Methusalem oder Der ewige Bürger: Ein satirisches Drama 9783111358260, 9783111001289


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German Pages 88 [92] Year 1966

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VORWORT
METHUSALEM oder DER EWIGE BÜRGER
GESTALTEN
METHUSALEM
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Methusalem oder Der ewige Bürger: Ein satirisches Drama
 9783111358260, 9783111001289

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KOMEDIÄ 12 IWAN G Ö L L / M E T H U S A L E M

KOM E DIÄ DEUTSCHE LUSTSPIELE VOM BAROCK BIS ZUR G E G E N W A R T Texte und Materialien zur Interpretation Herausgegeben von H E L M U T A R N T Z E N und K A R L P E S T A L O Z Z I

12

1966 WALTER DE GRUYTER

& CO. /

BERLIN

V O R M A L S G. J . G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G • J . G U T T E N T A G V E R L A G S B U C H H A N D L U N G • G E O R G R E I M E R • KARL J. T R U B N E R V E I T Sc C O M P .

IWAN GÖLL

METHUSALEM oder DER EWIGE BÜRGER Ein satirisches Drama

Text und Materialien zur Interpretation besorgt von R E I N H O L D G R I M M und V I K T O R Z M E G A C

1966 W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. /

BERLIN

VORMALS G. J. G Ö S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G • J. G U T T E N T A G V E R L A G S B U C H H A N D L U N G • G E O R G R E I M E R • K A R L J. T R Ü B N E R V E I T & COMP.

Archiv-Nr. 3 6 0 9 6 6 3 © 1966 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J . Trübner - Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13. Printed in Gennany. Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdruckes, der Anfertigung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Walter de Gruyter Sc Co., Berlin 30

Drama ist Bedrohung des Zuständlichen. Die Tat Drama, gestellt in den Nur-Verbrauch von Vitalität, bedrängt den Nur-Verbraucher (den Bürger — den Geborgenen) unerbittlich. Die Drama-Tat kann geschehen ohne Willen zum Angriff — oder geschieht mit diesem Willen. Die Verschiedenheit liegt nur in der Form, im Stoff — im Urgrund sind beide Vorgänge gleich, da der Drama-Täter (Dichter) durch seine Leistung die Störung des Zuständlichen bezweckt und erzielt. Die Erschütterung durch ein Kunstwerk ist Erschütterung des Zuständlichen der Nur-Verbraucher; sie finden sich besiegbar in jeder Pore und jedem Puls ihrer matteren Vitalität. Jedes Dichtwerk verrichtet eine vernichtende Niederlage der Geborgenen. Wirkung von Kunst ist so: Demut oder Melancholie beim Niederschlag. Angreifer in Bewußtheit auf Zuständliches mit Stoff und Form des Zuständlichen: Iwan Göll. Kein Umweg über dekorierte Historie (die kachiert und schonend schnörkelt) ins Ziel. Dieser Drama-Täter hantiert ohne Pose und Posa: er bedingt sich vollkommene Handlungsfreiheit nach eigenem Gesetz — wie solche Freiheit des Unternehmens einer Drama-Tat einzig würdig ist. Georg Kaiser

VORWORT Aristophanes, Plautus, Molière hatten es gut: sie erreichten die stärkste Wirkung durch das einfachste Mittel der Welt: durch Stockschläge. Diese Naivität ist uns verlorengegangen. Der Clown im Zirkus und Chariot im Kino teilen noch Ohrfeigen aus: doch das sind die Augenblicke, wo das Publikum am wenigsten lacht. Mangel an primitiver Naivität. Oder liegt das an unserem verfeinerten Ethos? An diesem gewiß; aber das des Volks? Auch in den Kasernen ist die körperliche Strafe nun verpönt: — zu Aristophanes und Moli ères Zeiten aber nicht. Übrigens trägt der moderne erwachsene Mensch viel seltener einen Stock als einen Revolver bei sich. Aber ein Schuß wirkt weniger komisch als ein Stockschlag. Der moderne S a t i r i k e r muß also nach neuen Reizmitteln suchen. Er fand sie im Ü b e r r e a l i s m u s und in der A l o g i k . Uberrealismus ist die stärkste Negierung des Realismus. Die Wirklichkeit des Scheins wird entlarvt, zugunsten der Wahrheit des Seins. »Masken«: grob, grotesk, wie die Gefühle, deren Ausdruck sie sind. Nicht mehr »Helden«, sondern Menschen, nicht Charaktere mehr, sondern die nackten Instinkte. Ganz nackt. Um ein Insekt zu kennen, muß es seziert werden. Der Dramatiker ist ein Forscher, ein Politiker und ein Gesetzgeber; als Überrealist statuiert er Dinge aus einem fernen Reich der Wahrheit,, die er erhorchte, als er das Ohr an die verschlossenen Wände der Welt legte. A l o g i k ist heute der geistigste Humor, also die beste Waffe gegen die Phrasen, die das ganze Leben beherrschen. Der Mensch redet in seinem Alltag fast immer nur, um die Zunge, nicht um den Geist in Bewegung zu setzen. Wozu soviel reden, und das alles so ernst nehmen! Der Alltagsmensch ist dazu dermaßen empfindlich, daß er sich für irgendein riechendes Wort beleidigt fühlt und den Tod zur Rache in die Wagschale wirft. Die dramatische Alogik soll alle unsere Alltagssätze lächerlich machen, die mathematische Logik und selbst die Dialektik in ihrer tiefsten innerlichsten Verlogenheit treffen. Gleichzeitig wird Alogik dazu dienen, das zehnfache Schillern eines menschlichen Gehirns zu zeigen, das das eine denkt und das andere spricht und sprunghaft von Gedanke zu Gedanke schweift, ohne den geringsten scheinbar-logischen Zusammenhang.

8

Vorwort

Um aber kein Flenner, kein Pazifist und kein Heilsarmist zu sein, muß der Dichter euch ein paar Purzelbäume vormachen, damit ihr wieder Kinder werdet. Denn was will er: euch Puppen geben, euch spielen lehren, und dann die Sägespäne der kaputten Puppen wieder in den Wind schütten. Handlung des Dramas? Geschehnisse sind in sich so stark, daß sie aus sich selber wirken. Ein Mensch wird auf der Straße überfahren: ein Erlebnis, hart und unwiderruflich in das Weltleben hineingeschleudert. Warum nennt man tragisch nur den Tod eines Menschen? Es kann ein Gespräch von fünf Sätzen mit einer Unbekannten viel tragischer für deine Ewigkeit werden. Das Drama soll ohne Anfang und Ende sein, wie alles hienieden. Aber irgendwann hört es auf, warum? Nein, es geht das Leben weiter, das weiß jeder. Das Drama hört aber deshalb auf, weil ihr müde geworden seid, alt in einer einzigen Stunde, und weil die Wahrheit, das stärkste Gift für das menschliche Herz, nur in sehr kleinen Dosen verschluckt werden darf.

METHUSALEM oder DER EWIGE BÜRGER

Ein satirisches Drama

G E S T A L T E N METHUSALEM AMALIE, FELIX,

seine Frau

sein Sohn

IDA, seine Tochter DER

STUDENT

D I E TANTE EMMI H E R R u n d FRAU DARMKATA H E R R u n d FRAU BÄUCHLEIN H E R R u n d FRAU HIMMELREICH D A S PORTRÄT DER GROSSMUTTER D E R AUTOMAT D I E KOKOTTE VERONIKA EIN

DIENSTMÄDCHEN

VOLK D E R BÄR DER

AFFE

DER

HIRSCH

DER

HUND

DIE

KATZE

DER

KUCKUCK

D E R PAPAGEI

I der Ur-Bürger, sit%t in einem breiten, plüschenen Sessel, raucht eine dicke Zigarre, und ist unter einem Stoß übernatürlich großer Zeitungen vergraben. Er hat die Gicht und trägt das rechte Bein in Wolltücher gewickelt. Sein Gesicht ist tiefrot, dicker Glat^enschädel, die Augen sehr klein, kein Bart. Über dem Bauch trägt er eine fingerdicke massivkupferne Uhrkette, als Berlocke einen Kassaschrank en miniature. Als Krawattennadel einen goldenen Schuh in Größe einer Taschenuhr: die Marke seiner Schuhfabrik. METHUSALEM,

Symbol der bürgerlichen Hausfrau: trägt ein reiches, mit Spitzen belegtes seidenes Schleppenkleid, viel diamentenen und Perlenschmuck an Hals und Händen, dicke, kugelförmige Brüste, und über alledem eine schmutzige Küchenschür^e.

A M A L I E METHUSALEM,

METHUSALEM

wird so alt.

AMALIE.

Wieviel Uhr?

Dreiviertel.

METHUSALEM. AMALIE.

Gibt es Gulasch?

Trauriger Frühling: die Karotten sind so teuer!

METHUSALEM. AMALIE.

Pflanzenfett.

Wenn es doch Regenschirme aus Zelluloid gäbe.

METHUSALEM. AMALIE.

Sieben Mark fünfzig!

Die Nudeln?

METHUSALEM. AMALIE.

Gehupft wie gesprungen.

Gar kein Mördchen in der Zeitung?

METHUSALEM. AMALIE.

Nichts Neues. Die Welt

Das Leben ist schwer.

METHUSALEM. AMALIE.

fährt aus dem Schlaf auf.

Immer mußt du lügen. Schlechtes Weib, es ist halb I

Es gibt keine Petersilie mehr in der Natur.

METHUSALEM.

Ist unsere neue Dienstmagd blond?

12

Methusalem

Das würde dir so passen, du Schwein. Neunzehn Mark verlangt sie monatlich.

AMALIE.

METHUSALEM AMALIE.

in der Zeitung blätternd.

WO?

So lies doch schnell!

Schamlos. Die halbe Euter abgeschnitten.

METHUSALEM. AMALIE.

Ein Raubmord!

Sie lag ganz nackt bei der Türe.

METHUSALEM. AMALIE.

To be or not to be.

Quatsch keinen Unsinn.

METHUSALEM AMALIE.

gähnt.

Ja, die Liebe!

METHUSALEM

trällernd . . . ist eine Himmelsmacht!

Nie würde einer daran denken, mich aus Liebe umzubringen . . . Kannst du das verstehen?

AMALIE.

METHUSALEM.

Trinkwasser!

Wann kommt der Gulasch? blätternd. Steuern aufs

Wir werden verdursten! Wir machen Bankrott! Ist sonst noch jemand gestorben?

AMALIE.

METHUSALEM. AMALIE.

Postassistent Böhnchen.

Was ? So eine Gemeinheit, in dieser Saison zu sterben!

Begräbnis mit Feuerwehrmusik. Er hat ja immer die Kunst geliebt!

METHUSALEM.

Für Winterhüte ist es noch zu früh. Wie soll ich da aufs Begräbnis gehen! So ohne Takt einfach zu sterben!

AMALIE.

METHUSALEM.

WO

ist mein Karlsbader?

Man vernimmt im Nebenraum AMALIE

lauschend.

METHUSALEM.

zahle. AMALIE.

Klavier.

Ein Genie, unsere Ida. Kunststück, wo ich zwanzig Mark pro Stunde

Sie wird einen reichen Mann heiraten.

METHUSALEM.

Kunststück, mit solchen Eltern.

MMM

mein Bein!

Abb. i Methusalem. Figurine von George Grosz

14

Methusalem

Wenn sie nur Pudding backen könnte I METHUSALEM. Und unser Felix, hehe. Mein Sohn Felix. Der Stolz aller Schuhfabriken Deutschlands. Die Seele des Box-Calf-Trusts. Aluminium-Medaille. Hast du schon seine neuen gestreiften Hosen gesehen? Einfach geniall AMALIE.

AMALIE

läuft hinaus. Der Gulasch, der Gulasch brennt an!

Methusalem schläft ein und schnarcht. Er träumt. Wir sehen seine Träume auf der am Fenster angebrachten Leinwand als Film rasch vorbei^iehn: Erster Traum: Methusalem in einer belebten Straße. Er folgt einer Dame. Der Film zeigt, seinem Blick entsprechend, querst ihre Füße in eleganten Halbschuhen, dann ihre Beine und zuletzt ihr verschleiertes Gesicht. Sie lächelt. Er faßt sie unterm Arm. Beide treten in ein Restaurant. Während er ein Menü bestellt und der Kellner serviert, ändert sich das Gesicht der Dame: Die Köchin Anna sitzt Methusalem gegenüber. Er gibt nicht acht, spricht angelegentlich weiter. Nach je einer Minute wechseln die Frauen an Methusalems Tisch: eine Hure, dann die Frau seines Geschäftsfreundes, sein Tippfräulein, seine eigene Frau, als sie zwanzig fahre jünger war, eine andere Hure, seine Tochter Ida, ein Stubenmädchen vom Hotel Excelsior. — Methusalem spricht auf alle ein. Sie verkörpern seine Erlebnisse. Ein Spruchband erscheint im Film, flatternd aus seinem Munde: »Liebchen, wer du auch seist, trage Methusalemschuhe, und bleibe mir treu!« Zweiter Traum: Ein Theater. Plakat: y>Heute Hamlet«. Methusalem geht hinein. Man spielt gerade die Totengräberszene. Methusalem nähert sich der Bühne, steigt hinauf und schlägt Hamlet den Totenschädel aus der Hand. (Text, als Spruchband aus seinem Munde:) »Lassen Sie den Stuß. Die Toten können fliegen. Aber der Mensch muß auf seinen Füßen gehen.« Er reicht ihm einen hellgewichsten Damenschuh. y>Machen Sie lieber einen Monolog auf meine Prima-Ware. Ich vergüte Ihnen // Prozent vom Ladenpreis.«. Dritter Traum: Methusalem als General. Parade. Man sieht nur die symmetrisch auf und ab marschierenden Stiefel der Truppen. Dann stellt er sich an die Spitze und hält Rapport. Text, als Spruchband aus seinem Munde: »Die ganze Armee hat Hühneraugen. Wir werden den Methusalem-Schuh, Marke Toreador, einführen. Die Schuhwichse ,National' wird den Glanz des Vaterlandes heben. Unsere Zukunft marschiert auf GummiSohlen. Hurra! Hurra! Hurra!« Schluß des Films Methusalem erwacht aus seinem Traum, in Schweiß gebadet, prustet, ächzt, rückt unruhig hin und her. Plötzlich kommt ihm ein Gedanke: er geht z» einem Blechautomaten, der die Größe der gewöhnlichen Schokoladeautomaten

2. Szene

15

bat und einen Menschen in Frack, mit weißer Binde, Zylinder usw. darstellt. Methusalem dreht ihn mühsam auf, wirft ihm eine Münze zwischen die Lippen: darauf bewegt sieb der Automat mit kleinen Schritten und Armbewegungen und sagt mit plärrendem Ton Mikoscbwitze auf. Gute A n t w o r r r r t ! Moses Levy trifft Mikosch auf der Straße: »Wie geht's Euer Erlaucht? Was gibt's Naies?« Mikosch: »Wird heute in Jerusalem verbrannt een Esel un een Jude.« Antwortet Moses Levy: »Gut, daß mer beede nich dort sein, gnäd'ger Herr.« Derrr g e w i s s e n h a f t e Janosch. Mikosch wollte auf die Jagd gehn und er beauftragte . . .

AUTOMAT.

Hahahahal Bravo, MosesI Das ist ein Witz! Seinen Diener, ihn um vier Uhr zu wecken. Dieser weckt ihn schon um drei Uhr. »Warum weckst du mich schon?« Sagt der Diener: »Wollte ich Ihnen bloß sagen, gnädiger Herr, daß Sie noch schlafen können.« METHUSALEM. Hahaha, nein, der geniale Moses Levy! Der Automat läuft ab und bleibt in grotesker Stellung stehn. Methusalem ist inzwischen wieder eingeschlafen. Dunkel.

METHUSALEM. AUTOMAT.

II

Die Revolution der Tiere Dieselbe Szenerie, aber schwefelgelbe Beleuchtung. METHUSALEM ist eingeschlafen, vermummt unter Zeitungen. Die künstlichen oder ausgestopften Tiere des Raums beginnen zu leben und sich zu bewegen: D E R H U N D Zu Füßen Methusalems. DER BÄR, der als Teppich vor dem Tisch lag. D E R PAPAGEI in seinem Käfig. D E R K U C K U C K aus der Schwarzwalduhr. Der ausgestopfte A F F E . D I E K A T Z E am Fenster. D E R HIRSCH-KOPF über dem Türsims. Sie treten alle aus ihren unnatürlichen Stellungen und gehen frei auf der Bübne umher.

Methusalem

16

Bruda, Bruda, bistuda!

PAPAGEI.

Hol der Kuckuck dein dämlich Brudertum. Ein deutschnationaler Vogel singt »Es braust mein Ruf wie Donnerhall.«

KUCKUCK.

Liberté Egalité Fra . . . Fra . . . Fra

PAPAGEI. KUCKUCK. PAPAGEI.

bist du ? KUCKUCK.

Fra . . . Fra . . . Phrasen! Du Judennase! Pardon, ich bin Theosoph, Monist, Freudianer, und was Ich bin verwandt mit dem Reichsadler.

Der Mensch ist die Krone der Schöpfung!

HUND.

Der Apfel fällt nicht weit vom Pferd. BÄR. Ruuuuhe ! Wer sagt da Gutes vom Menschen aus ? Der wird sofort aufgefressen! Unser Erbfeind! Nieder, nieder, nieder! Vorwärts! Rückwärts! Ruhe und Ordnung! Nicht hinauslehnen! Hoch das Bein! Prost! HIRSCH.

AFFE. KATZE.

Nieder mit dem Menschen! Miau, Jau, der Tod tut weh!

Ich rufe euch auf zur Tierrevolution ! Wir sind von Gott erwählt, die Erde zu säubern Vom menschlichen Auswurf, Der die Flüsse beschmutzt, Die Wälder verbrennt, Den Himmel anfurzt Und auf Erden stinkt wie sonst kein Wesen! Hat je ein Tier erröten müssen? Hat je ein Vogel falsch gesungen? Hat je ein Reh die Gonorrhoe gehabt? Hat je ein Tiger Nietzsche gebraucht, um dionysisch zu sein? Der Mensch ist die Schmach dieser Erde !

AFFE.

STIMMEN. HUND.

Bravo! Uah! Sim, sim, sim!

Hört nicht auf ihn: Der Affe stammt vom Menschen ab!

2. Szene PAPAGEI.

Habt ihr Häckel gelesen ? Die Marlitt schreibt besser.

KATZE.

BÄR auf den Tisch steigend. dekretiert! AFFE.

17

Kameraden, die Animalrevolution ist

Halt! Nun fragt sich: wie, was, wo!

KATZE.

WO, was,

wie!

BÄR. Was! Wie, wo? Der Mensch wird aufgefressen! Das können doch wir Zivilisierten uns nicht mehr erlauben! Wir Modernen, wir Sensitiven, wir Geistigen! KATZE. Ja-u! Ja-u! Die Liabe! Die Liabi! Ich kann, ich kann kein Blut vertragen! Sonst wird mir schlecht. Bitte, bitte, machet die Sache gütlich ab, Bringt uns das Reich der Schönheit, der Güte und der Kalbsmilz! Die Auferstehung der Gazelle!

AFFE.

Blöde Pazifistin! Rin ins Ganze! Feste druff! Gott mit uns! Durch Dick und Dünndarm! Unbefugten ist der Eintritt verboten! Ein feste Burg ist unser Gott! Der General Bär, hoch! hoch! hoch!

HIRSCH.

Aus öffentlichen Sittlichkeitsrücksichten wird gebeten, vor Verlassen des Ortes die Hosen in Ordnung zu bringen.

HUND.

Aber der Geist! der Geist! Das Ideal! Eine neue Zeitrechnung beginnt! Es kommt nicht auf das Auffressen von Menschen an, Sondern auf unsere heiligen Animalrechte, Das Recht, an allen Bäumen, Sträuchern, Laternen und Mauern zu schnuppern, ohne Berücksichtigung der Kunstmoral, Das Recht, sich mitten in den Straßen und Avenüen zu paaren, ohne Furcht vor den keifenden alten Jungfern, Das Recht, an die Denkmäler, Kioske und Fontänen zu pissen, selbst während einer offiziellen Feierlichkeit, Das Recht . . .

AFFE.

BÄR. Ruuuhe! Unsinn! Quatsch! Ich bin der Bär! Stillgestanden! Revolution hat mit Idealismus gar nichts zu tun. 2 Komedia XII

18

Methusalem

Der Mensch muß aussterben Mit Strumpf und Stiebeil Achtung, Brust heraus 1 Aufmarsch der Kriegervereine! Juden werden nicht zugelassen. Prost, Vaterland. KATZE.

Aber die Liab£! die Liabi!

Das Ideal! Das Ideal! Wir wollen eine geistige Tierrepublik gründen! Ich proklamiere das neue Paradies-Programm! Reorganisation der Landwirtschaft: Der Frühling hat neun Monate zu dauern, Für Kühe produzieren die Wiesen eine fettere Grasart, Mit Chrysanthemen statt des proletarischen Löwenzahns. Flügeltiere zahlen zehn Prozent Weidesteuer, Weil sie sämtliche Kontinente zur Auswahl haben. Täglich um fünf Uhr haben die Menschen Unsere Korn- und Rübenfelder zu bepissen . . .

AFFE.

BAR. In drei Tagen ist Methusalem tot! Alle Tiere im Zoo kennen meine Parole: »Scheiden tut weh« Nachdruck verboten! Nicht auf den Boden spucken! Rührt euch! Ich werde euch zur größten Tat der Tiergeschichte führen! Ä H ! Ruhe und Ordnung! Feste druff! Rechts gehn! Gemeinheit macht stark. Selbst ist das Tier. Gott mit uns.

HIRSCH.

Methusalem erwacht, blinzelt mit den Augen, lächelt. Alle Tiere nehmen plötzlich ihre frühere leblose Stellung ein. Methusalem verfolgt mit der Hand auf seinem rechten Ärmel eine Fliege, deren Summen (. . . SSSSSS .. .) man vernimmt, und murmelt verschlafen. Hast du mich geweckt, du Sauviech?

j . Szene

19

III

ist wieder eingenickt. Derselbe Raum, aber neue Beleuchtung, die bisher unbeachtete Gegenstände unterstreicht: Beleuchtungswechsel vertritt den Szenenwechsel. Das Mittelfenster vergrößert sich und läßt hellblaues Licht herein. Die bisher dunkle und verschlissene Tapete ist jet^t mit roten und gelben Lianen und Vögeln bemalt. METHUSALEM

I D A und die T A N T E E M M I .

IDA. Er flüsterte mir gestern abend: Fräulein, Sie haben resedenes Haarl Verstehst du, was das heißt? Wer, er? Laß die Faxen, dumme Gans. Wann wirst du die cis-dur-Tonleiter üben? Alles war falsch vorhin, alles war falsch!

TANTE EMMI.

IDA. In aurorabeflügelten Trambahnen Sind wir gefahren. Es regnete Sterne. Der Schaffner wollte uns nichts zahlen lassen, So schön sah ich aus. Wann wirst du deine englische Grammatik studieren ? Und die Majonnaise für den Schellfisch 1 Und Vaters Kissen ist noch nicht fertig! Ach was wird deine arme, arme Mutter sagen 1

TANTE EMMI.

IDA. Die Rosen haben tausend Munde, Und ich nur einen, um mein Glück zu singen: Das hat die ganze Nacht mich traurig gemacht. TANTE EMMI.

Willst du wohl antworten, wenn deine Tante mit

dir spricht! IDA. Die Vögel singen grüne Girlanden Von Osten nach Westen, Es funkeln die Bäume, Millionen Augen und Herzen An zitternden Stielen. Das kommt davon, daß man dich ins Theater führt! Die Zensur müßte im Faust die Gretchenrolle streichen. Das Träumen hat dich sittlich verdorben.

TANTE EMMI.

IDA. Gingen wir nicht durch einen großen, dunklen Wald, Und hinter den Laternen hockten Räuber? Da kam er und rettete uns mit seiner Stimme! i*

Methusalem

20

D U hast Fieber, mein Kind. Aber halt, auf der Treppe, gestern abend, grüßte Uns ja der russische Student vom fünften Stock. Woher kennst du ihn denn?

TANTE EMMI.

IDA. E r hat eine Stimme wie Honig! TANTE EMMI.

Ich habe dir verboten, mit ihm zu sprechen.

IDA. Der Himmel färbte ab in seinen Augen. TANTE EMMI.

So ein kleiner J u d mit rotzerlesenen Wimpern!

IDA. Nein, stolz wie ein Baum, Und seine Stirn ein Turm im Abend. Ich liebe ihn! Ich liebe ihn! Liebe, liebe, liebe, liebe. Verlorenes Mädchen! Ausgekochte Hure! Mit einem Studenten! einem Studenten!

TANTE EMMI.

IDA auf eine bekannte Melodie singend. Ich liebe, liebe, liebe, liebe. sich aus ihrem Porträt herausbeugend. So sang auch ich mit achtzehn Jahr, Als mich Methusalem ins Kränzchen führte.

GROSSMUTTER

zur Tür hereintretend mit einem Tablett. So sang ich, als der Kürassierfeldwebel V o r unsrem Fenster abends strich, Und meine Mutter schon heimlich Käskuchen machte. E r hatte braune Stiefel, die kosteten hundert Mark, Und seine Achselklappen waren erdbeerrot — Trotz allem verließ er mich . . . Und meine Mutter starb aus Gram.

DIENSTMÄDCHEN

schluchzend. So sang ich, wenn mein Cousin mir Pralinés brachte. Und einmal waren wir im Kino zusammen, Da schrie und weinte ich in mein Taschentuch, Und er behielt es als Reliquie Und kam nicht mehr . . .

TANTE EMMI

IDA. Ihr armen Frauen vertrocknet alle! Wie die Veilchen, die ich im Lenau auf Seite 5 5 preßte : Verlorene Frühlinge.

21

4. Szene

sich die Tränen wischend und wieder zu ¡ich gekommen.. Das ist zuviell Was soll nun aus dir werden! Keine Grammatik gelernt, Keine Majonnaise für den Abendtisch! Was werden Kommerzienrats sagen! Das ist doch keine Partie. Ein russischer Student, ein Bolschewik! Großer Gott, welches Unglück!

TANTE EMMI

Dunkel.

IV Derselbe Raum. Beleuchtungswechsel: grellgelb, Bogenlampenlicht. Das Fenster ist jetzt weitgeöffnet. Ein ziemlich in der Mitte befindlicher Schrank erleuchtet sich von innen und wird zur gläsernen Lifttür. Man siebt in der Tat einen Lift halten, die Tür aufspringen und F E L I X M E T H U SALEM heraustreten. Felix ist der moderne Zahlenmensch. Statt des Mundes trägt er ein kupfernes Schallrohr, statt der Nase einen Telephonhörer, statt Stirn und Hut eine Schreibmaschine, und darüber Antennen, die jedesmal funken, wenn er spricht. Er sagt auch keinen Satz, der nicht von dauerndem »Allo! Allo!« begleitet wäre. FELIX. Allo, allo! Morjen Päpä. Kurse flau. METHUSALEM.

Donnerwetter.

zieht ein Notizbuch heraus und liest alles daraus ab. Zeitweise schreibt er etwas hinein. Geschäftston. Russisches Leder, 3a/4.

FELIX

METHUSALEM. FELIX.

Donnerwetter.

Marke Toreador konkurrenzfähig. Mark 62.

METHUSALEM.

Donnerwetter.

FELIX. Revolution auf den Hawai-Inseln, allo, allo. METHUSALEM. FELIX.

Kassiererin der Hamburger Filiale schwanger. Urlaub. Allo.

METHUSALEM. FELIX.

Donnerwetter.

Schwein.

Hausse auf Celluloidknöpfen, Nummer.

Z T

23.

Methusalem

22

Gemeinheit. Donnerwetter. Ruf mal die Alte, ob der Gulasch nicht durch ist.

METHUSALEM.

FELIX.

Fünf Millionen Gummiabsätze verkauft. Allo, allo.

METHUSALEM.

Boxealfs I

Mein Sohn! Mein Felixchel Genie! Bonaparte des

Allo, allo! Streik in unserer Fabrik. Polizei aufgeboten. Große Manifestation jetzt um zehn Uhr. Er zieht seine Uhr. Schon zwanzig Kinder an Hunger gestorben. Allo, allo, Saupack. An die Kehle. Die Arbeiter verlangen Fünfstundenarbeit ä fünfzehn Mark, allo allo . . .

FELIX.

springt erstenmal von seinem Sessel auf, läuft durch das Zimmer, indem er die Fußverbände nach sieb schleift, und fuchtelt mit den Armen. Jesuschristus. Mama. Streik. Wir sind verloren. Polizei! Brand und Mord. Fünfzehn Mark. Ich ersticke. Mm, mein Bein. Und der Gulasch wird kalt. Herrgott, gibt es keine Gesetze? Welch ein Elend, Fabrikbesitzer zu sein. Wenn einer mich ermordet, findet man die Liebesbriefe Annas in meinem Safe. O wir Unglücklichen! Wenn das mein Großvater geahnt hätte. Der sagte immer: »Das Volk, ja das Volk!« Streik, warum Streik! Warum nicht lieber die Grippe. Oder lieber die gelbe Gefahr. Meinetwegen Krieg mit Honduras. Aber ausgerechnet Streik in meiner Schuhfabrik. Der Toreador-Schuh eben lanciert. Mein Gott, o meine arme, gute Mama! Er steht einen Augenblick und riecht herum. Riecht es noch nicht nach Brand ? Inzwischen ist Felix ruhig, nachdem er sein Notizbuch eingesteckt hat, Zum Uft zurückgegangen und verschwunden. Methusalem reißt die Fenster auf: da sieht man eine schreiende drohende Menge näherkommen, Männer, Frauen mit Kindern auf dem Arm. Ein Autobus wird angebalten und nahe ans Fenster Methusalems geschoben. D E R STUDENT steigt auf das Dach des Wagens und beginnt zf* reden. METHUSALEM

Kameraden, Proletarier! Da seht den Bürgerwanst, der euer Blut saugt, Der jeden Tag goldgebratene Rostbeafs und süße Spargeln schleckt!

STUDENT.

STIMMEN.

Hört! Hört!

Eure Kinder frieren, Eure Mütter haben keine Kohle im Ofen. Aber dieser Methusalem trägt seidene Krawatten, Und seine Socken wechselt er täglich.

STUDENT.

Abb. 2: Felix. Figurine von George Grosz

24 STIMMEN.

Methusalem Hört! Hört!

Armes Proletariat, Promethidengeschlecht, In Ketten geworfene Menschheit, Ich will dich befreien mit meinem radialen Geist, Dich aufwärtsführen zu Hügeln und Wolkenkratzern des Glücks, Daß alle die gleiche Treppe zur Sonne benützen, Und keiner dem andern eine Mandeltorte Voraushabel

STUDENT.

STIMMEN.

HörtI Unerhört! Prophet! Hurra!

Wer aber hindert euch daran? Der faule Methusalem, Er, der 30 Zentimeter lange Zigarren raucht, Der Poker spielt, Der Teilhaber an der Venus-Bar ist Und täglich seinen Gulasch frißt . . .

STUDENT.

Es entsteht ein großer Radau. D I E M E N G E dringt in Methusalems Wohnung ein. Von allen Seiten ein Kreuzfeuer von Rufen. An die Laterne Lohntarif Kartoffeln Hoch Lenin Explosion Fünfzehn Mark Ochsenfleisch Kind gestorben Kapitalismus Bebel Scheiße Petroleum Freiheit! Beim Eindringen der Menge kriecht Methusalem aus seinem Versteck, sichtlich gitternd und verstört, bald mit den Händen sich das Gesicht verbergend, bald sich am Unterleib Rupfend. Nach einigen zögernden Schritten wagt er es, auf einen neben der Türe angebrachten Knopf %u drücken . . . woraufhin ein links angebrachter Geldschrank sich von selber öffnet und sechs mit Revolvern bewaffnete Polizisten heraustreten. Die Menge schreit und verläuft sich. Während es dann ruhiger wird, bringen zpei goldbetreßte

5. Szene

25

Lakaien einen reichgeschmt^ten Nachtstuhl berein, helfen Methusalem seine Hose aufknöpfen und herunterziehen und setzen ihn auf besagten Stuhl. Die Menge ist vollkommen gemeistert. Die Polizisten stehen steif und ehrerbietig. Methusalem lächelt und f u r y j . Vorhang. Hier kann eine Pause eintreten.

V Rendezvous Idas mit dem Studenten Parkanlage, ein Weg, der die Bühne in doppelter Beleuchtung in Hälften trennt: links: die Atmosphäre um Ida die Liebende: rosa Gewölk, Blümchen in Rasen und dem spärlichen Buschwerk, Vögel. rechts: eine alte Mauer, grau, Laterne. Atmosphäre des Studenten. Der Mitte trägt die Mauer zwei Plakate: das eine ein schönes Mädchen mit schneeweißen Zähnen darstellend, darunter die Marke: Odol, das Beste für die Liebe; das andere Plakat einen Detektiv in Frack und Maske, darunter in großen Lettern: »Detektivinstitut Sherlock Holmes garantiert Ehescheidungen in drei Monatenl« IDA ist einfach gekleidet, rosa Linonblüschen. D E R STUDENT steht dreimal auf der Bühne, und zwar von dre' £a"Z gleich aussehenden, maskierten Darstellern gespielt; es sind sein ICH, sein Du und sein ER, die zusammen ein Individuum ausmachen. Diese tragen, um verständlich zu se'n> auf ihren Hüten jeweils in großen weißen Buchstaben: Ich, Du, Er geschrieben. Der jeweils Sprechende tritt einen Schritt vor.

DAS ICH. Das war ganz schlau, sie hierher zu bestellen. Ich will mich öffentlich mit diesem schönen Mädchen zeigen, Die Millionärin Methusalem: Da werden sie Augen machen, die vom Turnklub, Und Lucienne, die Modistin, soll mich nur sehen und sich ärgern, Daß sie gestern nicht mit ins Dancing ging. DAS ER überall herumspürend. Hier hinterm Lattenzaun geht es vielleicht! Aber verdammter Herbst: die Büsche sind durchsichtig.

26

Methusalem

Es wird schon früh dunkel, Andrerseits kann die Laterne angezündet werden; Guter September, Wo alle Blätter und die Frauen fallen. IDA. Ich tanzte über die Straßen hierher. Die Pflastersteine waren Rubine, Maiglöckchen läuten in meinem Herzen. DAS DU pathetisch. Fräulein, ich warte seit sechstausend Jahren Auf die Ankunft der Elektrischen, Ihnen mein Herz zu offenbaren! IDA. Schreiben Sie auch Sonette? DAS DU. Ich bringe Ihnen alle Wälder der Romantik zum Geschenk, Und weiße gläserne Rehe darin. DAS ICH. Die sind wenigstens billiget als Blumen vom Laden. DAS DU. In meinem Munde trag' ich glühende Poeme. DAS ICH. Und ein altes Gummigebiß. DAS DU. O schamvoll Geliebte Du Deine Nase Deine Halsadern Deine Strumpfbänder Deine duftenden Achselhöhlen: Göttin meinl DAS ICH. Warum wird alle Liebe sentimental? Arme Menschen die mit Träumen handeln! Die Prinzen sind Phantome nur, Und Liebe eine Blutreinigungskur. IDA. Es gilt nur dieser Tag in meinem Leben! Heut ging die Sonne zum erstenmal auf Und war eine Chrysantheme, erfunden von dir! Deine Stirn ist der elfenbeinerne Turm, Auf den ich steige, die Welt zu betrachten. Alle Plätze tragen deinen Namen, Alle Städte sind von dir erbaut: Die Tempel von Asien, die Docks von Amerika. Die Uhren schlagen stündlich deine Zeit . . .

5. Szene

27

DAS ER. Jetzt! Jetzt oder niel Niemand im Park: die Ammen sind längst schlafen gegangen, Und der Bürger kommt noch nicht verdauen. Die Wächter der Anlage sind müde und faul . . . Jetzt in den Rasen sie werfen, Die Lippen zittern ihr, Und Abend rieselt durchs Rückenmark. Halt, verdammt I Die Erde ist naß, Ihr Blüschen wird schmutzig, Ach, warum hab ich meinen Gummimantel nicht mitl DAS DU. Ihre Tante ist eine so gute Person. Lieben Sie Geographie ? In Brasilien sind die Lokomotiven rot angestrichen. Die Katze unserer Pförtnerin warf heute früh sechs Junge, Sechs Teufel mit Schwefelaugen, die man ertränkte. Da hat meine Hausfrau gesagt Er lacht, hat sie gesagt, Ja, was hat sie denn nur sagen mögen! Kennen Sie Berlioz, Fräulein Methusalem? Er ist die Trompete des Jahrhunderts, Das stand gestern im Abendblatt, Hand aufs Herz. Oder wollen wir ein Billet zweiter Klasse lösen, Wohin Sie wollen, nach Mexiko oder nach Cythera: Ich zahle alles I Ich habe einen guten Charakter, wissen Sie! DAS ICH. Bin ich verrückt ? Warum sie denn auf andere Gedanken bringen I Mit zwei Mark fünfzig in der Tasche, Und die Stuhlfrau muß ich auch bezahlen. Ich müßte aus diesem Park Urwald und Paradies ihr zaubern! IDA. Wie Du bist Du bist Du bist

hingegeben, Mann der Männer, bin ich dir! mir alle Schicksale und Wunder, der Torero aus der Illustrierten Zeitung, der Ingenieur im Film, mit dem tyrannischen Bart und den Reitstiefeln, Du bist der Jüngling von Goya im Museum, Du bist der blonde Offizier uns gegenüber im Garnil

DAS ER. Donner und Doria! Jetzt eben war es gegangen. Verdammte Schweinerei, ich brauchte sie nur hinzuwerfen, Da kommt ein Weiblein und will ihr Hündchen pissen machen. Ambrosische Stunde, auf immer verdorben! Ida lächelt ihn süß verständnislos an.

28

Methusalem

DAS ICH. Und doch ist's vielleicht besser nicht geschehen r Sie hätte gewiß die Löcher in meinem Hemd bemerkt, Die meine Wirtin nicht mehr stopfen wollte* Sie hätte gesehen, dass ich Röllchen trage Und zwei verschiedene Manschettenknöpfe. Vielleicht ist auch mein Tripper gar nicht ausgeheilt . . . DAS ER. DU Feigling, schau doch ihre Brüste dick Und qualverlangend in dem Ausschnitt! DAS ICH. Nein, nein, und wenn sie meinen schlechten Atem spürt Vom faulen Zahn, den ich noch nicht plombieren ließ! Das Er stürmt sich auf das Ich und versetzt ihm einige Fußtritte und Faustschläge. Ich heult laut auf und wäbj sich im Rasen. Er rauft sich die Haare und ordnet seine Krawatte. Inzwischen beschäftigt sich das Du eifrig mit Ida. DAS DU. Mein Fräulein, wann gehen wir zusammen ins Konzert? Die Neunte Symphonie ist eine chemische Reinigung der Seele. Ich kenne viele Maler mit breiten Krawatten, Wir werden in ihren Ateliers russischen Tee trinken. Von meiner Mansarde sieht man dreihundert Kamine Wie einen Herbstwald und hinten den Kanal Mit holländischen Schiffen, die die Welt in sich tragen. IDA. Wir werden glücklich auf Terrassen Himbeereis essen! Wir werden den ersten Vogel um fünf Uhr Aus seinem Schlaf in unsere Herzen fallen hören! Du bist der Flieger goldner Sonnenuntergänge! Der himmlische Renner der Gordon-Bennett-Rennen! DAS ICH. Blöde Gans, genug der Lyrik! Ich hab sie nicht gehabt, wozu noch Phrasen dreschen. Ihre Zwirnhandschuhe riechen nach Schweiß, Und alle Sentimentalität hat Bleichsucht. Wo bist du, Kokotte der Buffalo-Bar, Platzend von roter Gemeinheit, Der das Strumpfband durch das Röckchen schimmert . . . DAS ER. Ja, laß die milchkaffeedurchtränkte Bürgerin, Laß ihre Brüstchen in den Brusthaltern welken, Ein Blümlein, bald in die plüschenen Familienphotographiealbums geklebt. Ein unrasierter junger Geschäftsmann Wird sich an ihrem Korsett in den Finger stechen!

29

6. Szene DAS ICH. Aber sie soll fünf Millionen erben!

DAS DU. Geliebte, erlauben Sie mir, Ihnen eine Ansichtskarte zu senden ? DAS ER. Nimm sie, noch geht es, es kommt kein Mensch! Und wenn es ein Kind gibt, muß der Alte blechen. DAS ICH. Ach was, mich macht die Revolution von selbst zum Erben I IDA. Die Bäume verlieren den Boden, Die Vögel essen vom Mond, Und wir, und wir, mein Faust, mein Lohengrin, mein Papst! DAS DU. Nur daß Sie sich hier nicht erkälten! Sie müssen zuhause Pfeiferminztee trinken! Auf Wiedersehen, Kalliope, mein Stern! DAS ICH. Ich kriege dich doch, auf meinem Zimmer morgen! DAS ER. Dummes Huhn! Vorhang.

VI Der Besuch bei Methusalems Drei Bekannten-Paare werden fast gleichzeitig von Dienern hereingeführt und beginnen sofort, unter lautem Geschwätz die Gegenstände im Raum anzusehen, in die Hand zu nehmen usw. Die Männer tragen alle ähnliche Konfektionsanzüge. Ihre Gesichtsmasken drücken Geiz. Neid, Neugier aus. Sie halten von Zeit zu Zeit einen Operngucker an die Augen. Die Frauen, obgleich Bürgerinnen, tragen extravagante Modelle: als Hüte echte Geranientöpfe, ausgestopfte Vögel oder das Reicbstagsgebäude en miniature in Pappe: dann Zebra- und Büffelpel^e, Röcke, teils mit sehr langen Schleppen, teils nur über die Knie reichend. Es sind die Familien

DARMKATA,

HERR DARMKATA.

Guten Tag.

H E R R BÄUCHLEIN.

Guten Tag.

H E R R HIMMELREICH.

Guten Tag.

BÄUCHLEIN

und

HIMMELREICH.

30

Methusalem

FRAU DARMKATA.

Wie niedrig hier die Zimmer sindl

FRAU BÄUCHLEIN.

Und gar nicht gelüftet. Man erstickt geradezu.

FRAU HIMMELREICH.

uns hier einzuladen.

Der Staub liegt fingerdick. Eine Frechheit,

HERR DARMKATA.

Ein schreckliches Wetter heute.

H E R R BÄUCHLEIN.

Ja, wenn es wenigstens regnen wollte!

Was ? Regnen ? Sind Sie denn verrückt ? Wo meine Schuhe erst neu besohlt sind!

HERR HIMMELREICH.

FRAU HIMMELREICH.

Ach kennen Sie nicht ein gutes Abführmittel ?

Zu Bäuchlein. Sie eine Leibbinde.

HERR DARMKATA

Hören Sie wohl zu: erst kaufen

sich einmischend. Nein, erst kochen Sie kaltes Brunnenwasser, bis es siedet . . .

FRAU DARMKATA

Wenn das Gas nicht brennt, rufen Sie den

HERR DARMKATA.

Klempner. FRAU DARMKATA. HERR DARMKATA.

geld mehr gibt.

Dann müssen Sie sich die Füße waschen. Und merken Sie sich, daß es jetzt kein Trink-

Ja, aber, und mein Halsgeschwür? Sie sagen mir ja gar nicht, wie ich es pflegen soll!

H E R R BÄUCHLEIN.

D U siehst doch, Manne, daß sie dir's extra nicht sagen. Sie möchten dich lieber krepieren sehn!

FRAU BÄUCHLEIN.

Legen Sie italienischen Senf auf die Wunde. Machen Sie sich denn keine Bewegung?

FRAU HIMMELREICH.

Ja, wir sind doch jedes Jahr zusammen am Kanal angeln gegangen.

HERR DARMKATA.

Zeitunglesen ist sehr ungesund. Die Abendtelegramme sind schlafstörend.

FRAU HIMMELREICH.

Haben Sie denn auch vom letzten Mördchen gehört? Ein Sohn, der seiner Großmutter eine echtsilberne Gabel ins Herz gestoßen hat, um sie zu töten? Das ist phantastischer als Shakespeare. Denken Sie sich, eine Gabel mit vier spitzen Zacken. Wie das Blut gespritzt haben mag!

FRAU BÄUCHLEIN.

6. Szene FRAU DARMKATA.

31

Und der Blumenkohl hat sehr aufgeschlagen.

hereinkommend. Meine lieben Freunde. Wie schwer ist das Leben! Er setzt sieb.

METHUSALEM

FRAU HIMMELREICH. H E R R BÄUCHLEIN.

Der Untergang der Welt.

Ja heutzutage! Ich meine indes . . .

H E R R HIMMELREICH. METHUSALEM.

was meinen Sie?

NU,

FRAU BÄUCHLEIN.

etwas!

HERR DARMKATA.

Hör doch, Bäuchlein, Herr Himmelreich meint Prachtvoll! Phänomenal!

Ja, ich meine nämlich, daß . . . daß . . . daß ich gar nichts zu meinen habe!

H E R R HIMMELREICH.

H E R R BÄUCHLEIN. METHUSALEM.

Da hört doch aber alles auf!

Ach, wie teuer ist das Leben!

HERR DARMKATA.

Das Leben ist teuer.

FRAU DARMKATA.

Teuer ist das Leleben. Man stirbt vor Hunger.

H E R R BÄUCHLEIN.

Es gibt keine Leber mehr in den Gänsen.

FRAU HIMMELREICH. H E R R BÄUCHLEIN.

SO

eine Regierung!

Was? Sind Sie etwa gegen die Demokratie? Dann sollen Sie es mit mir zu tun haben.

HERR DARMKATA

Aber im Gegenteil, ich bin Sozialroyalist, das heißt Unabhängiger Volksparteiler, verstehen Sie?

H E R R BÄUCHLEIN.

H E R R HIMMELREICH. FRAU DARMKLTA. METHUSALEM.

gekauft.

Welch hochinteressanter Nachmittag.

Mein Sohn hat sich eine blaukarierte Krawatte

FRAU DARMKATA. METHUSALEM.

Ich meine indes . . .

Unsere Tochter lernt jetzt Gabelsberger.

Mein Sohn hat einen neuen Pantoffel erfunden.

Methusalem

32 FRAU DARMKATA.

Unsere Tochter ist in der Katholischen Bibliothek

abonniert. METHUSALEM.

Mein Felix verkehrt im »Cafe Genie«.

DARMKATA. Und meine Irma lernt Spinoza auswendig. Nicht wahr, mein Gatte? Wie herrlich, warum verheiraten wir die beiden nicht miteinander?

FRAU

METHURALEM.

Patente Idee! Und wann soll Hochzeit sein?

Herr Darmkata zieht einen großen Wandkalender aus der Tasche. Inzwischen kommt A M A L I E in großer Aufmachung, frisiert, gepudert, Perlendiadem im Haar, und eine schmutzige Küchenschürze vorgebunden. Sie trägt selbst das ganze Teeservice herein. AMALIE. Ach meine lieben Gäste. Guten Tag. Man hat soviel zu tun. Entschuldigen Sie. Es ist so schwer mit den Dienstmädchen. Sie haben gut reden. Aber letzte Woche hat meine Sieglinde unseren echt Meißener Porzellannachttopf, ein Erbstück des Onkels Hugo selig, der war Unteroffizier in der vierten Kompanie des Artillerieregiments zu Fuß gewesen, und denken Sie sich, der rauchte nur dunklen Tabak! E r gab mir noch seine Photographie, bevor er seine Reise nach Holland. Sie müssen nämlich wissen, daß in unserer Familie noch niemand Rheumatismus gehabt hat, wir sind von gesundem Blut. Also dieser Onkel Hugo, dessen Bruder in der Neujahrsnacht von 1900 einen Zollbeamten mitten in der Straße traf, starb eines Tages. Und wir hatten gerade große Wäsche und es begann sehr stark zu regnen . . . da sagte der . . . er sagte . . . ja was wollte ich denn eigentlich sagen, Methusalem, so hilf mir doch . . . Die Gäste haben schon lange nicht mehr zugehört, einige sind eingeschlafen, andere fangen Fliegen. D A R M K A T A in der Diskussion mit Methusalem fortfahrend. Nein, die Hochzeit kann nur stattfinden, wenn wir die Anzeigen auf echt Bütten drucken lassen.

FRAU

Echt Bütten! Bedenken Sie aber, was für eine Ausgabe das bedeutet. Ginge es nicht ebensogut mit einer Zeitungsannonce ?

METHUSALEM.

FRAU DARMKATA. HERR DARMKATA. METHUSALEM.

Sie wollen schon an unseren Kindern sparen? Die Familie Methusalem ist gewiß sehr geizig.

Nur Geiz macht reich.

6. Szene

33

Lieber geht unsere Irma in ein Kloster. Kein Büttenpapier! Komm, Männe, ich will keine Minute länger in diesen Mauern weilen.

FRAU DARMKATA.

Herr Methusalem, ich bedaure. Aber übrigens haben Sie ja schon 1898 mal Bankrott gemacht. Pfui. Ihr Sohn mag ein schönes Früchtchen sein. Kein Büttenpapier! Unerhört!

HERR DARMKATA.

Er nimmt seine Frau unter den Arm und geht geräuschvoll mit ihr ab. fährt fort, den Tee servieren. Und wenn Sie überhaupt wüßten, was meine frühere Köchin Euphrosyne für einen Sommerhut trug. Schwarzes, brasilianisches Stroh und drei dicke Kirschen drauf. Zwei Mark fünfzig, also spottbillig, nur Köchinnen haben solches Glück. Und die Bäckersfrau, die geht jeden Sonntag in Tivoli tanzen, und hat einen kleinen Cousin, der wollte Architekt werden, aber die europäischen Verhältnisse, nicht wahr . . .

AMALIE

FRAU HIMMELREICH

Himmelreich!

stößt ihren Mann in die Seite. Na, sag's doch,

HERR HIMMELREICH. Ja, ich meinte indes, wir haben einen Sohn. FRAU HIMMELREICH

Amalie.

Ihr Tee ist phänomenal.

Weil ich ihn gemacht habe. Denken Sie sich, die Köchin tut immer vier Löffel hinein statt drei. Und er ist direkt aus Ceylon bezogen, in echt Hamburger Packungen 4 1,50 M.

AMALIE.

FRAU HIMMELREICH.

Wissen Sie, unser Sohn trägt einen Panamahut.

Unsere Ida läßt sich ihr Haar alle sieben Tage ondulieren.

AMALIE.

FRAU HIMMELREICH.

gesehn.

Wir haben sie gestern in der Bahnhofstraße

AMALIE. Ach wie gütig von Ihnen. FRAU HIMMELREICH. AMALIE.

Kennen Sie Einstein?

Den Zahnarzt?

Mein Sohn war an Pfingsten auf der Zugspitze, und da hat er ihm eine Ansichtskarte geschickt. Auf dieser Karte haben alle seine Freunde unterschrieben, der Maierfritz, der jetzt ein schlimmes Auge hat, aber es ist nicht schlimm, seitdem er Pflaumenkompott drauflegt, und . . .

FRAU HIMMELREICH.

AMALIE

seufzend. Jaja, unsere Ida!

3 Komedia X U

34

Methusalem

FRAU HIMMELREICH.

Unser Mäxchen!

Meine Idal Wenn sie die Mondscheinsonate auf dem Klavier spielt, ich sage Ihnen . . .

METHUSALEM.

FRAU HIMMELREICH.

Die müssen sich heiraten!

Unter einer Bedingung, daß sich das Ehepaar aufs Hoftheater abonniert.

AMALIE.

H I M M E L R E I C H steigt auf den Tisch. Meine verehrten Herrschaften, ich zeige Ihnen hiermit Er schluchzt laut in sein Taschentuch. die Verlobung unserer beiden Kinder an, einerseits Max, andererseits beugt sich seiner Frau. Hast du dich nach seinem Bankkonto erkundigt ? . . . Er schluchzt. Ich meine indes, ja was meinte ich eigentlich . . .

HERR

Große Bewegung unter den Gästen, die sich die Hand drücken, umarmen und sämtlich in ein großes Weinen ausbrechen. Der Raum verdunkelt sich einen Augenblick, währenddessen die Gäste und die Spuren des Empfangs verschwinden.

VII Derselbe Raum. Dunklere Beleuchtung, die später beim Auftreten Idas sich rosiger färbt. M E T H U S A L E M und A M A L I E allein. METHUSALEM reibt sich die Hände. AMALIE.

Die Himmelreichs haben eine 7-Zimmerwohnung.

METHUSALEM. AMALIE.

Wieder ein Geschäft gemacht.

Ich war in der Auskunftei. Kaidaunen en gros.

Beletage. Unerwartete Heirat.

Herrliche Aussichten für nächsten Krieg. Ich mache mit meinem Schwiegersohn ein Kompaniegeschäft: Zentraler Ochsentrust A . G . Wir kaufen alle Ochsen von Europa auf: die Felle für unsere Schuhfabriken, die Kaidaunen für Militärwürste, und das Fleisch wird nebenbei als Abfall verkauft.

METHUSALEM.

AMALIE.

Wie sieht eigentlich der Max aus? Wie der Kronprinz?

Ich glaube, er ist rothaarig. Wie ich ihn vor fünf Jahren zum letzten Mal sah, trug er den Scheitel links.

METHUSALEM.

7. Szene

35

geht %ur Türe rechts und ruftflötend.Ida I Ida! Turteltäubchen! Wasserröslein! Kanarienvögelchen! Meine Tochter, wo bist dul

AMALIE

IDA kommt schwebend, mit offenem Haar, träumerisch. Die Bäume sind leicht vor Glück, Luftschiffe, denen der Herbst Die Taue abgeschnitten, Vögel sitzen darin Wie im Dining-Car, Der nach Kairo fährt, Und mein Herz ist darunter. METHUSALEM.

Weißt du schon das Neuste?

IDA. ES zittert ein rosa Stern in meinem Leib. Die Wölfe heulten im Wind dieser Nacht, Aber Engel mit Flügeln aus Watte Kamen und trösteten mich: Dein Kind wird Augen aus Jade haben! AMALIE.

Total marode.

METHUSALEM. AMALIE.

Zuviel Zola gelesen.

Deine Erziehung!

IDA pathetisch. Als mich dein Wandeln an den Tod verzückte . . . Fräulein spielt heilige Jungfrau. Zuviel Katechismus wahrscheinlich.

METHUSALEM.

AMALIE.

Deine Erziehung!

METHUSALEM.

Schämst du dich nicht vor deinem alten Vater ?

IDA. Im Museum hab ich schon Embryos gesehen! Kleine Greise in grünem Alkohol, Lächeln der Geburt und des Todes, Schmerz des Werdens Oder wohl des Schongewesenseins ? METHUSALEM

tvätend, schreiend. Schneppedu!

Nein, hör, mein Kind, vernünftig sein! Von heute ab bist du nämlich verlobt . . .

AMALIE.

IDA. Verlobt I O ja, ein orientalischer Prinz, Auf Feuerwagen des Lunaparks 3*

36

Methusalem

Eroberten wir den purpurnen Orion. Mit bloßem Finger rührten wir an den Saturn: Da schwor er, mich zu heiraten Schon übermorgen! AMALIE.

Kindchen, du mußt Kamillentee trinken.

IDA. AUS Baku ist er und studiert Medizin. In seiner Heimat gibt es lauter Akazienwälder. bringst uns ins Grab, in die feuchte, dunkle Familiengruft I Du Hure, du Schneppel

METHUSALEM.

DU

IDA. Ein Kind ist nur ein Tropfen von Gott, hat er gesagt. Und dann hat er gesagt: Lies Schopenhauer. AMALIE.

O

Gott, was werden die Himmelreichs dazu sagen.

METHUSALEM. AMALIE.

Ich werde dir Respekt beibringen.

Ich will dir ein Gläschen Himbeersirup holen. Heulend ab.

Im selben Moment erscheint

in seinem Lift, genau wie in IV ausstaffiert. F E L I X siebt sich um, sein Telephonapparat klingelt, die Antennen auf seinem Kopf blitzen. Allo, allo! Hier ist was passiert I

METHUSALEM.

FELIX

Methusalem & Co. ist verloren.

Allo, allol Sind die Fleischtarife heruntergegangen? Schwanken die Damenstrumpfpreise ? Steuer auf gelbe Halbschuhe ? Ist die Herz-Kredit-Bank pleite?

FELIX.

METHUSALEM.

Schlimmer I Schlimmer I

Unser Konkurrent in den Stadtrat gewählt ? Ist gestern kein Streiker gestorben? Hat unser Agent in Hongkong wieder Nasenbluten? Allo, allo, allo, was ist geschehen?

FELIX.

METHUSALEM. FELIX

Deine Schwester Ida kennt einen Herrn.

einen Schritt zurücktretend, pathetisch.

Unmöglich I

IDA. Ja, mein Bruder, du großer, verstehender Mannl Der du weißt, wann die Sonne in Ostende untergeht, Der du täglich die Baumwollkurse auswendig betest,

Abb. 3 : Ida. Figurine TOH George Grosz

Methusalem

38

Wohltäter der Menschen, der sie nicht barfuß laufen lassen will, Versteh mein kleines erschrockenes Herz, Das bald doppelt schlagen muß. FELIX.

Da hört sich aber alles auf, allo?

Sie macht sich noch über dich lustig. eine echte Methusalem, Du entehrst unsern heiligen Namen, unsere heilige Firma! Die Ehre des Box-Calf-Trusts steht auf dem Spiel. Unsere Kundschaft wird entsetzt die Propagandaabteilung verdächtigen. Der neue Toreador-Schuh wird nicht gekauft werden I O welches Unglück schlägt uns, Idal

METHUSALEM. FELIX.

DU,

Ein Kind! Sie hat ein Kind, und wagt es noch einzugestehen Vor ihrem alten Vater, das ist die Höhe! Hast du denn gar keine Moral im Leibe?

METHUSALEM.

IDA. Ich hab ein rosareines Kind im Leib. Wir müssen etwas für die öffentliche Meinung tun, Sofort einen Ausverkauf ankündigen!

METHUSALEM.

FELIX.

Zwanzig Prozent Rabatt.

METHUSALEM. M M M

mein Bein, verlorene Hurentochter!

geht aufgeregt auf der Bühne auf und ab. Meine Ehre! Meine angegriffene Ehre. O wie ich leide! Allo allo allo! Ich hab's! Ich werde das Individuum niederschießen! Er zieht einen Revolver heraus, blitzt f i t allen seinen Antennen, klingelt, macht: Allo allo, und steigt in seinen hinuntergießenden Lift ein. Ab. Amalie kommt mit einem Glas Sirup zurück. Sie sieht Methusalem und Ida laut weinen. FELIX

Ja aber, im Grunde, habe ich von der ganzen Geschichte noch nichts verstanden. Sagt mir, Kinder, was ist eigentlich passiert? Die Ida ist von einem Herrn in der Straße gegrüßt worden? Oder: hat die Ida eine Ansichtskarte von einem Herrn bekommen? Oder was, was für eine schreckliche Sache ist denn geschehen ?

AMALIE.

IDA nähert sich ihr zari umarmt sie. Mutter, in meinem Leib ein rosa Kindchen!

8. Szene

39

Amalie stößt einen wehen Schrei aus, legt aber schnell das Glas, das sie in der Hand trägt, auf den Tisch, nachdem sie sorgfältig, um nichts beschmutzen, den Fuß des Glases mit dem Rock abgewischt hat — dann erst läßt sie sich fallen und stöhnt. Mein Gott, ich glaube, ich falle in Ohnmacht.

AMALIE.

Vorhang.

VIII Duellplatz• Früher Morgen. Parkanlage. Eine Laterne. F E L I X , diesmal mit Frack, geöltem Scheitel und Monokel. D E R STUDENT. FELIX.

Sie haben also meine Schwester verführt.

STUDENT. FELIX.

Meine Familie beleidigt.

STUDENT. FELIX.

SO ?

Das erfordert Rache.

STUDENT. FELIX.

Und wenn schon.

A c h nee.

Hundsknochen!

Ist das Ihr Ernst? Na also, was ist eigentlich geschehn! Ihre Schwester liebt mich: Was kann man gegen Erotik tun? Meistens verführt sich jeder nur selbst. Der Name ist gleichgültig. Was ist weiter geschehen? Irgendein Spermatozoon — Der ist noch immer besser als ein Grippebazillus.

STUDENT.

FELIX.

Allol Gott der Gerechte!

Sie dürfen gegen Gott nicht hadern. In seinen Augen gibt es kein Verbrechen und keine Nacktheit. Alles Menschliche ist an sich tief.

STUDENT.

FELIX.

Mein Herr, Sie ärgern mich!

40

Methusalem

Im Hintergrund der Bühne wird das folgende Bild szenisch oder kinematographisch gezeigt: Ein Begräbnis grotesk und komisch: die Pferde mit hohen Palmwedeln auf dem Kopf. Auf dem Sarg liegt eine Kaffeemaschine. BISCHÖFE in großer Aufmachung torkeln hinterher. Die C H O R K N A B E N in roten Mänteln essen Butterbrote. Das P U B L I K U M sehr mannigfaltig und komisch. Unmittelbar hinter dem Leichenwagen die Leidtragenden: der B R U D E R und die eine hinkende S C H W E S T E R der Verstorbenen, mit folgendem Dialog. SCHWESTER.

Sie war aber doch immer sehr geizig!

Schrei nicht so laut, mein Bürochef kommt vorbei.

BRUDER.

Als wir das letztemal bei ihr waren, hat sie gesagt, daß man gesagt hätte, ich hätte gesagt, sie äße Pferdefleisch.

SCHWESTER.

BRUDER

lacht. Na, das kann sie sich jetzt auch noch sparen.

Weißt du, ihre Ohrringe, die ich erbe, sind auf echt Platin gearbeitet.

SCHWESTER.

Was? Die erbe ichl

BRUDER.

SCHWESTER.

Sie hat sie mir versprochen.

V o r fünf Jahren wollte sie sie schon meiner Frau geben 1

BRUDER.

stampft und schreit. Frauenschmuck kommt den weiblichen Nachkommen zu!

SCHWESTER

In welchem Gesetzbuch steht das ?

BRUDER.

D U bist ein Hund! Die Marie war der verkörperte Geiz! Sie wirft sich auf clen Sarg und reißt das Bahrtuch herunter. Ich bin betrogen! Eine Gemeinheit!

SCHWESTER.

D E R BISCHOF

FELIX.

hinter den beiden. Do-mi-nus vo-bis-cu-um! Die Vision verschwindet.

Und meine Schwester war noch eine Jungfrau.

Warum auch nicht ? Ist nicht jeder Mann berechtigt, einmal seinerseits zu entjungfern ? Bisher hatte ich mit 137 Unjungfrauen geschlafen, Auch ich wollte sozusagen original lieben.

STUDENT.

FELIX.

Aber meine Schwester!

STUDENT.

Ihr persönliches Pech!

8. Szene FELIX.

Sie sind ein Bolschewik und tragen Röllchen!

STUDENT. FELIX.

Ja, ich habe Löcher in meinem Hemd.

Keinen Pfennig Ehre im Leib!

STUDENT. FELIX.

Und meine Absätze sind abgetreten.

Sie sind ein Schuft!

STUDENT. FELIX.

WO

kauft man Ehre? Ist sie auf Karten erhältlich?

Sie m ü s s e n Selbstmord üben! Sonst ?

STUDENT. FELIX.

41

Muß ich zum Mörder werden.

Und Sie halten mich wohl für einen guten Menschen, der Ihnen diese Tat ersparte?

STUDENT.

D U Schuft, du Jud', du Staatsfeind, du Schakal, du Hundsknochen, sucht du, du Mistfliege, du Syphilisbeule, du du . . .

FELIX.

die Hände in den Hosentaschen, lacht. Herr Methusalem, Sie haben da einen Knopf an der Hose offen!

STUDENT

Felix dreht sich schnell um, beugt sich vor und nestelt an der Stelle. Neue Vision im Hintergrund: Eine Hochzeit; grotesk bäurische Aufmachung: Der BRÄUTIGAM in Zylinder und blauer Marktbluse, die B R A U T ganz weiß, doch einen schwarten Crepeschleier um den Kopf, die E I N G E LADENEN torkeln hinterher, drei MUSIKANTEN voraus: Flöte, Geige und Trommel, »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« spielend. Dialog zwischen Bräutigam und Braut. BRÄUTIGAM.

geschenk !

Wie schäbig, eine alte Badewanne als Hochzeits-

Das sagst du nur, weil's von meiner Tante kommt. An meiner ganzen Familie findest du was auszusetzen.

BRAUT.

BRÄUTIGAM BRAUT.

DU

BRÄUTIGAM. BRAUT.

lachend.

Eine Badewanne!

hast zu viel Sekt getrunken. Wirfst du mir das auch schon vor ?

Das kann ein Leben werden mit diesem Mann!

BRÄUTIGAM.

O

hätt' ich dich nur nicht geheiratet!

42

Methusalem

Hast du den Plüschhut meiner Mutter bemerkt? Den hat sie sich extra noch von meiner Konfirmation aufgehoben.

BRAUT.

BRÄUTIGAM. BRAUT.

So sieht er auch aus.

Fahren wir heut abend schon nach Venedig, Schatzi ?

Erstens bin ich kein Schatzi. Zweitens fahren wir erst morgen. Drittens nur nach Stettin.

BRÄUTIGAM.

läuft meinend den Gästen im Zug zurück. Oskar hat mich schon angeschrien I

BRAUT

MUTTER.

Tochter!

Mama, Mama, der

Was erlauben Sie sichl Meine gutchristlicherzogene

Es kommt %ur Rauferei. Regenschirme und Stöcke schlagen drein. Die Musik spielt einen Trauermarsch. Alles verschwindet in der Kulisse. FELIX

nachdenklich.

Aber im ganzen scheinen Sie einen ganz guten Charakter zu haben, Sie wären ein ausgezeichneter Geschäftsmann! Wenn also besagtes Baby das Licht der Welt zu erblicken partout sich erdreistete, Biete ich Ihnen den Direktionsposten Unserer Schuh-Filiale in Jamaika an Mit einer Bedingung: Nie wieder Europa! STUDENT pathetisch. Wozu noch nach Jamaika fahren? Man kann doch nie sich selbst entfliehn! Auch unterm Äquator bleiben Sie ein Methusalem Und ich der Vater Ihres Neffen. Glauben Sie mir: auch am Nordpol ist das Leben langweilig, Und rülpst der auf, der zuviel ölsardinen ißt. FELIX

fällt aus seiner Rolle.

Haben Sie Philosophie studiert?

Der Menschen Dummheit ist so groß, Daß, wer sie nur erkennt, schon als Genie gilt.

STUDENT.

FELIX

faßt sich. Allo! Wollten Sie mich beleidigen ?

STUDENT.

Nur die Wahrheit beleidigt.

%iebt einen Revolver heraus. Dann verzeihen Sie, so leid es mir tut. . . Er schießt. Der Student fällt sofort Boden. Er haucht sichtbar seine Seele aus, die in Gestalt seines Wintermantels ihn verläßt und in die Höhe entschwebt. Darauf steht der Student nochmals auf. FELIX

9. Szene

43

Sie sehen, meine Seele entfleucht! Bitte grüßen Sie Ihre Schwester! Er lüftet den Hut und geht ab.

STUDENT.

Vorhang.

IX Bei Methusalem. Neue, goldene Beleuchtung. Von verschiedenen Seiten, gleichzeitig, treten V E R O N I K A und der S T U D E N T herein. S T U D E N T macht der unnahbar erscheinenden Dame Zeichen intimster Verständigung. Sie auch hier, schönste Dame? VERONIKA. STUDENT. VERONIKA. STUDENT. VERONIKA. STUDENT. VERONIKA. STUDENT. VERONIKA.

Mein Herr, ich kenne Sie nicht. Grund mehr, um es nachzuholen. Aber ich bin verlobt, mit Herrn Methusalem. Ach wie einsam bin ich! Machen Sie sich nicht über andere lustig! Wir werden uns niemals finden! Wollen Sie mich absolut traurig stimmen? Wer den Horizont sehn will, darf nicht horizontal sein. Bitte keine Beleidigung!

Aber ich heiße ja Robert! Dann allerdings! Sie hält ihm die geschminkte Backe hin und er küßt sie sehr laut.

STUDENT.

VERONIKA.

STUDENT.

Ach, wie liebe ich . . . die Charcuterie.

H E R R IM P U B L I K U M .

Hahahaha! Lacht auf.

Lachen Sie nicht, mein Herr. Das war ernst. Da hört aber alles auf. Ich werde mich beschweren, mir meinen Platz zurückzahlen lassen! Der macht nicht mal Witze! Geht unter großem Geräusch hinaus. VERONIKA. Die Schwalben versteigern den Frühling. STUDENT.

HERR

IM P U B L I K U M .

44

Methusalem

Gestern traf ich in der Tram einen Pfarrer, der sagte zu mir: »Junger Mann, Sie sollten nie ohne Regenschirm ausgehen!«

STUDENT.

Meine Bluse ist sicher zu wenig ausgeschnitten! Sie öffnet sie gleichzeitig ein wenig.

VERONIKA.

STUDENT. VERONIKA.

Gnädige Frau, Sie sollten Ski laufen. Ja, wenn du mit mir auf den Gaurisankar fährst?

Erst müssen wir Methusalem erschlagen. Das wäre ein Grund für so eine weite Reise. Da kommt er, ich werde mit Waffengewalt zurück sein. Er steigt zßm Fenster hinaus. METHUSALEM erscheint, frisch rasiert, einen Klatschmohn im Knopfloch. Lächelnd. STUDENT.

Ach endlich kommst du, Goldkäferchen I Wie steht der Dollar?

VERONIKA.

nähert sich ihr und steckt sofort die Hand in ihr Mieder. Die Boxcalfleder schlagen auf.

METHUSALEM

VERONIKA.

Ich bin so unglücklich. Ich brauche einen Aeroplan.

METHUSALEM. VERONIKA.

gesehen!

Keiner hat mir seit gestern auch nur in die Augen

METHUSALEM.

VERONIKA.

her.

Unmöglich. Unter drei Millionen schenke ich nicht

SO?

METHUSALEM. VERONIKA.

Und in die Beine? Er öffnet ihre Bluse ganz-

Ich bin so fürchterlich nervös! Ich brauche eine Million.

METHUSALEM.

VERONIKA.

Hast du mich auch nicht betrogen?

Da war mein kleiner Student schon galanter.

Unselige! Du kennst meine Eifersucht nicht!

Dann fahr doch mit mir nach Tokio.

METHUSALEM.

waschen. . .

Ja, aber ich muß mir doch zuerst die Füße

steigt wieder ins Fenster herein und macht es weit auf. Ersparen Sie sich die Mühen der Reise, der Liebe, der Eifersucht, des

STUDENT

Abb. 4: Student. Figurine von George Grosz (Diese Abbildung, die sich nicht in der Erstausgabe befindet, wurde freundlicherweise von Frau Ciaire Göll zur Verfügung gestellt.)

Methusalem

46

Blumenkaufens, des Fußwaschens und des Witzemachens: ich vertrete Sie. Geben Sie mir Ihre Geldtasche. Ich werde Sie dauernd dafür schnarchen lassen. schreit. Mord! Diebe! Mo . . . Siebs überlegend. Aber junger Mann, Sie scheinen Talent zu haben. Wollen Sie nicht als Verkäufer bei mir eintreten?

METHUSALEM

STUDENT.

Dein Geld! Geld! Geld!

Wollen Sie nicht, ich habe große Beziehungen, Unterstaatssekretär für öffentliche Misere werden?

METHUSALEM.

STUDENT.

Dein Geld! Geld! Geld!

Er hat wirklich Talent, Nichts ist reeller als das schöne Geld, Er ist von meinem Geschlecht, maneschome, Für Geld kauft man sich Witze, Liebe, Frühling und Revolutionen.

METHUSALEM.

Der Student greift in Methusalems Rocktasche und entnimmt ihr Bündel von Geldscheinen. Methusalem vermag sich nicht dagegen zu wehren, Veronika ist vor Schreck davongelaufen, ihre Bluse wütend wieder zuknöpfend. STUDENT.

Ich bin die

Tat!

Ich bin die Revolte, der Geist, das Salz, Das eure stinkenden Wasser zersetzt, All eure modernden Zivilisationen! Eure Gesetze verbrennen wie altes Zeitungspapier, Euren Moralen die falschen Gebisse herausschleudern, Und eure Bürgerwänste . . . Er läuft zum

Fenster.

Gib dir doch keine Mühe, Träumerstudent, Verlotterte Existenz der Dachmansarden, Revolutionär des leeren Magens, Inspiriert von schlechten Tabakpfeifen: Mit dir nehm ich's auf . . .

METHUSALEM.

Methusalem will auf einen Knopf drücken. Der Student hindert ihn daran, indem er einen Revolver gegen ihn zückt und gleichzeitig einen Signalpfiff ausstößt. Im Nu erscheint im Rahmen des Fensters dieselbe VOLKSMENGE wie in IV, mit roten Fahnen, Revolutionsinsignien und den Photographien Liebknechts und Rosa Luxemburgs auf hoben Stangen.

9- Szene

47

VOLKSSTIMMEN. Nieder Methusalem, Knüpft ihn an seiner Krawatte auf! Hoch Lenin Pellkartoffeln Saarkohle Freiheit Rosa ist unser Zehn Kinder krepiert Nieder der Geldtyrann Nieder! Nieder! Der Student will an die Brüstung eilen und eine Ansprache halten. In diesem Augenblick aber reißt ihn Methusalem mir aller Gewalt zurück, stellt sich selbst ans Fenster und beginnt zu reden. METHUSALEM. Meine Kameraden! VOLKSSTIMMEN.

METHUSALEM.

HU! HU!

SchweinehundI Tyrann!

S e h ich aus w i e ein T y r a n n ?

VOLKSSTIMME. Nee, wenn man deine Alte sieht, nicht mehr. METHUSALEM. Ich weiß euer Leid! Es ist mein Leid! STIMMEN. Kein Beileid! METHUSALEM. Ich bin ärmer als ihr alle zusammen. STIMME. Verdammtes Rechenexempel. METHUSALEM. Wißt ihr, was ein Schuhgeschäft bedeutet? STIMME. Die Arbeiter mit dem Schuh kaputtreten. METHUSALEM. Ich habe ganz klein angefangen, Ich sammelte für meinen Vater Zigarrenstumpen vor den Pariser Cafés, In Chicago hab ich Petrolfässer über die Docks gerollt, Mir wurde die Haut gegerbt, bevor ich die Boxealfs gerbte, Und Liebknecht, hat einer von euch ihn so gekannt wie ich ? Wir wohnten ihm gegenüber und sahen ihn jeden Tag über die Straße gehen. Demnächst gebe ich seine Briefe aus der Sommerfrische heraus. Auf der Friedrichstraße schenkte er jeder Kokotte fünf Mark, Daß sie sich in seinem Namen einmal einen Mann ersparte! STIMME. Na, deine Frauen kosten nur Zwei fünfzig!

48

Methusalem

METHUSALEM fest.

Liebknecht trug immer die Schuhmarke Toreador, Kameraden, eure eigene, unsere Siegesmarke I Nun wollen wir die neue Schuhmarke »Liebknecht« lancieren, Mit Glacispitze aus echter Pappe! Wir werden Geschäfte machen und reich werden, Kommt in die Fabrik zurückI Streikt nicht weiter! Eure Arbeitsstühle sollen mit rotem Samt gepolstert werden, Und eure Maschinen mit rotem Lack bestrichen . . .

Quatsch Nur keine Gefühle Blech Scheiße An die Laterne Auf den Bürger Brot her!

STIMMEN.

Na, was wollt ihr denn sonst von mir? Wollt ihr in meiner Wohnung schlafen ? Spaziert herein! Wollt ihr einen alten Kognak? Oder diese Krawatte ? Er löst seinen Selbstbinder. Wer will meine Pantoffeln aus echtem Kamelhaar? Er %iebt sie aus. Hier. Zeigt an den Wänden herum. Dies ist ein echter Corot, dies ein Kokoschkai Dieses Sofa aus frühem Empire. Dieses Zahnputzglas aus Bergkristall. Echter Rübenzucker ruht in dieser Porzellanschale . . .

METHUSALEM.

Während er triumphierend spricht, macht sieb ein immer drohenderes Murmeln hörbar. Die Menge drängt sich finster herein, sprengt das Fenster, singt die Internationale. Aber ihnen voran der Student, den Revolver vor sich haltend, Methusalem fällt massiv Boden. Tot. Die Menge staut sich. Hält. Flutet zurück.

schießt.

Irgend jemand hat ein Geldstück in den Wit^ Automat in der Ecke gesteckt. Dieser klappert mit kleinen Schritten vor, stellt sieb vor den Kadaver und remitiert. Mikosch will ausreiten! »Janosch!« rief Mikosch eines Morgens seinem Diener zu. »Will ich ausreiten — sollst du nachsehen, ob is Barometer gefallen.« Janosch geht und kommt schnell zurück: »Is sich nit gefallen, gnädiger Herr, hängt Barometer noch fest am Nagel.«

AUTOMAT.

9- Szene

49

Während der Automat spricht, haben sich alle Anwesenden verlaufen. Die Leiche Methusalems liegt allein im Vordergrund der Bühne. Man hört nach diesem Witz ein unheimliches fernes Lachen, wie Methusalem immer zu lachen pflegte. Janosch hat einen Spiegel zerbrochen und wird von seinem Herrn zur Rede gestellt. »Ich hob es nicht getan«, beteuert Janosch. »Bassama teremtete, ich habe einen Zeugen, der es gesehen hat!« sagt Mikosch, worauf Janosch erwiderte: »Und ich habe dreißig Zeugen, die es nicht gesehen haben!«

AUTOMAT.

Bevor dieser Witz Zu Ende ist, erscheint F E L I X wie üblich in seinem Lift, nimmt schon Notizbuch und Füllfeder zur Hand und spricht. Allo, allo. Bestellung für Bukarest. 75 Paare Toreador. 3000 Paar neue Liebknecht-Marke! Da keine Antwort erfolgt, erblickt er erst den Kadaver zu seinen Füßen. Allo, allo, Papa! Herrliches Geschäft. So steh doch auf!

FELIX.

kommt mit einer dampfenden Schüssel. Hier ist der Gulasch, der gute Gulasch. Nicht kalt werden lassen. Schreiend. Herrgott, ihr müßt immer alles kalt werden lassen. Da vergeht einem alle Lust.

AMALIE

FELIX

der sich gebeugt bat, feierlich. Ich glaube, wir erben!

beugt sich ebenfalls. Aber so hör doch, Manne. Willst du mich wieder ärgern? Der Gulasch! Sie weint. Du kannst doch nicht in diesem Augenblick sterben I Was werden die Darmkatas dazu sagen. Wir sind doch morgen eingeladen.

AMALIE

Ich muß mir eine schwarze Krawatte kaufen.

FELIX. AMALIE. FELIX.

Hast du schon geweint?

Allo, allo, wenn nur der Notar zu Hause ist.

Und welcher Klasse das Begräbnis? Was meint du? Dritter ? Daß du mir da keine unnützen Ausgaben machst, hörst du? Kinder sind immer Verschwender . . .

AMALIE.

Felix ab. Amalie geht und schreit ihm noch draußen nach. Vorhang.

4 Komeda i XII

Methusalem

50

X Bank in einem öffentlichen Park. D E R STUDENT und I D A mit einem Kind auf dem Arm. Sehr ärmlich. Ausgestoßen. IDA. Da hat's mir wieder auf den Rock gepißt. STUDENT.

Hast du die Frankfurter Würstchen gekauft ?

IDA. Der Herr im Büro sagte, ich hätte so bukolische Hüften! STUDENT.

Hat er dir einen Vorschuß darauf ge2ahlt ?

IDA. Ich möchte nach Japan fahren. STUDENT.

Schon wieder mein Kragenknopf abgebrochen. Das Kind brüllt.

IDA. Unser Fürchtegott muß Versicherungsagent werden. Er wird einen Scheitel in der Mitte und eine schottische Krawatte tragen, Dann kommt er gut durch die Welt, Und kann wie alle Untergrundbahn fahren. Vielleicht wird er Direktor einer Konservenfabrik, Wer kann es wissen? STUDENT.

O

Gott, ist das Leben langweilig!

IDA. Wann ist die Revolution zu Ende ? STUDENT.

Wenn die andern keine Villa mehr haben.

IDA. Und wenn wir eine haben? STUDENT.

Beginnt die neue.

IDA. Warum zittern selbst die Sterne zur Nacht? STUDENT.

Man vergißt immer seinen Gummimantel.

IDA. Wenn nur der Fürchtegott nicht immer pissen wollte! STUDENT.

Ich muß das Abendblatt kaufen. Steht müde auf.

kommt aus dem Hintergrund langsam an ihnen vorbei. Na, wird es regnen, Kinder? Desto besser. Wir lancieren eben den neuen Gummiabsatz »Einstein«. Schlager der Herbstsaison. Sauwetter, gottseidank. Aber ich muß, ich muß jetzt Gulasch essen . . . Vorhang.

METHUSALEM

MATERIALIEN ZUM VERSTÄNDNIS DES TEXTES Editionsbericht Das vorliegende Werk ist bisher in drei deutschen Ausgaben erschienen: 1. Iwan Göll: Methusalem oder Der ewige Bärger. Ein satirisches Drama (mit drei Figurinen von G E O R G E G R O S Z ) , Gustav Kiepenheuer Verlag, Potsdam 1922. 76 Seiten. 2. Abdruck in: Schrei und Bekenntnis. Expressionistisches Theater, herausgegeben und eingeleitet von KARL OTTEN, Hermann Luchterhand Verlag, Darmstadt, Berlin-Spandau, Neuwied am Rhein 1959. S. 426—465. 3. Yvan Göll: Methusalem oder Der ewige Bürger. Ein satirisches Drama, Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb, Berlin-Dahlem 1961. III + 59 + III Seiten. Die beiden späteren Ausgaben unterscheiden sich vom Erstdruck lediglich durch geringfügige, z. T. orthographische Abweichungen 1 ; im Bühnenmanuskript kommt außerdem ein Anhang (s. u.) hinzu. Unserer Edition liegt die Erstausgabe zugrunde. Eine französische Version des Stückes erschien 1923 in dem Band »Le Nouvel Orphée« (Paris, Editions de la Sirène) und wurde vor kurzem, zusammen mit Gölls beiden »Überdramen«, neu aufgelegt: 4. Yvan Göll: Théâtre. Mathusalem, Les Immortels, L'Arche, Paris 1963.153 Seiten (S. 7—96 : Mathusalem ou L'éternel bourgeois. Drame satirique). Es handelt sich nicht etwa um eine Übersetzung, sondern um eine sehr freie Bearbeitung und Übertragung des deutschen Textes. Der Dichter hat sein Stück »völlig auf französisches Milieu und Spießertum umgestellt« ( C L A I R E G Ö L L ) . Änderungen — z. T. recht beträchtlicher Art — begegnen nicht nur in den Dialogen und im 1 Anzumerken ist allenfalls ein Versehen sowie eine Lücke (VIII.Szene: Luchterhand-Ausgabe S. 456, Bühnenmanuskript S. 45). Die Replik des Felix: »Sie müssen Selbstmord üben?« lautet richtig: »Sie müssen Selbstmord üben!« Daran schließt sich die (fehlende) Frage des Studenten: »Sonst?« — Wie bereits hieraus ersichtlich, folgt das Bühnenmanuskript nicht dem Erstdruck, sondern dem Abdruck bei Otten. 4*

Materialien

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Aufbau mancher Szenen, sondern auch in der Namengebung, ja selbst im Vorwort. Eine Szene ist ganz neu (s. u.). Gölls französische Fassung zielt insgesamt auf stärkere Bühnenwirksamkeit und Geschlossenheit, dämpft aber mitunter (vgl. z. B. die Eingangsszene) das spezifisch Groteske des ursprünglichen Textes. Auch die nachfolgende »Spiegelszene«2 wechselt den Ton des Stückes. Sie transponiert ihn freilich nicht ins Realistische, manchmal fast schon die französische Salonkomödie Streifende, sondern zurück in die Pathetik des deutschen Expressionismus. Eine Anregung durch WERFELS Drama »Spiegelmensch« (1920) ist nicht ausgeschlossen3. —• Der eingefügte Text umfaßt rund drei Seiten und steht in der ersten Szene, nach Amaliens Ausruf: Der Gulasch,

der Gulasch brennt an! Sie läuft hinaus, heißt es in der dazugehörigen Bühnenanweisung. An dieser Stelle setzt die Spiegelszene ein (»Théâtre«, S. 19fr.):

Dès que sa femme est sortie, Mathusalem s'assoupit et ronfle. Son rêve se matérialise sur la scène. Les objets de l'appartement bougent et prennent vie. Du grand miroir au mur sort un homme assez êros> t°ut habillé de blanc et ressemblant à un Mathusalem spiritualisé. L E MIROIR.

Je suis toi!

somnolent. Mon Moi me suffit.

MATHUSALEM,

L E MIROIR.

Connais-toi I

Cela me semble superflu dans le meilleur de ces mondes, Qui est le monde des affaires. J e n'ai qu'à bien connaître mon client, Il sera toujours l'Imbécile, A condition que je ne fasse pas de philosophie, Résultat toujours d'une mauvaise digestion. Révèle-toi à ceux qui ont une âme en guise de porte-monnaie Et, quand ils ont faim, s'adressent à un destin.

MATHUSALEM.

Il rit. L E MIROIR.

Je veux te sauver!

MATHUSALEM. 2

Oui, sauve-toi !

Eine (gekürzte) Übertragung aus der Feder Ciaire Gölls bringt der Anhang zum Bühnenmanuskript. 3 Das Vorwort zur französischen Fassung trägt ebenfalls die Jahreszahl 1920.

Editionsbericht LE MIROIR.

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Je suis ta jeunesse et je suis ton passé.

Fils de Freud, agent de sanatoriums, Vas-tu me rendre hypocondre? Tu es mon père aussi ? et puis ma mère ? et mon arrière petit-fils ? Va-t'en, idiote conscience, Je vis, et je m'en porte bien. Je vais moi-même te raconter mon passé: A onze ans, garçon de courses, vendeur de journaux dans les gares, Ensuite courtier pour les montres Zenith, fabrication suisse, trois ans de garantie, Caissier au Comptoir d'Escompte où je détournai un chèque de dix mille piastres, Chef de rayon aux Galeries Lafayette, calotte, redingote et cravate blanche comme un rabbin, Boursier, vendeur à la baisse de pétroles mexicains pour le ministre des finances, Enfin lancé dans la chaussure j'aveuglai Paris de mes affiches lumineuses, J'écrasai le passant de mes talons de caoutchouc et de mes soldes d'Automne poétique, Aujourd'hui Mathusalem, Roi du Box-Calf, Le plus authentique descendant des Bourgeois, Vingt-quatre usines entre Pantin et Montrouge, Cent cinquante-six succursales en Afrique et dans les Iles, Trente dépôts en Hindoustan, Je me permets, mon cher, De manger du rosbif et de ronfler un peu.

MATHUSALEM.

L E MIROIR.

Canaille 1 Escroc I Voleur I Profiteur 1

Comment, tu offenses un milliardaire? Tu t'attaques à Sa Majesté du Box-Calf?

MATHUSALEM.

Il se lève, rouge de colère, et veut frapper son interlocuteur avec sa. canne, mais le miroir se brise avec m grand fracas. Le bruit a réveillé le perroquet perché dans un coin, qui s'envole et vient se poser sur l'épaule de Mathusalem. L E PERROQUET.

Cocu Cucu Cocu . . .

Que viens-tu me raconter, mauvais oiseau ? Moi, cocu? Je suis tranquille. Irma m'est fidèle. Je lui ai acheté le plus bel atelier de modes de Paris, Rue Royale, et son chauffeur est mon chauffeur I

MATHUSALEM.

Materialien

54

D'ailleurs, je permets à Irma de danser après minuit avec qui elle veut! L à , je ne perds rien, car je ronfle, C'est l'heure où elle prend les meilleures commandes de chapeaux. LE PERROQUET. Chapeau! Sa peau! Et puis, j'ai bien le droit d'avoir une maîtresse ! Elle est cent fois plus gentille que la petite Boudin, Tu sais, la femme du contrôleur, qui me rase avec son cœur.

MATHUSALEM.

L E PERROQUET.

Quel cœur!

Le Perroquet s'envole, car Mathusalem veut le frapper avec sa canne. Mathusalem retombe dans son fauteuil, bâille et nasille sur un air connu: »Mais où est donc le rosbif« Unmittelbar an das Intermezzo mit dem Papagei (das, obwohl ebenfalls neu, von C L A I R E G Ö L L nicht übersetzt wurde) schließt sich der »Auftritt« des Witzautomaten, mit dem in der deutschen Fassung die Szene endet; erst dann ziehen die drei Filmprojektionen vorüber. Zur

Entstehungsgeschichte

Die autobiographische Notiz, die der Dichter des Methusalem für die berühmte Anthologie »Menschheitsdämmerung« verfaßte, beginnt mit den Worten: »Iwan Göll hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet.« Aber nicht nur Herkunft und Wesen dieses Dichters, auch sein Leben und Werk waren übernational. Schon die Zeit, die der Konzeption und Ausarbeitung des Methusalem vorausging, läßt dies sehr deutlich erkennen. Iwan Göll (1891—1950) studierte in Straßburg und ging bei Kriegsausbruch ins Schweizer Exil; in Zürich lebte er im Kreise von S T E F A N Z W E I G , L U D W I G R U B I N E R und H A N S A R P ; er befreundete sich mit J A M E S 4 J O Y C E und veranlaßte später, wie C L A I R E G Ö L L berichtet , die Veröffentlichung des »Ulysses« in deutscher Sprache. Auch mit V I K I N G E G G E L I N G , einem Pionier der experimentellen Filmkunst, kam Göll damals in Berührung; gemeinsam erörterten die beiden die Grundlagen der »Symphonie diagonale«, des ersten abstrakten Films. 4 Menschheitsdämmerung, hg. von K. Pinthus, Neuausgabe Hamburg 1959» S. 341.

Zur Entstehungsgeschichte

55

1919 erfolgte die Übersiedlung nach Paris. Im selben Jahr veröffentliche Göll einen »Brief an den verstorbenen Dichter Apollinaire«, in dem er bekennt: »Du gabst, Guillaume, der durch alle Jahrhunderte der Dichtung — Horaz, Hans Sachs, Shakespeare, Whitman, Tagore — bewiesenen Tatsache, daß kleinstem Tageserlebnis tiefste Melodie entrauscht, theoretischen Sinn und zugleich den Taufnamen: Überrealismus (Surréalisme), was, die Galerie merke sich das, mit dem realistischen Naturalismus nichts gemeinsam hat5.« Besonderes Lob erfährt in diesem Zusammenhang A P O L L I N A I R E S »einziges« Drama »Les Mamelles de Tirésias«, von dem es heißt: »kein Scherz, nur ins Grotesk-Megaphone gesteigerte Aufrufe, bitterster Ernst, blutende Wahrheit, aber mit den neuen Mitteln des Dichters verwirklicht: Uberrealismus l6« Aus diesen Äußerungen geht hervor, daß Göll an der Verbreitung des Begriffs »Uberrealismus«, den er in Anlehnung an A P O L L I N A I R E prägte, maßgeblichen Anteil hat. Darüber hinaus versuchte er auch schon früh, ihn zu definieren. Am frühesten wohl in seinem aufschlußreichen MALLARMÉ-Essay, einem begeisterten Bekenntnis zur modernen französischen Dichtung, namentlich zu A P O L L I N A I R E . »Man wird einmal die Geschichte der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts von der Dichtung 'Zone', Apollinaires Meisterstück, datieren«, heißt es dort7. M A X J A C O B , B L A I S E C E N D R A R S und V I C E N T E H U I D O B R O werden ferner als Dichter genannt, die die Wirklichkeit überschreiten, »um sie besser zu sehen« — worin sie A P O L L I N A I R E folgen, dessen Führerschaft Göll ausdrücklich hervorhebt. Zustimmend wird auch die poetologische Maxime dieser Gruppe zitiert: »L'art commence où finit l'imitation8.« Der »Uberrealismus« des Dichters der »Zone« wird übrigens schon hier unter einem Aspekt betrachtet, der auf das Vorwort zu Methusalem vorausdeutet: nämlich unter dem des Dramatischen. »Der Mensch im Drama«, schreibt Göll, »äußert nicht nur das, was er will, was er im Umgang sagt, sondern alles, was ihm selbst nicht bewußt wird. Der Dichter ist dazu da, zu künden, was nicht im Wirklichen liegt, das Uberreale®.« E r befinde sich damit im Gegensatz zu den herrschenden Kunstformen, ja seine Aufgabe sei es, die »halbe, die illusionistische, anekdotische und nur dokumentierende Literatur, die der physiologischen und sozialen Romane und der abendfüllenden Dramen und Sittenkomödien zu stürzen [. . .] 10 .« 5

Die weißen Blätter, Jg. 6 (1919), Heft 2, S. 79. • A. a. O., S. 81. 7 Iwan Göll: Die drei guten Geister Frankreichs [Tribüne der Kunst und Zeit Bd. V], Berlin 1919, S. 73. 8 A. a. O., S. 74. 10 ' A. a. O., S. 75 f. A. a. O., S. 76.

56

Materialien

Die mehrfach geäußerte Behauptung, Göll gehöre zu den Begründern des Surrealismus, gilt allerdings — sofern von der durch den Namen B R E T O N gekennzeichneten Bewegung die Rede ist — nur sehr bedingt. Mit seiner Auffassung von neuer, »überrealer« Dichtung geriet er sogar — um dies hier gleich vorwegzunehmen — in schroffe Opposition zu den theoretischen Anschauungen der BRETONSchen Schule. Die Differenz kam 1924 klar zum Ausdruck; in diesem Jahr erschienen in Paris beide surrealistische Manifeste, das berühmte von B R E T O N und das zu Unrecht so wenig beachtete von Göll. Die polemische Position des Methusalem-Katars tritt unverhüllt hervor, etwa in der Prophezeiung, deren aktuelle Bezüge deutlich genug sind: »Und diese Fälschung des Surrealismus, die einige Ex-Dadas erfunden haben, um den Bürger zu bluffen, wird wieder von der Bildfläche verschwinden. Sie verkündet die 'Allmacht des Traums' und stempelt Freud zur neuen Muse. Als ob sich die Lehre Freuds in die Welt der Poesie übertragen ließet Heißt das nicht Psychiatrie und Kunst verwechseln 11 ?« Im übrigen fixiert Gölls Manifest die schon früher gewonnenen Überzeugungen, ohne den poetologischen Spielraum einzuengen: die Realität als Basis jeder Kunst wird betont, nicht minder aber die Verpflichtung des Künstlers, die Wirklichkeit auf eine »höhere künstlerische Ebene« zu erheben. Von allgemeiner diagnostischer Geltung ist schließlich der Hinweis auf die Bedeutung des Films und die Möglichkeiten einer neuen Bildsprache. »Wir sind im Jahrhundert des Films. Mehr und mehr machen wir uns durch visuelle Zeichen verständlich. Schnelligkeit bestimmt heute die Qualität12.« Damit wäre in knappen Zügen die geistige Vorgeschichte des Methusalem umrissen; denn sowohl A P O L L I N A I R E S »surréalisme« als auch die frühe Beschäftigung mit Problemen des Films haben auf Gölls Schaffen, insbesondere auf die Konzeption unseres Stückes, einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Uber die Entstehungsgeschichte im engeren Sinn läßt sich freilich nicht viel sagen. Sicher ist nur, daß die Idee des Methusalem den Dichter bereits »lange vor der ersten Niederschrift«, die 1918 in Ascona erfolgte 13 , beschäftigt 11 Gölls französisch geschriebenes Manifest erschien in der ersten und einzigen Nummer seiner Zeitschrift »Surréalisme«, Oktober 1924. Die deutsche Übersetzung von Ciaire Göll in : Yvan Göll, Dichtungen, Darmstadt, Berlin-Spandau, Neuwied am Rhein, i960; danach hier zitiert, S. 187. —• Es ist nur konsequent, daß M. Nadeau (Histoire du surréalisme, Paris 1964) von Göll keine Notiz nimmt. 12 Göll: Dichtungen, a. a. O., S. 187. 13 Laut freundlicher Mitteilung von Frau Ciaire Göll, die auch darauf hinweist, daß Hugo Stinnes das konkret"; Vorbild für die Gestalt des Methusalem bot.

Gattungsgeschichtliche Einordnung

57

hat. Gedruckt wurde Gölls satirische Groteske vom ewigen Bürger 1922. Daß der Dichter mit der Wahl seines Themas keineswegs allein stand, beweist eine ganze Reihe bedeutender Werke der Weltliteratur, die damals erschienen. Sowohl die beiden großen Romane von J A M E S J O Y C E und S I N C L A I R L E W I S , »Ulysses« und »Babbitt«, als auch »Die letzten Tage der Menschheit« von K A R L K R A U S tragen die Jahreszahl 1922; und im selben Jahr fand auch die Uraufführung von B R E C H T S »Trommeln in der Nacht« statt. Was die genannten Werke mit dem Methusalem verbindet, ist jedoch nicht nur der Gegenstand — eben Wesen und Welt des Bürgers — sondern zugleich die satirische Behandlung. In einzelnen Fällen kommen Gemeinsamkeiten der Form und der Sprache hinzu.

Gattungsgeschichtliche

Einordnung

I. Gölls satirisches Drama, so neu und verblüffend es auf den ersten Blick anmutet, wurzelt in einer jahrhundertealten Tradition, die neben dem Aufstieg des klassisch-klassizistischen Dramentyps unbekümmert ihr proteisches Eigenleben führt. Während dieser die Dramaturgie der geschlossenen Form repräsentiert, läßt sich jene andere Überlieferung in ihrer bunten Vielfalt am besten unter dem Oberbegriff der offenen Form zusammenfassen 14 . A m Ursprung der neuzeitlichen Entwicklung steht die Commedia dell'arte, die ihrerseits wieder auf den antiken Mimus und dessen Entsprechungen im Mittelalter zurückgeht. Weitere Stationen •— was den deutschen Bereich betrifft — markieren Stücke des Sturm und Drang, am augenfälligsten die Farcen des jungen GOETHE, sowie im 19. Jahrhundert die Komödien G R A B B E S und B Ü C H N E R S . Dazwischen entfaltet die Romantik das Feuerwerk ihres Wortwitzes und ihrer Lust am artistischen Spiel. Wie sehr sich im Lauf dieser Entwicklung eine bestimmte, oft geradezu formelhafte Topik ausprägt, bezeugt ein szenisches Mittel, dessen Erfindung in Deutschland für gewöhnlich L U D W I G T I E C K zugeschrieben wird, das aber bereits zweihundert Jahre vor T I E C K auftaucht und noch von Göll in guter alter Manier wieder aufgegriffen wird. E s handelt sich um das bewußte, die Illusion brechende Uberspielen der Rampe. Im Jahre 1596 agierten die Jesuiten in München einen »Gottfried von Bouillon«, der durch einen kurzen Streit zwischen »Zuschauern« M

Vgl. die grundlegende Untersuchung von Y . Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München i960.

58

Materialien

und Schauspielern um den angeblich fehlenden Prolog eröffnet wird; schließlich findet einer der »Zuschauer« den Prolog und wird aufgefordert, ihn auf der Bühne zu verlesen15. Entsprechend verfährt T I E C K ; die Wechselgespräche zwischen Bühne und Zuschauerraum, die im »Gestiefelten Kater« das ganze Stück durchziehen, sind ja bekannt. T I E C K S penetrantem Kritikaster Bötticher ist Gölls Herr im Publikum vergleichbar. So heißt es in der neunten Szene: Herr im Publikum. Hahahaha! (. . .) Student. Lachen Sie nicht, mein Herr. Das war ernst. Herr im Publikum. Da hört aber alles auf. Ich werde mich beschweren, mir meinen Platz zurückzahlen lassen! Der macht nicht mal Witze! Der gesamteuropäische Zusammenhang des offenen Dramas in jener besonderen Spielart, um die es hier geht, äußert sich nicht zuletzt darin, daß A L F R E D J A R R Y , der Verfasser der für die neuere Entwicklung so wichtigen »Ubu«-Farcen, zugleich auch G R A B B E S »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« übersetzt hat. J A R R Y und A P O L L I N A I R E , dessen groteskes Stück »Les Mamelles de Tir6sias« wenige Jahre vor dem Methusalem herauskam, gelten allgemein als die unmittelbaren Anreger Gölls. Einen dritten französischen Vorläufer aus der Zeit um die Jahrhundertwende nennt der junge B R E C H T , wenn er 1920 in einer seiner Augsburger Theaterkritiken Gölls »Überdramen« gegen das »dramatische Papier« der Expressionisten ausspielt: »Wesentlicher für das Theater: Iwan Gölls Possen. Die Emanzipation der Regie. Spukhaft deutliche Einfälle. Zeitung, Bänkelsängerlyrik, Photographie: höchst lebendige Maschinerien, Plakat: 'Der expressionistische Courteline'18.« Aus der russischen Literatur wäre etwa T S C H E C H O W zu erwähnen, bei dem das sinnlose Aneinandervorbeireden, das von Göll und seinen Nachfolgern ins Absurde übersteigert wird, bereits voll ausgebildet ist. Der Beitrag der skandinavischen Literatur besteht vor allem in der von S T R I N D B E R G entwickelten lockeren Szenenreihung. Beide Formelemente bestimmen in hohem Maße auch W E D E K I N D S Auffassung vom Drama und kehren dann, verwandelt und z. T. verstärkt, im deutschen Expressionismus wieder. Worauf diese Tendenzen zielen, ist die dramatische Groteske, wie sie, extrem ausgestaltet, O S K A R K O K O S C H K A bereits geraume Zeit vor dem Schwellenjahr 1910 verwirklicht hat. Eng damit verknüpft ent16 Vgl. J.Müller SJ: Das Jesuitendrama in den Ländern deutscher Zunge vom Anfang (1555) bis zum Hochbarock (1665), 2 Bde., Augsburg 1950, Bd. I, S. 25 t. 16 B. Brecht: Schriften zum Theater, Bd. I, Frankfurt a. M. 1963, S. 49.

Gattungsgeschichtliche Einordnung

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wickelt sich im expressionistischen Drama auch die Satire, so namentlich bei S T E R N H E I M und, ohne jede Rücksicht auf Spielbarkeit, bei B E N N . Ergänzt und in gewissem Sinne abgerundet wird dieser gesamte Prozeß durch die Aufnahme zweier nicht streng literarischer Erscheinungen: des Kinos und der volkstümlichen und kabarettistischen Groteske. Schon 1914 konnte K U R T P I N T H U S ein expressionistisches »Kinobuch« veröffentlichen, das Kinostücke von H A S E N CLEVER, d e r L A S K E R - S c H Ü L E R , v o n EHRENSTEIN, RUBINER, Z E C H u.a.

enthält. Höheren literarischen Rang als diese ersten Versuche erreicht Iwan Gölls »Chaplinade« von 1920, die sich mit Fug und Recht eine »Filmdichtung« nennt. Gleichzeitig — im ersten seiner »Uberdramen« — gebraucht Göll filmische Mittel auch schon zu rein theatralischen Zwecken. Denselben Weg schlägt dann nicht nur, wie allgemein bekannt, der Regisseur P I S C A T O R ein, sondern ebenso der Dramatiker E R N S T T O L L E R in seiner noch immer nicht genügend gewürdigten Komödie »Der entfesselte Wotan«. B E R T O L T B R E C H T erkennt die beiden für die damalige Zeit so faszinierenden Phänomene des Filmischen und des Grotesken sehr genau in ihrer wechselseitigen Verflochtenheit; er sieht sie am eindrucksvollsten verkörpert in dem bayrischen Volkskomiker V A L E N T I N und in C H A R L I E C H A P L I N . » E S ist nicht einzusehen«, schreibt er im Erscheinungsjahr des Methusalem, »inwiefern Karl Valentin dem großen Charlie, mit dem er mehr als den fast völligen Verzicht auf Mimik und billige Psychologismen gemein hat, nicht gleichgestellt werden sollte, es sei denn, man legte allzuviel Gewicht darauf, daß er Deutscher ist 17 .« Dieses Maskenhafte und Antipsychologische, in dem B R E C H T das Gemeinsame in der Kunst C H A P L I N S und V A L E N T I N S erblickt, ist nicht nur für Drama und Dramaturgie Iwan Gölls bezeichnend, sondern kennzeichnet weite Bereiche der modernen Dramatik überhaupt. II. Die Nähe zum Expressionismus tritt auch im Vorwort zu den beiden »Uberdramen« zutage, Gölls frühestem Beitrag von Gewicht, welcher der Poetik des neuen Dramas galt. Als Merkmal des traditionellen Dramas nennt der Dichter darin die Bindung an Psychologie, Problematik, Vernunft; alles drehe sich um einen Menschen, nicht um den Menschen18. Der Verlust an Intensität zeige sich 17

A. a. O., S. 161. Vgl. dazu den programmatischen Aufsatz von Paul Kornfeld »Der beseelte und der psychologische Mensch. Kunst, Theater und Anderes«, worin die Ablösung der psychologischen Charakteranalyse durch eine »seelenhafte« Vision vom Menschen zur grundlegenden Voraussetzung des neuen, expressionistischen Dramas erklärt wird. Übereinstimmung mit der Formulierung Gölls zeigt vor allem folgende Stelle: »Wenn der 18

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exemplarisch in den mißlungenen Stücken des 19. Jahrhunderts, die sich, wie es heißt, darin erschöpfen, »interessant« oder »einfach beschreibend«, »nachahmend« zu sein. Reiner Realismus, stellt Göll lakonisch fest, sei die größte Entgleisung jeglicher Literatur gewesen 19 . Einen schöpferischen Weg für das Drama biete dagegen die Loslösung von den Konventionen literarischer Wirklichkeitsnachahmung zugunsten der frei schaffenden Phantasie. Die Bühne müsse sich über das »reale« Leben hinaus ins »Überreale« erheben und sich der Dinge hinter den Dingen bemächtigen. »Der Dichter muß wieder wissen, daß es noch ganz andere Welten gibt als die der fünf Sinne: Uberwelt. Er muß sich mit ihr auseinandersetzen. Das wird keineswegs ein Rückfall werden ins Mystische oder ins Romantische oder ins Clowneske des Varietés, wiewohl ein Gemeinsames darin zu finden ist, das Übersinnliche20.« Bemerkenswert ist die Tradition, in der Göll seinen Überrealismus, d. h. sein neues künstlerisches Stilisierungsprinzip sieht. Es ist, formelhaft ausgedrückt, die Tradition der Bühnenkunst, die ihre eigene, dem Theater gemäße Kunstwirklichkeit erschafft und die Gesetze der empirischen Realität der szenischen Gestaltung unterordnet; — die Kothurne des antiken Dramas werden genannt, Mensch Mittelpunkt des Dramas ist, so bleibt es immer noch dem Künstler überlassen, ob er diesen Mittelpunkt gestalten und festhalten will als Seele des Menschen oder als einen Charakter eines Menschen. Die Dramatiker der vorigen Generation — und ihre Wirkung spielt auch noch in die heutige Generation in allen Künsten herüber — wählten das letztere, und es bereitete ihnen Befriedigung, auf den Irrwegen eines Charakters spazieren zu gehen und den auf den Kompliziertheiten seines Labyrinths herumirrenden Menschen mit einem Aphorismon einzufangen. Der Mensch ward zum Mechanismus, dessen Reaktionen auf bestimmte Ursachen hin zu prüfen und zu beobachten, sehr unterhaltsam war. Das Publikum war aufs Höchste befriedigt, denn es fand sich in seiner Stellung zu sich und zum Menschen bestärkt: daß er eine Summe von Eigenschaften und Fähigkeiten sei, von einer psychologischen, der materiellen ähnlichen, Kausalität beherrscht und gelenkt, deren Gesetze erforscht — das Wesen des Menschen erschöpft zu haben, bedeutet. Angesichts [. . . ] dieser, den Menschen entgeistigenden, Irreführung ist man versucht, von verbrecherischer Kunst zu sprechen. Denn der Mensch ist kein Mechanismus, der bewußte Subjektivismus ist verderblich und die psychologische Kausalität ist so unwichtig, wie die materielle.« Das junge Deutschland, Monatsschrift für Literatur und Theater. Berlin, Jg. I, 1918, Nr. 1, S. iof., gekürzter Abdruck des Aufsatzes bei Paul Pörtner, Literaturrevolution 1910—1925, Bd. I: Zur Ästhetik und Poetik, Darmstadt, Berlin-Spandau, Neuwied am Rhein i960. 19 Iwan Göll: Die Unsterblichen. Zwei Possen [Der dramatische Wille, 5. Band], Potsdam 1920, S. 6. 20 A. a. O., S. 5 f.

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gleicherweise S H A K E S P E A R E S Phantasiegebilde. Nicht weniger bezeichnend ist das Symbol, in dem sich das Stilisierungsprinzip und die künstlerische Autonomie der Bühne offenbart: nämlich die Maske, »das erste Sinnbild des Theaters«21. Ein uraltes Mittel, »starr, einmalig und eindringlich«, ist sie nach Auffassung des Autors zugleich dazu angetan, dem modernen Drama wieder die verstörende Erschütterung wahrer Kunst zu verschaffen. Diese Wirkung — den Alltagsmenschen zu erschrecken »wie die Maske das Kind, wie Euripides die Athener, die nur taumelnd herausfanden«22 — sei am einfachsten durch die Groteske zu erreichen, durch eine Steigerung aller Mittel, welche das Publikum aufrütteln und aus seiner geistigen Lethargie reißen. »Die Monotonie und die Dummheit der Menschen sind so enorm«, folgert der Dichter, »daß man ihnen nur mit Enormitäten beikommen kann. Das neue Drama sei enorm23.« Um seine drastische, gleichsam auf den psychischen Schock zielende Wirkungsästhetik realisieren zu können, fordert Göll ein entfesseltes Theater, dessen Aufgabe darin besteht, alle äußere Form zu zerschlagen und das Konventionelle der moralischen, gesellschaftlichen Normen bloßzustellen. Der Angriff auf das alte Drama fällt mit dem Anspruch auf Sozialkritik zusammen. Man fühlt sich versucht, Gölls Thesen in die Nähe der — späteren — Dramaturgie B R E C H T S ZU rücken, vor allem im Hinblick auf einige auffallende formale Analogien. Allein, es fällt nicht schwer, die entscheidenden Gegensätze in der Funktion der künstlerischen Mittel zu erkennen. Während Brechts Theorie dem Zuschauer eine aktive, kritische Rolle zuweist, Mündigkeit und gewissermaßen Partnerschaft voraussetzend, ist es dem Verfechter des grotesken Überdramas darum zu tun, beim Publikum Bestürzung hervorzurufen. Das Staunen oder Befremden, das die Kunst bewirkt, ist nicht eine Durchgangsstufe des Verfremdungseffekts, wie bei B R E C H T , sondern Wirkform schlechthin; nicht Mündigkeit und Urteilskraft, sondern Kindlichkeit ist daher für Göll die angemessene Voraussetzung für den Umgang mit Kunst. »Die Kunst soll den Menschen wieder zum Kind machen«, heißt es im selben Vorwort; oder in der Vorrede zu Methusalem: Der Dramatiker will euch Puppen geben, euch spielen lehren und dann die Sägespäne der kaputten Puppen wieder in den Wind schütten. Nichts macht den Gegensatz zu B R E C H T deutlicher als diese spielerische Abkehr von der Ratio zugunsten einer bewußt ästhetischen Naivität. 21 22 23

A. a. O., S. 6. A. a. O., S. 7. Ebd.

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Im Widerspruch zum Stilideal des expressionistischen Dramas, das sich in erster Linie auf eine rhetorisch bewegte Wort-Dramaturgie stützt, verlangt Coli für seine Grotesken ein extensives SpielTheater, das mit modernen technischen Mitteln die Wirkungen der »Maske« auszulösen vermag. »Da ist zum Beispiel das Grammophon, die Maske der Stimme, das elektrische Plakat, oder das Sprachrohr. Die Darsteller müssen undimensionierte Gesichter-Masken tragen, in denen der Charakter grob-äußerlich schon erkennbar ist: ein zu großes Ohr, weiße Augen, Stelzbeine. Diesen physiognomischen Übertreibungen, die wir selbst notabene nicht als Übertreibungen auffassen, entsprechen die inneren der Handlung: die Situation möge kopfstehen, und oft möge, damit sie eindringlicher sei, ein Ausspruch mit dem Gegenteil ausgedrückt werden. Genauso wird es wirken, wie wenn man lange und fest auf ein Schachbrett sieht und einem bald die schwarzen Felder weiß, die weißen Felder schwarz erscheinen: es überspringen einander die Begriffe, wo man an die Wahrheit grenzt24.« Reduktion (die Menschen und die Dinge »möglichst nackt« zeigen) und Übertreibung: diese beiden einander scheinbar widersprechenden Stilkategorien versucht Göll auf einen Nenner zu bringen und im Begriff des Überrealismus und der Alogik zu vereinigen. Den Überrealismus des modernen Satirikers bezeichnet er — im Vorwort zu Methusalem — als die stärkste Negierung des Realismus; die Wirklichkeit des Scheins werde entlarvt, zugunsten der Wahrheit des Seins. Einen genaueren Eindruck von dieser ästhetischen Konzeption — die, so definiert, der romantischen Ironie gar nicht so unähnlich ist — vermittelt jedoch erst jenes höchst aufschlußreiche Bild, das der Autor im Verlauf seiner Erwägungen über die Maske und deren Rolle prägt. Man müsse, sagt Göll, Menschen und Dinge »zur besseren Wirkung immer durch das Vergrößerungsglas« zeigen; denn die Bühne sei ja nichts anderes als ein Vergrößerungsglas26. Diese Metapher erfaßt in der Tat die adäquate Sicht der satirischen Groteske — und veranschaulicht zugleich eine Art Gegenposition zu der poetologischen Anschauung der europäischen Mimesis-Ästhetik, deren traditionsreiche Figur die Spiegel-Metapher ist. 24

Ebd. A. a. O., S. 6. — Zu den Vorstellungen »Vergrößerungsglas« und »Maske« vgl. auch Kurt Pinthus (Versuch eines zukünftigen Dramas, in: Pörtner, a. a. O., S. 543 fr.), wo ebenfalls von einer Veränderung der Optik die Rede ist, sowie Hugo Ball (Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1946, S. 12): »Das neue Theater wird wieder Masken und Stelzen benützen. Es will die Urbilder erwecken und Megaphone gebrauchen.« Beide Äußerungen gehen auf die Zeit vor 1914 zurück. 25

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Der eigentliche Grund für die Opposition zwischen »Vergrößerungsglas« und »Spiegel« sowie für die Entschlossenheit, ästhetische und gesellschaftliche Konventionen zu zerbrechen oder auf den Kopf zu stellen, liegt in Gölls allgemeiner Skepsis gegenüber der Gültigkeit des traditionellen Dramenbegriffs für die Gegenwart. »Es gibt kein Drama mehr«, verkündet der Verfasser des Methusalem im Erscheinungsjahr des Stückes26. Es gebe keine Schicksale und Konflikte mehr, keine allgemein verbindlichen Normen und Werte, die als Gerüst für dramatische Spannungen überindividueller Art dienen könnten. Die gegenwärtige Zeit sei »zu merkantilistisch«, der Mensch für das Drama »viel zu unmoralisch, zu weich, zu verantwortungslos, zu schnell zum Kompromiß bereit27«. Aus dieser Diagnose ergibt sich für Göll allerdings nicht der völlige Verzicht auf künstlerische Gestaltung; ästhetisch sinnvoll erscheint immer noch die satirische Attacke oder die Darstellung der Sinnlosigkeit. »Was bleibt übrig? Die Zeit lächerlich machen. Die salzige, harte, böse Ironie. Die Peitsche. Die Unerbittlichkeit. Das Seziermesser bis auf die Knochen. Die Hosen runtergerissen. Die Schande offen ausgelacht. Die gesunde Rache der Kinder, die mit Steinen nachwerfen. A bas le bourgeois! Zerfetzt ihm seinen Regenschirm! Das ist bei Gott nicht dramatisch. Aber man lacht sich selbst ein bissei tot, und der Tod ist der letzte Kitzel, der unsere Langeweile noch etwas bemeistern kann28.« Zweifellos hat dieser Ton mit der idealistischen Pathetik des Expressionismus — der Göll während des Krieges ja selber anhing2" — kaum mehr etwas zu schaffen. Die Ernüchterung und Abkehr vom Expressionismus dokumentierte sich schon im Aufsatz »Der Expressionismus stirbt« von 1921, einer vehementen zeitkritischen Glosse, worin das Menschlichkeitspathos als eine zwar aufrichtige, aber sentimentale und politisch folgenlose Haltung bezeichnet wird. »Der Mensch ist gut«: eine Phrase80. Angesichts der politischen Realität sei die 28 Wenn das Werk trotzdem im Untertitel ein »satirisches Drama« heißt, so will Göll damit, von allem anderen abgesehen, offensichtlich auch ausdrücken, daß es sich zugleich um eine Satire auf das herkömmliche Drama handelt. 27 Der Aufsatz »Es gibt kein Drama mehr« erschien in der Zeitschrift »Die neue Schaubühne«, Jg. IV, 1922, Nr. 1. — Zit. nach Pörtner, a. a. O. I, S. 391. (Text in den »Dichtungen« leicht gekürzt.) 28 A. a. O., S. 392. 29 Vgl. etwa seinen »Appell an die Kunst« in: Die Aktion, Jg. 1917, Sp. 599t. — Bei Pörtner, a. a. O., I, S. 144t. 30 Paul Pörtner, Literaturrevolution, Bd. II: Zur Begriffsbestimmung der Ismen, Darmstadt, Berlin-Spandau, Neuwied am Rhein 1961, S. 339. Der Aufsatz erschien in der modernistischen (Beiträge von Grosz, Kan-

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»Solidarität der Geistigen« und der »Aufmarsch der Wahrhaftigen« wirkungslos und utopisch. Das Ergebnis ? »Leider, und ohne Schuld der Expressionisten, die deutsche Republik 1920«. Das ist Gölls nüchternes Fazit. Der Kampf sei »zur Groteske geworden«, »Geist in dieser Schieberepoche Ulk« 3 1 . Diese Gedanken zur Bewußtseinslage der Zeit und zur Poetik eines nachexpressionistischen Dramas sind nicht ohne Nachfolge geblieben. Unverkennbar führt von ihnen ein Weg zu FRIEDRICH D Ü R R E N M A T T S Ansichten über das moderne Theater, zu der Auffassung, daß die zeitgenössische Welt und die »Wurstelei unseres Jahrhunderts« nur in der grotesken Komödie den ihr gemäßen Ausdruck finden. Gewiß, Gölls »A bas le bourgeois!« ist noch vom antibürgerlichen Affekt der expressionistischen Generation getragen, und seine satirische Vehemenz setzt sozial unmittelbar faßbare und angreifbare Ziele voraus. In der grotesken Struktur jedoch tritt das Gemeinsame greifbar zutage, das die Sicht des Autors nach 1918 mit der des Komödienschreibers nach dem zweiten Weltkrieg verbindet. Beide stellen das ernste Konfliktdrama, die Tragödie in Frage, für beide ist nur noch die Komödie — ohne konventionelle Schranken — sinnvoll oder möglich. Das Groteske entspringt der Illusionslosigkeit; bei Göll ist es eine Spiel-Art in einer Welt ohne Schicksale und Konflikte, für D Ü R R E N M A T T ein »sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen Welt« 32 .

Z u r A n a l y s e des S t ü c k e s Die Linien der Interpretation zeichnet Iwan Göll bereits mit seinem Doppeltitel vor. Wesentliche Komponenten scheinen darin vorweggenommen zu sein. Das gilt zunächst schon für die Zweiteiligkeit des Titels, worin man wohl eine parodistische Anspielung dinsky, Majakowski, Chlebnikow u. a. enthaltenden) Zagreber Zeitschrift »Zenit«, in der Göll 1921 mehrere Beiträge veröffentlichte; in einer Sonderreihe der Zeitschrift publizierte er, ebenfalls 1921, die erste Fassung seiner Dichtung »Paris brennt« sowie ein »Zenitisches Manifest«. — Während der »Appell an die Kunst« die Aufforderung enthält: »Und du, Dichter, schäme dich nicht, in die verlachte Tuba zu stoßen [.. .] Sing Hymnen, schrei Manifeste, mach Programme für den Himmel und die Erde«, heißt es vier Jahre später, in dem oben zitierten Aufsatz: »Die Waffe, die Tuba nämlich, fällt den Meidnerschen Europa-Propheten aus der Hand.« 31 A. a. O., S. 338. 32 F. Dürrenmatt, Theaterprobleme, Zürich 1955, S. 48.

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auf unterströmige Literatur, etwa das Trivialstück, erblicken darf; gestützt wird diese Annahme jedenfalls von Gölls — auch programmatisch ausgesprochener — Opposition gegenüber der gängigen Bühnenware der »abendfüllenden Dramen und Sittenkomödien«. Weist bereits die äußere Form des Titels auf persiflierende Absichten hin, so trifft das nicht minder auf seine einzelnen Glieder sowie deren »verfremdende« Nebeneinanderstellung zu. Allerdings wird der Name des biblischen Patriarchen, dessen alles Menschenmaß übersteigendes Alter ja sprichwörtlich ist, weniger um der etwas schmächtigen Komik willen bemüht. Auch nicht auf eine satirische Auslegung der Namensbedeutung (hebr. »Mann des Wurfgeschosses«) kommt es Göll an; worauf er vorerst abzielt, ist der Kontrast zwischen der mythischen Aura des Namens und der in einen sehr konkreten historischen Rahmen gestellten Figur. Diese Zeitbezogenheit äußert sich unter anderem in der Form einer handfesten aktuellen Satire. I. Die beiden Themen der satirischen Darstellung sind das private und das öffentliche Leben, wobei diese Bereiche nicht etwa streng getrennt erscheinen, sondern — dem spezifischen Blickwinkel der Ge//schen Satire gemäß — in vielfachen Brechungen ineinander übergehen. Die Raffung der Situationen und die nahezu simultane Verschränkung der szenischen Einfälle läßt den Plüschsalon der Familie Methusalem zum Schauplatz eines abwechslungsreich gestalteten Zeitpanoramas werden, gleichsam zu einem durch das Vergrößerungsglas gesehenen Schnittpunkt der kleinen und der großen Welt um 1920. Daß diese Lupe zugleich als parodistischer Zerrspiegel dient, ist mit den Erfordernissen des satirischen Stils ebenso verknüpft wie mit Gölls Vorstellung von den Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten der Bühnendichtung. Der Vielfalt der zeitkritischen Aspekte entspricht eine Reihe formaler Kunstgriffe, unter denen vor allem zwei Darbietungsweisen vorherrschen. Einmal ist es das Verfahren, die Dinge ohne Umschweife beim Namen zu nennen, das seine Wirkungen aus dem Aktualitätswert bezieht und so die Methode einer verkürzten und zeitgebunden pointierten Satire darstellt. Zum anderen macht Göll ausgiebig Gebrauch von mehrschichtigen, differenzierteren Mitteln, von »Verfremdungen« und Verschlüsselungen, wobei er literarisch vorgeprägte, ja ausgesprochen traditionsreiche Muster keineswegs verschmäht. Ein Beispiel dafür ist die Revolution der Tiere, der fraglos das Vorbild der alten Tiersatire zugrunde liegt33. Die künst33 Hinzuweisen wäre u. a. auf eine gewisse Verwandtschaft mit Bauernfelds »phantastischem Drama« »Die Republik der Thiere« (1848), einer satirischen Szenenfolge, der die politischen Ereignisse des Entstehungsjahres zugrunde liegen. Auch der österreichische Satiriker der März-

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liehen oder ausgestopften Tiere, worunter Göll offensichtlich auch die für den bürgerlichen Haushalt obligaten lebenden Vierfüßler zählt, lassen jedoch keinen Zweifel daran, daß ihre Leidenschaften und Interessen neuesten Datums sind. Sie ergreifen von der Bühne Besitz und verwandeln den Salon auf sehr menschliche Art in einen Debattierklub. Die Motive der Personifizierung sind leicht zu erkennen. Der Papagei gebärdet sich freisinnig und plappert von F R E U D und H Ä C K E L , während der Kuckuck aus der Schwar^tvalduhr, ein deutsch-nationaler Vogel, auf seine Verwandtschaft mit dem Reichsadler pocht34. Als Scharfmacher der Animalrevolution tritt der Bär auf, dem in seinen gegen den Erbfeind, den Menschen, gerichteten Tiraden der Hirsch sekundiert. Der Affe dagegen, der für die heiligen Animalrechte eintritt und zugleich für ein Paradies-Programm, darunter die Reorganisation der Landwirtschaft, plädiert, beruft sich auf den Geist und die Ideale. Zählt man noch das empfindsame Getue der Katze hinzu, die ästhetizistisch von einem Reich der Schönheit und von der Auferstehung der Gazelle schwärmt, so gibt es kaum einen Satz, der nicht auf diese oder jene Weise auf bestimmte Zeiterscheinungen, Ideologien oder herrschende Meinungen bezogen werden könnte. Der geläufige Verwahrungstopos, jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder aktuellen Ereignissen sei rein zufällig, kann hier geradezu in sein Gegenteil umgekehrt werden. Auch die Redeweise der Tiere ist konsequent gestaltet. Sie unterscheidet sich nicht im mindesten von der Art, wie sich die menschlichen Figuren äußern; zusammenhanglose, klischeehafte Formeln und abgedroschene, sinnentleerte Phrasen verdrängen jeden rationalen Zusammenhang. Für die Satire ergibt sich daraus die Möglichkeit, das Verfahren der plakathaften Montage an die Stelle von dramatisch-konflikthaft angelegten Situationen treten zu lassen. Mit anderen Worten: Die satirische Zeitdiagnose wird nicht etwa durch szenische Atmosphäre vermittelt, sie muß aus den sprachlichen Kollagen herausgelesen werden; die Deutung der •— zum Teil provozierend und aggressiv abgewandelten — Schlagrevolution bedient sich gelegentlich sprachlicher Pointen, die den montierten Wendungen Gölls geradezu das Modell geliefert haben könnten (z. B. »Ruhe ist die erste Hundepflicht I«), — Anders verhält es sich dagegen mit den Tierallegorien in Carl Hauptmanns »Krieg. Ein Tedeum« (1914). 84 Anspielung auf den Gebrauch des Wortes »Kuckuck« in der Umgangssprache. Vgl. H. Küpper, Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Hamburg 2i95Ö, S. 202: »Siegel des Gerichtsvollziehers. Der Reichs- oder preußische Adler auf der Siegelmarke des Gerichtsvollziehers wird scherzhaft als Kuckuck aufgefaßt. 20. Jh. (1955 lit).« In der Datierung des literarischen Nachweises ist Küpper also zu berichtigen.

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Worte (Ruhe und Ordnung-, Der Affe stammt vom Menschen ab; Gott mit uns; Juden werden nicht zugelassen; Nachdruck verboten; Rechts gehen; Selbst ist das Tier usw.) sowie der sozialen Zusammenhänge, in denen diese stehen, wird dem Zuschauer überlassen. Noch direkter wird die Zielrichtung in jenen Szenen sichtbar, worin von den geschäftlichen Machenschaften der Methusalems die Rede ist. Schieber-Praktiken (Herrliche Aussichten für nächsten Krieg. Ich mache mit meinem Schwiegersohn ein Kompaniegeschäft: Zentraler Ochsentrust A. G. Wir kaufen alle Ochsen von Europa auf: die Felle für unsere Schuhfabrik, die Kaidaunen für Militärwürste, und das Fleisch wird nebenbei als Abfall verkauft) sowie Lüge, Demagogie und Reklame in ihrer unentwirrbaren Verflochtenheit {Liebknecht trug immer die Schuhmarke Toreador, Kameraden, eure eigene, unsere Siegesmarke!) werden unbarmherzig bloßgestellt. Allerdings bleibt es auch hier bei kurzen, grellen Schlaglichtern; keines der Motive wird dramatisch ausgesponnen und als Element im Sinne des kausal verfugten Dramas gebraucht. Und mit den gleichen Mitteln stellt der Satiriker auch die »Gegenseite« dar •— sofern von einer solchen überhaupt die Rede sein kann. Denn Gölls Stück ist eine totale und in vielem auch pauschale Satire, die keinen eigentlichen Gegenspieler kennt. Die Negativität der Methusalem-Welt greift auf alle Bereiche über, bezieht alles in einen fratzenhaften Reigen ein, der sämtliche Wertmaßstäbe relativiert. Die zweifellos beabsichtigte Satire schlägt, gewissermaßen unter der Hand, in eine Groteske um. II. Die Verschränkung der beiden Kategorien wird an einzelnen Gestalten besonders augenfällig. A m gröbsten zugeschnitten ist die Figur des Felix Methusalem. Der moderne Zahlenmensch, an Stelle des Kopfes mit Telephonhörer, Schreibmaschine und Antennen ausgerüstet, ist wie geschaffen dazu, die Definition des grotesken Wesens schlechthin, die W. K A Y S E R gegeben hat 35 , mit modernsten Attributen zu ergänzen. Die Tendenz des Grotesken, tote Dinge zu verlebendigen und Lebewesen in toter Erstarrung darzustellen, erscheint hier in neuzeitlichster Gestalt. In dieser Figur greift die Zeitsatire in die Galerie der Maschinenpuppen, Marionetten und des neuentdeckten Roboters, um die Versklavung des Menschen durch die mechanische Welt der Technik in satirischer Überspitzung vorzuführen. Felix ist in der vom Autor ausgeführten Bedeutung 35 Vgl. W. Kayser: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg 1957. Aufschlußreich ist vor allem folgende Feststellung: »Das Mechanische verfremdet sich, indem es Leben gewinnt; das Menschliche, wenn es sein Leben verliert. Dauerhafte Motive sind die zu Puppen, Automaten, Marionetten erstarrten Leiber und die zu Larven und Masken erstarrten Gesichter« (S. 197t.).

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eine »Maske« in doppeltem Sinne: einmal dadurch, daß er schon äußerlich seine menschlichen Züge einbüßt, zum anderen durch die potenzierte Wirkung, die ihm zugedacht ist. Hinzu kommt die Reduktion der Gestalt auf reine Funktionstätigkeit, die sich fast ganz in einer von stereotypen Allo-Allo-Ruien begleiteten Registrierung kommerzieller Daten erschöpft. Der perfekte Büromensch kündigt sich an, der alles, auch die FamilienafFären, unter dem Gesichtspunkt von Produktion und Konsum sieht. Felix. Du, eine echte Methusalem, Du entehrst unsern heiligen Namen, unsere heilige Firma! Die Ehre des Box-Calf-Trusts steht auf dem Spiel. Unsere Kundschaft wird entsetzt die Progandaabteilung verdächtigen. Der neue Toreador-Schuh wird nicht gekauft werden! O, welches Unglück schlägt uns, Ida! So reagiert er, funkensprühend, auf die Nachricht, daß seine Schwester ein uneheliches Kind erwartet. Der erste Auftritt Idas wird von Beleuchtungswechsel begleitet: hellblaues Licht fällt, laut Regieanmerkung, in das Zimmer, dessen bisher dunkle und verschlissene Tapete nun mit roten und gelben Lianen und Vögeln bemalt ist. Dieser stimmungsvolle Hintergrund hat Symbolwert, er veranschaulicht die Gefühlswelt der verliebten höheren Tochter. Dem blumigen und bunten Tapetenmuster entspricht die nicht minder blumige Redeweise Idas, deren lyrischer Schwung in groteskem Kontrast zu dem nüchternen Tonfall steht, mit dem Tante Emmi sie zu »geziemenden« Verrichtungen anhält. Aber statt die Rezepte der bürgerlichen Erziehung (Klavier, Englisch, Majonnaise) zu befolgen, ergeht sich Ida in poetischen Schwärmereien. Bemerkenswert ist die Sprache, in der dies geschieht. Die Motivik und Bildlichkeit der Jugendstil-Lyrik wird aufgegriffen (Die Vögel singen grüne Girlanden / Von Osten nach Westen, / Es funkeln die Bäume, / Millionen Augen und Herfen / An zitternden Stielen), daneben stehen aber auch Wendungen, die aus der Metaphorik von Gölls eigener früher Lyrik entlehnt zu sein scheinen {Nein, stolz wie ein Baum, / Und seine Stirn ein Turm im Abend); ja bei der Begegnung mit dem Studenten stimmt Ida sogar einen hymnischen Stil unverkennbar GW/scher Prägung an ( A l l e Plätze tragen deinen Namen, / Alle Städte sind von dir erbaut: / Die Tempel von Asien, die Docks von Amerika. / Die Uhren schlagen stündlich deine Zeit . . .). Stellenweise gewinnt man beinahe den Eindruck, Idas Gefühlsäußerungen seien in der Methusalem-Welt die einzige menschliche und menschenwürdige Stimme. Bei näherem Zusehen entlarvt sich jedoch auch diese Diktion ganz

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v o n selbst; sie gehorcht ebenfalls der satirischen Absicht des Autors 3 6 . Die poetischen Arabesken der Liebeserklärungen tragen unverhohlen parodistische Z ü g e , die sich nicht selten zu Grimassen verzerren und deutlich werden lassen, w o der eigentliche Bezugspunkt dieser »Lyrik« zu suchen ist: nämlich im Kitsch. In diese Richtung weisen erst recht die Situationen, in denen Ida den Mann ihrer Träume sieht: als edlen Retter, der in einem dunklen Wald Räuber in die Flucht schlägt, als Torero aus der Illustrierten Zeitung, als Ingenieur im Film (mit dem tyrannischen Bart und den Reitstiefeln), als blonden Offizier, schließlich als himmlischen Renner der GordonBennet-Rennen; — wobei es kaum einer Anmerkung bedarf, daß Idas Phantasievorstellungen gröbste Klischees sind, bezogen aus den Niederungen der Trivialliteratur und des billigen Kinostücks. (Ein stilechter Einfall Gölls unterstreicht am Ende der dritten Szene den Kitsch-Charakter: sie schließt mit einer operettenartigen Miniatur-Revue des Dienstmädchens, der Tante, des Porträts der Großmutter, die alle ihr Sprüchlein über Liebeslust und -leid daherträllern.) Idas modisch appretierte Phantasie führt vor A u g e n , wie es sich mit ihrer Schwärmerei verhält. Ihr Versuch, aus der Welt des väterlichen Salons auszubrechen, ist schon im voraus zum Scheitern verurteilt: da er in einer Wunschsphäre verfangen bleibt, die nichts anderes ist als die v o n den Methusalems aufrechterhaltene Bildwelt der Reklame. Es überrascht daher nicht im mindesten, daß dem Sohn Fürchtegott ebenfalls eine Existenz von der Stange zugedacht ist: Ida sieht ihn als Versicherungsagent, mit Scheitel in der Mitte und schottischer Krawatte, worin sie Garantien für eine gesicherte Laufbahn erblickt. Vielleicht wird er Direktor einer Konservenfabrik, / Wer kann es wissen? Idas Geliebter, der Student, ist der Gegenspieler Methusalems — freilich nur äußerlich. Es wäre verfehlt, in ihm den Vertreter einer einigermaßen konsequenten Gegenposition zu erblicken; v o n allen Gestalten ist er die inkonsequenteste, die am wenigsten psychologisch faßbare. Eine Analyse dieser Figur erweist deutlich, in welch hohem Maß die traditionelle, psychologisch schlüssige Menschen36 Man muß K . M . M i c h e l recht geben, wenn er schreibt: »Idas inbrünstiges Traumgetändel — 'Ich tanzte über die Straßen hierher, / Die Pflastersteine waren Rubine, / Maiglöckchen läuten in meinem Herzen' — parodiert das in sich selbst verliebte Vokabular der Liebe. Idas Worte unterscheiden sich von der frühen Lyrik Gölls nur durch kleine Abweichungen; die aber sind entscheidend und tragen schon den Keim der Lüge in sich, die dann bruchlos zur Tagesordnung überleitet.« Der montierte Bürger, in: Programmheft zur Inszenierung des »Methusalem« im Dritten Programm der Städt. Bühnen Frankfurt a. M., 1961.

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darstellung im Methusalem einem Montageverfahren gewichen ist. Dabei ist gar nicht einmal in erster Linie an die Spaltung der Gestalt in drei getrennte Individuen, oder vielmehr Spielfiguren, zu denken. Denn diese Auffächerung ist noch am ehesten psychologisch zu deuten; sie ist psycho-analytisch in einem besonderen Sinn, indem sie den Bewußtseinsinhalt eines Individuums, dessen schwankende Haltungen der Charakterzüge, in theatralischer Bildhaftigkeit veranschaulicht. Der Student wird zumeist im Kunstgriff direkter Charakterisierung präsentiert. Durch die Äußerungen der anderen Gestalten gerinnt er zum Typ, ausgestattet mit den entsprechenden klischeehaften Zügen. E r wird als Eindringling in die Bürgerwelt gesehen, als besitzloses und daher suspektes Individuum, als Intellektueller aus dem Osten (So ein kleiner Jud mit rot^erlesenen Wimpern!, stellt Tante Emmi fest), — kurz: er ist der Anarchist, wie er im Buch steht, der Popanz der bürgerlichen Publizistik, abgestempelt in Steckbriefen und Witzblättern. Aus Methusalems Sicht ist er der Träumerstudent'. eine verlotterte Existenz der Dachmansarden, ein Revolutionär des leeren Magens, / Inspiriert von schlechten Tabakpfeifen; als aktuelle Zugabe wird von Felix und Tante Emmi noch das Wort Bolschewik ins Spiel gebracht. Auch in seinen eigenen Handlungen erweist sich der Student als klischeehafte Figur. Die Massenszenen zeigen den lautstarken Rhetor, der auf die Barrikaden steigt, um seiner pseudorevolutionären Agitation Gehör zu verschaffen; was er verkündet, sind jedoch literarische Phrasen (Armes Proletariat, Promethidengeschlecht), die sein Gebaren als marktschreierisches Revoluzzertum entlarven. Seine Tiraden sind im übrigen unverkennbar einem sprachlichen Muster nachgebildet, das von Göll zu parodistischen Zwecken gebraucht wird: dem O-Mensch-Pathos der T O L L E R , W E R F E L , H A S E N C L E V E R . Im selben Maße wie sich diese Sprachgebärden als hohl erweisen, enthüllt sich auch die Hohlheit der demagogischen Menschheitsbeglückung des Studenter?1. 37 Die von Göll auch begrifflich formulierte Kritik am Expressionismus, namentlich an dessen aktivistischer Tendenz, nimmt bereits entscheidende Argumente jenes Verdikts vorweg, das Lukács in den dreißiger Jahren — mit pauschalem Anspruch — über den Expressionismus verhängte. In der Beurteilung der Stilmittel und deren Gestik ist die Übereinstimmung trotz der unterschiedlichen Positionen recht bemerkenswert. Bei Lukács (Größe und Verfall des Expressionismus, in: Probleme des Realismus, Berlin 1955, S. 180) heißt es u. a.: »Die Nichtigkeit der Inhalte wird nämlich [. . .] in eine fanfarenhafte Pathetik der Sprachbehandlung gekleidet. [. . .] Die Dichter waren durch ihre Stellung zu Krieg und Revolutionen gezwungen, pathetisch, selbstsicher, manifesthaft, als 'Führer' aufzutreten und die leere Subjektivität ihrer inhaltslos-irrationalen

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In der Duellszene stattet ihn der Dichter unerwartet mit ganz anderen Zügen aus. Der Pathetiker entpuppt sich plötzlich als Zyniker, der sich nicht nur kaltblütig zum Duell stellt, sondern obendrein noch seinem Kontrahenten philosophische Lektionen erteilt. Die Gedanken, die er vorbringt, haben freilich mit dem geschwollenen Pathos des Agitators nichts mehr zu tun; aus ihnen spricht ein desillusionierter Skeptiker, der Ida die Lektüre Schopenhauers (!) empfiehlt, überzeugt von der Menschen Dummheit und der Sinnlosigkeit jeder Tätigkeit. Glauben Sie mir: auch am Nordpol ist das Leben langweilig, / Und rülpst der auf, der zuviel Ölsardinen ißt. Vollends fällt der Student aus seiner »revolutionären« Rolle in der vorletzten Szene, wo er, mit Methusalems Freundin Veronika flirtend, sein Handeln unverblümt mit eigensüchtigen Motiven erklärt. Da er es bloß auf Methusalems Geld abgesehen hat, um mit Veronika auf Reisen gehen zu können, wirkt seine Tirade, mit der er sich vor die Volksmenge stellt, erst recht hohl und verlogen: Ich bin die Tat! / Ich bin die Revolte, der Geist, das Salz, I Das eure stinkenden Wasser zersetzt, / All eure modernden Zivilisationen! In der Schlußszene tritt abermals ein abrupter Wechsel ein. Sehr ärmlich und ausgestoßen sieht ihn die Regieanmerkung. Was sich hinter dieser lakonischen Feststellung verbirgt, ist das doppelte Fiasko des Revoluzzers und des skrupellosen Egoisten. Geblieben ist eine triste Existenz an der Seite der selbst mit dem pissenden Säugling im Arm noch schwärmenden Ida. Im Gegensatz zu dem Studenten, der sich bis ins Unkenntliche verwandelt, bleibt Methusalem sich ewig gleich. Von ihm, der eine ausgesprochen statische Figur ist, gehen keinerlei die Handlung bewegende Impulse aus; seine Existenzweise erschöpft sich im Zu'Begriffe' als Verkündigungen, als Aufrufe und Wegweiser von sich zu geben. Die von der Gegenständlichkeit der objektiven Wirklichkeit sich loslösende Sprache erstarrt damit in eine blecherne 'Monumentalität', die fehlende Durchschlagskraft an Inhaltlichkeit muß durch hysterische Übersteigerung der nebeneinandergeworfenen, innerlich zusammenhanglosen Bilder und Gleichnisse ersetzt und verdeckt werden. In dieser Sprache kommt der Klasseninhalt, die als 'Führertum' aufgeputzte Ratlosigkeit einer wurzellosen und zersetzten kleinbürgerlichen Intelligenz inmitten weltgeschichtlicher, wenn auch noch unausgereifter Klassenkämpfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie klar zum Ausdruck. Und in diesem Zwiespalt, durch diesen Zwiespalt drückt gerade diese Sprache den wirklichen Klasseninhalt des Expressionismus angemessen aus, gerade indem sie die Nichtigkeit der eingebildeten Inhalte ungewollt, aber desto schonungsloser entlarvt.« — Zur zeitgenössischen Kritik am Expressionismus vgl. die Materialiensammlung »Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung«, hg. von P. Raabe, DTV, Sonderreihe Bd. 41, München 1965.

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stand38. Methusalem w i r d nicht, sondern er ist. Während der Student, Ida und sogar auch Felix immerhin etwas wie dramatische Handlung bewirken, indem sie eine gewisse Aktivität entfalten (Duell, Agitation), bleibt die »Maske« des Ur-Bürgers von Anfang bis Ende starr und unwandelbar. Selbst sein »Tod« ändert nichts daran; denn auch Methusalem, genau wie der Student, erscheint in der Schlußszene wieder auf der Bildfläche, — was die eigentümliche Form seiner Existenz nur noch unterstreicht. Der Zuschnitt dieser Gestalt entspricht ganz und gar der schablonenhaften Darstellung des literarischen Typus. Bei der Charakterisierung kommt es daher nicht darauf an, Handlungsweisen zu zeigen, sondern lediglich die der Figur zugehörigen Attribute. Das Bild, das durch diese Attribute erzeugt wird, gleicht in mancherlei Hinsicht den Zeichnungen, in denen G E O R G E G R O S Z das »Gesicht der herrschenden Klasse« festgehalten hat. Auch Methusalem ist, gleich Felix, von Kopf bis Fuß auf Branche eingestellt, wobei er — wenn es darum geht, geschäftliche Vorteile zu wahren — vor skrupellosen Praktiken keineswegs zurückschreckt. Sein kommerzielles Denken (Für Geld kauft man sich Witze, Liebe, Frühling und Revolutionen) erstreckt sich bis in seine Träume, wo Erotik und Machtgelüste gleichermaßen nur den Hintergrund für Reklamesprüche abgeben. (In den Traumprojektionen wertet Göll — wohl als erster — Wunschvorstellungen des Unterbewußten zu satirischen Bühnenwirkungen aus.) Zu den zeitkritischen Pointen des Methusalem-Votttäts — zu denen auch die sentimental verlogene Story vom Selfmademan (IX. Szene) gehört — gesellt sich, gleichsam als Kehrseite, die Karikatur des Spießbürgers. Das zigarrenpaffende Familienoberhaupt, unentwegt auf sein Gulasch bedacht, wird z. T. in »Simplicissimus«-Manier gezeichnet: Methusalem ergötzt sich an schalen Mikosch-Witzen, spielt sich zwischendurch als Snob auf ( C O R O T und K O K O S C H K A als Wandschmuck), hängt dem Kitsch nach (Zahnput^glas aus Bergkristall) und entrüstet sich über den literarischen Naturalismus, den er für Idas erotischen Freisinn verantwortlich macht: Zuviel Zola gelesen. Aus dieser Perspektive sinkt die Figur in den Szenen mit dem Studenten stellenweise ins grob Farcenhafte ab; hier zeigt sich das Jämmerliche und Schäbige der Gestalt, ein Zug, der das satirische Objekt auf drastische Weise einer be38

Denkler (S. 201) formuliert diesen Befund folgendermaßen: »Der Urbürger Methusalem, der an eine Wandlung gar nicht denkt, verkörpert das Statische des Bürgertums und ist folgerichtig auch als Rollengestalt statisch angelegt; er präsentiert sich in immer neuen Episoden als der 'ewige' Bürger . . .«

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stimmten literarischen Tiefenlage zuweist und jeglicher falschen Dämonisierung des Bürgers entgegenwirkt. Andererseits ist nicht nur Tagessatire beabsichtigt; die Figur des Methusalem ist in ihren Dimensionen breiter angelegt und wäre durchaus im Gewand des D ü R R E N M A T T s c h e n Cäsar Rupf oder auf dem Marktplatz des W i E L A N D S c h e n Abdera denkbar. Dieses Überzeitliche kommt auf doppelte Weise zum Ausdruck: einmal im Stück selbst, als das unbeschädigte Überdauern der Figur, zum andern im Anspruch der Titelgebung, die auf das Bild vom UrBürger als einer »ewigen«, wandelbaren, aber in allen Wandlungen gleichen Figur zielt. Die aktuelle Erscheinungsform dieses Menschentypus ist gewissermaßen der Phänotyp im Verhältnis zu seiner überzeitlichen Form. In diesem Sinn bleibt Gölls Konzeption im Vorstellungsbereich des Expressionismus: Methusalem ist das satirische und ins Groteske gesteigerte Gegenstück zum zeitlosen Menschen des expressionistischen Dramas. Darin, im Widerspruch zwischen dieser Intention und der satirischen Konkretisierung im Stück, verfängt sich letztlich Gölls Sozialkritik. Was schließlich die Auftritte der Menge betrifft, so verzichtet der Autor vollends auf Charakterisierung; die Menge ist lediglich Hintergrund, blinde Masse, beliebig manipulierbares Objekt der Regie. Die Tendenz der Groteske, den Menschen zu verdinglichen, tritt hier am deutlichsten zutage. Sie gipfelt in der »Figur« des schnarrenden Automaten, der den menschlichen Gestalten nicht etwa als Kontrast gegenübertritt, sondern deren eigene Marionettenund Schemenhaftigkeit erst wirklich sichtbar macht. Der Automat ist die konsequente Ausprägung der erstarrten Menschenwelt. III. Die Sprache im Methusalem weist kein einheitliches Stilisierungsprinzip auf, Göll verschmäht von vornherein jede durchgehende, von der Bühnentradition gefestigte Form der dramatischen Rede. Weder der milieuhaft charakterisierende »Alltagston« des naturalistischen Schauspiels noch S T E R N H E I M S gestisches, expressiv gerafftes Stakkato bieten sich als vergleichbare Muster an. Die heterogenen Elemente, die der Text zusammenzwingt, entsprechen dem Kaleidoskop-Charakter des Ganzen; das stilistische Verfahren des Autors ist das der Montage — auch im Äußeren mit der von G R O S Z oder H E A R T F I E L D angewendeten Technik verwandt. Der innere Zusammenhang, der den scheinbar so disparaten Sprachmitteln und Stilebenen innewohnt, läßt sich am ehesten begreifen, wenn man die generelle Funktion der Sprache im Stück berücksichtigt. Zweifellos erfüllt sich ihre primäre Aufgabe darin, jene — bedingt zu verstehende — »Realitätsferne« zu bewirken, die in Gölls theoretischen Überlegungen eine so entscheidende Rolle spielt. Verfolgt man aber die Auswirkungen der Theorie in der

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Praxis, so wird evident, daß der Blick durch das »Vergrößerungsglas« auch auf die Sprache fällt, daß selbst die dramatische Rede auf ihre Weise »maskenhafte« Z ü g e trägt. In diesem Sinn potenziert die Sprache noch die Autonomie der grotesken Welt, welche Aufbau, Raumgestaltung und Figurenzeichnung bestimmt. Der Abstand v o n den Konventionen realistischer Dialogführung ist auf Schritt und Tritt erkennbar. Schon in der ersten Szene, der Wechselrede zwischen Methusalem und seiner Frau, erfüllen die Repliken nur zum Teil die Bedingungen eines normalen Gesprächs; v o n Anfang an merkt man, daß nicht Kommunikation dargestellt wird, sondern die Parodie v o n Sprachvorgängen. Ganze Redeteile könnte man sich ebensogut in umgekehrter Reihenfolge denken — zu schweigen v o n Sätzen, die völlig unvermittelt auftreten, gleichsam als beziehungslose, absurde Maximen (Wenn es doch Regenschirme aus Zelluloid gäbe; Tobe or not to be; Es gibt keine Petersilie mehr in der Natur). Genau wie im Handlungsverlauf an entscheidenden Punkten der Kausalnexus aufgehoben wird, wird auch die Gliederung des überlieferten dramatischen Dialogs zerstört. E r ist hier nur mehr ein konventionelles Relikt der Dramenform, sozusagen eine formale Nötigung. Im Grunde dienen diese Äußerungen gar nicht der dramatischen Provokation; es handelt sich lediglich um Bewußtseinssplitter, mechanisch nachgesprochene Slogans und wohlfeile Sprüche, die der Situation gemäß assoziiert und ins Spiel gebracht werden. Ein weiteres Merkmal der Redefunktion führt das Alltagsgeschwätz in der sechsten Szene (Der Besuch bei Methusalems) vor Augen. So sehr die Gesprächsthemen der an Banalität nicht zu überbietenden Sphäre des bürgerlichen Salons abgelauscht sind: ihre stärkste satirische Wirkung verdankt die Konversation doch dem Umstand, daß die konventionellen Spielregeln einer solchen Unterhaltung nicht befolgt werden. Keine realistische oder gar naturalistische Milieuszene wird hier geboten, sondern entlarvende Montage, die darauf beruht, daß der Unterschied zwischen Gesprochenem und Gedachtem eingeebnet ist39. Das V o r w o r t zu Methusalem erläutert dieses Verfahren folgendermaßen: Alogik ist heute der geistigste Humor, also die beste Waffe gegen die Phrasen, die das gan%e Leben beherrschen. Der Mensch redet in seinem Alltag fast immer nur, um die Zunge, nicht um den Geist in Bewegung t(u setzen. [. . .] Gleichzeitig wird Alogik da%u dienen, das zehnfache Schillern eines menschlichen Gehirns %u geigen, das das eine denkt und das andere spricht und 39 Diese Doppelheit entspricht dem von Nathalie Sarraute in ihren romantheoretischen Überlegungen gebrauchten Begriffspaar »conversation« und »sous-conversation«; vgl. L'ère du soupçon, Paris 1956.

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sprunghaft von Gedanke Gedanke schweift, ohne den geringsten scheinbarlogischen Zusammenhang. In der Praxis geht Göll jedoch noch weiter: indem er sich nämlich über die »realistischen« Voraussetzungen bühnengängiger Konversation hinwegsetzt und auch bloß Gemeintes und Gedachtes seinen Himmelreichs, Bäuchleins und Darmkatas in den Mund legt — Äußerungen, welche zugleich die Illusion standesgemäßen Gedankenaustauschs höhnisch in Frage stellen: Herr Darmkata. Ein schreckliches Wetter heute. Herr Bäuchlein, fa, wenn es wenigstens regnen wollte! Herr Himmelreich. Was ? Regnen ? Sind Sie denn verrückt ? Wo meine Schuhe erst neu besohlt sind! Hier wird, dramaturgisch formuliert, der für das Bühnenspiel sonst geltende Unterschied zwischen dialogischer Rede und dem »Beiseitesprechen« aufgehoben; alles läuft auf einer Ebene ab40. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Art, wie Darmkatas die Zumutung Methusalems zurückweisen, die eben erst ausgehandelte Hochzeit nicht auf Bütten, sondern bloß durch eine schäbige Zeitungsannonce bekanntzugeben: Frau Darmkata. Lieber geht unsere Irma in ein Kloster. Kein Büttenpapier! Komm, Manne, ich will keine Minute länger in diesen Mauern weilen. Herr Darmkata. Herr Methusalem, ich bedaure. Aber übrigens haben Sie ja schon iSpS mal Bankrott gemacht. Pfui. Ihr Sohn mag ein schönes Früchtchen sein. Kein Büttenpapier! Unerhört! Der Hebel der Satire in dieser gesamten Szene — die zweifellos zu den Höhepunkten des Werkes gehört — ist die Persiflage, konkret gestaltet als Parodie der bürgerlichen Konversation und in gewissem Sinne auch des Konversationsstückes. Man weiß, daß solche 40 Die Bedeutung ähnlicher dramaturgischer Vorgänge untersucht P. Szondi in seiner »Theorie des modernen Dramas«, vor allem im Hinblick auf O'Neills Drama »Strange Interlude« (1928), worin der innere Monolog fortlaufend neben den Dialog tritt. »Indem aber das ä part mit dem Dialog gleichberechtigt die Form bildet, verliert er das Recht, diese Bezeichnung zu tragen. Denn Beiseitesprechen ist sinnvoll nur in einem Raum, in dem grundsätzlich zueinander gesprochen wird. Hier jedoch ist das ä part nicht mehr die vorübergehende Selbstaufhebung des Dialogs, sondern steht autonom neben dem dramatischen Zwiegespräch als der psychologische Bericht eines epischen Ich« (Zit. nach der Ausgabe von 1963, edition suhrkamp, S. 138f.). Allerdings trifft auf Gölls Verfahren eine kategoriale Trennung in diesem Sinne nicht zu; die Verklammerung ist nicht nur enger, sondern auch so angelegt, daß Konversations-Modelle gesprengt werden, nicht aber psychologisch verstandene Verhaltensweisen.

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durcheinandergeschüttelten, ausgehöhlten Floskeln, die den Leerlauf des Gesprächs als eine totale Inflation sowohl der Gesprächsstoffe als auch ihrer sozialen Entsprechungen aufdecken, ein gut Teil der Sprachstruktur des »absurden Theaters« antizipieren. Worin sich Gölls Verfahren jedoch von dem beispielsweise IONESCOS unterscheidet, ist der Anteil der eindeutig satirischen Perspektive und somit eines kritischen Standpunktes — so sehr auch das Stück in seiner Gesamtheit in ein groteskes Zwielicht getaucht ist, das die Akzente verzerrt und überraschend verschiebt. Die Beweglichkeit und Fluktuation der Sprache ruft noch eine weitere Wirkung hervor: sie hält auch die Redeweise der Figuren in jenem seltsamen Schwebezustand, der ihrer Marionettenhaftigkeit entspricht. Das Fehlen jedes streng befolgten Musters in der Sprachform — sei es eines realistisch-charakterisierenden oder eines poetisch-stilisierenden •— zeitigt einen eigentümlichen Sprachpluralismus. Was dem bewußt erzeugten Konglomerat von trivialster Gebrauchssprache, pathetischer Rhetorik, Reklame- und Geschäftsjargon, lyrischen Bilderreihen und verrenkten Zitaten an zusätzlicher ästhetischer und dramaturgischer Funktion eignet, ist die Kritik, welche die Sprachgesten selber schon üben, indem sie sich gegenseitig aufheben und entwerten. Dies geschieht namentlich in der Liebesszene zwischen Ida und dem Studenten, wo die Sprechlagen der gespaltenen Figur einander desavouieren und die Sprache des zynischen Er (Hier hinterm Lattenzaun geht es vielleicht /) sowie des kleinmütigen Ich (Ich hab sie nicht gehabt, wozu noch Phrasen dreschen) die blumige Rede des galanten Du (Ich bringe Ihnen alle Wälder der Romantik z u m Geschenk) eindeutig Lügen straft. Vergleichbares gilt für den ersten Agitationsauftritt des Studenten, dessen phrasenhafte Proklamation im letzten Satz in eine das Ganze bloßstellende lächerliche Werbungsformel umschlägt: Ich will dich befreien mit meinem radialen Geist, j Dich aufwärtsführen zu Hügeln und Wolkenkratzern des Glücks, I Daß alle die gleiche Treppe zur Sonne benätzen, / Und keiner dem andern eine Mandeltorte voraushabe ./41. Auf wieder andere 41 Im Grunde werden im Methusalem alle verfügbaren Sprachstile der Zeit parodistisch ad absurdum geführt; weder das Konversationsstück noch das lyrische Drama wird verschont, erst recht nicht der ekstatische Stil der Expressionisten (vgl. das Werfelzitat »Als mich dein Wandeln an den Tod verzückte . . .« [VII] im Munde Idas). — Die Abkehr von der »steilen« Sprache des Expressionismus kündigt sich ähnlich auch bei anderen Autoren an, beispielsweise bei Toller, der im »Entfesselten Wotan« seine Distanz ebenfalls mit parodistischen Mitteln zum Ausdruck bringt. Es genügt, auf jene Stelle zu verweisen, wo der Friseur Wotan, Abonnent in »Krauses Lesezirkel exotischer Romane», folgende Stelle aus einem modernen Roman vorliest: »'Emilie, steilte sich sein

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Weise entlarvend wirkt das Nebeneinander in der abgehackten Rede des Felix, die, indem sie Simultaneität veranschaulicht, zugleich auch vielsagende Streiflichter auf die Hintergründe des Geschäftsbetriebs wirft: Allo, allo! Sind die Fleischtarife heruntergegangen? / Schwanken die Damenstrumpf preise ? / Steuer auf gelbe Halbschuhe ? / Ist die Her^-Kredit-Bank pleite? [...]/ Unser Konkurrent in den Stadtrat gewählt? I Ist gestern kein Streiker gestorben? / Hat unser Agent in Hongkong wieder Nasenbluten ? / Allo, allo, allo, was ist geschehen ? Einen spielerischen Zug gewinnt das Satire, Parodie und Groteske vereinigende Stück schließlich dadurch, daß auch die konventionellen literarischen Sprachformen selber zum parodistischen Objekt werden. Anders ist das — sonst kaum motivierte — Schwanken zwischen Vers und Prosa ja schwerlich zu verstehen. Der Tradition gemäß stellt sich der Vers in den lyrischen Ergüssen Idas sowie im schwelgerischen Pathos des Studenten ein; doch ordnet der Dichter auch dem trockenen Sermon der Tante (Laß die Faxen, dumme Gans. I Wann wirst du die cis-dur-Tonleiter üben?) den Gang der gebundenen Rede zu, und sogar der moderne Zahlenmensch schwingt sich gelegentlich zu freien Rhythmen empor. Was die Parodie auslöst, ist in beiden Fällen das Auseinanderklaffen von Figur und —• rein formalem — Anspruch des Stils. Gehobene Rede und rhythmischer (oft freilich bloß rhythmisierter) Schwung werden den Gestalten als ein literarisches Prunkgewand umgehängt, das sich als unpassend und zerschlissen erweist. Indem die Sprache der einstigen dramatischen »Helden« bemüht wird42, kommt die ganze Misere und Heldenferne der bürgerlichen Marionetten in Sicht. IV. Es liegt auf der Hand, daß der Konzeption Gölls nur die offene Form des Dramas genügen konnte. Diese Form ist für den Methusalem geradezu ästhetische Bedingung, da die Freiheit der Fügung durch die Möglichkeit, Zusammenhänge zu sprengen und zugleich das Brüchige, Absurde oder Paradoxe einer bestimmten »Welt« szenisch darzustellen, thematische Bedeutung gewinnt. Die Schrei, rasender Quinten voll, in azurene Nacht. EmilieI Dirne du! Aphrodite dul' Seine Mannheit riß sich hoch zu Gott . . .'Emilie!' . . . Blutiges Messer psalmte: 'In Ewigkeit' und choralte: 'Amen' —«; Der entfesselte Wotan, Potsdam 1924, S. 11 f. Das »Zitat« ist selbstverständlich parodistische Fiktion, nachgebildet etwa dem Prosastil des frühen Edschmid. 42 Vgl. vor allem gereimte Szenenschlüsse (wie ist ¡frißt in der IV. Szene), die parodistisch auf das entsprechende Verfahren etwa bei Schiller und Shakespeare verweisen; — wie ja überhaupt literarische Reminiszenzen auf mannigfache Weise, z. T. aus purer Lust am Bildungsulk, in den Text eingesprengt sind.

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Struktur ist folgerichtiges Korrelat des Inhalts. Das G a n z e des Stückes erscheint demnach auf besondere Art: nämlich »in A u s schnitten 4 3 «, in einer mehr oder minder lockeren Folge, die ihren »Ganzheitscharakter« (im Sinne des traditionellen Dramas) stets aufs neue in Frage stellt. Es wäre daher verfehlt, die dem Werk zugrundeliegende dramaturgische Tendenz als Auflösungserscheinung zu begreifen. Die aus einer bestimmten Tradition gewonnenen Maßstäbe haben -— wie ja bereits die gattungsgeschichtliche Einordnung zeigte — ihre Gültigkeit verloren; sie versagen bei einem Stück, das von vornherein völlig andersartig entworfen ist. Bildlich ausgedrückt: Man hat es hier nicht mit Scherben zu tun, sondern mit den Steinen eines (freilich alogischen) Mosaiks. Um die Gruppierungstechnik und Anordnung dieses Mosaiks anschaulicher zu machen, sei noch einmal an den Dialog erinnert. Er erweckt, sahen wir, den Eindruck, einzelne Repliken, ja ganze Dialogpartien seien beliebig austauschbar, ohne daß sich im Verlauf und damit auch im Sinn des Gesprächs auch nur das geringste ändern würde; die Austauschbarkeit deckt die Unverbindlichkeit und Ziellosigkeit einer Konversation auf, in der die Wörter mechanisch durcheinandergewürfelte Partikel sind. Sieht man genauer hin, so erweist sich die Gültigkeit dieser Beobachtung auch für die übergeordneten Einheiten, d. h. für die Szenenfolge. Ohne dem Ganzen wesentlichen Abbruch zu tun, könnte man eine ganze Reihe von Szenen in veränderter oder sogar umgekehrter Folge spielen: woraus hervorgeht, daß die Einzelszenen in der Gesamtstruktur keinen eigentlichen, auf ein Kontinuum bezogenen Stellenwert besitzen. Zwanglos bietet sich — in einer keineswegs nur vagen Analogie — der Vergleich mit dem kabarettistischen Sketch an, in dessen Nähe sich Göll ja bereits mit seinen beiden »Überdramen« begeben hatte. Es bedarf kaum einer Bemerkung, daß auf diese Weise selbst noch die letzte der einst so geachteten dramatischen »Einheiten«, die der Handlung, liquidiert wird. Sie fällt dem Bestreben zum Opfer, eine Welt zu zeigen, in der die Gesetze der Kausalität von innen her außer Kraft gesetzt sind, in der statt Folgerichtigkeit Alogik herrscht. Diese Alogik schlägt sich in den dramaturgischen Prinzipien der U m k e h r b a r k e i t und I s o l i e r u n g nieder; sie macht die Einzelszenen, ja stellenweise die einzelnen Handlungspartikel weitgehend autonom. Wie konsequent Göll diese Desintegration befolgt, zeigt sich am handgreiflichsten daran, daß auch der Kausalnexus, die elementarste Kategorie des traditionellen Dramas, auf der Strecke bleibt. Die in der achten und neunten Szene getöteten 43

Vgl. V. Klotz, a. a. O., S. 230fr.

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Figuren treten alsbald wieder munter in Erscheinung und heben so die empirischen Gesetze der Realität zugunsten der Alogik auf, — wobei es für den Charakter des Stückes völlig belanglos ist, ob der Wiedererstandene nun ein »Geist«, die Inkarnation einer Idee oder eine den übrigen Figuren gleichgestellte »reale« Gestalt ist. Entscheidend ist lediglich die Funktion der Figur im jeweiligen Auftritt. Handlung gibt es nur insofern, als in einigen Szenen (IV, VII, IX) gewisse Spannungen hervorgerufen werden, die motivischen, d. h. konflikterzeugenden Charakter besitzen. Diese Spannungen, kurzstreckig angelegt, weisen jedoch kaum über ein oder zwei Szenen hinaus; sie sind daher nicht geeignet, einen durchgehenden dramatischen Bogen zu stützen. Eher erfüllt sich ihre Aufgabe darin, durch Turbulenz im szenischen Ablauf Kontrastwirkungen zu schaffen und auf diese Weise ein die dramatische Verklammerung ersetzendes strukturelles Gefälle zu erzeugen. Eine verknüpfende Funktion kommt dagegen etlichen motivartigen Einfällen zu, die als Bauelemente erkennbar sind: so den Auftritten des Automaten sowie einigen gleichsam leitmotivischen Äußerungen, die sich — wie etwa die Reklameslogans — formelhaft wiederholen. Diese Dialogsegmente, so unscheinbar sie zunächst auch sein mögen, verdienen wegen ihrer formalen und thematischen Relevanz Beachtung. Die strukturelle Figur, die im Stück sichtbar wird, die Bewegung, die es beschreibt — sofern von einer solchen überhaupt die Rede sein kann —, ist nämlich eine Kreisbewegung. Kennzeichnend hierfür ist schon der von Methusalem gesprochene Eröffnungssatz der ersten Szene: Nichts Neues. Die Welt wird so alt. Dieser Satz gilt, unausgesprochen, auch für die Schlußszene: indem er die Erfahrung ausdrückt, daß sich nichts verändert hat noch je verändern wird. Aus dem einleitenden Gespräch ragt jedoch noch ein weiterer Satz hervor, die Frage Methusalems-. Gibt es Gulasch? Der banale Vorgang der Gulasch-Zubereitung im Hause des ewigen Bürgers spielt im Verlaufe des Stückes eine nicht unbeträchtliche Rolle; geradezu leitmotivisch wird er mehrmals erwähnt, und so auch am Ende, wenn der wiedererstandene Methusalem an Ida und dem Studenten vorbeigeht und die letzte Szene mit dem Satz beschließt : Aber ich muß, ich muß jetzt Gulasch essen . . . In der gleichen Weise korrespondiert mit Methusalems Anfangssatz das summarische Urteil des Studenten aus der Schlußszene: 0 Gott, ist das Leben langweilig! Was zwischen diesen Aussagen liegt, ist ein Geschehen ohne Entwicklung, eine öde Wiederkehr des Gleichen, eine Revue, deren Ablauf den Drehungen eines Karussels gleicht. Erhellend wirkt nicht zuletzt das Verhältnis zwischen »Spielzeit« und »gespielter Zeit«, also zwischen Aufführungsdauer und Dauer

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des dramatischen Vorgangs. Auch der zeitliche Verlauf wird, entsprechend dem Verzicht auf realistische Motivierung, der Kontrolle entzogen. Er ist physikalisch nicht mehr meßbar, was zur Folge hat, daß sich das zeitliche Kontinuum in ein seltsames Schweben und Schwanken auflöst. In der Aufeinanderfolge der Szenen spielt der Zeitzusammenhang so gut wie keine Rolle, ja er ist im Grunde irrelevant, da er weder thematische Bedeutung besitzt noch, im Sinne einer Gliederung, die Struktur prägt. Die Typik, die in der Methusalem-^elt herrscht (und die sich deutlich im Spiel-Raum äußert) läßt die Zeit als nahezu wirkungslos erscheinen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Verlagerung des szenischen Geschehens auf eine zweite, gleichsam zeitenthobene Ebene: die filmische Projektion der Träume und Visionen, die der Bühnenhandlung eine zusätzliche Dimension verleihen. In diesen Zwischenspielen (vor allem in den beiden Einblendungen der achten Szene) steht die Zeit vollends still. Dem eigentlichen Geschehen entrückt, erlangen die Bilder besondere Geltung; sie verdichten die Typik des Spiels zu satirischen Prospekten, welche exemplarische Situationen aus dem bürgerlichen Heldenleben —• Begräbnis, Hochzeit — in grotesker, karikaturistischer Verzerrung festhalten. Grotesk und komisch soll das Begräbnis laut Regieanmerkung wirken, und grotesk44 soll auch die Aufmachung in der Vision der Hochzeit sein. Definiert man die künstlerische Struktur als ein Gefüge sich gegenseitig bedingender ästhetischer Zeichen, so wird man nicht zögern, Gölls Methusalem — trotz der handfesten Wirkungen und dem zuweilen etwas aufdringlich zur Schau getragenen Hang zur Simplizität — den Rang eines vielschichtig organisierten Kunstgebildes zuzubilligen. Die daran beteiligten stilistischen Momente der Satire, Groteske und Parodie schließen sich nicht nur zu einem aggressiv herausfordernden Bühnenstück zusammen, sondern halten sich auch in künstlerischer Hinsicht die Waage. Die Wirkung, auf die alle genannten Kräfte und Mittel abzielen, liegt in der eigentümlichen, bewußt schockierenden und zugleich distanzierenden, alogischen Darstellung sozialer Mechanismen — einer Darstellung, die deutlich die Absicht verrät, der Trägheit der Wahrnehmung entgegenzuwirken und das Bewußtsein wachzurütteln. »Die Erschütterung durch ein Kunstwerk«, schreibt Georg Kaiser in seiner Vorrede, »ist Erschütterung des Zuständlichen der NurVerbraucher; sie finden sich besiegbar in jeder Pore und jedem Puls ihrer matteren Vitalität. Jedes Dichtwerk verrichtet eine ver44 »Grotesk bäurisch« heißt es im Text. Trotzdem kann kein Zweifel darüber bestehen, daß auch dieses Zwischenspiel bürgerliche Verhältnisse meint; die Hochzeitsreise nach Venedig, von der die Braut schwärmt, dürfte als Hinweis genügen.

Zur Wirkungsgeschichte

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nichtende Niederlage der Geborgenen.« Nichts anderes meint auch Göll, wenn er die Form und die zeitliche Struktur des Dramas unter dem Gesichtspunkt der Wirkung, der künstlerischen Provokation sieht: Das Drama soll ohne Anfang und Ende sein, wie alles hienieden. Aber irgendwann hört es auf, warum ? Nein, es geht das Leben weiter, das weiß jeder. Das Drama hört aber deshalb auf, weil ihr müde geworden seid, alt in einer einzigen Stunde, und weil die Wahrheit, das se^r kleinen Dosen verstärkste Gift für das menschliche Herz, nur schluckt werden darf Zur Wirkungsgeschichte I. Die Buchveröffentlichung des Stückes hatte nur ein schwaches Echo. Das mag an den ungünstigen Zeitverhältnissen gelegen haben, aber möglicherweise auch daran, daß das schmale Bändchen -— in anspruchsloser Ausstattung erschienen — seinem Inhalt nach höchst befremdend wirken mußte. Der Text entsprach weder der Vorstellung vom expressionistischen Drama, wie sie sich nachgerade verfestigt hatte, noch war er dazu angetan, den Geschmack konservativer Kritiker anzusprechen. So nahm man zunächst kaum Notiz davon 45 . Eine kurze Besprechung erschien 1923 seltsamerweise in der konservativen Zeitschrift »Die schöne Literatur«. Diese frühe kritische Glosse — von W O L F G A N G GOETZ — sei mitgeteilt, schon wegen der zwischen Ablehnung und Zustimmung schwankenden charakteristischen Beurteilung: »Wenn es nicht so leicht wäre, den Bürger totzuschlagen! Wozu der außerordentliche Aufwand? Die Zeit wäre besser angewandt, wollte man sich bequemen, Lebendiges auf die Beine zu stellen; was freilich etwas schwieriger ist. (Zwischenbemerkung: ob nicht Johann Sebastian Bach, der zweifellos revolutionärer war, ja ist, als etwa Casimir Edschmid, in seinem äußeren Gehabe auch ein Bürger war, vielleicht sogar ein Spießer?) Hier ist der Aufwand noch verdoppelt, da Georg Kaiser den Methusalem einleitet, der Verfasser selbst bevorwortet. Es ist gar nicht nötig, denn diese Groteske ist wirklich eine Groteske 45 Für die auf privatem Wege ausgesprochene Anerkennung zeugt ein lapidar formulierter Brief Georg Kaisers an den Autor: »Verehrter Iwan Göll, ich fürchte zwar, daß 'Methusalem' nie aussterben wird — aber Sie sind durch ihn sicher unsterblich geworden — — Dankl I« Das •— undatierte — Typoskript (wohl ein Dankschreiben für die Zusendung des Buches) befindet sich in dem von Ciaire Göll verwalteten Nachlaß.

6 Komedia XII

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und mit sehr komischer Frechheit hingehauen bis auf wenige, unnötig ekle Geschmacklosigkeiten. George Groß konstruiert fabelhafte Maschinenmenschen, über die man sich nicht minder freut. Aber noch einmal: man nehme weder den Bürger noch sich allzu wichtig 48 .« Der Tenor der Kritik, gleichsam Lob wider Willen, ist vor allem für die von der Zeitschrift vertretene Richtung kennzeichnend. In abgewandelter Form wird diese Haltung gegenüber Gölls Werk jedoch auch in späteren kritischen Äußerungen zutage treten. Die Uraufführung des Methusalem fand am 13. Oktober 1924 im Berliner Dramatischen Theater statt47. Göll, der der Premiere beigewohnt hatte, berichtete über seine Eindrücke bereits am folgenden Tag. Dieser Brief an seine Frau in Paris, dessen wesentliche Teile hier folgen, enthält zugleich einige reizvolle Beobachtungen aus privater Sicht, Notizen zum Berliner Theaterleben der zwanziger Jahre: »Mein ferner Engel, Also wirklich ein Erfolg, gestern abend. Sechsmal herausgerufen. Viel gelacht, immer wieder während des Spiels geklatscht. Der Regisseur Neubauer ein Dichter. Ein phantastischer Oberösterreicher, der eine so feurige Leidenschaft an den Tag legte, daß er es bei Kiepenheuer erwirkt hat, daß die Aufführung in Wien unterbunden wurde (Jannitzer die Urauff.[ührung] hatte!): ein rabiater, sanguinischer Kerl — und ich kann nicht böse sein! E r hat den Methusalem wunderbar gemacht. Den Traum — die Dreigestalt — das Duell — prächtig, und ununterbrochen, in den Pausen und oft während des Spiels [,] Jazzbandmusik. Bewegung, Bewegung. Und doch hast Du nichts verloren (mit Ausnahme des Stückes) [,] nicht beigewohnt zu haben. Ich saß ganz verkrochen in einer Loge. Ganz allein. Ich sah fast niemand. Nachher gingen 10 Menschen: Kiepenheuer, die beiden Angermayers, Arnolt Bronnen, Neubauer [,] der Regisseur [,] und seine Frau und etliche junge Leute zu Dressel [. . .] [PS] Kaiser ist noch nicht nach Berlin gekommen, seinem Prinzip treu, nicht ins Theater zu gehen. Angermayers sind wirklich sehr lieb. Dieterle feindlich, ärgert sich über Methusalem: ich weiß eigentlich noch gar nicht, welchem Umstand ich diese 46

Die schöne Literatur, Jg. 24, Nr. 15 (1. August 1923), S. 29if. Eine von Otten (Schrei und Bekenntnis, S. 988) vermerkte Uraufführung, die 1922 im Königsberger Neuen Schauspielhaus stattgefunden haben soll, konnte nicht ermittelt werden. Vgl. Königsberger Hartungsche Dramaturgie. 150 Jahre Theaterkultur im Spiegel der Kritik, hg. von E. K. Fischer, Königsberg 1932. 47

Zur Wirkungsgeschichte

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schnelle, fast plötzliche Aufführung verdanken soll. Konkurrenz mit Wien? [.. .]« A M 15. Oktober, in einem weiteren Brief an C L A I R E G Ö L L , geht der Dichter dann auf das Echo der Kritik ein und fügt eine bemerkenswerte Beobachtung über die offensichtlich verspätete Wirkung des Stückes hinzu: »Was soll ich mit diesem schönsten aller Herbste anfangen ? Der die goldenen Blätter und die tausend Zeitungen auf den Damm schüttet, in denen nur von Göll und Methusalem und Z. R. III. [ ?] geschrieben steht. Die wichtigsten habe ich Dir geschickt : Kerr ganz sonderbar famos, 8 Uhr Abendblatt, das einen Werfel aus mir macht. Heute folgen Vorwärts mit einem Hymnus, aber auch die wunderbarsten Unflätigkeiten der reaktionären Presse, über die Du mehr lachen wirst als über Methusalem selber. Leider hat Ihering nicht geschrieben, Faktor ist streng. Alles in allem fühle ich, daß das Stück eben doch 4 Jahre zu spät kommt: die meisten Pointen sind hier abgeschliffen. Berlin wundert sich über nichts mehr, ist mit allen Abspülwassern gewaschen [. . .]« Es ist verständlich, daß Göll mit der »sonderbar famosen« Rezension des damals mächtigsten Mannes der Berliner Theaterkritik zufrieden war. Wir drucken K E R R S Kritik (aus dem 8 Uhr Abendblatt vom 14. Oktober 1924) ungekürzt ab, da sie in dem von G. F. H E R I N G besorgten Auswahlband seiner Rezensionen nicht enthalten ist. »Ein satirisches Mittelding zwischen Plakat, Varieté, Kino. Hingehauener Ulk eines Angeekelten. Gelacht wurde viel. Es war ein Erfolg — bei dem Publikum der ersten Aufführung. I. Ein begabter Kerl hat hier Fetzen, Einfälle, Brocken, Flocken, Schnitzel, Splitter hingeschmettert — worin sein Ekel vor der Bürgerwelt (offenbar um etwas Neues zu bieten?) sehr ulkig, roh, sorgenfrei, zusammenhanglos gellt, bumst, wiehert, knallt, rülpst und —. Man lacht oft entsetzlich. II. Der Protzfabrikant Methusalem; die Gans-Gattin; eine zum Krähen lyrische, rosa Tochter (ihr Kind kriegt sie von dem russisch-jüdischen Studenten im vierten Stock); der quatschige Verkehr des Hauses; Technik der Neuzeit; aktiver Kubismus; Geschäft : alles da. 6«

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Splitter, Schnitzel, Brocken, Flocken, Trümmer, Einfälle, hingeschmettert. Ein Stegreifstück. III. Aber sieh: das Buch hat zu alledem ein Vorwort. (Jean Paul sagt: 'Die Deutschen versehen ein Epigramm mit einer Vorrede — und ein Madrigal mit einem Sachregister'. Dabei ist Göll, Iwan, kein Urdeutscher; sondern schreibt auch französisch. Was keinen Nachteil bildet.) In jedem Fall: auf die zwei Seiten des Vorworts ist mehr Sammlung verwendet als auf das Drama. IV. Sogar Begründungen. Nämlich so : 'Alogik ist heute der geistigste Humor . . .' Denn Alogik, im Drama, peitscht und verdrischt 'die mathematische Logik und selbst die Dialektik in ihrer tiefsten innerlichsten Verlogenheit' — sagt er, dialektisch und logisch . . . Ohne den Zusatz, daß Alogik auch etwas nicht Unbequemes ist. Ich muß hier eine Bemerkung äußern. Bequem ? Daß eine Sache bequem ist, zeugt noch nicht wider sie. Höchstens, daß sie dadurch leicht erlangbar; also dadurch wiederum leicht abgegriffen wird; — nicht ? Mit einem Worte : die Gefahr des Bürgerlichen d r o h t . . . V. Göll ist, jenseits vom Hingehauenen, ein feiner Geist. E r hatte den witzigen Einfall: ein Stück von Georg Kaiser an Lugné-Poe in Paris zu empfehlen. Das Werk (auch diesmal ungekonnter Sardou, letztmodernisiert) erfuhr einen Abfall, wogegen jener der Niederlande nichts war. So griff Göll klärend in die Literaturgeschichte. VI. Im Ernst: er braucht nur auf all seine Dramenschaft soviel Dämmung zu wenden wie auf seine Prosa — und er kommt mehr zu seinem Besten; zu sich. Vorläufig gibt er ein vorläufiges, ein mutiges, gelächterhaltiges Plakat. Man könnte das zweimal sehen. Denn es wird, in der Leistung durch Herrn Friedrich Neubauer, sehr klappend, sehr wirkend, sehr kullersam dargestellt. In aller Parodie. In allem Husch. In allem Varieté. In allem Kintopp. In allem Bumms. In aller Kummerlosigkeit . . . Es ist auf die Alogik viel Fleiß verwandt.

Zur Wirkungsgeschichte

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VII. Von Julius E . Hermann; von Goerling; von Meyerinck; von der Tochter: Liesl (!) Neumann, mit kennenswürdigem rosa Gebein und einem Courths-Mahler-Schild; von Froehlich; Franck; Sebald; Unda; Finkh; Wengler; Hegyi; Theo Götz; sind es jetzt alle? Keiner stört — weil sie sämtlich das Parkett stören. Dazu futuristische Bilder von Boht. Die sichtbare Form stammt vom Expressionismus, den man nicht mehr trägt. Auch die hörbare Gölls. E r zeigt hier noch Bubenkopf — indes man längst wieder Mittel zur Beschleunigung des Haarwuchses verkauft.« Wie man sieht, war auch K E R R der Ansicht, daß das Stück in gewissem Sinne zu spät komme. Diese Meinung teilt H A N S K N U D S E N ; aber während K E R R durchaus Verständnis für die Eigenart des Werkes zeigt, lehnt K N U D S E N den Methusalem in Bausch und Bogen als »Klamauk, Rummel« und »dadaistisches Getue« ab. »So bleibt«, schließt seine Besprechung, »Iwan Gölls 'satirisches' Drama 'Methusalem' eine mit Unsauberkeiten durchsetzte Dreistigkeit, und dem Theater, das sich ein 'Dramatisches' nennt, sollte, trotz aufdringlicher Claqueure, klar sein, daß es einen noch tieferen Abstieg nicht mehr gibt 48 .« Eine Zwischenstellung nimmt J U L I U S B A B ein. E r erkennt sehr genau die Besonderheiten des Stückes, bedient sich aber bei der Bewertung letztlich doch ungemäßer Kriterien. BAB urteilt folgendermaßen: »Oder Göll schreibt eine Philistersatire 'Methusalem', in der die Figuren so weit wie möglich den maschinenartigen Geschöpfen angenähert werden, wie George Groß sie zu zeichnen pflegt. Es gibt nur lauter unförmige Marionetten, die automatisch ihre Stichworte abrollen, ohne aufeinander irgendwelche Rücksicht zu nehmen. (Der bei Wedekind entstandene Dialog des aneinander Vorbeiredens erreicht hier seine äußerste Ausprägung.) Ein Apparat, der aufgezogen wird, um Mikoschwitze aufzusagen, unterscheidet sich von den sogenannten Menschen des Stücks nur noch ganz wenig. Ein Jüngling, der mehrere verschiedene Seelen in seiner Brust trägt, tritt auch in drei gleich aussehenden Figuren auf, die numeriert sind und einander kräftig widersprechen. Und es ist schließlich nur konsequent, daß es gar nichts ausmacht, wenn eine von diesen Figuren stirbt — sie haben ja keinen Geist aufzugeben, sie können also in der nächsten Szene ruhig wiederkommen. Der bloße Typ ist an sich ja unsterblich. 48

Die schöne Literatur, Jg. 25, Nr. 11 (15. November 1924), S. 441.

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— Das sind alles gar keine schlechten, gar keine unbedeutenden Witze, aber es sind eben bloß Witze, reine Verstandesprodukte, von keinem Lebensgefühl miteinander verbunden. Und wenn man in mechanischer Aneinanderreihung anderthalb Stunden solche Witze an sich vorbeiziehen lassen muß, so wird man todtraurig. Es gibt bekanntlich auch keine fürchterlichere Strafe, als einen Jahrgang des vortrefflichsten Witzblattes hintereinander auslesen zu müssen49.« Im März 1927 brachte J E A N P A I N L E V É , unterstützt von einer Gruppe avantgardistischer Künstler, den Methusalem im Pariser Theater Saint Michel heraus. Es ist nicht uninteressant, daß in dieser Inszenierung auch der Begründer des »Theaters der Grausamkeit«, A N T O N I N A R T A U D , mitwirkte. Die Aufnahme des Werkes scheint freilich nicht viel anders gewesen zu sein als in Berlin; auch in Paris lehnte die reaktionäre Presse den Methusalem scharf ab. II. In den dreißiger Jahren begann es aus naheliegenden Gründen um das Stück still zu werden. Dieses Schweigen, zu dem übrigens auch Gölls künstlerische Entwicklung beigetragen haben mag, dauerte drei Jahrzehnte und war so vollständig, daß der italienische Kritiker I. A. C H I U S A N O noch 1964 von einer »riscoperta recente« sprechen konnte. Nicht zufällig war es in Frankreich, wo man sich zuerst wieder auf Gölls Stück besann. Daß diese Wiederentdeckung mit dem Aufkommen des absurden Theaters seit Anfang der fünfziger Jahre zusammenhängt, bezeugt R O B E R T K E M P , der über das Theaterschaffen Iwan Gölls schreibt : »Ce sont des fantaisies cocasses, mais intimement pénétrées des venins de la satire, des pièces qui, trente ans d'avance, annonçaient Beckett et Ionesco . . . Les mêmes propos interrompus, qui aboutissent à créer des personnages grotesques et hideux; le vieux bourgeois avare, conformiste, Mathusalem, fabricant de chaussures, parle avec son épouse, au début, exactement, et de la même façon, drolatique, irrésistiblement comique, dont dialogue le couple bourgeois de la 'Cantatrice' (Ionesco). Le succès qu'on fait à Beckett et à Ionesco, Göll, apparaissant aujourd'hui, l'obtiendrait et en serait aussi digne qu'eux50.« K E M P hat damit sowohl der französischen als auch der deutschen Kritik das entscheidende Stichwort geliefert. Die Artikel von R E N É F A R A B E T 6 1 und G E O R G E S S C H L O C K E R 5 2 — um nur zwei frühe 49

Julius Bab: Die Chronik des deutschen Dramas, V. Teil, Berlin 1926, S. 160. 50 Zit. bei Otten, Schrei und Bekenntnis, S. 41. 61 Combat, 11. 3. 1960. 63 Deutsche Zeitung, 5.5. i960.

Literatur (in Auswahl)

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Beispiele zu nennen — sind ganz auf diesen Ton gestimmt. »Nur hatte Göll, der Erfinder Ionescos, eines voraus, das heute nicht einzuholen ist«, gibt S C H L O C K E R zu bedenken: »Als er den Bürger verulkte, gab es ihn noch. Heute greift der Dramatiker Atrappen an, die vorgeben, echt zu sein. Daher denn auch häufig die Langeweile bei Ionesco, während bei Göll hinter allem Aberwitz ein Temperament gegen eine soziale und menschliche Realität steht.« Die seltene Einmütigkeit, mit der die Presse die Frankfurter Inszenierung von 1961 begrüßte, rundet die Wirkungsgeschichte des Methusalem fürs erste ab. E s gab bezeichnenderweise keine Kritik, die es unterließ, darauf hinzuweisen, wie sehr sich die moderne absurde Dramatik und Bühnenkunst in der Nachfolge Gölls bewege und wie wichtig das von ihm vorgezeichnete Muster für das Verständnis der jüngsten Avantgarde sei. Diese historische Einordnung bestätigt auch der immer wieder erwähnte I O N E S C O mit aller nur wünschbaren Deutlichkeit, wenn er zusammenfassend erklärt: »Peut-être continuons-nous, chacun pour sa petite part, la grande révolution artistique, littéraire, de la pensée qui a commencé vers 1915 ou 1920, qui n'est pas encore achevée et qui s'est exprimée dans les découvertes scientifiques nouvelles, les psychologies des profondeurs, l'art abstrait, le surréalisme, etc 53 .«

Literatur (in Auswahl) L'œuvre d'Yvan Göll, in: Yvan Göll. Quatre études par Jules Romains, Marcel Brion, Francis Carmody, Richard Exner [Poètes d'aujourd'hui 50], Paris 1956. (Hinweis auf den bahnbrechenden Einfall Gölls, in das Bühnenspiel filmische Projektionen einzugliedern.) CHIUSANO, I T A L O A L I G H I E R O : II teatro tedesco dal naturalismo all' espressionismo (1889—1925), Bologna 1964. (Würdigt das Stück innerhalb einer kurzen Charakteristik des Go/Zschen Gesamtwerks.) D E N K L E R , H O R S T : Das Drama des Expressionismus im Zusammenhang mit den expressionistischen Programmen und Theaterformen, Diss. Münster 1963. (Bringt wichtige Beobachtungen zur Figur des Methusalem und hebt den »filmischen« Charakter des Stückes hervor.) E S S L I N , M A R T I N : The Theatre of the Absurd, London 1961 [dt.: Das Theater des Absurden, Frankfurt am Main 1964]. (Enthält wertvolle

CARMODY, F R A N C I S :

53 Eugène Ionesco: Notes et contre-notes, Paris 1962, S. 222. — Vgl. auch Chiusano, S. 205 : »Riscoprire Göll significa, per il teatro europeo, infarsi alla polla originaria di molti rivoli che scorrono ancor oggi con canora freschezza.«

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Hinweise auf die Tradition des »absurden« und modernen grotesken Theaters, als dessen Vorläufer J A R R Y , A P O L L I N A I R E , Coli u. a. gesehen werden. Ferner Bemerkungen zu Gölls Poetik des Dramas.) K E S T I N G , M A R I A N N E : Panorama des zeitgenössischen Theaters. 50 literarische Porträts, München 1962. (Das Go//-Kapitel gibt eine knappe, aber eindringliche Analyse des Methusalem. Im Hinblick auf den Dialog wird die Vorwegnahme der Stilmittel I O N E S C O S betont, das gesamte Werk als »Groteske auf den Bourgeois« charakterisiert.) K L A U S : Das Phänomen des Grotesken im neueren deutschen Drama, in: Sinn oder Unsinn? Das Groteske im modernen Drama [Theater unserer Zeit Bd. 3], Basel/Stuttgart 1962. (Treffende Bemerkungen über die grotesken Elemente des Stückes; im übrigen — darin den anderen Autoren gleich — allzu summarisch.)

VÖLKER,

INHALTSVERZEICHNIS Text

Seite

Vorrede von Georg Kaiser

5

Vorwort des Autors

7

Methusalem oder Der ewige Bürger

11

M a t e r i a l i e n zum V e r s t ä n d n i s des T e x t e s Editionsbericht

51

Zur Entstehungsgeschichte

54

Gattungsgeschichtliche Einordnung

57

Zur Analyse des Stücks

64

Zur Wirkungsgeschichte

81

Literatur (in Auswahl)

87

Ludwig Tieck's Schriften 28 Bände. Berlin 1828—1854 Originalgetreuer Nachdruck Oktav. Subskriptionspreis Halbleinen DM 620,—

Gotthold Ephraim Lessing Sämtliche Schriften Herausgegeben von K A R L L A C H M A N N 3., aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch F R A N Z M U N C K E R 23 Bände. 1886—1924. Nachdruck Oktav. Subskriptionspreis Ganzleinen DM 920,—

Lessing — Sein und Leistung v o n OTTO M A N N

2. Auflage. Klein-Oktav. 405 Seiten. 1961. Ganzleinen DM 22,—

Friedrich Hölderlin Sein Bild in der Forschung V o n ALESSANDRO PELLEGRINI

Unter freundlicher Mitwirkung des Verfassers ins Deutsche übersetzt von Christoph Gaßner Groß-Oktav. VI, 595 Seiten. 1965. Ganzleinen DM 84,—

W A L T E R DE G R U Y T E R & CO • B E R L I N 30

Q U E L L E N U N D F O R S C H U N G E N ZUR SPRACH- U N D KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER

Ludwig Tieck, „Der Heilige von Dresden" Aus der Frühzeit der deutschen Novelle V o n MARIANNE THALMANN

Groß-Oktav. Mit 2 Abbildungen. X, 194 Seiten. 1960. DM 24,—; Ganzleinen 27 — (NF. Band 3 [127])

Das Pathos in Schillers Jugendlyrik V o n WERNER KELLER

Groß-Oktav. X, 180 Seiten. 1964. Ganzleinen DM 26— (NF. Band 15 [139])

Max Frischs „Homo faber" Studien und Interpretationen V o n HANS GEULEN

Groß-Oktav. VIII, 103 Seiten. 1965. Ganzleinen DM 19,80 (NF. Band 17 [141])

Ethik und Ethos bei Grillparzer Denkerische Bemühung und dramatische Gestaltung V o n BERND BREITENBRUCH

Groß-Oktav. VI, 215 Seiten. 1966. Ganzleinen DM 34,— (NF. Band 18 [142])

WALTER D E G R U Y T E R & CO • B E R L I N 30

H U G O VON H O F M A N N S T H A L

Bibliographie des Schrifttums 1892—1963 Bearbeitet von

HORST WEBER

Groß-Oktav. XII, 254 Seiten. 1966. Ganzleinen DM 74 —

Es ist die Absicht dieser Bibliographie, die Fülle des in Europa und Übersee veröffentlichten Materials den Freunden und Kennern Hofmannsthals, wie dem Studenten und Doktoranden in Lesesaal und Seminar besser zugänglich zu machen, als dies bisher der Fall war. Das gesamte Material wurde annalistisch gegliedert und innerhalb der einzelnen Jahre alphabetisch nach Verfassern geordnet. Verzeichnet wurden alle Bücher, Dissertationen, Aufsätze, Zeitungsartikel, Besprechungen, Rezensionen der Sekundärliteratur, Texterklärungen und wichtigen Buchstellen in den europäischen Hauptsprachen. Drei Register ermöglichen einen raschen Überblick über das zu einem Thema vorliegende Schrifttum, über die Hofmannsthalschriften eines bestimmten Autors und schließlich über die in einer bestimmten Zeitschrift oder Zeitung erschienenen Beiträge. Eine dem Schrifttumsverzeichnis vorangestellte Liste der Erstausgaben und erläuterten Texte sowie ein Verzeichnis aller veröffentlichten Briefe und Briefwechsel Hugo von Hofmannsthals dienen als Verweis und Ergänzung.

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO • B E R L I N 30