein Mordsblödsinn'. (Von Sinn und Unsinn in Doderers Dichtung)", in: Untersuchungen zum Werk Heimito von Doderers, hrsg. von Jan Papior, Poznan 1991, S. 21-34.
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entgegen wuchs. Endlich nahm der Captain die Pfeife aus dem Mund und sagte gemütlich: „Verzeihen Sie, Doctor, aber das ganze ist doch ein Mordsblödsinn". (Mer 363)
Ich habe diese bekannte Stelle zitiert, weil die unzweifelhafte Ironisierung Döblingers ja auch das vorhergehende Heidegger-Zitat (berechtigterweise) zum Blödsinn (und also kaum zur Kernaussage des Textes) macht. Die Ironisierung geht weiter in der letzten Fußnote, die über Döblinger erklärt: „Verprügelung mangels Mannschaft unmöglich." (Mer 363) Doch bleibt auch der Coup des Epilogs, plötzlich den Autor zu präsentieren (und damit übrigens ja auch den in die Handlung integrierten Erzähler Dodererscher Prägung aus den Dämonen zu evozieren und zu ironisieren), vorläufig, denn der letzte Absatz gehört Childerich, der mit ominös steigendem Fußwinkel aus der Türe des Delikatessenladens tritt. Der fast idyllische Schluß suggeriert ein versöhnliches Ende. Childerich wird als von seinem genealogischem Grundtrieb geheilt gezeigt; zur Menschwerdung Childerichs gehört offenkundig seine Kastration - eine an Abgefeimtheit kaum zu überbietende Konstruktion." Doch das Bild täuscht. Die Wut Childerichs, das „Steigen[] jenes schwarz-violetten unterirdischen See's des Grimmes, quellend aus der Tiefe der Zeiten" (Mer 364), besteht fort. Das Enthüllen Döblingers als alter ego des Autors hat dazu geführt, die Äußerungen Döblingers überzubewerten. Dieses letzte Auftreten Childerichs macht das Spiel Doderers mit dem Erzähler explizit: Der erst kurz vor Schluß aus dem Hut gezogene Dr. Döblinger als Autor ironisiert die konventionelle Doderersche Erzählhaltung, ironisiert natürlich auch die Ironisierungen des Dr. Döblingers, der durch den Schluß gerade nicht als Autorität, sondern als durch den implizierten Autor relativierter, unzuverlässiger Erzähler präsentiert 31
Dieter Liewerscheidt, Satirischer Anspruch und Selbstpersiflage, a.a.O., S. 9 0 - 9 8 , weist darauf hin, daß trotz der Kastration Childerich noch nicht zur Apperzeption vorgedrungen ist, sondern im Wahn der totalitären Familie verhaftet bleibt: E r plant jetzt nicht mehr für sich, sondern für seinen (ohne sein Wissen ebenfalls kastrierten) Sohn (Mer 295). Hierin liegt aber m.E. der wesentliche Unterschied. Zwar wird dieser Zustand als Wahn bezeichnet - ein Wahn, den zu durchschauen Childerich aber nicht möglich ist. So ist diese letzte Deperzeption zwar tragisch (und zeigt abweichend von den früheren Romanen - , daß ein sinnvolles Erkennen der .Wirklichkeit' unmöglich ist), dennoch ist Childerich den Prozeß der Menschwerdung gegangen, so weit es ihm in einer sinnlosen Welt möglich ist. Seine Wutanfälle sind auf ein .normales Maß' reduziert, sie spiegeln nur noch die Wut des Zeitalters. Der familiäre Wahn ist in soweit gebrochen, als er sich nicht mehr auf die eigene Person, sondern wieder auf die Nachkommen, also auf eine .normale' Genealogie bezieht. Insoweit ist mit der Kastration doch eine gelungene Menschwerdung verbunden daß sie objektiv mißlingen muß. liegt an den Umständen, die eine Menschwerdung unmöglich machen.
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wird. Der implizierte Autor aber, der das Schlußtableau präsentiert, hält alles in einer offenen Balance." Das letzte eigentliche Romankapitel setzt den Untergang der Merowinger in ein melancholisches Licht, das zeigt, daß das Untergegangene zumindest teilweise bewahrenswert gewesen wäre. Dietrich Weber hat eine briefliche Äußerung Doderers zitiert, daß der Roman auf den „tiefen Pessimismus seines Urhebers" hinweist." Tragendes Element dieses Pessimismus ist die Verweigerung jeglicher Eindeutigkeit innerhalb des Romans. Die Merowinger erweisen sich - trotz ihrer Entstehung als Nebenprodukt - als Doderers mit größter Konsequenz konstruierter Roman. Doderers Geschichtsbild ist gekennzeichnet durch eine Hinwendung zur Peripherie. Dies zeigt sich in bekannten problematischen Äußerungen, die die Relevanz einer politischen, .großen' Geschichte leugnen. Daß der einzige Roman Doderers, der weitgehend in der Nachkriegszeit spielt, gleichzeitig wesentlich durch das frühe Mittelalter geprägt ist, ist ebenfalls als Besetzen einer Peripherie zu bezeichnen, deren Zentrum leer bleibt. Dieses Zentrum in der Zeit des Nationalsozialismus zu suchen, ist naheliegend, aber nicht nachzuweisen. Die Gleichsetzung von totaler Familie und totalem Staat''* jedenfalls scheint mir eine interpretatorische Leerformel zu sein, die nichts erklärt. Dennoch ist der Roman ein - gelungener - Reflex auf geschichtliche Ereignisse. Doderers Neigung zu Geschichten, die im Leugnen von Geschichte gipfelt,'^ findet ihre Parallele in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung. Gregor schreibt nicht eine „Historia Francorum", sondern nach epischen Gesichtspunkten strukturierte Libri decem historiarum. Der Historiker Hayden White hat in den letzten Jahren den Zusammenhang zwischen Geschichte und Geschichten neu definiert, indem er auf das (Literaturwissenschaftlern einleuchtende, Historikern aber revolutionäre) Faktum der Narrativität von Geschichte hinweist." Stephen Greenblatt hat Ansätze von White weiterentwickelt und stellt in seinen Interpretationen (die auf literarische Texte wie auf historische Ereignisse ausgerichtet sind) periphere, halbprivate Äußerungen ins Zentrum 32 33 34 35
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Zur Begrifflichkeit vgl. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 1961. Dietrich Weber, Heimito von Doderer, a.a.O., S. 100. Z.B. Georg Schmid, Doderer lesen, a.a.O., S. 115. Georg Schmid, „Flucht aus der Geschichte (Historiologische Notizen)", in: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergebnisse. 4.A. Oktober 1986 Prein/Rax, Wien o.J. [1988], S. 8 7 - 9 8 , bes. S. 92. Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1990; ders., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986.
Genealogie, Geschichte und Gregor
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seiner Methode, um aus ihnen kuhurelle (Sub-)Texte zu dechiffrieren.'^ Der Historiker Doderer stünde mit seiner Dissertationskonzeption einer historischen Psychologie heute somit überraschenderweise im Zentrum des New Historicism.^' So erschließt sich ein Lese- und Interpretationsmodell für den Roman. Doderers Merowinger sind nicht zuletzt eine - fiktive - Übung in der bereits in den frühen Tagebüchern geforderten historischen Psychologie. Das Werk insgesamt ist konzipiert als Ausdruck einer bestimmten Zeit, die im Roman genannt, aber nicht dargestellt wird. Die fiktive Welt der Merowinger liegt näher an der Welt Doderers als die der anderen großen Romane: „Die Wut des Zeitalters ist tief" (Mer 5) ist eine Aussage Doderers über seine unmittelbare Gegenwart. Mit seinem Ausschreiten von Peripherien, mit seiner sich historisch gebenden Ahistorizität dekonstruiert der Roman Geschichte, die er vorgeblich zum Thema hat. Expressis verbis steht die Reklamation Doderers als einer der Kirchenväter postmodernen Erzählens noch aus (auch wenn Albrecht Huber in dieser Richtung vorgearbeitet hat). Die eben angerissenen Elemente zeigen, daß dies möglich - und sachlich angezeigt ist. (Ob angesichts der Verwilderung des Begriffs auch wünschenswert, sei dahingestellt.) Doderer als anachronistischer und ahistorischer Erzähler ist eine der postmodernsten Erscheinungen der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Denn mitnichten ist ja die Literatur der Gegenwart von einer beginnenden Aliterarizität und von einem Medienwandel weg vom geschriebenen Buch gekennzeichnet: Dicke Bücher, die sich hauptsächlich als Apotheose des Erzählens
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Stephen Greenblatt, Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt a.M. 1993. Der Verhandlungsbegriff, wie ihn Greenblatt benutzt, bildet die Grundlage dieser Schlußüberlegungen. E r liest Texte als Ausdruck einer vorherrschenden .sozialen Energie' (ein leider weitgehend inhaltlich ungefüllter Begriff), die in verschiedenen Formen Ausdruck findet, in dem verschiedene Instanzen über sie verhandeln und mit ihr (metaphorischen) ,Handel' treiben.
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Zwar war Doderers Dissertationsprojekt sicher auch durch die .Wiener Schule' der Historiker angeregt, aber die Schwierigkeiten mit seiner Dissertation, die zu der Erweiterung um die von den Gutachtern besonders gelobte (und in der Geschichtswissenschaft weitgehend vergessene) Identifikation des Verfassers einer anonymen spätmittelalterlichen Chronik führte, zeigen, daß die Akzeptanz seines Themas so ausgeprägt nicht gewesen sein kann. So wie Doderers Versuche einer historischen Psychologie eher an den Interessen des Autors orientiert sind, als daß sie eine ernsthafte Methode darstellen, so sind auch die Arbeiten des New Historicism weniger methodisch ausgerichtet, als es zunächst den Anschein hat. Sie bestehen hauptsächlich in einer - oft spektakulären, oft problematischen - Interpretationspraxis und sind weitgehend von textlichen Zufallsfunden abhängig.
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verstehen, erleben eine erstaunliche Renaissance.^' Typisch für die Postmoderne und den dekonstruktivistischen Ansatz ist Doderer auch in seinem problematischen Verhältnis zum Faschismus (das auch führende Vertreter dieser Theorien kennzeichnet)/" Immerhin liefern diese Theorien den Hintergrund für das skizzierte Lesemodell der Merowinger: Der Roman ist keinem im weitesten Sinne allegorischen Modell verhaftet. Die Suche nach sinntragenden Figuren oder Episoden scheitert an der sinnverweigernden Konstruktion. Allerdings ist der Roman als Ganzes lesbar: als Gesamtausdruck einer bleibenden und lastenden Orientierungslosigkeit. „Und so vergeht hintnach sehr langsam, was zunächst wie unter einem Donnerschlage augenblicklich versunken war." (Mer 350) Gerade wegen ihrer Flucht in die geschichtliche Peripherie und in personale Brachialitäten sind die Merowinger - wie man in Anlehnung an Stephen Greenblatt formulieren könnte - Verhandlungen einer Generation über den Faschismus als durchlebte private Geschichte.
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Diese Entwicklung ist im deutschsprachigen Raum, was die Literaturproduktion anbelangt, weniger ausgeprägt. Das Lesepublikum aber verschlingt - von Pynchon über Eco, Burgess bis hin zu Norfolk - meist angloamerikanische Wälzer auf verschiedensten Niveaustufen. Zu Paul de Man und Jacques Derrida unter ideologiekritischen Gesichtspunkten (mit einer Ausweitung der Ideologiekritik auf alle Auswirkungen des Strukturalismus) cf. Valentine Cunningham, In the Reading Goal. Postmodemity, Texts, and History, Oxford/Cambridge, Mass. 1994.
KLAUS
ZELEWITZ
Reiben von Zeiten und Räumen:
Die Wasserfälle von Slunj
Um die Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert etablieren jüdische assimilierte österreichische Schriftsteller eine bestimmte narrative Konstante: Stefan Zweig und Arthur Schnitzler schicken ihre Protagonisten nach Südtirol, an den Comer See, nach Salzburg oder nach Indien, vielleicht noch knapp über die österreichisch-ungarische Grenze, aber nie tief ins östliche oder südöstliche Europa, an die wirkliche Peripherie der k.u.k. Monarchie und darüber hinaus. Wie sich selbst in ihren realhistorischen Reisen halten sie auch ihre Figuren in den fiktionalen Erzählwelten vom Europa der Slawen und der jüdischen Stetl fern, Erinnerungstrauma an die proletarische Situation der eigenen Familie wenige Generationen zuvor. Auch Joseph Roth oder Manes Sperber sind jüdische Autoren, freilich solche, die selbst noch im Osten geboren und aufgewachsen sind, und nicht im Zentralraum der Monarchie. Ihre Figuren bewegen sich im Westen wie im Osten mit der gleichen Selbstverständlichkeit, was durchaus auch heißen kann: mit vergleichbaren Schwierigkeiten. Heimito von Doderer definiert Wien, Osterreich als Startort für einige seiner fiktionalen Gestalten: Diese seine Figuren seien, so Lutz-Werner Wolff, „nach wirklichen Modellen gestaltet"^: Ich halte dagegen, daß Doderer seine Figuren nicht nach Modellen, sondern nach wirklichen Menschen zu gestalten versucht. Sie bewegen sich neugierig in jene Räume, vorzugsweise in den Südosten Europas, in das Gebiet des späteren - und mittlerweile früheren - Jugoslawien und darüber hinaus. Wie Alfred Kubin (Die andere Seite, 1909) lange vor Doderer und die deutsch schreibende Tschechin Libuse Mom'kova nach Doderer {Die FassadeM.N.O.P.Q., 1987) gezeigt haben, können Helden dort allerdings auch leicht stranden und verlorengehen. In den Wasserfällen von Slunj importiert Doderer seine Protagonistenfamilie aus dem westlichen Großbritannien und 1
Lutz-Werner Wolff, Wiedere¥eherte Außenwelt. Studien zur Erzählweise Heimito von Doderers am Beispiel des „Romans No 7", Göppingen 1969, S. 46.
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dehnt so die Matrix interkultureller Distanz: Was fällt Robert und Harriet Clayton als Ziel für eine Hochzeitsreise ein, die „ins Exotische [...] und doch nicht zu weit weg" führen soll? Die Flitterwöchner verfallen „auf den Süden der österreichisch-ungarischen Monarchie, auf Kroatien"^ (WS 5). „Bis Ostende, Nürnberg, Passau und Linz war's nicht exotisch", stellt der Erzähler vorausdeutend klar und markiert in der Tradition Metternichs Wien als die Grenze zwischen gewohnter und exotischer Welt. „Kroatische Frauen aus dem Burgenland" werden dann prompt schon auf dem Wiener Südbahnhof „von dem jungen Paar als exotisch empfunden" (WS 6) und füllen diese Definition sinnlich, und schon erleben wir - mit einem Augenzwinkern des Erzählers(?) - das Paar „auf der weiteren Reise ins Exotische" (WS 7). Robert Clayton ist Maschinenbauingenieur und -fabrikant. Zwar baut und verkauft er nicht Lokomotiven, sondern Lokomobile, aber nichtsdestoweniger stehen nicht nur die Lokomotiven des Zuges über den Semmering permanent unter Volldampf, sondern als menschliche Analogie auch er selbst; rastlos kurvt der Zug durch die Kehren der Strecke, rastlos kurvt Robert synchron von einer Seite des Zuges zur anderen, von Landschaft und technischer Leistung gleichermaßen fasziniert. Allzu weit ins Exotische wagen sich die Hochzeitsreisenden freilich nicht in die terra incognita. Die Fahrt endet und kulminiert bei den Wasserfällen von Slunj, einige Dutzend Kilometer südlich von Zagreb: Robert - Harriet ist interessierte und faszinierte Begleiterin - begnügt sich nicht mit der Anschaulichkeit des Exotischen, sondern er eignet es sich an, er greift ins Wasser, in das entscheidende und die Geister scheidende Element dieses Romans, greift sich dabei einen Krebs. Der Südosten der Monarchie wird in Doderers Wasserfällen zum Land, in dem Milch und Honig fließen, zur konservativen Utopie eines Goldenen Zeitalters: Hier muß man sich - suggeriert jedenfalls der Erzähler - den täglichen Lebensunterhalt nicht oder noch nicht erarbeiten, sondern man braucht sich bloß - es ist immer wieder das Wasser! - die umherschwimmenden Süßwasserkrebse, Langusten oder Fische zu greifen. Ein analoges Agieren, die Jagd Melzers und Major Laskas in Bosnien in der Strudlhofstiege (1951), bildet - so Claudio Magris - ein wesentliches Moment einer habsburgischen Mythisierung, die „den öster-
Daß dieses Land Kroatien auch in heutigen Computerwelten zu exotisch scheint, kann man vielleicht daran ermessen, daß das vorinstallierte Rechtschreibprogramm des hier von mir verwendeten Textverarbeitungsprogramms zwar Irland kennt, und selbst Andorra, nicht aber Kroatien.
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reichisch-slawischen Zauber der Monarchie wiederauferstehen"' läßt. Von den Wasserfällen ist Harriet entsprechend fasziniert: „das Ganze drängte sie zueinander", diagnostiziert Doderers olympischer Erzähler (WS 18); und wenngleich selbst Doderer diesen seinen Erzähler mitunter Diskretion üben läßt (die anschließenden zehn Tage werden ausgespart), kann er sich, mit Auge und/oder Ohr am Schlüsselloch, schon aktuell nicht verkneifen, daß beide Claytons „glücklich in ihrem Schlafzimmer" (WS 18) seien. Und später wird er akribisch nachliefern, daß Sohn Donald genau 9 Monate nach jener Nacht geboren werden wird (WS 19). Die Assimilierung der Wahlwiener Robert und Harriet Clayton vollzieht sich allerdings nicht emanzipatorisch in einer hierarchischen Struktur, gleichsam „von unten", sondern osmotisch auf (zumindest) gleichem Niveau: „Die gesellschaftliche Verwurzelung der Claytons in Wien war freilich nicht nur vom Golfclub her gekommen, sondern in weit ausgedehnterem Maße vom Geschäft." (WS 150) Der Erzähler versäumt auch nicht zu präzisieren, welcher gesellschaftliche Raum den Claytons geöffnet wurde: Der Golfplatz hat Claytons in Wien mancherlei gesellige und gesellschaftliche Anschlüsse vermittelt [...], vornehmlich in den großbürgerlichen Kreisen der Industrie. Der hohe Adel, die sogenannte .erste Gesellschaft', erschien freilich nicht in solch einem bourgeoisen Club. Abgesehen davon, daß die Wiener Gesellschaft - die .erste', die .zweite' (das hohe Beamtentum) und die .dritte' (die Unternehmer und Industriellen) sich niemals gegen Fremde mit einer chinesischen Mauer umgeben hat. [...] kam den Claytons damals einfach der Umstand zu gute, daß sie Engländer waren (WS 145).
Robert betreibt seine Integration aber auch aktiv durch Sprachstudien, spricht bald „passabel Deutsch" und nimmt „Kroatisch-Stunden" (WS 19), paßt sich die Wiener oder österreichische Identität als eine zweite zu seiner ersten, der britischen, dazu. Die Maschinenbauer Clayton Clayton & Powers in England, Clayton bros. in Wien - etablieren sich mehrfältig in Wien: Als Individuen empfängt sie die Wiener Gesellschaft mit weit geöffneten Armen, als Unternehmen expandieren sie rapid in den gesamten sudöstlichen Raum bis zur Levante. Die Peripherie der habsburgischen Landschaft ist der Ort persönlichen affektiven Auftankens und geschäftlicher Expansion: Chwostik muß sich „dringend um die Gewinnung geeigneter Vertreter im Südosten" (WS 118) für den eigentlich noch in den Kinderschuhen steckenden Betrieb kümmern: Der Export nach dem Balkan nahm zu und drang rascher und weiter vor als erwartet worden war, ja, bis in den Vorderen Orient. Schon war Robert Clayton nicht nur in
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Claudio Magris. Der habshurgische Mythos in der österreichischen Literatur, 1966. S. 298.
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Sofia und Bukarest gewesen (wobei seine Frau ihn begleitete), sondern auch in Konstantinopel und Beirut. (WS 118)
Gollwitzer & Putnik - dies wird später auch sinnlich belegt - sind auf dem ganzen Balkan tätig (WS 175), durch den ganzen Roman nimmt der Umsatz von Clayton bros. auf dem Balkan „ständig zu" (WS 185), Monica hat für ihre Verlagsvertretung die Auslieferung für ganz Österreich-Ungarn (WS 200). Wenn sich die Gestalten der Wasserfälle durch Wien bewegen, könnte man die Wege mit ein Stadtplan in der Hand häufig nachgehen; noch in Budapest kennt der Erzähler nicht nur die Namen vieler Gassen und Straßen, sondern weiß auch, welche Namen sie vorher oder nachher haben; in Istanbul oder Beirut (auch in ihrer damaligen Gestalt) würde man sich, vom Erzähler geführt, wahrscheinlich verirren. Vordergründig mag dies einfach mit den Ortskenntnissen des Autors zusammenhängen. In Hinblick auf die narrative Organisation des Textes indiziert die variierende sinnlich-räumliche Erzähldichte jedoch den jeweiligen Ort des Geschehens zwischen Zentrum und Peripherie. Diese Expansion wäre trotz aller Fremdsprachigkeit mit domestiziertem britischen Know-how allein nicht möglich, hier springen „gestandene" „Österreicher" (im monarchisch weiten Sinn des Wortes) bei, und sie machen den Aufstieg der Claytons mit, manche in doppeltem Ausmaß. Der Urwiener Josef Chwostik, später Old-Pepi, ist laut Erzähler „kein veränderungs-süchtiger Mensch" (WS 23). Und doch wäre es falsch zu sagen, er würde von Clayton bros. einfach sozial nach oben gezogen: Er gestaltet Expansion und wirtschaftlichen Aufstieg der Firma vielmehr maßgeblich mit. Chwostik ist noch in einer Zeit groß geworden, „welche damals sehr langsam noch verging, sich da und dort in Teichen sammelte, oder, ihres Fließens ganz vergessend, in Tümpeln stand und den Himmel spiegelte" (WS 48). Wie die mitteleuropäische Gesellschaft als ganze, so wird auch Chwostik als Individuum Objekt von akzellerierender Dynamik, bildet aber einen stabilen Punkt in einer zerfallenden Welt, organisiert sein eigenes Leben, während die Desorganisation von Leben insgesamt expandiert. Längst leitender Angestellter („der eigentliche kommerzielle Leiter", WS 24), wohnt Chwostik vorerst noch immer - von Freund Milohnic mehrmals eindringlich gewarnt: „Wenn die Engländer es erfahren, fliegst du glatt hinaus" (WS 26) - recht unstandesgemäß in einer Wohnung mit zwei Prostituierten. Schließlich wechselt er sein gesamtes Außeres in einem, nicht nur Wohnung, sondern auch Möbel und sämtliche Kleider. Der neue Raum reibt nicht mehr an seiner Person und Position, sondern ist ihnen adäquat, seine „Häutung" ist abgeschlossen.
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Milohnic senior, nicht wirklich weit-, aber immerhin Osterreich-Ungarn-erfahren, versucht mit wenig geeigneten interkulturellen Ratschlägen seinen (erwachsenen) Sohn für Internationalität zu trainieren: „In der Fremde sollten wir nicht fremd sein. Man tritt in Sidney [sie!] den Boden auch nicht anders als in Dubrovnik." (WS 123) Den ebenso grundguten wie grunddummen „Pferdchen" Fini und Feverl kommen Zufall, ihre spontane Hilfsbereitschaft und ihre Begeisterung fürs Wasser zur Hilfe: „ JDas Wasser ist das Beste', sagt der griechische Odendichter Pindar", heißt es dazu erläuternd und irreführendvorausdeutend im Text (WS 53). Die beiden retten - deae ex machina die kleine, im Roman später höchst bedeutungsvoll werdende Monica Bachler vor dem Ertrinken im Donaukanal und ebnen so ihren (Aus-) Weg durch Raumverschiebung in die Welt des ungarischen Gutsbesitzers Globusz. „Sie verbauerten rasch, die Pferdchen." (WS 95), weint ihnen der Erzähler noch eine nicht ganz echte Träne nach. Makrogeschichte wird nicht expliziert, sie erscheint lediglich als Implikat oder Marginalie: Bestimmte Eisenbahnlinien existieren, die Schifffahrt hat einen bestimmten Standard erreicht, eine Monica Bachler konnte - zwar nur in der Schweiz, aber immerhin - zum Diplomingenieur graduieren. Die Zeit ist eine Epoche der Mobilität geworden. Im Roman wird gereist, per Schiff, mit dem Auto und vor allem per Eisenbahn. Die Entfernungen schrumpfen: „Wenn man jahraus jahrein zwischen München, Rom, Venedig und Wien hin und her fährt, wird schließlich alles zum Tramway-Rutsch." (WS 162) Der Konzentrationspunkt, von dem man aufbricht und an den man zurückkehrt, ist die Residenzstadt Wien als eine Stadt der Mitte: Wenn sich was anbahnt, sickern die Menschen schon vorher zusammen. Das kann immer beobachtet werden. Man kam aus Zürich (Ing. Monica Bachler); aus Montreal (ein fettes Bürschl); man sollte aus Belgrad kommen. Es kann hier garnicht fehlen, daß schließlich auch der M. C. hineingezogen wurde, hinein nämlich in den Garten der Villa Clayton in der Prinzenallee. (WS 205)
Räumliche Organisation konstituiert maßgeblich die Etablierung und Zerstörung von Beziehungen und andere Positionierungen von Figuren in sozialen Szenarios, graduell autonomisieren sich die Räume im Fortschreiten des narrativen Prozesses. So läßt Monica „später ihren Onkel allein heimfahren, für den ja der Umweg über Döbling [... ] ein sehr weiter gewesen wäre" (WS 193). Süffisant setzt der Erzähler jedoch gleich hinzu, daß Donald mit dem Knight-Minerva dann „ganz den gleichen Umweg" gefahren sei. Frau Harbach macht ihren fünf Töchtern die Räume eng, ihr Decollete, „ein makellos gleißender Gletscher" (WS 174), macht den eigenen Nachwuchs zum Opfer eines Vorgangs
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der „Raumverdrängung" (WS 173). „Feschak" Dr. Bachler, Monicas Vater, der „rechte Held für Kellner und Fiaker" (WS 201), begrüßt eine in seinem Haus versammelte Gesellschaft wesentlich Jüngerer, „als ob er zu ihnen gehören würde" (WS 200). Auch er ist ein Mensch, der in die Mitte des Raumes geht; der andere in den Hintergrund drängt und der seine Frau Rita mit seinem Schatten zudeckt. Die Uberwindung der Grenze von einem Raum zum anderen - dies entpuppt sich im Verlauf des Ronians - gehört zum schwierigsten überhaupt: Wenn die Grenze so dicht gemacht ist wie zwischen Chwostiks Zimmer und dem der Prostituierten Fini und Feverl (die Zwischentüre ist „versperrt, verhängt, ja versteUt mit Möbelstücken", WS 27), sind wenigstens Mißverständnisse kaum möglich. Vor allem bei Donald jedoch sind es weniger die großen als die kleinen Räume, die Zimmer und deren Ubergänge, die schlagartig sein Leben verändern. Er aber wird ein Opfer offener Türen, gleichgühig ob er durchgeht oder nicht, ob er überhaupt aufsteht, er marschiert kerzengerade ins Desaster. Monica hatte sich sorgsam nach Donalds „Erlebnissen", sprich sexuellen Erfahrungen, erkundigt und ein soigniert gemurmeltes: „in meiner Lage bietet derlei keine Schwierigkeiten. Tabarin, Moulin rouge" (WS 233) als (keine) Antwort erhalten. Die Schwelle zwischen dem per-Sie und dem per-Du hatten die beiden bis dahin dadurch umgangen, daß sie Englisch miteinander sprachen. Gerade mit einem englisch hingeworfenen Satz hatte Monica ursprünglich eine „Enterbrücke" (WS 194) zu Donald hinübergeworfen. Aber dann ist so weit bzw. wäre es, in Monicas Wohnung in der Auhofstraße 123, wo Henriette Frehlinger früher schon Zdenko von Chlamtatsch einen einmaligen Liebessonntagnachmittag gegönnt hatte: Der Gymnasiast hatte freilich vor keiner Schwelle zu zögern brauchen, sondern war „an der Hand genommen" (WS 226) und von Zimmer zu Zimmer geführt worden. Freilich hat Monica Donald beim gemeinsamen Betreten der Wohnung angekündigt, sie wolle noch dringend einen Brief entwerfen. Doch dann schieben sich der erste Kuß und Berührungen dazwischen, und Monica weicht rückwärts gehend „Schritt hinter Schritt zur Türe ihres Schlafzimmers" und nickt „noch lächelnd aus dem schließenden Spalt" (WS 135 f.) der Türe. Daß dieses Nicken „Gewährung" bedeutet und über „einen zarten Wink""* deutlich hinausgeht, bemerken zwar Erzähler und Leser, nicht aber Donald, der sich lediglich wundert, warum Monica zum Briefeschreiben kein Licht benötigt. Regen setzt ein, mit seinen Wassermassen leit-
So klassifiziert Anton Reininger, Die Erlösung des Bürgers. Eine ideologiekritische Studie zum Werk Heimito von Doderers, Bonn 1975, S. 200.
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motivischer Ausdruck für eine Katastrophensituation Donalds. Sie bilden eine Wasserwand, in die er regungslos starrt. Wochen später, schon gegen Ende der ausgedehnten Orientreise, findet Donald an der in Budapest verheirateten Französin Margot Putnik Gefallen, einer Schwester von „La reine" (WS 323) aus Beirut. Er ahnt nicht, daß diese intelligente und überhaupt attraktive Frau „durch ein Brandmal von der Größe eines Handtuchs, das wie ein solches um ihre Hüften" (WS 326) läuft, verunstaltet ist. Aber wie immer Donald Zusammenhänge herstellt - diesmal dämmert ihm, früher eine Schwelle wohl fälschlich nicht überschritten zu haben: Er macht es falsch. „Ich werde dich rufen." Sie küßte ihn rasch auf die Wange und verschwand. So deutlich mußte man ihm kommen. Jetzt endhch begriff er alles. Auch, daß er einst durch eine ganz ähnliche Türe hätte gehen müssen, statt dem Regen zu lauschen. [...] Donald griff nach der goldfarbenen ovalen Türschnalle und öffnete langsam, einen verdunkelten Raum erwartend, ein kleines gedämpftes Licht vielleicht .... Das Zimmer war grell erhellt. [...] Sie stand, nackt bis auf die langen Strümpfe, im allerhellsten Licht, mit dem Rücken zu ihm gekehrt [...]. Donald, der eingetreten war, sank gegen die Türfüllung und blieb da angelehnt. Die Schritte hörte er erst im letzten Augenblicke, als Laszlo schon unter der offen gebliebenen Türe erschien. (WS 364)
Das Erscheinen von Ehemann Laszlo ist für Margot „die unvorhergesehene Krönung der Lage" (WS 365). Er ist nicht wirklich verstört, sondern inszeniert liturgisch die Szene „Ehemann ertappt Liebhaber", und als sich aus seinem Gewehr ein Schuß in Richtung Garten löst, erschrickt Laszlo stärker als Donald. Beide direkt involvierte Männer reagieren - wie vom intriganten Tibor Gergelffi in etwa vorausgeplant mit Flucht in entgegengesetzte Richtungen: Laszlo nach Bukarest, Donald auf das Landgut Moson: „Flucht No. 2 vollzog sich in den comfortabelsten, honettesten und jovialsten Formen." (WS 367) Diesen Donald erleben wir in den Wasserfällen von seiner Geburt bis zu seinem tragischen Ende. Er wird - sein britischer Anteil soll sich entwickeln (oder soll der Sohn nicht doch eher zur Bequemlichkeit seiner Eltern zum Großvater abgeschoben werden?) - zum Schulbesuch nach England geschickt, in eine public school. Österreich und seine Eltern erlebt der Heranwachsende als Besucher, als Tourist, das Verhältnis zu seinem englischen Großvater zeigt Distanz mit kommunikativen Barrieren: „War es ein großes Schiff?" „Ja, groß." „Ist dir schlecht geworden?" „Ein wenig." „Hast du die Hofburg in Wien gesehen?"
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Ja." „Schön? Groß?" „Groß." (WS 139)
Auf die hilflosen Fragestereotypen des Großvaters reagiert Donald einsilbig mit Satztrümmern als Antwort: nur wenige Meilen von BrindleyHall, dem Sitz der englischen Claytons, liegt Harriets Vaterhaus: „Kam man Pomp-House nur in die Nähe, so wurde die Stille absolut herrschend." (WS 136) Donald funktioniert im Bereich Kapital und Produktion; aber er scheitert in seinen Beziehungsversuchen zu menschlicher und außermenschlicher Natur, ist in Summe ein degradierter Held. Schon früh hat er einen wiederkehrenden Alptraum, Vorausdeutung auf sein späteres Ende: Es war nie vorher zu erwarten; bheb monatelang aus; erschien dann wieder mit voller Wucht. Der See hatte sich geschwenkt wie um eine Achse; aus dem waagrecht Hingestreckten seines Spiegels wurde eine senkrecht und furchtbar aufragende Wand von unermeßlicher Höhe. Sie [...] drohte jeden Augenblick aus ihrer hochgetürmten Stauung über ihn hereinzubrechen. Die Wand bewegte sich rasend rasch von oben nach unten, sie bebte und zitterte von dieser Bewegung. (WS 131)
Kate Thürriegl, die englische Gouvernante mit dem deutschen Namen (WS 50), kann Donalds Alpträume zum Teil ausbalancieren, ihr Singen und Guitarrenspiel, am bestem am Wasser, bedeuten „für Donald eine Art Lebensnotwendigkeit" (WS 131). Der Erzähler stuft ihn als ein handliches, bequemes Kind ein, „das in nichts über das Mittelmaß hinausging" (WS 131) und an dem man prompt („Niemand dachte viel über ihn nach.") eine Herzschwäche diagnostiziert; die psychische Verstörung scheinen nur Donald und eben der Erzähler zu kennen. Dann wird er nach Wien zurückgeholt. Aber auch hier existiert keine wirkliche Familie, hat nie wirklich existiert, und diese Disparatheit spiegelt sich in der Raumorganisation der Villa Clayton: „Jedes Zimmer hatte einen eigenen Eingang, wie in einem Hotel." (WS 151) Donald immatrikuliert in Wien an der Technischen Hochschule Maschinenbau, studiert „umsichtig und zeitökonomisch; leidenschaftlich [...] keinesfalls" (WS 147) und beendet das Studium im Alter von 24. Prompt wiegt uns der Erzähler ins Sichere, lügt, täuscht, wenn er uns mitteilt, Vater (Robert) und Sohn (Donald) Clayton würden einander „immer ähnlicher" (WS 20), „wie die beiden Seiten einer Münze"; ja sogar ein einziger Unterschied wird haarklein beschrieben, um ja nur die These von der großen Ähnlichkeit zu erhärten: „Der einzige sehr starke, ja scharfe Unterschied [...] war kein in's Auge springender. Donald hatte von seiner Mutter den gerade abfallenden Hinterkopf geerbt (welchen man un-
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ter der zeitmodischen Frisur bei ihr kaum sah). Roberts Schädel war rückwärts stark ausgewölbt." (WS 20) Der sensibel-kritische Leser bleibt nicht ohne Chance: Wenn er dem lapidaren Vergleich, Vater und Sohn Clayton seien „wie die beiden Seiten einer Münze" (WS 20) die Assoziation „Kehrseite!" anfügt, ist er auf dem richtigen Weg, opfert Uberraschungsmöglichkeit im fortschreitenden Leseprozeß, gewinnt jedoch die realistischere Perspektive. Donald ist nur ein Enkel, ein exzellenter Ingenieur zwar, der sich aber privat häufig an seine Shag-Pfeife klammert. Im Beruf fungiert er statisch als Gewicht, als „Briefbeschwerer", nur als „Anrainer der Unterhandlungen" (WS 322), liefert technokratische Unterstützung für den Hauptakteur Chwostik: „Er reagierte nur korrekt und sicher auf technische Stichwörter." (WS 323) Daß er Sprachen kann, kommt ihm dabei zustatten. Wasser stößt ihn ab. Als Donald den Gollwitzschen Teich mit den Goldfischen gesehen hat, hat er überlegt, sich davonzudrücken (WS 192). Ganz anders sein Vater: Im benachbarten zweiten Teich setzen Robert und Monica später die leicht verrückte Idee in die Tat um, um die Wette Krebse zu fangen (WS 302). Er kann aus seiner eigenen Biographie nicht lernen. Vorgänge, an denen er beteiligt ist, und darin involvierte Personen lösen sich von ihm, schweben von ihm weg: Im betrieblichen Bereich leistet er seinen im voraus definierten Part und trägt zum Gelingen, sprich zur Expansion des Ganzen bei, ohne die Vorgänge um das Ganze zu begreifen: Hier wird im Team gearbeitet, und wo nötig springen andere bei. Im privaten Bereich ist er auf sich als Person gestellt. Hier dominiert nicht die Konkurrenz von Gemeinschaften, sondern diejenige von Individuen. Als Mann scheitert er umfassend an den Frauen. Die Frauen, denen er - die ihm (?) - nahe kommen, sind plastische, attraktive, kluge Frauen; aber er ist verunsichert, depraviert, handelt wenn überhaupt im falschen Moment und in die falsche Richtung. Donald hat nirgends angedockt, er nomadisiert und ist zu keiner wirklich stabilen Identität gelangt. Donald kann seine Tätigkeit nur in zugewiesenen Nischen aktivieren; in den Beziehungen mit Monica und Margot sind die Frauen die Initiatorinnen, zumindest an den Höhepunkten: Beide, Monica und Margot, sind - wenn auch recht unterschiedlich - bereits emanzipierte Frauen des 20. Jahrhunderts: Die Leerstellen ihrer verbal und nonverbal konstuierten Texte im „Augenblick davor" füllt er jeweils falsch. Die Paradoxie führt geradewegs in die Tragödie. Er ahnt zwar manches, wird aber getäuscht, verreist nicht, sondern wird verreist nach England und in den Libanon. Für die ReguHerung bzw. Deregulierung von Bezie-
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Hungen scheint das Prinzip der räumlichen Organisation, des Auf- oder Abbaus von Distanzen, freilich nur beschränkt brauchbar. Vater Robert folgt Sohn Donald bei Monica Bachler, das Prinzip der Erbfolge wird anachronistisch und konservativ auf den Kopf gestellt. Zwar brauchen Monica und Robert Abstand vom Geschehen, denn auch die Auhofstraße ist ihnen „nicht abgetrennt genug" (WS 287), dann macht ihnen eine Reise Roberts nach Ungarn Dinge und Köpfe klarer. Die Orientreise führt Donald zwar weg von Wien, aber hin zu den Problemen mit Monica, die sich ihm bei der Landung in Beirut plötzlich ins Bewußtsein drängt und ihn bis zu seinem Ende nicht mehr losläßt. Selbst Donald erscheint aber seine eigene „Allerwelts-Weisheit von der Ortsveränderung als dem besten Heilmittel für das Unglück in der Liebe plötzlich sehr fragwürdig" (WS 297). Sein Ich scheint - insofern sich das Bindemittel seiner alltäglichen Lebensklugheit zersetzt - zu zerfallen.^ Moderne Medien (damals Brief, Telegraph, Telefon) können Distanzen partiell aufheben - so wird Donald noch in Slunj von einem Brief Roberts und Monicas eingeholt, der ihn direkt vor die neue Situation stellt, aber zuvor hatten seine Anrufe bei Monica wochenlang keinen Abnehmer gefunden. Vollends wird dies beim Betrachten des Claytonschen Dreiecks (Monica Bachler ist die Spitze) in der Phase der Ablösung Donalds durch Robert sichtbar: Robert und Monica machen, begleitet von Anstandsherrn, Bergführer und Cacheur Chwostik, eine Tour auf die Rax, Donald wurde - seine technischen Kenntnisse waren notwendig, aber nicht unbedingt - ins Stammwerk nach England verschoben. Der Erzähler schneidet dabei den einen Erzählstrang immer wieder mit dem anderen und erzeugt so eine radikale strukturelle Opposition zwischen englischer Hügellandschaft und österreichischem Gebirge, zwischen dem von Monica verlassenem Sohn und von ihr neu in die Arme geschlossenem Vater. Nicht nur auf Chwostik, auch auf den Leser wirkt es zynisch, Donald zuzusehen, wie er Monica vergeblich anzurufen versucht, und dabei aus der Kenntnis des anderen Erzählstrangs genau zu wissen, warum niemand abhebt. Nur auf Donald trifft dies alles nicht oder nicht wirklich zu, er ist eine mittlere, aber durchaus tragische Figur, der seine wirkliche Tragik gerade dadurch gewinnt, daß er in der Uberwindung von Räumen versagt. Der Erzähler irrt oder lügt, wenn er Donald als einen Menschen klassifiziert, der immer den Weg des geringsten Widerstandes gehe. So spürt Donald beim 5
Helga Blaschek-Hahn, Übergänge und Abgründe. Phänomenologische Betrachtungen zu Heimito von Doderers Roman „Die Wasserfälle von Slunj". Ein Beitrag zum intermundanen Gespräch, Würzburg 1988, S. 31. - Dort auch ein allfälliger Hinweis auf Ernst Mach.
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Betreten des Libanon instinktiv Gefahr, „tiefinneres Entsetzen" (WS 321), festgemacht an einer plötzHchen tiefen Empfindung. Verlustangst um Monica überfällt ihn. Es wird eine Reise, die wahrlich und schließlich in einer makabren Variante - „viel enthält" (WS 355). Er sucht Kontakt zu anderen Frauen. „La reine" in Beirut, auf Deutsch natürlich nicht nur die Königin, sondern assoziativ auch die Reine, preist die polyglotte Bereitwilligkeit Wiens (WS 324), versteckt aber allfällige eigene Bereitwilligkeit hinter den beträchtlichen Gebirgen des Libanon, ist dem faszinierten Donald verstellt „wie ein Wesen hinter fließendem Wasser" (WS 331). Der „Unglückselige" (WS 350) flirtet und parliert (WS 344), scheint aus Erfahrung bzw. Mangel an Erfahrung klug geworden: Allein er flirtet mit der aktuell falschen Frau auf eine aktuell falsche Art zu einem aktuell falschen Zeitpunkt. Donald erlebt, um mit einem modifizierten John Galsworthy zu sprechen, einen schwarzen indischen Sommer, wird auch „im Privatleben wieder zum Briefbeschwerer". (WS 377). Es muß mißtrauisch machen, daß nach der Demütigung durch Margot sich die Wasser nicht regen. Doch der Hieb bleibt in seiner tiefen Kerbe, die sich nicht mehr schließt. „Es hätte gestern, es hätte heut' nachmittag gewesen sein können." (WS 370) Die Situation ist nicht ausgestanden, er hat Schlafstörungen und erwacht am Morgen immer früher (WS 377), und das Wasser drängt vor, zuerst in der Vorstellungswelt Donalds und/oder der Bildlichkeit des Erzählers: „Er [Donald] begriff plötzlich, wie es ihn zog, wie die Strömung blank unter ihm wegsank und ihn mitnahm, und noch mehr, seit er Monica zu entkommen getrachtet." (WS 370) Zdenko von Chlamtatsch hat es anläßlich eines Besuchs bei seiner Tante zeitgleich zu den Wasserfällen verschlagen: „Plötzlich erkannte er's mit voller Klarheit, daß der Gang hier über den Fall ihm hätte furchtbar werden können, wäre jenes dunkelnde und schwindlige Gedrücktsein gegen den Boden noch in ihm gewesen." (WS 387) Zu Zdenko hatte die Erzählperspektive wieder einmal gewechselt, und er ist es, der einen vorerst Unbekannten sieht, der die eigenen, eben weggeschobenen Angstvisionen einlöst: Als er von der Mühlenhütte und den werkenden Männern noch etwa zwanzig Schritte entfernt war, fuhr etwas aus seiner linken Hand empor wie ein Stab oder eine Lanze, im nächsten Augenblick aber sah man dieses Geländerstück fallen, und hinter ihm Donald, gegen den Katarakt hinab. Zdenko hatte ihn fast genau im Augenblick des Sturzes erkannt, vielleicht sogar an einer ausfahrenden Bewegung, mit welcher der Engländer noch zuletzt auf den übersprühten und feuchten Bohlen das Gleichgewicht wieder hatte gewinnen wollen. (WS 387)
Der Schrecken über die Wasserwand der Fälle von Slunj, die seine El-
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tern nach Atem hatte ringen lassen (WS 16), hatte diese Eltern unmittelbar vor seiner - Donalds - Zeugung durchdrungen. Diese Aura von Slunj, der mythische Ort von Anfang und Ende, ist für Donald ein pränatales Trauma, führt den Kreis seines Lebens mit dem Kreislauf des Wassers zusammen. Mit dem eigenen Tod bestraft er Vater und Geliebte. Eine Kommentierung, eigentlich überflüssig, unterbleibt hier auch wirklich. Aber vielleicht paßt eine medizinische Weisheit von Primarius Pilliater aus dem Fragment Der Grenzwald-. „Aber im außermedizinischen Bereich kommen sicher halbe Selbstmorde vor, die als Unfälle gelten." (G 41) Obwohl die habsburgische Landschaft „ständig mit konkreten Realitätszeichen"^ operiere, so Stefan Kaszynski, sei sie keine reale, sondern eine mittels ästhetischer Verfahrensweisen gebaute literarische Landschaft. „Das Territoriale," so Kaszynski weiter, „das sich durch eigenartige landschaftliche Attribute optisch absondert, bildet in der Malerei und in der Literatur einen wesentlichen Identifikationsfaktor, der es zuläßt, diese an sich wertfreien Attribute zu objektivieren". Diese literarische Landschaft wird auch zum Identifikationsfaktor für literarische Figuren Heimito von Doderers, in den Wasserfällen ganz besonders für den Wahlhabsburger Robert Clayton (und in seinem Fahrwasser eingeschränkt für Harriet). Allerdings, so hat ihn der Erzähler schon bei seinem ersten Auftauchen im Erzählprozeß definiert, wird Robert nicht von der Landschaft dominiert, sondern steht „erhöht über der Landschaft", setzt ihr „mit Bedacht" (WS 14) eine sich verändernde, aber stets stabile Identität und Souveränität entgegen oder sogar darüber. Daß dabei ein Fehler mitunter - Robert ist im Libanon einmal geschäftlich wenig erfolgreich tätig - passiert, tut dem Ganzen keinen Abbruch. Die Zeit der Wasserfälle von Slunj ist samt vieler darin gespiegelter wirtschaftlicher Prozesse als Gründerzeit identifiziert worden; sie repräsentieren aber mit ihrer impliziten Religion des Wachstums in verschobener Art auch die Phase des anbrechenden (österreichischen) Wirtschaftswunders der 50er Jahre unseres Jahrhunderts, der Entstehungszeit des Romans. Und die Wasserfälle sind mit ihrer mittel- und südosteuropäischem Teilweltentwurf natürlich gerade seit der Wende von 1989 auch unter diesem Aspekt ein äußerst moderner Text.
Stefan H. Kaszynski, „Die habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur", in: Die habsburgischen Landschaften in der österreichischen Literatur, hrsg. von Stefan H. Kaszynski und S. Piontek, Poznan 1995, S. 11-22, hier S. 12 f.
MICHAEL BACHEM
Deperception und Schuld: Untersuchungen zu Doderers Spätwerk
Mundus vult decipi - das erwählen die Weltleute, ordinäre Schwindler und Beutelschneider, zu ihrer Devise. Der Künstler weiss es besser: mundus vult percipi. C II 384, Eintragung vom 29.8.1963
Bereits vor zehn Jahren unternahm ich einen Versuch, das ,Nichtsehen und Nichthandeln' der Romanfiguren Doderers in Zusammenhang zu bringen mit seiner Auseinandersetzung mit der unumgehbaren Problematik der Verstrickung des Einzelnen in die kollektive Schuld in unserem Jahrhunderts.^ Mein Ansatz ging aus von einem Roman der Vorkriegszeit, Ein Mord den jeder begeht, und versuchte zu zeigen, wie Doderer trotz seines schier krampfhaften Weg-Schauens von den politischen Gegebenheiten seiner Umgebung - in diesem Falle Dachau 1936/38 - in seinen Romanfiguren relativ leicht zu entschlüsselnde Mängel bezeichnet, die dazu beitragen, mitteleuropäische Wirklichkeit nicht nur in ihren erschreckenden Resultaten, sondern auch in ihrer Entstehung zu begreifen. Im vorliegenden Aufsatz versuche ich, daran anschließend, Doderers Darstellungen von Verfehlungen zu untersuchen - ausgehend vom Roman No 7, also den Wasserfällen von Slunj und dem fragmentarischen Grenzwald. Die These des Aufsatzes ist, daß die Verfehlungen, pauschal mittels dem Heimitismus »Deperception' betitelt, nicht nur Kritik an Zeitgenossen, sondern auch zum Teil recht scharfe Selbstkritik bedeuten. Darüber hinaus soll der geläufigen Annahme entgegengearbeitet werden, Doderers Romane stellten eine Art Anachronismus dar, die somit irgendwie aus dem Rahmen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur herausfallen.
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Michael Bachem, „Doderers Metaphern des Bösen", in: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergebnisse, hrsg. von der Niederösterreich-Gesellschaft für Kunst und Kultur, Wien o.J. [1988], S. 7 - 14.
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Doderers Romane werden in einschlägigen Untersuchungen des öfteren einfach ausgelassen.^ Flüchtige, auch leicht überspitzte Urteile fehlen nicht, wie etwa, Doderers Erzählwerk enthalte eine „bequeme Anleitung [...] zur Verdrängung der peinHchen Vergangenheit",' und außerdem sei die Donau braun/ Nichtsachliche Reaktionen beiseite lassend, bleibt jedoch noch immer eine verständliche Skepsis bestehen. Was hat ein Roman mit Figuren aus dem Wien bzw. Österreich-Ungarn der Jahrhundertwende, was hat das Leben im sibirischen Kriegsgefangenenlager aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit der Auseinandersetzung mit Nazismus, Holocaust, kurz mit der akuteren Problematik der Nachkriegszeit zu tun? Andererseits scheint gerade der von Doderer gewählte Weg im Hinblick auf die bequeme Fiktion der .Stunde Null' durchaus nicht unverständlich. Wie problematisch auch immer die historische Genauigkeit von Doderers Nachkriegsromanen sein mag, es läßt sich kein kritischer Strick daraus drehen, daß er versuchte, den totalitären Staat mitsamt seinen Persönlichkeiten in seiner Entstehung zu verstehen, und daß er in seinen Romancharakteren Figuren zu zeichnen versuchte, die des Bösen fähig oder dafür anfällig sind. Wir wissen im übrigen von Doderers Methode, wenn nicht gar Methodologie des Indirekten, vom langen Umweg, den er oft beschreibt, um die Erfüllung eines individuellen Schicksals zu kennzeichnen. Auch nähert sich der Erzähler gerne (und bekanntlich oft) dem Zentrum der Handlung von der Peripherie her, wie z.B. im Kapitel „Das Feuer" in den Dämonen wo das Rascheln von Salamandern im Laub liebevoll beschrieben wird, als indirekte Annäherung an ein Geschehen, welches Doderer leicht übertrieben das .Cannae' der österreichischen Freiheit nannte. In der vorliegenden Arbeit unternehme ich gleichfalls einen Umweg, und zwar durch die reflektierenden Schriften, die Commentarii und die Tangenten, um meine These zu entwickeln, daß sich Doderer trotz Verdrängung und Verlogenheit (s)einer Schuld oder Komplizenschaft Einige Beispiele: Hamida Bosmajian, Metaphors of Evil: Contemporary German Literature in the Skadow of Nazism, Iowa City 1979; Judith Ryan, The Uncompleted Fast, Detroit 1983; Lawrence Langer, The Holocaust and the Literary Imagination, New Häven 1975. Hans Eichner, „Heimito von Doderer, die Politik und die Juden," in: Austrian Writers and the Anschluss: Understanding the Fast: Overcoming the Fast, hrsg. von Donald G. Daviau, Riverside 1991, S. 232. George Steiner, „The Brown Danube", in: Reporter, Oct. 12, 1961, S. 58 - 60. Vgl. dagegen Andrew W. Barker, „Das Romanschaffen Heimito von Doderers im Bannkreis des Faschismus", in: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergebnisse, a.a.O., S. 15 - 27; vgl. Andrew W. Barker, „Heimito von Doderer and National Socialism", in: German Life and Letters 41 (1987/88), S. 145 - 158.
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durchaus bewußt war, und daß er sich besonders im Spätwerk mehr oder weniger verschlüsselt damit beschäftigte. Damit wird nichts entschuldigt, gerettet, irgendwie verharmlost oder bewältigt, geschweige denn ,wiedergutgemacht'. Am 28. Januar 1965 findet sich ein Eintrag in den Commentarii, welcher, in vielfältigen Variationen, durch seine Tagebücher zieht: „Das Direkt-Autobiographische im Roman ist erbärmlich" (C II 453). - Wir wissen, wie vorsichtig Doderer fast jegliche faßbare ,Aussage' in seinen Romanen vermied, will sagen, wie allergisch er auf Ideologisieren oder Philosophieren im Roman reagierte, und wie geflissentlich er selbst dies zu vermeiden versuchte. Nun ist mit der obigen Sentenz allerdings noch nicht das /nt/ire^i-Autobiographische ausgeschlossen, und (unmittelbar neben schroffen Protesten gegen das Auto-Biographische) liest man dann auch Eintragungen wie: „Seinen Text in das aktuelle Leben einzuflechten und das aktuelle Leben in seinen Text: das ist ein idealisches Amalgam, welches wir kaum selbst vermögen und doch anstreben müssen, weil nur so unser Dasein durchdrungen und gleichhinschwebend [!] wird." (C II 460, Eintragung vom 24. Mai 1965) Doderer-Kenner wissen von den geschliffenen apodiktischen Sentenzen dieses Autors, und sie wissen auch, daß sich nicht ein konsistentes philosophisches System daraus zusammenstricken läßt. Gedankliches Wetterleuchten ereignet sich bei Doderer in allen politischen, psychologischen und literarischen Horizonten, erhellt aber letztlich nur einzelne Momente. Die Commentarii beleuchten, wenn auch oft in heimitistischen Chiffren, das erzählerische Werk dieser Zeit, und man stößt hier auf Bemerkungen, deren Bedeutungsmöglichkeiten durch das Zusammenlesen von Fiktion und Reflexion klar wird. Der Ansatzpunkt, oder auch der wunde Punkt, für Doderer wie für zahlreiche seiner Zeitgenossen, liegt dabei eben nicht nur in aktiver Teilnahme an den Greueltaten der Zeit, sondern im Passiven, in Versäumnissen, im Schweigen, im Nicht-Apperzipieren, in emotioneller Abkapselung, kurz: im Verhalten von „Wurstigkeit-Lulatsche[n]" (CII236) - im Bösen in einer recht banalen Maske.' Wendelin Schmidt-Dengler wies bereits vor Jahren, im Zusammenhang mit dem Roman No 7, darauf hin, daß ein ununterbrochener Schuldzusammenhang für Doderer ein Thema bildet, „dessen Brisanz in der perfektionistischen Konstruktion nie konkret ausgesprochen wird, da der Autor in diesem ,roman muet' den Verdacht jeglicher ,Aussage' Dazu Ulrike Schupp, Ordnung und Bruch. Antinomien in Heimito von Doderers Roman Die Dämonen, Frankfurt a.M. [etc.] 1994; vgl. auch Michael Bachem, „Doderers Metaphern des Bösen", in: Internationales Symposion Heimito von Doderer. Ergebnisse, a.a.O., S. 7 - 14.
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weit von sich weisen möchte. Bedenkt man jedoch, daß zur Entstehungszeit des Grmzwalds Vergangenheitsbewähigung durch den Eichmann-Prozeß beklemmende Aktualität erhielt, verlien auch das Thema dieses Romanfragments - nicht zuletzt in Hinblick auf Doderers Engagement in der NS-Zeit - seine Harmlosigkeit." (CII551, Nachwort des Herausgebers). Das soll nicht heißen, daß irgendwelche spezifischen, metaphorisch verborgenen Greueltaten aufzudecken wären. Es geht eher um die Frage, ob die späten Romane in Figuren wie Harriet oder Donald Clayton, oder etwa in Zienhammer, Charakterzüge darstellen, deren negative Aspekte Doderer unmißverständlich als repräsentativ für das Böse seines Zeitahers sah oder die er als Vorläufer oder Vorbedingungen zu den Unmenschlichkeiten dieser Zeit interpretierte. Vor solchem Hintergrund sind jene Szenen zu betrachten, in denen Harriet oder ihr Sohn gerade nicht zupacken, sich nicht entscheiden, in denen sie schweigen. „Es gilt jetzt, zum ersten Mal, Grundlagen zu erforschen, weit unterhalb aller Moral, die überwältigende Kraft des Bösen gegenüber aller Unentschiedenheit, die selbst schon fast das Böse ist" (CII 460, Eintragung vom 26. Mai 1965), so nimmt sich Doderer noch während der Arbeit am Grenzwald vor. Denn: „Zienhammer: der Undecidierte ist für alles anfällig: so kann aus der Mittelmäßigkeit das Finsterste kommen und zur Tathandlung werden." (CII 460, Eintragung vom 24. Juni 1965) Die Angst vor Entscheidung, die psychologische Unfähigkeit Einzelner, im entscheidenden Moment zuzupacken, führt letztendlich, so sieht es Doderer, zur kollektiven Katastrophe. Schon in den Namen seiner Figuren in den Wasserfallen steckt Bedeutung, die man als einen Versuch der Ent-Schuldigung interpretieren könnte. Wie dem auch sei, so scheint es schier undenkbar, daß der sprachlich stets hochgradig alerte Doderer nicht wußte, daß Clayton aus dt. ,Ton', gleich engl. ,clay', besteht. Ob darin ein Wink steckt auf das Geschöpf, und auf das prototypische dieser seiner Schöpfung, oder auf die Kleist'sche .gebrechliche Einrichtung der Welt', sei hier dahingestellt. Doderer jedoch verfügt über ein reiches Repertoire von Bezeichnungen für die in Schuld verstrickten oder in Schuld hineinstolpernden Menschen: Zu den Wichtigsten gehören wohl: deperceptiv, unwissend, unansprechbar, beziehungslos. Die Figuren werden z.B. mit Metaphern des Dunklen, Undurchlässigen, Indifferenten, nicht-zusehenden, nichtzufassenden umgeben, z.B.: „Wir aber dürfen hier zum ersten Male feststellen, was uns vordem nur ahnte [...] daß unserem Donald eine kalte Natur eignete, oder mindestens die Möglichkeit dazu." (WS 195) Oder, zur selben Figur: „Was ist also Donalds Nicht-Handeln [...]. Er sitzt daneben. Ein seltsamer Fall von Deperception, Lähmung, Un-zuflüssig-
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keit." (CII231, Eintragung vom 21. März 1960) Bedenkt man dazu die vielen Situationen in den Wasserfällen, in denen Donald schweigt, liest man sodann: „Nur auf der allerobersten Stufe des Schweigens sitzt der Tiefsinn; unten aber die Wurstigkeit" (WS 200), und bedenkt man die Bemerkungen Doderers zur Wurstigkeit Zienhammers, des ,Repräsentanten' unserer Zeit, dann kann einem die mögliche Tragweite, die Doderer mit den Versäumnissen Donald Claytons im Sinne hatte, schwerlich verborgen bleiben. Aber nicht nur in der Wortwahl, auch im Satzbau und Rhythmus spiegeln sich Charaktereigenschaften wider. Wird Donalds Mutter Harriet beschrieben, deren Sohn ihr stark ähnelt, dann frappiert zunächst eine extreme Kürze der Sätze: „Harriet [...] bückte sich nicht." (WS 6), „Harriet Clayton lehnte in der Ecke. (WS 7), „Harriet las." (WS 8), „Harriet sah nicht hinaus." (WS 10), „Harriet lächelte." (WS 11) Aber auch Harriets Wortkargheit, z.B. ihre lapidare Feststellung: „Austrian faces" (WS 12), reflektieren in ihrer syntaktischen Dürftigkeit Harriets emotionale Dürre. Daß Doderer sich nicht scheute. Aber- und Volksglaube zu Hilfe zu ziehen, hat bereits Gerald Sommer in einer ausgezeichneten Studie dargelegt.' So weist die wiederholte Beschreibung von Harriets „starken" (WS 7), „zusammengewachsenen Augenbrauen" (WS 11) auf charakteristische Züge von Werwölfen, Vampiren oder Hexen hin, aber auch auf die Möglichkeit, daß eine Frau mit zusammengewachsenen Augenbrauen eine schlechte Ehefrau abgibt.^ Ahnlich ihr Sohn Donald: Inmitten eines Empfangs bei Doctor Bachler, inmitten von Champagner-Geschwätz, wird Donald als teilnahmslos und passiv beschrieben: „Donald rührte sich nicht." (WS 200) - „Seine Bemerkungen waren knapp. Sie kamen fast lustlos heraus. Donald hielt die Pfeife in der Hand, sah Monica an und lächelte. Er sah sie immerfort an. Das war eigentlich alles." (WS 206) Der Autor berichtet konjunktivisch, was Donald hätte tun können: Es wäre für's erste anzunehmen, daß Donald gut beobachten und vieles wahrnehmen hätte können, weil er ja unbeteiligt und schweigsam blieb und sich nicht rührte. Aber Gleichgültigkeit bedeutet noch nicht Objektivität, und ein bisserl muß man sich schon unter die Leut' bringen, wenn man was sehen will. Die Wahrnehmung wird nicht so vollzogen, daß einfach in jemand was hineingeschüttet wird, wie wenn einer im Wirtshaus ein Seidl Bier trinkt. (Hohlköpfe sind, entgegen dem Wortsinne, nicht geGerald Sommer, Vom „Sinn aller Metaphorie". Zur Funktion komplexer Bildgestaltungen in Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege" - dargestellt anhand einer Interpretation der Entwicklung der Figuren Mary K. und Melzer, Frankfurt a.M. [etc.] 1994, bes. S. 85 ff. Funk & Wagnalls Standard Dictionary of Folklore, Mythology and Legend, New Y o r k 1972, S. 360.
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eignet, um was hinein zu tun). Die Wahrnehmung ist eine doppelseitige Arbeit: die eine Hälfte müssen wir selbst leisten, und nur die andere leistet die Welt. (WS 201 f.)
Betrachtet man Donald als repräsentativ für ein ,deperceptives' Leben, dann hilft eine weitere Tagebucheintragung unserem Verständnis bezüglich Doderers Figurenwahl: „Ein deperceptives Leben müssen wir zunächst als nicht lebenswert gründlich verachten; weiter als Faktizität erkennen, staunend, dass es alles enthielt, wessen wir bedurften, und das war, sehr gelinde gesagt, vielfach nichts Gutes; drittens aber als Objekt erforschen, bei Anderen wie bei uns selbst."® Der Hinweis auf sich selbst ist kaum mißzuverstehen, außerdem scheint ein Stück der theoretischen Fundierung von Doderers Art des Realismus hier offensichtlich: die ,Pflicht' des Romanschreibers, seine negativen Figuren akkurat zu beschreiben. Auf den ersten Blick erscheinen Szenen, wie die am Anfang des Romans, wo Harriet unbeteiligt Roberts Krebsjagd zuschaut, nebensächlich. Bedenkt man, in welchem Ausmaß Mutter und Sohn unfähig sind, unbequemes zuzulassen oder auszuhalten, sowie den betonten Kontrast Harriet-Monica bei der Krebsjagd, dann wird jedoch ein wichtiges Versäumnis hierbei immer wieder betont: Harriet fehlt Offenheit und Zugänglichkeit dem Unbequemen, Beunruhigenden, oder auch einfach sich selbst gegenüber. „Volentem ducunt, nolentem fata trahunt. Dafür bilden die beiden wirklich ein Beispiel. U n d Donald ist nolens eigenthch dem ganzen Leben gegenüber, und in einer verwandten A n wie seine Mutter." (CII 237, Eintragung vom 7. Mai 1960). Willenlos lassen sich Mutter und Sohn im Leben herumziehen, doch entkommen sie dadurch dem Schicksal nicht. In ihrem Nicht-Wollen steckt etwas dem Nicht-sehen-Wollenden verwandtes. Monica Bachlers Umschwung von Sohn Donald auf Vater Robert, dieser Sichtwechsel Monicas am Tage nach der Nicht-Begegnung mit Donald während einer Gartenparty bei Claytons, wird wie eine erste Begegnung beschrieben: „Er war ihr hier ganz neu begegnet, neuerlich zum ersten Mal, ja, ein Donald ohne den trübenden und trennenden Schleier, der sie stets gequält hatte, ein Donald, der wirklich anwesend war, der lebte, teilnahm, sich bewegte: es war Robert." (WS 240) Der .trübende und trennende Schleier' erinnert geradezu an jene teuflische Kälte, die Adrian Leverkühn umgibt. Und Doderer gibt uns wiederum allen Grund, Donald als Typus durchaus ernstzunehmen: „Wenn ich
Vom ,Dom Pasch' (Ostersonntag), Tagebuch-Eintragung vom 22. April 1962, Ser.n. 14.094/095, S. 62 (Series nova-Signaturen im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien; Kopien im Doderer-Archiv der Universität Wien).
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sage: ,Es gilt nicht so sehr, Probleme zu lösen, als nicht an ihnen zu ermüden' - dann sind jene Donalds und Wurstigkeits-Lulatsche nichts anderes als die Konkretion unserer Ermüdung am Problem [...]. Sie ist so alt, wie die Probleme selbst und stand immer als Möglichkeit hinter ihnen. Doch jetzt erst ist dieses Negativ akzentuiert und damit bedeutend geworden. Donald ist davon eine noch vereinzelte Konkretion." (CII 236, Eintragung vom 3. Mai 1960) Donalds Ängste, besonders vor Wasserwänden, sind von der Kritik ausgiebig diskutiert worden. Doch Donalds Traum hat mit ,Aquaphobie' weniger zu tun als mit dem Akt des Zuschauens, des Percipierens: „Er saß auf, machte Licht und träumte, im Bett sitzend, weiter: und wußte da, daß er aufstehen, zum Fenster gehen und hinunter schauen mußte auf das Stück Garten unten vor dem Fenster: damit würde er Haus und Garten vor Schaden bewahren. Aber er vermochte es nicht, sich dem Fenster zu nähern und hinaus und hinunter zu schauen, so sehr er's wölke. In seinen Ohren war ein schwaches und hohles Sausen." (WS 223) Die Unfähigkeit, „zum Fenster [zu] gehen", trägt hier unmittelbar zum „Schaden" an Haus und Garten bei. Eine späte Tagebuchnotiz bestätigt, wie wichtig allein die Fähigkeit des Nicht-wegSchauens für Doderer ist: „Ein Übel ist allein dadurch schon bekämpfbar, dass wir nicht wegschauen, also durch Apperception."' Im letzten Romanfragment, dem Grenzwald, dient, wie oben angedeutet, die Figur Zienhammers, des gebürtigen Schweynzkreuthers (manchmal auch .unser Schwein' genannt), als .Repräsentant des Bösen'. Im Vergleich zu Harriet und Donald, die an und mit ihrer Passivität oder Geschlossenheit scheitern; handelt es sich bei Zienhammer um aktive Bosheit und Verrat, geplant war ein Mord, den Zienhammer begehen sollte. Zienhammer ist somit ein Prototyp des .korrekten' Bösewichts: Zienhammer ist weitaus kein perfekter Schurke, wenn es so etwas überhaupt gibt. Ihn schleppt seine Besessenheit, ,es richtig und vorteilhaft' zu machen hinterdrein, und seine Genauigkeit und Vigilanz tun das ihre. Großer Verbrecher aus kleinlichen Motiven! (C II 457, Eintragung vom 27. April 1965) Er ist der Mensch unserer Zeit. (C II 458, Eintragung vom 1. Mai 1965) Er will es nur recht machen [...]. [...] Er ist von der Klugheit besessen und ganz unansprechbar. (C II 458, Eintragung vom 5. Mai 1965) Aus dem Nichts (hier: der Undecidiertheit Zienhammer's) kommt das Schwerverbrechen. Es brauchen nur einige Fähigkeiten noch bereit liegen (wie bei Meisgeier), oder etwa, daß einer ein trefflicher Schütze ist (wie Zienhammer). (C II 464, Eintragung vom 25. Juni 1965)
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Ser.n. 14.104 (Eintragung vom 14. Juli 1966), S. 117.
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Es mag zunächst scheinen, als ob Doderers Analyse der .Verschuldung' oder Verstrickung in Schuld zu versteckt, zu indirekt, zu weit hergeholt sei. Eine Reihe von Doderers Tagebucheintragungen zum selben Themenkreis lassen jedoch erkennen, daß es sich auch um eine Selbst-Betrachtung handelt: „Zienhammer also ist keinesfalls böse, anders: er hat auch in dieser Dimension kein Format, noch weniger wahrscheinlich, als ich selbst, obwohl's da wirklich nicht weit her ist." (CII 487, Eintragung vom 4. Januar 1966) Doderers ernstgemeinte Kritik schlägt darüber hinaus von Zeit zu Zeit ins Groteske um: Beginn eines Einsatzes! Sibirien - Rottenstein denkt an Doderer: „Der gemeine Finsterling (Obscurus nigrotans L.) ist ein handhoher schwärzlicher Pilz, mit dickem Stiel und kleinem Kopfe, der in dichten Fichtenwäldern an solchen Stellen gedeiht, wo keine Sonnenstrahlen hingelangen können. Er ist einzelständig und wächst niemals in Gruppen, gilt als ungiftig, ist jedoch nicht eßbar." (CII 451, Eintragung vom 11. Januar 1965)
Damit hat Doderer, der egozentrische Exzentriker, jedoch eindeutig Aspekte auch von sich selbst gezeichnet. Ebenso in weiteren Einträgen, z.B.: „Zienhammer's Beschissenheit und die Schleimfäden seiner Interessen vor einem immer offen gehaltenen Hintergrunde. Anders: er ist wie ich." (CII 414, Eintragung vom 18. März 1964)'° Auch als eigentümlich gewandter Redner taucht Zienhammer auf, zwar nicht im Grenzwald, sondern in einer Geschichte, die zunächst in der Wiener Zeitung erschien." Dort redet Zienhammer „lange, schnell und gleichmäßig" auf eine Gruppe unzufriedener Kriegsgefangener ein, die er schließlich davon überzeugt, daß „seine ganze Liebe gerade dieser Partie hier" zugewandt sei. Obzwar lediglich die bürokratisch geschraubte Sprache (.Effekten' statt .Sachen') und manipulierende Unehrlichkeit Zienhammer kennzeichnen, gehört er auch hier indirekt in die Rubrik des banal Bösen. Abgesehen von seiner .Undecidiertheit' - wir denken an den Wur10
Vgl.: „AI fine: Zienhammer [...] begreift die Merkwürdigkeit, daß zwischen einem Mann, der bereits getötet hat, und einem, der dies noch niemals tat, ein analoger Unterschied besteht, wie zwischen einer Jungfrau und einer Frau. Nun, er für sein Teil hatte seine diesbezügliche Unschuld schon 1916 im Schützengraben bei Olesza verloren." (CII 420, Eintragung vom 19. April 1964) Doderer selbst nahm an der hier genannten Schlacht teil und geriet daselbst in Gefangenschaft. „Zienhammer taumelte in seine Sachen nicht anders hinein als ich in die meinen. Dabei können Schwerverbrechen, Nichtigkeiten, oder gute Taten geschehen - und alles das war amorphes Geröll, denn es kam aus der Undecidiertheit; in ihr ist der Mensch noch kein Mensch, hat wohl eine Chronik, aber noch keine Geschichte." (C II 479, Eintragung vom 9. Oktober 1965)
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Heimito von Doderer, „Die Einheit allen Lebens", in: Wiener Zeitung vom 17.8.1965, Beilage.
Deperception und Schuld
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stigkeits-Lulatsch Donald Clayton - und deren Zusammenhang mit Schuld und historischen Geschehnissen, ist Zienhammer zumeist allein. Man kann ihn nicht .einsam' nennen, denn damit wäre bereits eine gewisse Bewußtheit seines eigenen Dilemmas impliziert. Figuren, die sich abkapseln, tendieren, a la Amtsrat Zihal, zum Verschrobenen, oder in schlimmeren Fällen zum Bösen und zur Verstrickung in Schuld. Es erscheint durchaus möglich, daß Doderer den Schuldbegriff vielleicht ohne direkte Anlehnung, aber dennoch in ähnlicher Art wie Kafka sah, oder auch wie Martin Buber, auf den in den Commentarii eine Anspielung zu finden ist, wo er von Donald Clayton schreibt: „Er hat nie appercipiert, weil er nie unter die Leute gekommen ist. Er ist wesentlich ohne Du-Beziehung." (CII237, Eintragung vom 9. Mai 1960) Bereits im Tagebuch von 1925 wird Kafkas P r o z ^ erwähnt als „eines der besten Bücher überhaupt, von allen, die ich kenne" (TB 273, Eintragung vom 4. August 1925), in den Tangenten beschreibt Doderer noch fünfzehn Jahre später, mitten im Krieg, ein „Zusammentreffen mit Franz Kafka" (T 23, Eintragung vom 22. Januar 1940), womit freilich lediglich die Begegnung mit dessen Werk gemeint sein kann. Die Versäumnisse vieler Doderer-Figuren erinnern u.a. an die Verfehlungen und Mißverständnisse von Kafkas Protagonisten, die sich - meist mit fatalen Konsequenzen - etwas vormachen, und zwar brutaler als Doderers Figuren, die aber ebenso unweigerlich sterben müssen. Ahnlich wie Josef K. nie das Unbequeme in sich selber sieht - mit Buber zu sprechen: die Verstrickung in Existentialschuld - ebenso werden Figuren wie Harriet und Donald Clayton von der Macht der Wirklichkeit erdrückt. In diesen Zusammenhang gehört auch eine Parallele zwischen der Exekutionsszene von K. im Prozeß und der Verrat-Szene in Doderers Grenzwald. Bei Kafka heißt es: „[K.s] Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor, und streckte die Arme noch weiter aus."'^ Die Parallelstelle im Grenzwald lautet: „Aber seine Aufmerksamkeit zerfiel. Sie wurde übermächtig von einer Erscheinung angezogen, die dem Kapitän zunächst entging. Es war eine helles, ja, bleiches Gesicht, das genau ihm gegenüber hinter einem geschlossenen Fenster zu ebener Erde deutlich gesehen werden konnte [...]. Der Blick aus dunklen Augen war genau auf ihn gerichtet. Dieser Blick war vollends unbeweglich, unbe-
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Franz Kafka, Der Prozess, New Y o r k 1946, S. 239.
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Michael Bachem
wegt, vollkommen ruhig: widerspruchslos aufnehmend, was er sah, und es bewahrend. Alles." (G 170) In Doderers Roman steht Ernst von Rottenstein am Fenster und wird Zeuge von Zienhammers Verrat an den ungarischen Kriegsgefangenen. Kafkas Figur im Fenster wird nur mit einer Reihe von Fragen umgeben: „Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle?"" In seinem Aufsatz über „Schuld und Schuldgefühle" greift Martin Buber gerade diese Szene auf, um die tiefste Verfehlung, die Verweigerung, die eigene Verschuldung zu beschreiben, den einzigen Weg, in Bubers Begriffswelt, um zur ,Erhellung' zu gelangen." Mir scheint, daß Doderer in den Augen-Blick Rottensteins mehr Bedeutung investiert als eben nur ein zufäUiges Hin-Schauen. Sechs Adjektive, die den Blick beschreiben, und dann noch das lapidare „Alles" weisen auf mehr hin als auf ein Zeugnis eines singulären Verrats. Wir wissen aus Doderers Gesamtwerk, und besonders aus dem letzten, fragmentarischen Romanprojekt, wie klar positive Figuren sich durch Offenheit, Ansprechbarkeit, Spontaneität, Neugier, eben durch jenes ,aperte percipere' auszeichnen, das nicht nur den guten Künstler, sondern auch den guten Mensch kennzeichnet. Helligkeits- und LichtMetaphern, Fenster und Offnungen aller Art umgeben hier das Positive. - Es scheint, daß sich Doderer im Zuge der Nachkriegszeit mit der immer klarer werdenden Komplizität, dem immer weiter sickernden Gefühl der Mit-Schuld auf seine Weise auseinandersetzte, und es ist keineswegs als abträglich zu betrachten, wenn diese Weise so indirekt und so metaphorisch ausgefallen ist, wie es einem Künstler wie Doderer grundsätzlich entsprach.
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Ebd. Martin Buber, Schriften zur Philosophie, Erster Band, München, Heidelberg 1962, S. 475 - 502 Innerhalb der Diskussion auf der Doderer-Konferenz in Edinburgh wurde auf eine dritte, sehr ähnliche Szene in Hofmannsthals „Das Märchen der 672. Nacht" hingewiesen: „Denn ein Mensch hatte sein Gesicht an den Scheiben und schaute ihn an." Auch dies könnte als Schuldzuweisung interpretiert werden.
WENDELIN SCHMIDT-DENGLER
Das Verbrechen, die Verbrecher und der Autor als Leser, Zu Heimito von Doderers Romanfragment Der Grenzwald 1 „Schlechte Nacht. Labert gelesen." - Das notierte Doderer am 6. Dezember 1960 in seinem Tagebuch (C II 263). Auch wenn - und das ist für Doderers Parataxen kennzeichnend - nicht eindeutig geklärt werden kann, ob die Lebert-Lektüre mit der schlechten Nacht in irgendeinen Zusammenhang gebracht werden kann, so ist doch jedem, der Hans Leberts Roman Die Wolfshaut (1960) kennt, verständlich, daß dieser Roman nicht die beste Gute-Nacht-Lektüre ist. Dieses Lektüre-Erlebnis Doderers verdient unsere Aufmerksamkeit aus zwei Gründen: Erstens wird zu Beginn der sechziger Jahre keine Lektüre so ausführlich im Tagebuch traktiert, und zweitens lassen sich von der Wolfshaut aus interessante Einblicke in die Struktur und die Thematik des GrenzwaldFragments gewinnen. Die folgenden Ausführungen versuchen, diesen Beweis philologisch zu führen.
Es erscheint mir angebracht, diesen Lektürevorgang etwas einläßlicher zu studieren. Die Kritik hat sich bis jetzt ja selten darauf eingelassen, Doderer als Leser oder gar als Rezensenten eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und in der Tat: Wer sich mit Doderers nicht gerade wenigen Buchbesprechungen befaßt, dem tönt bald ein Stimmengewirr entgegen, das er aus den Tangenten, aus Grundlagen und Funktion des Romans, dem Traktat „Die Ortung des Kritikers" und dem Repertorium kennt; das gilt mutatis mutandis und mit Einschränkungen auch für den frühen Doderer, der immer wieder seine Theorien dem eben Gelesenen
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Wendelin Schmidt-Dengler
überstülpte - mit anderen Worten: Zum Unterschied von dem 1931 heftig geschmähten Musil oder auch Thomas Mann pflegt Doderer kaum die sekundäre Rede über andere Autoren und hat, mit zunehmendem Ruhme, das Rezensentenwesen immer ungestümer zurückgewiesen. Einblicke in die Praxis der anderen waren ihm zuwider, und er brachte dies nicht ganz zwei Jahre später auf die pointierte Formel: „Dem Künstler ist der Arbeitsvorgang eines anderen Künstlers so zwider wie ein fremder Geschlechtsakt. Wie sollte sich, auf solcher Grundlage, eine nur einigermaßen saubere Praxis des einen Künstlers gegen den anderen halten? Und wenn, ist das nicht ein Frieden zwischen Impotenten in jeder Hinsicht, oder aber ein Frieden, der nur darauf beruht, daß der eine Teil, bei nahezu völligem Überwiegen, durch den Geruch des anderen nicht mehr gestört wird? Ich habe mich, bis zum Eintreten dieses Zustandes, immer um eine saubere Praxis betont, ja krampfhaft und selbstwertspiegelnd bemüht." (CII 342 f.) Lebert stellt in diesem Lebensabschnitt offenkundig eine Ausnahme dar, zumindest kann Doderer nicht wegschauen; zumindest suggeriert er, daß es sich in diesem Fall um ein Gespräch zwischen Potenten handelt. Aber auch hier hört man deutlich, wie er seine erste und spontane Ablehnung dieses Buches mit dem Standard-Inventar seiner kritischen Formel begründet: „Kritische Einwände. Geronnene Transcendenz, mehrmals. Auch eine stellenweise vor-geführte, pro-menierte Lyrik, nicht ganz dem Prosa-Satze integriert. Zudem: auch jetzt, bei geändertem Licht (blauer Himmel) Monophonie, wenn nicht Monotonie." (C II 263 f.) Doch dann wird die Kritik gleichsam in eine andere Tonart umgeschrieben: „Das alles vorgebracht, weil diesem Buche nur wirklich kritische Maßstäbe angemessen sind." (CII 264) Die biographische Situation soll hier nicht unerwähnt bleiben: Als Doderer dies schrieb, befand er sich im Lainzer Spital, wo zunächst ein kleiner Eingriff an den Stimmbändern vorgenommen wurde; erst später sollte sich bei der histologischen Untersuchung herausstellen, daß sich an den Stimmbändern ein bösartiges Karzinom befand - ein Schock für Doderer, und es ist nicht unangebracht, diesen Hintergrund mitzubedenken, wenn man die sich zusehends verdüsternden Reflexionen des Autors vernimmt.' Doch zurück zu Doderers Auseinandersetzung mit Lebert. Zu Beginn 1961 notiert er eigens noch einmal zu diesem: „Einem so gearteten Unternehmen kann was Irdenes seiner Gußform da und dort noch anhaften. Wer aber möchte so unedel sein, nicht den1
Wolfgang Fleischer, Das verleugnete
Wien 1996, S. 483.
Leben. Die Biographie
des Heimito
von
Doderer,
Das Verbrechen, die Verbrecher und der Autor als Leser
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noch zu jubeln, wenn Gestalt wieder einmal, und in dieser unserer Zeit und vor diesen unsern Augen, über das Chaos gesiegt hat?" (C II 272, Eintragung vom 8. Januar 1961) In der Folge mußte er sich einer belastenden Radium-Bestrahlung unterziehen. Nach dieser Behandlung setzt er die Lebert-Lektüre fort. Am 30. März hat er offenkundig eine Rezension verfaßt; über diese läßt er sich am 4. Mai 1961 vernehmen: N o c h einmal kritisch: zum letzten Mal. Ich werde mich höchstens in bezug auf Gütersloh kritisch noch vernehmen lassen. Das vorletzte Mal tat ich's bei Besprechung der großen Blei-Anthologie. Sehr bezeichnend. Heute geht's um Hans Lebert („Die Wolfshaut"). Und doch nicht eigentlich um dieses Buch, diesen Autor, sondern um eine praktische Haltung, eine Haltung in der Praxis, der kritischen, als exemplarischen Anhang zu dem Essay „Die Ortung". Und als Abschluß jener Praxis. Sie ist wahrlich nicht die meine. (C II 285)
Doderer will also mit dieser Rezension endgültig Abschied nehmen vom Gewerbe des Kritikers; doch ist das ein Abschied in Raten. Doderer bewundert Die Wolfshaut als „komplizierten und gemeisterten monographischen Roman" (CII 285), will aber die Rezension, die er am 30. März 1961 geschrieben hat, der OffentHchkeit nicht anvenrauen, weil dem Autor diese, seiner Meinung nach, „vor mindern Ohren geschadet hätte", denn: „Was Herren miteinander abzumachen haben, gehört nicht auf den Markt; dort haben solche immer als solidarisch zu erscheinen." (CII 285, Eintragung vom 4. Mai 1961) Der Text, der für die „mindern Ohren" nicht bestirtimt war, ist in Die Wiederkehr der Drachen abgedruckt (WdD 180-182). Er ist für Doderers Kunstverständnis und für seine Romantheorie gewiß aufschlußreicher als der zweite Versuch, der im August 1961 im Merkur erschien. In seiner ersten Besprechung geht Doderer ganz kurz auf den Inhalt ein: „Und man hält [im Dorf] zusammen, gegen die Eindringlinge natürlich, die es beinahe fertigbringen, einen während des Krieges begangenen Massenmord an's Licht zu zerren." (WdD 180) Hier fällt dem, der Leberts Roman kennt, etwas auf: Zunächst ist in der Tat nur eine Figur als „Eindringling" zu sehen, und zwar der Matrose Johann Unfreund, dem es mehr oder weniger im Alleingang gelingt, die Erschießung von sechs Kriegsgefangenen gegen Kriegsende aufzudecken und die Schuldigen namhaft zu machen. Vor allem ist es Unfreund, der auch entdeckt, daß der erste Mord nur deswegen geschah, weil ein Mitwisser dieses Verbrechens zu plaudern begonnen hatte, und dieser Tat wird einer, der schon vorbestraft war, verdächtigt, und auch von den Ordnungshütern beseitigt. Ein Mord zeugt den andern, und nach gerne geübter Kriminalromanpraxis wird auch bei Lebert ein gefürchteter Mitwisser erlegt, ehe er zu zwitschern beginnen kann, und dann muß ein zweiter dran
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glauben, und zwar der Mörder des Mitwissers. Überdies gibt es noch einen rätselhaften Todesfall, in der „alten Zieglei", wo die Erschießungen stattfanden, ein rätselhafter Herzschlag. Die richtigen Täter, die zu den ehrenwerten Bürgern gehören, verstehen sich auf das Komplott. Es ist sehr kennzeichnend, daß Doderer das Inhaltliche in seiner Kritik - eben die Erschießung der Kriegsgefangenen und die Aufdeckung dieser Tat - eher marginal behandelt: „Wir teilen nicht die Vorliebe materialistischer Literaturbetrachtung für Inhaltsangaben", erklärt er kategorisch: „Wichtiger ist es, Lebert's Instrumentarium zu beschauen und die Art, wie er es anwendet." (WdD 181) Der Bildspender für die nun folgende Kritik entstammt musikalischer Terminologie, nicht ohne Grund, denn gerade in diesem Zeitraum ist Doderer voll damit beschäftigt, den ersten Teil seines Romans No 7 (Die Wasserfälle von Slunj) zu beenden, und dieser Roman diente ja bekanntlich als erster Satz eben dieses symphonisch angelegten Werks. Den Geburtsfehler der Wolfshaut meint Doderer im Formalen orten zu können, wobei ein offenbar positives Moment des Textes sich in seiner Kritik recht raffiniert zu einem negativen wandelt. Er erkennt, daß die Qualität dieses Buches in der Kompaktheit liegt, mit der die Einheit des Dorfes „Schweigen" hergestellt wird. Hier tragen sich die Verbrechen zu, der Ort ist hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen, und der Roman ist nicht nur in seinem inhaltlichen Substrat auf diese rustikale Geschlossenheit angewiesen, sondern auch in seiner formalen Struktur. Der Matrose, der Eindringling aus der Außenwelt, gehört einem „anderen Satz" an, der in diese geschlossene Aura des Dorfes und damit des Romans nicht hereinrage. „Der große Roman, die große symphonische Form, hat Teile, von denen jeder zum anderen ein Jenseits im Diesseits darstellt. Ihre Einheit müßte nicht einmal in der Weise gewahrt bleiben, daß der gleiche epische Inhalt und Vorwärtsgang durch sie alle hindurch continuiert würde. Jede Einheit kann tiefer sitzen [...]." (WdD 182) Das ist das Konzept, das Doderer mit seinen sehr unterschiedlich angelegten Teilen des Romans No 7 verfolgt: „Es gibt keine Symphonie in einem Satz." (WdD 182) - mit dieser kategorischen Feststellung schließt Doderers Rezension, was im Klartext besagt, daß Leberts Wolfshaut kein Roman ist. Die Kritik hat in den letzten Jahren immer wieder die Schlüsselstellung von Leberts Roman betont und dabei mit gutem Recht hervorgehoben, daß darin zum ersten Mal in einer radikalen und in der Sprache wenig wählerischen, provokant deftigen Manier die Persistenz des Nationalsozialismus in Osterreich abgehandelt würde. Zugleich erkennen wir in diesem Werk eine durch die Bank antagonistisch wirkende
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Natur: Ein entsetzliches Schlechtwetter oder seltsame Himmelserscheinungen durchziehen das ganze Buch. Der Roman Leberts ist in Bezug auf die Gestaltung der Außenwelt und der Aura das exakte Gegenteil von Doderers Konzeption. Aber nicht an dieser durchgehend düsteren, desperaten Stimmung nimmt der Schönwetterromancier Doderer Anstoß; das Inhaltliche erscheint ihm unwesentlich. Wichtig ist für ihn die Leistung, die kompositorisch vollbacht oder nicht vollbracht wird. „Er wird aus dem Ambiente produktiv. Aus ihm werden die .Figuren' erst deutlich. Seine Neu-Schöpfung: das Dorf - heute. Jede Figur ist durch einen Wurzelbart, ein lebendes Geflecht, mit dem Ambiente verbunden." (CII286, Eintragung vom 6. Mai 1961) Auch erkennt er, daß dieses Dorf Schweigen sinnbildhaft eintritt für die Landbevölkerung, und Doderer war stets ein Gegner dieser Dichtung, die auf Rustikalität abzielte, wie etwa Waggerl. „Man ist versucht zu sagen... .meisterhafte Schilderung subalpiner Landbevölkerung' (,,wir sind die Landbevölkerung", pag. 105). Falsch: Es ist nicht nur irgendeine Bevölkerung. Es ist jede. Jede heutige .Landbevölkerung'." (CII287, Eintragung vom 6. Mai 1961) Damit erkennt Doderer auch den Unterschied zu seinem Schreiben: Mit gutem Grund hat Georg Schmid auch in Doderer den letzten Urbanen Autor in der österreichischen Literatur vermutet; und Lebert hat die Tradition des Dorfromans nicht nur erfolgreich fortgesetzt, sondern ihn auch mit einer neuen, in einer komplexen Ästhetik des Häßlichen gründenden Funktion ausgestattet: Die antagonistische Natur rächt und straft, sie trifft auch jene, die schuldlos zu sein meinen. Am 8. Mai hat Doderer die zweite Lektüre abgeschlossen: „Meine letzte Kritik soll beispielhaft werden", notiert er an diesem Tag (CII 287). Der Vorwurf der ersten Rezension, daß es keine „Symphonie in einem Satz" gäbe, wird gegen Ende in abgemilderter Form wiederholt: „Die Vorgeschichte des Seemannes, die dreißig und mehr Jahre draußen, sind nur rudimentär und vertretungsweise präsent. Es ist an solchen Stellen, als rage ein zweiter, ungeschriebener Roman in den vorliegenden herein und mache diesen zu einem erratischen Block, aus größerem Zusammenhange gebrochen. Der Reiz dieser Ahnung ist bedeutend, und es wäre nicht leicht zu sagen, ob man darin eine besondere Qualität des Werkes oder seinen im Grunde rudimentären Charakter erkennen soll. Zudem, bei manchem hervorragenden Buche fällt beides zusammen."^ Ansonsten ist Doderer bei der Inhaltsangabe etwas ausführlicher, vor allem aber legt er auf das literarische Genus wert: „Am Ende kommt alles heraus. Soweit wäre das also eine - virtuos gebaute! 2
Heimito von Doderer, „Bildnis eines Dorfes", in: Merkur 1961, S. 796.
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Kriminalgeschichte. Daß diese, so gekonnt sie ist, gleichsam auf sich selbst verzichtet und die Geschwulst eines blendenden Einfalles in den Blutbahnen des Lebens wieder aufgelöst wird: gerade hierin liegt der Rang des Buches."' Die sehr emphatische Formulierung von den „Blutbahnen des Lebens" zeigt an, wie wenig Doderer bereit war, die Bedeutung der „Story" bei Lebert anzuerkennen. Ihm ist wichtiger, daß die Aura des Dorfes Schweigen die Handlung auflöst. So gesehen kann man in Leberts Roman einen ins Negative gestülpten Doderer erblicken: Auch bei ihm ist die Aura entscheidend, auch seine Figuren erwachsen auf der Bühne ihres Lebens. Doderer hatte vernommen, daß Lebert für seine Romane Kompositionsskizzen anzufertigen pflegte, und dies hatte ihn unter anderem bewogen, sich für den Autor bei seinem Verlag, dem Biederstein-Verlag, für eine Drucklegung seines Werkes einzusetzen.'' Fast ein halbes Jahr, also von Ende 1960 bis Mai 1961, spielte Leberts Roman eine entscheidende Rolle in Doderers Tagebucheintragungen, ein Umstand, der bei der Abstinenz, die er sich sonst in bezug auf Lektüre-Eindrücke auferlegte, doch unsere Aufmerksamkeit verdient. Noch einmal ergriff er zu Lebert das Wort, und zwar zur Einleitung einer Lesung in der Secession am 15. Juni 1962. Was wir da vernehmen, ist allerdings nichts anderes als eine Serie von Doderers Stehsätzen über das, was ein Schriftsteller zu tun und zu leisten hat: „Ich halte Lebert für einen Schriftsteller. [...] Lebert zeigt alle Kriterien, fast möchte ich sagen Stigmata jenes Standes. Deren wichtigstes ist das Wissen um die Priorität der Form vor den Inhalten; ein solches Wissen besitzt der Schriftsteller als organische Eigenschaft, und es bildet das Hauptgelenk in der Mechanik seines Geistes." (CII 330) Solcherlei kennt man zur Genüge aus Doderers anderen Abhandlungen. Mit anderen Worten: Lebert gehört nun dazu, über das konkrete Werk braucht nichts mehr gesagt zu werden; das ist schon geschehen, in der eben zitierten Rezension.
Es ist ratsam, Doderer bei solchen Standard-Sätzen wie der „Priorität der Form vor den Inhalten" nicht ganz zu trauen, zumal die Entstehungsgeschichte aller seiner Schriften nachhaltig von der Auseinandersetzung mit diesen Inhalten tingiert ist. Und die Vermutung, daß Leberts Roman Spuren für sein eigenes Schreiben hinterlassen hat, ist so 3 4
Ebd., S. 795. Wolfgang Fleischer, Das verleugnete Leben, a.a.O., S. 463.
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abwegig nicht. Wir wollen diese Vermutung nun ein wenig zu erhärten trachten, was in der Folge hoffentlich auch zu einer neuen Lektüre des Romanfragments Der Grenzwald führen soll. Zunächst ist einmal Doderers Situation zu der hier in Rede stehenden Zeit zu berücksichtigen. Von der schweren Krankheit war bereits die Rede, und immer expliziter werden die Reflexionen über „Krankheit und Tod" (CII276). Die eigene Krankheit muß als Quelle für die Metaphern dienen: „Erst wenn alles durch die Deperception verseuchte Gewebe des Geistes wird ausgestoßen sein, wird man sehen können, wie man innerhalb jener gelebt hat." (CII 277) Abgeschlossen sind zu diesem Zeitpunkt weder die Merowinger noch Die Wasserfälle von Slunj - bei diesem Roman hat sich sogar die Notwendigkeit ergeben, einiges hinzuzufügen, denn er mußte erkennen, daß, nachdem der Schluß geschrieben war, der Umfang des Gesamten erweitert werden mußte. Er schob nun in das so gut wie abgeschlossene Werk einen neuen Handlungsstrang ein, der sich um die Figur der Ergoletti rankt; ein kühnes Unterfangen, das aber erneut bestätigt, daß man der Maxime von der präkonzipierten Form nicht so ganz trauen darf. Doderer sprach in diesem Zusammenhang von „Fenster". Die Arbeit bereitete ihm große Schwierigkeiten, und wie sehr ihn die Rezension zu Lebert belastet hatte, geht aus einer eher marginalen Notiz vom 14. Mai 1961 hervor: „Rückkehr zu Mer. und R^ nach jenem kritischen Ausfluge nicht leicht." (CII 288) Ganz behutsam tastet er sich an die Fortsetzung der Arbeit am Roman No 7 heran, und noch scheint es so gut wie keine Vorstellung vom zweiten Satz zu geben. Lediglich die Erwähnung von „Wenidopplers Nachtkastel in RVI und II" am 5. Februar 1961 weist auf die Verknüpfung des ersten mit dem zweiten Teil hin, und der Autor registriert, daß durch ein solches Motiv (?) die „Weltgeschichte" genarrt würde: Es bliebe die „Continuität der Details" (CII 277). Erstaunlicherweise kreisen zunächst die Gedanken fast öfter um den dritten Teil als um den zweiten. Erst im November setzen die ersten Anspielungen auf den konkreten Inhalt und Figuren des Grenzwalds ein. Als erste wichtige Figur aus diesem begegnet uns Dr. Halfon. Aber es dauert dann fast ein Jahr, bis Doderer sich ernsthaft anschickt, an diesem Roman weiterzuarbeiten; zwar hat er mit der Revision der Merowinger, die ihm zunehmend Ärger bereiten, und auch der Wasserfälle sehr viel Arbeit, aber offenbar gibt es einige Blockaden, die die Fortsetzung mit dem zweiten Satz behindern. Die Äußerungen sind bis in den Januar 1963 höchst allgemeiner Natur, und wir können daraus noch keinesfalls erschließen, welche inhaltlichen Momente damals bereits erwogen wurden oder überhaupt schon feststanden. Ich meine, daß
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bis ZU diesem Zeitpunkt noch wenig von dem da war, was den Inhalt des Grenzwaldes späterhin ausmachen solhe. Viel eher scheint mir dies alles ein Herumprobieren mit einigen formalen Prämissen und inhaltlichen Details. In der Tat steht der Stoff noch nicht fest, eher schon der Schauplatz: Wien und Sibirien. Doch auch über die für diesen Hintergrund notwendige Empirik, um in Doderers Sprache zu reden, fehlen Hinweise in den Notizbüchern. Die Blockade hatte des weiteren, so meine ich, auch äußere Ursachen. Sie lag in dem plötzlich gestönen Verhähnis zu Albert Paris Gütersloh, denn Doderer mußte erkennen, daß dieser ihn doch einigermaßen genarrt hatte: Da lag nun der Roman Sonne und Mond vor, und Doderer fand sich darin einigermaßen deutlich und peinlich karikien. Das hält er am 21. Dezember 1962 fest: „Ariovist von Wissendrum nennt er ihn, und auch ich könnte ihn so nennen. Gut gezeichnet, leider auch, unfair genug, deutlich be-zeichnet (als ,Bogenschütze'). Man muß das quittieren." (C II 350) Die Konsequenz, die Doderer daraus zog, war vor allem die deklarierte Absicht, alles Autobiographische in seinen Texten radikal zu tilgen: „Mir ist jetzt klar, daß ich in meiner Kunst immer dort am stärksten war, wo kein direkt autobiographischer Strang lief und ein solcher Disput nicht abgelagen wurde oder gar abgeschlossen werden sollte." (CII 351 f.) Und das hat Konsequenzen für das nun folgende Werk: Genau das, was Gütersloh durch die Doderer-Karikatur angerichtet hatte, soll vermieden werden. Wir müssen aber doch auf der Hut sein, denn wenn das „Direkt-Autobiographische" gemieden wird, so heißt das doch noch lange nicht, daß nicht das Indirekt-Autobiographische eine wichtige Rolle zu spielen hat. Die Erlösung aus dieser Krise kommt, wie immer bei Doderer, aus dem Ambiente, aus der Umgebung, durch die Eroberung eines neuen Raumes. Mit der ihm eigenen Beharrlichkeit schickt er sich an, das Haltertal und dort die Otto Wagner-Villa zu erkunden; diese erscheint ihm zunächst - er weiß noch nicht, wer sie erbaut hat - als ein Ausbund der Scheußlichkeit. Nach zahlreichen Expeditionen in das Haltertal durch das Jahr 1963 hindurch ereignet sich plötzlich so etwas wie ein epiphanisches Moment, und am 29. Oktober 1963 notiert er unter dem Titel „Lebensbeschreibung": „Ich bin auf dem in mäßigem Zustande befindlichen Geh-Steige (Trottoir) vor der Villa Ben Tiber im Haltertale hinter Hütteldorf am 25. Oktober des Jahres 1963 um die Mittagszeit zur Welt gekommen." (CH 391) Hier muß schon der Plan der Ermordung einer Figur eine deutliche Rolle gespielt haben, allerdings ist es noch nicht Ernst von Rottenstein, der erschossen werden soll, sondern der aus den Wasserßllen bekannte Zdenko von Chlamtatsch, der in der Villa Ben Ti-
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ber ein Zimmer bewohnt. Es scheint bereits das abschließende, zentrale Ereignis festzustehen, der Punkt („Stern"), auf den hin der Roman konzipiert ist, ähnlich dem Unfall der Mary K. in der Strudlhofstiege oder dem Tod Donalds in den Wasserfällen. Und das wird dann auch ganz explizit gemacht: „Zdenko weiß von der Sache etwa so viel wie Donald von den Wasserfällen; wie dieser setzt er auch kleine Akte, die befördernd auf den Verlauf wirken." (CII 393, Eintragung vom 12. November 1963) Ich hake diese Stelle im Tagebuch für außerordentlich wichtig, da durch sie einerseits die Parallelität von Wasserfällen und Grenzwald sehr genau markiert wird, andererseits aber auch der Unterschied herauskommt: Zdenko (später also Rottenstein) soll durch den Schuß fallen. Sie befördern den eigenen Untergang, ohne es zu wissen, durch „kleine Akte". In den Wasserfällen ist es allerdings ein Stück Natur, wodurch die finale Katastrophe hervorgerufen wird. Hier ist es ein Verbrechen, das von einem Menschen begangen wird, und zwar von Zienhammer; diese Figur ist allerdings noch gar nicht präsent, und es vergeht noch einige Zeit, bis dieser Mensch vor unserem inneren Auge auftauchen wird. N u n ist vielleicht auch deutlicher geworden, warum ich so lange bei der Lektüre von Leberts Roman Die Wolfshaut durch Doderer verweilte. Die Parallelen sind auffallend: Es geht in beiden Fällen um die Erschießung von Kriegsgefangenen, es geht um die Ermordung der Mitwisser, es geht um die Verbrechen der Vergangenheit, die in einer Gegenwart unter geänderten politischen Bedingungen herausapern. Entscheidend ist für mich dabei, daß auch das Stoffliche, das Doderer so entschieden im Falle Lebert herunterspielt, im eigenen Falle aber überhaupt in seiner Bedeutung gegen null tendieren lassen will, doch die beiden so unterschiedlichen Texte miteinander verbindet. Es sollte hierzu angemerkt werden, daß ja 1960 Adolf Eichmann vom israelischen Geheimdienst aufgespürt und am 31. Mai 1962 zum Tode verurteilt wurde. In den Tagebüchern Doderers habe ich keinen Hinweis darauf gefunden, daß und ob er diesen Prozeß verfolgt hat, daß er indes davon erfahren hat, daran kann es wohl kaum einen Zweifel geben. Ich möchte nun Doderers Roman nicht unbedingt zu einem Zeitroman machen, aber es scheint mir doch bemerkenswert, daß gerade der Grenzwald, der so sehr auf Distanz zur Aktualität geht, doch die brisanteste Nähe zu den Ereignissen und zu den Problemen der Entstehungszeit aufzuweisen scheint. Doderer ist geradezu peinlich darauf bedacht, diesen Roman anders zu gestalten als Das Geheimnis des Reichs, den „Roman aus dem russischen Bürgerkrieg": Es soll jeder Möglichkeit, dieses Werk als eine historische Erzählung zu rubrizieren und thematisch zu fixieren, vorgebeugt werden.
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Wendelin Schmidt-Dengler
Und gerade die Sorgfalt, mit der Doderer sich von jedem Verdacht befreien möchte, daß er hier das Thema dem Stoff (etwa der Geschichte der russischen Revolution) als Lockmittel für den Leser dienlich werden könnte, sollte uns hellhörig machen.
Die Parallelen zu Leberts Roman sind evident, und ich meine, daß wir es hier mit einem Musterfall einer Auseinandersetzung im Sinne Tynjanovs oder der Furcht vor Nachahmung im Sinne Harold Blooms zu tun haben. Freilich geht es nicht darum, daß Doderer nun Lebert parodiert oder daß er in ihm ein Vorbild erblickt, das es zu überwinden gilt, aber er schreibt sehr wohl an gegen ein Muster, das zwar nicht übermächtig ist, das aber doch von einem ganz anderen Literaturverständnis als dem Doderers zeugt. Denn bei aller Bewunderung für Lebert (und sie ist nicht unaufrichtig) konnte ihm doch die Gestaltung dieses Romans nicht behagen. Und ich meine, daß die Besonderheit des Grenzwaldes nicht zuletzt auch davon bestimmt ist, daß Doderer sich von diesem Werk distanziert. Um nicht mißverstanden zu werden: Ich meine nicht, daß Doderer sich so an dieses Werk heften mußte, um etwas Eigenes zu vollbringen, aber an ihm konnte er das entwickeln, was das andere, das für ihn Spezifische zu sein hatte. Die heftige und im Unterirdischen vulkanisch brodelnde Ablehnung der epischen Praxis eines Gütersloh mag ebenso bestimmend gewesen sein. Doderer hat, und das durchzieht seine theoretischen Äußerungen, sich immer in der Abgrenzung von anderen verstanden, also sich im wörtlichsten Sinne so definierend, und hier, im Falle Wolfshaut und Grenzwald meinen wir dies mit Händen greifen zu können. Ein anderes schlagendes Beispiel sind die Dämonen, wozu Doderer ja anmerkte, daß er mit Dostojewski nichts zu tun haben wolle; mit dem Titel möchte er lediglich darauf verweisen, daß es ihm um ein verwandtes Substrat gehe, das er technisch anders zu bewältigen habe. Doderers gravierendster Vorwurf gegen Die Wolfshaut liegt meines Erachtens in der von Lukacs übernommenen Formel der „geronnenen Transcendenz", die sich in den Lyrismen ausdrücke und die nahezu alles mit einem schweren, die Wahrnehmung verhängnisvoll beengenden Symbolgehalt befrachte. Die neuere Forschung hat mit guten Gründen die mythologischen Hintergründe der Texte Leberts schichtweise abzutragen versucht: Von antiken über germanische und christliche Vorstellungen bis hin zu Richard Wagner ist da alles zu haben. Und gerade
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diese absichtsvolle Kodierung der epischen Materie suchte Doderer von sich zu weisen, und ich meine, daß somit ein Veto gegen die Suche nach einer Botschaft dieses Romans eingelegt wird. „Geronnene Transcendenz" kollidiert auch mit der thomistischen Konzeption Doderers. Der Erzähler darf den Roman nicht als Ablagerungsplatz metaphysischer Restbestände mißbrauchen, die Gegenstände gilt es „innig zu umarmen", nicht als Symbolträger ihrem Sein zu entfremden. Im Grenzwald setzt Doderer diese Auffassung am konsequentesten durch: Er will nichts sagen, ja er notiert mit Zustimmung das Motto Stefan Georges für die Blätter für die Kunst, demzufolge derjenige, der in Kunst noch etwas aussagen wolle, nicht einmal würdig sei, deren Vorhof zu betreten. Daß ein so radikales Konzept indes nicht aufgehen kann, weil die Materie so brisant ist wie eben der russische Bürgerkrieg oder die Erschießung der Gefangenen und das daraus hervorgehende Verbrechen, ist einsichtig, ebenso sollte auch Doderers Intention verstanden werden, daß eben das Verbrechen, der russische Bürgerkrieg nicht um ihrer selbst willen erzählt werden, sondern daß es darum geht, wie eine solch epische Materie überhaupt bewältigt werden kann. Daß freilich die Wahl des Sujets nicht beliebig ist, wie Doderer das immer wieder behauptet, sei hier doch festgehalten, allerdings, verdient die Methode, mit der Doderer diese höchst reaktive Materie bewältigt, unsere Aufmerksamkeit.
Doderer ordnet die Materie ganz anders an. Die Ermordung des Mitwissers soll an das Ende gerückt werden; diese ist bis Lebert gleichsam das erregende Moment. Die Erschießung der Kriegsgefangenen wird bei Doderer erzählt; bei Lebert ist es dieses Verbrechen, das zentrales Objekt der Enthüllungshandlung ist. Bei Doderer ist die erzählerische Vorbereitung des Verbrechens entscheidend. Sein Text ist bestimmt von Vorausdeutungen; nahezu jedes Detail, das mit den Figuren zu tun hat, erhält so eine Richtung auf das Finale, auf den Schuß im Haltertal. Vor allem ist es die Figur des Leutnants Zienhammer, die einer ganz genauen Ausstattung bedarf, um - ironisch sei es hier gesagt auch seiner Rolle als Mörder zu genügen. Doch davon später. Zum Unterschied von der Wolfshaut versucht Doderer, seinen Roman an verschiedenen Auren teilhaben zu lassen: Es ist nicht die kom-
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pakte Einheit des Ortes, in der die Vorgänge von der Außenwelt abgeschottet sind. Schon vom Schauplatz - um vom Wetter zu schweigen - erzeugt Doderer eine ganz andere Stimmung. Obwohl Krieg ist, obwohl die österreichischen Gefangenen lange ihre Heimat nicht sehen konnten, erzeugt er fast durchgehend eine behagliche Atmosphäre. Trotz größter Spannungen entsteht an der Oberfläche so etwas wie eine nachsommerliche Stimmung. - Das ist natürlich Absicht, und es gibt wenige Beispiele, die eine ähnliche Kontrastwirkung erzeugen. Das Bedrohliche ist da, und dazu bedarf es keiner Begleitmusik, die von der Natur mit Schlechtwetter und Katastrophen zur Verfügung gestellt würden. („Eine richtig veranlagte Erzählung muß es werden - und abseits vom allem lyrischen und musikalischen Dusel", CII 411, Eintragung vom 9. März 1964.) Auch das Wien in der Nachkriegszeit ist durchaus nicht in den düsteren Farben gehalten, wie es dieser Epoche meist widerfährt. Man arrangiert sich allenthalben. Geplant war indes von Doderer der Verweis zu Kriegsverbrecherprozessen, die Zienhammer beunruhigen. Die Analyse der Gestalt Zienhammers ist die via regia zur Figurenkonzeption im Spätwerk Doderers. Ich kann hier nicht die vielen Umwege nachgehen, die Doderer selbst ging, ehe er die Partie so gestaltete, wie wir sie nun lesen. Aufschlußreich ist, daß Doderer noch zu Beginn 1964 noch nicht wußte, womit er den Grenzwald überhaupt beginnen sollte. „Einsatz Zdenko unmöglich, wegen der Nähe vor I. fin. Also excentrischer Einsatz mit neuen Figuren und ihrem Komplikationsbereich. Am besten Zdenko's Gegenspieler Zeithammer (Zienhammer) hier vorangezogen." (CII 404 f., Eintragung vom 13. Januar 1964). Bezeichnend, daß dieser Zienhammer aus der Provinz („Grund-Mitiem") kommen soll. „Schneidet sich die Nägel trocken." (CII 406, Eintragung vom 24. Januar 1964). „Einsatz II nicht mit Zienhammer sondern mit D ' Halfon?" fragt er sich zwei Monate später, am 30. März 1964 (CII 416). Wir sehen: Zienhammer wird mehr und mehr hinausgeschoben, oder bildlich formuliert: Zienhammer wird immer als Kokon in verschiedenen anderen Figuren eingesponnen. Begonnen wird erst im April, vorerst mit Dr. Halfon. Aber ein Einsatz schiebt sich vor den andern. Zuerst wird Zdenko gleichsam eliminiert, Doderer braucht ihn im vierten Teil des Roman No 7 noch, also darf er im zweiten nicht erschossen werden. Da taucht Rottenstein auf, als „tabula rasa" (CII 549). Aber erst mit Ventruba ist der excentrische Einsatz gegeben, der gedacht werden kann (CII 445, Eintragung vom 26. November 1964), und so beginnt die kontinuierliche Niederschrift des Romans erst gegen Ende 1964. Dies nur um anzudeuten, wie umwegig die Tat Zienhammers vorbereitet wird, und wie langwierig die Annäherung an den Täter ist. Mehr
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und mehr konzentriert sich das Interesse auf Zienhammer, ja er wird zur Identifikationsfigur. So schon im März 1964: „Zienhammer's Beschissenheit und die Schleimfäden seiner Interessen vor einem immer offen gehahenen Hintergrunde." (CII414, Eintragung vom 18. März 1964), oder: Zienhammer taumelte in seine Sachen nicht anders hinein als ich in die meinen. Dabei können Schwerverbrechen, Nichtigkeiten oder gute Taten geschehen - und alles das war amorphes Geröll, denn es kam aus der Undecidiertheit; in ihr ist der Mensch noch kein Mensch, hat wohl eine Chronik, aber noch keine Geschichte. W e r das ganze Hochkomplexe, Rätselhafte und Gefährliche jeder gegenwärtigen Minute erfaßt — dem muß unheimlich werden. (C II 479, Eintragung vom 9. Oktober 1965).
Das Autobiographische, vor allem das „Direkt-Autobiographische" galt es zu eliminieren. Man kann es zwar mit der Gabel hinaushauen, es kommt aber doch wieder! In diesem Falle muß Zienhammer dazu herhalten - er hat das aufgesogen, was an eigener Erfahrung (man denke an die Undecidiertheit) vorrätig war. „Zienhammer, den kenn' ich. Von autobiographischen Verunreinigungen sind wir da wahrhaftig ganz frei." (CII 457, Eintragung vom 29. April 1965). Woher kommt das Verbrechen? Diese Frage hat Doderer beim Schreiben begreiflicherweise beschäftigt. Daß es, das Verbrechen, da ist, davon konnte er nicht absehen. Es zu erklären, es für sich erklärbar zu machen, stellt einen nicht unwesentlichen Teil seiner Gedankenarbeit in der Zeit 1964/65 dar. Zienhammer hat seine Rhetorik der Verteidigung parat: „Natürlich war ich dabei, wir alle haben es doch mitgemacht [...]" (CII 458, Eintragung vom 5. Mai 1965). „Aus dem Nichts (hier: der Undecidiertheit Zienhammer's) kommt das Schwerverbrechen. Es brauchen nur einige Fähigkeiten noch bereit liegen (wie bei Meisgeier), oder etwa, daß einer ein trefflicher Schütze ist" (011464, Eintragung vom 25. Juni 1965). Und als sich Doderer dem Finale nähert, heißt es: „Jetzt kommt's, mit Zienhammer, diesem fatologischen Nichts, jetzt kommt's durch ihn, den Funktionär, und es kommt weitaus mehr, als er ahnt." (011493, Eintragung vom 5. März 1966) Das ist wohl die entscheidende Aufzeichnung im Tagebuch: der Ausdruck „fatologisches Nichts" stellt einerseits den Kontakt zu Doderers Lehre von der Fatologie her, benennt aber andererseits zum ersten Male einen Helden, der aus Mangel an Schicksal zum Helden werden kann. Ein Schicksal zu haben, ist nach Doderer schon im Frühwerk eine Art Auszeichnung. Hier wird das Nichts zum Agens, das Nichts, das seine Fähigkeiten entwickelt („trefflicher Pistolenschütze", Jäger). Dabei ist die Verfehlung Zienhammers juridisch nicht leicht greifbar: Inwiefern
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ist er wirklich schuld an der Erschießung der Offiziere aus Ungarn? Doderer hat hier zwischen „wahr" und „richtig" eine scharfe Trennungslinie in seinen Commentarii gezogen. Zunächst fühlt sich Zienhammer garnicht betroffen, daher wird er - bereits in Wien beunruhigt, als er von den ganzen Untersuchungen durch Landesgerichtsrat Hartl erfährt. Sehr geschickt wird ja diese Opposition Hartl-Zienhammer bereits von langer Hand vorbereitet: Sie ist auch als „Vorhalt" gekennzeichnet (CII 118). Uber Zienhammer soll Gericht gehalten werden, weil er über sich nicht Gerichtstag gehalten hat. Mit dieser neuen Identifikationsfigur („er ist wie ich", C I I 414, Eintragung vom 18. März 1964) hat Doderer die Serie positiver Identifikationsfiguren wie Kakabsa und Chwostik noch ins Negative umgebogen. Zienhammer wird zu einem Repräsentanten einer Zeit und einer Haltung: „Zienhammer ist weitaus kein perfekter Schurke, wenn es so etwas überhaupt gibt. Ihn schleppt seine Besessenheit, ,es richtig und vorteilhaft' zu machen hintendrein, und seine Genauigkeit und Vigilanz tun das ihre. Großer Verbrecher aus kleinlichen Motiven!" (CII 457, Eintragung vom 27. April 1965) Die Zusammenhänge, die durch diese Verbrechen „aus kleinlichen Motiven" entstehen, sind letztlich so bedeutend; sie führen zu der Katastrophe. Doderer hat sich immer wieder geweigert, großflächige Geschichtskonstruktionen anzuerkennen. Der Romancier geht von solchen Kleinigkeiten aus und muß die Kontinuität im Detail erkennen. Doch gerade diesen Zusammenhang gilt es zu erkennen: „Was zum frühen Ende Rottenstein's führt, ist ein Teilchen der Zerstörung, welche jene damals neu hereinbrechende Zeit allenthalben an den alten Continuen verübte." (CII 452, Eintragung vom 21. Januar 1965) Damit soll Zienhammer nicht zum Vorläufer des Nationalsozialismus mit seiner Tat gestempelt werden, aber immerhin ist ein direkter Zusammenhang zwischen den einzelnen Perioden angedeutet: Aus dem Krieg erwächst gleichsam ein neues Verbrechen, Zienhammers Verbrechen kommt aus der Passivität: So werden viele Zentralfiguren Doderers involviert, einfach weil sie nicht zur rechten Zeit ihren Widerstand kundtun. Die Frage allerdings, wie Zienhammer die Erschießung der ungarischen Offiziere hätte verhindern können, wage ich garnicht zu stellen, denn Doderer hat die fatalen Verstrickungen so minutiös konstruiert, daß jemand, der ein „fatologisches Nichts" ist, sich aus ihnen nicht befreien kann. Dadurch kommt der Leser garnicht darauf, daß Zienhammer sich eines Verbrechens, einer Verfehlung schuldig gemacht hat. So wie Zienhammer sein Verbrechen durch Lügen mit der Richtigkeit tarnt, so tarnt es der Autor durch sein Erzäh-
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len. Das macht die Verfehlung aus Passivität in keinem Falle besser, die Erzählung aber sehr wohl. Doderers Zienhammer ist ein exemplarischer Fall. Doderer ahnte, welche wuchtige Anklage Lebert in seinem Buch Die Wolfshaut gegen das Nachkriegs-Osterreich erhoben hatte. Er wollte dem auch Rechnung tragen. Allerdings benötigte er dazu nicht die schrillen Farben und vor allem Farbkontraste, sondern er erzählte alles mit einer stupenden Gleichmäßigkeit und Ausgewogenheit, so als ob sich nichts Ungeheuerliches zugetragen hätte. Robert Menasse hat nicht ohne Grund Zienhammer, in dem er den österreichischen Prototyp des Karrieristen erkennt, in einem Essay mit dem früheren Bundespräsidenten Waldheim verglichen. Wobei ihm zur Durchführung des Vergleiches nur der Text des Romans genügte. Seine Auffassung würde durch die Lektüre der Commentarii nur bestätigt. Uber die journalistische Pointe hinaus ist dieser Vergleich von einem nicht unerheblichen Erkenntniswert, da er einfach eine andere Lesart suggeriert. Zienhammer, der zusieht, der dabei ist, der alles genau abwickeln möchte, der seine Teilnahme nicht als Verfehlung einsehen möchte, der sich alles zubilligt, der zur Entscheidung nicht fähig ist, der aber auch im strengen Sinne nicht schuldig gesprochen werden kann, so man die Maßstäbe eines geschriebenen Gesetzes anlegt, der aber zur Tat bereit ist, zur blutigen Tat, um sein Ego, die Majestät seines Ichs zu retten. Mag sein, daß die Handlung, mit der Doderer seinen Progatonisten unserem Tribunal heute vorführt, etwas strapaziös, etwas zu konstruiert wirkt. Daß er indes ein sehr sensibles Sensorium hatte, was die Probleme seiner Zeit betraf, wird man ihm nicht absprechen können. Seine Helden werden involviert in Verbrechen größeren und kleineren Zuschnitts, sie sind träge, sie werden irritiert, sie wissen nicht, ob sie dabei sein wollen oder nicht. Das Gesetz des Handelns entgleitet ihnen. Doderers Helden treten so in die lange Reihe österreichischer Antihelden ein, die ebenfalls durch ihr Nichthandeln Schuld auf sich laden. Zweier Figuren sei hier kurz gedacht: Der arme Spielmann Grillparzers und der Pfarrer in Stifters Erzählung „Kalkstein" - beide führen ein Leben, indem sie durch mangelnde Entscheidungsfähigkeit an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Doch einmal entscheiden sie sich, da ihr Einsatz gefordert wird, und treten als Retter auf, in beiden Fällen bei Flutkatastrophen. Da Zienhammer seine Entscheidung fällt und aktiv wird, ist es Mord. Der arme Spielmann, der Pfarrer und Zienhammer die Unterschiedlichkeit der Figuren liegt auf der Hand, und Zienhammer darf nicht mit dem Hinweis entlassen werden, daß es eine fatale Verstrickung war, die seinen Untergang bedingt hat. Es gilt die Zeichen
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ZU erkennen, mit denen Doderer den Weg zum Verbrechen markiert hat, und die von der Mechanik des äußeren Lebens auf das fatale Ende hin ausgerichtet werden.
ANDREW BARKER
Tiefe der Zeit, Untiefen der Jahre. Heimito von Doderers „österreichische Idee" und die „Athener Rede"
Als Heimito von Doderer im Jalire 1957 mit dem „Großen Staatspreis" der Zweiten Republik ausgezeichnet wurde, war dies der letzte Schritt in der Rehabilitierung eines Schriftstellers, der in der Ersten Republik extrem österreichfeindliche Ansichten vertreten hatte. Vom Ende der dreißiger Jahre bestätigen Briefe zwischen Doderer und Gütersloh, daß beide Künstler den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich mehr als enthusiastisch begrüßten (BG 133).' Bereits einen 1929 von Gütersloh verfaßten Brief an den Verleger Rudolf Maybach hatte sich Doderer in eines seiner Skizzenbücher kopiert: „Ich glaube nur, daß wir, ausgehend die Malerei und Literatur zu ordnen, den österreichischen Staat stürzen werden." (BG 38) Obwohl Doderer schon 1940 aufgehört hatte, die nationalsozialistische Bewegung zu unterstützen, durfte er zwischen 1946 - 1950 keine Werke veröffentlichen. Während dieses vierjährigen Verbots machte er es sich zur Aufgabe, nicht nur das Wesen des Totalitarismus, sondern auch das Wesen der bis vor kurzem verpönten österreichischen Nation zu untersuchen. Die Ergebnisse dieser Überlegungen kommen nicht nur im Roman Die Strudlhofstiege zum Ausdruck, sondern auch in verschiedenen Essays wie etwa in dem 1947 verfaßten Aufsatz „Rosa chymica austriaca-hispanica. Voraussetzungen österreichischer Lyrik". Hier zögert aber der wiedergeborene Österreicher, eine klare Aussage über das Schicksal der Nation in der Hitlerzeit zu liefern. Statt dessen begnügt er sich mit Umschreibungen: „Die österreichische Nationalität ist die von allen am wenigsten materielle. Sie ist ein Zustand, ein goldener Schnitt nur zwischen
Vgl. auch Andrew Barker, „Heimito von Doderer and National Socialism", in: German Life & Letters 41 (1988), S. 1 4 5 - 1 5 8 . - Für ihre freundliche Hilfe bei der sprachlichen Reinigung des vorliegenden Aufsatzes möchte ich Frau Mag. Ruth Spracklin (Wien) meinen herzlichen Dank aussprechen.
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Distanzen und Kräften, aus dem man fallen kann, wenn man eine rohe und ungeschickte Bewegung macht." (WdD 232) Im Jahre 1954 wiederholte der nunmehr angesehene Erfolgsautor diese Formulierung wonwörtlich in einem unveröffentlichten Aufsatz mit dem provokanten Titel „Der Anschluß ist vollzogen". Als Doderer Mitte der sechziger Jahre eine französische Fassung desselben Aufsatzes in Athen vortrug, galt er vielerorts nicht nur als der führende Romancier der Zweiten Republik, sondern auch als Sprachrohr für das neue Osterreich schlechthin, für einen Staat also, der, gleich der DDR, aber mit größerem Erfolg, sich von der faschistischen Vergangenheit abzukoppeln versuchte. In beiden „Nachfolgestaaten", in der D D R wie in Osterreich, ging es vor allem um die Entwicklung eines neuen nationalen Bewußtseins, das sich von der faschistischen Auffassung des Deutschtums klar abgrenzen würde. Kein Wunder also, daß das Wort „Anschluß" aus dem Titel verschwunden war, als Doderers Athener Vortrag 1964 erstmals in deutscher Sprache erschien. Jetzt hieß der Aufsatz, der in nahezu exemplarischer Weise eine Einstellung artikuliert, die in den ersten Nachkriegsjahren nicht nur in konservativen Kreisen weitverbreitet war: ,,Österreichs Nationalbewußtsein ist übernational. Von der Wiederkehr Österreichs".^ Wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, liegt das Schwergewicht des Aufsatzes auf positiven, aber auch abstrakten Eigenschaften, die dem Wesen des Österreichischen innewohnen sollen. Was zwischen 1938 - 1 9 4 5 passiert war, wird nicht nur verschleiert ausgedrückt, sondern als „sieben Jahre unösterreichische Herrschaft" abgetan (WdD 231). Doderer zufolge bestand nun zwischen dem Wesen des Österreichischen und dem Begriff des Deutschtums eine tiefe Kluft. Doderers Unlust, auf die Einzelheiten der Naziherrschaft näher einzugehen, spiegelte die Einstellung vieler seiner Leser und Kritiker in den 50er und 60er Jahren wider. Daß der Hausdichter der frühen Zweiten Republik Mitglied einer Organisation gewesen war, die davon ausging, die „österreichische Idee" zu vernichten, konnte kein Geheimnis gewesen sein. Doderers einstige Mitgliedschaft in der Partei war wohl auch einer der Hauptgründe dafür, warum seine Reaktionen auf die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit ein hohes Maß an Abstraktion an den Tag legten. Doderers Einstellung zur österreichischen Frage war oft sentimental und versöhnlich, aber hierin bildete er weder in Österreich noch im Ausland eine Ausnahme.' 2
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„Österreichs Nationalbewußtsein ist übernational. Von der Wiederkehr Österreichs", in: Die kleine Zeitung, Graz, vom 20.6.1964. - In Die Wiederkehr der Drachen heißt der Aufsatz „Athener Rede. Von der Wiederkehr Österreichs". Noch 1985 hat ein australischer Kritiker Doderers Beziehungen zu Österreich und
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In der „Athener Rede" (so heißt die posthum erschienene Buchfassung des Aufsatzes) lehnt Doderer die Vorstellung ab, daß politische Geschichte und nationale Identität viel miteinander zu tun haben. Gleichzeitig zeigt er sich nicht bereit, Argumente dafür vorzubringen: „Immer noch gilt die politische Geschichte eines Landes als dessen eigentliche .Geschichte'. Hier ist nicht der Ort, zu untersuchen, woher diese starke Übertreibung stammt." (WdD 239) Solche Umschweife erwecken den Eindruck, daß die Absicht des Verfassers hauptsächlich darin bestanden haben muß, sowohl sich selbst als auch dessen Leser von jeder kollektiven geschichtlichen Verantwortung freizusprechen. Darüber hinaus erinnert diese Einstellung an die Position Hugo von Hofmannsthals, der in den 20er Jahren darauf bestand, daß kulturelles Erbe wichtiger ist als politische Geschichte. Doderers Versuch, seine Leser und Hörer zu überzeugen, daß die politische Geschichte im Grunde unwichtig ist, wird dadurch verstärkt, daß Doderer, selber Historiker und sogar Mitglied des Osterreichischen Instituts für Geschichtsforschung, anscheinend die Meinung vertritt, daß das Individuum keine geschichtsbildende Funktion ausübt. Doderers Behauptung, daß man am historischen Prozeß unbeteiligt ist, daß die Geschichte „uns passiert", denn „wir sind passiv" (WdD 239), sprach viele an, die jetzt eifrig für eine historische Analyse eintraten, die Osterreich als erstes Opfer des Faschismus darstellte. Nach der Behauptung, daß der Einzelne als passives Opfer der Geschichte zu betrachten sei, versucht Doderer sein Publikum zu überzeugen, daß das „eigentliche Leben" unabhängig von der politischen Geschichte ist: Das eigentliche Leben geschieht heute [...] unglaubUcherwiese noch immer, ja erst recht, ohne Zusammenhang mit ihr, es geht beinahe trotz ihrer weiter [...]. Wir haben wahrhch keinen Grund mehr, „Geschichte" mit pohtischer Geschichte gleichzusetzen. Und keine Professoren werden das Wesentliche unserer Tage aufzeichnen. Vielmehr besorgt das die Romanliteratur. (WdD 240)
Im Lichte dieser von Josef Nadler stark beeinflußten Feststellung läge es nahe, auf die historischen Ansprüche von Doderers ersten Nachkriegsromanen etwas näher einzugehen. Gleichzeitig müßte die Möglichkeit erörtert werden, daß solche Werke die weitverbreitete Tendenz innerhalb des neuen Osterreich unterstützt haben mögen, die jüngste Vergangenheit zu ignorieren und die Mitschuld vieler Bürger an Ereignissen dem Österreichischen ausführlich untersucht und dabei Doderers Einstellung zum Nationalsozialismus nur flüchtig erwähnt: Malcolm Mcinnes, „Osterreich - Osterreicher - Am Österreichischsten. Heimito von Doderer and Austria", in: Colloquia Germanica 18 (1985), S. 18 - 39.
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herunterzuspielen, die im Namen eines Staats stattfanden, von dem die „Ostmark" ein integraler Teil gewesen war. In der DDR hatte die führende Clique von der Literatur ausdrücklich verlangt, daß sie bei der Entwicklung einer neuen nationalen Identität eine führende Rolle spielen sollte. Dort aber konnte man sich auf eine liberal-progressive Tradition berufen, die angeblich seit Börne und Heine auf deutschem Boden oder im Exil existiert hatte, und die der Faschismus nicht hatte ausrotten können. In Osterreich hingegen widmete man sich immer mehr der Pflege einer Vergangenheit, die sich mit Stefan Zweigs Begriff vom Goldenen Zeitalter der Sicherheit umspannen ließe. Kennzeichnend für die politische und kulturelle Amnesie dieser Zeit war vor allem der Brecht-Boykott am Wiener Burgtheater. In einer Rede, die er am 18. September 1952 in Berlin hielt, scheute Doderer nicht davor zurück, die zwölfjährige Herrschaft der Nationalsozialisten als eine Periode zu bezeichnen, die kaum existiert hatte; er kennzeichnete sie als eine „Unzeit" (WdD 229). Dies geht mit der in den Tagebüchern erörterten Einstellung zum Dritten Reich einher, das Doderer bekanntlich für eine „zweite Wirklichkeit" hielt. Es ist hier, um mit Dietrich Weber zu reden, nicht der Ort, zu untersuchen, ob diese „zweite Wirklichkeit" eine wirkliche Unwirklichkeit oder eine unwirkliche Wirklichkeit darstellte."* Wichtig vor allem ist Doderers Annahme, daß erst mit der Beseitigung des Dritten Reichs die „Wirklichkeit" wieder vorherrschen würde. Damit scheint Doderer eine Position einzunehmen, die suggeriert, daß die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit nicht »eigentlich' stattgefunden hätten. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, daß in den Dämonen, wo Doderer angeblich die .Unzeit' des Dritten Reichs am direktesten konfrontiert, die Verfolgungs- und Folterszenen in den Kavernen zu Neudegg als bloß fingiert entlarvt werden. Um eine akzeptable Antwort auf die Herausforderung der Geschichte zu finden, spielte das Regime in der DDR die Existenz einer „progressiven" deutschen Tradition hoch, die in dem ersten deutschen Arbeiterund Bauernstaat ihren triumphalen Ausdruck gefunden hatte. Eine österreichische Lösung desselben Problems bestand darin, die Österreicher als Opfer des Faschismus zu betrachten. Der Anschluß, den Doderer im ursprünglichen Titel der „Athener Rede" erwähnte, hat also nichts mit jenem vom März 1938 zu tun. Was Osterreich jetzt bevorstehe, sei nichts anderes als die Wiederverknüpfung mit der eigenen wahren Vergangenheit, ein Anschluß an die Tiefe der Zeiten: Dietrich Weber, Heimito von Doderer. Studien zu seinem Romanwerk, München 1963, S. 186.
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1945 wurde eine Legalität wiederhergestellt, nämlich die der Ersten Republik [...]. Aber diese Bewegung des Wiederherstellens, welche man 1945 vollzog, blieb nicht auf das eigentlich in's Auge gefaßte Objekt beschränkt - nämlich auf die demokratische Republik, deren Recht vom Volke ausgeht - sondern es schoß dabei gleichsam die ganze Vergangenheit neu zu Kristall; und ein unter dem Druck von sieben Jahren unösterreichischer Herrschaft verdichtetes österreichisches Bewußtsein bemächtigte sich unverzüglich der gesamten und gewaltigen Tradition des Landes überhaupt, bis zu den alten Römern hinunter [...]. [...] So ebnete sich die Kerbe von 1918 bedeutend ein. (WdD 241)
Hier läßt sich mit besonderer Klarheit der Einfluß von Doderers Geschichtslehrer an der Universität Wien, Heinrich von Srbik, feststellen. Wie Wolfgang Fleischer bemerkt, „stellte [Srbik] die Geschichte aller deutschsprachigen Länder und Völker vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart unter dem ausschließlichen Aspekt dar, wie sehr die jeweilige Entwicklung einem Zusammenschluß aller Deutschen nützlich oder schädigend gewesen sei, wobei das sogenannte HeiHge Römische Reich Deutscher Nation Maßstab und Ideal blieb. So kam es letztlich zu dem .Mißverständnis' - sowohl Srbiks wie Doderers - , Hitlers Annexationsbestrebungen historisch legitimiert zu sehen. Die Tradition, die Doderer in der „Athener Rede" gutheißt, ist freilich in erster Linie multiethnisch, was ohne weiteres den Beweis für den Abstand stellt, den es jetzt zwischen Doderer und dem Faschismus gab. Dieser persönliche Wandel veranschaulicht aber auch die Tendenz, die Ernst Bruckmüller mit äußerster Präzision zusammenfaßt: „Der (fast) vollkommenen Integration in die deutsche Nation folgte nach 1945 die (fast) vollkommene Flucht aus ihr. Der nationsbildende gemeinsame Weg war zu Ende, bevor er noch sehr weit gegangen war.'" Doderer hörte nicht auf, für einen Vielvölkerstaat zu plädieren. Nach dem Staatsvertrag wurde Artikel 7 der Verfassung, der für die Gleichberechtigung aller ethnischen Gruppen bürgt, nicht selten verletzt. Doderer hingegen behauptet: Ein situationsbewußter Österreicher [...] muß heute um jeden einzelnen kroatischen oder magyarischen Bauern im Burgenland, um jeden Slowenen in Südkärnten herzlich froh sein: dies aber ganz und garnicht, um in solchen wertvollen Volksteilen eine Art Sprungbrett für irgendwelche Aspirationen zu sehen; sondern weil gerade durch jene Mitbürger seinem übernationalen - Nationalgefühl ein vertretungsweiser konkreter Anhalt geboten wird." (WdD 242 f.)'
Wolfgang Fleischer, Heimito von Doderer. Das Lehen. Das Umfeld des Werks in Fotos und Dokumenten. Mit einem Vorwort von Wendelin Schmidt-Dengler, Wien 1995, S. 77. Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung, Wien, Köln, Graz 1984, S. 216. Dieses Zitat erscheint mit beinahe identischem Wortlaut in: Heimito von Doderer, „Antwort aus Osterreich", in: Alpenländische Nachbarschaft, hrsg. von Walter von
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Solche Wendungen erinnern vor allem an die „schwarz-gelbe" Strömung in der österreichischen Literatur, die in den dreißiger Jahren von Autoren wie Stefan Zweig und Joseph Roth weitergeführt wurde. Daß ein galizischer Jude (Roth) und ein ehemaliger Nationalsozialist (Doderer) sich an den sogenannten „Habsburgischen Mythos" anschlössen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.^ Bei der Untersuchung von Doderers „Wiener Trilogie" erkennt man überdies sofort, daß seine „österreichischen Menschen" überwiegend zu gerade jener Gesellschaftsschicht gehören, die bei der Bildung des Mythos ausschlaggebend waren: „Offiziere, Adelige und Beamte, daneben aber auch ein gewisses Bürgertum meist jüdischer Herkunft, das sich in der Ringstraßengesellschaft mit jenen anderen Gruppen verbinden konnte."' Obwohl er den „österreichischen Mythos" gerne heraufbeschwor, konnte Doderer gewissen unbequemen Tatsachen nicht aus dem Weg gehen, wie etwa dem Umstand, daß wohl die Mehrheit der deutschsprachigen Österreicher vor und nach dem Ersten Weltkrieg einen Anschluß an Deutschland wünschten. Glücklicherweise fand Doderer auch hier einen Ausweg, und zwar in dem französischen Schriftsteller Paul Valery, dessen Einstellung überraschende Ähnlichkeiten mit dem Nadlerschen Gedankengut aufweist. Laut Doderer lobte Valery nämlich die „.Tugenden der deutschen Völker', worunter er etwa Bayern, Schwaben, Osterreicher und andere verstanden haben mag, wie man unter den angelsächischen Völkern Engländer, Amerikaner, Kanadier und Australier begreift." (WdD 242) Diese Feststellung Valerys, daß es kein deutsches Volk, sondern nur deutsche Völker gibt, vermag Doderers schöpferische Fantasie zu beflügeln. Er behauptet nunmehr: „Die deutschen Völker sind griechenähnlich; das heißt, sie haben das Prinzip, auf welchem Europa beruht - Mannigfaltigkeit, nicht Einheitlichkeit!" (WdD 242) Wie das Athener Publikum darauf reagiert hat, ist nicht belegt. Doderer geht aber weiter: „Das stark ausgebildete Sein dieser einzelnen Völker verhinderte, wie bei den Griechen, ihre politische Einigung, welche auch bei diesen nur unter Zwang vorübergehend vollzogen wurde, durch eine relativ spät in den griechischen Lebenskreis getretene nördliche Militärmacht: die Makedonier. Tout comme chez nous." (WdD 242) Laut dieser (kaum anders denn als Parodie beschreibbaren)
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Cube, München 1962, S. 100, zit. nach Ernst Bruckmüller, Nation Österreich, a.a.O., S. 217. Vgl. Claudio Magris, Der Habshurgische Mythos in der österreichischen Literatur, Salzburg 1966. Ernst Bruckmüller, Nation Österreich, a.a.O., S. 97.
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Darstellung von siebzig Jahren deutsch-österreichischer Geschichte war der Nationalsozialismus bloß eine Anomalie gewesen. Wie immer in der „Athener Rede" werden Namen nicht genannt und Daten nicht zitiert. Von überaus großer Bedeutung für Doderer ist aber der Umstand, daß es unter den deutschen Völkern ein Volk gibt, welches „in neuerer Zeit Träger einer übernationalen Großmacht geworden, deren Geschichte sich durch Jahrhunderte mit einem erheblichen Teile der europäischen Geschichte gedeckt hat. Daher ist das wesentlich österreichische Nationalbewußtsein von - übernationaler Struktur." (WdD 242) Als österreichisch erscheint also nicht Österreichs Rolle und Schicksal in den 30er und 40er Jahren, sondern dessen kaiserliche und königliche Vergangenheit. Äußerst bizarr ist Doderers Rückblick auf den Zusammenbruch der Monarchie im Jahre 1918: Man hat damit die Existenz Österreichs für wesentHch annuUiert gehalten. Man hat keineswegs bedacht, daß jene Mitte sich durch Jahrhunderte derart angereichert und gesättigt hatte mit Influenzen anderer Völker innerhalb der gleichen Staatlichkeit, daß, wäre 1918 nicht gekommen, jene spezifisch österreichische Art zu existieren - als eines der deutschen Völker, jedoch begabt mit einer geradezu ungeheuren Assimilations-, ja Integrationsfähigkeit - wahrscheinlich sehr bald verschwunden wäre, durch den Verlust seiner idealischen Balance. (WdD 243)
Mit anderen Worten: auch wenn die Monarchie den Krieg überlebt hätte, wäre es mit den Deutsch-Österreichern bald aus gewesen. Denn die ideale Balance zwischen Assimilationsfähigkeit und dem Einfluß des Fremden war soeben erreicht worden. Und gerade um dieses ideale Gleichgewicht zu erhalten, „griff 1918 das Schicksal ein" (WdD 243). Doderer zufolge hatte der Zusammenbruch des Kaiserstaates mit den Auswirkungen eines vierjährigen Kriegs oder den Wünschen der Völker nach nationaler Selbständigkeit gar nichts zu tun. Verantwortlich dafür war eher ein gütiges Schicksal, das seine Rolle ausdrücklich spielte, um eine besondere Art Deutschtum zu erhalten, dessen Existenz ansonsten gefährdet gewesen wäre. Doderer wechselt dann die Perspektive von der ersten auf die zweite Republik und kommt zu dem Schluß, daß die Zeit vor 1918 wesensbestimmend wirkte: „Davon lebt Österreich, und heute noch, daher hat es seinen großen Namen in der Welt, und mit Recht und als ein legitimer Erbe." (WdD 243) Vom heutigen Standpunkt aus gesehen hat es den Anschein, daß Doderer die Jahre 1918 bis 1945 ganz einfach ausblenden bzw. wegdenken wollte. Ein Jahr nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags wurde die Wiener Trilogie mit Doderers umfangreichstem Roman Die Dämonen abgeschlossen. Von den drei Romanen enstanden ursprünglich sowohl Die Dämonen wie auch Die erleuchteten Fenster in den dreißiger Jahren, die
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Idee zur Strudlhofstiege entstand während Doderers Kriegdienst in Frankreich. Alle drei Werke zeigen aber aufschlußreiche Parallelen zu den Argumenten auf, die Doderer in der „Athener Rede" zum Ausdruck brachte. Der kurze Roman Die erleuchteten Fenster, den Doderer schon 1939 vollendet hatte, spielt ausschließlich im untergehenden Kaiserreich. Obwohl das Buch die bürokratische Mentalität des k.u.k. Beamtentums satirisch darstellt, liefert es auch ein Porträt einer Gesellschaft und eines Staats, wo menschliche Entwicklung und menschliches Glück doch noch möglich gewesen waren. Angesichts von Hitlers Einstellung zum Habsburgerreich nimmt es kaum Wunder, daß dieses Buch vor Kriegsende unveröffentlicht bleiben mußte. Doderers liebevolle Evozierung einer verlorenen österreichischen Welt ist durchaus ein Beweis dafür, daß der Autor schon vor dem Krieg seinen Enthusiasmus für die Deutschtümelei des Nationalsozialismus hinter sich hatte.'® Die erleuchteten Fenster existieren nur in einer Fassung. Die Dämonen stellen hingegen die radikale Umarbeitung eines Romans dar, dessen erster Teil schon 1936 fertig war. Damals hieß das Buch „Die Dämonen der Ostmark", was ohne weiteres die damalige politische Einstellung des Autors klarmacht. In der Druckfassung des Romans versucht Doderer zwar, die ideologischen Voraussetzungen der Erstfassung zu verbergen, in Gestalt des Affekts gegen den Marxismus, dem er jetzt denselben Wert wie dem Nationalsozialismus beimißt, bleiben jedoch Elemente desselben Nationalsozialismus bestehen, den er desavouieren will: „Dort eine vermeintliche Gemeinsamkeit der Rasse, hier eine der Klasse, es ist gehupft wie gesprungen. Klassen können ja zu Rassen werden, und umgekehrt. (D 487) Doderers laut verkündete Ideologiefeindlichkeit nach 1945, die mit seiner Wiedergeburt als Österreicher Hand in Hand ging, war kaum mehr als eine Larve für einen tiefverwurzelten kulturellen und politischen Konservatismus, der freilich nicht nur Heimito von Doderer zu eigen war. Seine Schilderung einer Gesellschaft, wo Jude und Arier sich im großen und ganzen gut verstanden, erwies sich als durchaus attraktiv in einer Gesellschaft, die aus verständlichen Gründen die Wirklichkeiten der Hitlerzeit lieber übersehen hätte. Bereits Dietrich Weber hat mit Recht darauf hingewiesen, die Dämonen seien „zweifellos nicht richtig zu verstehen, wenn man [das Buch] eng auf die Zeit seiner Handle
Vgl. aber: Imke Henkel, Lebens-Bilder.
Beobachtungen
zur Wahrnehmung
in
Heimito
von Doderers Romanwerk, Tübingen 1995, S. 100. Die Autorin weist darauf hin, daß Doderers Darstellung der Altwarenhändler in Die erleuchteten Fenster die Nachahmung eines ostjüdischen Tonfalls mit abwertender Polemik verbindet.
Tiefe der Zeit, Untiefen der Jahre
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lung in der Vergangenheit der Jahre 1926/27 bezogen sieht und dabei nicht berücksichtigt, daß es zumindest ein Ethos vermitteh, das unmittelbar zur Zeit seines Erscheinens in der Gegenwart der fünfziger Jahre Geltung beansprucht."" Weit mehr als in den Dämonen versucht Doderer in der Strudlhofstiege seine Leser von der Kontinuität der österreichischen Geschichte zu überzeugen. Der Roman spieh in den Jahren 1911 - 13 und 1923 - 25, gleich vor und nach dem katastrophalen Krieg also, der dem uralten Kaiserreich ein jähes Ende gemacht hatte. Der Krieg spielt aber so gut wie keine Rolle in diesem Roman. Noch mehr als in den Dämonen hat Doderers unablässige Betonung der individuellen Kontinuität zur Folge, daß die ,große' Geschichte beinahe ausgeklammert wird. Indem Doderer aber zeigt, daß das Persönliche die Kalamitäten der Geschichte überleben kann, spendete er seinen Lesern Trost. Wie in den Dämonen schildert Doderer auch hier eine Wiener Gesellschaft voller Intrigen, in der Jude und Nichtjude gut zusammenleben können. Der Autor fühlt sich sogar verpflichtet, seinen Roman mit einem happy end abzuschliessen: „um dem lieben Leser die kostbare Erbschaft der Leere, mag sie gleich nur einen idealen Augenblick lang dauern, gleichsam in jungfräulichem Zustande zu hinterlassen." (S 908) Doderers Absicht, den Roman als Hilfsmittel zur Wiederherstellung der Unschuld zu verwenden, ist höchst aufschlußreich. Auf der Schlußseite des Romans wird die „Tiefe der Jahre" in einer Rede des ironisch gezeichneten Amtsrats Julius Zihal anläßlich der Verlobung des ehemaligen k.u.k Majors Melzer evoziert. In dieser Rede versucht Zihal das eheliche Glück zu definieren, darüber hinaus zielt aber die Rede auf das Publikum im Nachkriegsösterreich, das in Doderers Augen seine Verbindungen mit seiner früheren Identität wiederherstellen mußte, denn diese „zeigte recht deutlich den Weg, auf dem ein ganzer Volks-Stamm in seiner Eigentümlichkeit allein zum Glücke gelangen, allein sich darin befestigen kann." (S 909) Zihal variiert dann ein berühmtes Couplet aus der Fledermaus, dem Werk, das Johann Strauß komponierte, um das Wiener Publikum nach dem Börsenkrach im Jahr 1874 zu ermuntern. Doderer schließt damit seinen Roman mit einer Vision des stillen, auch bürokratischen Glücks, die an nichts so sehr erinnert als an die Zeit des Biedermeier.^^ Der Wunsch, das Gefühl der Zufriedenheit zu stiften und sein Publikum von den Unannehmlichkeiten der jüngsten Geschichte 11 12
Dietrich Weber, „Doderers Wien", in: Literatur und Kritik 1 9 3 / 1 9 4 (1989), S. 125. Ernst Bruckmüller, Nation Österreich, a.a.O., S. 98, spricht von „Raimund'schen Bescheidenheits-Topoi".
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abzulenken, ist bei Doderer ebenso groß wie bei Johann Strauß. Deshalb verfaßte Doderer einen Roman, der in einer vergangenen, aber sofort erkennbaren Welt spielt und dem Leser kein unangenehmes Nachdenken abverlangt. Die Jahre 1914 - 1918 beeinflussen kaum die Ereignisse im Roman, was darauf schließen läßt, daß der Zusammenbruch der Monarchie und implizit die Jahre 1938 - 1945 sich nicht nachhaltig auf das „eigentliche Leben" (WdD 240) ausgewirkt haben. Die Strudlhofstiege spiegelt in epischer Gestalt die Botschaft der „Athener Rede" wider: daß die Gegenwan die jüngste Vergangenheit weitgehend außer Betracht lassen darf und daß Osterreich den Anschluß an die eigene, schwarz-gelbe Geschichte finden soll.
FRIEDHELM KEMP
„Mein zartes Gesetz ohne Namen". Selbstrettung eines Desperaten: Heimito von Doderers „Tagebuch eines Schriftstellers"
„Der Fluss Euphrates, erzählt Herodot, ist voller Krümmungen, so dass er einen Flecken in Assyrien dreimal berührt in seinem Lauf. Dieser Flekken, den der Euphrates berührt, heisst Arderikka mit Namen. Und noch heute, wer von unserem Meer nach Babylon hinunterschifft, kommt dreimal an denselben Flecken und das in drei Tagen.'" (TB 1132 f.) In dieser Eintragung vom 22. Dezember 1938 geht es Heimito von Doderer um die Wiederkehr oder näherhin die Identität der Zeiten, des Heute mit dem Ehegestem. Einem Leser seiner Tagebücher widerfährt ähnliches: an zahllosen Wenden und Kehren berührt er dort einen Ort, dessen er schon mehrfach ansichtig geworden ist; der jedoch wunderlicherweise die bemerkenswerte Eigenschaft hat, daß er, während er sich auf das knappste zusammenzieht, immer volkreicher zu werden scheint. Doch damit nicht genug. Ein zu Jahren gekommener Heimitist, der unter dem Lesen dieser Tagebücher sich zurückerinnert, liest sie mit Sicherheit anders als ein Nachgeborener des Zweiten Weltkriegs. Wer Doderers Werk seit 1938 begleitet hat, von dem Mord den jeder begeht bis zu dem Fragment gebliebenen Grenzwald, über Die Posaunen von Jericho, Die Merowinger und die Tangenten, wer dem Autor in den fünfziger und sechziger Jahren gelegentlich persönlich in München begegnet ist und mit ihm einen verlängerten Abend in einem italienischen Weinlokal verbracht hat, wem Dorothea Zeemann und kürzlich Wolfgang Fleischer über den Menschen Doderer ganze Girlanden von Lichtern aufgesteckt haben, dem kann es vorkommen, als wäre er einer Folge von Wechselbädern ausgesetzt worden, von denen abzuwarten bleibt, ob sie seiner geistigen Gesundheit zuträglich waren. Heimito von Doderers „Tagebuch eines Schriftstellers", als welches er selber diese Niederschriften seit 1925 bezeichnet hat (vgl. TB 263 ff.), ist in vier Etappen publiziert worden. Als erstes erschienen 1964, die Jahre 1940 bis 1950 umfassend, die Tangenten, von Doderer selbst redigiert
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und als Werk konzipiert. 1976 und 1986 folgten, von Wendelin SchmidtDengler in Auswahl aus dem Nachlaß ediert, die Commentarii von 1951 bis 1956 und von 1957 bis 1966. Als letztes und umfangreichstes Konvolut erschienen vor kurzem, ebenfalls u.a. von Schmidt-Dengler herausgegeben, ungekürzt die Tagebücher von 1920 bis 1939. Haben wir nun in diesen Aufzeichungen so etwas wie Doderers Autobiographie, sind sie vollgültiger Ersatz für seine - mit Jean Paul zu reden - „Selberlebensbeschreibung"? Sie sind, mit Ausnahme der Tangenten, weithin Geröllhalden, als solche keine angenehme Lektüre, häufig eines noch ausstehenden umständlichen Kommentars bedürftig. Er selber, so darf man vermuten, würde diesen gedruckten Wust kaum gutgeheißen haben. Und dennoch - ein großes Dennoch! - bleibt, was nun vorliegt, unverzichtbar; eine kapitale Summa, die man den Tagebüchern von Andre Gide, Julien Green und Victor Gombrowicz an die Seite stellen möchte. Dieser Summa eines Schriftstellerlebens auch nur annäherungsweise gerecht werden zu wollen, wäre ein hoffnungsloses Unterfangen. Ich werde mich deshalb mit Impromptus und ausgewählten Zitaten begnügen, um wie mit einem Teleskop einiges, das mir wichtig scheint, Ihnen näher vors Auge zu holen. Wie jedem Doderer-Leser seit den Tangenten bekannt, frönt dieser Autor in seinem Sprachgebrauch idiosynkratischen Gewohnheiten. Gewisse Wörter werden im Verlauf der Niederschriften durch Wochen, Monate, Jahre, ja durch das ganze weitere Leben hin mit einer spezifisch Dodererschen Bedeutung aufgeladen, bis sie zu einer wie selbstverständlich benutzten Vokabel der von ihm entwickelten Terminologie werden. Hinzu kommen intertextuelle Bezüge, die vor allem auf Dicta seines Freundes und Lehrers Gütersloh, andere auf Baudelaire, Weininger, Swoboda und Jaspers verweisen. So entwickelt sich durch die Tagebücher hin ein lexikalischer Verweisungszusammenhang, in den man sich eingelesen haben muß, um nicht ins Tüfteln zu geraten oder Gefahr zu laufen, den Schreiber gründlich mißzuverstehen. Deshalb auch geht es nicht an, Doderer auf eine Äußerung festzunageln, ohne dieses ganze flüssige Maschennetz seiner Wort- und Sinnverkettungen zu berücksichtigen. In einem Brief an Gütersloh aus dem Oktober 1936 las Heimito von Doderer einen Satz, der in ihm nachwirkte: „Es überhebt uns zwar diese Zeit jeglicher Mitteilungspflicht, allein Gott ist der Leser par excellence und Seiner Intelligenz und Seiner Akribie können wir nie genug tun." (BG 103) Diese „Leser" hat Doderer im Sinn, als er im Dezember des gleichen Jahres ausführliche Betrachtungen darüber anstellt, daß es eines Ent-
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Schlusses, einer „Decision" (TB 908) bedürfe, um sich aus den Angeln eines ersten, uneigentlichen Lebens zu heben, an dessen Rand „im kalkweissen Licht die doktrinären Gespenster, Schemen und Afterbilder" (TB 908) einer gehetzten, entgleisten Ratio stehen. Wie entwindet man sich dieser verfälschten und verfälschenden Vernunft? Als ein Dach über alle diese Fragen kann nur die folgende Antwort aufgestellt werden: Der ,Leser' will nicht, dass wir an der Welt herumzerren, sondern sie verschlucken, so wie sie ist. (TB 908)
So Doderer am 23. Dezember 1936. Wer aber denkt dorthin zurück, wenn er unter dem 19. Januar 1937 von dem „höchst undichterischen, aber bemerkenswert zähen Vermeinen" liest, „dass etwas ganz selbstständig neben der Wirklichkeit stehen könne, also neben dem ,Leser'"? (TB 930) (Der hier freilich wieder, wie einen Monat zuvor, in Anführungsstrichen steht.) Leben - Wirklichkeit - Gott - Leser bilden hier eine Kette, die man sich einprägen muß, um sie fortan nicht aus dem Blick zu lassen, wenn von dem Schriftsteller, dem Erzähler und seiner Verantwortung die Rede ist. Dieser ist demnach, wie es am 10. Mai 1937 heißt, „der advokatus vitae gegen jede geronnene Transcendenz. Da er also, praktisch genommen, gesinnungslos ist, muss er in seiner Praxis auch atheistisch sein, das heisst, er versammelt Gott nirgends in irgendeiner feststellbaren Weise und an einem einzelnen Punkte; vielmehr verteilt er ihn als derart feine Emulsion durch das Ganze aller berichteten Begebenheiten, dass die schreibende Hand selbst (und längst) nicht mehr weiss, von wem sie da eigentlich einen Bericht gibt." (TB 980) Und am 13. Mai desselben Jahres liest man dann: „Aller Ehren wert ist der Atheismus als Haltung. Diese wird am reinsten dargestellt vom erzählenden Dichter. Denn er vertritt Gott auch unter der Annahme, dass jener garnicht existiere." (TB 982) Von der geronnenen Transzendenz ist dann auch weiterhin noch die Rede. Zweier Aspekte - oder besser: Bereiche -, die in Doderers Biographie einen breiten Raum einnehmen und die er selber als pathologisch miteinander vernetzte diagnostiziert hat: Sexualität und Politik - dieser beiden Bereiche muß auch hier gedacht werden. Wobei ich mir allerdings die nähere Erörterung der Skurrilitäten und Garstigkeiten eines lavendelduftenden Mannsbilds aus besseren Kreisen auf dem Felde der Sexualität ersparen möchte. Für aufmerksame Leser zudem dürften seine eigenen Indiskretionen und solche aus zweiter oder dritter Hand über die „Blödigkeit und Fragilität der starken Männer"' von geringerem Interesse 1
Dorothea Zeemann, Jungfrau a.M. 1982, S. 55.
und Reptil. Lehen zwischen
1945 und 1972, Frankfurt
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sein, da wir über diesen Sachverhalt ja längst zur Genüge unterrichtet sind; spätestens seit uns die früheste Erzählung Die Bresche aus dem Jahre 1924 wieder zugänglich wurde. Dort begegnen wir einem jäh Enthemmten, der sich mit Hilfe einer brüderlichen Figur zu fassen sucht, was doch nur ansatzweise gelingt. Dennoch wird Doderer hier stellenweise über sich selbst prophetisch, und zurückblätternd trifft es einen wie einen Blitzstrahl, der eine weite Landschaft aus dem Dunkel reißt, wenn man Slobedeff zu dem Untäter Herzka sagen hört, er fände sich „in Verzweiflung", und dabei gehe er nun „offenen Auges und immer wieder durch die Hölle" seines „Schwankens und Fallens" (FP 186). Wer übrigens glauben sollte, sich im Hinblick auf das weibliche Geschlecht an das halten zu dürfen, was aus Doderers Tagebüchern und anderwärts zu erfahren er nicht umhin kann, der verfiele leicht einer kurzsichtigen Deperceptivität. Er ließe sich an dem Voyeur und Sadisten genügen, ohne sich von dem großartigen Erzähler eines anderen und Besseren belehren zu lassen: etwa in der Strudlhofstiege durch die Gespräche der Zwillinge mit dem Rittmeister von Eulenfeld (S 607 654) oder durch Rene Stangeier am Knie der Grete Siebenschein, „klein auf dem Teppiche" sitzend, wie unter einem „ungeheuer großen Teekannen-Wärmer", der ihn und Grete umschließt (S 702-704). Paul Valery hat einmal gesagt: „Je suis reaction a ce que je suis." Ein Gleiches gilt, und in noch höherem Maße, von Heimito von Doderer, der auf sich selbst nicht nur durch Kritik reagiert, sondern mehr noch durch die Erfindung seiner Doppelgänger - meist mehr oder minder suspekter Individuen, die er seinen Spott, seinen Ingrimm spüren läßt, wenn sie wieder einmal ihren triebhaften Narreteien oder dem Drang zur Selbstgeltung aufs schmählichste erliegen. Wie er selber in den dreißiger Jahren einer politisch-ideologischen Verblendung verfiel, aus der er sich nur mühsam und in Schüben löste; und die näher zu verfolgen die jüngst veröffentlichten Tagebücher uns nun in den Stand setzen. Am 24. Juli 1934, zwei Tage vor der Ermordung des Kanzlers Dollfuß, scheint ihm, dem mit dem Kampf um seine Arbeiten Beschäftigten, „alles politische Geschehen sich im feilen Faulbett einer allgemeinen Zugänglichkeit zu wälzen, wodurch für mich schon gegeben ist, dass die Beschäftigung damit hier subjektiv letzten Endes etwas wie Allotria bedeuten würde und bedeuten müsste" (TB 641). Was Doderer bekanntlich nicht hindern sollte, sich einige Zeit auf eine - für ihn wie nachträglich für uns - quälende Weise angestrengt auf diesem Faulbett zu wälzen. Dieses Kapitel seiner Biographie ist jedoch so komplex, daß jede einschichtige Beurteilung sich verbietet; ganz abgesehen davon, daß sie
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nichts erbringt. Schon garnicht, wenn man sich anmaßt, die österreichischen Verhältnisse der Ära Dollfuß heute, sechzig Jahre später, ohne genaueste geschichtliche Kenntnisse beurteilen zu wollen, und ohne die Fähigkeit, sich die politische Atmosphäre jener Jahre nach dem Brand des Wiener Justizpalastes im Juli 1927 zu vergegenwärtigen. Auch für Doderers eingestandenermaßen „letzte[] und böseste[] Verflachung" (T474) gilt, was er Rene Stangeier auf einem TischtennisFünfuhrtee bei Siebenscheins im Hinblick auf das Mittelalter und die Hexenprozesse sagen läßt: daß, „wenn irgend eine Zeit mit ihren Gestalten oder Erscheinungen und Formen begriffen werden soll", „man sich weit über diese Zeit hinaus in die Vergangenheit zurückziehen und die betreffende Periode von vorne anvisieren" müsse; daß es nicht hinreiche, sie nur von rückwärts her zu betrachten. „Geschichte ist keineswegs die Kenntnis vom Vergangenen, sondern in Wahrheit: die Wissenschaft von der Zukunft; von dem nämlich, was jeweils in dem betrachteten Abschnitte Zukunft war, oder es werden wollte" (D 445). Es wäre, scheint mir, unredlich, Doderer, als ,der Spuk' vorüber war, einen schielend-beflissenen Drang zur nachträglichen Selbstrechtfertigung zu unterstellen. Dessen bedurfte es bei ihm nicht. Seine allmähliche politische Wende hatte früh schon ihren Niederschlag in den Tagebüchern gefunden. Zwei Tarnworte sind hier seit 1936 aufschlußreich: Genf und m.p. = Morbus parodontosis, Zahnfäule und Wurzelhautentzündung. Unter den klischeehaften Stichworten Genf und Calvin resümierte Doderer damals alles ihm inzwischen mißliebig Gewordene im öffentlichen politischen und kulturellen Raum - Stichworte, die als ein fortlaufendes Grollen zu vernehmen und zu interpretieren sind. Uber diese „Genfer Phainomena" liest man dann am 17. Oktober 1939: Nicht nur Einzelmeinungen zu haben, sondern alle Meinungen die da entstehen könnten vorgekämmt in einer bestimmten Richtung, die Canäle also schon bereit zu haben, durch welche sich sodann der gleiche graue Sud spannungslos ergiesst: aber mindestens immer zum Hasse fähig, ja der humanitas durch solche legitimierte Mechanismen mit der Zeit vergessend: das ist Genf. Das ist das Ende der Freiheit: ein stets aufgereitzter, immer neu aufgerauhter Maulschotter jederlei Confession. Es ist überhaupt unwürdig, und die Eigenschaft aller Hausmeister, in Bezug auf irgendetwas irgendeine Meinung zu haben. Wir haben nur, bei jedem Anlass: das Streben nach dem Ausdruck. (TB 1237)
Uber m.p. findet sich bereits im Juli des gleichen Jahres folgende Eintragung: „Der morbus p. klingt einfach ab bei uns allen [...]: die Curve senkt sich [...]. Wir machten sie mit, wurden hinauf und wieder hinuntergeführt wie die Ochsen über den Berg. Wir haben's nicht überwunden. Das ist schmählich, weil qualitätslos zeitgemäß." (TB 1217)
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Und am 1. September 1939, dem Tage der Kriegserklärung, kreuzt sein Weg sich „in sehr bezeichnender Weise" mit einem Dichter, der ihm „vor über einem Jahrzehnt zum ersten Mal begegnete, und nun, in diesen Tagen, die zarte und doch feste Brücke verschiedentlicher Zufälligkeiten als magische Person benutzend", wieder in seinem Gesichtskreis erschienen ist... „Deutlich ist er auszunehmen", liest man vier Tage später, „- ich spreche von Franz K. - wie nie vorher. Er kommt, das Ende eines Lebens und den Zusammenbruch seiner Scheinwelt zu bestätigen." (TB 1227) Wollen wir Heimito von Doderer auf seinen Umwegen, in seinen Verirrungen und schließlich seinen wiederholten Verwandlungen, wenn wir sie zugleich als Tode begreifen, nicht die Gerechtigkeit widerfahren lassen, ihm zu attestieren, er habe, wenn auch nicht (wie Imre von Gyurkicz in den Dämonen) mit dem Tode zugleich „eine erhabene Frucht" (D 1248) seines Lebens geerntet, so doch durch Freimut und Selbstkritik seinen tiefsten und innerlichsten Schaden behoben, seine geheimste Schmach getilgt? Es dürfte, wenn wir genauer hinsehen, schwer sein, einen strengeren Richter über Doderer zu finden als ihn selbst. Das erübrigt eine Unzahl wohl- oder übelmeinender Beiläufigkeiten. Man möchte doch, in diesem Zusammenhang, mit Nachdruck darauf bestehen, daß eben aus seinem Umgang mit den Schwächen, Miserabilitäten und (eingestandenermaßen) verbrecherischen Verhaltensweisen der eigenen Person die besondere und wohl unvergleichliche Qualität des Erzählers Doderer erwächst. Normalerweise bittet ein Autor, auch in einem ,geheimen' Tagebuch, dessen künftigen Leser um Nachsicht und Vergebung; nur Doderer ist bereit, sich und seine Lebensführung, dem Urteil des „Leser[s] par excellence" (BG 103) bedingungslos zu unterwerfen. Zwei Bedenken könnten hier geltend gemacht werden, die abzuwägen freilich schon in die Kompetenz einer höheren Moraltheologie fallen dürfte. Das erste findet sich bei dem französischen Philosophen Alain unter Betrachtungen über die Beichte: „Avouer des pensees et des fautes, c'est souvent une maniere de s'y livrer, et il n'est pas toujours bon de braver la honte."^ Das zweite Bedenken hat der von Doderer früh bewunderte Franz Kafka einmal folgendermaßen formuliert: „Geständnis und Lüge ist das Gleiche. U m gestehen zu können, lügt man. Das, was man ist, kann man nicht ausdrücken, denn dieses ist man eben;
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Alain,
Les ans et les dieux, Paris
1958, S. 172.
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mitteilen kann man nur das, was man nicht ist, also die Lüge."' - „Das, was man ist, kann man nicht ausdrücken": Um Ausdruck aber ging es Doderer, und zu diesem gelangt man, seiner früh geäußerten Überzeugung nach, nur auf dem Weg vom Benannten zum Unbenannten. „Nur was keinen Namen hat, gilt/r liest man am 27. Januar 1925 (TB 265). Ein Geräusch ist mehr als ein W o r t . / Ein leiser Druck in meinem Schenkel/ ist mehr als ein Geräusch./ Die Stille umfasst die W u r z e l n . / / H o c est verum. (TB 269)
Sind aber Ausdruck, Distinktheit, Grammatik, volle Sprachwerdung das, worauf es bei einem Schriftsteller schließlich ankommt, so gilt es doch zugleich festzuhalten, daß Sprache immer durchaus nur das ist, „was den eigenen bisherigen Ausdruck als pseudologisch erscheinen läßt" (CI17, Eintragung vom 13. Januar 1951). Und: „Wenn dem so ist", fährt Doderer zwei Tage später fort, „so vernichtet jeder in ihr [der Sprache] getane Strich immer alles bisherige Werk: er sollt' es zumindest. Schreiben bedeutet auch Aufhebung des bisher Geschriebenen. So scheidet man ab wie von einem alter ego." (CI 18, Eintragung vom 15. Januar 1951) Klingt das nicht fast wie ein Echo auf eine Tagebucheintragung aus dem Februar 1926? Nun, Gott steh' mir bei, bei diesem Versuch einer Auswanderung aus mir selbst; ich wollte, ich könnte gleich in langen Zügen auswandern: zum Teil in andere Menschen hinein, zum Teil in die Dinge, bei denen ich wünschte, sie hätten bald alle ihre zweckhaften Namen verloren für mich; ja ihre Namen, die sollten sie schon längst verloren haben - (TB 327).
Auf weite Strecken sind Doderers Tagebücher, wo sie über die Extremas und andere Notate zum Werk hinausgehen, eine Auseinandersetzung des hier Schreibenden mit sich selbst, mit seinen eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten, Auseinander-Setzung im wörtlichsten Sinne: Der hier schreibt, will, indem er sich absetzt, indem er .auswandert'. Abstand gewinnen von sich selbst, sich in den Blick und Griff bekommen - nicht um sich zu bessern, um Verbesserungen an sich vorzunehmen, sondern: um sich zu verwandeln, um ein anderer zu werden, um aus einem ersten, über ihn verhängten Leben in ein zweites der Freiheit, aus diesem zweiten in ein drittes, aus dem Praeverbialen und Praegrammatischen zur vollen Sprachlichkeit zu gelangen; um letzten Endes in ein Werk hinein sich aufzuheben. Leitend bei dem allen sind gewisse Grunderfahrungen, deren Doderer sich früh bewußt wird, Grundentscheidungen, die er früh trifft; denen 3
Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, in: Gesammlte Werke, hrsg. von Max Brod, New York, Frankfurt a.M. 1953, S. 343.
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man durch die Tagebücher hin wieder und wieder begegnet; die man sich präsent halten muß, um die Reichweite gewisser Anspielungen zu ermessen. Die Kennworte hier lauten, seit den Tagen, da Doderer ein Buch über den heiligen Franz von Assisi schreiben wollte: zart, neu, jung, flüssig, und vor allem namenlos. Das entfaltet sich später in den wiederholten Forderungen nach Liquidität, Zuflüssigkeit im Bereich des Praeverbialen, wo die Stille, das Schweigen dem Grund der Lebenstiefe zu steigen erlauben, so daß selbst das Entlegenste, die loca intacta der Vergangenheit gegenwärtig werden. Entscheidender als Worte sind hier Empfindungen, Farben, Gerüche, Atmosphärisches und Auratisches. Was heute gelegentlich als Präsenz beschworen wird - kürzlich sogar in emphatischer Weise angesichts des von Christo verpackten Reichstags -, diese Anwesenheit hat Doderer schon früh im Sinn. So, wenn er in einer Tagebucheintragung aus dem September 1925 davon spricht, daß wir „die ursprünglich zarte Oberfläche" des Spiegelglases, „welche bereit war, dahinter schwindelnde Tiefen überall durchscheinen zu lassen", mit unserem „,geistigen Eigentum'", unserem „,Wissen'", unseren Meinungen so sehr verschmutzen, „dass oft die letzte freie Fläche verpinselt wird, welche etwa noch bereit gestanden hätte, einen Geruch, ein eigentümliches Gefühl im rechten Bein, oder das Bild eines Baumes rein aufzunehmen, in einem tiefen Atemzug - und ohne Randbemerkung ,darüber'" (TB 302). Von dem „famosen Herren von Eulenfeld" in den Dämonen heißt es schon im März 1937, er habe „nie daran teilgenommen, mit Kunst und Kultur jenes letzte Fenster zu verpinseln, durch welches heute noch ein Anvisieren der zwar primitiven und nüchternen, aber im vollsten Sinne des Wortes fundamentalen und einzigen geistlichen Aufgaben unserer Zeit möglich ist: die Erweckung zum Regress auf die Grundlagen spirituellen Lebens, spiritualer Disciplin." (TB 953 f.) Um zu dieser Art von Präsenz zu gelangen, um seiner selbst und der Welt in einem und demselben Akt inne zu werden, ohne Kommentar, ohne Randbemerkung, ohne unaufhörlich wechselnde entlehnte „Meinungen" (TB 1237), um als Erzähler von der eigenen Vergangenheit als einer neu erfahren darstellbaren betroffen zu werden: dazu bedarf es eines Verfahrens, eben einer Disziplin, die sich nicht am Theoretischen, sondern an sinnlichen Data orientiert. Man liest am 18. Januar 1952: Es ist - verhältnismäßig! - nicht so übermäßig schwer, die Aktualität aufzulösen und zu atomisieren, so daß sie in sinnliche Einzeldata ohne Commentar zerfällt. Das Geräusch eines vorüberfahrenden Wagens, ein fernes Brausen, und ein Ruf irgendwo in den Gassen, sie genügen dazu.
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[...]Aber, um die letzte Nähe zu erreichen, bei den Datis des Gewesenen, muß schließlich, bei schon voll praesentem Bilde, noch eine Art durchsichtiger Hornhaut oder Glas-Wand zerspringen, bevor wir in die damalige Aktualität wirklich einzutreten vermögen. N u r da ist die Wahrheit und eine sozusagen hageldichte, unaufhörliche Ansprache, ein Stehen und Flüstern rund um uns [...]. Vieles strömt von mir weg und gibt Raum, und schwemmt gleich mit, was mich beengt. ( C I 103)
Als Erläuterung und Verlängerung dessen sei eine Aufzeichnung aus dem Februar 1926 zitiert: die Erinnerung an „ein Fest neulich" und an den Heimweg mit einer schiefäugigen Dame zwischen Villen, Gärten, gegen sechs Uhr früh: „[...] der Morgen kam herauf, nach all dem Lärm, Farbengewimmel; der Morgen trat überall, bleich, zart, aber unüberwindlich stark und schweigsam, zwischen die Gärten und Häuser: da war es wieder, dieses unendliche Stoßkissen der Stille, das dahinten alles auffängt, was wir treiben, krumm oder gerade; selbst das Beste wird so aufgefangen, und das begründete Urteil, das gesprochene Wort - sie entfärben, zerfliessen, wenn sich dies auch nur ein Stück weit dahinten öffnet, alle Namen zerlösend..." (TB 343). „Nur was keinen Namen hat, giltir-. Ich glaube, man muß diese Überzeugung bei Doderer ernst nehmen und zu begreifen versuchen, wie dieses Namenlose sich dem, was er Ausdruck nennt, entzieht und es dennoch zugleich als verborgener Widerhalt geradezu hervortreibt. Dieses Namenlose meldet sich As freisteigende Vorstellungen, als Geräusche und Musik, als mehr oder minder deutliche Körperempfindungen. Wer sich dem nicht vorbehaltlos aussetzt, gelangt, nach Doderers Erfahrung, niemals zu jener „hochanschauliche[n], ja fleischliche[n] Form des Erkennens", bei der einem ist, als „wären alle Zellen unseres Hirns auseinander gelaufen, im Leibe verteilt, und man dächte jetzt mit dem Eingeweid, den Schenkeln oder dem Kapuzen-Muskel des Rückens" (T 564). Ohne eine derartige, durch nichts erzwingbare Innervation pocht der Erzähler vergebens an das Tor zu einer authentischen, einer lebendigen Sprache; er gerät fast unvermeidlicherweise ins Dekorative, und damit ins Überflüssige, schlimmer noch: ins Tote (vgl. TB 265). Und hier nun muß eine Stelle aus den frühen Tagebüchern in extenso angeführt werden, die sich aus dem Grus vieler anderer Eintragungen als der Monolith eines entscheidenden inneren Moments unvergeßlich heraushebt: (Extrema v. 3.II.[1925] - Cafe Weghuber; vor dem Theater.) Plötzlich in belanglosem Gespräch: da wird mir der Grund meines Lebens sichtbar, dabei erleide ich Schmerzen wie eine gebärende Frau; aber der Grund kommt vor und ich sehe ihn, und nicht ganz ohne eine Art Rührung erkenne ich, wie er sich durchgesetzt hat in den letzten Jahren; jetzt, in diesem Augenblicke aber treten die Dinge,
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Friedhelm Kemp
die Begebenheiten auseinander, so wie Wasser, das, heftig gepeitscht und erregt, auseinandertritt und den Grund sehen lässt und der ist schwarz, feucht, neu: so neu ist auch dieser Grund meines Lebens, der nun - vielleicht zum ersten Male - sich nackt zeigt, ich erschrecke vor ihm und erkenne doch zugleich, über Jahre zurückschauend: ja, Du bist es, stiller hartnäckiger Freund und Beweger hinter Schleiern, Du warst es und Du wirst es sein: und Du drängst Dich schon wie eine breite Brust aus dem Gewühl hervor, Du hebst Dich, gewaltig atmend; und alles, was mir bisher war, ordnet sich neben Dir, zu Deinen Seiten, tritt zurück; da sehe ich, wie so Vieles, das bergeschwer drückte, doch so klein, so sehr klein war und seine Gewalt nur davon hatte, dass es- als Schleier vor Dir lag und dadurch, dass mich dieses Davorliegen quälte: alle Schmerzen und Schwächen bekommen hintennach Sinn! - Mein zartes Gesetz ohne Namen, dass Du doch so stark warst alle meine Verstösse gegen Dich still und zäh aufzufangen und auszugleichen! Wie viele Namen wollte ich Dir geben, aber sie waren alle falsch, wie immer sie gelautet haben mögen. Ich will auch nie mehr einen Namen für Dich suchen, sondern mich einschmiegen in Dich, sehr bescheiden, und Dich immer so nahe haben wie meinen eigenen Leib und noch näher: denn diesen kann ich noch nennen: da, mein Arm; da, meine Schulter - Dir aber will ich, ohne leiseste Überlegung, immer blind gehorsam sein; Du sollst nicht in meinem Kopfe wohnen, nicht in meinem Herzen, nicht unter der Wölbung der Brust: im Mark meines Nackens sollst Du sein, wo ich von Dir garnichtsmehr weiß: Du aber führst mich ohne Wort und Schwanken durch Gefechte und Gelächter und bist schwervoll von Sinn. (TB 266 f.)
Das arbeitet weiter, versickert, kommt fast unkenntlich wieder zum Vorschein und fühn zuletzt, wenigstens augenblicksweise, zu hohen Formen der Übersichtlichkeit, und zu einer Sicherheit, aus der heraus der Gegner sich in den Freund verwandeln muß. Hier sind zwei Eintragungen aus dem Jahre 1951 einschlägig, die mich zum Schluß meiner Improvisationen über Doderers Tagebücher führen sollen. Montag, 22. Januar [1951] [...] Wenn wir uns, praegrammatische Fixierungen jeder Art - also auch den sozusagen legalen biographischen Besitz betreffende! - standesgemäß ablehnend, aus unserem Gharakteriell-Determinierten heraus halten, was immer zur Not geschehen kann und um so besser, je besser wir es sehen: dann entsteht ein Übergewicht der officia, hinter deren gleichmäßig fädelndem Gewebe wir sitzen, und schließlich hinter einem leeren Vorfeld, einem Festungs-Glacis; was ja das eigentlich angestrebte Ziel der ganzen Übung darstellt. Der freie Aus-Schuß, die intakten, geladenen und feuerfertigen Geschütze: sie verwandeln merkwürdigerweise jeden herankommenden Gegner in einen willkommenen Gast für die Apperception, einen im wörtlichen Sinne phänomenalen Gast; und ihm gehen wir jetzt schon, unsere Vedette verlassend, waffenlos und in voller Sicherheit entgegen, nur den Stein der Weisen in der Tasche. (Gl 21 f.)
Bei Alain liest man, um diesen als Instanz und Kronzeugen noch einmal anzuführen, im Hinblick auf das, was Doderer das „Charakteriell-Determinierte[]" nennt: „...la faute des fautes est de s'accepter soi-meme comme une machine qui ne peut etre autre.'"' Und, ebenfalls in der Histoire
4
Alain, Les arts et les dieux, a.a.O., S. 118.
„Mein zartes Gesetz ohne Namen"
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des mespensees von 1936: „... si j'ai des devoirs, le premier et principal de ces devoirs est de me croire libre."' Dazu Doderer am 26. März 1951: „Sehen hat zur Voraussetzung, daß man von sich absehen könne, um es dann der Welt rundum .richtig abzusehen' [...]. Hiezu muß man sich selbst vorerst consumiert, nicht als grüne Birne sich beiseite hängen gelassen haben. Jeder hat die Wahl zwischen Reife oder Fäulnis und Vertrocknen. Die Freiheit, gleichgültig ob sie mir, wie gestern, im Walde angetragen wurde, oder ob sie als grüner Smaragd der Hoffnung von einem Punkte strahlt, der Jahrzehnte zurückliegt: sie ist unser Stein der Weisen, das Geheimnis der Jugend, das allgemeinst angetragene und doch am schwersten zu ergreifende Gut - welches doch nur den Schlüssel darstellt, der die Tür zu dem wahren Pensum eines Lebens aufsperrt" (Gl 41). Wer sich mit Heimito von Doderers Tagebüchern, seinen Briefen beschäftigt, wer den Facta seiner Biographie nachspürt, könnte der Versuchung erliegen, einem leicht hingesagten Satz der löwenhaften Sopranistin Gornelia Wett in der Strudlhofstiege beizupflichten: „Nicht was wirklich geschehen ist, sondern was man davon beweisen kann, allein das entscheidet." (S 413) Ist das aber angängig? Hilft uns das weiter? Was wirklich in diesem Leben geschehen ist, die nur den Augen des Lesers bekannte Biographie, werden auch wir dort zu lesen versuchen müssen, wo sie steht: zwischen den Zeilen - und nirgendwo anders als in seinem erzählenden Werk. Der Erzähler Heimito von Doderer, und um diesen allein geht es auch in seinem .Tagebuch eines Schriftstellers' - von den Tagebüchern der 20er Jahre bis zu den späten Commentarii - transzendiert die unvollendet stehengelassene Figur des Autors. Ihm nachzuhorchen, ihm, immer genauer sich einhörend, auf die Spur zu kommen, hebt uns unvermutet einen Weg unter die Sohlen, der in freieres Gelände führen könnte. Auf diesem dann sich vorzuwagen, den Doderer immer huckepack, „als eine Last von Scheitern" - ob es uns nicht auch im Eigenen ein wenig weiterbringt? Unserem „Grenzwald" zu... Oder - um es einfacher und mit seinen eigenen Worten zu sagen: es ergeht einem wie Conrad Castiletz nach gewissen unerwarteten Eröffnungen seines Schwiegervaters (M 231): man fühlt etwas wie einen neuen Raum unter sich, der zwar noch nicht eröffnet oder sozusagen angebrochen werden kann, jedoch mit seinem Vorhandensein gleichsam heraufdrückt und wie tragend, so daß man leichteren Schritts und geringeren Gewichtes zu gehen glaubt.
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Ebd., S. 115.
ANDREW BARKER
Heimito von Doderer and Peter Altenberg: An Anglo-Saxon approach As you will know, there is a world of difference between the discipline of „Germanistik" in the German-speaking world and the academic study of German literature and culture in anglophone countries. The gap may now be narrowing, but there are still those in Britain for whom the study of literature as something analogous to a scientific discipline - I am referring of course to the concept of „Literaturwissenschaft" - is at best a stränge, and at worst an abhorrent notion. Hence I found it entirely in keeping with our often differing approaches to literature that my invitation to speak at this symposium asked me to provide a perspective on the study of Heimito von Doderer which was „etwas gleichsam angelsächsisch Grundsätzliches, Großflächiges [...] ohne philologische Detailrücksichten höherer Art."' In order to fulfil this request, I feit it would be wiser to speak in English. T o use German would, I feared, have risked my falling prey to the jargon of „Germanistik". This, many so-called „Auslandsgermanisten" feel, is often used at least as much to obfuscate as to illuminate literary works. Moreover, when foreign „Germanisten" discuss German culture via the medium of their mother tongue, they already have access to an instant and powerful metalanguage. In this paper I therefore wish to demonstrate how a critic with Anglo-Saxon attitudes goes about his job: guided often by feelings, by hunches and by the opportunistic exploitation of chance and coincidence. You will notice that I am happy to speculate on the basis of what is little more than subjective Intuition, and that I pounc? gratefully on „Belege" as and when they present themselves. The whole process is a very far cry indeed from the demands of scholarly „Akribie" and „Wissenschaftlichkeit". Whether as readers or researchers, our relationships with writers often mirror those in real life. We get to know certain authors, they interest us. 1
Kai Luehrs, pers. comm.
Heimito von Doderer and Peter Altenberg
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our engagement deepens, and sometimes we may even spend the rest of Our lives together. O n the other hand, and not infrequently, we find that Our paths diverge, and we discover others who are more appealing. An initial attraction may turn to indifference, perhaps eventually even to hostility. In my own case, an early love affair with Doderer's novels, born of my days as a Student in Vienna, eventually cooled into a more distant and questioning, but nevertheless respectful acquaintanceship. However, as in any meaningful relationship, even when we move on to new literary liaisons, we also carry our past with us. More than most writers, Doderer is conscious of the meaning of the past and of memory, both in a personal and a societal sense. And as Peter Handke remarked in 1977: „Zeichen eines großen Schriftstellers (Doderer): man nimmt von ihm auch praktische Ratschläge für den Alltag an".^ As we know from the laws of Newtonian physics, any action brings about an equal and opposite reaction. Thus after spending several intimate and rewarding years with the writer who produced the most voluminous works in modern Austrian literature, I started an on-going affair with an author who is as obsessively small-scale as Doderer is vast. Both writers, however, are quintessentially Austrian, indeed, they would be amongst the first authors I would cite if asked to justify the existence of a specifically "Austrian" literary tradition. However, here is neither the place nor the time to add to that particular debate! Moreover, in a way which I had no means of anticipating when more or less abandoning Doderer for his older Viennese contemporary Peter Altenberg, there are some quite striking points of contact between the writer of the biggest novels in modern Austrian literature and the most obsessive miniaturist amongst all the Viennese writers. Strangely enough, there appears to be something about Doderer's writing which encourages foreign scholars to move on from him to the study of fin de siede Vienna. In Britain Martin Swales and in France Jacques Le Rider also launched their academic careers as „Doderer-Dissertanten". Both wem on to write highly regarded and influential work on "Vienna 1900": Swales with his critical monograph of Arthur Schnitzler, Le Rider more recently with his monumental study of "modernite viennois".' What soon Struck me was that, for all the differences in scale between Doderer's gargantuan novels and Altenberg's tiny sketches, both writers are, See Andrew Barker, "Heimito von Doderer", in: Dictionary of Literary Biography, vol. 85, Austrian Fiction Writers after 1914, ed. by James Hardin and Donald G. Daviau, Chicago 1989, p. 127. Martin Swales, Arthur Schnitzler. A critical study, Oxford 1971; Jacques Le Rider, Modernite viennois et crises de l'identite, 2nd edition, Paris 1994.
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Andrew Barker
in effea, miniaturists. As Altenberg put it in one of his most striking formulations: Denn sind meine kleinen Sachen Dichtungen?! Keineswegs. Es sind Extraae! Extracte des Lebens. Das Leben der Seele und des zufälligen Tages, in 2-3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegell Dem Leser bleibe es überlassen, diese Extraae aus eigenen Kräften wieder aufzulösen.'
The relevance of Altenberg's literary manifesto to Doderer's novels may not be immediately apparent, unless one accepts, as I believe is the case, that even Doderer's largest canvases are effectively tapestries composed from series of exquisite episodes. At the time when I was first Struck by the notion of Doderer as a miniaturist - a notion which you may well find absurd - 1 had no inkling that one of his very first stories, written while he was still a prisoner of war in Siberia, was a creative reworking of an early sketch by Peter Altenberg. I refer to Doderer's Märchen-text „Fortunatina und die Löwin" which was inspired by the sketch „Der Hofmeister" in Altenberg's book Ashantee, published by Fischer in Berlin in 1897. Of the nearly 3,000 sketches which Altenberg published in book-form during his lifetime, it was precisely this sketch which Alfred Kerr mentioned by name in his necrologue of Altenberg published m Die neue Rundschau in 1919: Dinge wie der „Hofmeister", wie manches Erbebend-Stumme sonst im unvergeßlichen Bezirk ferner Menschenblüten; das Unausgesprochene, dabei tief Sprechende: das alles war sein Werk ... oder sein Gut. Luft und Duft, Farbstufung, Ruchstimmung, Herzschlagtönung. Altenberg schafft ein Berühren der Großstädterei mit Bäumen, Berg, Seehauch, Wiese.^
This same mixture of the urban with the natural world is, of course, a pronounced feature of Doderer's writing as well. With more specific regard to „Fortunatina und die Löwin", Wendelin Schmidt-Dengler has pointed out that this fantasy of escape and liberation is a scarcely censored dream, „der Wunschtraum eines Gefangenen", but in Doderer's quasi-organic continuation of Altenberg's „Der Hofmeister", we find the confirmation of Doderer's own Observation that he was actively concerned with the literature of the Viennese fin de siede at the outset of his career.^ Doderer and Altenberg belonged to different generations, they came from very different backgrounds, and I am not aware of any personal contact between them. There was, however, at least one shared 4 5 6
Peter Altenberg, Was der Tag mir zuträgt, Berlin 1901, p. 6. Alfred Kerr, „Dem toten Peter Altenberg", in: Die neue Rundschau 30 (1919), p. 331. C II 313. See: Wendelin Schmidt-Dengler, „Das Ende im Anfang. Zu unbekannten Texten Doderers aus der Frühzeit", in: Internationales Symposion Heimito von Doderer, Vienna 1986, p. 108 - 190. See also FP 87 - 97.
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link in their biographies: Altenberg knew and wrote letters to Ben Tiber, the director of Vienna's Apollo Theater. The Viennese Jew Ben Tiber it is, of course, who appears in Doderer's Der Grenzwald disguised as the Hungarian Christian Bela Tiborski, described as „ein großer Variete-Unternehmer" (G 82). Interestingly, both Altenberg and Doderer, and to a quite unusual extent, also inspired other creative writers to use them as models for quasi-fictional characters in their own works. In Altenberg's case, he appears in works by Robert Musil, Arthur Schnitzler, Jakob Wassermann, Egon Friedell and Alfred Polgar amongst others; in Doderer's case we find him appearing in works by Albert Paris Gütersloh, Wolfgang Hildesheimer, H.C. Artmann, and Herbert Rosendorfer.^ Having become aware of various connections between the writings of my old love Doderer and my new love Altenberg, it did not take me long to observe how dose Doderer's celebrated evocation of the Anatomie des Augenblicks was to the literature of the „Wiener Jahrhundertwende", so famous for its ability to capture the mood of the fleeting moment. Even more specifically, however, I could not help but notice how, doubtless in reaction to the grand scale of his Viennese novels of the 1950s, in his „Kürzestgeschichten" the mature and celebrated Heimito von Doderer once again revealed a proximity to the now long dead and generally disregarded Peter Altenberg. In „Das Verhängnis", written in 1954/55, Doderer sings the praises of a humble lavatory attendant, and here I feel that the spirit of Altenberg, a man who reserved his genuine courtesies for the marginalised, disregarded and disparaged elements in Viennese society, lives on. The contempt which Altenberg feit for the behaviour of bourgeois men is reciprocated in Doderer's Vignette which reveals how superficial societal expectations can impede the expression and development of human emotion: Das Verhängnis Sie war noch jung, sie war hübsch und drall, gesund und froh. Nun gut, aber irgend ein Haken wird dabei sein, sonst wäre ja keine Geschichte daraus geworden. Wohlan! Sie war in fester Stellung, bei den Damen ihrer Kundschaft sehr beliebt, sie hatte auch Freude an ihrer Tätigkeit, der sie in modernen, hellen und gelüfteten weißgekachelten Räumen nachging. Nun ja, aber wir wissen doch - . Sie lernte einen jungen Mann kennen, er war ein netter Bursche, ein wohlanständiger Kerl, ebenfalls fix angestellt. Die beiden hatten einander erst zwei- oder dreimal in einem Parke getroffen. Aha! Beim dritten Male fragte er sie anteilnehmend, welchen Beruf sie denn ausübe? „Ich bin Toilettenfrau", sagte sie, blickte durch einige Sekunden verzweifelt vor sich hin, und 7
See Martin Voracek, Rand der Wissenschaft, Beginn des Magischen. Eine literar-onomastische Studie zu den Figurennamen im Werk Heimito von Doderers, Phil. Diss. Wien 1992.
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Andrew Barker
fügte, gleichsam entschuldigend, hinzu: „Am Hauptbahnhofe." „Das geht nicht", sagte er. Und verließ sie zur selben Stunde. (E 3 1 6 - 3 1 7 )
The young and pretty, but socially marginalised woman portrayed as victim of "bourgeois" male attitudes; the hopelessly conventional, callow and shallow male who causes pain to an innocent young woman; the man as "villain": all this is pure Peter Altenberg. If in the „Kürzestgeschichten" Doderer formally perpetuated the Altenberg tradition of the prose miniature at a time when it had gone completely out of fashion, there are other ways in which I believe Doderer may have reacted positively to the example of Peter Altenberg. Doderer's love of the area around Prein an der Rax, where some of his happiest boyhood hours were spent is revealed above all in Die Strudlhofstiege. Some of the most memorable and magical passages in the novel recount Rene Stangeler's excursions into the hillside meadows to catch freshwater crabs and giant snakes (S 166 f.), an activity paralleled by Altenbergs sorties in the same region to catch butterflies. And here I become more overtly speculative: we know from „Fortunatina und die Löwin" that Doderer had access to Altenberg's writing when he was a prisoner in Siberia, and we know of his love for the distant land of happy childhood days. Could it be that when Doderer was in Siberia, he came across Altenberg's lyrical sketches which evoke so memorably the landscape around Prein, Payerbach-Reichenau and the Semmering? Might it have been those sketches, conjuring up his distant and longedfor homeland, which attracted Doderer to Altenberg in the first place? It is probably no more than a coincidence, but it was in this very area of Lower Austria that both Altenberg and Doderer were introduced to the mysteries and wonders of science and the natural world. Altenberg's father was quite obsessive about the natural world, and encouraged his son to observe living creatures with awe rather than shoot them with a hunting rifle. One of Altenberg's finest collections is entitled „Semmering 1912", and I wonder if Doderer knew this book with its evocations of a landscape which he knew so well?^ Certainly, in the opening pages of Die Wasserfälle von Slunj, with its description of the railway journey on the old Südbahn and its winding traverse of the Semmering pass, Doderer joins Altenberg in the distinguished band of writers who celebrate the beauties of that majestic landscape in memorable prose (Peter Rosegger, Ferdinand von Saar and Joseph Roth spring to mind).
Neither this, nor any other work by Altenberg, is listed in the catalogue of work known to Doderer. See: Hans Joachim Schröder. Apperzeption und Vorurteil. Untersuchungen zur Reflexion Heimito von Doderers, Heidelberg 1976, p. 454 - 456.
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I move now to a final speculation which is not about the specific parallels between Doderer and Altenberg as such, but which shows how research in one area can throw up entirely unexpected data in another. In this instance it is a question neither of genre nor of biography, but of the origins of a well-known topos in Doderer's writing. I refer to the notion of the psychological „Konstruktionsfehler" by means of which the individual arrives at that State of secular grace which Doderer calls „Menschwerdung". You will recall the famous passage in Ein Mord den jeder begeht where we read: Es enthält wohl jeder Charakter einen vom Schöpfer tief eingebauten absichtlichen Konstruktionsfehler in seiner Mechanik, als die größte Gefahr, aber auch die größte Möglichkeit für das Leben des Trägers. (M 130)
I had long been Struck by the similarity between Doderer's references to the „Mechanik des Lebens" and the „Mechanik des Geistes" and Ahenberg's frequent use of the metaphor of ,die Lebensmaschinerie'. Indeed, Elke Erb uses precisely this term as the title for her excellent anthology of Altenberg's writing, published in the German Democratic Republic in 1988.' Imagine my surprise, then, as in the course of my research in the Altenberg manuscripts in the manuscript section of the Vienna Stadtund Landesbibliothek I came across a document which not only uses the specific term „Konstruktionsfehler" (M 130), but which also seems to point forward to Doderer's notion of a character caught up in a „zweite Wirklichkeit". The document, signed with the initials R. M., is an evaluation of the life and work of the 26-year-old Austrian writer, aircraft designer and test pilot Karl Josef Saliger, who was killed in June 1917 when the plane he was testing crashed at the Aspern airfield, just outside Vienna. Saliger was dose personally to both Karl Kraus and Peter Altenberg, and the essay in question was published as a „Separatdruck" of the Österreichiche Flug-Zeitschrift for 17-18 September 191Ä The printed text is inscribed by Altenberg with a typically short text dated 15.11.1917 which reads: Durch diesen „Essay" über den K.J.Saliger, lernt man nicht nur Diesen gmau kennen u. schätzen, sondern auch den Schreiher Dieses, Professor Mises, und den P.A., der es Einem zu lesen dringendst empfiehlt^}}. Also ein 3-facher Profit!'"
Mises informs us that Saliger, a grandson of the composer Karl Millöcker, was born in Vienna in 1891 and studied at the Technische Hochschule in Vienna between 1909 and 1914. However, according to Mises, Saliger lived in a world of ideas quite at odds with the environment in which he studied. The conflict between the world of technology and that of the 9 10
Peter Altenberg, Die Lebensmaschinerie. Feuilletons, ed. by Elke Erb, Leipzig 1988. Wiener Stadt- und Landesbibliothek, LN. 115.815.
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spirit inspired him to various literary and artistic projects, in a manner which may remind us of the example of both Robert Musil and Robert Müller. In the spring of 1914 Saliger was moved to write a text entitled „Ikarus", inspired by the death of a pilot in a flying accident. Mises provides a long quotation from this work: Der Apparat des Oberleutnant Eisner ist abgestürzt, der Flieger ist tot. Seine Braut sah ihn abstürzen. Das Unglück geschah durch einen Konstruktionsfehler. - U n d so fliegen wir täglich der Sonne zu und eilen zum Sturz. Er wollte die Schwerkraft überwinden und die Erde wurde ihm leichter. Neben der Leiche, am Boden gekauert, unter den Trümmern sitzt ein junges Weib und stöhnt. [...] Aber wir halten nicht, wir fliegen weiter. Weil wir einen Konstruktionsfehler haben und weil dieses ganze Leben so ganz und gar voll Technik und Apparaten ist [...] Nichts ist mehr echt, das ganze Leben ist künstlich, alles ist Apparat und Maschine. Wir werden in Bahnen gepreßt, wir denken wie Tiere mit Scheuklappen: Vorwärts, der Sonne entgegen! Und wir sehen die Sonne nicht, die Konstruktion verdeckt sie. [...] Es ist ein Weltbrand, den alle Wasser des Ozeans nicht löschen werden. U n d das Einzige, das entbrennen sollte, haben wir ausgelöscht: das Weib. Mit dem Gürtel der Sitte sitzt es auf einem Apparat und schaut mit toten Augen in den großen Brand; und kann nicht mehr begreifen. [...] U n d eine Riesenlohe schlägt zum Himmel auf. Wir sind der Sonne zu nahe gekommen. Das Unglück geschah durch einen Konstruktionsfehler. U n d neben den Trümmern sitzt die Natur und stöhnt."
Given his own death in very similar circumstances only three years later, there is something eerily prophetic about Saliger's text. As Mises notes, it became Saliger's life's work to correct the „Konstruktionsfehler" which caused Elsner's plane to crash. It also became an obsession with Saliger to come to terms with what he reckoned was the metaphorical „Konstruktionsfehler" in modern life - „die geistlose Hast des modernen Lebens". Yet Saliger himself eventually feil victim to what Doderer would undoubtedly have called his „Befangenheit" in a State of „zweite Wirklichkeit". In his all-consuming passion for aerobatics, for reaching for the stars, Saliger took off once too often and killed both himself and his co-pilot. As Mises notes, Saliger was a decent and caring human being, yet he still asks the question: „Mußte er an der Schwelle des Erfolges sterben, weil es ihm an Demut mangehe, weil er zu eifervoll gegen andere war und ohne Mitleid?" Whether Doderer knew of either Saliger or of Mises' essay is a question I cannot answer. However, of the proximity of this text both to the vocabulary and the substance of Doderer's thought there can be little doubt. Without wishing to speculate any further (and I feel I have already speculated quite enough!), I would like to conclude by suggesting that at the very least such material affirms the roots of Doderer's language and II
Ebd.
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thought in the culture of expressionism which, in its inimitably paradoxical way, saw human beings as both demons and machines. The Unk with Altenberg can be provided, at a conceptual level at least, by an Observation of Robert Musil's in 1919, who intuited the essential relationship between the Hterature of expressionism, of which the early Doderer was in some respects an example, and that of impressionism, of which Abenberg is a notable exponent: Expressionismus das wäre der Gegensatz zu Impressionismus. (Sie alle - die Expressionisten - folgen Augenblickseindrücken, sind also Impressionisten.) Aber was ist mit Impressionismus gemeint.' Die Skizzen Altenbergs? Man könnte sie Impressionen nennen, aber ebensogut kleine Reflexionen und je älter er wird, desto mehr tritt das rezeptive Element hinter das reflexive zurück.'^
As you will have noticed, this paper ends some distance away from the topic which provided the title. But that is what happens when an undisciplined Anglo-Saxon is allowed free rein. As I am sure you have realized, this paper is a blatant example of „eine Einstellung zur Literatur, die im kontinentalen Raum vielfach fehlt". F o r me it was a „Mordsspaß", but you might well wish to cite the Anglo-Saxon Mr Aldershot: „das ganze ist doch ein Mordsblödsinn." T o which I would respond with the words of D r Döblinger: „Ja freilich, freilich Blödsinn! [...] Wie denn anders?! Und was denn sonst als Blödsinn? Alles Unsinn -" * * Verprügelung mangels Mannschaft unmöglich.
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(Mer 363)
Quoted in: Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung, ed. by Paul Raabe, Munich 1965, p. 160-161.
GERALD SOMMER
Doderer und Weininger. Anmerkungen zur produktiven Rezeption höchst fragwürdiger Ideologeme Bald 100 Jahre nach seinem Tod sind Nachruhm und Geltung Otto Weiningers - und man kann hier durchaus von Weltgeltung sprechen -, die ihm in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts fraglos zukamen, kaum noch nachzuvollziehen. Sein einstiges Opus magnum wie eximium Geschlecht und Charakter,^ in jener Zeit noch Teil des bürgerlichen Bildungskanons, wird heute selten anders, denn als befremdliches Apergu abendländischer Geistesgeschichte zur Kenntnis genommen. Nach Lektüre dieses dickleibigen Werkes sind derzeit zumeist nicht nur Otto Weininger selbst und sein Denken suspekt (sofern sie diese Anhäufung aufgeputzter Vorurteile denn überhaupt als ernstzunehmende Gedanken anerkennen), sondern in der Folge auch jene prominenten Rezipienten dieser prinzipiellen Untersuchung, wie - um nur einige wenige zu nennen - Karl Kraus, Heimito von Doderer oder E.M. Gioran,^ die Geschlecht und Charakter zustimmend bis begeistert aufgenommen haben. Es kann naturgemäß nicht meine Aufgabe sein, zu diskutieren, welcher Stellenwert Weiningers Werk heute noch zukommen mag; statt dessen will ich im folgenden versuchen, den speziellen - Dodererschen - Fall einer Weininger-Rezeption zu skizzieren, der wie ich meine, mehr als nur ein Fall unter vielen ist. Doderer nimmt Weininger vergleichsweise verspätet zur Kenntnis, nicht, wie man angesichts wohlgefüllter Bücherschränke im Elternhaus und gut ausgestatteter russischer Offizierslager-Bibliotheken vermuten Zitiert nach O t t o Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, 18., unveränd. Aufl. Wien, Leipzig 1919. Bei Zitaten aus Geschlecht und Charakter entsprechen die Sperrungen dem Original, Fettdruck wird kursiv wiedergegeben. Vgl. Jacques Le Rider, Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus. Mit der Erstveröffentlichung der REDE A UF OTTO WEININGER von Heimito von Doderer, überarb. und erw. dt. Ausg. Wien, München 1985, S. 233.
Doderer und Weininger
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könnte, in den 10er, sondern erst in den 20er Jahren. Und mehr als eine Absicht zur Rezeption ist bei Doderer zunächst auch nicht vorhanden, und selbst diese Absicht wird noch aus anders gerichteten Notwendigkeiten abgeleitet. Drei Monate nach seiner Heimkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft geht Doderer selbstkritisch mit sich ins Gericht: Dein Intellea, verweichlicht, träge und fast ganz unausgebildet, bedarf wenigstens ein Mindestmass von Schärfe um als Instrument überhaupt practicabel zu sein: Ein Berg von Kenntnissen und Einsichten ist zu erringen; bei dieser Aneignung wird ja der Kopf Gelegenheit haben sich zu üben! (TB 9)
Es ist die Aufnahme des Studiums, der Besuch von „Vorlesungen der philosophischen Facultät", der ihm dies noch deutlicher vor Augen führt: „ich [fühle] quälend und drängend, was es noch für mich alles zu lernen, zu sondern, durchzudenken und zu erkennen gibt - " (TB 11). Diese Erkenntnis eigener intellektueller Defizite und des Fehlens einer soliden bürgerlichen Bildung schlägt sich auch in der Leseliste nieder, die er - neben anderen Fortbildungsprogrammen - ans Ende seiner Eintragung vom 18. November 1920 stelh. Der darin aufgestellte Kanon entspricht, gäbe es nicht eine - aus heutiger Sicht - irritierende Ausnahme, perfekt dem klassischen bürgerlichen Bildungsideal: „Zu lesen wären: Goethe, Kant, Schopenhauer, Schiller, Weininger - diese vor allem; aber noch viel anderes. [/] An allen Ecken u. Enden fehlt es mir an durcharheitetem [...] intellectuellem Eigentum:" (TB 12) Eine knappe Reihe von Klassikern und, wie man damals, 1920, zwar nicht formuliert, so doch umschrieben hätte: ein .Klassiker der Moderne', Otto Weininger. Für dessen Rang eines Klassikers spricht auch, daß lediglich Autoren, aber keine Werke genannt werden. Doderer hat zweifellos das jeweilige Gesamtwerk dieser doch recht willkürlich (weder alphabetisch noch historisch noch nach ihrem Metier korrekt) aufgereihten Geistesgrößen intendiert. Seine zeitkonforme Rubrizierung von Otto Weiningers Geschlecht und Charakter unter die geistesgeschichtlichen Essentials entspricht im übrigen gesellschaftlicher und familiärer' Prägung. Bis auf den letztgenannten kann dieser Kanon auch heute noch Gültigkeit beanspruchen; warum Weininger sich darin nicht halten konnte, kann vielleicht ein Zitat verständlich machen: Die Einwohner von der Küste von Neuholland haben halbgeschlossene Augen und können nicht in die Ferne sehen, ohne den Kopf auf den Rücken zu bringen. Daran gewöhnen sie sich wegen der vielen Mücken, die ihnen immer in die Augen fliegen.^
3 4
Vgl. T 231: „Ich war ein kleiner Bub, aber ich war doch dabei und hörte die jungen Leute in meinem Elternhause über Weininger diskutieren." Immanuel Kants physische Geographie. Auf Verlangen des Verfassers aus seiner Hand-
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Gerald Sommer
Zweifellos eine Otto Weininger würdige Auskunft, genauer, eine unkritische Wiedergabe angelesenen Unfugs, der aber, ich bitte diese Finte zu entschuldigen, vom ,Kritiker der reinen Vernunft', dem Vater der Aufklärung in Deutschland, von Immanuel Kant, stammt. Gewiß kein repräsentatives Beispiel für Kant, sicher aber eines für das glatte Versagen des kritischen Verstandes, bei dem schlicht Unsägliches für bare Münze genommen wird, sozusagen ein Vor-Fall, der bei der Weininger-Rezeption zum Regelfall wurde, womit die Weininger-Rezeption im Grunde kategorisiert wäre und wir uns weitere Ausführungen darüber sparen könnten, so sich denn die Doderersche Weininger-Rezeption allein damit erklären ließe... Weininger zählte - noch ungelesen - zu Doderers Favoriten. Er ist es bis an Doderers Lebensende geblieben, was man von Kant nicht gerade behaupten kann. Es stellt sich die Frage: Was hatte Weininger Doderer zu bieten, was Kant ihm nicht bieten konnte? Zunächst geht es Weininger wie vielen Idolen a priori: sie werden auf einen Sockel gestellt, aber einstweilen - nicht gelesen. Wohl erst im Jahre 1923' nimmt sich Doderer (und nicht zum letzten Mal)^ Weininger vor. Erstaunlicherweise schlägt sich diese Lektüre jedoch nicht in seinen Tagebüchern der Jahre 1923 bis 1927 nieder: Weininger wird weder zitiert, noch wird auf ihn verwiesen; die Lektüre bleibt, so scheint es, gänzlich folgenlos. Daß dem nicht so war, läßt sich indes anhand der in jenem Zeitraum entstandenen Prosatexte Doderers nachweisen: Diese wurden sichtlich von Weiningerschen Ideologemen beeinflußt, und auch in den Skizzenbüchern, die sich auf diese Werke beziehen, finden sich explizite Hinweise. So zeigt sich etwa bei dem ursprünglich als Divertimento konzipierten Fragment Jutta Bamberger der Einfluß der Fließschen, via Freud und Swoboda vermittelten Weiningerschen Theorie der Bisexualität^ beider Geschlechter auf Schrift herausgegeben und zum Theil bearbeitet von D. Friedrich Theodor Rink, in: Immanuel Kant, Werke [Akademie-Textausgabe], Bd. I X : Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Berlin, New Y o r k 1968, S. 1 5 1 - 4 3 6 , hier: S. 315. 5 6 7
Vgl. Lutz-W. Wolff, Heimito von Doderer, Reinbek b. Hamburg 1996, S. 23. So vermerkt Doderer etwa in seinem „Notizbuch. 1947", Ser. n. 14.202 der Ö N B , am 24. Mai 1947: „Lect/Weininger/G. u. Ch./letztes Kapitel". Weininger geht aus von der „Bisexualität alles Lebenden" (Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, a.a.O., S. 12). E r meint damit den Aufbau allen Lebens aus männlichen und weiblichen Anteilen. E r postuliert im folgenden „Mann und Weib" als „Typen", die „in der Realität nirgends rein sich vertreten finden" (ebd., S. 30) und als ideelle Prinzipien einer „auf Begattung gerichtete[n] Anziehung" (ebd.) unterliegen. Als Gesetz postuliert er: „Zur s e x u e l l e n V e r e i n i g u n g t r a c h t e n i m m e r ein ganzer M a n n (M) u n d ein ganzes W e i b ( W ) z u s a m m e n zu k o m m e n , wenn auch auf die zwei verschiedenen Individuen in jedem einzelnen Falle in verschiedenem Verhältnisse verteilt." (Ebd., S. 33) Aufgrund solcher Zusammensetzungen
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die Gestaltung der Titelfigur. Da schon bei Grundlegung dieser Theorie der Bisexualität sozusagen justiziable Urheberrechtsstreitigkeiten stattgefunden haben, wäre es nicht nur müßig, sondern geradezu \xnsmm%, Jutta Bamberger hier als Paradebeispiel präsentieren zu wollen. Obendrein dürfte es schwer sein, bei der als Lesbe angelegten Figur Jutta Bamberger die Einflüsse der Weiningerschen Theorie von jenen konventioneller und gängiger Alltagstheorien (Stichwort ,Mannweib') zu scheiden. Wesentlich eindeutiger ist dagegen eine Notiz im Skizzenbuch von 1924, die sich auf den vierten Satz des Divertimento No I bezieht: Fall 1. / Pat.[ient] (weibl.[ich]) sehr erregt / Sieht Gold in einer Schachtel auf dem Dach des [unleserlich] u.[nd] eine kleine Silberkrone: plötzlich Psychose damit einsetzend. [...] dagegen symbol.[ischer] Sinn! Das Gold in einer Schachtel (!) Universelle Symbolik (Weininger) in Träumen und [unleserlich] Bei den Kranken das svmbol.fischel Denken stärker ausgeprägt, als bei Gesunden!'
Im vierten Satz des Divertimento No I heißt es dann: „Sie [Rufina] wurde abgelöst und ging danach gleich mit Adrian weg. Die Straßen [...] waren fast verdeckt [...] durch den flutenden Prunk letzter Sonne, deren Gold über alle Dachkanten träufte [...]" (E 32) bzw. „[...] die letzte Sonnenglut griff von rückwärts um ihre Gestalten, deren Umrisse förmlich flammten [...]" (E 33). Unmittelbar danach setzt bei Rufina Seifert die Psychose ein. Ohne wesentliche Änderungen übernimmt Doderer hier ein Weiningersches Theorem und stellt es in den eigenen Kontext. Trotz dieser offensichtlichen Wirkung fällt der Name Weininger erst Jahre nach der ersten Lektüre erneut und offenbart zugleich - durchaus nicht erwartbar - eine tiefe Vertrautheit, denn mittlerweile hat der Name Weininger für Doderer eine repräsentative Funktion, genauer: er gilt ihm als eine Art Lokalgottheit und ist mithin zu etwas - für Doderer - Selbstverständlichem geworden. Dies wird deutlich in einer ins Tagebuch eingetragenen Extrema vom 26. Oktober 1932: extr • mein Vater (in jüngeren Jahren).... 1. Stock. Sein Porträt.... Somma, summsumm, Brombeeren (Assonanzen ->) ~ Schwarzspanierstrasse, Tramway, Weininger, physiologisches Institut, schöne Studentin Universitätsviertel, abends, Winter, Mechner, Cafe Laudon, Gusti und ich Jänner 32 (ich rang um sie rein sexus) ~ Brennende Kerzen. (TB 551 f.)
Abgesehen davon, daß der Seelenzergliederer Weininger assoziativ mit jenem medizinischen Institut verbunden wird, in dessen Räumlichkeiten auch heute noch die Sezierübungen der Medizinstudenten abgehalkommt er zu folgendem Urteil: „ N u r der M a n n in ihnen [den Frauen] ist es, der sich e m a n z i p i e r e n will." (Ebd., S. 81) Zur Gestaltung der Figur Jutta Bamberger vgl. bes. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, a.a.O., S. 66 f. Heimito von Doderer: Ser. n. 14.108 der Ö N B („Skizzenbuch 2. 1924"), fol. 31v f.
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ten werden, scheint dieses Zitat zunächst nur wenig aussagefähig zu sein. Dennoch möchte ich behaupten, daß es in aller Kürze zwei zentrale Punkte der Dodererschen Weininger-Rezeption zusammenfaßt. Einerseits zeigt sich hier eine Funktion Weiningers, die sich dauerhaft für Doderer erhalten hat und auch in den späten Commentarii noch gültig erscheint: Weininger war (neben anderen) für Doderer zu einem Repräsentanten des neunten Wiener Gemeindebezirks, des Alsergrundes, geworden, und er ist es auch in späteren Jahren geblieben, wie die meisten der auf Weininger bezüglichen Eintragungen in den Commentarii, etwa die vom 26. November 1957, belegen: „Ich hake sie [die Gegend des Aisergrundes] für eine Centrai-Gegend der Wiener Geistesgeschichte. Weininger, Swoboda, Lucka."' Andererseits beinhaltet diese Extrema eine formale Aussage, die nur allzuleicht übersehen werden kann. Doderers höchst originäre Prosaform der Extrema besteht beinahe immer aus assoziativ erinnerten und sprunghaft weit Auseinanderliegendes kombinierenden hochsubjektiven Textpartikeln. Man könnte sie auch und durchaus im Weiningerschen Sinne als henidäre Cluster bezeichnen. Doderer war sich über ihren Ursprung zweifellos im Klaren und hat ab Juni 1932 eine Vielzahl von Extremas mit Ergänzungen wie „henidäre expression" (TB 504), „henidäre Kontur" Ij:^ 505), „henidäre Aufnahme" (^X^ 518) oder schlicht „henidär" (TB 551) versehen. Insofern ist der Einfluß Weiningers auf Doderers Art, ein Tagebuch zu führen, mit Beginn der 30er Jahre geradezu bestimmend. Durchdrungen vom Willen zu formaler Gestaltung auch seiner Tagebücher hatte der Tagebuchschreiber Doderer zuvor bereits mehrere Phasen durchlaufen, so die der schon bald als Fehlentwicklung erkannten Chronik oder jene des nach Dostojewski benannten „,Tagebuch[s] eines Schriftstellers' (71 B. 5.)" (TB 281). Ende Juli 1931 jedoch scheint ihm die „erstrebenswerteste Form des Tagebuches einfach eine Kette von ,Extremas"' zu sein, die er auch als „Notationen der wesentlichen Biographie" (TB 376) begreift. Bis in die Mitte der 30er Jahre werden die Tagebücher von den Extremas determiniert und auch in späteren Jahren tauchen sie - wenn auch wesentlich seltener - in den Tagebüchern auf. In ihrer Summe bilden sie das Ausgangsmaterial für ein Erinnerungsmosaik, anhand dessen sich der Mensch Doderer seiner selbst versicherte, welches dagegen der Autor Doderer ohne Umstände als MotivC II 55; vgl. auch C I 269 (23. Januar 1954), 546 (3. August 1956) und C II 51 (25. August 1957), 52 (21. September 1957), 165 (16. Februar 1959), 166 (24. Februar 1959), 329 (6. Juni 1962).
Doderer und Weininger
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Steinbruch für Romane und Erzählungen benutzte. Man würde sich indessen täuschen, wenn man aus dem nur noch sehenen Erscheinen der Extremas etwa in Doderers letzten Lebensjahren folgern würde, daß sie für den Autor an Bedeutung verloren hätten. Das trifft nur zum Teil zu, denn Extremas wurden zwar weiter produziert, aber nicht mehr ins Tagebuch eingetragen oder von diversen Skizzenbüchern etc. ins Tagebuch übertragen. Funktion und Bedeutung der Extremas für die ProsaProduktion bleiben dagegen, wie eine Eintragung vom Juni 1965 belegen kann, in vollem Umfang erhalten: ,yRVlI • Jetzt wohl - für pag. 83 die Extr.-Reihe ,reinliche Freuden' - unser Frühstückstisch im Grünen zwischen den Büschen." (C II 463) Weininger ist also via Extremas gleichermaßen offensichtlich wie unmerklich durch viele Jahre in Doderers Tagebüchern präsent. Doderer verdankt ihm jedoch noch etwas, was Weininger so nie beabsichtigt hätte, die Courage nämlich, zu dem eigenen ,Gedenkser zu stehen, die Zuversicht, aus sich selbst heraus jene Inhalte schöpfen zu können, deren formale Gestaltung Literatur entstehen ließ: Man muß sich beim Denken nur getrauen, man muß seinen untersten Heniden folgen und wenn die Gegensatzpaare in einem noch so seltsamen oder sagen wir allzu-individuellen Kostüm - es ist das des Traumes - auftreten: niemand verlangt, daß wir uns in solcher Gesellschaft öffentlich zeigen: zudem, wer sich beim Denken gerade darüber Gedanken macht, der hat nie gedacht. (T 230)
Im Anschluß an diese Ausführungen erweist Doderer folgerichtig dem seine Reverenz, der ihm - wenn auch ohne dies zu beabsichtigen - die Basis seiner Kunst gelegt hat: „Was jedoch die ,Heniden' angeht, so wäre es bald Zeit, dem Doktor Otto Weininger ein Denkmal zu setzen, welches ihm allein schon für die Findung dieses Begriffs [...] gebührte." (T 230) Geschlecht und Charakter wirkte auf Doderer im Grunde kaum anders als in den Dämonen beschrieben: Leonhard zog den Weininger nach vorn und schlug das Buch [...] ungefähr in der Mitte auf. Und damit war Stangelers Geschoss abgelenkt. Es erzeugte indessen einen Geller merkwürdiger Art. Die Mitte der linken von den beiden aufgeschlagenen Seiten war ganz von einem lateinischen Texte ausgefüllt. [...] Leonhard las und erfuhr [...]: daß er Lateinisch verstand. Es war eine zitternde Freude [•••] Leonhard biß nicht auf den Inhalt; allein das scheint uns von entscheidender Bedeutung. Der Schock, den er erlebte, blieb ein höchst persönlicher: daß er Lateinisch konnte, und dies von Pico della Mirandola erfuhr (den Namen sagte ihm alsbald der glorreiche Weininger). Der Schock blieb ein sprachlicher. (D 657 ff.)
Der sprachliche Schock, den Doderer seine Figur Leonhard erleben läßt, als dieser erkennt, daß er Latein versteht, dürfte bei dem Autor
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selbst kaum geringer ausgefallen sein, als er bemerkte, daß er mit seinen Extremas eine ureigenste Sprachform gefunden hatte, die ihm erlaubte, kaum bewußte Zustände auszudrücken und ihm damit zugleich ein Motiv-Material zur Verfügung stellte, das sich in der Folge zu einem Fundus für seine Kunst auswachsen sollte. Daß dies kaum in der Intention Weiningers gelegen haben konnte, muß Doderer zweifellos klar gewesen sein. Nicht ohne Grund spricht er von einem „Geller merkwürdiger Art"; die Henide ist nämlich nur eines von vielen Mitteln, die Weininger einsetzt, um das Prinzip „W", also das weibliche Prinzip, abzuwerten: Nach Weininger geht einem neuen Gedanken stets eine „Henide" voran, ein „Vorgedankenstadium", wo „fließende geometrische Gebilde, visuelle Phantasmen, Nebelbilder auftauchen und zergehen, [...] verschleierte Bilder, geheimnisvoll lokkende Masken" sich zeigen.'® Die Heniden seien erkennbar, aber nicht beschreibbar." Im weiteren unterscheidet Weininger daran „M" und „W": „W" denke nur in Heniden, „Denken und Fühlen" seien ungetrennt, „M" denke dagegen, artikuliere und scheide beides.'^ Doderer ignorierte konsequent, daß er, der sich gern und erfolgreich im henidären „Vorgedankenstadium" bewegte, sofern er die Weiningersche Argumentation in ihrer Gänze berücksichtigt hätte, einen Überschuß von „W" in sich hätte registrieren müssen, womit er wiederum, nach Weininger, keinesfalls ein großer - männlicher - Denker oder Künstler hätte sein können. Statt dessen wertete er den von Weininger übernommenen und anverwandehen Heniden-Begriff unter Nichtbeachtung wesentlicher Konsequenzen zur attraktiven Grundlage seines Schreibens um. Ungeachtet der für Doderers Weininger-Rezeption durchaus typischen Tendenz, mit dessen fragwürdigen Ideologemen zwar partiell unkritisch umzugehen, ihn jedoch zugleich in sinnvoller Weise für seine eigenen kreativen Prozesse einzusetzen, entwickelt sich Geschlecht und Charakter für Doderer ab Mitte der 30er Jahre zu einem Orientierungspunkt, auf den er eigene Auffassungen bezieht und sie daran mißt: In einer Notiz vom 14. November 1936 [...] erwähnte ich metaphorisch [...] den zu frühen Entgang des Samens (eiaculatio praematura) [...]. Ich habe einen Einzigen gekannt, der angeblich darunter litt, [...] dieser Mann war Jude. Den Juden sagt Weininger, sozusagen am Rande seines berühmten Traktates, überhaupt eine mit grosser Lüsternheit verbundene Impotenz nach. Ob er da recht hat, möchte ich bezweifeln [...] (TB 958)
Die Bezüge auf Äußerungen Weiningers folgen stets dem gleichen Muster: Doderer diskutiert eine Sache, sei dies nun die „eiaculatio praematu10 11 12
Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, a.a.O., S. 117. Ebd., S. 121. Ebd., S. 122.
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ra" oder - an anderer Stelle - die „geschlechtliche Enthaltsamkeit" (TB 958) oder die Frechheit (CI457). Darauf zitiert er ein Wort des Propheten: Juden geil und impotent' („eine mit grosser Lüsternheit verbundene Impotenz"), Weininger unterscheide in jenem Fall den „ContrectationsTrieb" vom „Trieb zur Detumeszenz" (TB 959) bzw. definiere die Frechheit als „.Anspruch ohne Willen zum Wert'" (CI457)." Doderer beschließt die Diskussion mit einem Standpunkt, der jedoch im Regelfall nicht auf der herbeizitierten Meinung Weiningers beruht. Erhellend für dieses Stadium seiner Weininger-Rezeption ist ein auszugsweise im Tagebuch wiedergegebenes Gespräch Doderers mit Hermann Swoboda, in dessen Verlauf er Swoboda gegenüber erklärt, Gütersloh habe „Weiningern einen ,neuen Kirchenvater' genannt" (TB 881). Und kirchenväterlich mutet denn auch an, auf welche Weise Doderer sich auf Weininger bezieht. Weininger wird - als Institution im Sinne eines ,neuen Kirchenvaters'- ,gehört', da seine Ansicht zum jeweiligen Gegenstand zwar nicht notwendigerweise maßgeblich für die eigene Auffassung sein muß, seiner Autorität wegen aber in jedem Falle ,anhörenswert' ist. Diese Art des Anknüpfens legt eine große Vertrautheit Doderers mit dem Werk Weiningers nahe und läßt auf eine oder mehrere (Teil)-Lektüren von Geschlecht und Charakter, wahrscheinlich unter dem Einfluß Güterslohs, schließen. Die anfänglich im bürgerlichen Bildungs-Kanon beheimatete Schrift Weiningers ist damit für Doderer vollends zur kanonischen Schrift geworden. Die Gründe dafür finden sich in Doderers REDE AUF OTTO WEININGER}^ Darin würdigt Doderer Weininger als „psychologisches Genie", das im „Material [...] der Geistes-Geschichte" agiert, die durch sein „Auftreten [...] einen ihrer Selbstheilungs-Processe accentuiert".'^ Weiningers Erkennen sei ein .entscheidendes Bewegen' der „Mechanik des Geistes" gewesen und zugleich deren .Ausrenkung' (Erkrankung), welche dann wiederum die .Einrenkung' (Heilung) erfordert habe: ,Se ipsum sanans repperit remedium malignitatis aevi.' Sich selbst heilend, entdeckte er das Mittel gegen die Zeitkrankheit. Dieser Satz exponiert die wesentliche Biographie vieler bedeutender Geister, bedeutend, weil sie [...] für [...] eine Aus- und Einrenkungsoperation im Reiche der Ideen [dastanden]."
Zweifellos, für einen Uberwinder der Zeitkrankheit ist der Rang eines 13 Vgl. hierzu auch TB 970, T 499 f. und T 630. 14 Heimito von Doderer, „REDE AUF OTTO WEININGER", hrsg. und mit einer Vorbem. vers. von Wendelin Schmidt-Dengler. In: Jacques Le Rider, Der Fall Otto Weininger, a.a.O., S. 245-249. 15 Ebd., S. 247 f. 16 Ebd., S. 248.
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»neuen Kirchenvaters' durchaus angemessen. Diese Position allein liefert indes noch keine Antwort auf die Frage, ob - und wenn ja wie - der postume Aufstieg Weiningers Doderers Literaturproduktion ab Mitte der 30er Jahre beeinflußt hat. Mit der Beantwortung dieser Frage komme ich zum letzten, und, wie ich meine, avanciertesten Stadium von Doderers Weininger-Rezeption. „Was jedoch die ,Heniden' angeht, so wäre es bald Zeit, dem Doktor Otto Weininger ein Denkmal zu setzen" (T 230), so Doderers Notiz vom 5. August 1944, mithin zu einem Zeitpunkt, als bereits erste Keime und Probetexte für die spätere Strudlhofstiege im „Carnet rouge" fixiert waren. ^^ Es ist im Grunde nur wenig verwunderlich, daß Doderer zwischen die erinnernden Improvisationen, die später teilweise fast wörtlich in die Strudlhofstiege integriert wurden, ein leidenschaftliches Lob der Henide gesetzt hat: „[...] freilich muß hinter allem und unter allem eine Henide als Blüte stecken - oder es ist das Nichts dahinter, es ist nichts dahinter, nichts darunter, sondern nur das Eis toten Worts wie von seitwärts über dem sumpfigen hohlen Abgrund gefroren, der kein Lebenswasser mehr hat" (T 108 f.). Die Einlösung der an keinerlei explizite Bedingung geknüpften Absicht, Weininger ein Denkmal zu setzen, findet sich, wie ich hier lediglich skizzieren kann,'® in Doderers Roman Die Strudlhofstiege. Anhand einer Analyse des Lebens der Mary K. bzw. der auf sie bezogenen Motive und der auf diese Weise dechiffrierten, in ihr manifesten Zeitkrankheit läßt sich nachweisen, daß Weiningers Ansichten zu Weib, Judentum und Erlösung - abgesehen von einer einzigen, aber entscheidenden Abweichung von den Weiningerschen Prämissen^' - von Doderer als Maßgabe für die Gestaltung dieser Figur eingesetzt wurden. Zudem erweist sich die Figur Mary K. auf mehreren Textebenen jeweils in unterschiedlicher Weise als direkt mit dem fiktionalisierten Bauwerk Strudlhofstiege verbunden. Eine sinnstiftende Verbindung aller dieser 17
Vgl. T 1 0 3 - 1 1 6 .
18
Vgl. dazu Gerald Sommer, Vom „Sinn aller Metaphorie". Zur Funktion komplexer Bildgestaltungen in Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege" - dargestellt anhand einer Interpretation der Entwicklung der Figuren Mary K. und Melzer, Frankfurt a.M. [etc.] 1994, S. 169 - 180.
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Gemeint ist hier Doderers Auffassung des Eros: „Die Frauen kennen sehr wohl die feinen und unerbittlichen Grundgesetze der Liebe. Und der Mann kennt die ebenso beschaffene Mechanik des Geistes. Wenn beide tief genug in ihren beiderseitigen Boden sinken, dann erweist sich dieser als identisch und ein Gegensatz zwischen Geist und Eros als barbarischer Irrtum, dem gleichwohl sogar ein hl. Paulus erlegen ist. [ / ] [...] p.s. und übrigens auch der Doctor O t t o Weininger, ein wahrer Kirchenvater unserer Zeit, wie Gütersloh ihn genannt hat." (C II 306 f.)
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Textebenen gelingt erst über den Bezugspunkt Weininger. Doderers Adaption der Weiningerschen Welt-Anschauung und deren fiktionale Reproduktion als Welt im Roman erlauben somit, die Zuweisung einer Denkmals-Funktion der fiktionalisierten Strudlhofstiege für den „glorreichen" Otto Weininger nachzuvollziehen. Wesentlich wichtiger als diese Thesen, die in ihrer Reduktion hier wohl nur schwerlich zu überzeugen vermögen, erscheint mir jedoch eine Folgerung, die sich daraus zu ziehen anbietet. Doderers im strikten Gegensatz zu Weininger stehende Auffassung des Eros, welche die für die Gestaltung der Mary K. maßgebliche Ausgangsbasis Weiningerscher Theoreme entscheidend veränderte, belegt, daß die Strudlhofstiege wesentlich mehr ist als nur ein aus Versatzstücken zusammengeschusterter Ideenroman. Weiningersche Gestaltungsprämissen wurden hier nämlich - im Gegensatz etwa zur bloß passiv-epigonalen Umsetzung von Detail und These im Divertimento No I - produktiv zur Formulierung und Vermittlung eigenständiger Inhalte eingesetzt. Der gemeinsame Fall Doderer und Weininger ist - zumindest für heute - abgeschlossen; die Literaturwissenschaft wird ihn indes kaum so schnell ad acta legen können, denn das Thema der Krankheit bzw. der Zeitkrankheit^° spielt in allen Romanen Doderers seit Ein Mord den jeder begeht eine relevante (wenn nicht eine bestimmende) Rolle und damit wohl auch das Werk des ,Überwinders der Zeitkrankheit' Otto Weininger. Um noch einmal eine weiter oben gestellte Frage aufzunehmen: was hatte Weininger Doderer zu bieten, was Kant ihm nicht bieten konnte? Und um eine Antwort nicht schuldig zu bleiben: Weininger war für Doderer adaptierbar, Kant nicht - zugegeben, dies scheint recht subjektiv, aber wie denn anders als auf subjektive Weise verläuft eine Rezeption?
20
Vgl. Gerald Sommer, Vom „Sinn aller Metaphorie", a.a.O., S. 7 4 - 8 0 (zur Strudlhofstiege) und 174 f. (Fußnote 6 9 7 z u m Mord).
WOLFGANG RATH
Leben als maximale Forderung. Der „Andere Zustand" bei Robert Musil und Heimito von Doderers „Erste Wirklichkeit" Im Wien der zwanziger Jahre sind kaum gegensätzlichere Positionen als die von Musil und Doderer vorstellbar. Musil besticht durch seine messerscharfe Essayistik, die jede Beziehung und Bindung seziert, Sinn, Geschichte und Geschichten zerstückelt. Uberlieferter Sinn ist für ihn ein Scherbenhaufen, in dem der eine oder andere Splitter aufgehoben, betrachtet und mit einem anderen mehr oder weniger beliebigen in Beziehung gesetzt wird oder nicht. Doderer dagegen pocht eigensinnig auf sogenannte „Zusammenhänge", auf Sinnentwurf und Narrativik. Es wird im folgenden darum gehen, diese gegensätzlichen Positionen zu vergleichen und an den Spitzen der Gedanken einander berühren zu lassen. Es geht also um den Berührungspunkt dieser unterschiedlichen Dichtungen, genauer um den Punkt, den Doderer „die erste Wirklichkeit" nennt und Musil den „anderen Zustand". Musil hat die berüchtigte „transzendentale Obdachlosigkeit des Subjekts" (Georg Lukäcs), sein Ausgeliefertsein an das Zufällige, Heterogene, Widersprüchliche und Diskrepante diagnostiziert. Die Moderne hat keinen eindringlicheren Protagonisten als ihn. Und es gibt dagegen keinen trotzigeren Gegenspieler als Doderer, der seine Erzählfiguren im Kampfergeruch alter Bücher immer wieder zu ihrer so bezeichneten „Menschwerdung"' führt. Der Gegensatz zwischen beiden ist von Claudio Magris bündig zusammengefaßt worden. Doderer gehe es um die Restauration des „Echten und Ursprünglichen". Musil dagegen stehe da „als der Gegensatz zum Organischen und als Negation des Heiligen oder besser als die Beseitigung des Problems einer Beziehung zum Heiligen".^ Das ist die Vgl. Frank Trommler, Roman und Wirklichkeit. Eine Ortsbestimmung am Beispiel von Musil, Broch, Roth, Doderer und Gütersloh, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1966, S. 137 ff. Claudio Magris, „Doderers erste Wirklichkeit", in: ders., Der Ring der Ciarisse. Großer Stil und Nihilismus in der modernen Literatur, Frankfun a.M. 1987, S. 352 380, hier: S. 363 ff.
Leben als maximale Forderung
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herkömmliche Unterscheidung zwischen Doderer und Musil auf den Punkt gebracht: die Sorge um das Heilige oder dessen Entsorgung. Zunächst zu den authentischen Nachweisen in der Beziehung von Doderer zu Musil. Aufschlußreich sind Doderers Tagebücher. Kernig führt Doderer hier vor, wie er sich selbst im Gegensatz zur „Utopie des Essayismus" \mMcinn ohne Eigenschaften gesehen hat. Seine Urteile über Schriftsteller sind, so Hans-Albrecht Koch, „um so negativer" ausgefallen, „je mehr Anerkennung diese schon gefunden hatten".' Entsprechend scheint ihn die Reaktion der Kritik auf das Erscheinen des ersten Bandes vom Mann ohne Eigenschaften gereizt zu haben. Er bescheinigt Musil „nicht die allermindeste Gestaltungskraft", nennt „dieses Buch" sogar „eine rechte Katastrophe" und sieht den Autor selbst einem „krankhaft übersteigerten Selbstbewußtsein" verfallen (TB 373). In seiner unmißverständlichen Ausdrucksweise spitzt Doderer die Argumentation auf das Formproblem zu und dokumentiert damit zugleich die eigene Projektionsleistung. Doderers Verhältnis zu Musil ist äußerst ambivalent. Gerade die Tagebücher führen beeindruckend die Kunst jener sogenannten „aphoristische(n) Essayistik" vor, die er, „auf die Spitze" getrieben, Musil vorwirft (vgl. TB 373). Doderer ist dem Musilschen Denken viel zu sehr verpflichtet, als daß er die Position dieses geistig Nächstverwandten gelten lassen könnte.'' Auch Dichterverwandtschaften gegenüber gilt der berühmte Satz aus Ein Mord den jeder begeht: „Wer sich in Familie begibt, kommt darin um." Und Doderer hat den Ehrgeiz besessen, der ihn bei allem Narzißmus ehrt: sein Apperzeptionskonzept erzählerisch zu bewältigen, will sagen: seine Essayistik in Geschichten das Laufen zu lehren. Am 14. November 1930 notiert Doderer: „Musil las im Radio. Es war nicht überwältigend. Die Stimme dieses Mannes ist klein, sorgfältig, wohlerzogen, spitz, sauer. Eine Epigonen-Stimme. So muß Grillparzer gesprochen haben. - Jedoch, Musil bleibt uns immer eine erhabene Insel im Dreckmeer dieses Heute. Man muss ihm die Stange halten. Dies tat ich auch in meiner Besprechung für den ,Tag'." (TB. 367)^ Hans-Albrecht Koch; „Ein prunkvoller Epilog. Zum 100. Geburtstag von Heimito von Doderer", in: Neue Zürcher Zeitungwom 31.8./1.9.1996, S. 51. Doderer selbst hat alle Mühe, sich von offensichtlichen Verwandtschaften mit Charakteristika des Musilschen Denkens zu distanzieren, am 6. Februar 1956 schreibt er: „Musil's Tagebücher sind literarisch und intellektuell. Was ich in dieser Hinsicht trieb, geschah nur um einer Haltung willen, die damals überhaupt, und mir im besonderen, höchst nötig war. Derartige Manieristica sind auch taugliche Mittel der Distanzierung." ( C I 500) Angesprochen ist eine Aufzeichnung der Radio Verkehrs A.G. Wien (RAVAG), die laut Musils Arbeitsprotokoll entweder am 29.10.1930 oder am 13.11.1930 aufge-
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Wolfgang Rath
D i e abschätzige Klassifizierung der S t i m m e , in historiographischer H a l t u n g n o t i e r t , läßt die N e u g i e r d e ü b e r Musil durchscheinen. Sie ist s o w o h l persönlich wie sachlich m o t i v i e r t . Oberflächlich gesehen, liegt der N e u g i e r d e geradezu eine F a s z i n a t i o n des Angewidertseins zugrunde. A u f die Frage, o b er Musil persönlich gekannt habe, schildert sein Privatsekretär u n d späterer Biograph, W o l f g a n g
Fleischer,
Doderer
folgendermaßen: „ E r verfinsterte sich sofort: es hätte i h m die .hellgelbe S t i m m e ' Musils v o m N e b e n t i s c h im C a f e , H e r r e n h o f ' s c h o n gereicht. A u f m e i n e F r a g e , was er u n t e r .hellgelb' verstehe, sagte er angewidert: . W i e eine gestopfte T r o m p e t e ! ' " ^ Musil seinerseits hat sich für den jüngeren D o d e r e r oder seine frühen Publikationen anscheinend wenig interessiert, n u r beiläufig fällt einmal sein N a m e in einem Brief an F r a n z Blei.'' E b e n dieses Desinteresse, das D o d e r e r offensichtlich allgemein aus d e m Kreis des Cafe H e r r e n h o f , also v o n den bedeutenden W i e n e r Intellektuellen, erfahren m u ß t e , erklärt für W o l f g a n g Fleischer implizit das emotionalisierte E n g a g e m e n t gegen Musil.' D e r Assoziationshintergrund in den T a g e b ü c h e r n bestäzeichnet worden ist. Vgl. Robert Musil, Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register, hrsg. von Adolf Frise. Neu durchges. u. ergänzte Aufl. Reinbek b. Hamburg 1983, S. 1198 f. - Es wäre möglich, daß Musil am 13.11. weder in der Volkshochschule am Ludo Hartmannplatz noch in der Urania (wie Adolf Frise aus früheren Terminabesprachen geschlossen hat) seine sog. „Vorlesung" hatte, sondern diese eben bei der RAVAG stattgefunden hat, nach vorheriger Absprache (der Eintrag vom 29.10. lautet: „Radio besucht". Wenn diese Rundfunklesung tatsächlich auf Mitte November zu datieren ist, dann mag sich Musil auch sehr wohl bedenklich angehört haben: er war, wie er am 16.11. notiert, „schon seit Tagen stark erkältet u reduziert"; am 17.11. erfolgt der Arztbesuch mit der Diagnose von „Bronchitis" (die er dann im Gegensatz zum vorangehenden Eintrag beschwichtigend als „leichte" bezeichnet!). Allerdings hat Doderer, wie das Folgende zeigt, Musils Stimme überhaupt unsympathisch gefunden. Der Nachweis der angespielten Rezension Doderers im Wiener Tag steht aus. Wolfgang Fleischer, Das verleugnete Lehen. Die Biographie des Heimito von Doderer, Wien 1996, S. 549. Im Brief vom 31. Mai 1931 an Franz Blei ist im Kontext von Albert Paris Gütersloh auch von dem „Feuilletonredakteur des Tag" („Der Wiener Tag", für den Doderer rezensierte), Richard Götz, die Rede, der nach Musil „außerdem ein guter Freund jenes begeisterten Güterslohanhängers Doderer ist, von dem Sie ja ein Buch kennen" (angespielt wird auf Doderers im Verlag von Rudolf Haybach erschienene Publikation Der Fall Gütersloh. Ein Schicksal und seine Deutung, Wien 1930). Vgl. Robert Musil, Briefe 1901 -1942, hrsg. von Adolf Frise, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 518. Vgl. Wolfgang Fleischer, Das verleugnete Leben, a.a.O., S. 124. - Fleischer betrachtet Doderers Einstellung gegenüber Musil im Kontext von Doderers ausgeprägtem „Konkurrenzdenken" (ebd., S. 453). Doderer selbst sah Musil als epigonalen Autor, in dem die Literatur des 19. Jahrhunderts ausklinge, und stellte ihn in Gegensatz zum eigenen CEuvre, den Beginn eines neuen Erzählens, das den ästhetischen Vorsprung der Musik, wie ihn schon Beethoven vergegenwärtige, einhole. Doderer sah sich also
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tigt diese Spekulation. Doderers Ausfälle gegen den Mann ohne Eigenschaften zielen im Rundumschlag gegen die von ihm dabei angeführten „Cafehaus-Intelligenzen" (TB 373), von denen sich Doderer schließlich aus keinem anderen Grund als dem der persönlichen Ablehnung ausgeschlossen fühlen konnte; Studien dazu ermöglichen die Passagen aus den Dämonen, die anhand seines alter ego Rene Stangeier Diskursvermögen und Selbstdarstellung problematisieren. Sachlich, auf die Dichtung Musils bezogen, fällt dagegen auf, wie intensiv Doderer den längst renommierten Kollegen studiert hat. Die Reflexion über die Lesung im Radio belegt es. Wo sich Doderer positiv Musil zuwendet, zitiert er ihn indirekt. Er wiederholt eine Eigenheit der Musilschen Schreibweise. Ulrich Karthaus hat dargelegt, wie an den delikaten Stellen, an denen das Erzählte die Normalität des Alltäglichen übersteigt und das Musilsche Programm aufblitzt, daß Musil gerade an diesen Stellen metaphorisch wird.' Diese Charakteristik der frühen Schriften wird im Mann ohne Eigenschaften in den Reflexionen über Metapher, Vergleich und Gleichnis theoretisiert. Genauer setzt Musil an diesen Stellen eben die Metaphorik ein, die Doderer hier aufnimmt: vornehmlich Idyllentopoi. Im gegebenen Fall handelt es sich um eine Anspielung auf ein Zitat aus dem ersten Buch vom Mann ohne Eigenschaften. Ulrichs Reflexion lautet in der Verbildlichung einer Insel im Heute, wie sie Doderer bei seiner Charakterisierung von Musils Stimme charakterisiert hat: „[...] alle Äußerungen des Inneren sind heute solche rasch wieder aufgelösten Inseln eines zweiten Bewußtseinszustands, der in den gewöhnlichen zeitweilig eingeschoben wird."'° Vom gewöhnMusil gegenüber in der genau umgekehrten Position, die die literaturwissenschaftliche Rezeption festgeschrieben hat. Daher hat Doderer persönlich, wie Fleischer betont (ebd., S. 483), einen direkten Vergleich seiner Schriften mit denen von Musil für verfehlt gehalten, denn beide beabsichtigten seiner Meinung nach grundsätzlich Verschiedenes. Tatsächlich zeigt der Vergleich beider Autoren in der Zeitdistanz verblüffende Gemeinsamkeiten, die freilich die angebliche Doderersche Originalität aushöhlen. Evident wird das schon, wenn Musils lange unterschätzte Kurzprosa mitreflektiert wird, die den Essayismus weitgehend im Narrativen aufgehen läßt und erstaunlich neue Wege des Erzählens beschreitet, so z. B. in der novellistischen Bildergeschichte „Die Amsel", in der sich Musil in ein abstraktes Erzählen einübt, das die Formensprache von Kandinsky, den Musil damals gelesen hat, literarisch aktualisiert. 9
Ulrich Karthaus, Der andere Zustand. Zeitstrukturen im Werke Robert Musils, Berlin 1965, bes. S. 71.
10
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. von Adolf Frise. Neu durchges. u. verbess. Ausg. Reinbek b. Hamburg 1984, Bd. I, S. 115. - Schon Reinhold Treml hat darauf hingewiesen, daß Diagnosen solcher Art seinerzeit „in der Luft lagen", oder genauer: Doderers Begriff der „zweiten Wirklichkeit" auf Musils Mann ohne Eigenschaften verweise. Vgl. BG 17.
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liehen Bewußtseinszustand wird die Insel eines zweiten Bewußtseinszustands unterschieden. Um dieses Inselzustands im Bewußtsein willen glaubt Doderer Musil, bildlich gesprochen: ,die Stange halten zu müssen'. Doderer bezieht sich also positiv auf Musil am entscheidenden Punkt seines und des Musilschen Denkens: am Punkt einer (zeitweiligen) Wirklichkeit jenseits der Faktizität. Bekanntlich nennt Doderer diesen Zustand die erste Wirklichkeit, unterschieden von der zweiten Wirklichkeit des Alltäglichen als einem falschen Bewußtsein." Diese intelligible Wirklichkeit ist bei Musil unter dem Terminus vom anderen Zustand'" bekannt. So gegensätzlich die angesprochenen Positionen von Musil und Doderer auch zu sein scheinen, im wortwörtlich Wesentlichen stimmen sie überein. Die Solidarität Doderers mit Musil genau an diesem Punkt, beim Entwurf der Eigentlichkeit einer Bewußtseinswirklichkeit, ist literaturwissenschaftlich von entscheidender Bedeutung. Darüber erschließt sich die inhaltliche Verwandtschaft zu einem dritten Begriff, der traditionsgeschichtlich bedeutsamer geworden ist, zum Begriff der Epiphanie bei James Joyce (zumindest bis zur Periode von Stephen Hero). In der MusilForschung gilt die äquivalente Diskussion des Joyceschen Epiphaniebegriffs mit Musils Begriff vom anderen Zustand bis heute als problematisch.'' Tatsächlich lösen sich auf dem Umweg über Doderer solche Begriffshadereien. Doderer und Joyce beziehen sich auf dieselbe Quelle: auf Thomas von Aquin. Ihre Darstellung besonderer Bewußtseinszustände bezieht sich auf die entsprechenden thomistischen Qualitäten. Doderers Solidarität mit Musil in und um dieses Zustands willen 11
Dazu Dietrich Weber, Heimito von Doderer. Studien zu seinem Romanwerk, München 1963, S. 183 ff. - Zu Doderers Begrifflichkeit vgl. Simone Leinkauf, Diarium inprincipio. Das Tagebuch als Ort der Sinngebung. Untersuchungen zu Leithegriffen im Denken Heimito von Doderers anhand seiner veröffentlichten und unveröffentlichten Tagebücher, Frankfurt a.M. [etc.] 1992. - Doderer selbst hat seinen Wirklichkeitsbegriff mit Thomas von Aquin begründet: Als erste Wirklichkeit versteht er eine (von Gott gegebene, unbedingte) Wirklichkeit an sich im Sinne der analogia entis-, als zweite Wirklichkeit dagegen die vom Menschen subjektiv begriffene Scheinwirklichkeit, das Nicht-Seiende im Sinne des Aquinaten.
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Vgl. Werner Fuld, „Die Quellen zur Konzeption des .anderen Zustands' in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften", in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), S. 664 - 682; Monika Meister: „.Anderer Zustand' und ästhetische Erfahrung", in: Robert Musil. Untersuchungen, hrsg. von Uwe Baur und Elisabeth Castex, Königstein/Ts 1980, S. 1 5 2 - 1 6 1 ; Karl-Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, S. 1 8 0 - 2 1 8 , bes. S. 202 ff.
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Vgl. z.B. Roger Willemsen, Das Existenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion systematischen Literaturtheorie im Werk Robert Musils, München 1984, S. 277.
einer
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verbrieft (vor dem Hintergrund der Mystik-Kapitel im Mann ohne Eigenschaften)^*' die Äquivalenz der Diskurse und zudem ihre hervorragende Rolle im Verständnis der literarischen Moderne überhaupt. Das meint nicht, daß hier identische Fälle summiert werden, sondern nur, in den Worten eines Initiators anthropognostischer Mittelalterrezeption, in der Formulierung von Novalis: „Mehrere Namen sind einer Idee vortheilhaft."" Damit aktualisiert sich literaturwissenschaftlich der Diskurs, den zuerst Walter Höllerer und Theodore Ziolkowski durch ihre Recherche des Epiphaniebegriffs von Joyce angeregt haben.Dieser Diskurs ist in der Folge vor allem von Karl Heinz Bohrer für die Diskussion der Moderne reflektiert worden.'^ Bohrer bringt die Wahrnehmung, daß es eine unwillkürlich hereinbrechende Bewußtseinsrealität von anderer als alltäglicher Art gibt, auf den Begriff der Plötzlichkeit. Theoretisiert wird der Einbruch ekstatischen Erlebens. Diese Erfahrung wird von Bohrer mit den traditionellen Konzepten des Erhabenen und Schönen in Bezug gesetzt. In diesem anregenden Diskurs ist das Denken von Doderer, weil pointiert konzipiert, aufschlußreich. Die intelligible Wirklichkeit, die in der literarischen Moderne vor dem Traditionshintergrund von Mystik und Frühromantik konzeptualisiert wird'®, läßt sich auf diesen kleinsten Nenner des Epiphanieverständnisses bringen: es geht um ein aus dem Lauf der objektiven Zeit herausgebrochenes Erlebnismoment ekstatischer Zeitlosigkeit und grenzensprengender Universalität. Unwillkürlich versinkt der Mensch im RaumZeit-Kontinuum und erlebt einen „Ausnahmezustand" (Carl Schmitt). Dessen seelentopographische Lage verzeichnen Musil wie Doderer sehr genau. Es ist die Erfahrung eines Dazwischen von Innen und Außen, 14 15
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17 18
Barbara F. Hyams, „Was ist .säkularisierte Mystik' bei Musil?", in: Robert Musil. Untersuchungen, a.a.O., S. 8 5 - 9 8 . Novalis: Vermischte Bemerkungen 36; vgl Blüthenstaubfragment 29. In: Novalis, Schriften, 5 Bde., hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 2, Das philosophische Werk 1, hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarb. mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, 3., nach der Handschr. erg., erw. und verb. Aufl. Stuttgart 1981, S. 428. Walter Höllerer, „Die Epiphanie als der Held des Romans" (1960), in: ders., Zurufe, Widerspiele. Aufsätze zu Dichtem und Gedichten, hrsg. von Michael Krüger, Norbert Miller und Siegfried Unseld, Berlin 1992, S. 2 1 8 - 2 4 2 ; Theodore Ziolkowski: „James Joyce's Epiphanie und die Uberwindung der empirischen Welt in der modernen Prosa", in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 5 9 4 - 6 1 6 . Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, a.a.O. Wolfgang Rath, Ludwig Tieck. Das vergessene Genie. Studien zu seinem Erzählwerk, Paderborn, München, Wien, Zürich 1996.
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der Schnittpunkt von Introspektion und Umweltpräsenz. In diesem Zustand erlebe ich das mir gerade noch Mögliche, nämlich gleichzeitig meinen äußeren wie meinen inneren Raum wahrzunehmen und körperlich-geistig, leiblich, zu apperzipieren. Wenn ich mich in der Erfahrungswelt zugleich bis in die Wurzeln meiner augenblicklichen Existenz hinein erlebe, dann geht mir womöglich die Lebendigkeit auf, die ich haben könnte. Mit der Integration dieses Zustands in die alltägliche Lebenspraxis beginnt nach Doderer der Prozeß dessen, was er als „Menschwerdung" bezeichnet und als „Wissenschaft vom Leben" (D 1070) theoretisiert. Genau an diesem Punkt beginnt auch das Lebensexperiment des Mannes ohne Eigenschaften, Ulrich. Sämtlichen Protagonisten Doderers und Musils ist das gemeinsam: in die Aura eines Heiligen einzudringen, das profaniert verstanden wird als die Chance, sich das menschliche Leben vital zu ermöglichen. Der Lebensentwurf, der hier übereinstimmend projektiert wird, reizt den anthropologischen Begriff vom Menschen aus. Gefordert wird das denkende Wesen, dessen Seele platonisch-aristotelisch ihren beweglichen Sitz (in der Formulierung Doderers) in der .Synopsis von Innen und Außen' hat. Es ist der Lebensentwurf, den der Doderersche Bogenschütze aufweist: mit Blick in die Weite zugleich in sich zu ruhen, also eine „Art von ZEN"^". Entscheidend ist damit dieses: für Musil wie für Doderer gibt es - wie immer die erfahrbaren Wirklichkeiten aufgefaßt werden mögen - eine bezeichnende persönliche Lebensalternative: Es geht Musil wie Doderer darum, sich nicht automatisch abzuleben, sondern sich zu entwerfen. Dieser Entwurf ist das Projekt des aufgeklärten Selbstumgangs, der im Begriff der Moderne enthalten ist. Entwurf oder Geworfenheit (in den Begriffen von Heidegger)^': in beiden Lebensarten spielt eine erste Wirklichkeit oder der andere Zustand seine Rolle. Sie sind Voraussetzung des
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„Ihm schien, er wisse jetzt, was Wirklichkeit sei: und daß ihr Grad ständig schwanken müsse, der Grad von Deckung zwischen Innen und Außen" (D 1252). - Musil entwickelt den Wirklichkeitsbegriff aus dem Verständnis von Liebe und ihrer Schärfung von „Wahrnehmung und Aufmerksamkeit" verbunden mit einem „ungenauen [Bereich] des Gefühls; und genau das machte ihn [Ulrich] schweben, wie der angehaltene Atem zwischen Einatmen und Ausatmen schwebt". So dient er der Begründung der berühmten „taghellen Mystik". Siehe Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., Bd. II, S. 1087 und 1089).
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Dazu Torsten Buchholz, „Eine Art ZEN des Erzählers? Doderer und die Gedankenwelt Asiens", in diesem Band, S. 78 ff. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1963. - Dazu Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München, Wien 1994, S. 180 ff.
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einen und Widerstand des anderen. Für sich gleichwohl sind sie wertneutral, eine Erlebnisrealität mit allen affektiv möglichen Reaktionen. Im Zwischenergebnis heißt das zunächst: der Epiphaniezustand ist bei beiden Autoren doppelt konnotiert und stellt die je gewählte Lebensart in Rechnung. Heribert Brosthaus hat auf Musils eigene Unterscheidung von zwei Formen des anderen Zustands hingewiesen: einer motorischen und einer sensiblen Ekstase.^^ Lebensweltlich meint diese Unterscheidung: Wer seine Geworfenheit auslebt, dem wird der andere Zustand zur Falle und zum Ichgefängnis (wie Ciarisse oder Moosbrugger), dem wird bei Doderer die erste Wirklichkeit zur erdrückenden Lebensqual und zum Schrecken (wie Herzka oder Donald Clayton). Nur wer sich der ,exzeptionellen Leistung' (vgl. C I 1 7 4 ) unterzieht, seine je einzigartige intelligible Wirklichkeit zu leben und sich zu entwerfen, nur derjenige hat zumindest die Chance einer Wahl, womit Freiheit beginnt. Also anders als in der Dodererforschung oft dargelegt, ist die erste Wirklichkeit weder das Echte, Natürliche, noch ein garantiertes Glück. Doderers frühe Erzählungen zeigen das überscharf und unter Einfluß von Musil. In der Groteske „Slobedeff" öffnet sich dem gleichnamigen Helden, einem Komponisten, der im Gesamtwerk immer wieder Erwähnung findet, die erste Wirklichkeit. Slobedeff wird diese Erfahrung möglich durch eine Übermüdung und durch einen kleinen Fehler im Automatismus konventioneller Lebensart: sein Tischgenosse benutzt das Messer als Löffel. Mit diesem Riß im Gewohnheitsmuster fällt Slobedeff plötzlich der Blick auf den Grund seiner Existenz. Szenisch geht die Doderersche Tür zwischen Innen und Außen auf und ein so bezeichneter „Augenblick" tritt ein. Ihn kennzeichnet „verhältnismäßige Stille" (FP 34). Wie es im weiteren heißt: „Mit dieser eingetretenen Stille aber brach über Slobedeff das Entsetzen herein." Diesem Nichts ausgeliefert, bricht er ohnmächtig zusammen. Er glaubt: „das war der Tod" (FP 34). Das anscheinend Natürliche, Organische, Echte und deshalb vermeintlich Glückliche: im Dodererschen Denken ist es vorderhand das Nichts und der Schrecken angesichts der Leere. Diese Grundbestimmung des epiphanischen Erlebens ist bei Musil bekannter. Trocken formuliert er als sein Denkaxiom: „Das Kernproblem sind doch die leeren Stunden", oder: „Die Ausgangssituation ist auf die leeren Stunden zu stimmen. Heribert Brosthaus, „Zur Struktur und Entwicklung des .anderen Zustands' in Robert Musils Roman ,Der Mann ohne Eigenschaften'", in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 39 (1965), S. 388-440, hier: S. 389. 23 Robert Musil, Tagebücher. Anmerkungen, a.a.O., S. 824. 22
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Eine der ersten Wirklichkeit Slobedeffs äquivalente Beschreibung der Wirklichkeit im Sinne des Musilschen anderen Zustands ist die bekannte urszenische Erinnerung von Törleß: „So oft ich es beobachte, kehrt mir dieselbe Erinnerung wieder. Ich war noch sehr klein, als ich um diese Stunde [die Dämmerstunde, W . R . ] einmal im Walde spielte. Das Dienstmädchen hatte sich entfernt; ich wußte das nicht und glaubte es noch in meiner Nähe zu empfinden. Plötzlich zwang mich etwas aufzusehen. Ich fühlte, daß ich allein sei. Es war plötzlich so still. Und als ich um mich blickte, war mir, als stünden die Bäume schweigend im Kreise und sähen mir zu. Ich weinte; ich fühlte mich so verlassen von den Großen, den leblosen Geschöpfen preisgegeben.... Was ist das? Ich fühle es oft wieder. Dieses plötzliche Schweigen, das wie eine Sprache ist, die wir nicht hören?"^'' Dieser Kindheitsalp, in die Erwachsenenwelt tranformiert, das ist die „Slobedeff'-Geschichte. Die entscheidenden Motive dieses Grunderlebnisses, das Allein-sein, die plötzliche Stille, die Angst, in dieser Einsamkeit gesehen zu werden, und das Schweigen, das noch eine andere Sprache als die gewöhnliche herausfordert: diese Bausteine der Törleß-Wirklichkeit ergeben szenisch neu montiert den Grundriß der „Slobedeff'-Erzählung. Statt eines Kindes im romantischen Wald hat ein Hotelgast, der aus dem Wald zurückkehrt, beim Abendessen einen Ausnahmezustand. Anscheinend in Gesellschaft, erlebt er, „unerbittlich allein" (FP 34) zu sein; „mit einem Male still" (FP 35) ist es um ihn, und er fürchtet, beobachtet zu werden, so daß er ausdrücklich nach einer Sprache verlangt, die ihm diese Tischgesellschaft nicht zu bieten vermag (FP 34 f.). Der andere Zustand und die erste Wirklichkeit reißen die geistige Tür in den je persönlichen Abgrund auf, in die existentielle Leere. Entscheidend wird damit die Frage, ob das Subjekt diese seine Leere ertragen, aushalten und annehmen kann und soll. Sowohl Musil wie Doderer reflektieren hier, wie sich gleich zeigen wird, traditionelle Vorgaben. Angesichts ihrer geistigen Verwandtschaft verwundert es nicht, daß die Topik des Ausnahmezustands bei Musil und Doderer identisch ist: sie ist, seit Törleß und Slobedeff und seit der Tradition der Idylle, eingelassen in den Zauber des Sommertags. „,Leben im Sinne der maximalen F o r d e r u n g ' w i e Musil das nennt, also das sogenannte leidenschaftliche Leben, beansprucht - mit Piaton, Aristoteles und Galen - jenes Maximum an Hitze, dessen der Mensch fähig ist. Es ist im antiken Ver24
25
Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II. Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, hrsg. von Adolf Frise, Reinbek b. Hamburg 1978, S. 7 - 1 4 0 , hier: S. 23 f. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., Bd. II, S. 1427.
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ständnis die Hitzeglut der Liebe zum Leben, sei es als Sexualität oder als das Verlangen, sich selbst im Geist - wie Zeus die kopfgeborene Athene - neu unter Schmerzen zu gebären. „Atemzüge eines Sommertags" heißt das einschlägige Nachlaß-Kapitel im Mann ohne Eigenschaften. Der hier szenisch entwickelte andere Zustand wird in einem nachfolgenden Kapitelentwurf aufgenommen und analytisch verdichtet: in der „Reise ins Paradies"^^. Er spielt, den vorweggenommenen Andeutungen gemäß, in einer antikisierten Gartenlandschaft zum Zeitpunkt der sogenannten „großen Liebesstunden", wenn ein „Nichts als Mittag"^^ da ist. Aus dem Erlebnis der Mittagsleere erwächst im Erzählfortgang die urszenische Beschreibung des wirkungsgewaltigsten Erbstücks Musilschen Nachlasses: des Schwebezustands im Synonym des anderen Zustands: „In solchen Augenblicken", so die Beschreibung vor dem Hintergund der flirrenden Mittagshitze, „wird die Erregung, in der uns ein Anblick bereichert und beschenkt, dann so stark, daß nichts wirklich zu sein scheint als ein schwebender Zustand, der sich jenseits der Augen zu Dingen, diesseits zu Gedanken und Gefühlen verdichtete, ohne daß diese zwei Seiten von einander zu trennen waren. "Was die Seele beschenkt, trat hervor; was die Kraft dazu verliert, löste sich vor den Augen auf."^^ Die Andeutung des Verhältnisses zur Seele stellt den Zustand klarer dar als dies im Diskurs der Moderne unter Berufung auf die Musilsche Schwebe üblich geworden ist. Dieser Zustand zeigt deutlich, daß das Musilsche Möglichkeitsprinzip nicht alles Mögliche im Sinne von Beliebigem meint. Offenheit heißt hier seelische Faktizität, erste absolute Wirklichkeit und Entschiedenheit: das einem Menschen Mögliche. Im Zugleich der zwei Seiten vor und hinter den Augen (in der Szene kunstvoll im Motiv der „zwei Augenpaare"^' von Ulrich und Agathe inszeniert) wird der bewegliche Sitz der Seele im Dazwischen von Innen und Außen, das antike Seelenverständnis,'° zum Verstehen aufgegeben. Die szenische Beschreibung steht daher auch in einem merkwürdigen Kon26
Helmut Arntzen, „,Die Reise ins Paradies'. Zu einem gleichnamigen Kapitelentwurf in Musils Roman ,Der Mann ohne Eigenschaften'", in: text + kritik 21/22 (1972), S. 2 3 - 3 4 . 27 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., Bd. II, S. 1663. 28 Ebd., S. 1664. 29 Ebd., S. 1663. 30 Im Kontext der sowohl für Musil als auch für Doderer bestimmenden frühromantischen Ubersetzung des antiken Seelenbegriffs vgl. Wolfgang Rath, Ludwig Tieck, a.a.O., S. 133-142. „Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung." (Novalis: Blüthenstaubfragment 19, in: Novalis, Schriften, Bd. 2, a.a.O., S. 419)
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trast zum zentralen Motiv der „Atemzüge"." Der angezeigte Sommertag wird im Gegensatz zur angeregten Erwartung gerade nicht in seinen wechselnden „Atemzügen" geschildert. Thematisiert wird der angezeigte Stillstand zum Zeitpunkt der Mittagshitze, der Punkt eines wortwörtlichen Zu-Stands im Dazwischen von Bewegung. Eine Kulturgeschichte lang haben Schäferidyllen und arkadische Landschaften auf die Faszination dieses Zustands aufmerksam gemacht. Die Ruhe an diesem, scheinbar aus der Zeit herausgenommenen Mittagsvacuum hat sogar einen stereotypen Ausdruck gefunden. Erwin Panofsky hat dargelegt, daß die Geschichten um Arkadien, die wiedergefundenen Paradiese, ein eigentümliches Merkmal aufweisen: es gibt dort einen Tod.^^ Dieses rätselhafte Phänomen, daß ausgerechnet im wiedergefundenen Paradies ein kleiner Tod liege, ist auch das Charakteristikum in der Musilschen Inszenierung seines arkadischen anderen Zustands. Er erklärt es genauer so: „In dieser flirrenden Stille zwischen den Steinen lag ein panischer Schreck. Die Welt schien nur die Außenseite eines bestimmten inneren Verhaltens zu sein und mit diesem verwechselt werden zu können."" Der andere Zustand ist also in bestimmter Weise augenblicklich gültige Seelenwahrheit. Er ist, wie die Stille des Mittags draußen, im Inneren der Schreck einer persönlichen Wahrheit. Wie der Idylle ein kleiner Tod zugehört, so dem anderen Zustand der seelische Schreck. Diese Ubersetzung der Idyllenmotivik in das moderne Epiphaniekonzept ist bei Musil strikt konzipiert. Der persönliche Schreck, den man im Zustand innerer Ruhe erleben könnte, in seiner ehemals sogenannten sokratischen Ruhe, diese existentielle Erfahrung bezeichnet er als einen panischen Schrecken im wortwörtlichen Sinn. „Lieber Pan", lautet die Anrede in einem fiktiven Brief Musils mit Motivstudien zum Sommertag-Kapitel.''' Gleichnis des anderen Zustands ist Pan, der Kindergott, der gern erschreckt. Pan - die Frühromantiker haben ihn Phantasus genannt - verkörpert einerseits das lebensleichte Spiel, andererseits existentiellen Schrecken. Das Lebensexperiment von Ulrich und Agathe führt diese Paradoxie in der Erfahrung vor. Einerseits empfinden sie, wie „die Körper mit der Seele spielten, wie schöne junge Tiere mit einer
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Bis in Musils Sprachrhythmus „beginnt die starre Wek, sich leise und unaufhörlich zu bewegen. Sie hebt und senkt sich unruhig mit dem Blut." (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. II, S. 1664)
32
Erwin Panofsky, „,Et in Arcadia Ego': Poussin and the Elegiac Tradition" (1936)/ „,Et in Arcadia ego': Poussin und die elegische Tradition" (1955), in: Europäische Bukolik und Georgik, hrsg. von Klaus Garber, Darmstadt 1976, S. 271 - 305.
33 34
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., Bd. II, S. 1664. Vgl. Robert Musil, Tagebücher. Anmerkungen, a.a.O., S. 9 3 5 - 9 3 7 .
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hin- und hergerollten Holzkugel", spüren also den Spielgott Pan. Andererseits nehmen sie wahr, daß ein „mittagsstiller Schreck [...] ihr Herz umklammert zu halten" schien, also eine innere Panik. Sie ist im Handlungsgeschehen die Angst vor dem Inzest. Ulrich und Agathe stellen sich, seelisch erregt in ihrer Liebe, programmatisch jeder Augenblickswahrnehmung: „jede Minute war eine vernichtende Gewissenserforschung". Was sie dabei erleben, ist freilich ernüchternd. Der Schrecken verbleibt in der Andeutung, er öffnet sich ihnen nicht. Für diesen Schrecken und seine Erhabenheit steht gleichnishaft „das Meer" als eine sogenannte „große Probe". Doch wenn sie einerseits fürchten, vor „dieser Weite, die jeden Widerstand einzog [...], ohnmächtig zusammenzubrechen", so erleben sie andererseits bezeichnenderweise etwas ganz anderes: die Langeweile.'^ Der Bezug dieser Pointe darf hier nicht außer acht gelassen werden: im Erzählgeschehen bezieht sie sich auf die Angst vor dem Inzest. Diesem gegenüber hat die Langeweile die Funktion einer Erlösung: sie erlöst Ulrich und Agathe vor dem Schreck des Fälligen und innerlich schon Vollzogenen. Sie werden es nachholen. Die Langeweile ist nur Verzögerung durch Angst. Sie ist das ihnen einzig Mögliche. Sie ermöglicht ihnen daher - wenn auch mit einer folgenreichen Verzögerung - , die Angst schließlich zu bewältigen und die ungeheure Leere, die das Meer draußen vergegenwänigt, im Innern zu beschreiten. Indem sie sich so gleichsam an den Schrecken gewöhnen, befreien sie sich von ihm und werden, in einer nachfolgenden Emphase des anderen Zustands, zu sogenannten „Verzückten"''. Diese Bewegung im persönlichen Umgang mit dem anderen Zustand bei Musil nachzuzeichnen, ist aufschlußreich für eine Differenzierung gegenüber Doderers Perspektive. Die Einlässigkeit der Beschreibung ist das Faszinosum der Musilschen Erzählkunst, die berühmte Exaktheit. In extremer Zeitlupe wird im Kapitelentwurf der „Reise ins Paradies" gezeigt, wie der Mensch aufgrund eines anderen Zustands gesellschaftliche Werte und Tabus für sich aktualisieren kann, sich mit ihnen auseinandersetzen und sie, mit bezeichnenden Verlusten, zu bewältigen vermag. Musil thematisiert den Vorgang im archetypischen Schema von Aufbruch-Prüfung-Rückkehr. In diesem Prozeß dehnt sich der Aspekt der Prüfung ins Unermeßliche. Wie es im Paradies-Kapitel heißt: „Immer wieder war die große Probe das Meer."'^ Die Einmaligkeit und Augenblicklichkeit des anderen Zustands, also die Leere in der Mittagshitze, wird in einer zwei35 36 37
Vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., Bd. II, S. 1665. Ebd., S. 1667. Ebd., S. 1665.
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ten Phase einem .immer wieder' unterstellt, die Erfahrung des anderen Zustands also der Wiederholung. Der vitalen Wahrnehmung folgt ihre Einübungsphase, in der eine unmittelbare Erfahrung bis zur Langeweile durchlebt wird. Im Gleichnis steht dafür das Meer, das den Schrecken ins „ungeheuer Gedehnte" erweitert und: selbst-verständlich macht. „Wie müßte man sein", fragt Musil, „um das [im anderen Zustand Erfahrene, W.R.] dauernd ertragen zu können?"'® Als Zwischenergebnis läßt sich festhalten: Entscheidender Punkt in Musils Augenblickskonzept ist das Problem der Dauer in bestimmter Hinsicht: als das Problem der Fixierung innovativer Erfahrung. Nicht das memento mori von Vergänglichkeit ist das Entscheidende, sondern die Frage: Wie erhalte ich mir momentanistisch Erlebtes und integriere es in den Lebensentwurf. Dasselbe Problem steht auch im Blickpunkt Doderers, doch bei aller motivischen Äquivalenz in konträrer Lösung. Sie wird deutlich an einer bekannten Stelle in den Dämonen, dort, wo Doderers alter ego, Rene Stangeier, endgültig seine .Menschwerdung' vollzieht. Das in actu vormals Durchlebte memoriert er hier unbewußt und „verdaut". Der Verdauungsprozeß einer erlebten ersten Wirklichkeit wird bildersprachlich inszeniert: Der Sommertag lag gewaltig da, kühlte und distanzierte sich zugleich durch die enormen Entfernungen, in welche man sah. [...] Was in Stangeier vorging, hätte Kyrill Sco'lander wahrscheinlich als .Gedärm-Symbolik' ironisiert. Wir nennen es .unorthographisches Denken'. In der Tat war ihm zumute, als enthielte er die Hohlräume dieser Burg in sich, bis hinab zu den untersten Kavernen, und als wär' er hier aus den Tiefen der eigenen Leibeshöhle emporgestiegen, um nunmehr oben herauszuschauen. Die verhältnismäßige Wichtigkeit dieser Augenblicke und eine damit endgültig vollzogene Wendung wurde ihm freilich nicht bewußt. N u r etwa, daß sich zugleich hinter ihm die Sachen geschlossen hatten wie eine Wand, p 1055)"
,Unorthographisches Denken' ist hier wortwörtlich im etymologischen Sinn (im negativen Sinn von griech. orthös grdphein: aufrecht, richtig, recht schreiben) zu verstehen, also als das Denken eines inneren Rechtsanwalts, der das gesellschaftlich Gerichtete und Gegeißelte im Subjekt vertritt (wie die Rechtsanwaltfigur im Roman No 7). Restriktionslos verfügt Stangeier nach diesem Zitat über die universelle, von Doderer sogenannte ,stereometrische' (vgl. D 1105) Perspektive, die den Zustand erster Wirklichkeit charakterisiert. In der Synopsis von Innen und Außen, im Zugleich von Oben und Unten, nimmt er die Totalität seiner Existenz wahr. Wie bei Musil untermalt diesen Augenblick die Mo38 39
Ebd. Verfaßt, so Doderers Randnotiz im Manuskript, am 29.11.1954, vormittags.
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tivik des Sommertags, des Blicks ins Unbegrenzte und des Turmes, der (Phallussymbol, Seelenraum und mittelalterlich-romantische Erhabenheitsallegorie in einem) auch in Musils Paradieskapitel wichtig ist/° Dieses kulminiert übrigens gleichfalls im archetypischen Bild von Stufenwindungen wie hier bei Doderer (äquivalent zur bekannten Tektonik der Strudlhofstiege).'^^ Doch die Leere, die Musil minuziös immer wieder neu thematisiert: bei Doderer öffnet sie sich, ist da, und dann schlägt, wie zitiert, gleichsam eine „Wand" vor ihr wieder zu. Das ist das Charakteristische. Der Schrecken der Leere, aus den Tiefen der ersten Wirklichkeit, er wird von Stangeier verdaut in einem Vorgang, der, wie es heißt, „nicht bewußt" ist. Die Rede ist von einer „endgültig vollzogene[n] Wendung" (s.o.). Stangeier hat die Prüfung geschafft, und die Tür zur existentiellen Leere fällt wieder zu. Musilsche Probleme bezüglich der bewußten Wiederholung eines einmalig innovativ Wahrgenommenen, Gewöhnung an Ungewöhnliches: diese Umständlichkeiten kennt Doderer nicht. Die Struktur der Menschwerdung verläuft nach bewährtem heroischem Schema: Aufbruch - Prüfung - Expansion. Die „Wieder-Eroberung der Außenwelt" (WdD 169) heißt der Terminus bei Doderer, und seine Figuren bewähren sich darin, wenn sie vom Einblick in ihre erste Wirklichkeit mit dem Schrecken davonkommen und durch diese Erfahrung gelernt haben: allzeit bereit zu sein zu jenem Tigersprung, den die Apperzipierer in seinem Werk regelhaft vorführen; heißen diese nun Melzer, Mary oder manchmal Doderer. Die einschlägigen Passagen, in denen jeweils ein Tigersprung zentral ist,"*^ geben erzählerisch die Essenz wieder, die im Tagebucheintrag vom 7. April 1932 so lautet: 40 41
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Vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., Bd. II, S. 1665, mit der Anspielung: „Nürnberg stand vor ihm [Ulrich] und Amiens" (ebd., S. 1666). Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: es soll hier nicht bewiesen werden, daß Musils Kapitelentwurf für Doderer die entscheidende Anregung gewesen sei (nach Selbstzeugnis will er nur wenige hundert Seiten des sog. ,monströsen Romanwerks' von Musil gekannt haben). Aufschlußreich ist vielmehr, wie vor demselben Traditionshintergrund in dessen Reflexion geistesverwandte Positionen mit markanten Umwertungen entstanden sind. In der Strudlhofstiege rettet Melzer „mit einem wahren Tigersatze startend [...] die bewußtlose Mary unter dem Waggon [der Straßenbahn] und seiner Schutzvorrichtung hervor" (D 854). In den Dämonen erfaßt Mary dann „plötzlich die Größe ihrer Lage, und damit ihre Stunde", um schon einmal „im voraus einen kleinen Tigersprung nach München [...] zu Professor Habermann" zu machen (D 1297). In der Kurzgeschichte „Leon Pujot" springt dieser „mit wilder Kraft" (E 262) vom Steuer seines Taxis in voller Fahrt auf einen Schnellzug auf, der ohne Lokomotivführer dahinrast. Weitere Beispiele nennt Doderer selbst in einer Randglosse zu dem nachfolgend im Text zitierten Tagebucheintrag. - Auf die Rolle des Tigersprungs in der
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Auf die tiefste Eigenheit des Menschen kommt es an und nur in den biographischen Knoten sind wir ganz unvergleichbar und diese enthalten implicite alles (keimblattoder knospenweis). Leer, Beiwerk fällt wie totes Laub, die Decision tritt hervor. ~ Immer aktive Kraft verhalten, in Blödigkeit, und dann der decidierte Tigersprung in die Kontur. (TB 472) D i e K n o t e n , das sind die D o p p e l w a h r n e h m u n g i m Z u s t a n d erster W i r k lichkeit: das D a z w i s c h e n a m beweglichen Sitz der Seele i m Zugleich v o n Innen u n d A u ß e n . L ä ß t sich der M e n s c h auf sie ein, v e r m a g er sich i m w o r t w ö r t l i c h e n Sinn zu ver-halten: er hält sich in einer inneren R u he, aus der heraus der Sprung einen je individuell, einzigartigen neuen R a u m e r m ö g l i c h t . D a s ist die faszinierende, innere R a u m e r w e i t e r u n g i m Erlebnis seiner F i g u r e n . E i n N e b e n u m s t a n d ist dabei allerdings bei D o d e r e r entscheidend: sich nicht z u weit nach innen v o r z u w a g e n , oder wie er das selbst formuliert: „[...] m a n muss gewisse , h e r v o r k r a g e n d e ' Gebiete der Vergangenheit, die das gerade Gegenteil aller loca intacta darstellen, aus disziphnärer V o r s i c h t v e r m e i d e n
" ( T B 4 7 1 f., Eintra-
gung v o m 7. A p r i l 1932). D a r a u f k o m m t es also D o d e r e r an: auf den disziplinierten U m g a n g mit der Leere, die in der M e l z e r s c h e n ,Tiefe der J a h r e ' u n d in der inneren Zeit liegen. W e r sich auf die L e e r e einläßt, ist verloren.''' I m Ergebnis heißt das: D i e A n t i t h e s e v o n erster W i r k l i c h k e i t u n d anderem Zustand, v o n Musil u n d D o d e r e r , ist die k o n t r ä r e L ö s u n g des U m g a n g s
„Krise" des Menschwerdungsprozesses hat Gerald Sommer, Vom „Sinn aller Metaphorie". Zur Funktion komplexer Bildgestaltungen in Heimito von Doderers Roman „Die Strudlhofstiege" - Dargestellt anhand einer Interpretation der Entwicklung der Figuren Mary K. und Melzer, Frankfurt a.M. [etc] 1994, S. 89, hingewiesen. Zur Bedeutung in Doderers Schreibweise als „Saltus Grammaticus", als „der Sprung aus dem Unbenannten; der Sprung der Sprachwerdung", vgl. Ulla Liden, Der grammatische Tigersprung. Studien zu Heimito von Doderers Sprachterminologie, Stockholm 1990, S. 149. 43 Doch wer die Leere mit der Dodererschen Disziplin auf Distanz hält, dem mag es in entscheidenden Situationen auch wie ihm selbst ergehen. Am 27. September 1937 notiert das „Psychologen-Auge" selbstkritisch und in Dokumentation der Diskrepanz von Theorie und Praxis: „Mein Kopf war", so Doderer über seine Lage bei Abschluß eines ihm wichtigen Verlagsvertrags (mit Heinrich Beck), „vom ersten Augenblicke nach der gefallenen günstigen Entscheidung an besessen von einem Gewirr völliger Belanglosigkeiten, in welchen ich mit wahrhaft pathogener Hartnäckigkeit herumstöberte und mich darin im Kreise drehte. Daheim ging's stundenlang so weiter. Mitten hinein fiel die erschreckende Erkenntnis, dass ich in keiner Weise während jener entscheidenden halben Stunde, etwa bei dem viermaligen Setzen meiner Unterschrift, an den Leser gedacht hatte, auf den zu mein Herz doch gerade da einen Tigersprung hätte machen müssen." Statt (nach Programm) Herr seiner Situation zu sein, ergeht es ihm wie einem trunken verwirrten Donald Clayton und Apperzeptions-Versager, er erlebt „ein Gewirr ataktischer Phänomene" und ist wie betäubt (TB 1068).
Leben als maximale Forderung
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mit der Leere und daraus folgend: des Entwurfs der Dauer, die die Integration von innovativer Erfahrung in den Lebensalltag meint. Den Einübungsleistungen Ulrichs steht die Sprungfertigkeit der Dodererschen Apperzipierer gegenüber. Doderer fehlte an Musil die Kraft des Aktiven und Disziplinierten, des allzeit präsenten potenten Sprungs in die erste Wirklichkeit dessen, was ist, weil es ist. Raubtiersprünge gibt es in Goethes „Novelle", in Kellers „Pankraz, der Schmoller", bei Hermanovsky-Orlando und bei Gütersloh. Es gibt sie allerdings auch als bezeichnende Möglichkeit von Ulrich. Dieser hat, wie es heißt, „einen geübten Körper im Zustand eines Panthers [...], der jedes Abenteuers gewärtig ist"''\ Es ist bezeichnend, daß Doderers Figuren eben das einlösen, was dem Mann ohne Eigenschaften programmatisch nie möglich ist: lebensleicht zu springen. Dann allerdings hätte Doderer genau das übersprungen, worauf der Diskurs Musils abzielt: das Problem des Sich-Entscheidens, Handelns, der Ubersprungshandlungen und die Hamletiade Ulrichs. Einfacher läßt sich das Verhältnis von Musil und Doderer tatsächlich auch so sehen. Musil notiert in sein Tagebuch 1930: „Jenes Leben im Sinne der maximalen Forderung, wovon ich im 61. Kapitel des M. o. E. spreche, ich habe es immer auf das Schreiben angewandt!"'*' Doderers maximale Forderung zielt bekanntlich auf „das Leben". Vielleicht aber gilt nur die Unterscheidung, die Musil im Sommertagskapitel zwischen den Menschen getroffen hat: „daß es zwei Arten von Menschen gibt und im Lauf der Geschichte immer gegeben hat. Ich nenne sie die statischen und die dynamischen. Wenn Sie wollen die Kaiserlichen und die Faustischen."'*^ Oder die Dodererschen und die Musilschen. Die epiphanische Qualität innovativen Erlebens: bei Musil aktualisiert sie den Blick in die Leere, in den (hermaphroditischen und daher nur scheinbar liebesgeselligen) Abgrund des Subjekts und in die Diagnose, bei Doderer dagegen den Traum vom Leben, von Geselligkeit und von der von jedem einzigartig zu leistenden (oder abzulehnenden) Therapie. Ob man es nun Entsorgung des Heiligen oder Sorge um das Heilige nennt: das intelligible Bewußtsein des Menschen läßt sich als Realität nicht aufheben. Musil und Doderer setzen im gemeinsamen Diskurs darüber nur konträre Akzente: Musil einen diagnostischen, Doderer einen therapeutischen. Dieser therapeutische Akzent geht vom Primat der Außenwelt und von Erfahrungsverarbeitung aus. Er ist gegen Tiefen der 44 45 46
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., Bd I, S. 46. Roben Musil, Tagebücher, hrsg. von Adolf Frise. Neu durchges. und ergänzte Aufl. Reinbek b. Hamburg 1983, S. 813, Eintragung vom 12. Februar 1930. Vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., Bd. II, S. 1668 f.
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Innenwelt ausgerichtet, verweigert sich jedoch den Risiken der Entgrenzung im Musilschen Programm.
PETER MARGINTER
Doderer & Gütersloh - Metaphern en gros
Das Thema, auf das ich mich hier eingelassen habe, hat nicht einmal Doderer höchstselbst bewähigt, und mir würde es schon schwer fallen, auch nur seinen Umfang zu umschreiben. Nicht so sehr deshalb, weil mir das Rüstzeug eines Germanisten und Literaturwissenschaftlers fehlt - : da rechnete ich mir im vorhinein aus, daß man von mir keine tiefschürfende Analyse erwartet, sondern eher den Erfahrungsbericht eines literarischen Abenteurers, was freilich auch die in diesem Zusammenhang erhaltenen Denkanstöße einschließt. Weit überfordert wäre ich allerdings, wenn ich im Hinblick auf die jahrzehntelange Auseinandersetzung Doderers mit Gütersloh den davon ausgehenden Niederschlag, der in seiner subtilen Verästelung mehr oder weniger deutlich das ganze Werk Doderers durchzieht, herauszufiltern und gleichzeitig den Gegensatz in der psychischen (emotionellen und intellektuellen) Infrastruktur von zwei außergewöhnlichen und zugleich ganz konträren Persönlichkeiten zu berücksichten hätte, die dennoch eine oft zum Verwechseln ähnliche Sprache gesprochen haben und in dem, was sie sagten und schrieben, oft genug übereinstimmten. Angesichts der zu erwartenden Schwierigkeiten habe ich mich, was diesen Niederschlag betrifft, bei Doderer im Wesentlichen auf die Texte konzentriert, die sich konkret mit Gütersloh befassen, d.h. vor allem auf Doderers langen Essay über den „Fall Gütersloh", und bei Gütersloh auf das in Sonne und Mond enthaltene Kapitel über Ariovist von Wissendrum, in dem er Doderer karikiert. Der Anlaß für die Wahl ausgerechnet dieses Themas liegt in meiner Person: Ich bin sowohl Doderer als auch Gütersloh an einem Wendepunkt meines eigenen Lebens begegnet, kann also einiges aus eigener Wahrnehmung beitragen, ergänzt durch die Aussagen von anderen, die eine noch viel engere Beziehung zu ihnen gehabt haben. Vor allem waren das Wolfgang Fleischer, Herbert Eisenreich und György Sebestyen. Ihnen bin ich, wie in vielem sonst, auch hier zu Dank verpflichtet. Stattgefunden haben meine Begegnungen mit Doderer und Gütersloh
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in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre. Ich will nicht behaupten, daß ich damit auch schon einer ihrer guten Bekannten geworden wäre, schon gar nicht ein Freund, einfach irgendeiner aus dem Publikum war ich allerdings auch nicht. Ich war mit meinem ersten Roman soeben in die Wiener Literaturszene geraten, sozusagen wie der Pontius ins Credo, denn ich hatte dieses Buch wirklich nicht in solcher Absicht geschrieben, es hatte sich gewissermaßen unter der Hand ergeben. Aber das ist eine andere Geschichte, und ich erwähne es nur, damit Sie sich vorstellen können, wie verwirrt - oder besser: verirrt - und wie unsicher ich mich in der neuen Umgebung fühlte. Diese Exoten, die sich plötzlich für mich interessierten, pflegten nicht nur einen mir fremden Lebensstil, sie sprachen untereinander auch eine eigene Sprache und setzten dabei voraus, daß ich sie verstünde. Ich erinnere mich noch gut, wie betreten ich war, als jemand, der mir noch dazu ein Mikrophon unter die Nase hielt, mich fragte, wie ich zur „auktorialen Erzählhaltung" stehe. Meine Standardantwort war: „Ich bin nicht dagegen." Schriftsteller war eine mir fremde Rolle, und in Wien, wo jeder Figur sein und eine Rolle spielen möchte und sie dazu noch von den übrigen Rollenspielern (als Konkurrenten oder Kumpanen) geradezu aufgedrängt erhält, war meine blauäugige Unschuld vermutlich so peinlich wie rührend. In Wien muß ja jeder irgendwo dazugehören; es ist wahrscheinlich nirgendwoanders so schwer, diesbezüglich seine Freiheit zu bewahren und trotzdem nicht unterzugehen: Zur allgemeinen Beruhigung (auch meiner eigenen) landete ich damals beim PEN-Club. Aber das nur nebenbei und nur deshalb, weil diese klimatischen Bedingungen sich auch im Leben meiner zwei Protagonisten ausgewirkt haben. Doderer und Gütersloh hatten damals (also in der zweiten Hafte der Sechzigerjahre) auf der in der ,Szene' gültigen Besetzungsliste endlich die illustren Positionen, auf die sie lange genug gewartet hatten, Doderer zumindest seit der Strudlhofstiege und Gütersloh seit dem Erscheinen von Sonne und Mond. Mein Freund Wolfgang Fleischer, der Sekretär Doderers und sein späterer Biograph, war es, der mich eines Abends zusammen mit dem großen Mann einlud; die Bekanntschaft mit Gütersloh vermittelte der Jesuitenpater Alfred Focke, der damals im literarischen Wien eine ähnliche Funktion ausübte wie in der Bildenden Kunst der faszinierende Monsignore Mauer. Ich hatte mir nicht träumen lassen, daß ich die zwei Berühmtheiten jemals aus der Nähe kennen lernen würde, und noch weniger hatte ich darüber nachgedacht, wie sich etwa ein Gespräch mit ihnen entwickeln könnte. Zugleich fühlte ich mich allerdings so sehr nicht-zugehörig, daß ich nicht gleich vor Ehrfurcht erstarb, sondern nur versuchte, mir womöglich keine Blöße zu geben.
Doderer & Gütersloh - Metaphern an gros
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und sie im übrigen aus meiner Froschperspektive neugierig beobachtete wie zwei lebende Dinosaurier, die sie ja schon im HinbUck auf den Altersunterschied für mich auch waren. Ich kann nicht behaupten, daß ich Doderer besonders sympathisch fand, obwohl er sehr freundlich zu mir war und ich mich aus einem durchaus egoistischen Grund darum bemühte, ihn sympathisch zu finden und ihn das spüren zu lassen: Doderer hatte in meinen Roman schon hineingerochen und angeboten, eine Rezension für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu schreiben. Tatsächlich hat er dann das Buch noch auf seinem Sterbebett gelesen, und das offenbar sehr gründlich. In dem Exemplar, das mir in der Folge von seiner Witwe zurückgegeben wurde, sind zahlreiche sehr präzise Randbemerkungen. Anscheinend war er zumindest positiv amüsiert. Ich stelle mir gern vor, daß sein Ausflug in die ihm wahrscheinlich ganz wesensfremde Märchenwelt, die ich mir ausgedacht hatte, ihn in diesen letzten Tagen ein wenig von den nüchternen Faktizitäten des Spitalbetriebs abgelenkt hat. An jenem Abend hatte ich allerdings keine Ahnung, wie krank er bereits war. Ich nehme an, daß auch er nicht wußte, wie schlimm es um ihn stand, jedenfalls überspielte er es mit dem verkrampften Pathos, das für ihn wohl auch sonst charakteristisch war. Er war angestrengt, ja geradezu aggressiv darauf bedacht, sich als Mittelpunkt der kleinen Runde zu bestätigen, und ließ kaum jemand anderen zu Wort kommen. Dazu war ihm fast jedes Mittel recht: Ich erinnere mich, daß er plötzlich ohne besonders triftigen Anlaß lange Passagen aus der Ilias auf griechisch zu zitieren anfing. Nicht einmal ich, der sich im Gymnasium sechs Jahre lang damit herumgeschlagen hatte, verstand ihn: Seine Aussprache war, wie man in Wien sagt, verknödelt, ein theatralisches Kollern. Ich vermutete, daß eine schlechtsitzende Zahnprothese daran schuld sei, erst viel später erfuhr ich, daß das mit einer Stimmbandoperation zusammengehangen hatte. Sein beunruhigendes Grimassieren, bei dem sich das ganze Gesicht verknotete, war angeblich eine alte Gewohnheit. Insgesamt wirkte er ungeheuer verklemmt und unnatürlich. Einnehmend daran war eigentlich nur, daß er sich unseretwegen solche Mühe machte. Ich versuchte, ihn in die Figuren der Strudlhofstiege und der Dämonen hineinzudenken, in denen er sich selbst dargestellt hatte, aber es wollte mir nicht recht gelingen. Er hatte tatsächlich etwas von einem Reptil (wie im Titel von Dora Zeemanns Erinnerungsbuch), von einem Chamäleon oder einem Waran. Mein Eindruck von Gütersloh war ganz anders: Er saß in seinem kleinen Arbeitszimmer, von dessen Terrasse man auf den Botanischen Garten beim Belvedere hinüberschauen konnte, wie ein großer alter
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Vogel - eine Art Uhu - in seinem Nistkasten. Es roch auch so, leider. An einer Wand hing ein Exemplar des Porträtlithos von Egon Schiele, das Gütersloh als schmalgesichtigen, glutäugigen Jüngling zeigt, einen intellektuellen Torero. Ich fand das Ausmaß der Verwandlung bestürzend, aber den gegenwärtigen Patriarchen dennoch eher übereinstimmend mit den Texten und Bildern, die ich von ihm kannte. Einige Jahre vorher, nach dem Erscheinen von Sonne und Mond, hatte ich ihn bei einer Lesung erlebt. Er hatte alle Register einer Schauspielkunst gezogen, die damals schon längst passe war, aber mir war da schlagartig aufgegangen, wie man diese merkwürdige Sprache lesen muß, das heißt mit dem Autor vor Augen und im Ohr, seinen pathetischen Gesten und seiner von geheimnisvollem Flüstern zu gemessenem Dozieren und auftrumpfendem Dröhnen wechselnden Stimme. Inzwischen war er älter und müder geworden, aber im Gegensatz zu Doderer kam mir im Rückblick diese Schauspielerei bei ihm nicht aufgesetzt vor, sondern durchaus ungezwungen, einer natürlichen, wenn auch nicht alltäglichen Anlage ihren Lauf lassend. Auch dieser Nistkasten war eine Bühne, nur für einen anderen Akt in demselben Stück, als dessen Hauptperson („Der Erzähler") er sich durch alle seine Bücher hindurchgeschrieben, an den Rand aller seiner Bilder gemalt hatte: Eine sagenhafte Figur - wie der Titel seines gleichnamigen Romans. Er gehörte nicht wirklich hierher, er hatte sich zu uns verflogen aus jenem schrägen Biedermeier, das in seinen täuschend naiven Aquarellen dargestellt ist, der Schauplatz der wuchernden Metaphorik seiner Prosa. Um es auf einen Nenner zu bringen: Sowohl Doderer als auch Gütersloh waren in meinen Augen große Poseure, nur daß mir das Posieren bei Doderer ein Mittel zum Zweck zu sein schien, während Gütersloh gar nicht anders konnte. Und das war ja doch ein sehr wesentlicher Unterschied. Diese Einschätzung minderte dabei keineswegs den Respekt, den ich als Leser vor ihnen auch heute noch habe, obwohl sie natürlich für mich seither so, wie sie mir in Erinnerung geblieben sind, zwischen ihren Zeilen herumgeistern. Vielleicht kann man sagen: Ich mag den Autor Doderer trotzdem, den Autor Gütersloh eben deswegen. Die Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere forderte aber auch meine Neugier heraus, denn selbstverständlich wußte ich da schon von der merkwürdigen Meister-Schüler-Beziehung, zu der Doderer sich bekannt hatte. Ich wußte, daß Doderer den „Fall Gütersloh" geschrieben und daß Gütersloh mit der Figur des Ariovist von Wissendrum eine nicht sehr liebenswürdige Karikatur Doderers in Sonne und Mond eingebaut hatte. Ich las beides nach, schnappte darüber hinaus einiges auf, wie es
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sich ergab, und versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. Am meisten erfuhr ich aus dem Doderer-Essayband Die Wiederkehr der Drachen, in dem außer dem „Fall Gütersloh" auch Doderers Reden über Gütersloh dokumentiert sind, nicht zuletzt trugen aber meine bereits erwähnten Freunde Herbert Eisenreich, György Sebestyen und Wolfgang Fleischer da und dort Ergänzungen bei, die aus meinem Doderer-GüterslohPuzzle allmählich ein Bild machten. Im Rückblick schrieb Doderer: „Zum ersten Mal lernte ich Gütersloh in Sibirien kennen, 1919, zu Nowo-Nikolajewsk. Der bekannte Maler und Holzschneider Professor Erwin Lang, damals Lieutenant bei den Kaiserjägern [...], hatte bei seiner Gefangennahme Gütersloh's ersten Roman Die tanzende Törin im Rucksack gehabt. Das Buch begann in einem Kreis kriegsgefangener Offiziere zu kursieren, und es ist nicht zu leugnen, daß es uns mit seiner dichten Atmosphäre umwob und unser Leben veränderte [...]. Ich war ein dummer Rüpel, aber mit meinen 22 Jahren ein literarischer Schwerarbeiter, von einem Fanatismus, der mir heute [1962] wild und roh erscheint. Ich warf alles Fertige sofort weg, es sollte nur Übungs-Stoff sein. Ich kannte die .Tanzende Törin' seitenweise auswendig. Erst später freilich erfuhr ich, daß dies der bedeutendste Roman des frühen Expressionismus ist." (WdD 133 f.) Frühe literarische Skizzen Doderers (1921) gehen darauf ein. 1962, in einer Rede zu Güterslohs 75. Geburtstag, schildert Doderer seine erste Begegnung mit Gütersloh im Jahr 1924. „Ich kann nicht sagen", bekennt er, „daß Gütersloh mir damals sympathisch gewesen ist. Sein brauner, wie eingeölter Teint [...][,] der dichte, tief-schwarze Kinnbart, die sonore Stimme, das ausholende Pathos seines Lesens: das alles war mir nicht eigentlich physiognomisch, sondern eher schon physiologisch zuwider." (WdD 134 f.) In einer Tagebucheintragung aus demselben Jahr heißt es: „[...] er schien mir von [...] Theatrahk nicht ganz frei." (TB 254) Nach einigen folgenden Jahren, die Gütersloh in Südfrankreich verbrachte, führte sein damaliger Verleger Rudolf Haybach Doderer mit ihm wieder zusammen. Gütersloh war keineswegs so bekannt, wie man das später wahrhaben wollte. Er verkaufte sich schon damals schlecht. Haybach, der in ihm seinen bedeutendsten Autor sah und gerade die Bekenntnisse eines modernen Malers herausgebracht hatte, wollte den Umsatz ankurbeln und schlug daher Doderer vor, ein Buch über Gütersloh zu schreiben. Daß der noch völlig unbekannte Doderer „sogleich" (WdD 135) zusagte, ist durchaus glaubhaft. Wahrscheinlich hätte er jede Chance, gedruckt zu werden, „sogleich" ergriffen. Es ist auch durchaus glaubhaft, daß ihn die Bekenntnisse, als er für sie Zeit fand.
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sogleich tief beeindruckten, selbst wenn er sie nicht, wie er in der Geburtstagsrede behauptet (WdD 135 f.), in einer Nacht, nach der späten Heimkehr von einer Abendgesellschaft, durchgelesen hat. Aber es stimmt wohl, wenn er abschließend feststellt: „Ich hatte auch kein Buch gelesen, sondern buchstäblich mein eigenes Leben." (WdD 136) Jedenfalls schreibt Doderer dann den „Fall Gütersloh", der 1930 bei Haybach erschien, und bekennt sich darin und nachher als Schüler Güterslohs. Das jedoch bedarf, wenn man den Charakter der Beteiligten in Betracht zieht, schon einer weitergehenden Erklärung oder zumindest den Versuch einer solchen: Gütersloh und Doderer waren zwar im literarischen Wien jener Jahre höchstens an der Peripherie vorhanden, aber darum nicht weniger von sich selbst und ihrer Berufung so sehr überzeugt, daß die Anerkennung Güterslohs als „Meister" nicht einfach als bescheidene Unterordnung Doderers verstanden werden kann. Plausibel erschiene mir, daß ihm die Rolle des „Schülers" erst dadurch erträglich wurde, daß er den Meister geradezu in die Wolken hochhob und sich selbst als den deklarierte, der ihn allein - oder doch: am besten - verstand: Allah und sein Prophet Mohammed. Dagegen war umso weniger einzuwenden, als Gütersloh sich mit seinen Schriften bis auf weiteres jenseits der Wahrnehmungsschwelle des breiten Publikums bewegte. Er brauchte einen Propheten. Doderer füllte diese Lücke sozusagen überquellend. Gütersloh wiederum hatte sicher nichts gegen eine solche Rangerhöhung. Aus seiner mythologisierenden Sicht der Welt und der Gesellschaft mag es ihn ohnedies geschmerzt haben, daß er nicht adelig geboren war wie der Herr von Doderer, sondern als schlichter Albert Konrad Kiehtreiber mit dem erst ideologisch zu begründenden und auch danach prekären .natürlichen Adel des Künstlers': Er ließ sich gern „von Gütersloh" titulieren, und ein verbriefter Ritter als Paladin war ihm bestimmt nicht unangenehm. Trotzdem: Warum gleich „Schüler"? Hätte „Freund" nicht genügt? Sicher werden die hierarchischen Strukturen, in denen Doderer aufgewachsen und in die er (beim Militär) hineingeraten war, seine Entscheidung erleichtert haben, aber schließlich kann man auch von einem Freund allerhand lernen, ohne sich etwas zu vergeben. Wenn es nicht nur die Ungewöhnlichkeit der Konstellation war, die ihn reizte, muß Doderer wohl zu dem Schluß gekommen sein, daß er nicht in der Lage sei, allein den ,rechten Weg' zu finden, und einen Führer brauchte. Er muß in Gütersloh ein nachahmenswertes Beispiel gesehen oder ein Wissen vermutet haben, das er aus ihm herauslocken wollte. Einig waren sich die beiden mit Haybach vermutlich in der Neigung zu einer seltsamen Reichsmystik, die sich im Dunstkreis des Faschismus
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gebildet hatte oder überhaupt als Ursprung des Faschismus zu sehen ist, vielleicht in Reaktion auf die Demütigung des in den prächtig-bunten Heeren der Vorkriegszeit personifizierten Mannesstolzes, der von der Technik mit ihren mörderischen Errungenschaften in den Dreck gewalzt worden war. Der Erste Weltkrieg war ja nicht nur für die Verlierer ein Desaster, und das verzerrte Nachbild des Untergegangenen war und ist seither und in allen totalitären Staaten zu beobachten. Auch bei uns geht es noch um. Wir leben nun einmal, wie Doderer viel später in seinen Commentarii vermerkt, in einem Jahrhundert der Lächerlichkeit, in dem sich auch der Teufel gern als Clown verkleidet, und wenn wir dazu neigen, entweder alles oder gar nichts mehr ernst zu nehmen, ist das nicht unbedingt die bessere Lösung. Sicher war es auch so, daß Doderer und Gütersloh dabei sein wollten, wenn es ,wieder aufwärts ging', und sie waren bereit, ihr Scherflein dazu beizutragen. In der Atmosphäre eines idealistisch verklärten Opportunismus entstand jedenfalls, was Lutz-Werner Wolff als „fürchterliche .Freundschaft'" bezeichnet.' Uberhaupt läßt sich beobachten, daß die Befassung mit dem Verhältnis Doderer-Gütersloh immer auf eine Parteinahme hinausläuft, und daß Gütersloh regelmäßig dabei schlecht abschneidet. Was immer den Anstoß gegeben haben mag, verlangt es doch der Respekt, daß man das Ergebnis zunächst einmal wörtlich so nimmt, wie es dasteht. Offenbar war Doderer nach der Lektüre der Bekenntnisse eines modernen Malers von der Genialität Güterslohs überzeugt, vor allem von seiner Doppelbegabung fasziniert, und er stimmte mit ihm in vielem Grundsätzlichen überein, das er bei der Arbeit am „Fall Gütersloh" auch für sich selbst klärend formulierte. Nicht zuletzt übernahm er dabei auch das Gütersloh'sche Idiom. Lutz-Werner Wolff meint: „Besonders im Austausch mit Gütersloh entwickelt sich eine metaphorische Sklaven- oder Geheimsprache, die Doderer nie wieder los wird. Sie ist nicht nur in den Briefen zu finden [...], sondern auch in den Tagebüchern."^ Mir ist nicht klar, warum das für Wolff eine Sklaven- oder Geheimsprache ist, gerade die Verwendung in Briefen und Tagebüchern spricht mir eher dafür, daß Doderer sie als die ihm kongeniale Sprache empfunden hat, wenn er als der „Herr von Doderer" auftritt, und nicht als der Autor einer Erzählung oder eines Romans eine dafür gewiß viel geeignetere Tonart wählt. Aber auch dort ist noch oft genug der Gütersloh'sche Zungenschlag herauszuhören. Nehmen wir etwa Doderer zum Stichwort Jioman und Novelle" aus 1 2
Lutz-W. Wolff, Heimito von Doderer, Reinbek b. Hamburg 1996, S. 39. Ebd., S. 50.
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dem Repertorium: Jede wirkliche Novelle schleust uns durch den engen Kanal einer Ausnahme, darin der reißende Fluß sich in's Mahlwerk der Erzählung stürzt. Danach aber münden wir und treiben langsamer, hinausgeschwemmt in's offene Meer mit unbestimmt sich wegwendender Küste im Sonnenglast. Der novellistische Lotse geht von Bord, der Kapitän für große Fahrt übernimmt unser Schiff: es ist der Romancier." (R 202) Und weiter mit Gütersloh^ aus dem Inneren Erdteil: „Was nun die ihm [dem Roman] eigentümliche Breite anlangt, sein mähliches Sichergießen in die Runde, das den ursprünglich pfeilgerechten Ablauf zu einem dem Weltumfange gleichen Kreise krümmt, so ist zu sagen, daß an die Peripherie auch der sie Beschreibende nie gelangt: des Lebens Weitschweifigkeit kann gar nicht abgesehen, sein dauerndes seitliches Ausbiegen vor dem Sog zu einem Ende in der Zeit nicht vorausgewußt, seine galoppierende Flucht auf dem Kreuzer aus dem Gulden nicht verhindert werden."' Was in diesen Zitaten nicht so penetrant herauskommt, ist das für beide so charakteristische Protzen mit ihrer humanistischen Bildung, die .scholastischen Innuendos' und die entsprechenden Einflechtungen von Latinismen, die vorzugsweise aus der Begriffswelt des Thomas von Aquin entlehnt sind, aber man muß auch so zugeben: Es ist dieselbe Sprache; es ist fast derselbe Gedankengang: eine Prosa, die ihre Sinnlichkeit nicht in der Beschreibung der Fakten entwickelt, sondern in der aus den Fakten hochschießenden Metaphorik, umwölkt von einer kräftigen Prise Weihrauch, die wohl auch ironisch gemeint ist, aber zugleich den angesprochen Leser zum Initiaten eines exklusiven Zirkels machen soll, der dann freilich auch Deftigeres verträgt, wenn es nur stilvoll angerichtet und serviert wird: Plaudereien im Rekreationszimmer eines ebenso liberalen wie elitären Klosters, etwa nach Art der Abbaye de Thähne des Rabelais. Als Erzähler hat Doderer später bewußt einen anderen Weg einzuschlagen versucht, aber er hat diese „Kunst der Künstlichkeit" darum weder verlernt noch verleugnet. Am Beginn des „Falls Gütersloh" verfolgt Doderer die Doppelbegabung Güterslohs bis an einen Punkt vor „ihrer Gabelung und Trennung, von dem an jede dieser Begabungen für sich allein in's Licht des Bewußtseins und in ihr Werk findet, [...] in einem Bezirk, der allen Wirrungen der Dialektik verschlossen und nur der Gnade zugänglich bleibt". (WdD 51) Es ist der Ort, wo jene ,universale Apperzeption' Albert Paris Gütersloh, Der innere Erdteil. Das Wörterbuch zu „Sonne und Mond", aus dem Nachlaß vervollständigt und mit einem Kommentar hrsg. von Irmgard Hutter, München, Zürich 1987, S. 256.
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Stattfindet, die für Doderer - wie für den von ihm so hochgeschätzten Weininger - das Genie auszeichnet, an einem Punkt, der das Außen und Innen transzendiert und dadurch die Dialektik zwischen den beiden Bereichen ermögUcht, die Vernetzung von allem mit jedem in unserem Bewußtsein und in der fatologischen Einheit allen Lebens, dort und hier, in der es keine Zufälle gibt. Schade, daß die Chaostheorie erst später entwickelt wurde, Doderer hätte sie in diesem Zusammenhang gut verwenden können, auch der ihm wichtige Begriff der freisteigenden Erinnerungen ließe sich damit abdecken. Als Ausnahmefall stellt sich Gütersloh für Doderer dabei insoweit dar, als Gütersloh nach eigenem Bekenntnis den Wechsel, „der jetzt den Maler, jetzt den Schriftsteller, den Einen ohne jede Deformation durch den Anderen, aus dem Wetterhäuschen der Nerven hervorgehen läßt" (zit. WdD 52 f.), als „pathologische[n] Zugriff" erlebt (zit. WdD 52), einen „ermüdenden Kreislauf", der eine „Dezision" verhindert. Infolgedessen versuche der Intellekt, die „Talente sich zu integrieren, sie mit Haut und Haar zu verschlucken, oder falls dies nicht gelänge, ihnen zumindest in dem vom Denken disponierten Weltbilde ihren Platz zuzuweisen" (WdD 55). Im Text gibt Doderer dem „Fall Gütersloh" daher einen Untertitel: „Der Krieg gegen die Talente" (WdD 49), der - nach Doderer - als Reaktion auf den Erfolg des noch sehr jungen und darauf kaum vorbereiteten Gütersloh mit der Tanzenden Törin ausgebrochen sei. „Von da ab datiert im Grunde auch wohl die immer sorgfältiger werdende sensuell-descriptive Führung des Pinsels bei Gütersloh, der sich in steigender Schärfe eine Sprache gegenüberstellte, die in der grammatischen Präzision, in der Formulierung, nicht in der Darstellung, die Hauptaufgabe sah." (WdD 51) Als Ausnahmefall ist zwar Gütersloh kein Paradigma, seine Situation hat aber paradigmatischen Wert. Nach dieser Einleitung beginnt der, wie es Doderer nennt, „Prozeß" (WdD 59), in dem sowohl Dichter wie Maler ihre Standpunkte vor einem „Meister" (WdD 79), das heißt vor dem Intellekt, verteidigen. „Dem .Belletristischen' in der Prosa war zuinnerst der Krieg erklärt" (WdD 51). „Der Maler Gütersloh konnte sich noch eher halten: er rechtfertigte sich dem immer peinlicheren Gerichtshof gegenüber hartnäckig und verstockt als harmloser Handwerker, als Ausüber eines ,schmückenden und sanften Gewerbes, das ein Hausgärtlein von Horizont um sich hat'. Es gelang dem Maler Gütersloh auf solche Weise, bedingt entlassen zu werden. Der Dichter dagegen befand sich noch lange danach in Untersuchung: und zwar wegen Verdachtes der .berufsmäßigen Tiefe'" (WdD 49). Der „schwere Weg in die dissoziierende und analytische Prosa, jener Passionsweg des Dichters Gütersloh" (WdD 62)
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muß bis zum Ende ausgeschritten werden. Wenn Doderer dabei immer wieder die „ganz selbstständige Einzelart beider Zweige bei Gütersloh" (WdD 56) hervorhebt, war das damals wohl auch gerechtfertigt, es wird erst später durch Güterslohs Aquarellminiaturen desavouiert, in denen das Handlungssubstrat seiner literarischen Werke den unmittelbar sinnlichen Ausdruck erhält, der durch die ihm aufgesetzte Metaphorik nur mehr mittelbar gegeben ist, verlagert in den abstrakten Uberbau. Bei allem Charme dieser kleinen Bilder: es war, fürchte ich, letzten Endes doch ein Pyrrhussieg des Schriftstellers über den Maler. Zunächst aber geht es darum, daß Gütersloh das alternierende Aufwallen seiner zwei Begabungen als Herausforderung empfindet, die es mittels des Intellekts zu bewältigen gilt. Kunst darf nicht einfach um der Kunst willen betriebet}, das Talent nicht einfach ausgelebt werden. Auch die Qualität des Werks ist nicht primär entscheidend, denn: „,operari sequitur esse', das Tun (und somit auch das Werk) kommt aus dem Sein" (WdD 64). Aber was ist zu tun in einer „Zeit der gamins de genie, die alles können, auch die Tiefe und die religiöse Innigkeit, zu der sie sogar sehr intensiv gerochen haben"? (WdD 65) „Denn das ,operari' des gamin de genie [...] besteht wesentlich im Freigewordensein der Talente vom Diktat eines spirituellen Kernes, das für sie früher einmal verbindlich gewesen ist [...]. Nun aber sind sie, als verselbständigte Derivate, zu einer niegeahnten wuchernden Hypertrophie gelangt" (WdD 68 f.). Die Lösung wäre eine „Verlegung des Schwerpunktes, und somit des Wertkriteriums, aus dem für unsere Zeit als beiläufig-liberal erkannten Bezirk der Talente und Werke viel weiter nach innen [...] in's vergleichsweise noch immer weitaus gesichertere Gebiet des Physiognomischen im höchsten Sinne" (WdD 65), das heißt: vom operari ins esse. Dieses Physiognomische ist bei Gütersloh dadurch charakterisiert, daß die „Absage an's .Belletristische'" (WdD 74) mangels einer wissenschaftlichen Systematik dem Dichter Gütersloh erlaubt, „sich sogleich wiederum in eine Kunstform" zu retten, „und zwar in die des Essays" (WdD 73). Doderer sieht darin keinen Anlaß zum Tadel: „Wer [...] möchte so ganz leugnen, daß in vielen Fällen [...] mit spezifisch belletristischen Mitteln präzisere Arbeit geleistet werden kann, als durch eine eigentlich wissenschaftliche Ausdrucksweise?" (WdD 74) Güterslohs Instrumentarium liegt offen vor ihm: „Dem Allegorischen wohl mit einer gewissen Abneigung des Geschmackes gegenüberstehend, halten wir es hier allein deshalb für erlaubt, weil es der Gütersloh'schen Atmosphäre nahe ist, ja sogar für sie teilweise als bezeichnend gelten kann. Wenn wir aber bisher, möglichst dicht an das Substrat unserer Überlegungen herantretend, uns sogar vielfach in dessen eigenartige Terminologie haben
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fügen müssen, so mag's auf ein kleines Opfer in Dingen des persönlichen Geschmackes nicht mehr ankommen." (WdD 75) Dazu gehört auch die Inszenierung des „Prozesses", in dem sich nun der Maler darauf beruft, daß er jedenfalls ein „gesicherte[s], schmükkende[s] Handwerk[]" ausübe, „dessen Hervorbringungen nicht bedeuten, nur erfreuen sollen [...]. Und mehr will ich vom goldenen Boden nicht sagen." (WdD 77) Worauf der Meister als gemeinsamen Nenner vorschlägt: „Meinem Handwerk nach ein Maler, setze ich die Übung dieses schmückenden und sanften Gewerbes, das ein Hausgärtlein von Horizont um sich hat, hintan, um unbezahlte Zeit zum eindringlichen Aussprechen einiger Selbstverständlichkeiten, einiger Allgemeinheiten lebenswichtiger Natur zu gewinnen, denen Keiner, der da meint, auf sein Bild, auf sein Gedicht komme es an, nachlaufen will." (WdD 79) Aber der Schriftsteller protestiert gegen ein solches Abgedrängtwerden in eine Nebenrolle: „[...] mit Regelmäßigkeit durch deine einander feindlichen Häuser zu ziehen, eben das gelte dir für höchstes Rechttun! Nicht aber das eine von ihnen zu einem Tusculum für Mußestunden umzufälschen." (WdD 80) Der Meister hat seine Zweifel: „Kann denn die Tätigkeit eines Schriftstellers gewerbsmäßig, berufsmäßig sein, wie die eines Malers?" (WdD 79) Der Schriftsteller jedoch hinterfragt nun den Unterschied zwischen Maler und Schriftsteller: „Der Punkt unserer Gabelung, von wo aus jeder von uns Beiden für sich allein an's Licht und in sein Werk findet, liegt - dem Schöpfer sei dafür Dank! - so tief, daß er allen Bohrungen der Dialektik entzogen und nur der Gnade zugänglich bleibt, regungslos und noch wesenlos verharrend unter deren einfallendem Strahl, oder still verdunkelt, wenn sie ausbleibt." (WdD 81) Unterschiedlich sei dann freilich die Reaktion: „Denn was bei mir [dem Schriftsteller], nach erreichter genügender Deutlichkeit der inneren Gestalt oder Klarheit der Zerlegung, blitzartig und wie durch Kurzschluß im Prosa-Satze sich darstellt, die Spannung wie mit einem Schlag entladend - das geht bei ihm [dem Maler] noch den langen und klapprigen Weg über Farbenreiben, Pinsel, Palette, Leinwandspannen, Skizzieren, oder wie seine Verrichtungen sonst heißen mögen." (WdD 82) Auch bei einem Ausbleiben der Inspiration kann der Maler, wenn's darauf ankommt, eine gute Weile weitermalen, beim Schriftsteller hingegen „käme ein schöner Bofel zum Vorschein" (WdD 82). Im Übrigen sei aber „jeder wahrhafte Künstler Amateur, und nur ein solcher Amateur wahrhaft Künstler" (WdD 83). Dieser ist „im eben getanen Werk schon nicht mehr enhalten: [...] seine Flugrichtung gilt's zu erkennen, und vorauszuzielen, so wie ein trefflicher Schütze den Vogel erreicht." (WdD 84) Genau das scheidet den Künstler sowohl vom Dilettanten
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wie vom gamin de gmie, denen das Gelingen des jeweiligen Produkts genügt. Der Künstler ist da bereits unterwegs in eine noch nicht konkretisierte Zukunft. Der Meister allerdings zügelt diesen Flug: „Dem wirklichen Zeichnen wie dem echten Schreiben [...] geht die begrifflich vollkommene Bewältigung des Gegenstandes voraus; und das, was dem dann folgt, [...] ist [...] ein innerliches Ablesen und ein äußerliches Notieren der zu starrer Form gediehenen Erkenntnisfrucht, worüber ihre verschiedenen Begabungen ein nur scheinbar Verschiedenes ausmachen." (WdD 85 f.) „Oh weh!" ruft da der Dichter, „das wird mein Tod. Soll ich in diesem Rausch der Abstracta, in den du offenbar geraten willst, untergehen?" (WdD 86) Der Schriftsteller wehrt sich dagegen etwa zwei Seiten hindurch, bis Doderer unter beträchtlichem Pomp einen advocatus diaboli auftreten läßt, dem aber seltsamerweise kein einziges Wort in den Mund gelegt wird. Nur mehr wenig steht dem Resume entgegen, mit dem sich der Schriftsteller an den Maler richtet: ,„Mit Entsetzen'", so sagt der Dichter, „.erkenne ich den vor mir liegenden Weg. Du hast es verstanden, dich klug zu entziehen, [...] und du wirst zunächst leidlich munter sein in deiner Werkstatt. Ich aber werde traurig sein in meiner Zelle. Glaube mir aber, dessen Geschäft es ja zum Teile ausmacht, die Zukunft zu deuten: nicht früher wirst auch du dich eines gesicherten, unbekümmerten und wahrhaft ungestörten Werktags erfreuen können, bis nicht der Fluch, der mich fortan belastet, zu Ende gelebt, gelöst und versöhnt ist.'" (WdD 90) Der Zeitpunkt für den imaginären Prozeß, den Doderer inszeniert, wäre wohl bald nach dem Erscheinen der Tanzenden Törin anzusetzen. Im Folgenden faßt Doderer die weitere Entwicklung Güterslohs als Maler und als Schriftsteller zusammen, letzterer auf dem ihm vorgezeichneten Leidensweg. Doderer zitiert aus Güterslohs „Rede über Blei": „Nichts ist fürchterlicher als ein Asket und Mönch, der aufgehört hat, in Kontemplation und Gebet mit der Geduld eines Mäusleins an der Wurzel dieses Daseins zu nagen, und in der Figur eines Löwen wider die Welt seinen zarten Zwinger verläßt. Den süßen Geschmack des Nichtseins im Munde, wird diesem Löwen nach Blut das Maul wässern. Und den Strick seiner Lenden wird dieser Mönch um unsere Hälse werfen." (zit. WdD 98) „.Meine Große und Kleine Geschichte. Eine Lebensbeschreibung quasi un'allegoria.' Das ist die Gütersloh'sche summa summarum, [...] der Punkt, wo er sich selbst einholte, [...] ein speculum unserer Zeit. [...] Ja, fast ein speculum universale überhaupt [...]. Daß Einer zerlegungsweise so sprechen könne, daß ihm jede zerlegte Einzelheit wiederum
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zur Gestalt erwächst - das ist eine Unglaublichkeit, die man erst nach Lesung dieses Werks für wahr halten kann." (WdD 99) Als Beleg dafür zitiert Doderer die Passage, in der Gütersloh dem Künstler zuweist, „daß er mit seinem kurzfristigen Menschendasein darstelle und vorstelle, wie Adel entsteht. [...] Oder: Die Selbsterkenntnis des Künstlers ist schöpferische Bildung." (WdD 99 f.) Maler und Schriftsteller haben sich - so Doderer - „zu den Grenzen ihrer Begriffe hin" bewegt und „ihre spezifische Physiognomie als konsekriertes Amt" empfangen (WdD 101). „Was wir jedoch erwarten, ist Breite: die ringweise vorschreitende völlige Eroberung der Außenwelt, epische Aufgaben etwa für den Dichter, und für den Maler auch größere, monumentale und dekorative Wirkungskreise." (WdD 102) Nun ja. Franz Blei hat in einem Brief an Doderer festgestellt: „Aus der leidenschaftlichen Genauigkeit Ihrer Schrift über oder vielmehr anläßlich Güterslohs merkt jeder aufmerksame Leser, daß sich ihr Verfasser in einer Krise befindet."'' Die Krise war, wie man weiß, damit noch lange nicht bereinigt, ebensowenig die Auseinandersetzung mit Gütersloh. Schmidt-Dengler stellte schon 1972 fest, daß für Doderer der Bezug zu Gütersloh historisch und psychologisch nicht auflösbar war, und zitiert zum Beleg: „Wer allerdings noch so viel archaischen Grund zu ertasten vermag, um das Verhältnis von Lehrer und Schüler als eine unverrückbare, weil metaphysische Distanz zu sehen, [...] dem kann die Sache so unverständlich nicht bleiben."^ In den zwei folgenden Jahrzehnten rückten die beiden vorübergehend einander auch in physische Nähe, in den Ateliers am Saarplatz und in der Buchfeldgasse. Wie sich die metaphysische Distanz dennoch auch in ihren Umgangsformen erhielt - mit „verehrter Herr Professor" und „lieber Herr Doktor" - mutet uns merkwürdig an. Vielleicht kommt dieser Eindruck auch daher, daß wir uns heute legerer tragen, aber ich könnte mir auch noch eine andere Erklärung vorstellen: Allem Anschein nach verhält es sich doch so, daß Gütersloh die Stilisierung zum „Lehrer", so sehr sie ihm geschmeichelt haben mag, nicht gesucht hat, daß für ihn dieses Verhältnis aber durch die Wahrung des Abstands noch immer erträglicher war als eine schlichte „Freundschaft", die ja auch nicht unbedingt eine Ubereinstimmung in allem und jedem voraussetzt, aber doch einen gewissen Austausch. Gütersloh hat von Doderer nicht nur nichts angenommen, er war offenbar auch nicht dazu be4 5
Zit. nach Wendehn Schmidt-Dengler, „Die Anfänge des .Falles Gütersloh'", in: Literatur und Kritik 68 (1972), S. 479. Ebd.
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reit. Doderer hingegen hat die „Gütersloh'sche Essayprosa" (WdD 113) in einem Maß integriert, das gern heruntergespieh wird. Jede Sprache ist aber eine Denkmaschine besonderer Art. Daß Doderer bei ihrer Anwendung letzlich zu anderen Ergebnissen gelangt ist als Gütersloh, hat seinen Grund in der sehr unterschiedlichen Natur der Maschinisten, nimmt Gütersloh aber nichts von seinem Rang als Konstrukteur der Maschine. Insofern war er, ob er es wollte oder nicht, tatsächlich etwas wie ein Lehrer. Wahrscheinlich hätte es Gütersloh gut getan, wenn dabei auch er, was die Bedienung der Maschine betrifft, ein wenig Schüler gewesen wäre. Weil der Österreicher überhaupt zur Parteinahme neigt, verübeln die Parteigänger Doderers Gütersloh die Karikatur Doderers, den Gütersloh in seinen monströsen Roman Sonne und Mond als „Ariovist von Wissendrum" auftreten läßt. „Einmal auf der schiefen Bahn des um jeden Preis - auch um den fürchterlichen der ewigen Verdammnis - Ausgezeichnetwerden wollens [...] bietet er uns, den Freunden, die wir ihn lieben, ohne seine stockfinstere Befangenheit zu teilen, die makabre Gelegenheit, fast mit Augen zu sehen, wie auf dem schmerzlich citronensauren Antlitz und in der entsprechend verkrampften Seele die das All umschlingende Schlange des Anthropomorphismus sich in den Schwanz beißt."^ Das ist, gelinde gesagt, wirklich unfair, selbst wenn man Gütersloh zugutehält, daß er um das Jahr 1940, als er das schrieb, einigen Anlaß zur Verbitterung hatte: Vom österreichischen Ständestaat, dessen Untergang er in einem peinlichen Brief an Doderer bejubelt hatte, war er mit einem Lehrstuhl und öffentlichen Aufträgen verwöhnt worden, und nun hatten die neuen Machthaber ihm seine Professur genommen und ihn überdies mit einem Schreib- und Malverbot belegt. Spätestens da muß er begriffen haben, wie sehr sich dieses Dritte Reich von dem Wunschgebilde unterschied, für das er zusammen mit Doderer geschwärmt hatte. Freilich war Doderer, den die nähere Bekanntschaft mit der Realität schon einige Jahre zuvor ernüchtert hatte, nicht so übel mitgespielt worden, er hatte immerhin einen guten Verlag gefunden und war Offizier in einem Heer, das damals - 1940 - noch von einem Sieg zum anderen schritt. Nach dem Krieg wendete sich zunächst das Blatt, Gütersloh erhielt als „politisches Opfer" seine Professur zurück, während Doderer sich einem Entnazifizierungsverfahren zu stellen hatte. 1951 jedoch begann mit den Erleuchteten Fenstern und mit der Strudlhofstiege der Höhenflug Albert Paris Gütersloh, Sonne und Mond. Ein historischer Roman aus der München, Zürich 1984, S. 764 f.
Gegenwart,
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Doderers. Für den „Lehrer", als der sich Gütersloh nach so vielen Devotionsbezeugungen Doderers wohl fühlen durfte, war es nun bestimmt nicht einfach zu bewältigen, wenn er sich so von seinem „Schüler" überrundet sah. Auch das mag dazu beigetragen haben, daß Gütersloh das Kapitel mit den Wissendrums in Sonne und Mond belassen hat, obwohl diese Passagen für den Gang der Handlung - soweit das in einem „totalen Roman" überhaupt zählt - entbehrlich gewesen wären. Dennoch: Es war, wie gesagt, aus der Sicht des Publikums äußerst unfair und alles andere als - wie man bei uns sagt - „die feine englische Art", sich derart gegenüber einem Mann zu benehmen, der mehr als drei Jahrzehnte lang immer loyal zu Gütersloh gestanden hatte. Doderer hat - das ist durchaus glaubhaft - zum ersten Mal aus dem von ihm für eine Besprechung angeforderten Fahnenexemplar erfahren, daß Gütersloh ihn in Sonne und Mond als „Ariovist von Wissendrum" eingebaut hatte. Doderers Reaktion kann man nur als wahrhaft nobel bezeichnen: Er setzt sich trotzdem für das Buch ein, freilich mit einem raffiniert ambivalenten Lob. „Wir haben rund zwanzig Jahre auf Gütersloh's großen Roman gewartet", erinnert er bei der Buchpräsentation im Palais Pallavicini am 4. Dezember 1962. „Nun ist er da. Und die erste Überraschung besteht darin, zu sehen, daß es garkein Roman ist." (WdD 142) Am 18. Dezember stellt er dann im Wiener PEN-Club fest: „[...] es gibt also keinen Fall Gütersloh mehr, und für mich selbst am allerwenigsten. Ich habe hier meine Zeit zu Ende gedient." Und weiter: „Man kann aus ,Sonne und Mond' so ziemlich alles lernen, was zur Literatur gehört. Unter anderem auch, was ein Roman ist, als Werk der Kunst, und, was er nie sein kann und darf." (WdD 145) In der Tat: Es ist sozusagen ein .Vollrausch der Abstracta', in dem „jede zerlegte Einzelheit wiederum zur" - metaphorischen - „Gestalt erwächst" (WdD 99). Ich sehe noch Gütersloh vor mir in der ersten Reihe sitzen, d.h. Gütersloh von hinten, leicht vorgeneigt, als wäre er zu jederzeitigem Aufspringen bereit. An seiner Haltung war zu erkennen, wie er Doderer fixierte und ihm jedes Wort aus dem Mund zu nehmen schien. Vermutlich wäre etwas weniger Noblesse dem Erfolg von Sonne und Mond zuträglicher gewesen: In Wien liebt man Skandale. Daß Doderer einen solchen vermied, war vielleicht die subtilste Revanche, die ihm unter den gegebenen Umständen möglich war. Es blieb Gütersloh gar nichts anderes übrig, als dabei mitzuspielen. Nach dem letzten Satz: „Aktendeckel zu, ,Sonne und Mond' gehn auf" (WdD 145), eilte Gütersloh auf Doderer zu, um ihn mit strahlendem Lächeln zu umarmen. Daß sich der dreißigjährige „Dienst" Doderers nicht von einem Außenseiter mit einem kleinen Referat abtun läßt, habe ich schon an
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dessen Anfang klargestellt. Ich habe jedoch den Eindruck, daß Parteigänger Doderers dazu neigen, diesen Dienst zu einer skurrilen Verirrung ihres Protagonisten abzuwiegeln, und das ist wohl doch ein wenig zu leichtfertig. Doderer hatte recht, wenn er Gütersloh als eine singulare Erscheinung sah, die sich einer klaren Einordnung und damit auch einer vergleichenden Beurteilung entzieht. Nach dem Beispiel Doderers muß man Gütersloh nehmen, wie er ist, und Vorsicht walten lassen in dem, was man von ihm nimmt, wie in dem, was man dankend ablehnt. Vielleicht regt der 100. Geburtstag Doderers auch zu einer intensiveren Beschäftigung mit Gütersloh an. Es wäre nicht das schlechteste Ergebnis.
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Literatur und Psyche Viele, die als österreichische Schriftsteller und Dichter bezeichnet werden, kommen aus dem grossen Reich der K&K-Monarchie, an die sie entweder aus Sentimentalität glaubten oder aus Trotz für oder gegen sie, gegen oder für den grossen deutschen Nachbarn Deutschland schrieben. Joseph Roth aus Brody, Rainer Maria Rilke, Johannes Urzidil, Franz Kafka, Max Brod, aus Prag, Elias Canetti aus Rustschuk, Hermann Ungar aus Boskovice, Ernst Weiss aus Brünn. Alles Österreicher, wie man sagt. Heimito von Doderer' aus Weidlingau bei Wien, dessen Stammbaum nicht nur in Osterreich wurzelte, sondern in Deutschland, Frankreich und Ungarn. Ein Österreicher, sicher. Gegenwart und Vergangenheit. Es bedarf nur eines leichten Aufflaumens der Gegenwart - als kraulte man den Bauchflaum einer Gans und die Vergangenheit wird sichtbar, die unberührte, wie das reine Weiss dicht am warmen Bauche des Vogels. Zugehörigkeit. Eine der niedrigsten Tendenzen des Menschen ist: irgendwo dazugehören zu wollen, sagt Heimito von Doderer. Unter welchem Einfluss immer neigt die österreichische Literatur dazu, nicht die Wirklichkeit abzubilden, sondern mit der Sprache als Mittel ein Spiel mit der Realität zu treiben. Realität ist nur das, was wir jeweils als unterste feste Standfläche mit dem Fuss ertasten - geschieht es auch im Dunkeln, so ist uns doch immer genaue Kenntnis davon verliehen - , und wo wir doppelten Boden wollen, u m auf ihm über der Realität zu verweilen, dort wissen wir's auch genau und erkennen sofort den hohlen Klang beim Auftritte. Wir sind in solchen Fällen zu Auftritten überhaupt geneigt, wir lieben es dann, fest aufzutreten, was den Ton des doppelten Bodens verstärkt, meint Heimito von Doderer.
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Literatur: Heimito von Doderer, Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers, München 1964; Heimito von Doderer, Repertorium. Ein Begreifhuch von höheren und niederen Lebens-Sachen, hrsg. von Dietrich Weber, München 1969. Vgl. Georg Schmid, Doderer Lesen. Essai, Salzburg 1978.
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Das bedeutet auf die Literatur bezogen, dass neue Wirklichkeiten und Welten zwar mit der Sprache geschaffen werden können, die Beschreibung der äusseren Welt aber versagen muss. Im Unterschied zu Österreich behauptet die deutsche Welteinsicht und Geisteshaltung, dass das Wort ein Mittel zur Erkenntnis der äusseren und inneren Wirklichkeiten sei, andererseits hat das literarische Werk Denkmäler der Kultur zu setzen und mit einer Kunstsprache zu begreifen, was der Umgangssprache unmöglich scheint. Wie unterscheidet sich die deutsche von der österreichischen Literatur? Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben, meint Adorno. Ein Österreicher hingegen, glaube ich, ist ein Mensch, der die eine oder andere Lüge ausspricht, aber nie glaubt, dass sie eine ist. Natürlich hat das Sprachverhalten der Österreicher wie auch der Deutschen oder Schweizer eine zwingende Beziehung zur jeweiligen Mentalität des Landes, die hinter dem dudenhaften Deutsch verschwindet. Zwei deutschsprachige Autoren, Carl Einstein und Heimito von Doderer, scheinen eine besondere Beachtung wert; der eine politisch, der andere psychologisch. Europa ist eine abgenützte Scholle, die allenthalben zerbröckelt. In Deutschland vor allem leidet der Geist an allgemeiner Müdigkeit. Ein verlorener Krieg und dann, noch schlimmer, eine abgetriebene Revolution haben Skeptiker geschaffen. Die wahren Ursachen solcher Erfolge schnarchen unter den Bettüchern der politischen Lage. Geist nennen wir eine Puddingmischung, wabbelig, unkontrollierbarer Gemeinplatz. Aber unseren Autoren selbst mangelt es an einer Richtung; schon vor dem Krieg schrieben sie Bücher von bequemer Menschenfreundlichkeit; man schwitzte Güte und Formauflösung. Die politischen Ereignisse brachen los, aber die Schriftsteller zeigten sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Und dennoch gab es in Deutschland etwas, was Literatur heissen kann; irgendetwas schlecht Bezahltes, frierend und mit den Zähnen klappernd, das unbemerkt vorübergeht und ohne Wirkung bleibt (G. Einstein). Dass diese Haltung keinen Erfolg gehabt hat, ist nicht verwunderlich, haben doch Martin Walser und Bodo Kirchhoff einen überirdischen, weil das, was sie verfassen, der deutschen Mentalität entspricht und Wahrheit behauptet. Peter Dettmering schreibt in seinem Buch Dichtung und Psychoanalyse über Heimito von Doderer folgendes: Der österreichische Erzähler Heimito von Doderer, dessen Werk abgeschlossen und übersehbar vorHegt, 2
Peter Dettmering, Dichtung und Psychoanalyse II, München 1974.
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hat mit den meisten seiner Zeitgenossen auf dichterisch-schriftstellerischem Gebiet die Idiosynkrasie gegen die Psychoanalyse gemein. Wie andere neben ihm übernahm er einen Teil ihrer Entdeckungen und Begriffe und wandte sie direkt oder indirekt in seinen Romanen, Erzählungen und Tagebüchern an, grenzte aber zugleich sich und das Seine in polemischer Weise gegen sie ab. Dieses in jener Epoche schon fast gesetzmässige Verhalten hängt aber wohl aufs engste mit der Tatsache zusammen, dass die Psychoanalyse zwar das von Dichtern Gewusste oder Geahnte zu bestätigen, für den gegenwärtigen und künftigen Dichter jedoch die Gefahr mit sich zu bringen schien, Seelisch-Unbewusstes werde durch technische Benennung seiner produktiven Potenz beraubt. Doderer selbst definiert es folgendermassen: Die wissenschaftliche Psychologie, wenn sie nicht bezogen wird auf die Entelechie des Menschen, kommt mir vor, wie die Betrachtung eines Pfeiles unter Absehen von der Spitze: da werden Schaft und Fiederung zu unbegreiflichen, ja fast monströsen Formen, und man gelangt am Ende vielleicht zu der Vermutung, das Ganze sei ein Werkzeug, um Schaum zu schlagen oder etwa, um sich am Rücken zu kratzen, wenn's juckt. Obwohl es möglich - und im Falle Doderer sogar sinnvoll - wäre, sein Werk einer analytischen Deutung zu unterwerfen, nehme ich Abstand davon, weil dieses hypothesenbildende Spiel oftmals versucht worden ist. Die psychoanalytische Interpretation hätte ... das doppelte Ziel zu verfolgen, Strukturlinien des Werkes mit analytischen Mitteln hervorzuheben, zugleich aber auch herauszuarbeiten, wie sich seelische Phänomene der endopsychischen Wahrnehmung dieses Dichters darbieten, erklärt Peter Dettmering in seinem Buch. Allein die Begriffe Apperzeption, Apperzeptionsverweigerung, Angst, Sexualität, Doppelgängertum, Dreieckskonflikt, Selbst- und Objektwelt und mehr Hessen vielerlei Schlüsse über das Werk und die Person Doderer zu. Moderne Literatur, meine ich, und zu der rechne ich Doderers Werk, hat nicht mehr abzubilden, zu erzählen oder darzustellen, sondern zu konstruieren, Sinn zu produzieren und sich dessen zu bedienen, was die Geisteswissenschaften zu bieten haben. So hat Doderers Beschreibung der Wiener Bourgoisie vor und nach dem ersten Weltkrieg mit der Wirklichkeit soviel zu tun wie eine Fotografie mit einem Objekt. Er verfasst Geschichte oder Historie, indem er Geschichten schreibt. Die Dämonen, sagt Herbert Eisenreich, sind der grössere, gleichsam epigrammatisch trockene Roman, in dem Doderer ein universales Bild von Wien bietet, aus dem Zeichen der Zeit aufleuchten. Ein Text ist in seiner Art vollkommen, wenn er eine Begierde des Lesers und des Autors zugleich befriedigt. Jeder, der eine Idee von Inter-
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esse empfindet, muss den Glauben, dass Literatur Realität als Tatsachenbericht abbilde, verweigern. Eines einzelnen Menschen Einstellung zur Literatur als Welterzeugung hat mit Lust und Begierde - ein Synonym für Interesse und Freude am Lesen - zu tun wie eines einzelnen Menschen Einstellung zur Sprache selbst. Das Schreiben und Lesen mehr oder weniger als Laster. Laster ist die Verbindung und Aussonderung von Punkten reinster Spontaneität durch ein hier ganz unzuständiges Continuum, sagt Heimito von Doderer. Dass dieses Laster trügerischen Charakter im Autor und im Leser besitzt, ist offenbar. Hier das Geschäft, der Erfolg, die öffentliche Wirkung, dort das Imponiergehabe, der kleine Vorteil im sozialen Gefüge. Die meisten Menschen leiden an der Schwäche, zu glauben, weil ein Text, ein Stück Literatur vorhanden sei, müsse es für etwas vorhanden sein; das Geschriebene ist vorerst nicht für etwas, sondern für irgendwen vorhanden. Einmal für den Autor und dann für den Leser. Wenn nun der Leser nicht fähig ist, mit ähnlichen Intentionen wie der Autor zu reagieren oder eine Welt zu erzeugen, wird er das Stück Literatur zwar für gut oder unnütz, schlecht oder nützlich halten, nicht aber erkennen, was der Urheber eigentlich wollte. Wenn es nur eine Welt gibt, umfasst sie eine Vielfalt möglicher Gesichtspunkte; wenn es viele Welten gibt, ist ihre Zusammenfassung eine. Die eine Welt kann als viele oder die vielen können als eine aufgefasst werden; ob eine oder viele, das hängt von der persönlichen Auffassungsweise ab (Nelson Goodman).' Wir knien vor einem Bild, einem Gedicht, einer Musik nur nieder, wenn sie wenigstens mit einem Wort, einem Detail, einem Ton dasselbe zustandebringen wie jene Weltausstellung von Träumen und Erinnerungen, hat Richard Weiner behauptet. Die österreichische Literatur beweist vor allem, dass sie besteht. Mehr nicht. Ob sie nun gut ist oder schlecht. Der Unterschied zur deutschen ist nicht so wichtig, da die Treue der Literatur zur gesinnungsfreundlichen Berichterstattung genau so eine Eigenart darstellt wie die Fixierung auf die Seele und die Sprache unter Einbezug der Traditionen einer Monarchie mit viel Hinterland und der daraus entstandenen Mischung vieler Mentalitäten, die nun einmal die österreichische ist. Die Auffassung von Welt und Wirklichkeit ist hierzulande jedenfalls eine andere, ob bei Doderer, Jandl, Joseph Roth, bei der Bachmann, Gruber, Czernin oder Okopenko. Vielleicht ist sie so ähnlich wie die Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfun a.M. 1990
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von Franz Mon, Johannes Schenk, Günther Bruno Fuchs oder in Paul Wührs Gegenmünchen. Eben unwirkHch oder anders. Unter Umständen eine literarische Wirklichkeit. Grass wird das schon wissen, was wirklich ist, genauso wie Süsskind oder Kempowski. Oder John Updike. Das sieht man am Erfolg. Wenn dieser das Kriterium ist. Die andere Wirklichkeit ist eben anders. Im Unterschied zur Wissenschaft oder zum Journalismus stellt eine bestimmte Literatur ein freies Schreiben dar. Es macht sich selbst. Wie die Drift der Erkenntnis in der Wissenschaft nicht organisierbar ist, sondern aus einem Forscherdrang oder Problembewusstsein entsteht, so ist Literatur etwas, das mit Lust und Laune gemacht ist. Ob sie nun veröffentlicht wird, also geschrieben erscheint, hängt vom Markt und seinen Gesetzen ab. Eigentlich fragt keiner, ob man diese oder eine andere Literatur braucht, wenn sie gerade erst geschrieben wird. Ein Schriftsteller ist ein Mensch, dessen Sprache der Welt entsagt hat, dessen Person in ihren Netzen verstrickt bleibt, sagt Doderer. Zum Teil avancierte Literatur - auch durch Doderer - zur Travestie des Intellekts, indem sie den Erkenntniszwang unterläuft. Auch wenn Theodor Reik behauptet hat, dass die Identifikation mit dem Leiden anderer sich als scheinmasochistische Gebärde in Kultur verwandelt, bleibt dies nichts als eine Attitüde. Dahinter mag es tatsächlich Bedürfnisse und Wünsche geben, einen psychischen Hintergrund, der einer Stimmungslage dient und dem Geschäft schadet oder nützt. Was letzten Endes überbleibt, was man zu sehen oder zu hören bekommt, ist nur ein Surplus, der Uberschuss dessen, was tatsächlich geschieht, wenn einer sich vor das Blatt Papier gesetzt hat. Das, was beim Schreiben wirklich passiert, ist mehr, viel mehr oder ein wenig mehr. Und das, was auf dem Papier landet, ist der Rest davon. Es fällt schwer, dasselbe von der Wissenschaft zu behaupten. Die Lust an der Inszenierung, der verschwiegene oder offene Einbezug des Ichs und der eigenen Geschichte, auch wenn der Autor sich hinter seinen Protagonisten versteckt, ist Literatur. Oft ein Surrogat. Nachdem als möglicher Modus moderner Literatur eine weltweite Informationssflut entstanden ist und Furore macht, entwickelte sich die Eliminierung dessen, worüber informiert werden sollte: das Ich in der Welt. Name dropping in aller Intensität ersetzte die Intimität von Literatur. Vom Ereignis des Ichs, vom Pathos wie bei Doderer, Musil, Joyce, Carl Einstein oder Valery, geriet Literatur immer mehr zu einer Berichterstattung, zu einer Zeugenarbeit mit Anteilnahme an Moden, Katastrophen, Unfällen, Anfällen und Einfällen. Jedermann weiss, dass alles ein Lügengespinst ist. Oder eine Traum-
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deutung, nicht mehr. Doderer behauptet: Traumdeutung kann nichts anderes sein als die glücklich benützte Möglichkeit, welche der Anblick vollends aufgedeckter innerer Mechanik bietet: nämlich daraus auf die Mechanik des äusseren Lebens zu schliessen. Das kann man allerdings auch auf die Literatur, auch seine, anwenden. Die Menge geniesst die Deutung und die Manipulation fremder Ichs, das Abschieben des Wirklichen ins Nichts und starn vergnügt in die Bücher und Monitore. Das reibungslose Dahinplätschern eines sich durch den Fluss der Ereignisse selbstbefriedigenden Systems von Literatur erhält sich selbst und beschäftigt viele. Noch. Es ist ein Spiel. Die Umwandlung des Subjekts zu einem Objekt erzeugt eine Veränderung zum allwissenden Zeugenstand. Die Wirklichkeit und die Figuren am Horizont. Immer zu spät und immer aus der Feme. Und das Publikum blickt aus den Fenstern und lacht und ruft: wo sind denn wir? Die mehr oder weniger moderne Art zu schreiben kennt nur ein Ziel: sich zu erhalten, wie Systeme sich eben selbst erhalten. Kleine Traummaschinen mit Köpfen und Seelen. Voll mit Träumen, die immer nur Träume zulassen. Literatur als eine ins Unermessliche wuchernde Vergrösserung des Bewusstseins. Eine Bewusstheit. Die allumfassende Bibliothek. Und in dieser riesigen Bibliothek die Autoren und Autörchen, die konsumieren und produzieren und damit ihre Erregungssummen im Gehirn hochrechnen und die hochgerechneten Ergebnisse in Lust oder Unlust, Freude oder Schmerz, Gewinn oder Verlust, Liebe oder Hass werten. So reguliert sich alles im Autor in einer Zweiteilung: in Literatur und im Bewusstsein dessen, was er tut: schreiben. Literatur generiert'* sich selbst. Deshalb gibt es in ihr und für sie auch keine äussere Wirklichkeit. Letztere ist das Feld des Journalismus. Wird behauptet. Wenn man diese Gedankengänge der Inexistenz von äusserer Wirklichkeit in der Literatur akzeptiert, heisst das genau genommen, den Zug zu verlassen, abzuspringen; von einer vorgetäuschten Wirklichkeit zu sich selbst zu kommen. Die Figuren werden zum Surrogat' der Ichs. Was der Autor sucht und findet, hat alles schon einmal stattgefunden, hat alles schon einmal durchquert, hat viele Arten und Formen von Bewusstsein durchwandert, hat die Mühlen der Akzeptanz längst hinter sich. Vieles ist vergessen oder taucht plötzlich wieder auf. Was der Autor unter Umständen findet, ist ein Teil seiner selbst und niemals ein Teil eines anderen, auch kein Teil von Ihnen oder irgendwem. Ebenso müssen, was Sie finden, auch Sie gesucht haben und nicht der Autor. Jeder ist eben ein 4 5
Generieren, hier: aus einer Tradition des Herstellens hervorbringen. Surrogat, hier: Ersatzhandlung.
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eigenartiges Wesen, ein System, und eben nicht unbedingt ein Abhängiger in der Art eines Rädchens, das sich mitdreht. Auch Doderer. Der Zirkelschluss des Ichs ist unentrinnbar. Die Natur des Ichs ist sein Pathos^. Und die Wirklichkeit ist das Verdrängte. Die Möglichkeit der Erkenntnis die Psychologie. Der Omnibus, der dem Luftschiff nachfährt. Die Verdrängung des Wirklichen durch die Literatur ist absolut und obsolet. Doderer ist ein Beispiel. Die Verdrängung der Wirklichkeit über die Sprache ist seine Fiktion, die sehr gut zur österreichischen Literatur passt. Der bevorzugte Ort des Vorgehens ist mit den Worten und Sätzen als Werkzeug die grosse, unendliche Bibliothek, in der alle Zeichen, in all den unzähligen bewusstseienden Bewusstseinsstrukturen mit allen Löchern, Lücken und Fugen und Ritzen und Zu- und Abflüssen, Eingängen und Ausgängen und Ubergängen aufbewahn sind. Ein Arbeitsfeld, das nicht zwischen Sein und Schein unterscheiden lässt. Der Autor kann sich tatsächlich nicht mehr auf Wahrheitsfindung einlassen wie die Wissenschaft, die auf Erkenntnis pocht und die Wahrheit will. Die Wirklichkeit ist die fable convenue der Philister, meinte Hofmannsthal. Ursprünglich schrieben und redeten die Dichter über sich, mit sich und miteinander und lösten Schritt für Schritt und Wort für Wort ihre Existenz auf, um sie durch Literatur und Poesie zu ersetzen. Vielleicht ist so die Winterreise entstanden oder die Sache mit Lenz, als er ins Gebirge ging?^ Irgendwann, irgendwo im Januar. Da ist ein Subjekt gestorben. Die technische Reproduzierbarkeit, welche die Welt und Weltwirklichkeit Stunde um Stunde und Wort für Wort ersetzt, stösst immer auf Halbwahrheiten. Na und? Wie ein Spiegel wirft die Künstlichkeit der Literatur die Wirklichkeitswelt in ein graues Feld. Wie es keine Wirklichkeit gibt oder mehr gibt, gibt es keine Wahrheit. Ich, fragt der Autor, und meine Zukunft in der Welt. Die Zukunft in seiner Welt. In welcher? In seiner, in seiner Zukunft. In die Zukunft verlegt er seine Hoffnungen. Mit diesem Ritual revanchiert er sich in Gedanken für die Unfreundlichkeiten der Welt in der Gegenwart. Gleichsam stellt er ein zukünftiges Wohlergehen der gegenwärtigen Armseligkeit gegenüber. Die Zukunft ist sozusagen das Traumland, ein Lunapark* wie die Freiheit. Mehr oder weniger wird dieser Trick mit Erfolg betrieben; denn wenn die Zukunft erfunden ist 6 7 8
Pathos, hier: Leidenschaft, Begeisterung. Georg Büchner. Walter Serner: Die Freiheit ist ein Lunapark.
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und sie nicht so ausschaut wie er will, ist sie nichts anderes als eine Lüge. Und wenn es ihm tatsächlich gelingt, etwas zu erfinden, blickt er auf die Vergangenheit, also die derzeitige Gegenwart und denkt: Ich habe meine Wirklichkeit und mein Ich in die Welt gesetzt. Jeder hat doch das Menschenrecht, zu träumen. Ein Autor natürlich auch. Das Ich fürchtet sich wohl oder übel davor, in seinen ganzen Schwächen erkannt zu werden. Immer wieder. Auch bei Heimito von Doderer. Es gibt zwar Spezialisten, Mechaniker, Entstörer für das Ich. Psychologen. Aber auch diese architects of ego-changin^ verhalten sich hilflos den Ichs gegenüber, vielleicht wie die Kinder im Wald. Die unschuldigen Wesen sehen nicht den Wald, sondern nur die Bäume. Die schuldigen Psychologen sehen nicht das Ganze, den Menschen, sondern nur, ja was? Symbole, Figuren und Symptome als Nährboden unglaublicher Deutungen. Im Grunde sind Psychologen tatsächlich wie Chauffeure von Omnibussen, die einem Luftschiff nachfahren. Die Wahrheit schwebt in der Ferne, der Busfahrer versucht sie einzuholen, aber das Schiff mit den Ichs verschwindet, hinter einer Wolke vielleicht. Der Fahrer versucht es überall aufzustöbern und fragt und redet und redet und deutet, als hätte er es wirklich gesehen. Er stellt Mutmassungen an, weil er nicht aufgeben darf. Das Pathologische ist nichts als ein wandernder Akzent, welcher über dem Allzu-Individuellen stecken geblieben ist, sagt Doderer. Ich und Du haben eigene Ordnungen. Angenommen, ein Ich offeriert einem Du, auch wenn es ein Ich, z.B. ein Uberich ist, die Definition seiner selbst. Das Ich kann das auf verschiedene Weise tun, aber immer heisst es: so sehe ich mich oder es. Es liegt in der Natur der menschlichen Beziehungen, dass einem Du nur drei Wege offenstehen: die Bestätigung, die Verwerfung oder die Entwertung. Warum.^ Die Natur des Ichs ist eben sein Pathos. Und die Natur ohne Ichs? Gibt es nicht. Und das Ich ohne Natur? Ergibt keinen Sinn. Ein Beispiel: Ich sehe ein Bild vor mir. Mit einem Ich. Ein Feldweg, braun mit Karrenspuren, Steine am Wegrand. Zum Horizont hin wird der Weg schmäler und verschwindet als Strich hinter einer Steigung. Auf der linken Seite, neben den Karrenspuren, steht ein Baum mit einer riesigen, grünen Krone. Wie eine Kugel leuchtet sie. Links und rechts davon Wiesen mit Blumen, darüber ein gelber Schimmer. Auf der einen Seite in der Ferne blaue Hügel, Wellen gleich, hintereinander. Sie berühren den Himmel. Von rechts her schiebt sich eine 9
Vic Meyer, Some problems in behaviour therapy, Middlesex 1966.
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dunkle Wolkenfront. Es ist Sommer. Kein Mensch ist zu sehen. Plötzlich kommt einer den Weg entlang. Langsam schreitet er mit schweren Schritten auf den Baum zu. Er bleibt stehen, nimmt eine Motorsäge vom Rücken, zieht an einer Leine, der Motor springt mit einem knatternden Geräusch an. Der Mann setzt die Säge am Stamm des Baumes an und schneidet Segmente aus ihm heraus. Die Krone zittert. Nach einiger Zeit tritt er zurück. Der Baum fällt mit Krachen um und liegt quer über dem Weg. Ein elendes Bild, nicht? Die Natur und ein Ich. Irgendeines. Der Mann könnte erklären, was er getan hat. Wie man alles erklären kann. Es wäre plausibel. Wenn ihn einer fragen würde. Einer hat gesagt, er soll den Baum umschneiden. Er, der Mann bekomme dafür seinen Lohn. Der Mann würde davon reden, dass ein anderer ihm gesagt habe, er solle den Baum umschneiden. Der andere sei der Chef. Der habe das Recht. Nicht er. Der Baum stehe im Wege, habe der Chef gesagt. Darum gehöre er weg. Und er hat es getan. Nicht mehr. Klar. Schliesslich und endlich verdiene er damit sein Geld. Er habe die Säge. So ist es eben. Was sei daran falsch? Ein Baum mehr oder weniger. Was würden die Psychologen sagen? Das Bäumefällen oder das Bäumeumschneiden als psychologische Metapher lässt leicht Vermutungen über die Menschenseele, ja, ihr Verhältnis zur Natur zu. Der Baum als phallisches Symbol. Das Fällen, das Schneiden, das Hacken, das Absägen als Kastration. Dahinter steht ein kollektiver Kastrationswahn der Menschheit. Nicht? Vielleicht lässt sich ein Zusammenhang zwischen den Beschneidungsritualen der Araber und Juden und einem Kastrationswunsch herstellen? Denken lässt sich viel. Ziel des Bäumefällens als psychischer Akt der Kastration von Natur ist - unabhängig von der Nützlichkeit des zu verarbeitenden Materials Holz - die mechanische Reproduktion eines regressiven Moments,'" eine Kastrationsmechanik,'' die unter der Herrschaft des Triumvirats Ich-EsUberich folgende Bedeutung beinhaltet: gib' den immerwährenden, geforderten, männlichen Anspruch auf Gewalt auf, entmanne dich und damit ein Stück Natur oder umgekehrt: entmanne die Natur und auch ein Stück von dir, damit du entmannt als Ding zur Natur zurückkehrst. Wie das Klirren der Axt und das Quietschen der Säge es verspottet, wirst du
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Regressives Moment, hier: ein zeithches, insofern es sich um ein Rückgreifen auf ältere, angenommene psychische Bildungen handelt, vgl. Laplanche, Pontalis. Kastrationsmechanik, ein Neologismus.
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hierfür belohnt in einen penislosen Menschenbund aufgenommen, welcher das Geheimnis der Impotenz mit der Absage an alle Zukunft verbindet. Im Augenblick, wo du als Mann die Motorsäge oder die Axt an den Stamm setzt, hat dich dein Schicksal und Ende schon erreicht. Würde der Arbeiter, der den Baum am Wegrand umgeschnitten hat, so oder so ähnlich denken, wäre die Welt der Menschen eine unproduktive Denkergesellschaft ohne Zukunft und er ein Geisteskranker. Durch den Geist entmannt. So etwas kann man behaupten. Technisch. Akademisch, meine ich. Eine Travestie des Intellekts. Denken heisst, sagt Doderer, einen Punkt ausserhalb des Zweckmässigen so ausdauernd und konsolidiert beziehen, dass der Weh Zeit genug bleibt, ihr nun ganz verwandeltes Bild bis zum Hervortreiben neuer Gegensatzpaare zu detailieren. Nun gut. Es war wohl ein erfundenes Beispiel dafür, dass jeder auch ein Holzfäller schuldig gesprochen werden kann. Je grösser der Abstand zwischen der Moral und dem normalen Leben ist, desto grösser ist der Bedarf an Sündenböcken. Und im Hintergrund das Christentum, das Neue und das Alte Testament. Aaron lege seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes und bekenne über ihm alle Schuld der Israeliten und alle Übertretungen, die sie irgendwie begangen haben; er soll diese auf den Kopf des Bockes legen und diesen in die Wüste hinaustreiben. Der Bock aber soll ihre Schuld mit sich wegtragen in eine abgelegene Gegend. (Moses 16, 21 - 22) Sündenböcke heisst auf griechisch: pharmakos.'^ Ein schöner Wahnsinn, nicht? Eine Travestie? Nichts ist leichter als den Wahnsinn auf eine unsichtbare, unerklärliche Veranlagung zu schieben und zu sagen: wenn dieser Mensch eine andere Natur hätte, so wäre er nicht krank oder verrückt geworden. Oder wäre kein Holzfäller geworden. Oder keiner, der schreibt. Die Natur und das Ich. Ich und die Natur. Und die Welt. Mein Ich. Alles verlangt eigene Wahrnehmungskünste. Das ist das elende Schicksal alles Geschriebenen, eines Briefes, eines Manuskriptes. Und was sagt die Psychologie, die Psychologen? Welche? Die mit dem Omnibus dem Luftschiff nachfahren. Die Psychologen wissen viel, zuviel über die, die schreiben. Schliesslich schreiben sie ja. Auch. 12
Thomas Szasz, Geisteskrankheit
- ein modemer Mythos, Frankfurt a.M. 1975.
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Oder ist Schreiben ein in stumpfer Trostlosigkeit produzierender, maschineller, instrumenteller Akt des Denkens? Mit vielen Fehlermöglichkeiten. Einer, der schreibt, ist gleichsam einer, der auf Stelzen geht. Er bildet sich ein, einen Wettlauf eher zu gewinnen, weil er künstliche, lange Beine hat oder eine Prothese benützt. Gut, er steht über allem und wartet. Doch beim ersten Schritt kann er stolpern und tief, sehr tief stürzen. Beim ersten Satz kann er scheitern. Auch Doderer hätte scheitern können. Das ist die Welt des Schreibers mit seiner Welterzeugungsmaschine Literatur und mein Versuch, es, das Schreiben wahrzunehmen. So wenig es die absolute Identität des Ichs gibt, gibt es die absolute Identität des Schreibers. Unser wahrer Besitz, sagt Doderer, besteht in der jeweiligen Spitze unserer Ahnungen. Sie allein sind unser wirkliches Leben. Das übrige ist zottelnder Nachtrab. Literatur als Wirklichkeitsersatz. Ich ist immer ein anderer. Es vertraut Irrtümern und Lügen. Es ist sich sicher. Ich bin mir sicher. Gegen die unglaubliche Intelligenz des Unbewussten. Das Ich glaubt sich sicher. Auch das Ich des Schreibers. Sicher. Ein Phänomen der zeitlich abhängigen Sicherheit, die plausibel ist. Und hinter der Plausibilität lauern die Irrtümer und Fehler. Sehe ich von der zweifelhaften Identität und Individualität eines Ichs ab und vertraue dem zu bestreitenden Ich-Gefühl, bin ich mehr oder weniger irgendein Individuum, ein Wesen. Vertraue ich dieser Empfindung nicht, nehme ich mein Ich nicht wahr, betrachte ich meinen Körper nicht als Individualität, sondern als Form gleich einem Strombett, in dem unaufhörlich Bewegungen stattfinden, so würde ich, mein Ich schnell als verrückt gelten. Und auch der Österreicher Heimito von Doderer, wenn er sagt: Die Kunst des Romans besteht darin, ausservernünftige Zusammenhänge entdecken zu können, welche schliesslich auch das Vernünftige mit einschliessen. Von daher muss der Roman durchaus verständlich sein, mindestens aber einer grossen Zahl von Lesern so erscheinen, die ihn gar nicht verstehen. Die enorme psychologische Begabung Doderers ist nie bestritten worden, obwohl gerade er die Psychologie nur als Hilfswissenschaft bestehen Hess. Dadurch, sagt Eisenreich, wird seine Kunst, auch im Gegensatz zur Gattung eines psychologischen Romans des neunzehnten Jahrhunderts, zu dem, was sie auf höchsten Niveau zu sein vermag: die Wissenschaft vom Leben.
DIETRICH WEBER
Wolfgang Fleischers Doderer-Biographie
Zu Wolfgang Fleischers Buch über Heimito von Doderer hätte ich hier auf diesem Symposion gerne, wie es verabredet war, in seiner Anwesenheit gesprochen.* Auge in Auge und zugleich doppelt befangen in zwei Freundschaften: der Freundschaft mit Doderer selbst, die er mir gewährt hat, und der Freundschaft mit Wolfgang Fleischer, mit dem ich mittlerweile seit rund dreißig Jahren gerade durch Doderer verbunden bin. Es hat dies nicht sein sollen. Ich bin genötigt, in Abwesenheit Wolfgang Fleischers ein Statement zu seinem Buch abzugeben, ohne daß er direkt darauf antworten kann. Pointiert gesagt, besteht mein Statement aus einem einzigen Satz: Ich halte sein Buch für ein großartiges und zugleich für ein problematisches Buch. Großartig ist es, wie man nicht bezweifeln wird, in der Ausbreitung seines Gegenstands in einem Maß von Fülle, Detailliertheit, Anschaulichkeit und Genauigkeit, wie es es bislang in Sachen Doderer nicht gab und wie es kaum übertreffbar sein dürfte. Problematisch ist es, wie man nicht übersehen wird, in der Haltung gegenüber seinem Gegenstand, In der Einschätzung seines Gegenstands, in der skeptizistischen Reserve des Biographen gegenüber dem Helden seiner Biographie. In der Einleitung seines Buchs hat Wolfgang Fleischer selbst erklärt, daß Doderer ihm nach anfänglicher Vertrautheit in jungen Jahren, als er ,Secretarius' bei ihm war, zuletzt beim Recherchieren zu seinem Buch und beim Schreiben als ein geradezu unbekannter und für ihn schwer verständlicher Mensch gegenüberstand.
Gegenstand des Buchs ist, wohlgemerkt, Doderers Leben, nicht sein Werk. Es geht Wolfgang Fleischer dezidiert kompetenzbescheiden um Anmerkung des Herausgebers: Auf Wunsch des Autors erscheint der Beitrag unter Wahrung aller mündlichen Beziige zum Berliner Doderer-Colloquium.
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nichts weiter als um die Erzählung der Geschichte eines Lebens, nicht um Analyse und Würdigung des schriftstellerischen Werks, welche Aufgabe er für seine Person als Kompetenzüberschreitung angesehen hätte. Die gestellte Aufgabe löst das Buch nun allerdings, was die Ausbreitung des Faktischen betrifft, auf die sattsam befriedigendste Weise ein. Man erfährt aus ihm ebenso klar wie lebendig, wie es war in Familie, Kindheit und Jugend Heimito von Doderers; wie in Sibirien, in der Kriegsgefangenschaft, wie mit dem Werden des Schriftstellers; wie in der Studentenzeit im Wien der zwanziger Jahre; wie mit Gusti Hasterlik, seiner ersten Frau (ein endloses Kapitel); wie mit den zahlreichen anderen erotischen und sexuellen Affären; wie überhaupt mit seiner unbegreiflich komplexen und befremdlich vertrackten Sexualität; wie später mit Maria, seiner zweiten Frau, und zugleich mit Dorothea Zeemann, seiner anderen späten Geliebten. Man wird trefflich darüber ins Bild gesetzt, wie es wirklich und im einzelnen war in politicis, mit seiner Parteinahme für den Nationalsozialismus und seiner Abwendung davon bis hin zu den Nöten und Skurrilitäten der sogenannten Entnazifizierung. Man bekommt detailliert auseinandergelegt, auch und gerade im politischen Zusammenhang, wie es war mit Doderers Konversion zum Katholizismus. Man gewinnt durch einläßliche Sichtung seiner Lektüre und seines Studiums ein anschauliches Bild von den geistigen Grundlagen, aus denen sich seine praktischen Theorien zu Leben und Kunst entwickelt haben. Man erhält schließlich ein minutiöses Bild seines Lebens in der Zeit seines triumphalen Erfolgs als Schriftsteller und Repräsentationsfigur und zugleich seines schmerzlich dahinter verborgenen Leidens bis hin zum armen Sterben. Auf weite Strecken liest sich das Buch wie ein geradezu lückenloses Kalendarium von Doderers Existenz. Es steckt ein immenser Aufwand an Recherchierarbeit darin, die Wolfgang Fleischer über Jahre hinweg entsagungsvoll geleistet hat. Eine kaum übersehbar große Zahl von Zeitzeugen hat er befragt, und zahlreiche Legendenbildungen hat er kritisch auf ihren faktischen Kern zurückgeführt. Einer der ersten Eindrücke meiner Lektüre (schon während der Entstehung des Buchs) war die Irritation darüber, wieviel wir alle, die wir über Doderer geschrieben haben, zurückzunehmen oder zurechtzurücken haben aufgrund allein des hier dargelegten faktischen Materials.
Zu würdigen ist Wolfgang Fleischers Buch weiterhin als ein Werk schriftstellerischer Kunst: nicht nur im Stilistischen - mit seinen zahl-
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reichen Glanzformulierungen - , sondern auch im Handwerklichen. In der lebendigen Abwechslung von singulativem (oft anekdotischem), summarischem und iterativem Erzählen: Darstellung von einzelnen Ereignissen wie von Umständen und Gewohnheiten über die Zeiten hinweg. In seiner instinktsicheren Charakterisierungskunst bei den zahlreichen eingestreuten Porträts von Personen aus Doderers Umkreis. In seiner meisterhaften Beschreibungskunst - wie zumal bei dem Kabinettstück der Bestandsaufnahme der Details von Doderers letzter Wohnung in der Währingerstraße. In seiner Überschreitung des kategorial monographischen Erzählens der Biographie - ganz in Doderers Sinn - in Richtung des polygraphischen Erzählens durch das Verfolgen von Personen aus Doderers Umkreis in Zusammenhängen, die aus Doderers Gesichtskreis hinausführen, worin sich nicht zuletzt die erklärte Intention des Verfassers dokumentiert, nicht nur ein Buch über Doderer schreiben zu wollen, sondern zugleich über die Zeit, in die Doderer als einer unter anderen gehört.
Das zentrale Thema des Buchs ist, wie es nicht anders sein kann, das Doderersche Syndrom oder die Doderersche Dialektik, wie wir sie wenn auch bislang noch nicht aus detaillierter Kenntnis seines Lebens, so doch schon aus seinem Werk kennen: die Dialektik, um es mit seinen eigenen Begriffen zu sagen, von Apperception und Deperception, die Spannweite der Kämpfe, die er in sich auszutragen hatte, die jähen Wechsel von Euphorie und Depression, mit einem Wort: seine Schwerlebigkeit. Soweit gehe ich konform mit Wolfgang Fleischer. Und vielleicht auch noch ein Stück weiter, was die Herausschärfung der düsteren Seite dieser Dialektik betrifft: Wolfgang Fleischer verschärft als grundierende Linie von Doderers Leben die Linie des Desperaten, des Verzweifelten, des Nicht-mit-sich-selbst-zu-Rande-Kommenden, des Schwermütigen, des Leidenden. Es ist dies wohl realistisch. Es ist hart, es mag vielen schwer fallen, aber es ist unausweichlich, zur Kenntnis zu nehmen, daß alles das, was es an Hellem, an Menschenfreundlichem, an Strahlendem in Doderers Werk gibt, nicht eigentlich seiner Natur entsprach, sondern daß es mühsam beschworen wurde als Gegenbild zu dem, was er war.
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5 Meine Reserve gegenüber Wolfgang Fleischers Buch betrifft seine Akzentuierung des Falls Doderer als eines Falls von verleugnetem Leben, wie das Titelmotiv es ausspricht. Es liegt dem zwar ein Dodererscher Gedanke zugrunde, nur ist er bei Wolfgang Fleischer anders akzentuiert als bei Doderer. In der Besessenheit, mit der Doderer auf sein Werk aus war auf Kosten seines Lebens, hat Doderer selbst offenbar gerade die ihm mögliche Erfüllung seines Lebens gesehen. Wolfgang Fleischer legt dagegen den Akzent offenbar ganz auf das Quälende, das Selbstquälerische, auch das Verkrampfte und das Gewaltsame, das damit verbunden war. Ich halte dies für problematisch.
In Ventilierung des Problematischen möchte ich vor allem dreierlei ansprechen. Das erste hängt mit Wolfgang Fleischers Vorsatz bei diesem Buch zusammen. In unseren Gesprächen während der Ausarbeitung hat er angesichts meiner Bedenken gegenüber seiner kritischen Sicht immer wieder geltend gemacht, daß eine Biographie anders Gefahr laufe, zur Hagiographie zu werden, was es denn nun doch zu vermeiden gelte. In dem Maß, wie dem zuzustimmen ist, ist aber zugleich zu bedenken, daß eine Biographie damit auf der anderen Seite Gefahr laufen kann, zur demonstrativen Anti-Hagiographie zu werden. Ich meine, daß Wolfgang Fleischers Biographie (problematischerweise) zumindest die Spuren des Hagiographie-Vermeidenwollens zeigt. Das zweite, was ich als problematisch empfinde (ohne unter den gegebenen Umständen eine Lösung zu wissen), ist der Umstand, daß in Wolfgang Fleischers Buch offenbar zwei Welten, zwei Zeitalter oder auch - mit Doderers Worten - zwei Befangenheiten, zwei Auren aufeinanderstoßen, die sich nicht miteinander vertragen. Wolfgang Fleischers Buch ist einem anderen Bild von Leben, Geschichte, Politik, Kunst und Literatur verpflichtet, als Doderer es hatte. Es geht hier um die Fremdheit oder auch Entfremdung, die ich vorhin angedeutet habe. Der dritte problematische Aspekt liegt im Kategorialen des Buchs als dezidierter Biographie in Abgrenzung gegen den (vielleicht altmodischen) Typus der Gesamtdarstellung (nach dem Muster „Leben und Werk"). Auch darüber haben wir während Wolfgang Fleischers Ausarbeitung seines Buchs immer wieder gesprochen. Nach der zweiten Lieferung seines Manuskripts (Kapitel 8 bis 18) habe ich im Brief zusammen mit
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meiner Gratulation und meiner Respektbekundung die Frage gestellt: „Besonders gespannt bin ich, wie Du aus dem Späteren die denn doch wohl gelungene Größe herausholen wirst - nach alledem Niederen, das da die Basis bildet." Seine Antwort darauf lautete: „Das wirkliche Problem dieser Arbeit hast Du sehr eindeutig angesprochen: wieso kommts - quasi: trotzdem - zu Doderers Werk und Qualität. Diese Frage sollte in meinem Buch, wie ich das sehe, nicht ins Germanistische geraten, wo man sich damit leichter täte (was aber kaum meine Aufgabe wäre), sondern im Biographischen bleiben, so weit dies nur möglich ist. Und hielte ich das nicht für möglich, wäre mir meine bisherige Arbeit viel zweifelhafter gewesen; aber ich wußte schon dabei, wo die - sicherlich nicht unbeträchtliche - destruktive Linie der Beschreibung ihre Brüche bekommen wird. Und gäbe es die nicht, dann wirkte doch zuletzt meine eigene ausführliche Beschäftigung etwas überflüssig." Ich bin mir nicht sicher, ob diese Frage tatsächlich „im Biographischen bleiben" kann. Jedenfalls scheint es mir, daß das Buch da, wo die „destruktive Linie der Beschreibung" „ihre Brüche" bekommt, ganz selbstverständlich auf das Werk rekurriert. Ich meine besonders die Stellen, in denen Wolfgang Fleischer von Doderers Letztem spricht, von dem Unternehmen des Roman muet, das er als eines der ehrgeizigsten Projekte der Romanliteratur insgesamt würdigt und aufgrund dessen er zuletzt den Fall Doderer als ein absolut singuläres Phänomen pointiert. In diesem Punkt sehe ich den eigentlichen Fluchtpunkt von Wolfgang Fleischers Buch, und hier gehe ich mit ihm wieder ganz konform.
Ich hätte, wie gesagt, alles das, was ich hier erwäge, gern in Anwesenheit Wolfgang Fleischers gesagt. Wir hätten dann munter über das Für und Wider unserer unterschiedlichen Ansichten des Falles Doderer diskutiert. Keine Frage wäre allerdings meine Einschätzung seines Buches insgesamt gewesen. Was immer ich an Einwänden habe, ich stelle sie hinter meinen Respekt vor Wolfgang Fleischers Leistung zurück.
Personenregister Herausgeber wurden nicht berücksichtigt
Achleitner, Friedrich X f., XIII, 7 Adorno, Theodor W. 13,17,27 f., 155,336 Alain 278, 282 f. Alker, Ernst 88 f. Allers, Rudolf 101 Alsberg, Paul 156 Altenberg, Peter 54, 284 - 291 Arntzen, Helmut 311 Artmann, Hans Carl 7,130 f., 287 Aspetsberger, Friedbert 7 Austen, Jane 211 Bachem, Michael X, XHI, 176,199,237,239 Bachmann, Ingeborg 105, 338 Bächthold-Stäubli, Hanns 210 Bachtin, Michail M. 24, 212, 217 Balzac, Honore de 8 Barker, Andrew [W.] X, XII - XIV, 54, 211,213, 238, 263, 285 Barthes, Roland 14,21 Baudelaire, Charles 274 Bayer, Konrad 131 Beck, Heinrich 316 Beethoven, Ludwig van 44, 52 Behne, Alfred 129 Benjamin, Walter 29 Bernhard, Thomas 134 Bettauer, Hugo 103 Biedermann, Hans 184 Bier, Jean Paul 96 Billinger, Richard 204 Birus, Hendrik 95 Blaschek-Hahn, Helga 220, 234 Blauert, Andreas 179 Blei, Franz 304, 330 f. Bloom, Harold 256 Blumenberg, Hans 154 Bodin,Jean 178 Bohrer, Karl-Heinz 306 f. Booth, Wayne C. 222
Borchmeyer, Dieter 28 Börne, Ludwig 266 Bosmajian, Haminda 237 Botulitzky 99 Braun, Michael 28 Brechenmacher, Josef von 89 Brecht, Bertolt 266 Broch, Hermann 16, 167 Brod,Max 335 Brosthaus, Heribert 309 Bruckmüller, Ernst 267 f., 271 Brude-Firnau, Gisela 201 Brunichildis 216,219 Buber, Martin 245 f. Buchard von Belleveaux 210 Buchholz, Torsten XIII, 79, 308 Büchner, Georg 341 Bürger, Peter 17 f. Burgess, Anthony 224 Canetti, Elias 335 Childebert 206 Childerich III. 208 Childerich IV. 208 Chilperichl. 216 Christo 280 Cioran, E.M. 292 Ciaessens, Dieter 148, 151, 154, 156 - 160 Cooper, C.J. 82 Cunningham, Valentine 224 Czernin, Franz Josef 27 f., 338 Delumeau, Jean 184 Derrida, Jacques 224 Dettmering, Peter 336 f. Döblin, Alfred 14, 123 f. Doderer, Astri von 89 Doderer, Helga von 89 Doderer, Ilse von 89 Doderer, Immo von 40, 89 Doderer, Maria von 321
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Register
Dollfuß, Engelbert 276 f. Dopsch, Alfons 2 1 8 - 2 2 0 Dostojewski), Fjodor M. 24,159, 256,296 Dressel-Uylefeldt, Otto von 99,105 Dux, Günter 154 Eco, Umberto 224 Ehrismann, Otfried 216 Eichmann, Adolf 240,255 Eichner, Hans 238 Eilert, Kristin 12 Einstein, Carl 336,339 Eisendle, Helmut X f., 10, 167 Eisenreich, Herbert 6,9,319, 323,337,345 Engelhardt, Viktor 79 f. Erb, Elke 289 Fischer, Otto 83 Fischer, Samuel 286 Fleischer, Wolfgang [H.] IX, 1 f., 6, 11, I I I f., 136, 199, 202, 204, 218, 248, 252, 267, 273, 304, 319 f., 323, 347 351 Fleischer, Wolfgang 91 Flesch-Brunningen, Hans 2, 10, 104, 205 Fließ, Wilhelm 294 Pocke, Alfred 320 Fontane, Theodor 104 Franz von Assisi 280 Franz, Adolph 178 Fredegarius 217 Fredegunde 206,219 Frenzel, Elisabeth 203 Freud, Sigmund 60,294 Frieden, Egon 130,287 Frischmuth, Barbara 3 Fritsch, Gerhard 10 Fuchs, Günter Bruno 339 Fuld, Werner 307 Galsworthy, John 235 Gamper, Herbert 13 Geertz, Clifford 154 Gehlen, Arnold 151 - 154, 157, 159, 164, 166, 172 Gelis, Ursula XIV George, Stefan 257 Gerber, Richard 105 Gide, Andre 274 Goethe, Johann Wolfgang 44, 293, 317 Gombrowicz, Victor 274 Goodman, Nelson 338 Götz, Richard 304
Graevenitz, Gerhart von 16 Graher, Robert 99 Grass, Günter 339 Green, Julien 274 Greenblatt, Stephen 222 f. Gregor von Tours 206,208,213-217,222 Greiner, Ulrich 12 Griewank, Karl 150 Grillparzer, Franz 261 Grimaud, Michel 107 Gruber, Marianne 338 Grünbein, Durs 27 f. Gumbrecht, Hans Ulrich 167, 173 Gunthram 206 Gütersloh, Albert Paris 2, 6, 43, 45, 90 f., 153, 200, 202, 254, 256, 263, 274, 287, 299, 304,317,319-333 Habermas, Jürgen 29 Hall, Murray G. 2,103 Hamann, Günther 218 Handke, Peter 3, 7 - 9, 13, 285 Hansen, Joseph 179 f. Haslinger, Adolf XIII, 3, 8 Hasterlik, Gusti 40, 94, 295 Hasterlik, Paul 100 Hauer, Ernö 99 Haybach, Rudolf 263, 304, 323 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 157 Heidegger, Martin 150, 152, 220 f., 308 Heine, Heinrich 266 Helmstetter, Rudolf XI, 12, 15, 21, 24, 30, 34 Henkel, Imke XIII, 207, 270 Herodot 273 Herrigel, Eugen 85 f. Herzmanovsky-Orlando, Fritz 317 Hesse, Hermann 79 Hessel, Franz 123 Hesson, Elizabeth C. 41 Hildesheimer, Wolfgang 287 Hillebrand, Bruno 15 Hilmes, Carola 14 Hitler, Adolf 267 Höfler, Otto 216 Hofmannsthal, Hugo von 246, 265, 341 Höllerer, Walter 306 Hölter, Achim XIII, 204 Hoover, Thomas 86 Hornborstel, Theodor 99 Horst, Karl August 15
Register Horvath, Ödön von 53, 58 Hsia, Adrian 79 Huber, Albrecht 207, 209, 213, 220, 223 Hundsbichler, Helmut 210 Hyams, Barbara f. 306 Innerhofer, Franz 9 Innozenz VIII. 179 Institoris, Heinrich 175, 179 - 183,186 Iser, Wolfgang 168 Ivask, Ivar 2, 13 Jakobson, Roman 26 James, Henry 99 Jandl, Ernst 338 Janetzki, Ulrich XHIf. Jaspers, Karl 152,274 Jean Paul 99,274 Jelinek, Elfriede 3 Johnson, Uwe 16 Jolles, Andre 203 Jonke, Gert f. 3 Joyce, James 15, 306 f., 339 Jung, G.G. 198 Kafka, Franz 13 f., 245, 278 f., 335 Kammerer, Paul 1 9 7 - 2 0 5 Kandinsky, Wassily 305 Kant, Immanuel 293 f. Karthaus, Ulrich 305 Kaszynski, Stefan 236 Kato, Elisabeth 96, 106, 198 Keller, Gottfried 317 Kemp, Friedhelm X, XII Kempowski, Walter 339 Kerr, Alfred 286 Kierkegaard, Sören 162 f. Kirchhoff, Bodo 336 Koch, Hans-Albrecht 303 Koch, Roland 4 f., 12, 33, 205 Koestler, Arthur 197 Köhler, Erich 198 Kolleritsch, Alfred 7 Kornfeld, Marie 95, 99, 101 Koselleck, Reinhart 148 - 151 Kraus, Karl 44, 46, 142, 289, 292 Kray, Ralph XII f., 14, 167, 173 Kubin, Alfred 225 Lachmann, Renate 23 Laemmle, Peter 12 Lang, Erwin 323 Langer, Lawrence 238 Laotse 7 9 - 8 1
353
Laplanche,J. 343 LeRider, Jacques 201,285,292,299 Lebensaft, EHsabeth 175, 218 Lebert, Hans 247 - 252, 255 - 257, 261 Leibniz, Gottfried Wilhelm 38 Leinkauf, Simone 307 Lernet-Holenia, Alexander 10 Leroi-Gourhan, Andre 154 Liden,Ulla 93,199,316 Liewerscheidt, Dieter 207, 211, 213, 221 Loew-Cadonna, Martin XII Lotman, Jurij M. 106 Lucka, Emil 296 Luehrs, Kai XI, XIII, 12, 39 f., 42, 112, 185, 207, 284 Luhmann, Niklas 153 - 155, 160 Lukacs, Georg 58, 256 f. Mach, Ernst 234 Magris, Claudio 226 f., 268, 302 Man, Paul de 224 Mann, Thomas 14, 99,139, 242, 248 Marcotty, Thomas 85 Marginter, Peter X, XIII Marquard, Odo 149, 154 Martin, Gunther 90 Mauer, Otto 320 Mayer, Hans 13 Mcinnes, Malcolm 265 Mechner 40 Meister, Monika 307 Menasse, Robert 9 f., 261 Merzbrecher, Friedrich 209 Metternich, Klemens von 226 Meyer, Matthias XI, XIV Meyer, Vic 342 Michaelis, Marlies XII Michelet, Jules 173 Mikat,Paul 209 Miller, Henry 9 Miller, Norbert XIII f. Millöcker, Karl 289 Mises, Richard von 289 f. Mon, Franz 339 Monikova, Libuse 225 Müller, Robert 290 Müller, Wilhelm 341 Musil, Robert 14 f., 18, 146, 167, 248, 287, 290 f., 302-318, 339 Nadler, Josef 265,268 Nef, Ernst 198
354
Register
Nietzsche, Friedrich 152 f. Nola, Alfonso di 178 Norfolk, Lawrence 224 Novalis 306,311 Okopenko, Alexander 338 Panofsky, Erwin 312 Paulus 300 Pentlarz, Ernst 95, 99,101 Perutz, Leo 53 Pfeiffer, Engelbert 85 Pfeiffer, Karl Ludwig 14, 167 Pippin der Jüngere 208 Pippin von Landen (Pippin d. Ältere) 208 Plessner, Helmuth 154 Polak, Ernst 95, 101 Polgar, Alfred 287 Pontalis,J.-B. 343 Präkgogler, Eva 7 Pynchon, Thomas 223 Rabelais, Francois 326 Raimund, Ferdinand 271 Rath, Wolfgang XI, XIII, 306, 311 Rathei, Rudolf 95 Redlich, Oswald 218 Reik, Theodor 339 Reichmann, Eva XIII Reinalter, Helmut 150 Reinii^er,Anton XI,4,12,41-43,48,51,230 Reitterer, Hubert 218 Renner, Gerhard 2 Rezzori, Gregor von 174 Rilke, Rainer Maria 335 Rink, Friedrich Theodor 294 Robbe-Grillet, Alain 14 Rosegger, Peter 288 Rosendorfer, Herbert 287 Roth, Joseph 167, 225,268,288, 335, 338 Rudnycky, J.B. 97 Rühm, Gerhard 7,131 Ryan, Judith 238 Saar, Ferdinand von 288 Safranski, Rüdiger 308 Saliger, Karl Josef 289 f. Schenk, Johannes 339 Schiller, Friedrich 293 Schlager, Friedrich 198 Schlosser, Friedrich Christoph 219 Schmatz, Ferdinand 129 Schmid, Georg 126, 129, 208, 213, 222, 251,335
Schmidt-Dengler, Wendelin X, XII f., 2 - 6, 8 f., 13, 18, 33, 106 f., 199, 201, 218, 239 f., 274, 286, 331 Schmitt, Cari 306 Schmitter, Elke 12 Schneider, Kari Heinrich 18, 202 Schnitzler, Arthur 225, 285, 287 Schnyder, Andre 179 Schöning, Brigitte XIV Scholz, Wilhelm von 195 - 198, 201 f. Schopenhauer, Arthur 198, 293 Schopenhauer, Arthur 25 f. Schröder, Hans Joachim XI, 4, 12, 175 f., 196 f., 201 f., 213, 288 Schütz, Erhard XIV Schulze, Gerhard 166 Schulze, Hans K. 208,215 Schupp, Ulrike 4, 175 f., 178, 200, 239 Sebestyen, György 319, 323 Segl, Peter 179 Seibt, Gustav 12 Serner, Walter 341 Sieghart, Rudolf 102 Sigibert 216 Simmel, Georg 26 Sixtus IV. 179 Soldan, W.G. 180 Sommer, Gerald XII - XIV, 39 f., 42, 83, 100, 112, 114, 127, 201, 241, 300 f., 316 Spengler, Oswald 40 Sperber, Manes 225 Spiel, Hilde 10,18,89 Spracklin, Ruth 263 Sprenger, Jakob 175, 179 - 183, 186 Srbik, Heinrich von 218, 267 Städtke, Klaus 173 Stein, Hans Joachim 82 Steiner, George 238 Sterzinger, Othmar 205 Stifter, Adalbert 6,261 Strauß, Johann 271 Strebl, Laurenz 201 Strelka, Joseph P. 169 Studer, Thomas 14 Süsskind, Patrick 339 Swales, Martin 15, 17, 285 Swoboda, Hermann 94, 199, 202, 274, 294, 296, 299 Szasz, Thomas 344
Register Thomas von Aquin 78, 184, 211, 307, 326 Tiber, Ben 102,287 Tramin, Peter von 6, 90 Treml, Reinhold 2,305 Trommler, Frank 302 Tynjanov, Juri 256 Ular, Alexander 7 9 - 8 2 Ungar, Hermann 335 Updike,John 339 Urzidil, Johannes 335 Valery,Paul 268,276,339 Vandenrath, Sonja XIV Vischer, Friedrich Theodor 204 Voracek, Martin XII f., 88, 90, 92 f., 99, 103, 106, 287 Waggerl, Karl Heinrich 251 Wagner, Otto 128,254 Wagner, Richard 52, 216, 256 Waldheim, Kurt 261 Walpole, Horace 211 Walser, Martin 336 Wassermann, Jakob 287 Watt, Roderick H. XIII, 123 Weber, Dietrich X, XIII, 2, 4, 12, 19, 82, 175, 192 f., 195, 199, 202 f., 205, 207, 213, 222, 266, 270 f , 307 Weiner, Richard 338
355
Weininger, Otto 25, 41, 48, 199, 201 f., 274, 292 - 301, 327 Weiss, Ernst 335 Weiss, Peter 18 Weiss, Walter 3,9 Wenner, Joseph 209 Werkgartner Ryan, Ingrid 192, 195 198, 201 White, Hayden 222 Wicha, Barbara XIV Wiemer, Horst 42 f. Wiener, Oswald 7 , 9 Wilhelm, Richard 79 f. Willemsen, Roger 307 Windelband, Wilhelm 198 Winston, Krishna XIU Wittgenstein, Ludwig 22 Wolff, Franz 219 Wolff, Helen 98 Wolff, Lutz-W. 4, 6, 104, 136, 199, 225, 294, 323 Wühr,Paul 339 Zeemann, Dorothea 7 f., 13, 273,275, 321 Zelewitz, Klaus XI Zemlinsky, Alexander 27 Ziegler, Corinna XIV Ziolkowski, Theodore 306 Zweig, Stefan 225, 266, 268
Kafka und Prag Colloquium im Goethe-Institut Ptag 2 4 . - 2 7 . November 1992 Herausgegeben von Kurt Krolop, Hans Dieter Zimmermann 1994. X, 276 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-014062-4
Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne Internationales Uwe-Johnson-Symposium 2 2 . - 2 4 . 9. 1994 Herausgegeben von Carsten Gansei und Nicolai Riedel 1995. XIV, 347 Seiten. Mit einer Abbildung. Gebunden. ISBN 3-11-014671-1
Wolfgang Riedel
»Homo Natura« Literarische Anthropologie um 1900 1996. XXII, 327 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-015112-X (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 7 [241])
Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen Herausgegeben von Ernst Osterkamp 1997. XII, 409 Seiten. Gebunden. ISBN 3-11-015603-2 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 10 [244])
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