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German Pages 227 [230] Year 2012
HEGEL-STUDIEN BEIHEFT 57
HEGEL-STUDIEN Herausgegeben von WALTER JAESCHKE UND LUDWIG SIEP Beiheft 57
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
METAPHYSIK UND METAPHYSIKKRITIK IN DER KLASSISCHEN DEUTSCHEN PHILOSOPHIE
Herausgegeben von MYRIAM GERHARD, ANNETTE SELL UND LU DE VOS
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2263-3 ISBN E-Book 978-3-7873-2264-0
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Walter Jaeschke Ein Plädoyer für einen historischen Metaphysikbegriff . . . . . . . . . . . .
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Claudia Bickmann Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrich Ruschig Metaphysik und Metaphysikkritik bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Peter Jonkers Jacobi und die kahlen Reste der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Rainer Schäfer Die Gigantomachie von Idealismus und Realismus in der Frühphilosophie Fichtes und Schellings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
Johann Kreuzer »und das ist noch auffallender transzendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten«: Hölderlins Kritik der intellektuellen Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
Klaus Erich Kaehler Hegels Kritik der Substanz-Metaphysik als Vollendung des Prinzips neuzeitlicher Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Myriam Gerhard Logik als Metaphysikkritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
161
6
Inhalt
Christian Krijnen Metaphysik in der Realphilosophie Hegels? Hegels Lehre vom freien Geist und das axiotische Grundverhältnis kantianisierender Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lu De Vos Das Verschwinden der Metaphysikkritik beim späten Schelling . . . . .
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Einleitung
Keine Darstellung der Philosophiegeschichte wird auf die traditionsreiche Disziplin der Metaphysik verzichten können. Selbst denjenigen Philosophen des 20. und 21. Jahrhunderts, die jegliche metaphysische Betrachtung für sinnlos bzw. obsolet halten, erscheint ein Streit über die ehemalige, historische Bedeutung der Metaphysik nicht der Rede wert zu sein. Dies gilt, solange die Geschichte der Metaphysik als ein abgeschlossenes Kapitel der Philosophie verstanden wird. Der in gewissen Strömungen der Philosophie des 20. und auch noch des 21. Jahrhunderts übliche plakative oder gar pejorative Bezug auf metaphysische Fragestellungen, bisweilen auf die gesamte Disziplin der Metaphysik, gefällt sich dementsprechend in entschiedener Metaphysikkritik. Der Begriff der Metaphysik bleibt dabei häufig unbestimmt und leer. Zu dieser Entleerung haben mindestens drei Vorwürfe beigetragen. Der erste ist eher geschichtlicher Art und behauptet, dass Metaphysik keine exakte Erkenntnis sei und von den sogenannten Wissenschaften oder der Praxis überboten werden könne; der zweite, kontinentalphilosophische meint, dass sie eine Grundtendenz der Philosophie der Präsenz repräsentiere bzw. nur eine Vorstellungsart des Denkens sei. Der dritte, eher analytische Vorwurf lautet, dass Metaphysik eine zu korrigierende Aberration darstelle, sofern sie von der Normalverwendung der Sprache oder des Denkens abweiche. Jede Metaphysikkritik verweist dementsprechend auf einen Begriff von Metaphysik, der seinerseits einer kritischen Überprüfung zu unterziehen ist. Dass Metaphysik und Metaphysikkritik nicht entgegengesetzt sind und einander wechselseitig ausschließen, sondern notwendig aufeinander bezogen sind, macht den Kern der diesem Band zugrundeliegenden These aus. In kaum einer »Epoche« der Philosophiegeschichte zeigt sich diese Verwebung von Metaphysik und Metaphysikkritik derart deutlich wie in der Klassischen Deutschen Philosophie, der oftmals ein Rückfall hinter die Kantische Kritik der reinen Vernunft vorgeworfen wird. Als ein Hauptvertreter der Metaphysik wurde und wird sicherlich G. W. F. Hegel gesehen, der von Heidegger auch als »Vollender der Metaphysik« bezeichnet wird. Wird die philosophiegeschichtliche Situation um 1800 genauer betrachtet, so zeigt sich, dass Hegel selbst die alte bzw. tradierte Metaphysik einer scharfen Kritik unterzieht. Einerseits ist er der Auffassung,
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Myriam Gerhard · Annette Sell · Lu De Vos
dass schon Kant die Metaphysik mit »Stumpf und Styl« ausgerottet habe, andererseits bedauert er, dass es nun in der Philosophie ohne jede »ächte« oder »eigentliche« Metaphysik zu- und weitergehe; diese Metaphysik wird dann aber als Logik und nicht mehr als herkömmliche Metaphysik programmatisch und inhaltlich gekennzeichnet. Seit Aristoteles wird Metaphysik der Sache nach als zweistufiger Begriff aufgefasst. Metaphysik ist einerseits Lehre vom Seienden als solchen, und sie ist zugleich Lehre der Ursache oder Prinzipien des Seienden und damit vielleicht auch schon Lehre des höchsten Seienden. Wie beide Aufgaben zueinander gehören, als Teile derselben Aufgabe oder als unterschiedene und zugleich zusammengehörende Untersuchungen, ist nicht nur eine Frage der Interpretation der Lehre des Aristoteles, sondern die Frage bildet zugleich eine grundlegende Streitfrage der Geschichte der Metaphysik selbst. Ob es nur Eine Metaphysik gebe, die sich hierarchisch im Hinblick auf eine grundlegende Entität gliedert, oder man zwischen einer allgemeinen und einer spezifischen Lehre des Seienden unterscheiden könne und die besonderen Fragen – so dieser Standpunkt – von der vorherigen Bestimmung der einsehbaren Prinzipien oder der Erkenntnislehre (oder der Vernunft) abhängig seien, ist Gegenstand der Diskussion in der jeweiligen Metaphysik. Kant, dem es nicht um die empiristische, materialistische oder vulgärskeptische Vernichtung der Metaphysik geht, ist der erste und wichtigste Vertreter einer Metaphysikkritik, die nicht bloß als Naturanlage der Vernunft, sondern als gesicherte Wissenschaft auftreten möchte; ihm scheint es um die Verbesserung und die Reform beider Teildisziplinen zu gehen. Kant weist in seiner Kritik die alte allgemeine Metaphysik in ihre Schranken, und er entzieht der vorhergehenden, besonderen Metaphysik die Grundlage, sofern sie theoretische Leistungen erbringen möchte. Mit Beginn der Kritik und sobald Erkenntnisresultate allein aus der Vernunft heraus als einzigem Prüfstein gesichert werden, der sich zuverlässig und allgemeingültig als philosophische Instanz ergibt, heißt Metaphysik ohne Kritik »dogmatische« oder bloß behauptende Metaphysik. Obwohl für Kant im Hinblick auf die praktische Philosophie metaphysische Gegenstände eine große Rolle spielen, konnte die Metaphysik nicht mehr auf herkömmliche Weise gedacht werden. Die alte Metaphysik ist nach Kants fundamentaler Kritik zu einer »vormaligen« geworden. Diese wiederaufzunehmen ist für Philosophen selbst nach dem Atheismusstreit, der die Rede vom Absoluten wieder salon- oder hörsaalfähig machte, keine ernstzunehmende Option mehr. Was alle Philosophen nachher dennoch kritisch befragt haben, ist der Status des von Kant für grundlegend gehaltenen Denkens oder der transzendentalen Einheit. Weil diese Einheit eine Einheitskonzeption beansprucht, erfordert sie möglicher-
Einleitung
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weise erneut eine »metaphysisch« ausgerichtete »einheitliche« Denkleistung; weil sie aber ein Denken bleibt, ist sie nicht mehr auf ein letztes Seiendes gerichtet und kann auch keine eigene, unabhängige Existenz für sich beanspruchen. Die Bestimmung dieser Einheit zwischen einer allgemeinen und einer besonderen Metaphysik wird zu einer Grundfrage der nachkantischen Philosophie. Wie kann ein existierender Gedanke gefasst werden, der einzig ist, jedoch keine unabhängige Existenz hat? Stellt er eine bloße Aktivität oder Handlung (KRV B §§ 16 oder 20) dar, und welche Gliederung weist diese dann auf? Oder ist dieser Gedanke schon ein absolutes Ich, und wie verhält sich dieses zu einem nicht absoluten Ich und zum Absoluten selbst, das in seiner negativen Begrenzung angedeutet wird? Oder ist mit ihm das Denken in einer bestimmten Form gemeint? Als Ergebnis dieser Überlegungen kann festgehalten werden: Ohne allgemeine Metaphysik (wenigstens in der Form einer Kategorienlehre) ist keine philosophische oder allgemeinverständliche Rede möglich. Wie diese auszusehen hat, ist aber seit Kant umstritten. Was von der besonderen Metaphysik darüber hinaus noch »gerettet« werden kann, ist schwieriger auszumachen: Gibt es noch ein moralisches Absolutes? Oder muss jeder Gedanke eines Absoluten schon von vornherein eine konkrete Gestalt, wie die Ästhetik, die Religion oder den Geist im Allgemeinen, annehmen? Wie verhält sich die Metaphysik zur Transzendentalphilosophie oder Wissenschaftslehre und wie zur Identitätsphilosophie, die beide schon vor Hegels Konzeptionen entfaltet wurden? Eine Tagung, die im Dezember 2009 an der Ruhr-Universität Bochum stattfand, widmete sich diesen Fragen im Hinblick auf die Zeit zwischen 1781 und 1854, d. h. zwischen der 1. Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« und dem Tode Schellings. Annette Sell vom Hegel-Archiv Bochum, Myriam Gerhard von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Claudia Bickmann von der Universität Köln und Lu De Vos als Vorstandsmitglied des »Centrums voor Duits Idealisme« organisierten diese Tagung, deren Ziel es war, das Bewusstsein in der philosophischen Öffentlichkeit dahingehend anzuregen, nicht mehr selbstverständlich von der Metaphysik des Deutschen Idealismus zu reden, sondern gerade in dieser Periode das verstärkte Problembewusstsein der Philosophen in Bezug auf die Metaphysik zu beleuchten, so dass ein differenzierterer Blick auf das, was Metaphysik bedeutet, was sie leisten oder nicht mehr leisten kann, ermöglicht wird. Oldenburg, Bochum, Leuven, im Frühjahr 2012 Myriam Gerhard, Annette Sell, Lu De Vos
Ein Plädoyer für einen historischen Metaphysikbegriff Walter Jaeschke
I. (1) Hegel hat sich, denke ich, lange und reiflich überlegt, warum er den grundlegenden Teil seines Systems nicht »Metaphysik«, sondern »Wissenschaft der Logik« nennt. Dieser Ansicht ist er bekanntlich nicht stets gewesen. Vielmehr bezeichnet er in seiner ersten Systemskizze die Metaphysik als die ›eigentliche Wissenschaft der Idee‹, während er der Logik – als dem ersten Systemteil – die Aufgabe zuweist, in das System einzuleiten. Über die Aufgaben der »Logik« äußert er sich bereits vergleichsweise präzise, über den Inhalt dieser ersten Metaphysik hingegen nur sehr vage – so zumindest nach Auskunft der recht dürftigen Überlieferung im Fragment »Logica et Metaphysica« aus dem Winter 1801/02: Die Metaphysik habe »das Princip aller Philosophie vollständig zu konstruieren«, und »aus der wahren Erkenntniß desselben, wird die Überzeugung hervorgehen, daß es zu allen Zeiten nur Eine und eben dieselbe Philosophie gegeben hat«. Seinen Hörern verspricht Hegel damals ausdrücklich nichts Innovatives, sondern lediglich, »das älteste Alte herzustellen; und es von dem Misverstande worein die neuern Zeiten der Unphilosophie es begraben haben, zu reinigen; es ist noch nicht lange Zeit, daß in Deutschland wieder auch nur der Begriff der Philosophie erfunden worden ist, aber seine Erfindung ist auch nur für unsere Zeiten neu; es muß wenn man will, für einen Probierstein ächter Philosophie gelten, ob sie sich in der wahren Philosophie erkennt.« Doch was der Inhalt dieser »wahren« sei, lässt Hegel zumindest in den überlieferten Fragmenten ungesagt. Statt dessen verspricht er noch, »von diesem höchsten Princip aus« »die Möglichen Systeme der Philosophie« zu konstruieren, danach »das Gespenst des Skepticismus … dem Tage [zu] zeigen« und schließlich mit der Darstellung »des Kantischen und des Fichteschen« Systems der Philosophie fortzufahren – und übrigens nicht etwa wegen der grundlegenden Bedeutung Kants, sondern weil sein System, »wenn es auch nun keine bedeutende Anhänger mehr hat, doch noch in andern Wissenschafften stark grassirt«.1 1
G.W.F. Hegel: Logica et Metaphysica. – In: G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 5. Hrsg. von Manfred Baum/Kurt Rainer Meist. Hamburg 1998, 274 f.
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Walter Jaeschke
Diese Äußerungen sind mittlerweile so bekannt, dass man sich geniert, an sie zu erinnern. Doch gibt es noch einen zweiten – und gewichtigeren – Grund, sich zu genieren: ihre gedankliche Dürftigkeit. Während Hegel in der Vorlesung »Introductio in philosophiam« zur gleichen Zeit eine erste Systemskizze vorträgt, die – trotz einiger Modifikationen – die Ausbildung seines Systems in den folgenden drei Jahrzehnten präformiert, weiß er über die angekündigte Metaphysik inhaltlich so gut wie nichts zu sagen – und das Wenige, was er doch sagt, hätte er besser ungesagt gelassen. »Si tacuisses«, möchte man ihm zurufen – und dies nicht allein wegen des Wolkendunstes, in den er hier »das älteste Alte« sorgfältig einhüllt, sondern ebensosehr wegen der Schnoddrigkeit, mit der er – mit leeren Taschen – über Kants Philosophie spricht, und insbesondere wegen der Unbedenklichkeit, mit der er glaubt, Kants Metaphysikkritik zur Seite wischen und eine nachkritische Metaphysik entwerfen zu können. Dass zudem die beabsichtigte Entblößung des Gespenstes des Skeptizismus angesichts seiner zuvor eingeführten Unterscheidung von Logik und Metaphysik eher auf die Seite »der negativen, oder vernichtenden Vernunft« gehört hätte, also in die Logik, dürfte ihm schwerlich entgangen sein, und Gleiches gilt für die angekündigte Darstellung der Systeme Kants und Fichtes. Ohne diese beiden Fremdkörper im Reiche der Metaphysik hätte sie jedoch lediglich den Kult des ›ältesten Alten‹ umfasst – und dies hätte ihre Attraktivität wohl vollends ins Bodenlose sinken lassen. (2) Zwei Jahre später, im »Systementwurf I«, trägt Hegel erneut über Metaphysik vor – doch ist wegen der fragmentarischen Überlieferung dieses Entwurfs nichts über ihre Ausgestaltung bekannt – ausser einem, in einen Satz gedrängten Rückblick vom Beginn der Geistesphilosophie dieses Entwurfs. Dort heisst es, der erste Systemteil – Logik und Metaphysik – »construirte den Geist als Idee; und gelangte zu der absoluten Sichselbstgleichheit zur absoluten Substanz«2. Erst der folgende »Systementwurf II« bietet einen Einblick in Hegels Jenaer Konzeption der Metaphysik, zumal diese – im Unterschied zur Logik dieses Entwurfs – vollständig erhalten ist. Hierdurch werden aber auch die Schwierigkeiten der Konzeption einer Metaphysik nach Kant augenfällig. In ihrem ersten Teil behandelt Hegel unter dem Titel »Das Erkennen als System von Grundsätzen« die Sätze der Identität, des ausgeschlossenen Dritten und des Grundes – somit Inhalte, die ihren Platz traditionell in der Logik haben, zuletzt in Kants transzendentaler Logik im »System aller Grundsätze des reinen Verstandes«3 – und auf dieses Kantische 2
G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 6. Hrsg. von Klaus Düsing und Heinz Kimmerle, Hamburg 1975, 268. 3 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (KrV). Hrsg. v. R. Schmidt. Hamburg 1956.
Ein Plädoyer für einen historischen Metaphysikbegriff
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Lehrstück spielt ja auch Hegels Titel an. Er ordnet diese Thematik jedoch – als ihren ersten Teil – der Metaphysik zu – mit dem wenig überzeugenden Argument, dass die für die Logik charakteristische Form der in unser Bewusstsein fallenden, sich bewegenden Reflexion hier verabschiedet und das Erkennen in diesen Grundsätzen auf sich selbst bezogen sei.4 Besonders deutlich lässt der zweite Teil der Metaphysik ihre ambivalente Stellung gegenüber der vormaligen, vorkritischen, hervortreten. Er führt zwar den neuartigen Titel »Metaphysik der Objectivität«, folgt aber – mit den Themen Seele, Welt und »höchstes Wesen« – strikt dem Aufbau der vorkantischen »metaphysica specialis«. Doch die Ausgestaltung dieses vorgegebenen Rahmens dementiert den plakativen Traditionsbezug aufs Schärfste, und Hegels Übergang vom zweiten zum dritten Teil, von der »Metaphysik der Objectivität« zur »Metaphysik der Subjectivität«, vom »höchsten Wesen« zum theoretischen und praktischen Ich zerstört vollends die systematische Funktion der früheren metaphysica specialis. Hegel überführt die metaphysischen Themen der inneren Unwahrheit: Die Wahrheit des »höchsten Wesens« ist das Ich; denn für die Monade, und mehr noch für das »höchste Wesen«, ist das Andere nur die Negation; für das Ich hingegen »ein dem Ich gleiches«. Die Darstellung der Metaphysik ist bereits hier zugleich ihre Kritik. (3) Der »Systementwurf II« ist der erste Entwurf, dessen Überlieferung ausführlichen Einblick in die Differenz der frühen Logik und Metaphysik Hegels erlaubt – und er ist zugleich der letzte, der diese Differenzierung durchführt. Bereits in den Skizzen von 1801/02 wirkt die traditionelle, schon durch Kant ausgehöhlte Unterscheidung beider Disziplinen künstlich, und sie ist auch dort schon terminologisch partiell durchbrochen. Die Ausgestaltung beider Disziplinen im ausgeführten »Systementwurf II« lässt dann entgegen Hegels ursprünglicher Absicht offenkundig werden, dass Logik und Metaphysik weder methodologisch noch inhaltlich von einander zu scheiden sind. Doch wenn die Annahme einer Methodendifferenz entfällt, lässt sich auch die inhaltliche Trennung der Disziplinen nicht aufrecht erhalten. Ihre Vereinigung ist aber nicht – wie dies gern geschieht – als Zusammenwachsen zu beschreiben, sondern als Zerfall der – ohnehin von Beginn an verkümmerten – »Metaphysik« und als Inkorporation ihrer materialen Relikte in andere Disziplinen. Hegel zieht nun die Konsequenzen aus dem durch Kant heraufgeführten Ende der Metaphysik. Der erste Teil seiner damaligen »Metaphysik«, das »System von Grundsätzen«, ist traditionell ohnehin Bestandteil der Logik, 4
G.W.F. Hegel: Logik, Metaphysik, Naturphilosophie. – In: G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 7. Hrsg. von Rolf-Peter Horstmann/Johann Heinrich Trede. Hamburg 1971, 128–138.
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Walter Jaeschke
später wird dieses »System« seinen systematischen Ort in der »Wesenslogik« finden. Wegen des Zerfalls, wegen der ›inneren Auszehrung‹ der »Metaphysik« bezeichnet Hegel die aus diesem Prozess resultierende Wissenschaft als »Logik« – obgleich er bis zum »Systementwurf II« der »Metaphysik« den systematischen Primat gegenüber der »Logik« zugewiesen hat. Doch schon in der Bezeichnung dieses Kollegs wie auch in der Ankündigung eines folgenden dominiert die Bezeichnung »Logik«. Und während die Thematik der »Metaphysik der Subjectivität« später in die »Philosophie des Geistes« wandert – wenn auch mit Ausstrahlung auf den Begriff der »absoluten Idee« –, ist dem Zentrum seiner Jenaer »Metaphysik«, der in Anlehnung an die metaphysica specialis konzipierten »Metaphysik der Objectivität«, im späteren System kein Weiterleben beschieden. Folgerichtig ist in Hegels nächsten Entwürfen der ›Ersten Philosophie‹ – aus der Nürnberger Zeit – vom ersten Anfang an von »Metaphysik« nicht mehr die Rede: Die Logik hat die Nachfolge der vormaligen Metaphysik angetreten. Dies ist das Resultat eines Lernprozesses, vielleicht ja gar eines schmerzhaften Lernprozesses, der sich über etwa fünf Jahre hinzieht. (4) Hegels Selbstverständnis zu Folge setzt seine Philosophie das »Ende der Metaphysik« als ein Ereignis der Philosophiegeschichte voraus. Seine Rede vom »Ende der Metaphysik« ist keineswegs nur kokettierend gemeint. Selbst in seinem Privatgutachten an Niethammer über seine gymnasiale Lehrtätigkeit von 1812 schreibt Hegel, angesichts der starken Präsenz der Logik in seinen Kursen scheine die Metaphysik »leer auszugehen« – doch sei sie »ohnehin eine Wissenschaft, mit welcher man heutiges Tags in Verlegenheit zu seyn pflegt.« Nach seiner Ansicht falle »ohnehin das Metaphysische ganz und gar« in das Logische – und schon Kants Kritik reduziere »das seitherige Metaphysische in eine Betrachtung des Verstandes und der Vernunft.«5 Ich kann nicht gut umhin, auch hier zwei Zitate Hegels einzublenden, auf die ich mich bereits vor einiger Zeit in einem Vortrag mit ähnlicher Thematik gestützt habe: »Auch denen, welche sich sonst noch an das Aeltere halten, ist die Metaphysik zugrunde gegangen wie der Juristenfakultät das deutsche Staatsrecht.« »Es ist diß ein Factum, daß das Interesse theils am Inhalte, theils an der Form der vormaligen Metaphysik, theils an beyden zugleich verlohren ist.«6 Ein solches Interesse verliert sich jedoch nicht ohne Grund; der
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G.W.F. Hegel: Ueber den Vortrag der philosophischen Vorbereitungs-Wissenschaften auf Gymnasien. Privatgutachten an Immanuel Niethammer am 23. Oktober 1812. – In: G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 10.2. Hrsg. von Klaus Grotsch. Hamburg 2006, 825. 6 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. – In: G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 11. Hrsg.
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Interessenschwund ist deshalb nicht die Ursache, sondern die Folge und die Erscheinungsform des »Endes der Metaphysik« – also das Ende derjenigen Gestalt, die die Metaphysik in der rationalistischen Schulphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts gefunden hat – oder, um das Zitat fortzusetzen: Was vor Kants Kritik der reinen Vernunft »Metaphysik hieß, ist, so zu sagen, mit Stumpf und Styl ausgerottet worden, und aus der Reihe der Wissenschaften verschwunden.« Die Metaphysik ist also nicht allein »zu Ende gegangen«, als wäre sie eines natürlichen Todes gestorben, vielmehr ist sie – stilvoll – ausgerottet worden und deshalb aus der Reihe der philosophischen Wissenschaften verschwunden. Durch Kant und Jacobi sei, so Hegel weiter in der »Wissenschaft der Logik«, »die ganze Weise der vormaligen Metaphysik und damit ihre Methode über den Hauffen geworfen worden«.7 Und in seiner »Jacobi-Rezension« von 1817 verknüpft Hegel dieses schmähliche Ende ausdrücklich mit der spekulativen Logik: Es sei »das gemeinsame Werk J’s und Kants«, »der vormaligen Metaphysik nicht so sehr ihrem Inhalte nach, als ihrer Weise der Erkenntniß, ein Ende gemacht und damit die Nothwendigkeit einer völlig veränderten Ansicht des Logischen begründet zu haben.«8 »Metaphysik« ist für Hegel nur noch »vormalige Metaphysik« – eine vergangene Gestalt des Geistes. Die angemessene Frage nach ihr lautet nicht »Was ist Metaphysik«, sondern: »Was war Metaphysik?«
II. (1) Freilich: Dass Hegel zu dieser Einsicht gelangt, hat für sich noch keinerlei Verbindlichkeit, seine Sicht zu teilen. Doch bei seiner Einschätzung handelt es sich keineswegs – wie man vielleicht argwöhnen könnte – um eine Hegelsche Idiosynkrasie, vielleicht um das betrübliche Resultat seines Unvermögens in den Jenaer Jahren, die Disziplin »Metaphysik« inhaltlich überzeugend zu gestalten; es handelt sich auch nicht darum, dass Hegel hier wieder einmal, mit Schelling zu reden, das, »was seiner individuellen Natur gemäß und vergönnt ist, zum allgemeinen Maß aufrichten will«9 oder, mit Friedrich Schlegel, dass er hier erneut seine »Beschränkung eines absoluten Stumpfsinns für von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke. Hamburg 1978, 5. – Hegel an v. Raumer, 2. August 1816. – In: Briefe von und an Hegel. Hrsg. von J. Hoffmeister. Hamburg 31969. Bd. 2, 97. 7 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. – In: G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 12. Hrsg. von Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Hamburg 1981, 229. 8 G.W.F. Hegel: Friederich Heinrich Jacobi’s Werke. – In: G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 15. Hrsg. von Friedrich Hogemann und Christoph Jamme. Hamburg 1990, 25. 9 Schelling an K.J.H. Windischmann, 30. Juli 1808, HBZ 89.
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alles Göttliche« unter Beweis stellt.10 Trotz solcher Schmähungen ist Hegel mit seiner Einsicht ein Repräsentant der nachkantischen Generation. Dass sich das Schicksal der Metaphysik in der Sicht Jacobis nicht anders darstellt, ist ohnehin unstrittig. Aber auch Fichte sieht in dieser Entgegensetzung gegen die Metaphysik das Proprium der Transzendentalphilosophie. Übereinstimmend mit Kant leugne er »die Möglichkeit der Metaphysik gänzlich«; Kant rühme sich – zu Recht! –, die Metaphysik in diesem Sinne »mit der Wurzel ausgerottet zu haben, und es wird, da noch kein verständiges und verständliches Wort vorgebracht worden, um dieselbe zu retten, dabei ohne Zweifel auf ewige Zeiten sein Bewenden haben.«11 Sowohl Fichte als auch Hegel greifen also hier – unabhängig von einander – zu dem harten Wort »ausrotten«. (2) In der Retrospektive der Philosophiegeschichte stehen die beiden Jahrzehnte nach dem Erscheinen der »Kritik der reinen Vernunft« – negativ gesehen – im Zeichen der Metaphysikkritik, positiv gesehen im Zeichen der Transzendentalphilosophie. Deren zwar nicht zahlenmäßige, aber philosophische Dominanz beruht auf ihrer durchschlagenden Kritik der Metaphysik als eines Systems »reeller durch das bloße Denken hervorgebrachter Erkenntnisse«. Wer von »Metaphysik« reden will, darf diese mit eben so großem geschichtlichen Recht wie mit Emphase vorgetragene Diagnose ihres Endes nicht ignorieren – er muss vielmehr von ihr ausgehen. Ich schließe mich ihr ausdrücklich an: Die Ausrottung der Metaphysik ist das Resultat nicht etwa des viel zu spät kommenden Vormärz-Radikalismus, sondern der Aufklärung – vornehmlich der Metaphysikkritik Kants. Dies ist eine adäquate Einschätzung ihres faktischen Resultats und ihrer Wirkungsgeschichte – auch wenn Kants Intention damit fraglos nicht vollständig erfasst ist. Die »Kritik der reinen Vernunft« ist die definitive Kritik der traditionellen Metaphysik in ihrem gesamten Umfang. Unbarmherzig destruiert sie die rationale Psychologie mit ihrer Lehre von der Einfachheit und – daraus folgend – der Unsterblichkeit der Seelensubstanz, ebenso die rationale Kosmologie mit ihren antinomischen Aussagen über den Weltbegriff und schließlich die rationale Theologie wegen ihres illegitimen Übergangs vom höchsten Gedanken zur Existenz eines diesem Gedanken entsprechenden Wesens. Diese Kritik verbannt die 10
Friedrich Schlegel: Jacobi-Rezension (1822). KFSA VIII.595 bzw. in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812). Quellenband. Hrsg. von Walter Jaeschke. Hamburg 1994 (= Philosophisch-literarische Streitsachen. Bd.3/1, 419 f.). 11 Siehe Fichtes programmatisches, seinem Schreiben an Jacobi vom 22. April 1799 beigelegtes (und zu Hegels Zeit noch nicht veröffentlichtes) »Fragment«. – In: Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807). Quellenband. Hrsg. von Walter Jaeschke. Hamburg 1993 (= Philosophisch-literarische Streitsachen. Bd. 2/1), 60.
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metaphysica specialis aus dem Kreise der philosophischen Wissenschaften, und an die Stelle der metaphysica generalis, der früheren Ontologie, als einer rationalen Erkenntnis äußerer Gegenstände, setzt Kant die transzendentale Logik, als Erkenntnis nicht etwa transzendenter Gegenstände, sondern der internen Verfassung des Denkens. Und dass sich – einmal abgesehen von Kant und der kontinentaleuropäischen Tradition der Philosophie – von einer anderen philosophischen Tradition, vom englischen Empirismus oder gar vom ›Empirioskeptizismus‹ David Humes her, das »Ende der Metaphysik« ohnehin versteht, bedarf keines umständlichen Nachweises.
III. Historischer Begriff (1) Die Metaphysik, deren Ende Kant zu Beginn der Klassischen Deutschen Philosophie heraufführt, hat sich als eine – auf der Annahme der Einheit von Vernunft und Glauben basierende – Vernunfterkenntnis des Seienden verstanden – und nicht allein des Seienden als des Gegenstandes der Ontologie, sondern auch der Seele und Gottes – der Unsterblichkeit der Seele und der Persönlichkeit Gottes. Und Gott ist für sie nicht nur ein Gegenstand unter mehreren gewesen, und auch nicht allein ihr höchster Gegenstand, sondern ihr alles fundierendes, belebendes und organisierendes Prinzip. Der Gottesgedanke hat die Wahrheit der metaphysischen Erkenntnis verbürgt – doch damit er dies leisten konnte, sind im Gegenzug oft genug bedeutende und prominente Ansätze absichtlich so konzipiert worden, dass nicht der Gottesgedanke sie, sondern sie den Gottesgedanken gesichert haben, und zwar dadurch, dass die Entwürfe so angelegt waren, dass die Annahme der Existenz und des Wirkens Gottes die Bedingung der Evidenz der Systeme gewesen ist – ich erinnere hier nur an Malebranche und Berkeley, aber auch daran, dass es lange Zeit der gewichtigste, der ausschlaggebende Grund für die spätere Beliebtheit des Cartesischen ontologischen Dualismus gewesen ist, dass zu seiner Überbrückung der Gottesgedanke unverzichtbar und damit eben auch denknotwendig war. In diesem Wechselspiel von Fundierung durch den Gottesgedanken und Fundierung des Gottesgedankens hat die Metaphysik ihren Vorzug und ihre Ehre gesehen, und darauf hat ihr herausgehobener Rang als »Königin aller Wissenschaften« beruht, wie Kant schreibt. Doch – um einmal mit kühnem Griff Königsberg und Kopenhagen, Hans Christian Andersen und Immanuel Kant mit einander zu verbinden: Kant hat eben auch gesehen und ausgeplaudert, dass die Königin nackt ist – und seither ist sie für die weitere Ausübung ihres angestammten Herrschaftsrechts dauerhaft diskreditiert und disqualifiziert.
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(2) Nun mag man einwenden, dass alles dies zwar vielleicht richtig sei, doch damit nur eine spezifische, vermeintlich starke, in Wirklichkeit aber schwache Spielart von Metaphysik erledigt sei – vielleicht ja gar glücklicher Weise erledigt, weil Metaphysik nicht auf diese theozentrische Spielart begrenzt sei und beschränkt werden dürfe und vielmehr nun – nach ihrem glücklichen Ende! – alternative Formen von Metaphysik in den Blick kommen könnten. Diese Option scheint mir zwar logisch nicht auszuschliessen, aber wissenschaftspragmatisch illusionär zu sein. Sie verkennt, denke ich, die historische Schwerkraft philosophischer Begriffe: Sie lassen sich nicht beliebig von den historischen Konnotationen befreien, durch die sie geprägt und imprägniert sind – ob man dies nun erfreulich findet oder nicht. Ihre Geschichte hängt ihnen, mit einem Bild des jungen Hegel, wie Blei an den Füßen.12 Fraglos gibt es – altehrwürdige – Begriffe, die im Laufe ihrer langen Geschichte so different verwandt worden sind, dass sie jedem Versuch widerstehen, ihre Bedeutung strikt einzugrenzen; ein herausragender unter ihnen ist etwa »Idee«. Doch ist dies kein gutes Gegenbeispiel: denn die Bedeutungsvielfalt, die sich hier einer Vereindeutigung widersetzt, ist ja ebenfalls eine in unterschiedlichen Traditionen historisch gewachsene, fixierte und fixierende. Und auch bei Begriffen, die eine epochale Bedeutungsverschiebung erfahren haben – wie etwa der Begriff des »Subjekts« – zeigt sich: Solche Bedeutungsverschiebungen folgen nicht aus einem »Entschluß«; sie sind das Resultat einer langen und diffizilen Gedankenarbeit; es bedarf hierfür des Umdenkens von Generationen, ja von Epochen. Und solche Verschiebungen vollziehen sich um so schwerer, je fester geprägt die Bedeutung eines Begriffs zuvor ist. Die Metaphysik aber ist über Jahrhunderte eine mächtige, das Ziel und die Methode des Denkens bestimmende Gestalt gewesen, die sich nicht so mir nichts, dir nichts durch eine neue Gestalt und schon gar nicht durch eine Rückkehr zu Aristoteles substituieren läßt. Es bedürfte hierfür einer Gestalt, die der traditionellen Metaphysik hinreichend nahe stünde, um ihren Namen weiterzutragen, aber doch auch hinreichend von ihr entfernt wäre, um nicht in den Strudel ihres Untergangs hineingezogen zu werden. Und deshalb haben etwaige Versuche zur Revitalisierung der Metaphysik mit heftigem gedanklichen Gegenwind aus so ziemlich allen europäischen Himmelsrichtungen und Traditionen zu rechnen – freilich mit der einen Ausnahme, die ein derartiges Projekt aber auch nicht eben lukrativer macht. So mögen denn hie und da Privatmetaphysiken gehegt und gepflegt werden, und es mag hie und da der Wunsch bestehen, das »metaphysische Lampenlicht« da hinzuzuschalten, wo das »Lampenlicht des Religiösen« zur Erleuchtung und 12
G.W.F. Hegel: Frühe Schriften II. – In: G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Bd. 2.
Ein Plädoyer für einen historischen Metaphysikbegriff
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Erwärmung nicht ausreichen will. Damit ist nicht viel verloren, aber es ist damit auch nichts gewonnen.
IV. Befreiung (1) Doch wenn schon Gewinn und Verlust des Endes der Metaphysik angesprochen sind: Diese Bilanz scheint mir nicht schlecht auszufallen. Das Ende der – theozentrischen! – Metaphysik ist ja ein Moment in dem Syndrom, für das Nietzsche das Wort »Gott ist tot« geprägt hat – nur ein Moment, aber wegen der traditionellen Verknüpfung des Gottesgedankens und des Wahrheitsbegriffs doch ein wichtiges Moment. Nun ist es, wenn man das vollmundige Selbstverständnis der früheren Metaphysik für bare Münze nimmt und ihren intrikaten Konstruktionen folgt, nur konsequent, dass ihr Ende eben diejenigen Folgen nach sich ziehen müsse, die Nietzsche in seinem Aphorismus »Der tolle Mensch« so eindringlich vor Augen rückt: von der Loslösung der Erde von ihrer Sonne über die Verbreitung und Vertiefung von Nacht und immer mehr Nacht bis hin zum Versinken im europäischen Nihilismus. (2) Ich möchte hier jedoch nicht über solche epochalen Befürchtungen sprechen, sondern – gemäß dem Thema der Tagung – im Umkreis der Klassischen Deutschen Philosophie verbleiben – und im Blick auf sie ein durchaus anderes Bild zeichnen: Das Ende der Metaphysik ist als Befreiung empfunden worden – zumindest hat es sich auf die Philosophie befreiend ausgewirkt: nämlich zu Gunsten einer Umgestaltung und Erweiterung des Kanons der philosophischen Wissenschaften. Das Ende der Metaphysik läutet ja das Ende der Schulphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts ein – und dies bedeutet: Dadurch entfällt zum einen die strenge Begrenzung auf den traditionellen Kanon der metaphysischen Disziplinen; vor allem aber entfällt die an die Metaphysik als reine Vernunftwissenschaft geknüpfte systemstrukturierende Dualität rationaler und empirischer Disziplinen – und damit auch die Ausgrenzung der letzteren. Das »Ende der Metaphysik« gibt den Blick auf eine Wirklichkeit frei, die nicht mehr durch die Brille einer rationalen und empirischen Dualität gesehen wird und die ihren letzten Halt nicht mehr im Gottesgedanken findet. Selbst das Naturrecht bleibt von diesen Auswirkungen des Endes der Metaphysik nicht verschont: Es hat sich ja stets auf das letztlich von Gott angezündete »Licht der Vernunft« gestützt – verbal sogar in seiner radikalen, das Ende der Metaphysik vorwegnehmenden Hobbesschen Variante –, und nicht selten hat es die rechtliche und moralische Verbindlichkeit
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Walter Jaeschke
seiner Setzungen durch direkten Rekurs auf den Gottesgedanken untermauert. Mit dem Ende der metaphysischen theologia naturalis ist dies jedoch keine mögliche Option mehr. Der Wegfall der metaphysischen Stütze öffnet den Blick dafür, dass nicht allein die Setzung von Normen, sondern auch die Verankerung ihrer Verbindlichkeit nicht in einem vorgegebenen Gottesgedanken erfolgen muss, sondern in der Welt des Rechts selber, im Willen der gemeinsam rechtsetzenden Subjekte – und so erlaubt erst das »Ende der Metaphysik« die Umformung des Naturrechts in Rechtsphilosophie. Und weiter: Dieses Ende hat anscheinend – aber dies scheint mir noch etwas undurchsichtig – die Entstehung einer Naturphilosophie begünstigt, die nicht nur philosophia naturalis im Sinne der entstehenden Physik ist, die sich aber von der dominierenden Physikotheologie des späten 17. und des 18. Jahrhunderts befreit hat. Fraglos aber hat das Ende der Metaphysik – durch die damit verbundene Aufhebung der methodischen Trennung des Rationalen und des Empirischen – die Entstehung der Geistesphilosophie ermöglicht – wie ja auch der Begriff des Geistes ein nicht-metaphysischer Begriff ist. Und ebenso hat erst das Ende der Metaphysik – wiederum auf Grund der Aufhebung dieser Trennung des Rationalen und des Empirischen, der strikten Sonderung von Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten – die Ausbildung der Geschichtsphilosophie ermöglicht; im Kanon der von der Metaphysik dominierten Schulphilosophie wäre sie ein Unding gewesen. Man muss sich dies nur nicht als Resultat einer willkürlichen, der Tat des Kronos analogen Handlung vorstellen, wie in Carl Schmitts Dictum, dass Hegel den Gott der alten Metaphysik durch seine Synthese von Menschheit und Geschichte entthront habe.13 Und auch das Verhältnis von Grund und Folge ist umzukehren: Erst nach dem Ende der Metaphysik gewinnen ›Menschheit und Geschichte‹ ein neues Verhältnis zu einander und eine neue Bedeutung. Aus dem gleichen Grunde hat erst das »Ende der Metaphysik« die Ausbildung einer Philosophie der Kunst und ihre Einbeziehung in den Kanon der philosophischen Wissenschaften erlaubt: Eine Philosophie der Kunst setzt ja ebenso wie eine Philosophie der Geschichte voraus, dass das Vernünftige und das Empirische nicht in getrennte Regionen und ihnen zugeordnete Disziplinen auseinanderfallen, sondern das Vernünftige im Empirischen zu finden sei – die Vernunft in der Geschichte, und das Schöne in der sinnlichen Anschauung. Und dieser rational/empirische Doppelcharakter gilt ebenso für die Geschichte der Philosophie: Sie wird – nach-metaphysisch – nicht mehr als eine »Kunst« betrieben, jenseits der metaphysisch dominierten
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Carl Schmitt: Politische Romantik. 11919, Berlin 41982, 94.
Ein Plädoyer für einen historischen Metaphysikbegriff
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Philosophie und deshalb auch jenseits der akademischen Lehre, sondern sie wird nun in diese einbezogen, weil erst unter dieser neuen Voraussetzung das Studium der Geschichte der Philosophie zum Studium der Philosophie selber werden kann. Und nicht zuletzt: Auch die Philosophie der Religion entsteht erst nach dem Ende der metaphysischen theologia naturalis, und dies keineswegs zufällig: So lange die Metaphysik im Gedanken des persönlichen Gottes kulminiert und Religion als dessen Heilsveranstaltung gilt, ist eine »Philosophie der Religion« schlechthin eine Ausgeburt von Hybris und Thorheit. (3) Diese Behauptungen liessen sich nun an den einzelnen Disziplinen der Klassischen Deutschen Philosophie – und insbesondere des Hegelschen Systems – im einzelnen ausführen und belegen. Doch weil die Zeit und auch das Leben kurz sind, beschränke ich mich hier auf die Wiederholung der These: Die Klassische Deutsche Philosophie hat – durch Kant – das Ende der Metaphysik herbeigeführt, und ihre zum System der Philosophie entfaltete Gestalt verdankt sich eben diesem Ende der Metaphysik. Von ihr aus gibt es deshalb am wenigsten Grund, der Metaphysik nachzutrauern – im Gegenteil. Und als im 19. Jahrhundert der Versuch zur Repristination der Metaphysik und insbesondere ihrer Gedanken der Persönlichkeit Gottes und der Unsterblichkeit der Seele unternommen wird, da geschieht dies im bewussten Gegenzug gegen die Klassische Deutsche Philosophie. Auch darin zeigt sich aber nochmals die intime Verbindung von ›Metaphysik‹ insbesondere mit den beiden Themen ›Gott‹ und ›Unsterblichkeit‹. Und deshalb dürfte es illusorisch sein, einen neuen, gleichsam »metaphysik-freien Metaphysikbegriff« zu etablieren. Redlicher ist es, wir belassen es beim historischen Begriff der Metaphysik – und bei ihrem Ende.
Metaphysik der Erfahrung mit oder ohne Kant? Claudia Bickmann
I. Metaphysikkritik durch Erfahrungsbezug? Wir unterstellen zumeist, es sei Kant gewesen, der metaphysische Spekulation durch empiriegestütztes Wissen ersetzt habe, um im Namen des Erfahrungsbezugs unseres Wissens eine letzte große Epoche der Metaphysik-kritik, ja selbst gar das nach-metaphysische Zeitalter einzuleiten.1 Mit Kant, so die Annahme, seien die metaphysischen Fragen zureichend in ihre Grenzen gewiesen, so dass seither philosophisch relevantes Wissen ohne eine Orientierung an den Einzelwissenschaften kaum mehr sinnvoll zu rechtfertigen sei. Warum aber der Titel: Metaphysik der Erfahrung nach Kant? 1. Blicken wir zurück auf die Genesis der Spannung zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik, die uns seit der Antike in drei großen Epochen begegnet. Die erste Schrift, die nicht nur in einem buchtechnischen Sinne, sondern auch der Sache nach den Namen einer Metaphysik verdient, die aristotelische Metaphysik, ist bereits in sich selbst eine Reflexion auf das Spannungsfeld zwischen Metaphysik und Erfahrung. Gegenüber der platonischen Dominanz des Ideensinns vor dem Erfahrungsbezug des Wissens hatte Aristoteles eine Metaphysik der Erfahrung derart einzuklagen versucht, dass die Elementarbegriffe wie Materie und Form, Sein und Wesen, Einheit und Vielheit etc. nur in ihrer Manifestation in einer entelechial bewegten Singularität greibar sein sollten. Ein Etwas als Etwas, so die These, sei demnach durch eines gekennzeichnet, das als Grund aller Prädikate selbst nicht mehr Prädikat eines anderen genannt werden kann, sondern aller Erfahrung zugrunde liege. Das entelechial bewegte Seinsganze sollte durch ein Prinzip begreiflich werden können, das in sich unbewegt gleichwohl Grund aller Bewegung genannt werden kann. Gemäß dieser entelechialen Struktur des Einzelnen wie der Ordnung insgesamt sollte das Erfahrungsmannigfaltige das Maß seiner Finalität in der freien Selbstbestim1
Vgl. u. a. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt a.M. 1998; ferner: Walter Bröcker: Kant über Metaphysik und Erfahrung. Würzburg 1970.
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mung des sich denkenden Denkens finden. Im sich selbst Denken des Denkens war das Göttliche Urprinzip als immanent Transzendentes zugleich als ein freies Wesen aufgefasst, das nur ist, weil es sich in Freiheit selbst setzt und in der Sphäre des Nous zugleich selbst auch sieht und begreift.2 Plotins Metaphysikkritik wird diese begriffliche Vereinnahmung des höchsten Prinzips durch die Sphäre des Nous zurückzuweisen suchen, um die Vernunft erneut gegenüber einem nur exstatisch erlebbaren Augenblick eines überseienden, über-denkenden Göttlichen zu depotenzieren.3 2. Vier Phasen der Entwicklung des Verhältnisses von Metaphysik und Erfahrung können wir bereits in der Antike unterscheiden: Aus dem emphatischen wie dogmatischen thetisch-antithetischen Setzen möglicher Ursprungsprinzipien oder Sinnstrukturen der vorsokratischen Philosophie wird in Platons kritischer Selbstbescheidung der Vernunft in der zweiten Phase eine Annäherung, durch die Ruhe und Bewegung, Identität und Differenz allein als Einheit in der Differenz zu begreifen sind,4 um dabei jedoch – vernunftkritisch – zugleich jenseits von Differenz und Mannigfaltigkeit einen Ort denkbar zu machen, der als Vergleichs- und Unterscheidungsgrund nichts von alle dem sein kann, was aus ihm begreiflich zu machen ist und der sich darum allein einem intuitiv synoptischen Zugang, d. h. dem Erleben erschließt.5 Platons Idee des Guten oder Einen, als ›Epekeina tes ousias‹ aufgefasst, wird darum der Sphäre des Übersinnlichen gegenüber der sinnlichen Mannigfaltigkeit der raum-zeitlichen Phänomene ontologische und epistemische Priorität einräumen, einer Sphäre, die Aristoteles in einem dritten Schritt erneut in die Selbstbewegung des sich sehenden Geistes zurückzubannen sucht: Aristoteles Synthese von Vernunft und Erfahrung kann darum als ein Versuch aufgefasst werden, im Begriffe über den Begriff hinaus zu gehen, um in ihm als dem Instrumentarium wissenschaftlicher Seinserhellung, das Sein selbst in der Sphäre des Nous durchsichtig werden zu lassen.6 Dieser, wie Plotin es sah, aristotelischen Selbstüberhebung der Vernunft, dergemäß das höchste Prinzip als sich selbst denkendes Denken zirkulär an dem teilhaben kann, was durch es allererst ermöglicht werden soll, folgt dann mit Plotin in einer vierten Phase ein metaphysikkritischer Impuls in der Gestalt der Depotenzierung des Vernunftanspruchs zugunsten eines nur mehr dem Erleben zugänglichen höchsten Prinzips. Indem Plotin das 2
Aristoteles: Metaphysik, 1069 a ff. Vgl. u. a. Plotin: Enneade, VI, 9. – In: Hans-Rudolf Schwyzer (Hrsg.): Plotini opera. Desclée de Brouwer, Paris 1951–1973 (kritische Standardausgabe) Band 3: Enneas VI. 1973. 4 Vgl. Platon: Sophistes, 238 e ff. 5 Vgl. Plato: Politeia, 509 b ff. 6 Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Buch XII, 1069 a 30 ff. 3
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überseiende Eine darum mit Platon erneut als unerreichbar für die Vernunft begreift, wird der Erfahrungsbezug des Einen gegenüber den begrifflichen Möglichkeiten einer Prinzipiendiskussion bekräftigt. 3. Zu Beginn der Neuzeit wird sich eine solche Genealogie vierer aufeinander folgender Schritte von Metaphysik und Metaphysikkritik im spannungsvollen Verhältnis zwischen Vernunft und Erfahrung wiederholen: Es ist Kant, der der thetisch-antithetischen Gestalt in der Beschreibung des Verhältnisses von Vernunft und Erfahrung in einer ersten Phase metaphysischer Setzungen, in einer kritischen Perspektive ein Modell entgegenhalten wird, in dem nicht allein Metaphysikkritik durch Erfahrungsbezug, sondern eine metaphysische Grenzbestimmung von Vernunft und Erfahrung im Sinne der Erneuerung der Metaphysik leitend ist. Kants kritische Grenzziehung unserer epistemischen Vermögen wird in Hegels Philosophie – vergleichbar der Aristotelischen dritten Phase der Kritik an Platons Grenzbestimmung – erneut eine Wissenschaftsorientierung nach sich ziehen, die Kants eingeklagten Erfahrungsbezug unseres Wissens in die Richtung eines spekulativen Überstiegs über die Schranken der phänomenalen Welt rückgängig zu machen sucht, indem Vernunft und Erfahrung in ihr in synchroner Bewegung als nur mehr zwei Seiten der einen Seinssphäre gelten. Dieser hegelsche Grenzüberschritt in die Richtung einer spekulativen Annäherung an die Seinssphäre wird dann viertens beim späten Schelling und Fichte wie auch in der ihnen folgenden Betonung einer unvordenklichen Seinssphäre eine Depotenzierung erfahren, nach welcher die Vernunft in eine erneute Abhängigkeit zum erfahrungsbezogenen Wissen geraten sollte. 4. Wäre nun dieser Entwicklungsdynamik vierer aufeinander bezogener Schritte nicht noch eine dritte Epoche gefolgt, in der erneut einem emphatischen thetisch-antithetischen Setzen eine kritische Grenzbestimmung der Vernunft wie darauf folgend eine erneute Suche nach Überwindung dieser kritischen Grenzziehung gefolgt sei, die ihrerseits in einem vierten Schritt depotenziert werden sollte, so könnte man diese Entwicklungsdynamik für eine Singularität oder ein kontingentes Phänomen halten: Doch macht sie in ihrer dreifachen epochalen Abfolge innerhalb der europäischen Philosophie deutlich, dass es sich dabei um mögliche Bewegungsrichtungen des menschlichen Geistes handelt, durch die er mal dem Ideen- oder Vernunftbezug, mal dem erfahrungsgebundenen Wissen die Richtung weist. 5. Meine Überlegungen zu diesem Entwicklungsgeschehen bleiben mit einer Analyse der kantischen Problemanlage auf die abendländische Philosophie beschränkt, doch ließe es sich zeigen, wie jene Dynamik von emphatischer Setzung und Entgegensetzung, kritischer Beschränkung, erneutem Überstieg über diese Beschränkung schließlich dem radikalen Sturz in eine
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Sphäre der Depotenzierung der Vernunft zugunsten des erfahrungsbezogenen Wissens auch in den verschiedenen nicht-europäischen Philosophien traditionsbildend geworden ist.7 Indem die europäische Philosophie somit bereits dreifach einer solchen Entwicklungsdynamik gefolgt ist, in deren Mitte sowohl dogmatische Setzungen als auch kritische Grenzbestimmungen, wenn auch aus je unterschiedlichen Problemlagen heraus erfolgt sind, könnte sie der Herausforderung einer kritischen Analyse und Begrenzung der beiden polaren Positionen – der prozessontologischen wie auch der seinsspekulativen Annäherung an das Verhältnis von Metaphysik und Erfahrung – in den verschiedenen nicht-europäischen Philosophien – im weltweit erweiterten Maß nun erproben und zur Geltung bringen. Ihre derzeitig dominante Tendenz zu einem wissenschaftsorientierten Erfahrungsbezug oder aber ihr Verharren in metaphysikfeindlicher Depotenzierung ist fern von einem Neubeginn, der spezifisch philosophische Züge tragen könnte. Erfahrungsbezug nach Kant und Metaphysikkritik bekräftigen sich vielmehr wechselseitig in der Überwindung der großen Themen der Metaphysik.
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In der dritten Epoche, der Gegenwartsphilosophie, lässt sich diese vierfache Schrittfolge knapp wie folgt skizzieren: der im Neukantianismus versuchten Wissenschafts orientierung sehen wir zunächst – antithetisch – Naturalismus, Vitalismus oder Lebensphilosophie (in der Folge Nietzsches und Bergsons) entgegentreten, um im zweiten Schritt, der Phase kritischer Grenzziehung, mit Husserls eidetischer Reduktion und Wittgensteins Sprachkritik in eine neue Phase kritischer Selbstbesinnung überzugehen; drittens wird die Überwindung des sprach- und erkenntniskritischen Impulses durch eine erneute emphatische Seinsorientierung im Sinne von Martin Heidegger versucht, um schließlich in einer vierten Phase erneut in einer Depotenzierung der Vernunft zu münden, durch die ins Sein hinausgreifenden Vernunftansprüche zugunsten von Orten jenseits der Gegensätze – sei es in Derridas Différance oder Levinas Idee der radikalisierten Alterität oder aber metaphysikkritisch durch den Erfahrungsbezug des empirischen Wissens zurückgewiesen werden. Greifen wir die Spannungslage zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik nun an dem Orte auf, an dem wir zurzeit stehen, so scheint es, als sei bereits – von den Rändern unseres Kulturraumes aus – eine neue Runde eröffnet: Insbesondere in den nicht-europäischen Philosophien wird eine Rückbesinnung auf solche Fragen erneut eingeklagt, die, so Kant, mit der menschlichen Vernunft schicksalhaft verbunden sind und darum einer ernsthaften Analyse bedürfen, und es zeigt sich insbesondere in den neueren Modellen chinesischer oder japanischer Philosophie, dass uns hier – wie in den ersten Phasen der genannten Epochen – in thetisch-antithetischer Gestalt die alten Gegensätze zwischen Ruhe und Bewegung, Identität und Differenz in Prozess- und Seinsorientierungen als zwei polar entgegengesetzte Positionen – etwa im taoistisch inspirierten Modell von Lik Kuen Tong oder dem zugleich confuzianisch orientierten Modell von Guo Yi entgegentreten. Und so könnte es scheinen, dass wir nun in erweitertem Weltmaßstab wiederum vor der Aufgabe der kritischen Sichtung und Grenzbestimmung der mit diesen Gegensätzen verbundenen Vereinseitigungen stehen.
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II. Eine Rückbesinnung auf Kant bezogen auf die Analyse des Zusammenhangs von Metaphysik und Erfahrung bringt nun ein Modell zur Sprache, für das die metaphysischen Fragen mit der menschlichen Vernunft noch unweigerlich verbunden sind8 und dem darum nicht Überwindung durch Sprachkritik, sondern Erneuerung der Metaphysik durch Grenzbestimmung der Vernunft am Herzen lag. Indem Kants Analyse des Verhältnisses von Metaphysik und Erfahrung darum ihren systematischen Ort im Gravitationsfeld von Metaphysik und Metaphysikkritik findet, – seine Metaphysik der Erfahrung ist Baustein einer neuen Metaphysik wie auch eine Kritik an erfahrungsfreier Metaphysik gleichermaßen, – so soll mit Kant nach den metaphysischen Implikationen der Erfahrung selbst wie der Unhintergehbarkeit der Metaphysik bereits auf dem Felde der Erfahrung gefragt werden. Diese Annäherung widerspricht der Annahme eines antithetischen Verhältnisses zwischen Metaphysik und Erfahrung, wie sie für die Rezeption nicht nur von Kants Philosophie, sondern vor allem für die auf ihn folgenden erfahrungsbezogenen Formen der Philosophie leitend ist: vielmehr, so die These, bilden beide Seiten im Sinne Kants wie auch der ihm folgenden Entwicklung wissenschaftsorientierter Philosophie irreduzible komplementäre Pole auf einer jeden Stufe der Annäherung an unser Selbst- und Weltverhältnis: Wie nun soll die Rede von Kants Metaphysik der Erfahrung zu verstehen sein? 1. Werfen wir einen Blick auf Kants Begriff der Erfahrung. Indem Kant die Grundlegung seiner Metaphysikkritik an eine Grenzbestimmung unserer Erfahrungserkenntnis bindet, wird zunächst diejenige Sphäre zu analysieren sein, die mit den Erfahrungsbezug unseres Wissens direkt befasst ist; hier gilt das Augenmerk zunächst der Idee der Gegenständlichkeit in Raum und Zeit; diese ist in einem erfahrungsbezogenen Sinne zum Brennspiegel der Kritik an möglichen Objektivitätsansprüchen unserer Erfahrungserkenntnis in den verschiedensten Strömungen und Traditionen der Gegenwartsphilosophie geworden: Nicht nur Martin Heideggers Kritik am präsentischen Vorurteil der abendländischen Metaphysik beruht auf einer Analyse von Gegenständlichkeit, von Objektivität, – auch die quantenphysikalische Auflösung beharrlicher 8
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (KrV). Akademie-Ausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken. Bd. IV. Berlin 1968, A VII.
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Entitäten wie auch – im Lichte von Sellars Kritik am ›Mythos des Gegebenen‹ – die non-essentialistische Wende neuerer Erkenntnistheorie bis in die poststrukturale Kritik an der Idee an sich bestimmter Entitäten zugunsten eines nur mehr negativ-differentiellen Charakters des sprachlichen Zeichens, gründen im kritischen Abweis möglicher Objektivitätsannahmen. Ferner, und dies ist für unsere Themenstellung von noch größerer Bedeutung, lässt es sich zeigen, dass selbst gar der Versuch, sich von metaphysischen Fragen durch logische Analyse der Sprache oder durch eine Orientierung an den empirischen Wissenschaften möglichst weit entfernt zu halten, zutiefst in den Spuren metaphysischer Prämissen wandelt. 2. In zwei Stufen wollen wir uns diesem metaphysischen Fundament in Kants Theorie der Erfahrung nähern: Dabei wird es sich zeigen, dass der Bezug auf seine Idee von Objektivität, auf die Idee eines Etwas als Etwas, d. h. auf den Begriff eines erfahrbaren singulären Gegenstandes in Raum und Zeit, bereits eine weitere Erfahrungsdimension mit sich führt, die als reine Erfahrung von der empirischen zu unterscheiden ist und ihr gegenüber, da sie jene struktuiert, prioritär und auch der Sache nach ein Erstes genannt werden kann. Blicken wir nun näher auf die Konstitutionsleistungen des erfahrungsbezogenen Bewusstseins und gehen zunächst mit Kant davon aus, dass uns Gegenstände in Raum und Zeit zwar gegeben sind, sie als bloß Gegebene aber noch nicht Gegenstände für uns genannt werden können, da von Gegenstand zu sprechen Aktivität voraussetzt; Akte, die selbst gar, wie Kant in § 98 der A-Deduktion der KrV verdeutlicht, den Verstand allererst möglich machen:9 Was aber, so werden wir fragen, sollte jene Tätigkeit sein, die selbst gar den Verstand allererst möglich macht, indem sie das gegebene Material der Anschauung solchen Funktionen unterwirft, die wir objektkonstitutive Funktionen des Bewusstseins nennen können? 3. Nun macht die Analyse der objekt-konstituierenden Funktionen des Bewusstseins nicht allein eine Wende des Blicks zurück auf die subjektiven Bedingungen jener Objektkonstitution erforderlich, als Analyse der Formbedingungen des erfahrungsgebundenen Wissens bringt sie zugleich – und dies ist die These der folgenden Analyse, – die metaphysischen Implikate dieser Konstitutionsleistungen zu Bewusstsein. Dabei ist der Titel ›Objektkonstitution‹ im Sinne Kants erläuterungsbedürftig: um welche Art von Objekt handelt es sich, wenn denn subjektive 9
Vgl. KrV A 97 f.: »Diese (die Apprehension, die Reproduktion und die Recognition im Begriffe, C.B.) geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand und, durch diesen, alle Erfahrung, als ein empirisches project des Verstandes möglich machen.«
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Leistungen vorausgesetzt sein sollen, die ihrerseits nicht substituierbar sind, wenn überhaupt nur von einem Gegenstande der Erfahrung die Rede ist? Was, so lautet darum die Frage, ist unter Erfahrung zu verstehen, wenn angenommen werden muss, dass die subjektiven Leistungen für unseren Objektbegriff irreduzibel sind? Sind Objekte bloß Objekte für ein erkennendes Bewusstsein, mithin also relativ zu unserer anschauenden, wahrnehmenden und erkennenden Tätigkeit? In welchem Sinne ist es dann erlaubt, von Objekt überhaupt zu sprechen? 4. Wenn etwa Wolfgang Carl in seiner Kritik an Quine und an Nagel das schwierige Zusammenspiel beider Sphären zueinander betont, da weder ein Parallelismus von subjektiver und objektiver Sphäre im Sinne Quines – noch die Idee einer sukzessiven Substitution des bloß Subjektiven durch das Objektive im Sinne Nagels ihr Verhältnis einsichtig mache – so fragt es sich, ob Wolfgang Carls eigene Rede vom Zusammenspiel zweier getrennter Sphären unseren Bezug zu einem Gegenstand der Erfahrung überhaupt begreiflich machen kann.10 »Indem Kant das Subjektive als apriorische Bedingung des Objektiven denkt, kann nur ein Zusammenspiel zwischen beiden die Möglichkeit unserer Repräsentation der Welt so, wie sie unabhängig von uns ist, verständlich machen.«11 Handelt es sich, so wird zu fragen sein, um das Zusammenspiel zweier Ebenen und ferner: Können wir ihren Zusammenhang im Sinne einer repräsentationalen Beziehung deuten? Wir werden sehen, dass die Rede vom Zusammenspiel der beiden Sphären das Spezifische der kantischen Lösung unbegreiflich lässt, da es im Sinne Kants verfehlt wäre, von einer Korrelation zwischen den zwei an sich bestimmbaren Sphären sprechen. Nicht von einer Repräsentation des Objektiven durch die Dimension des Subjektiven kann im Sinne Kants gesprochen werden, – denn Korrelation setzte die Kenntnis zweier voneinander unabhängiger Seiten voraus; – vielmehr ist Objektivität eines erfahrbaren Gegenstandes im Sinne Kants eine Funktion der Bewusstseinsleistungen des erkennenden Subjekts, – Objektivität mithin allein durch seine Funktionen verbürgt derart, so dass Kant sagen kann: Die subjektiven Funktionen der Erfahrungserkenntnis sind ebenso viele Bedingungen möglicher Gegenstände der Erfahrung. »Daher zeigt sich hier (auf der Ebene der Verstandeserkenntnis) die Schwierigkeit, die wir im Felde der Sinnlichkeit nicht antrafen, wie nämlich 10
Vgl. Wolfgang Carl: Das Subjektive als Bedingung des Objektiven. – In: Jürgen Stolzenberg: Kant in der Gegenwart. Berlin/New York 2007, 128. 11 Ebd.
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subjektive Bedingungen des Denkens sollten objektive Gültigkeit haben, d. i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis der Gegenstände abgeben: denn ohne Funktionen des Verstandes können allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden (…)«.12 So gestellt, weist die kantische Frage darauf hin, dass nicht zwischen zwei zuvor getrennten Ebenen nach einer Vermittlung gesucht werden soll, sondern es vielmehr zu erklären gilt, warum und wie die subjektiven Bedingungen des Denkens zugleich objektiv genannt werden können. Eine Antwort auf diese Frage setzt einen Einblick in den Charakter der Rede von Objektivität voraus: Wenn Objektivität als von der subjektiven Tätigkeit untrennbar vorgestellt wird, – die subjektive Ebene unter genau bestimmbaren Bedingungen selbst objektiven Charakter haben soll, so wird das Objekt – als ein Gedankengegenstand oder ein Gedankending – dennoch zugleich so aufgefasst werden müssen, dass es nicht auf bloß subjektiver Konstruktion beruht. Wie ist dies zu verstehen? Gefragt wird nach den objektivitätskonstituierenden Funktionen des Bewusstseins und nicht: wie können wir die Objektivität einer Sache erkennen. Diese Frage würde eine transzendentalphilosophische Annäherung verfehlen, denn gefragt wird, wodurch wird unser Bewusstsein selbst unter die Form des Objektiven gebracht, derart, dass seine Funktionen an sich selbst den Charakter haben, objektiv zu sein. 5. Am Beispiel der ersten Stufe der Annäherung an einen erfahrbaren Gegenstand in Raum und Zeit, der Stufe der Anschauung, bedeutet dies für Kant, dass selbst Anschauung bereits unter solchen Formbedingungen stehen muss, die mit der Anschauung und nicht bloß in ihr gegeben sind. Wären sie bloß in ihr gegeben, so wären sie das Resultat verallgemeinernder Abstraktion, mithin also abhängig von kontingenter raum-zeitlicher Erfahrung. Im Sinne Kants verhält es sich aber gerade umgekehrt so, dass die formalen Bedingungen der Anschauung a priori in diese eingelagert sein müssen, wenn überhaupt nur wir uns die apriorische Konstruktion räumlicher Gebilde oder die Zahlenreihe der Arithmetik begreiflich machen wollen.13 So sei es allein kraft ihres – notwendigen und allgemeinen – d. h. apriorischen Charakters, dass wir verstehen können, 1. wodurch die Wahrnehmung eines Etwas als von unserem Orte im Raum verschieden genannt werden kann14 und 2. wodurch wir zugleich in der Lage sind, a priori synthetische Konstruktionen – seien sie im Nacheinander der Zeit oder im Nebeneinan12 13 14
KrV, A 90 B 122. Ebd., A 24/ B 38 Fn. Ebd.
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der geometrischer Räume – zu zeugen; mithin also die Objektivität des bloß Subjektiven möglich zu machen. Bezugsgrößen für den Erweis dieser These sind die reinen Anschauungen der Arithmetik und der Geometrie: Philosophische Analyse, so die Überlegung, muss die Möglichkeit synthetisch-apriorischer Konstruktionen begreiflich machen können, d. h. die Möglichkeit eines Verstandes, welcher in seinen Konstruktionen apriori solchen Regeln folgt, die nicht erst in einer empirischen Erfahrung gewonnen sein können, sondern welche empirische Erfahrung allererst möglich machen; darum auch müssen die Regeln solcher Konstruktionen notwendig und allgemein sein, wenn sie synthetische Akte, die auf apriorischen Konstruktionen beruhen, begreiflich machen sollen.15 6. Was jedoch bedeutet die Annahme sog. ›reiner Anschauungen‹ für die Anschauung eines Gegenstandes in einer empirischen Erfahrung, welcher nicht das Produkt apriorischer Konstruktion, sondern ein kontingent Gegebenes in Raum und Zeit genannt werden kann? Es bedeutet, dass wir selbst unserem erfahrungsgebundenen Wissen all diejenigen Formbedingungen zugrunde legen müssen, die den apriorischen Konstruktionen der reinen Anschauung Objektivität verleihen können: um die apriorischen Bedingungen möglicher Erfahrungserkenntnis zu ermitteln, ist vom Erfahrungsmannigfaltigen darum all das zu abstrahieren, was bloß in einer sinnlichen Erfahrung dem Erleben gegeben ist; denn nichts, das in einer empirischen Erfahrung gegeben ist, kann Garant möglicher Objektivität genannt werden.16 Was nun aber, so Kant, erlaubt es uns dennoch, den bloß subjektiven Erfahrungen gleichwohl Objektivität zuzusprechen?17 Alles, so die Überlegung, die Materie des Gegenstandes wie auch seine besondere Form und Gestalt, ist, weil kontingenten raum-zeitlichen Verhältnissen geschuldet, abstrahierbar; nicht aber kann davon abstrahiert werden, dass uns der Gegenstand in irgendeiner Weise im Raume und in der Zeit gegeben sein muss. Ferner können auch die formalen Bedingungen raumzeitlicher Wahrnehmung selbst der Erfahrung nicht entstammen; ist es doch allein kraft ihrer, dass uns etwas im Nacheinander der Zeit wie im Nebeneinander des Raumes überhaupt als ein Etwas erscheinen kann. 7. Im Kapitel über die erste der drei synthetischen Handlungen, die selbst gar den Verstand möglich machen18, erläutert Kant das notwendige Ineins von Raum- und Zeit-Erfahrung ex negativo wie folgt: denn als in einem
15 16 17 18
Vgl. § 19 der B-Deduktion (KrV B 140 ff.). Vgl. KrV, B IX, A 43/ B 51, A 53/ B 78. Ebd., A 22/ B 36. Ebd., A 98.
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Augenblicke enthalten, könnte das Gegebene nichts anderes als ein bloßer Jetztpunkt sein – es wäre mithin nicht Wahrnehmung von Etwas, wenn denn ein Etwas als Einheit mannigfaltiger Eigenschaften aufgefasst werden soll.19 Die Wahrnehmung von Etwas als Etwas setzt darum bereits synthetisierende Operationen voraus; Aktivität ist darum erforderlich, wenn von der Wahrnehmung eines Gegenstandes in einer Erfahrung die Rede ist. Ist der Gegenstand somit ein Produkt von Zeugung – zeugen wir Gegebenes? Wie, so lautet die Frage, soll das Zeugnis subjektiver Verknüpfungsleistung gleichwohl objektiv genannt werden können; wie beschaffen müssen unsere Synthesisakte sein, wenn Objektivität durch sie erreicht werden soll? Soll subjektiv Apprehendiertes Objektwahrnehmung möglich machen, so wird neben dem apriorischen Außer- und Nacheinander, durch das allein raum-zeitliche Erfahrung möglich ist, eine regelgeleitete Aktivität erforderlich sein, die es erlaubt, bloß subjektive Funktionen gleichwohl objektiv zu nennen. Zu analysieren ist darum, in welcher Weise durch den Akt der Wahrnehmung ein Etwas Gegenstand einer sinnlichen Erfahrung werden kann. Ist von einem Etwas die Rede, so ist auf der Ebene der Anschauung ein Mannigfaltiges vorausgesetzt, das als Einheit zunächst apprehendiert werden muss, da ein Etwas als Einheit des Mannigfaltigen zugleich in sich differente Einheit ist.20 Um nun zu begreifen, wie jenes Mannigfaltige, das wir gleichwohl Eines nennen, als diese Einheit wahrgenommen werden kann, werden wir neben der in der Empfindung gegebenen Materie darum auch Verknüpfungsleistungen voraussetzen müssen, die das gegebene Mannigfaltige zu einem Ganzen aus Teilen werden lässt. 8. Neben dem Akte der Identifikation ist somit Unterscheidung im Spiel: Das Etwas ist ist in sich differenzierte Einheit mannigfaltiger Erscheinungen, mithin also ein Ganzes aus Teilen. Ganzheit und Teile sind aber nicht Kategorien, unter denen selbst gar unsere Anschauung stünde, sondern es sind dies Vorstellungen, denen gemäß wir ein außer- und nebeneinander im Raume Gegebenes als Einheit apprehendieren. Es als eine Ganzheit aus Teilen zu apprehendieren setzt darum nicht nur die Assoziabilität der Teile, sondern auch ihre Affinität, näherhin die transzendentale Idee der zweckmäßigen Übereinstimmung der Teile in einem Ganzen voraus.
19 20
Ebd., A 99. Ebd.
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9. Wie aber kann das gegebene Mannigfaltige zu möglichen Einheiten synthetisiert werden? Wenn wir davon ausgehen müssen, dass nicht ein jedes subjektiv Reproduzierte auch Reproduktion eines raum-zeitlichen Objekts in der ihm eigentümlichen Beschaffenheit genannt werden, so müssen wir die subjektive Reproduktion von der objektiven Reproduktion des Mannigfaltigen unterscheiden können. Was aber kann diesen Unterschied begreiflich machen? Wenn selbst der Wahrnehmung eines Etwas Synthesisfunktionen vorausgesetzt sind, so müssen wir die Synthesisakte, die die Wahrnehmung möglich machen, von den zu Urteilen verknüpften Vorstellungen, der Synthesis der Synthesen, unterscheiden. Denn selbst unsere Wahrnehmung steht unter Regeln. Somit wird das Verhältnis von Wahrnehmung und Urteil bezogen auf den jeweiligen Regelgebrauch näher zu klären sein: In welchem Verhältnis stehen die Regeln der Synthesisfunktionen, welche die Wahrnehmung von Gegenständen möglich machen, zu denjenigen Regeln, durch die diese Vorstellungen in der Gestalt »x ist ein p« expliziert werden? 10. Bereits auf der Ebene der Wahrnehmung, so Kant in der ersten Synthesis der Apprehension, müssen wir davon ausgehen, dass Vorstellungen von Gegenständen ein Zusammengesetztes sind, ein Produkt solcher Funktionen des Gemüts, durch die es eine verstreute Mannigfaltigkeit gegebener Daten aufnimmt, um sie zu einem Etwas zusammenzunehmen, zu apprehendieren; dies nun setzt zugleich voraus, dass das Gemüt die Zeit hatte, die Momente des Gegebenen zu durchlaufen und sie im Durchlaufen auch zu reproduzieren.21 Indem nun das je Reproduzierte als dasjenige auf gefasst wird, was mit dem vorherigen auch identisch sein muss, wenn es als Teil eines reproduzierten Ganzen zu Bewusstsein gebracht werden soll; so wird zugleich deutlich, dass der Reproduktion des Mannigfaltigen bereits Recognition voraussetzt ist, durch die im Bewusstsein das Mannigfaltige ineinsgebildet wird.22 Recognition im Begriffe nennt Kant darum – auf dem Wege zu den Urteilsfunktionen, die dritte, die eigentliche ›Synthesis der Synthesen‹ innerhalb der drei Synthesisfunktionen, welche selbst gar die Wahrnehmung eines Etwas und schließlich auch den Begriff von einem Etwas als Etwas allererst möglich machen. Diese drei Schritte sind im Blick auf Kants Theorie der Erfahrung diejenigen Formbedingungen des Verstandes, die es machen, dass das Reproduzierte auch als Objekt einer möglichen Erfahrung aufgefasst und wahrgenommen werden kann. 21 22
Ebd., A 100. Ebd., A 103.
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Es muss somit, so Kant, dasjenige, was wir objektiv nennen wollen, nach Regeln apprehendiert, reproduziert und auch recogniziert worden sein; – Regeln, die a priori mit unserer Erfahrung und nicht erst in ihr gegeben sind, – ist doch allein kraft jener formaler Bedingungen unseres synthetisierenden Verstandes eine Verobjektivierung des Subjektiven möglich. Gegenüber dem Sprachtranszendentale, jener Protologik in der Folge Wittgensteins, wird hier somit die Analyse der Objektkonstitution bereits auf einer Ebene aufgenommen, die aller Prädikation zuvor, diejenigen kognitiven Leistungen des Bewusstseins bestimmt, die – wie Kant in A 99 der A-Deduktion ausführt – selbst gar den Verstand, und mithin also all unser Urteilen allererst möglich macht. Erst dann, so die These, kann die Aufeinanderfolge der Synthesissschritte, die in einem Urteil zur Sprache gebracht werden können, ihren Ort haben. Zunächst jedoch werden – gegenüber dem Linguistic turn – diejenigen Akte zu analysieren sein, die selbst den Verstand und damit allererst unser Urteilen möglich machen. 11. Wie aber lassen sich nun die Formbedingungen des Verstandes, die bereits in unserer Wahrnehmung wirksam sind, beschreiben? Analog der Aristotelischen Frage nach den Elementarbedingungen von Gegenständlichkeit analysiert Kant in reflektierender Abstraktion diejenigen apriorischen Bedingungen, unter denen selbst unsere Anschauung bereits stehen muss, wenn aus ihr der Gedanke eines Gegenstandes, eines Etwas als Etwas, werden soll. Das bloß subjektiv Empfundene wie bloß assoziativ Verknüpfte kann dabei so wenig an jener Verobjektivierungsleistung beteiligt sein, wie ein Geschmacksurteil oder ein Urteil über etwas Angenehmes oder Schönes. Vielmehr bedarf es zum Verständnis der objektivitätszeugenden Funktion unseres Bewusstseins einer Reproduktion nach Regeln, die Kant näherhin als Formbedingungen des Verstandes, als Kategorien, begreift. Die Kategorien bilden diejenigen Formbedingungen des Bewusstseins, durch die der Verstand dem aufgenommenen und reproduzierten Material diejenige Regel gibt, durch die die synthetisierte Einheit als Einheit in der Vielheit der in ihr synthetisierten Erscheinungen aufgefasst werden kann, dahingehend, dass der nach Regeln erzeugte Gegenstand als Resultat der Synthesis aller für einen Gegenstand zutreffender Eigenschaften oder – auf der Ebene der Wahrnehmung, – der ihn charakterisierenden Momente aufgefasst werden kann. 12. Betrachten wir nun näher die von Kant in seiner Kategorientafel aufgenommenen Formbedingungen des Bewusstseins als ebensolche Bedingungen synthetischer Operationen,23 so wäre eine Reproduktion nach Regeln 23
Ebd., A 80/ B 106.
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denjenigen Regeln unterworfen, die es erlauben, ein Etwas als Etwas im Bewusstsein zu haben, es zu bezeichnen und näher zu bestimmen; dies kann bezogen auf die dabei in Gebrauch genommenen Verstandesformen wie folgt beschrieben werden: a. Gemäß der Kategorie der Quantität wird die Einheit von der Vielheit und Allheit dahingehend unterschieden, dass die Einheit eines nach Regeln erzeugten Gegenstandes das Resultat der Synthesis aller für einen Gegenstand zutreffender Eigenschaften oder – auf der Ebene der Wahrnehmung – der vielen ihn charakterisierenden Momente aufgefasst werden kann. Mit den reinen Formbedingungen des Verstandes, der zwischen Einheit, Vielheit und Allheit – jene Quantitäten zu unterscheiden vermag (als Ausdruck eines apriorischen Vermögens) und welcher uns in die Lage versetzt, auf rein formaler Ebene Quantitäten zu unterscheiden, ist jedoch nicht die Faktizität einer Sache, ihre Realität bereits verbürgt; dass sie ist, ist zwar nicht ein Problem des reinen Verstandes, sondern es ist dasjenige, von dem wir sagen können, dass es rein nur den Sinnen gegeben sein kann; dies aber in unserem Bewusstsein zu haben und es als Bestimmtes zu apprehendieren, setzt eine Leistung unseres Verstandes voraus; ein Etwas als Etwas aufzunehmen bedeutet, die Realität eines Etwas im Bewusstsein zu haben. b. Mit Blick auf die Voraussetzung eines Gegebenen in Raum und Zeit wird darum ferner – und hier greift die zweite, die Qualitätskategorie – sein Dasein vom seinem Nicht-sein unterschieden – nicht als Gegenstand eines Urteils, sondern als Voraussetzung für ein Urteil, insofern der innere Sinn durch ein Gegebenes erfüllt und durch die Formbedingung des Verstandes als Realität oder Negation gedacht werden kann. c. Das Verbinden zweier Vorstellungen nach einer Regel notwendiger synthetischer Verknüpfung ist dann eine Operation, die – mit der begrifflichen Bestimmung notwendig verbunden – unter der Kategorie der Relation vollzogen werden kann. Wann immer und bezogen auf welche Vorstellung auch immer zwei Vorstellungen in einer Ist-Aussage miteinander in eine Beziehung gebracht werden, ist von einer Relation die Rede. Bezogen auf die Suche nach der Objektivität des Gedachten darf es dann, so Kant, nicht beliebig sein, welche der beiden Vorstellungen in der Rolle des Subjekts, welche in der Rolle des Prädikats erscheint; denn es muss durch eine Regel des Bewusstseins verbürgt sein, – d. h. durch das Bewusstsein je schon in Kraft gesetzt sein, dass wir eines als das Zugrundeliegende, das andere aber als das Bestimmende, als dasjenige begreifen, durch welches das zugrunde liegende ein So-oder-so-beschaffenes genannt werden kann.24 Dies ist die Leistung 24
Ebd., B 128.
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des Prädikates. Synthetisch werden beide Vorstellungen in der Gestalt einer Ist-Aussage derart verknüpft, dass sie auch als der Sache nach verknüpfte Momente erscheinen können. Wie sollte durch jene regelgeleitete – relationale Verknüpfung der Vorstellungen untereinander Objektivität zu garantieren sein? d. Der Sache nach verknüpft erscheinen die beiden Vorstellungen, so die These, nur, wenn die erste Vorstellung die notwendige Funktion hat, das Zugrundeliegende, mithin also jenes x zu repräsentieren, das als recogniszierte Vorstellung im Urteil expliziert gemacht werden soll und die zweite, die explizierende Vorstellung durch ein Prädikat dasjenige zum Ausdruck bringt, was bereits mit der ersten Vorstellung gegeben, aber noch nicht eigens gedacht und verstanden ist, von jenem Zugrundeliegenden aber ausgesagt werden soll. Dieses Prädikat kann bezogen auf die zu zugrundeliegende Vorstellung einer Sache zugleich nicht beliebig sein, sondern muss als Attribut der zugrunde liegenden Sache identifiziert werden können, wenn das copulative Ist im Urteil zum Ausdruck bringen soll, dass das jeweilige Prädikat objektiv mit dem zugrundeliegenden Subjekt übereinstimmen soll. Ist durch die Ist-Aussage doch ein Akt der Identifikation beider Vorstellungen untereinander beansprucht.25 13. Auch wenn die Zusprache bestimmter Eigenschaften zu einer zugrunde liegenden Sache im einzelnen Falle an die empirischen Vorstellungen in Raum und Zeit gebunden, so dass das Urteil als synthetisches Urteil den kontingenten Faktoren der empirischen Erfahrung verbunden bleibt, so kann das kategorische Urteil – näher betrachtet – zugleich als ein verstecktes analytisches Urteil ausgelegt werden, wenn denn die durch das Prädikat bestimmte Vorstellung bereits vor aller Prädikation in einem jeweiligen Erkenntnisurteil apprehendiert und reproduziert sein muss, wenn sie als ein bestimmendes Prädikat in einem Urteil fungieren soll.26 Wenn ein Subjektives darum zu recht den Titel der Objektivität tragen soll, so steht es unter Regeln; und es muss unter diesen je schon stehen – und nicht als Resultat möglicher Übereinkunft allererst unter diese gebracht werden, da die Formbedingungen möglicher Gegenständlichkeit, die hier ihre Wirksamkeit entfalten, ansonsten bloße Konventionen von Seinsgedanken zeugenden Wesen wären, welche in Ihrer Übereinkunft bereits in Anspruch nehmen müssten, worüber ein Konsens allererst hergestellt werden soll. Dann aber würde Hegels Kantkritik zutreffend sein, nachdem zirkulär eine
25 26
Ebd., 128. Ebd., A 69/ B 94.
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Erkenntnis vor aller Erkenntnis nötig wäre, die jedoch ihrerseits nur erkennend sich vollziehen könnte.
III. 1. Mit dem apprehendierten und recognistizierten Etwas hat Kant jedoch erst einen formalen Begriff eines Etwas erreicht. Der Begriff eines Etwas in seiner durchgängigen Bestimmung macht es jedoch erforderlich, auch die materiale Besonderheit des gegebenen Gegenstandes in einer transzendentalen Analyse zu antizipieren. Im Rahmen einer Analyse der erkenntnisleitenden Funktionen ist dabei nur eine transzendentale Ortsbestimmung jenes materialen Prinzips möglich, durch das ein gegebenes Etwas zugleich als ein durchgängig bestimmtes Einzelnes, als ein Individuelles, erscheinen kann.27 Ein Individuelles ist zunächst allein durch seine Raum-Zeitstelle identifiziert, deren Dasein durch diese irreduzible Erscheinung in Raum und Zeit verbürgt ist; ein Etwas als ein von allen anderen unterschiedener Gegenstand aber ist erst durch all diejenigen Prädikate bestimmt, die auf es in Anwendung gebracht werden können. Transzendental reflektiert bedeutet dies, dass wir die Menge aller möglichen Prädikate, die überhaupt einem Gegenstande zugesprochen werden können, präsupponieren müssen, wenn denn ein einzelner Gegenstand von allen anderen ausgezeichnet sein soll. Den universellen Prädikationsgrund zu antizipieren, der allein es erlaubt, ein Einzelnen als Einzelnes von allen anderen Einzelnen auch zureichend zu unterscheiden, ist dabei das prädikatenlogische Pendant zur Idee der ›Omniduto realitatis‹, der Idee von einem Seinsganzen, das – als ›idee in individuo‹ in all seinen Teilen durchgängig bestimmt sein muss, sowie es selbst in der durchgängigen Bestimmung seiner Teile auch als ein Ganzes aus wohl bestimmten Teilen erscheinen können muss.28 Diese Funktionen, so Kant, müssen wir präsupponieren, wenn wir uns überhaupt nur begreiflich machen wollen, wie es denn möglich ist, einen individuellen Gegenstand auch seiner Materie nach von allen anderen möglichen Gegenständen in einer empirischen Erfahrung zu unterscheiden. 2. Nun hat die Analyse den Punkt erreicht, an dem die Annahme regulativer Ideen notwendig geworden ist. Bereits das Verhältnis von Ganzheit und Teil war nicht mehr durch die Kategorien verbürgt, sondern allein nur begreiflich unter Voraussetzung eines transzendentalen Prinzips der zweck27 28
Ebd., A 567/ B 595. Ebd., A 568/ B 596.
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mäßigen Zusammenstimmung von Ganzem und Teil. Ideen aber als materiale Einheitsprinzipien und Gründe möglicher systematischer Einheit unter unseren Verstandeserkenntnissen sind im Sinne Kants zugleich die Bewährungsprobe der Metaphysik: Werden sie als materiale Einheitsprinzipien zugleich im Sinne möglicher Objekterkenntnis sog. übersinnlicher Entitäten in Anschlag gebracht, so wird zugleich eine elementare Voraussetzung möglicher Erfahrungserkenntnis außer Kraft gesetzt und wir verwandeln nach der Art einer transzendentalen Subreption verstandesleitende regulative Ideen in konstitutive Bestimmungen möglicher übersinnlicher Gegenstände. 3. Die Analyse der Erkenntnisfunktionen erfahrbarer Gegenstände in Raum und Zeit konnte die Funktionalität der Verstandesoperationen bezogen auf das gegebene Sinnesmaterial deutlich werden lassen. Es konnte erhellen, warum jene Formbedingungen auf das raum-zeitlich Gegebene als Operationsbasis verwiesen sind, wenn denn ein Etwas als Etwas auch empirisch gehaltvoll genannt werden soll. Der synthetisierende Verstand wird somit zur Form des Gedachten und vermag es darum, den Begriff von einem möglichen Gegenstand überhaupt hervorzubringen. Dieser formal bestimmte Gegenstand ist das Resultat zweier wechselintegrierter Funktionen unseres Gemütes, durch die die Materie gegeben, der bestimmte und begriffene Gegenstand aber allein gedacht werden kann. 4. Die bisherige Analyse, die Analyse der metaphysischen Implikationen unseres erfahrungsbezogenen Wissens, konnte – noch vor der Erkundung derjenigen Thematik, die im engeren Sinne das Bewährungsfeld metaphysischer Fragen genannt werden kann, zweierlei zeigen: Ein zureichender Begriff von empirischer Erfahrung erhellt solche erkenntnisleitenden Funktionen unseres Bewusstseins, die nicht mehr Gegenstand einer empirischen Erfahrung genannt werden können; als transempirische Bedingungen des Empirischen machen sie Erfahrungserkenntnis vielmehr erst möglich. Kants Metaphysik der Erfahrung tritt darum auch an die Stelle der vormaligen ›metaphysica generalis‹ und kann – als Analyse des metaphysischen Horizontes, in dem selbst unser erfahrungsgebundenen Wissen steht, – in einem zweiten Schritt, auf der Ebene der speziellen Metaphysik, zur Voraussetzung werden, in einem »Experiment der Vernunft mit sich selbst«, diejenigen Möglichkeiten und Grenzen zu erkunden, die eine Metaphysik als Wissenschaft überhaupt möglich macht. 5. Ein solches Experiment ist darum notwendig, weil der erfahrungsbezogene Grund allen Wissens zugleich – bezogen auf alle möglichen denkbaren Gegenstände – restringierenden Charakter hat: Mittels dieser vollzogenen Grenzbestimmung wird das Experiment der Vernunft mit ihren eigenen
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Ideen, den Ideen des Unbedingten, zunächst nur mehr den Negativcharakter des Ideenbegriffs enthüllen: Sie werden als Nicht-Gegenstände zu qualifizieren sein. Doch was bleibt? Welchen Status mögen die Ideen der klassischen Metaphysik gleichwohl noch innehaben? Gibt es von unserem Selbst, der Seele oder der Freiheit nur einen Negativbegriff; den Begriff von einem Unbedingten, für das gilt, dass alle weiteren Prädikate der Gefahr einer transzendentalen Subreption ausgesetzt sind? Kant hat in seiner Metaphysik der Erfahrung den Weg zu einem solchen ›Negativbegriff‹ bereitet, indem er die Erkenntnis möglicher Gegenstände auf die erfahrbaren Phänomene in Raum und Zeit restringierte, um den Weg für eine Theorie der unbedingten Horizonte zu öffnen, innerhalb derer uns erfahrbare Gegenstände allein zugänglich und hinreichend von anderen unterscheidbar sind. Sein Quasi-Schematismus der reinen Vernunftbegriffe, den er analog zum ›Schematismus der reinen Verstandesbegriffe‹ konzipiert,29 soll eine Metaphysik des Endlichen vorbereiten, in der die raum-zeitlichen Phänomene der endlichen Welt der Idee eines Unbedingten in, außer und über uns nicht widerstreiten müssen. Diese drei, den Kategorien der Relation gemäß gebildeten Quasi-Objekte näher zu erkunden, um auf diese Weise allererst Kants »Experiment der Vernunft mit sich selbst« zu komplettieren,30 machte jedoch eine weitere Analyse erforderlich.
29
Ebd. A 682/ B 710. Ebd., B 20: »Aber hierin liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten Würdigung unserer Vernunfterkenntnis a priori, dass sie nämlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt, liegen lasse. Denn das, was uns notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zugehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten, und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt. Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntnis richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, dass das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen, als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; und dass folglich das Unbedingte nicht an Dingen, so fern wir sie kennen (sie uns gegeben werden), wohl aber an ihnen, so fern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst, angetroffen werden müsse: so zeiget sich, daß, was wir anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet sei.« 30
Metaphysik und Metaphysikkritik bei Kant Ulrich Ruschig
Metaphysik und Metaphysikkritik: beides gibt es lange vor Kant und auch noch danach. In der Metaphysik fand sich – besser noch: kulminierte – der Wahrheitsanspruch einer originären philosophischen Erkenntnis. Und genau dagegen richtete sich die Kritik – schon seit der antiken Sophistik und Skepsis. Was den Gebrauch der Termini ›Metaphysik‹ und ›Metaphysikkritik‹ anbetrifft, so lässt sich grosso modo sagen, dass erst nach Kant ›Metaphysik‹ als ein fast durchweg pejorativ konnotierter Terminus verwendet wurde, mit ›Metaphysikkritik‹ hingegen die Befreiung von solcher Spintisiererei sich verband. Betont sei zudem, dass unter dem Titel ›Metaphysikkritik‹ die neuzeitlichen Naturwissenschaften antraten, und zwar explizit gegen die aristotelischen Physik, als deren Grundübel deren Fundament in einer als obsolet angesehenen Metaphysik galt. Newton konzipierte – nota bene: seinem Selbstverständnis nach, das nicht adäquat ausdrückte, was er in Wahrheit machte und welche Fortschritte er erzielte – eine metaphysikfreie Physik, einprägsam formuliert in seinem berühmt gewordenen Wahlspruch: »Physik, hüte Dich vor Metaphysik!«1 Die französischen Materialisten (Helvétius, d’Holbach) waren ebenfalls Metaphysikkritiker. Metaphysik sei eine »bloße Wortwissenschaft«, die »die Blicke aufs Jenseits« richte, damit die Menschen »nicht die Erde sähen«. Metaphysik spiegele den Menschen »imaginäre Interessen« vor und verberge »ihnen die Wahrheit […] durch Schreckgespenster, Phantome und Trugbilder.«2 Solcherart Metaphysikkritik zielte ihrer Selbsteinschätzung nach auf die Vernichtung sämtlicher Metaphysik. Doch in Wahrheit wurde Gott lediglich durch eine Natur-Maschine ersetzt und so eine verglichen mit der kritisierten nicht weniger dogmatische Metaphysik in dem neuen Gewande des mechanischen Materialismus aufgerichtet. Was bedeutet nun ›Metaphysik‹, was ›Metaphysikkritik‹ bei Kant? Schon die Vorbemerkung macht darauf aufmerksam, dass beide Begriffe aufeinan-
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»Hypothesen denke ich mir keine aus […]; weder Hypothesen der Metaphysik […] noch der okkulten Qualitäten […] sind in der Experimentalphilosophie am Platz.« Isaac Newton: Principia mathematica. London 1706, 314; Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre. Hrsg. v. J.Ph. Wolfers. Darmstadt 1963, 511. 2 P. Th. d’Holbach: System der Natur. Übers. v. F.-G. Voigt. Berlin/Weimar 1960, 134, 265.
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der verweisen, dass ihr Verhältnis zueinander eine Entwicklung hat und dass durch diese die Entwicklung beider Begriffe bestimmbar wird. ›Metaphysik‹ bedeutet bei Kant Verschiedenes, je nachdem, welche Adjektive er hinzusetzt: entweder Metaphysik im dogmatischen Sinne, dann versteht er darunter die Philosophie Leibniz’ und Wolffs, oder kritische Metaphysik, dann meint er damit dasjenige, was er selbst begründen will. Als Terminus kommt ›Metaphysikkritik‹ bei Kant nicht vor. Der Sache nach kommt aber schon vor, was unter diesem Terminus zu fassen ist: die Kritik an der Wolffschen Metaphysik, an der Metaphysik im älteren, dogmatischen Sinne. Diese Kantsche Kritik schlägt den Ton der Aufklärung an: Der Metaphysiker, sei er »Träumer der Vernunft« oder »Träumer der Empfindung«3, lasse sich von einem schwärmerischen Geisterseher nicht deutlich unterscheiden. Viel meine, doch nichts beweise er. Die Kritik habe die Aufgabe, der dogmatischen Metaphysik ihr dogmatisches Gewand auszuziehen, jenes Geister-Blendwerk ad acta zu legen und all die vorgeblichen Einsichten einem gründlichen Zweifel zu unterziehen. Vertilgt seien dann der »Wahn und das eitele Wissen, welches den Verstand aufbläht und in seinem engen Raume den Platz ausfüllt, den die Lehren der Weisheit und der nützlichen Unterweisung einnehmen könnten«4. Wer einmal diese aufklärerische Kritik gekostet, »den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche, womit er vorher aus Noth vorlieb nahm, weil seine Vernunft etwas bedurfte und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung finden konnte. Die Kritik verhält sich zur gewöhnlichen Schulmetaphysik gerade wie Chemie zur Alchymie, oder wie Astronomie zur wahrsagenden Astrologie«5. In diesem ›negativen Geschäft‹ der Metaphysikkritik (= Kritik an der Metaphysik im dogmatischen Sinne) liegt jedoch schon ein Nutzen, nämlich der Nutzen durch Katharsis: Nur so wird erkannt, dass jene Metaphysik zwar behauptet, Entitäten, die jenseits der Erfahrung liegen, erkennen zu können, aber solche Erkenntnis, wenn es keine wie auch immer geartete Erfahrung von diesen Entitäten gibt, letztlich nicht begründen kann. Mithin führt die Kantsche Kritik der Metaphysik darauf, dass wir die Dinge nur als Erscheinungen, nämlich in den Formen der Anschauung und des Denkens, erkennen – eben wie die Dinge für uns sind – und dass das Ding an sich ein noumenon im negativen Verstande ist. Somit hat das ›negative Geschäft‹ der
3
Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. – In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Band II. Berlin 1968, 342.27 f. 4 Ebd., 368.14–17. 5 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (Prolegomena). – In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Band IV. Berlin 1968, 366.1–6.
Metaphysik und Metaphysikkritik bei Kant
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Kritik einen Weg eröffnet, wie Metaphysik – im kritischen Sinn – überhaupt möglich sein könnte: als eine Metaphysik, die es so bislang nicht gab und für die erst einmal die Fundamente gelegt werden müssten. Das Programm einer solchen Metaphysik sei erst einmal skizziert: Sie soll eine reine Vernunftwissenschaft sein, mithin nichts aus der Erfahrung entnehmen; durch Reflexion auf das Vermögen der Vernunft sollen apriorische Grundsätze, die allen Wissenschaften zugrunde liegen, aufgefunden werden; es soll ein System dieser Grundsätze geben, und dieses System soll die Grundlage für alle Wissenschaften darstellen. Insofern dreht Kant die Reihenfolge um: Nicht eine wie auch immer gegebene (was immer problematisch ist) Metaphysik mache den Anfang, woran die Kritik derselbigen (und vieles andere) anknüpfe, sondern die Kritik der reinen Vernunft mache den Anfang – und aus dieser Kritik solle Metaphysik hervorgehen. Wie aber soll das geschehen? Wie soll aus der Kritik einer falschen (weil dogmatischen) Metaphysik die richtige (dann eben kritische) Metaphysik hervorgehen? Kritik des Falschen bedeutet zunächst, dass das Falsche als unstreitig falsch erkannt wird, was schon ein Fortschritt ist. Allerdings geht daraus unmittelbar nicht das hervor, was kritische Metaphysik ist, die ja nicht falsch sein soll. Also muss Kant, der eine wohlverstandene Metaphysik weder für gering noch für entbehrlich hält, vielmehr überzeugt davon ist, dass für das wahre und dauerhafte Wohl der Menschheit es auf eine solche Metaphysik entscheidend ankomme, ein neues Fundament legen: die Reflexion auf das menschliche Erkenntnisvermögen und auf dessen Bedingungen, die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erkenntnis und damit auf das Verhältnis der Gegenstände möglicher Erfahrung zu dem menschlichen Erkenntnisvermögen. »In so fern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft«, ihr Nutzen ist »der unbekannteste und zugleich wichtigste, wie er denn auch nur ziemlich spät und nach langer Erfahrung erreicht wird.«6 Demzufolge solle die Metaphysik nicht ein theoretisches Erkennen von solchen Entitäten beanspruchen, die menschlicher Erfahrung prinzipiell unzugänglich sind. Sie müsse wissen, dass für die Erkenntnis der Gegenstände möglicher Erfahrung bestimmte Prinzipien gelten und dass über die Gegenstände möglicher Erfahrung nicht in der Weise hinausgegangen werden kann, dass vom Gegebensein in einer möglichen Anschauung abgesehen wird. Deswegen müsse Metaphysik, wenn sie diejenige Philosophie ist, welche die obersten Prinzipien des reinen Verstandesgebrauchs (usus intellectus puri) enthält,7 einen anderen Anfang 6 7
Träume eines Geistersehers (vgl. Anm. 3) 368.1–7. »philosophia autem prima continens principia usus intellectus puri est METAPHYSICA.«
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nehmen, nämlich einen, der nicht der Erfahrung entstamme. Dieser Anfang liege vielmehr in der Reflexion auf die Methode des Erkennens, welcher Reflexion Kant eine erzeugende Potenz zuspricht: Die nur qua solcher Reflexion mögliche Darlegung der Gesetze der reinen Vernunft ist die Erzeugung der Wissenschaft selbst8; nur durch die Reflexion auf diese Erzeugung können die Gesetze der reinen Vernunft als die wahren von den untergeschobenen Blendwerk-Gesetzen der dogmatischen Metaphysik als den falschen unterschieden werden. Insofern steht am Anfang der (kritischen) Metaphysik die Mahnung: Verhüte sorgfältig, dass die für die sinnliche Erfahrung eigentümlichen Prinzipien ihre Grenzen überschreiten und die Vernunfterkenntnisse affizieren9! In der Reflexion auf die Grenzen der menschlichen Vernunft macht die Vernunft sich selbst zu ihrem Gegenstand. »Allein in der reinen Philosophie, wozu die Metaphysik gehört, in der der Gebrauch des Intellekts in Bezug auf die Prinzipien ein realer ist, d. h. wo die ursprünglichen Begriffe der Dinge und Verhältnisse und die Grundsätze selbst durch den reinen Intellekt selbst ursprünglich gegeben werden […] geht die Methode aller Wissenschaft voraus, und alles, was vor der genauen Prüfung und sicheren Feststellung ihrer Vorschriften versucht wird, erscheint als ein voreiliges Denken und muss unter die leeren Tändeleien des Gemüts (mentis) verwiesen werden. Denn da der rechte Gebrauch der Vernunft hier die Grundsätze selbst konstituiert, und sowohl die Gegenstände als die in Bezug auf sie aufzustellenden Grundsätze allein durch ihre eigene Natur zuerst bekannt werden, so ist die Darlegung der Gesetze der reinen Vernunft auch die Erzeugung der Wissenschaft selbst, und die Unterscheidung dieser Gesetze der reinen Vernunft von untergeschobenen Gesetzen ist der Prüfstein der Wahrheit (criterium veritatis)«10. Erstes Fazit der Kantschen Kritik der Metaphysik, die frühen Schriften berücksichtigend (in Stichworten): Umkehrung der Reihenfolge; Reflexion auf die Grenzen der menschlichen Vernunft, wobei die Dialektik im Begriff der Grenze zu beachten ist, also die Reflexion darauf, dass in der Reflexion auf die Grenze über die Grenze hinausgegangen wird; die obersten Prinzipien werden selbst zum Gegenstand; der Gebrauch des Intellekts ist dann
Aus : Immanuel Kant: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. § 8. – In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Band II. Berlin 1968, 395.16 f. 8 »expositio legum rationis purae est ipsa scientiae genesis«. Ebd., 411.14 f. 9 »sollicite cavendum esse, ne principia sensitivae cognitionis domestica terminos suos migrent ac intellectualia afficiant.« Ebd., 411.29–31. 10 Übersetzt aus: ebd., 411.5–16.
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ein realer (und kein formeller), wenn der Intellekt auf diese seine Prinzipien reflektiert; die Methode (= die transzendentale Reflexion) geht der Wissenschaft (hier = der Metaphysik) voraus; indem die Reflexion die Gesetze der reinen Vernunft darlegt, wird die Metaphysik als kritische Wissenschaft erzeugt. In der »Kritik der reinen Vernunft« führt Kant an prominenter Stelle ein, was nach der Zertrümmerung der dogmatischen Metaphysik unter Metaphysik als einer Wissenschaft zu verstehen sei und welch zentrale Rolle diese für Kants Kritische Philosophie spielen soll: »Die Philosophie bedarf einer Wissenschaft, welche die Möglichkeit, die Prinzipien und den Umfang aller Erkenntnisse a priori bestimme«.11 Eine Wissenschaft, die die Möglichkeit, die Prinzipien und den Umfang aller Erkenntnisse a priori bestimmt, kann sich nicht auf Erfahrung stützen. Sie verlässt, bekommt sie etwas heraus, das Feld der Erfahrung. Und sie hat ein Ziel, eine Aufgabe: »Diese unvermeidlichen Aufgaben [warum unvermeidlich? warum überhaupt eine Aufgabe? wer oder was stellt diese Aufgaben?; U.R.] der reinen Vernunft selbst sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Die Wissenschaft aber, deren Endabsicht mit allen ihren Zurüstungen eigentlich nur auf die Auflösung derselben gerichtet ist, heißt Metaphysik, deren Verfahren im Anfange dogmatisch ist, d. i. ohne vorhergehende Prüfung des Vermögens oder Unvermögens der Vernunft zu einer so großen Unternehmung zuversichtlich die Ausführung übernimmt.«12 Diese Wissenschaft hat »unvermeidliche« Aufgaben; ohne diese Aufgaben ist sie überhaupt keine Wissenschaft und sie soll dies als Vernunfterkenntnis aus Begriffen – und vor allen Dingen nicht dogmatisch –bewerkstelligen. Nun liegt auf der Hand, dass solche Vernunfterkenntnis eine synthetische Erkenntnis a priori sein muss. In ihrem Vorhaben, Erkenntnisse, die unsere Erfahrung übersteigen, zu gewinnen, kann die Vernunft zuversichtlich sein, weil es einen vortrefflichen Fall gibt, in dem solcherart Erkennen bestätigt ist, nämlich die Mathematik. Die Mathematik beschäftigt sich mit Gegenständen, die in der Erfahrung nicht gegeben sind; die mathematische Erkenntnisgewinnung gibt ein glänzendes Beispiel dafür, wie weit wir unabhängig von der Erfahrung in der Erkenntnis a priori kommen können. Für diese apriorische Synthesis dort bedarf es allerdings der reinen Anschauung, die für die Mathematik quasi die Materie darstellt, in der die Konstruktionen verlaufen, was eine Synthesis a priori überhaupt erst möglich macht. Doch wenn man in der Metaphysik nach einem Analogon für die reine Anschauung sucht, 11
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (KrV). Hrsg. v. R. Schmidt. Hamburg 1956, 42*.1–3 (B 6). 12 KrV, 42*.22–29 (B 7).
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dann findet man nichts. Dass es aber eines solchen Substrates bedarf, wenn es um Synthesis geht, das steht für Kant außer Frage. »Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde.«13 Wenn man die Luft – sie steht in diesem Bild für die reine Anschauung – weglässt, dann kommt man – im Bild: die Taube – eben nicht weit. Der Intellekt braucht einen Widerhalt, eine Unterlage, woran er seine Kräfte anwenden kann, um Synthetisches zustande zu bringen. So einfach also – ohne Tätigkeit der Konstruktion und ohne Widerhalt für die Tätigkeit der Konstruktion – ist der Weg vom Sinnlichen zum Übersinnlichen nicht. Bis zu Kant, so Kant selbst, war die Metaphysik dogmatisch. Ihre zentralen Aussagen waren erschlichen. Durch Zergliederung – also durch analytische Urteile – dessen, was eben nicht begründet und was folglich erschlichen ist, wird nichts erreicht, wird das Nicht-Begründete nicht besser. »Man kann also und muß alle bisher gemachten Versuche, eine Metaphysik dogmatisch zustande zu bringen, als ungeschehen ansehen; denn was in der einen oder der anderen Analytisches, nämlich bloße Zergliederung der Begriffe ist, die unserer Vernunft a priori beiwohnen, ist noch gar nicht der Zweck, sondern nur eine Veranstaltung zu der eigentlichen Metaphysik, nämlich seine Erkenntnis a priori synthetisch zu erweitern, und ist zu diesem untauglich, weil sie bloß zeigt, was in diesen Begriffen enthalten ist, nicht aber, wie wir a priori zu solchen Begriffen gelangen, um danach auch ihren gültigen Gebrauch in Ansehung der Gegenstände aller Erkenntnis überhaupt bestimmen zu können.«14 In den »Prolegomena« wird das Kantsche Programm einer (kritischen) Metaphysik noch konturierter: »Wenn man die Begriffe a priori, welche die Materie der Metaphysik und ihr Bauzeug ausmachen, zuvor nach gewissen Principien gesammlet hat, so ist die Zergliederung dieser Begriffe von großem Werthe; auch kann dieselbe als ein besonderer Theil (gleichsam als philosophia definitiva), der lauter analytische, zur Metaphysik gehörige Sätze enthält, von allen synthetischen Sätzen, die die Metaphysik selbst ausmachen, abgesondert vorgetragen werden. Denn in der That haben jene Zergliederungen nirgend anders einen beträchtlichen Nutzen, als in der Metaphysik, d. i. in Absicht auf die synthetischen Sätze, die aus jenen zuerst zergliederten Begriffen erzeugt werden.«15 Den wesentlichen Inhalt der Metaphysik bildet also »allein die Erzeugung der Erkenntniß a priori sowohl der Anschauung 13 14 15
KrV, 43*.33–37 (B 8f). KrV, 54*.13–24 (B 23f). Prolegomena, 273.33–274.5.
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als Begriffen nach, endlich auch synthetischer Sätze a priori und zwar im philosophischen Erkenntnisse […] Überdrüssig also des Dogmatismus, der uns nichts lehrt, und zugleich des Scepticismus, der uns gar überall nichts verspricht, auch nicht einmal den Ruhestand einer unerlaubten Unwissenheit, aufgefordert durch die Wichtigkeit der Erkenntniß, deren wir bedürfen, und mißtrauisch durch lange Erfahrung in Ansehung jeder, die wir zu besitzen glauben, oder die sich uns unter dem Titel der reinen Vernunft anbietet, bleibt uns nur noch eine kritische Frage übrig, nach deren Beantwortung wir unser künftiges Betragen einrichten können: Ist überall Metaphysik möglich?«16 Der Dogmatismus und der von ihm hervorgerufene Skeptizismus sind für Kant allenfalls Vorstufen, welche die kritische Philosophie überwindet. Für die Metaphysik, will sie Wissenschaft sein, ist allein der kritische Weg offen. Soweit knapp und in groben Zügen die Bestandsaufnahme zum Verhältnis von Metaphysik und Metaphysikkritik bei Kant. Welche Gestalt aber nimmt dieses Verhältnis im einzelnen an? Dies soll an einem Modell, nämlich den §§ 5 und 6 der »Kritik der praktischen Vernunft« demonstriert werden. Dieses Modell hat den Vorteil, dass es aus der »Analytik der reinen praktischen Vernunft« stammt. Ein Vorteil ist dies deswegen, weil, wie im folgenden gezeigt werden kann, schon in der Analytik metaphysische Erkenntnisse als diese Analytik fundierend enthalten sind und daher die Aussage irreführend ist, Metaphysik komme bei Kant immer erst in der »Dialektik« vor (sei es im Fall der »Kritik der reinen Vernunft«, sei es im Fall der »Kritik der praktischen Vernunft«), und insbesondere dann, wenn es Antinomien gebe, und dass die Metaphysik eigentlich erst dann mit ihrem Geschäft beginne, wenn es darum gehe, jene Antinomien aufzulösen. Im § 5 präsentiert Kant die »Transzendentale Deduktion der Freiheit«. Eine metaphysische Deduktion der Freiheit, nämlich Freiheit aus metaphysischen Prinzipien, die ihrerseits nicht begründet werden können und also dogmatisch gegeben sind, zu deduzieren, ist für Kant eine Erschleichung. Bei der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (auch diese können nicht metaphysisch deduziert werden) werden dieselbigen als notwendige Momente der phaenomena erwiesen: »Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung«17. Für die Freiheit, die selbst kein empirischer Gegenstand ist, bleibt, da eine metaphysische Deduktion ausscheidet, nur die Möglichkeit der transzendentalen Deduktion. Auch die Kategorien sind keine empirischen Gegenstände. Nichtsdestotrotz müssen sie begründet 16 17
Prolegomena, 274.11–22. KrV, 54*.212, 35–213.2 (B 197).
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werden. Begründet sind sie, wenn sie als die notwendigen Bedingungen für die Gegenstände möglicher Erfahrung erwiesen werden. So sind diese Kategorien als intelligible Momente (sowohl des Erkennens wie der Gegenstände des Erkennens) begründet. In Analogie zu den Kategorien wird die (intelligible) Freiheit transzendental deduziert = sie wird erschlossen als Bedingung dafür, dass die Form der Maximen allein ein zureichender Bestimmungsgrund des Willens ist. »Vorausgesetzt, daß die bloße gesetzgebende Form der Maximen allein der zureichende Bestimmungsgrund eines Willens sei: die Beschaffenheit desjenigen Willens zu finden, der dadurch allein bestimmbar ist.«18 Die vorherige Untersuchung in der »Kritik der praktischen Vernunft« ergab: Wenn es ein allgemeines praktisches Gesetz geben soll, dann liegt es in der Form der (einzelnen) Maximen. Nur die Vernunft ist in der Lage, unter Absehung des Materials der einzelnen Maximen die Form zu denken. Die Verallgemeinerungsforderung, genauer: die Überprüfung, ob die Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicke, unterstellt einen Totalitätsbegriff, der kein Gegenstand der Sinne ist, sondern eben ein Vernunftbegriff. Insofern finden wir als die Charakteristika einer kritischen Metaphysik: die Umkehrung der Reihenfolge; keine empirische Erkenntnisquelle; das »Factum der reinen Vernunft«19 wird zum einzig möglichen Anknüpfungspunkt, wird zu dem, womit der Anfang gemacht werden muss; in der Reflexion auf diesen Anfang, dieses »Factum«, was ein Vernunftgesetz ist, werden synthetische Urteile a priori möglich. Wie geht das überhaupt: die Form der Maximen wird zum Bestimmungsgrund des Willens? Zunächst hatte Kant dargelegt: Wenn eine einzelne Maxime für den Willen bestimmend wird, dann ist sie das durch die Materie. Es ist ein einzelnes Objekt, das begehrt wird und so zum Bestimmungsgrund des Willens wird. Und dieses Objekt ist immer einzeln, empirisch. Wenn, was die Vernunft vermag, all diese Materie (die Totalität aller möglichen materialen Willensbestimmungen) negiert und der Wille durch die bloße Form bestimmt wird, dann haben wir einen Vernunftbegriff und einen einzelnen Willen, der sich eben der Forderung unterwirft, nur solche Maximen gelten zu lassen, die mit einer allgemeinen Gesetzgebung zusammenstimmen können. Der einzelne Wille hat die Allgemeinheit als die unendliche Form zu seinem Inhalte, Gegenstande und Zweck.20
18
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (KpV). In: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Band V. Berlin 1968, 28.31–33. 19 KpV, 31.33. 20 »Indem er die Allgemeinheit, sich selbst, als die unendliche Form zu seinem Inhalte, Ge-
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Der Wille wird durch seine Beziehung auf die ihn bestimmende allgemeine gesetzgebende Form bestimmt. Diese Form ist ein Gegenstand der Vernunft und zweifellos kein empirischer Gegenstand. Empirische Gegenstände sind der Naturkausalität unterworfen. Folglich ist ein durch die Vernunft bestimmter Wille nicht der Naturkausalität unterworfen. Unabhängigkeit von der Naturkausalität heißt Freiheit. Damit ist die Freiheit des Willens transzendental deduziert – und zwar daraus, dass die gesetzgebende Form der Maximen allein Bestimmungsgrund des Willens ist (oder sein kann). So ist dann der freie Wille bestimmt (im Sinne von: er bekommt eine Bestimmung) – nämlich als bestimmte Negation eines material, d. i. durch ein (einzelnes, empirisches) Objekt des Begehrungsvermögens bestimmten Willens. Allein die Tätigkeit der Vernunft – offenbar werdend im Verallgemeinern der Maxime und im Begriff der Totalität, der in »allgemeiner Gesetzgebung« steckt – wird zum Bestimmungsgrund des Willens. In einem so bestimmten Willen sind der Wille und die tätige Vernunft Eines, eben der »freie Wille« oder »Kausalität aus Freiheit«. In einem solchen Willen sind nicht nach Ursache und Wirkung verknüpfte Erscheinungen enthalten (oder für ihn bestimmend), sondern es ist eine aus einem intelligiblen Substrat gesetzte Kausalität. Mithin ist für den freien Willen die Naturkausalität negiert und Kausalität aus intelligibler Freiheit gesetzt. »Wenn aber auch kein anderer Bestimmungsgrund des Willens für diesen zum Gesetz dienen kann, als blos jene allgemeine gesetzgebende Form: so muß ein solcher Wille als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Causalität, beziehungsweise auf einander gedacht werden.«21 Der Bestimmungsgrund ist ein Intelligibles: die allgemeine gesetzgebende Form. Diese Form ist in der Vernunft – ist kein empirischer Gegenstand. Geschlossen wird aus diesem Bestimmungsgrund (oder daraus, dass ein Intelligibles Bestimmungsgrund für einen Willen ist) auf die objektive Realität des freien Willens, der durch die allgemeine gesetzgebende Form, also letztlich durch die diese Form hervorbringende Vernunft bestimmt wird. Diese allgemeine gesetzgebende Form ist auch unabhängig von den Beziehungen einzelner Willen aufeinander, diese Beziehungen als einzelne empirische Beziehungen genstande und Zweck hat, ist er nicht nur der an sich, sondern ebenso der für sich freie Wille – die wahrhafte Idee.« (G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. § 21. – In: G.W.F. Hegel: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Hrsg. v. Hermann Glockner. Stuttgart-Bad Cannstadt 1964. Band 7, 72.) Soweit Hegel zu dem im Willen, der für sich wird, sich durchsetzenden Denken: Für sich wird der an sich freie Wille, wenn er sich als den freien Willen will – und damit die Freiheit seines Wollens setzt. 21 KpV, 29.2–6.
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betrachtet. »Eine solche Unabhängigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d. i. transzendentalen, Verstande.«22 Die Idee der Freiheit, negativ gegen die Naturkausalität bestimmt, ist nicht Nichts, ist kein nihil negativum, kein einen Widerspruch enthaltender Begriff, sondern ist eine Idee der Vernunft, die unvermeidlich erzeugt wird, wenn die Vernunft tätig ist. Dieser Idee der Vernunft kommt objektive Realität zu, und zwar in dem freien Willen. Ergo existiert die Idee der Vernunft, existiert die Freiheit. Für die Existenz dieser Idee gibt es einen Beweis, nämlich die transzendentale Deduktion im § 5: Daraus, dass es ein moralisches Gesetz gibt, wird auf ein intelligibles Substrat oder eine intelligible Instanz für dieses Gesetz, nämlich den freien Willen, geschlossen. Metaphysikkritik ist der Ausgangspunkt. Mit der Destruktion der dogmatischen Metaphysik wird die transzendentale Reflexion zur Erkenntnisquelle und zur Quelle synthetischer Urteile a priori. Transzendentale Reflexion ist Vernunfterkenntnis aus Begriffen. Verglichen mit der dogmatischen Metaphysik wird die Reihenfolge umgekehrt; die Methode (= die transzendentale Reflexion) geht voraus. Der Schluss auf ein Sein enthält ein synthetisches (kein analytisches) Erkennen, nämlich von dem moralischen Gesetz und der (intelligiblen) Idee der Vernunft auf die »Beschaffenheit desjenigen Willens«, der durch Vernunft allein bestimmbar ist. Anmerkung: Wenn nun der Wille durch seine Beziehung auf die ihn bestimmende allgemeine gesetzgebende Form bestimmt ist und wenn diese Bestimmung durch die allgemeine gesetzgebende Form durch bestimmte Negation gegen die Bestimmung des Willens durch empirische Bestimmungsgründe abgegrenzt ist, dann sollte man die so erschlossene Kausalität aus einem intelligiblen Substrat nicht mit der Kausalität nach Gesetzen der Natur gleichsetzen: Der Freiheitsimpuls, der aus der Reflexion auf die Form der Maximen (auf die Möglichkeit des moralischen Gesetzes) herrührt und eine Wirkung auf den Willen hat, darf nicht als genauso strukturiert gedacht werden wie die Kausalität aus dem Blitz, welche Kausalität mit Notwendigkeit die Verknüpfung zum vom Blitz bewirkten Donner setzt. Sonst wäre nämlich die reflektierende Vernunft in eins gesetzt mit einer Erscheinung, die nach Naturgesetzen eine notwendige Wirkung im Willen hätte. Hypostasiert man aber die reflektierende Vernunft zu einer Erscheinung, produziert dies eine Antinomie.23 Die modernen Hirnforscher vollziehen solcherart
22
KpV, 29.6–7. Eine Antinomie ist es dann, wenn der Freiheitsimpuls auf der einen Seite als ein Impuls verstanden wird, der, wenn eben frei, durch die materialen Bedingungen nicht determiniert ist, und wenn er auf der anderen Seite hypostasiert, zu einem wie eine Naturursache wirkenden 23
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Hypostasierung eines Intelligiblen, streichen die Antinomie glattweg durch und sagen: Zur Erklärung dieses Intelligiblen brauchen wir doch keine intelligible Vernunft! Schauen wir lieber in den Erscheinungen nach, also suchen wir im Zentralen Höhlengrau nach dem auslösenden Impuls (vormals und irrtümlich als ›Freiheit‹ bezeichnet), der so wie der Blitz den Donner unsere Handlungen bewirke! Und dann sind wir Hirnforscher viel besser als die Philosophen, weil wir mit der (unserem Experimentieren zugänglichen und auch ausgesetzten) Erscheinung das materiale Substrat und die Spontaneität für die Moralität erforschen – und damit uno actu der Antinomien, der Dialektik samt intelligibler Freiheit und insgesamt der Metaphysik uns entledigen können! Der § 6 – überschrieben mit »Aufgabe II« – ist die Umkehraufgabe zu der »Aufgabe I« des § 5 – und somit die Umkehrung des Schlusses von § 5, wobei im folgenden zu klären ist, was ›Umkehrung‹ hier heißt. Aufschlussreich ist, dass Kant mit dem § 5 anfängt, der Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit, dass ein Wille durch die durch die Vernunft hervorgebrachte Form der Maximen bestimmbar sei. Im § 6 wird der freie Wille vorausgesetzt, also die Existenz eines so beschaffenen Willens. Gezeigt wird, dass er nur durch das moralische Gesetz bestimmt werden kann. Die Argumentation geht vom freien Willen aus. Dieser muss, wenn eben frei, als von empirischen Bedingungen unabhängig vorgestellt werden. Dennoch ist er nicht völlig bestimmungslos, denn dann wäre er Nichts. Vielmehr muss er »bestimmbar« sein – bestimmbar aber wodurch? Wenn wir von der Materie des Gesetzes sprechen, dann gehört dazu notwendig die Form: als Reflexionsbestimmungen sind Materie und Form wechselseitig durch die jeweils entgegengesetzte bestimmbar. Durch die Materie des Gesetzes kann der freie Wille nicht bestimmbar sein, denn sonst wäre er heteronom bestimmt (und wäre dann kein freier Wille). Also muss er durch die Form bestimmbar sein. Er muss überhaupt bestimmbar sein, denn als völlig bestimmungsloser Wille (als freier Wille, der nichts als den freien Willen will) kann er nicht sein, wenn davon ausgegangen wird, dass ein freier Wille existiert. »Es ist […] außer der Materie des Gesetzes nichts weiter in demselben als die gesetzgebende Form enthalten.«24 Ausgehend von der Existenz des freien Willens wird auf die Art desjenigen geschlossen, was für diesen Willen Bestimmungsgrund Ding gemacht wird. Dann steht dieser Freiheitsimpuls sowohl außerhalb des durch Naturgesetze bestimmten Zusammenhangs wirkender Naturursachen wie zugleich auch nicht außerhalb. Und zu den Naturursachen kommt dann eine zusätzliche hinzu, die als Freiheit keine solche sein will und doch zugleich eine solche ist. Die Hirnforscher streichen die Antinomie, indem sie die Freiheit kurzerhand zu einem Mißverständnis erklären. 24 KpV, 29.19–20.
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ist: auf die gesetzgebende Form, die allein eine Vorstellung der Vernunft ist. Die Materie ist empirisch erfahrbar, die Form hingegen (nur) durch die Vernunft bestimmbar. Die Vernunft ist in ihrer Tätigkeit aber nicht leer (dies ist ein positivistisches Missverständnis), sondern bringt synthetische Urteile a priori hervor: Die Idee der Menschheit, das Kollektiv freier Subjekte, das Reich der Zwecke u. a. sind durch die Vernunft geschaffen. Komprimiert lässt sich die Schlussweise im § 6 so darstellen: Freiheit (sei es die Idee, sei es der freie Wille) ist weder vorstellbar noch existiert sie ohne Vernunft und ohne vernünftiges moralisches Gesetz. Dafür der negative Beweis: Angenommen, Freiheit wäre ohne Vernunft und damit so eine Art Zufallsgenerator für die freie Willkür, dann wäre Freiheit nichtig. Dass die Freiheit nichtig ist, widerspricht dem Ausgangspunkt (»Vorausgesetzt …«) des § 6. Somit ist, wenn man von (der Idee der) Freiheit und der Existenz der Freiheit im freien Willen ausgeht, immanent zu entwickeln, dass Freiheit auf Vernunft bezogen sein muss. Für das Weitere sei folgende Terminologie eingeführt: Die Schlussweise im § 6 soll ›der Schluss nach vorwärts‹ heißen: von der Freiheit im freien Willen auf das (oder: hin zum) vernünftige(n) moralische(n) Gesetz, das Bestimmungsgrund für diesen freien Willen sein muss. Die Schlussweise im § 5 ist ›der Schluss nach rückwärts‹: von dem moralischen Gesetz auf die Bedingung der Möglichkeit dessen, dass ein vernünftiges Gesetz bestimmend für einen Willen sein kann. Links oder vorne – als das in einem ontologischen Sinne Frühere, was zugleich logisch später ist, weil es als Grund dessen, womit man anfängt (mit dem moralischen Gesetz), erschlossen wird – steht auf diesem logisch-ontologischen Zeitstrahl die ratio essendi, der Seinsgrund; rechts oder hinten – als das in einem logischen Sinne Frühere (das »Factum der reinenVernunft«), womit angefangen wird und was dann als von dem ontologisch Früheren abhängig oder als durch dieses bedingt sich erweist – die ratio cognoscendi, der Erkenntnisgrund. Seit Hegel weiß man, dass im allgemeinen betrachtet das wissenschaftliche Vorwärtsgehen nicht linear verläuft und bei seinem Vorwärtsgehen dasjenige, wovon es ausgegangen ist, nicht hinter sich lässt oder gar wie eine überflüssig gewordene Leiter wegwirft, sondern dass dieses wissenschaftliche Vorwärtsgehen, wenn es durch die Reflexion auf sich überhaupt erst begriffen wird, als eine gedoppelte Bewegung sich herausstellt: 1. Das wissenschaftliche Vorwärtsgehen ist »ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften […], von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt, und in der That hervorgebracht wird.«25 25
G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Erstes Buch. Die Lehre vom Sein (1832).
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2. Indem das wissenschaftliche Vorwärtsgehen in den Grund für dasjenige, wovon es ausging, zurückgeht, entwickelt es diesen Grund als Resultat, und der Anfang ist als Grund (für diese Entwicklung) zu betrachten.26 Wendet man diese Hegelsche Einsicht auf das wissenschaftliche Vorgehen im § 5 an, so stellt dieses sich so dar: Das moralische Gesetz ist das Erste, was sich uns darbietet – als »Factum der reinen Vernunft«. Von diesem ausgehend, also ausgehend von der gesetzgebenden Form der Maximen (d. i. von dieser ratio cognoscendi ausgehend) erschließen wir die Beschaffenheit des Willens, der allein durch jene Form bestimmbar ist, mithin schließen wir zurück auf die ratio essendi. Diese ist das »Ursprüngliche und Wahrhafte«, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde (nämlich mit dem moralischen Gesetz), abhängt und hervorgebracht wird. Zugleich ist in diesem rückwärts gehenden Erschließen des Grundes enthalten, dass dieser Grund als Resultat entwickelt wird und erst so erkannt wird, dass der freie Wille existiert. Deutlicher wird dieses »Zugleich«, wenn wir den § 6 betrachten. Wendet man obige Hegelsche Einsicht auf das wissenschaftliche Vorgehen im § 6 an, so stellt dieses sich so dar: Ausgehend von der Freiheit und der Existenz der Freiheit im freien Willen, erkennen wir, dass das vernünftige moralische Gesetz dasjenige ist, was bestimmend für einen in Wahrheit freien Willen sein muss. Damit ist das im § 5 vorausgesetzte moralische Gesetz begründet (oder ›gesetzt‹), also die ratio cognoscendi begründet als dasjenige, was allein einen freien Willen zu bestimmen tauglich ist. In dieser nach vorwärts gehenden Entwicklung (das moralische Gesetz als Resultat entwikkelt) ist zugleich ein nach rückwärts gehendes Erschließen enthalten, dass dieses Resultat zugleich Grund ist, das »Wahrhafte«, von dem der freie Wille abhängt, nämlich genau der Erkenntnisgrund, welcher möglich machte, den freien Willen zur Voraussetzung dieser entwickelnden Bewegung zu machen. So sind beide, das moralische Gesetz wie der freie Wille, sowohl als Grund erschlossen als auch als Resultat entwickelt und so überhaupt erst bestimmt. Deswegen können die §§ 5 und 6 als Einheit verstanden werden. Nun waren die §§ 5 und 6 oben als Demonstrationsmodell für das Verhältnis von Metaphysik und Metaphysikkritik bei Kant vorgestellt worden. Die Frage, was an den §§ 5 und 6 überhaupt Metaphysik sei, kann in die folgenden Fragen transformiert werden: Wo sind hier die synthetischen Urteile a priori verborgen? Sind, wenn es denn solche auszumachen gibt, diese begründet, und wenn ja, wie? – In: G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. Band 21. Hrsg. v. Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke. Hamburg 1985, 57.14–16. 26 Ebd., 57.29–58, 3.
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Dass Kant dies auch so sah und solche Fragen aufwarf, zeigt schon der erste Satz in der »Anmerkung« an: »Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselsweise auf einander zurück.«27 Wird dieses »wechelsweise« Aufeinander-Verweisen schlicht so verstanden, dass von dem ersten Begriff auf den zweiten und von diesem wieder zurück auf den ersten geschlossen werde, dann liegt die Befürchtung nahe, es könnte auf einen Zirkel hinauslaufen. Das Ganze wäre insofern analytisch, als beide Begriffe eben in dieser Konstellation gegeben wären und man sich im Kreise drehte resp. ohne Ende hin- und hergeschickt werden würde. Deswegen ist die Frage ›Spielt Metaphysik hier überhaupt eine Rolle?‹ nicht am einzelnen Schluss entscheidbar, also etwa daran, ob der Schluss von § 5 synthetisch oder analytisch ist, sondern vielmehr daran, ob diese Konstellation insgesamt analytisch oder synthetisch ist. Kant selbst sah die Notwendigkeit, das »wechselsweise« Aufeinander-Verweisen näher zu untersuchen: in der bezeichnenderweise später geschriebenen Vorrede zur »Kritik der praktischen Vernunft«. Dort referiert Kant den Erkenntnisfortschritt der »Kritik der praktischen Vernunft« gegenüber der »Kritik der reinen Vernunft«. Letztere ist – wenn man es so bezeichnen will – Metaphysikkritik: in der Reflexion auf die Ideen der Vernunft werden deren Grenzen aufgezeigt und zugleich werden diese Ideen durch eben diese Reflexion bestimmt. Namentlich zeigt die »Kritik der reinen Vernunft«, dass die Idee unbedingter Freiheit (einer Kausalität aus Freiheit, welche nicht Kausalität nach Gesetzen der Natur ist) nicht unmöglich sei, nicht ein nihil negativum sei. Die »Kritik der reinen Vernunft« zeigt überdies, dass Vernunft, wenn sie hypostasiert wird, notwendig in eine Antinomie sich verwickele, dass man sich aber »wider die Antinomie« retten könne, ohne die Idee unbedingter Freiheit aufgeben zu müssen. Die »Kritik der reinen Vernunft« zeigt allerdings nicht die Existenz eines solchen intelligiblen Substrats, sondern sagt, dass die Behauptung, ein solches Substrat sei theoretisch zu erkennen, »überschwenglich« sei. Die »Kritik der reinen Vernunft«, die hierin Metaphysikkritik ist, weist die dogmatische Behauptung der Freiheit zurück (Freiheit und der freie Wille sind eben keine Gegenstände möglicher Erfahrung und demzufolge theoretisch nicht zu erkennen), beweist jedoch durch transzendentale Reflexion, dass Freiheit nicht unmöglich sei. Die Vernunft, will sie sich nicht selbst abschaffen, muss »in der Reihe der Causalverbindung sich das Unbedingte denken«, könne diesen Begriff jedoch – so Kants Argumentation in der »Kritik der reinen Vernunft« – »nur problematisch, als nicht unmöglich zu denken, aufstellen […], ohne ihm seine objective Reali-
27
KpV, 29.24–25.
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tät zu sichern«28. Insofern macht die »Kritik der reinen Vernunft« Ernst mit der Metaphysikkritik: der dogmatischen Metaphysik hat sie den Boden unwiederbringlich entzogen. Wenn nun allerdings nach dem erheblichen theoretischen Aufwand für den Beweis – die Aussagen: ›Freiheit ist nicht unmöglich‹ und ›Freiheit kann sein/kann nicht sein‹ sind in der »Kritik der reinen Vernunft« als wahr bewiesen – nichts aufzufinden wäre, was in die so eröffnete theoretische Lücke passte, dann drohte der »Abgrund des Scepticisms«, welcher jene theoretische Anstrengung als bloßes Räsonieren denunzierte. »Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist«29 – im § 5 findet sich die über die »Kritik der reinen Vernunft« hinausgehende Argumentation: Wenn wir davon ausgehen, dass das Gesetz der praktischen Vernunft apodiktisch (= notwendig) gilt und nicht eine bloße Meinung ist, deren sich der eine dünkt, der andere nicht, dann ist als Bedingung der Möglichkeit für ein solch apodiktisches Gesetz die Freiheit des menschlichen Willens zu erschließen – also: die Realität der Freiheit »macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft aus, und alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser ohne Haltung30 bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objective Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz.«31 Die Idee der Freiheit offenbart sich – nota bene: Kant verwendet ›offenbaren‹ hier reflexiv, also ein Sich-Offenbaren der Freiheit. Wir wissen um das moralische Gesetz. Im § 5 schließen wir auf den Seinsgrund des moralischen Gesetzes, den freien Willen. In diesem Schluss hat sich uns die Idee der Freiheit offenbart, als intelligibles Substrat für das moralische Gesetz. Offenbarung – ein aus der Metaphysik stammender Terminus – bedeutet: ἀποκάλυψις, Enthüllung, revelatio, das SichZeigen, Enthüllen, Kundtun, Sichtbar-Machen des Absoluten. Gott, der für uns kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, offenbart sich uns in der Schöpfung, in Christus, in dessen Worten und Taten. Kant verwendet den theologisch-metaphysischen Begriff ›Offenbarung‹ hingegen als Aufklärer: Es ist die tätige Vernunft, die auf den Seinsgrund des moralischen Gesetzes schließt. Es ist jedoch nicht ein Absolutes – die Idee der Freiheit als ein sol28
KpV, 3.16. KpV, 3.24–25. 30 Gott und Unsterblichkeit bleiben bloße Ideen und in der Vernunft »ohne Haltung«, wenn sie nicht auf die Realität der Freiheit bezogen werden, d. i. wenn sie nicht über die Existenz von Freiheitssubjekten eine ›Erdung‹ finden: im Reich Gottes auf Erden. 31 KpV, 3.25–4, 6. 29
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ches Absolutes aufgefasst –, das sich uns offenbarte. Dass sich uns ein objektiv Reales zeigt, ist vielmehr Resultat jener transzendentalen Reflexion, die wir anstellen, die wir machen müssen. Diese transzendentale Reflexion ist für alle Menschen möglich und dieselbige; sie ist nicht an besondere Orte und besondere Zeiten geknüpft, nicht an besondere Menschen, die eine besondere Verbindung zum Absoluten hätten und denen exklusiv die Offenbarung des Absoluten vorbehalten bliebe. Ein solches durch die Selbstoffenbarung des Absoluten Geoffenbarte müsste nämlich von anderer Art32 sein als das, was menschliche Vernunft aus sich heraus einsehen (oder hervorbringen) könnte. Dies wäre die Position der dogmatischen Metaphysik. Für Kant ist hingegen die tätige Vernunft die Grundlage, von der aus der mögliche Inhalt und die Geltung der Offenbarung zu bestimmen ist. Deswegen kommt der § 5 zuerst, also der Schluss vom moralischen Gesetz auf den freien Willen und damit auf den Seinsgrund, der nicht empirisch ist und der der Vernunft durch die transzendentale Reflexion offenbar wird: So wird ein objektiv reales Intelligibles erkannt! Der freie Wille ist nicht anzuschauen; der Prozess der Bestimmung des Willens durch die Form des Gesetzes (und damit durch die Vernunft) ist gleichfalls nicht anzuschauen. Dennoch wird ein Intelligibles erkannt, dem ein Sein zugesprochen werden muss – und das ist (kritische) Metaphysik! Im § 6 offenbart sich der freie Wille dadurch, dass er das moralische Gesetz setzt und damit dasjenige setzt, was die Möglichkeit bietet, ihn zu erkennen. Genauer: diese Offenbarung des freien Willens durch die vorwärtsgehende Reflexion (im § 6) ist eben an eine nach rückwärts gehende Reflexion gebunden, die vom moralischen Gesetz auf dessen Grund zurückschließt – der freie Wille offenbart sich nicht direkt und nicht unmittelbar aus sich heraus, sondern nur vermittels dieser beiden reflektierenden Bewegungen der Vernunft. Kant befürchtet den Einwand, § 5 und § 6 zusammen bildeten einen Zirkel, und formuliert vorsorglich in der Fußnote: »Damit man hier nicht Inconsequenzen anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne und in der Abhandlung nachher behaupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können, so will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei.«33 Freiheit ist zunächst eine Idee der Vernunft: eine unbedingte, setzende Kausalität im Unterschied/im Gegensatz zu der naturgesetzlichen Verknüpfung von Ursache und Wirkung, wo bei letzterer Verknüpfung die Ursache wiederum Wir32 33
Es sei denn, menschliche Vernunft und Gott fielen in eins. KpV, 4.28–33.
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kung einer anderen Ursache ist usf., d. h. für jede Ursache eine weitere Ursache vorausgesetzt werden muss; Freiheit ist also eine negativ gegen die Naturkausalität bestimmte unbedingte und setzende Kausalität. Dieser Idee der Vernunft (»Freiheit«) korrespondiert eine objektive Realität (der »freie Wille«). Damit ist Metaphysik im Spiel. Nimmt man den § 5 isoliert und ohne obige Hegelsche Einsicht, dann kann man einwenden: Im § 5 werde ziemlich unverblümt und doch unabgesichert auf ein Sein (des freien Willens) geschlossen; dieser Schluss unterscheide sich nicht von einem solchen der dogmatischen Metaphysik; wenngleich Kant diesen § 5 als »transzendentale Deduktion« ausgebe, handle es sich in Wahrheit um eine von der dogmatischen Metaphysik her bekannte Subreption. Dieser Einwand lässt sich unter Zuhilfenahme der Hegelschen Einsicht entkräften: Der freie Wille – ein Existierendes in empirischen Subjekten – und das moralische Gesetz – kein Empirisches, sondern ein Intelligibles, das »einzige Factum der reinen Vernunft«34 – sind innerhalb einer nach rückwärts und nach vorwärts reflektierenden Bewegung wechselsweise aufeinander zurückverwiesen.35 Dass der freie Wille der Seinsgrund für das moralische Gesetz ist – dieses Gesetz setzt und in diesem Setzen sich offenbart, wenn dies als Entwicklung nach vorwärts begriffen wird –, ist verknüpft mit der Reflexion, die von dem moralischen Gesetz ausgeht, dieses als Erkenntnisgrund nimmt und nach dessen Grund fragt. Der Schluss nach vorwärts – der freie Wille setzt das moralische Gesetz, ist dessen Seinsgrund – ist in einer Einheit mit dem Schluss nach rückwärts, nämlich der Erkenntnis des freien Willens als Seinsgrundes, eine Erkenntnis, die das moralische Gesetz als Erkenntnisgrund – genauer: das Verhältnis der Subjekte zum moralischen Gesetz als Erkenntnisgrund – voraussetzt. Beide Schlüsse sind in einer Einheit, weil beide, moralisches Gesetz wie freier Wille, in den Schlüssen sowohl als Grund als auch als Resultat (oder Begründetes) begriffen werden müssen. Ohne diese Einheit beider Schlüsse ist das Sich-Offenbaren des freien Willens nicht bestimmbar und wäre ein Sich-Offenbaren genauso wie in der dogmatischen Metaphysik und doch auf dem Boden von Metaphysikkritik (was widersprechend ist). Den menschlichen Willen einfach als freien Willen, als jenseits von der Erfahrung zugänglichen naturkausalen Verknüpfungen existierend zu behaupten, bleibt dogmatische Metaphysik, die der Metaphysikkritik bedarf, welche hier als die Reflexion auf die Einheit der beiden Schlüsse tätig und wirksam ist. Freiheit ist also nicht unmittelbar ›zu haben‹ – in dem falschen Verständnis, man ›sehe‹ ja, dass man frei sei, denn man könne jetzt doch entweder aufstehen 34 35
KpV, 31.33. KpV, 29.24 f.
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oder sitzen bleiben; falsch ist dies, weil es für das Sitzen-Bleiben oder das Aufstehen jeweils verschiedene und im Prinzip erkennbare Gründe in der empirischen Realität gibt. Vielmehr ist Freiheit nur durch den aus dem gegebenen moralischen Gesetz erfolgenden Rückgang in den Grund desselbigen (= auf die Wahrheit desselbigen), welcher Rückgang in einer Einheit damit ist, diesen Grund zu setzen, was nur möglich ist, weil das Umgekehrte auch gilt, nämlich aus dem freien Willen das moralische Gesetz als dasjenige zu entwickeln, was allein die Freiheit des Willens nicht desavouiert und für nichtig erklärt. Damit ist Freiheit an die tätige Reflexion gebunden, nicht aber eine Eigenschaft, die man schlicht ›habe‹ und die an ein physisches Substrat fixierbar sei. Kant hat eine Ahnung davon, dass mit der gleichwohl moralisch zwingend gebotenen Behauptung der Existenz eines freien Willens der Rückfall in eine dogmatische Metaphysik droht. Deswegen betont er den Vorrang – und zwar den logischen, nicht den zeitlichen – der transzendentalen Deduktion (des Schlusses nach rückwärts) im § 5 und will beide Schlüsse nicht als symmetrisch verstanden wissen. »Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht) anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.«36 Letzteres wissen wir aber nur unter der Voraussetzung des Schlusses vom § 5. Die Berechtigung, überhaupt einen freien Willen anzunehmen, rührt von der ratio cognoscendi. Man kann nun gegen Kant einwenden, dass auch die auf den vorherigen Seiten vorgenommene Weiterentwicklung (mittels Hegels Einsicht, jedoch durchaus Kant-gemäß) den Rückfall in eine dogmatische Metaphysik nicht verhüte. Dieser Einwand ist dann, wenn die Einheit der beiden reflektierenden Bewegungen als ein in sich geschlossener Kreis verstanden wird37, stichhaltig. Kants vorsorgliche Bemerkung über die Asymmetrie von ratio essendi und ratio cognoscendi und über den logischen Vorrang der transzendentalen Deduktion (des Schlusses nach rückwärts) will die §§ 5 und 6 vor leerem ImKreis-Schließen bewahren, also die in den beiden §§ enthaltenen synthetischen Urteile a priori retten und mit diesen die Möglichkeit einer kritischen Metaphysik retten. Dies gelingt aber nur, wenn Asymmetrie und Vorrang material und historisch ›erweitert‹ werden. So sei skizziert, wie – auch über
36
KpV, 4.33–37. Vgl. Ulrich Ruschig: Randglossen zur ›Bewegung des Begriffs‹. – In: Johann Kreuzer (Hrsg.): Hegels Aktualität. Über die Wirklichkeit der Vernunft in postmetaphysischer Zeit. München 2010, 73 f., 80. 37
Metaphysik und Metaphysikkritik bei Kant
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einen mit Hegel besser verstandenen Kant hinausgehend – dennoch an einer kritischen Metaphysik festgehalten werden könne: In eine transzendentale Deduktion gemäß dem § 5 sollte nicht lediglich das moralische Gesetz (einfach so, pur, d. i. als von allen Besonderheiten abstrahierend und als bloßes, quasi in sich verschlossenes »Factum der reinen Vernunft«38 genommen) eingehen, sondern darüber hinaus das Verhältnis eines einzelnen Subjekts oder vieler jeweils besonderer Subjekte zum moralischen Gesetz, und zwar konstitutiv für eine dann – verglichen mit der Kantschen – erweiterten transzendentalen Deduktion. Für dieses Verhältnis, da die Subjekte sowohl vernünftig als auch Sinnenwesen sind, sind auch die empirischen Bedingungen für diese Sinnenwesen bestimmend. Damit gibt es eine Differenz zwischen der vernünftigen Bestimmung des Willens und den an sich nicht vernünftigen Bedingungen für das Handeln. Ohne diese Differenz ist das moralische Gesetz nicht. Folglich hat das moralische Gesetz materiale und historische Implikationen; für das moralische Gesetz ist die Unterscheidung von Zweck und Mittel konstitutiv, eine Unterscheidung, die nur am Material möglich ist. Für reine Geister wäre Moral nicht nötig. Moral gibt es, weil Menschen unter Herrschaftsverhältnissen zu leben gezwungen werden. Das moralische Gesetz, will es nicht als Wahnvorstellung sich entpuppen, setzt die Möglichkeit eines Kollektivs freier Subjekte samt des Reiches der Zwecke voraus, welches die empirischen Sinnenwesen als notwendige Idee der Vernunft hervorbringen und dessen Möglichkeit sie unterstellen müssen, wenn sie ihre freie Willkür vernünftig bestimmen wollen. Ohne dass diese materialen Implikationen, welche ihrerseits historisch sich entwickeln, in eine wohlverstandene transzendentale Deduktion eingehen, ist der Rückfall in eine dogmatische Metaphysik nicht zu verhüten und sind synthetische Urteile a priori für eine kritische Metaphysik – durchaus im Kantschen Sinne – nicht zu begründen.
38
KpV, 31.33.
Jacobi und die kahlen Reste der Metaphysik Peter Jonkers
Die Bedeutung Jacobis für die Klassische Deutsche Philosophie wurde von seinen Zeitgenossen bekanntlich sehr unterschiedlich bewertet. Während manche von ihnen seine Schriften als eine Art Schwärmerei und Schmähung der Vernunft disqualifizierten,1 anerkennt einer von ihnen, und nicht der Geringste, Jacobis herausragende Bedeutung als Kritiker der Metaphysik. In seiner Rezension des dritten Bandes der Ausgabe von Jacobis Werken misst Hegel, denn um ihn geht es hier, Jacobi das Verdienst bei, dass »die tiefe Gründlichkeit seines Geistes […] nicht bey den kahlen Resten, in denen die Metaphysik ein ermattetes Leben dürftig fristete und noch schaale Hoffnungen nährte, stehen [blieb]«, sondern »die Philosophie in den Quellen des Wissens auf[fasste], und […] sich in ihre kräftigste Gediegenheit [versenkte].«2 Mit dem Ausdruck der kahlen Reste der Metaphysik meint Hegel, dass die Aufklärung »den empfangenen und unmittelbar gegebenen Inhalt einer göttlichen Welt nach allen Seiten aufgelöst, und dieses sogenannte Positive […] aufgegeben und verworfen [hatte]. Was übrig blieb, war der Todtenkopf eines abstracten leeren Wesens, das nicht erkannt werden könne, d. h. in welchem das Denken sich selbst nicht habe; das an und für sich seyende war damit eigentlich auf Nichts reducirt, denn was das Selbstbewußtseyn in sich fand, waren endliche Zwecke, und die Nützlichkeit, als die Beziehung aller Dinge auf solche Zwecke.«3 Wie sich im Folgenden herausstellen wird, deuten diese Worte Hegels, trotz ihres bildhaften Charakters, die Bedeutung der Kritik Jacobis an der Metaphysik seiner Zeit, insbesondere an ihrem traditionellen Höhepunkt, der philosophischen Gotteslehre, auf eine präzise Weise an. Jacobi fragt sich,
1
Für eine Übersicht dieser negativen Bewertungen vgl. Walter Jaeschke: Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist. Jacobis Kritik der Aufklärung. − In: Walter Jaeschke/ Birgit Sandkaulen (Hrsg.): Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Band 29) Hamburg 2004, 199−216. Hier: 199. 2 G.W.F. Hegel: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968 ff. Band 15: Schriften und Entwürfe I (1817–1825). Hrsg. v. Friedrich Hogemann/ Christoph Jamme. Hamburg 1990, 9 (im Folgenden: GW 15). 3 GW 15, 8.
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wie es überhaupt möglich ist, dass die Metaphysik, die von Descartes noch mit den lebenskräftigen Wurzeln des fruchtbaren Baumes der Wissenschaft verglichen worden war,4 zur Zeit der Aufklärung so sehr ihre Lebenskraft einbüßen konnte, dass nur noch einige kahle Reste von ihr übrig blieben. Was ist mit der Metaphysik passiert, dass sie ihre Aufgabe, die Grundlagen der Wirklichkeit zu erkennen, so sehr vernachlässigt hat, dass sie schließlich sogar Gott als lebendiges, persönliches Wesen zu einem Totenkopf eines abstrakten, leeren Wesens herabgewürdigt hat? Auf Jacobis Beantwortung dieser Frage, sowie auf die vielleicht noch interessantere Frage, ob er imstande ist, eine alternative, lebenskräftigere Wissensform als die der Metaphysik zu entwickeln, werde ich mich in diesem Beitrag konzentrieren.
1. Der Streit um die Vernunft-Religion Üblicherweise ordnet man Jacobis Kritik der Metaphysik den großen Streitfragen zu, die er entweder herbeigeführt oder an denen er sich beteiligt hat. Diese sind der Pantheismusstreit von 1785, in dem er die Philosophie Spinozas aufs Korn nahm, der Atheismusstreit von 1799, in dem er die Philosophie Fichtes kritisierte, und der Streit um die göttlichen Dinge von 1811, der eine polemische Auseinandersetzung mit Schelling war. Kauttlis hat vorgeschlagen, diesen letzten Streit in »Theismusstreit« umzubenennen, da 1811, so seine These, der Theismus selbst erstmals zum Problem wird.5 Gegen diese These möchte ich aber erstens einwenden, dass Jacobi sich nicht erst in der Schrift »Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung« des anti-theistischen Charakters der Wissenschaft im Klaren war, sondern bereits fünfundzwanzig Jahre zuvor. Denn der zentrale Passus, der diesen Charakter am deutlichsten zeigt, nämlich dass es »das Interesse der Wissenschaft [ist], daß kein Gott sey« wird nicht erst in der Schrift »Von den göttlichen Dingen« formuliert, sondern taucht fast wörtlich bereits in einem aus dem Jahr 1786 stammenden Brief Jacobis an Hamann auf, sowie – sinngemäß – in seinem aus dem Jahr 1788 stammenden Aufsatz »Einige Betrachtungen über den frommen Betrug und über eine Vernunft, welche nicht die Vernunft 4
Vgl. René Descartes: Principes de la philosophie. − In: René Descartes: Œuvres IX. Paris 1996, 14. 5 Ingo Kauttlis: Von »Antinomien der Überzeugung« und Aporien des modernen Theismus. − In: Walter Jaeschke (Hrsg.): Religionsphilosophie und spekulative Theologie: der Streit um die göttlichen Dinge 1799–1812. Hamburg 1994, 4 f. 6 F. H. Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke. Band 3: Schriften zum Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung. Hrsg. v. Walter Jaeschke.
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ist«.6 Zweitens und vor allem lässt sich zeigen, dass es sich für Jacobi zunächst nicht um einen Theismus-, sondern um einen Deismusstreit handelt und insbesondere, dass er mit dem Namen ›Wissenschaft‹ nicht den Theismus, sondern den Deismus oder Naturalismus der Aufklärung ins Auge fasst. In beiden genannten Schriften verteidigt er sogar den wahren Theismus gegen den Deismus bzw. gegen den Naturalismus. Der Deismus geht aus einer unberechtigten Machtergreifung des Verstandes hervor, die darin besteht, Gott aus sich selbst hervorbringen zu wollen, während der Theismus die unmittelbare, intellektuelle Anschauung Gottes zur Grundlage hat, die der mittelbaren, begrifflichen Reflexion darüber grundsätzlich überlegen ist. Wenn Jacobi über den Theismus redet, will er darunter zumeist nicht die philosophische Gotteslehre der Aufklärung verstanden wissen, sondern vielmehr das vormoderne ›fides quaerens intellectum‹ oder sogar den offenbarten Glauben schlechthin, wodurch sich der Schluss verbietet, dass der Theismus bereits 1811 für ihn zum Problem geworden war. Erst vier Jahre später, im Rahmen der Neuausgabe seiner Schrift »Über den frommen Betrug« im zweiten Teil seiner Werkausgabe (1815), ersetzt er überall das Wort Deismus durch Theismus, so dass von diesem Zeitpunkt an von einem wahrhaften Theismus keine Rede mehr ist. Aufgrund dieser beiden Argumente möchte ich vorschlagen, den von Kauttlis eingeführten Begriff ›Theismusstreit‹ durch den Terminus ›Streit um die Vernunft-Religion‹ zu ersetzen, weil diese Bezeichnung meines Erachtens angemessener ist, das Anliegen Jacobis, das sowohl den Deismus als den Theismus betrifft, nachzuvollziehen; zudem muss der Anfang dieses Streites eher auf das Jahr 1786 als 1811 datiert werden. Ich werde aber diese historischen und interpretatorischen Fragen beiseite lassen und mich auf die systematische Frage nach Jacobis Kritik der Metaphysik, insbesondere ihres Höhepunktes, der philosophischen Gotteslehre, konzentrieren. Um diese Kritik angemessen nachvollziehen zu können, müssen zunächst die Begriffe Theismus, Deismus und Naturalismus, sowie Jacobis
Hamburg 2000, 96 (im Folgenden: JWA 3). Für das andere relevante Zitat siehe: Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Walter Jaeschke. Band 5: Briefwechsel 1786. Hrsg. v. Walter Jaeschke/Rebecca Paimann. Unter Mitarbeit von A. Mues, G. Schury und J. Torbi. Suttgart-Bad Cannstatt 2005, 412 (im Folgenden: JBA 5): »Auch ist das natürliche Bedürfniß der Vernunft, nicht einen Gott zu finden, sondern ihn entbehren zu können.« Das sinngemäße Zitat steht in: Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke. Band 5: Kleine Schriften II (1787–1817). Hrsg. v. Catia Goretzki/Walter Jaeschke. Hamburg 2007, 117f (im Folgenden: JWA 5). Für die historischen Hintergründe der Schrift Über den frommen Betrug vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin und Literatur. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Band 30) Hamburg 2008, 454 ff.
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Verhältnis zu dem mit diesen Begriffen Bezeichneten erläutert werden. Der Terminus ›Deismus‹ kam in der Mitte des 16. Jahrhunderts als eine Selbstbezeichnung derjenigen auf, die weder Atheisten noch Anhänger eines ererbten Offenbarungsglaubens sein wollten, sondern beim Bekenntnis zur natürlichen Religion stehenblieben.7 Deswegen wurden die Deisten seit P. Musaeus und bis ins späte 18. Jahrhundert hinein auch als Naturalisten bezeichnet. Im Gegensatz zum Deismus lässt der Theismus die Frage, ob sich Gott dem Menschen außer in der natürlichen Vernunft auch noch positiv geoffenbart hat, offen. Vor diesem Hintergrund untersucht Jacobi in seiner Schrift »Über den frommen Betrug«, ob die »so unangenehmen Worte, Gottesläugner, Atheist, könnten vermieden werden, und möchten eingehen, wenn der […] Unterschied zwischen Deisten und Theisten bekannter und durchgängig im Gebrauche wäre.«8 Jacobi zufolge ruft die Bezeichnung Deismus aber nur eine Sprachverwirrung hervor, wobei letztendlich der Theismus nicht anders als verlieren kann. Denn jener Begriff erweckt den falschen Eindruck, dass es neben Theismus und Atheismus noch eine dritte Möglichkeit gebe, während eine solche Alternative eigentlich nur die Bestimmtheit der Wahl zwischen Gott oder dem Nichts, wofür jede Philosophie steht, verwischt. Daher fällt Jacobi, trotz der Kritik seiner Zeitgenossen, das harte Urteil: Spinozismus ist Atheismus und deshalb weist er auch das weniger plumpe Wort Deismus zur Charakterisierung der Philosophie Spinozas als täuschenden Euphemismus zurück. Der tiefere Grund dafür, dass Jacobi sich gegen jede Milderung des obengenannten Dilemmas sträubt, hängt aber mit der von Kant eingeführten Bestimmung des Unterschiedes zwischen Deismus und Theismus zusammen. Innerhalb der spekulativen Theologie, die das Urwesen aus bloßer Vernunft zu erkennen behauptet, unterscheidet Kant zwischen der transzendentalen und der natürlichen Theologie. Jene bestimmt Gott – deistisch – durch bloß transzendentale Begriffe, wohingegen diese Gott – theistisch – durch einen aus der Natur der menschlichen Seele entlehnten Begriff bestimmt. Dem Deismus zufolge können wir zwar das Dasein eines Urwesens, das alle Realität ist, erkennen, sind jedoch nicht imstande, es näher zu bestimmen, weil wir sonst über den transzendentalen Begriff des ens realissimum hinausgehen würden; hingegen behauptet der Theismus, dass eine nähere Bestimmung von Gott als höchster Intelligenz und als Prinzip der natürlichen und sittlichen Ordnung aufgrund seiner Analogie mit der Natur der menschli7
Günter Gawlick: Deismus. − In: Joachim Ritter u. a. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2. Darmstadt 1971, 43 f. 8 JWA 5, 116, Fußnote.
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chen Seele möglich ist. »Jener stellet sich also unter demselben bloß eine Weltursache (ob durch die Notwendigkeit seiner Natur, oder durch Freiheit, bleibt unentschieden,) dieser einen Welturheber vor«, der »durch Verstand und Freiheit den Urgrund aller anderen Dinge in sich enthalte.«9 Der grundsätzliche Unterscheid zwischen Deismus und Theismus hängt also davon ab, ob man unter Gott eine blindwirkende, ewige Natur oder einen durch Verstand und Freiheit wirkenden Urheber der Dinge versteht. So kommt Kant zu dem Schluss, »[d]er Deist glaube einen Gott, der Theist aber einen lebendigen Gott (summam intelligentiam).«10 Obwohl Kant in praktischer Beziehung die Voraussetzung der Gültigkeit einer höchsten Intelligenz offen lässt, beauftragt er in theoretischer Beziehung insbesondere die transzendentale Theologie damit, alles, »was der höchsten Realität zuwider ist, was zur bloßen Erscheinung (dem Anthropomorphism im weiteren Verstande) gehört, wegzuschaffen«.11 Das bedeutet, dass er implizit eher die auf die Analogie mit der menschlichen Natur gestützten theistischen als die deistischen Bestimmungen Gottes aufs Korn nimmt. Dass die kantische Unterscheidung zwischen Deismus und Theismus für Jacobi besonders wichtig war, ergibt sich schon daraus, dass er den diesbezüglichen Passus nicht allein in seiner Schrift »Über den frommen Betrug«, sondern ebenso in der Schrift »Von den göttlichen Dingen« wie in der dritten Ausgabe der »Spinozabriefe« zitiert. Im Gegensatz zu Kant bevorzugt Jacobi dabei eindeutig den Theismus gegenüber dem Deismus, insbesondere weil jener eine für ihn wesentliche Eigenschaft Gottes aussagt, die weniger das von Kant hervorgehobene Lebendigsein Gottes als vielmehr sein Personsein betrifft. »Wir bedienen uns von Gott dieses Ausdruckes jedesmal, wenn wir ihn als ein persönliches, mit Freyheit und Vorsehung wirkendes Wesen, besonders unter diesen Eigenschaften in Betrachtung ziehen.«12 Zudem spitzt er den von Kant gemachten Unterschied erheblich zu, indem er sagt, dass der Deismus das Personsein Gottes schlechthin leugnet (und nicht einfach darüber unentschieden bleibt, wie Kant behauptet hatte), während der Theismus es ausdrücklich einräumt. Deswegen ist der Deismus Jacobi zufolge mit dem Atheismus identisch, weil »mit der Personalität die Individualität, folglich Selbstdaseyn, objektive Wirklichkeit aufgehoben würde«13. Nur ein Gott, der nicht nur da ist, sondern zudem zu sich selbst sagen kann, Ich bin
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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Zweite Ausgabe, B 659 f. (im Folgenden: KrV B) KrV B, 661. KrV B, 668. Vgl. auch Ingo Kauttlis: Von »Antinomien der Überzeugung« (vgl. Anm. 5), 7. JWA 3, 28 Fußnote. JWA 5, 116 Fußnote.
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der Ich bin, verdient es, Gott genannt zu werden. Das bedeutet, dass der Kernpunkt, um den sich Jacobi zufolge der Streit um die Vernunft-Religion, und im Grunde genommen sogar seine ganze Kritik der Metaphysik dreht, die Wahrheit seines philosophischen Credos ist: »Ich glaube eine verständige persönliche Ursache der Welt.«14 Wie ich unten ausführen werde, stilisiert er die Metaphysik der Aufklärung zu dem geraden Gegenteil dieses Credos, und das nicht nur, weil sie Gott aus der Vernunft hervorgehen lassen will, sondern auch deswegen, weil sie statt eines persönlichen Gottes nur eine unpersönliche All-Einheit zu denken vermag. Bezüglich dieser beiden Gesichtspunkte sieht Jacobi zudem eine wesentliche Übereinstimmung zwischen Aufklärungsmetaphysik und der klassischen deutschen Philosophie, insbesondere dem Idealismus. Denn nach Fichte ist »der Begriff von Gott, als einer besondern Substanz, unmöglich, und widersprechend,«15 was für Jacobi der Beweis dafür ist, dass die sich ihrer absoluten Machtvollkommenheit bewusste Vernunft die Offenbarung Gottes als einer existierenden Person vernichtet. Und in einem aus dem Jahr 1795 stammenden Brief schreibt Schelling an Hegel: »Gott ist nichts als das absolute Ich […]. Persönlichkeit entsteht durch die Einheit des Bewußtseins. Bewußtsein aber ist nicht ohne Objekt möglich; für Gott aber, d. h. für das absolute Ich gibt es gar kein Objekt, denn dadurch hörte es auf, absolut zu sein, – mithin gibt es keinen persönlichen Gott«.16 Wie ich unten ausführlicher zeigen werde, ist Jacobi also nicht nur ein Kritiker der Metaphysik der Aufklärung, sondern er entwickelt mit seiner Philosophie der Persönlichkeit Gottes auch eine radikale Alternative für Spinozas Auffassung der göttlichen Substanz als einer All-Einheit, sowie für die Subjektphilosophie der klassischen deutschen Philosophie.17
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F. H. Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke. Band 1: Schriften zum Spinozastreit. Hrsg. v. K. Hammacher/I.-M. Piske. Hamburg 1998, 20 (im Folgenden: JWA 1). In der Beylage IV der Spinozabriefe erläutert Jacobi, dass es sich bei seiner Behauptung des Personseins Gottes nicht um die theologische Frage nach dem Unterschied im Wesen Gottes handelt, wie es ihm von Herder vorgeworfen worden war, sondern um die philosophische Frage, ob das höchste Wesen als natura naturans oder als Intelligenz zu denken sei. Vgl. JWA 1, 219 f. 15 J. G. Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. R. Lauth, E. Fuchs, H. Gliwitzky und P. K. Schneider. Reihe I, Band 5: Werke 1798–1799. Hrsg. v. R. Lauth/H. Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1977, 356. 16 Johannes Hoffmeister (Hrsg.): Briefe von und an Hegel. Band I: 1785–1812. Hamburg 1969, 22. 17 Vgl. Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? Jacobi im Diskurs über Personen. − In: Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen (Hrsg.): Friedrich Heinrich Jacobi (vgl. Anm. 1), 217−237. Hier: 216 ff.
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2. Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist Dass der Deismus die Wirklichkeit des sich der Vernunft offenbarenden persönlichen Gottes aufhebt, ist nach Jacobi nicht die zufällige Folge irgendeines Denkfehlers, sondern die unumgängliche Konsequenz der Vernunftauffassung der Aufklärung. Damit bezieht er bereits 1788 den bislang lediglich auf die Philosophie Spinozas bezogenen Atheismusvorwurf nun auch auf die Aufklärungsphilosophie als solche, wie er ihn 1799 auf die Transzendentalphilosophie beziehen wird. Der zweiten Hälfte des Titels seiner Schrift »Über den Frommen Betrug« zufolge wird die Aufklärung von einer »Vernunft, welche nicht die Vernunft ist« beherrscht, womit Jacobi zeigt, dass seine Kritik an dieser nicht etwa als eine misologische Schmähung der Vernunft überhaupt misszuverstehen sei, sondern aus der Perspektive einer wahrhafteren Vernunft geführt wird. Auf der Suche nach jenen kahlen Resten der Metaphysik legen wir damit eine tieferliegende Schicht frei, nämlich die der ›unvernünftigen Vernunft‹, die für diese bedauerliche Lage der Metaphysik verantwortlich ist. Sie bildet den gemeinsamen Nährboden, auf welchem Pantheismus, Atheismus und Vernunft-Religion blühen und gedeihen können.18 Damit seine Kritik des Deismus und der Aufklärungsmetaphysik im Allgemeinen stichhaltig ist, benötigt Jacobi selbstverständlich zuerst ein Kriterium zur näheren Bestimmung einer solchen ›unvernünftigen Vernunft‹, um sie mit dessen Hilfe von der wahrhaft ›vernünftigen Vernunft‹ zu unterscheiden. Die wahrhafte Vernunft ist »[d]as Vermögen der Voraussetzung des Wahren, und mit und in ihm des Guten und Schönen.«19 Es ist klar, dass das Wort ›Voraussetzung‹ nicht auf einen von dem Verstand hervorgebrachten ersten, wahren Grundsatz hinweist, sondern dass umgekehrt das Wahre der Vernunft vorausgeht, dass es dieser als eine objektive Realität offenbart wird. Die wahrhafte Vernunft ist also ein unmittelbares, intellektuelles Wahrnehmungsvermögen der übersinnlichen Wirklichkeit, was auf die ihr wesentliche Korrespondenzstruktur zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem hinweist. Sie wird aber unvernünftig, sobald sie sich dem mittelbaren Reflexionsvermögen oder, wie es später heißt, dem Verstand unterwirft. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu betonen, dass dieses Reflexionsvermögen nicht als solches problematisch ist, sondern nur dann, wenn sich das
18
Walter Jaeschke hat gezeigt, dass diese unvernünftige Vernunft auch der Nährboden des wirtschaftspolitischen Dirigismus und Despotismus, sowie des politischen Absolutismus und der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung ist. Vgl. Walter Jaeschke: Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist (vgl. Anm. 1), 202 ff. 19 JWA 3, 62.
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Bedingungsverhältnis zwischen unmittelbarer Wahrnehmung und mittelbarer Reflexion verkehrt. Der Grund einer solchen Verkehrung ist das allzumenschliche Bestreben der Vernunft nach Alleinherrschaft; es ist Ausdruck einer Anmaßung, welche glaubt, das Wahre aus sich selbst hervorbringen zu können. Eine derartige Anmaßung ist in zwei Hinsichten gewalttätig: Sie läuft unweigerlich darauf hinaus, alles, was die Vernunft nicht selbst hervorbringen kann, zu vernichten, und zudem ist sie höchst intolerant allen anderen Vernunftauffassungen gegenüber, vor allem derjenigen gegenüber, die sich ihrer Beschränktheit und Abhängigkeit von Offenbarung bewusst ist.20 Im Rahmen des Streits um die Vernunft-Religion ist das deutlichste Beispiel einer solchen Gewalttätigkeit der fromme Betrug des Deismus gegen den Glauben an Offenbarung.21 Jener ist fest davon überzeugt, »der Geist aller positiven Religion [sey] ein böser Alp, von dem man die Menschheit, es koste was es wolle, befreyen müße. Eine andre nicht positive Religion, hingegen, genannt Deismus, sey lauter Wahrheit, lauter Gewißheit, lauter Seegen. Sie gebe von dem Daseyn einer freyen und vernünftigen Ursache der Welt, einer alles regierenden Vorsehung, einer persönlichen Fortdauer des Menschen nach dem Tode, eine solche helle und vollkommene Ueberzeugung, daß der Glaube überflüßig, und dieses […] gefährliche, die Vernunft entehrende Wort, aus der menschlichen Sprache verbannt, und Zuversicht an die Stelle gesetzt werden könne.«22 Wie ich im Folgenden zeigen werde, ist die gesamte Schrift »Über den frommen Betrug« von Jacobis Versuch geprägt, den Nachweis dessen zu führen, dass diese Behauptung des Deismus auf einer unberechtigten Anmaßung der Demonstrationskraft der Vernunft beruht und dass das Festhalten an dieser Behauptung keineswegs ein entschuldbarer Irrtum, sondern vielmehr ein Beweis doppelter Gewalttätigkeit ist, da sich der Deismus nicht nur gegen den Offenbarungsglauben wendet, sondern auch und vor allem die Realität des Objekts dieses Glaubens, Gott, zu vernichten versucht. Rhetorisch betrachtet besteht die Darstellungsweise Jacobis darin, dass er alle von Seiten des Deismus gegen den Glauben erhobenen Vorwürfe umkehrt und sie als Vorwürfe gegen den Deismus selbst richtet: der Verteidiger des Glaubens oder der positiven Religion »soll ihn [den Deismus] für ein Gewebe von Unwißenheit, Aberglauben, Betrug und Schwärmerey halten, 20
Vgl. hierzu u. a. Walter Jaeschke: Eine Vernunft, welche nicht die Vernunft ist (vgl. Anm. 1), 201 ff. 21 Jacobi verwendet den Begriff ›frommer Betrug‹ schon frühzeitig (d. h. ab 1785) als Inbegriff des Irrwegs der Berliner Aufklärer. Vgl. Carmen Götz: Friedrich Heinrich Jacobi (vgl. Anm. 6), 461, Fussnote. 22 JWA 5, 109 f.
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und sein Gedeyhen einem Mißverstande der Vernunft und der Erfahrung zuschreiben.«23 Sogar der in dem Titel von Jacobis Aufsatz vorkommende Ausdruck ›frommer Betrug‹ kann auf diese Weise gedeutet werden: Es ist dann von einem frommen Betrug die Rede, »wenn Jemand zu einem gut gemeinten Endzwek sich unredlicher Mittel bediente, vorzüglich wenn er zur Bestätigung der vom Gegentheil abgeleugneten Behauptungen falsche Fakta erdichtete.«24 Im Rahmen einer fiktiven Rede eines Widersachers des Deismus kehrt Jacobi beständig diesen vom Herausgeber der »Berlinischen Monatsschrift« ursprünglich gegen ihn selbst erhobenen Vorwurf um und beschuldigt seinerseits den Deismus solch eines frommen Betrugs. Angelpunkt der Untersuchung Jacobis nach dem Aufweis solcher Gewalttätigkeit des Deismus ist die Frage, ob die für den Deismus wesentliche Überzeugung, dass seine oben erwähnte These allein aus deutlichen oder vollständigen Vernunftbegriffen hervorgeht, auf Wahrheit beruhe. Wenn das der Fall ist, so wäre der Glaube an Offenbarung tatsächlich überflüssig und könnte durch die Zuversicht auf die Kraft der Vernunft ersetzt werden. Mithilfe einer an den empiristischen Ansatz Humes erinnernden Argumentation zeigt Jacobi aber, dass die Anmaßung des Deismus, dass wir aufgrund unserer Erkenntnis der wahrnehmbaren Welt mit Zuversicht etwas über das Innerste der menschlichen Natur, sowie über die erste Ursache der Dinge sagen können, unhaltbar und daher unvernünftig ist; ironisch merkt er an, dass es ebenso wenig vernünftig wäre zu glauben, dass man aufgrund der Kenntnis von Blumenzwiebeln auf die Vorstellung der Blumen, die daraus erwachsen, schließen könne. Hieraus zieht Jacobi eine prägnante Schlussfolgerung, wodurch er direkt eine polemische Auseinandersetzung mit den Anhängern der Vernunft-Religion provoziert: Jacobi schreibt, er könne »nicht begreifen, wie eine bloße Vernunft-Religion eine vernünftige seyn könne. Denn die wahre Vernunft erkennet ihre Grenzen, und ist sich ihres Unvermögens bewußt, eine solche Erkenntniß Gottes, der Welt, und unseres eigenen Wesens hervor zu bringen […]. Darum können wir nichts anders als eure angebliche Vernunft-Religion, für eine philosophische Schwärmerey ansehen«.25 Hier zeigt sich also, dass der Deismus sich eines frommen Betrugs schuldig macht. Denn er bedient sich unredlicher Mittel wie etwa des oben genannten Trugschlusses, um seinen gut gemeinten Endzweck, die Menschheit von
23
JWA 5, 110 f. Friedrich Gedike und Johann Erich Biester: Nöthige Erklärung über eine Zudringlichkeit. − In: Berlinische Monatsschrift 7 (März 1786), 286. Zitiert nach: JWA 1, 544. 25 JWA 5, 120. 24
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ihrem Glauben an die positive Religion zu befreien, zu erreichen. Die Unvernünftigkeit des Deismus ist also weniger ein Irrtum, als vielmehr Betrug, da er dieses Mittel auf eine trügerische Weise gegen den Glauben einsetzt. Ein weiterer Betrug ist darin zu sehen, dass er seine Unvernünftigkeit kaschiert, indem er im Besitz einer »mehr als prophetische[n], und in ihren Aussagen untrügliche[n] Vernunft« zu sein vorgibt.26 Damit kehrt Jacobi einen zweiten, vom Deismus immer wieder gegen die positive Religion erhobenen Vorwurf, nämlich den des intellektuellen Despotismus, um und beschuldigt den Deismus des Despotismus gegenüber dem Glauben. Gerade weil die Tragweite der Vernunft hinsichtlich der Erkenntnis von Gott, der Welt und dem Wesen des Menschen beschränkt ist und ihre Urteile niemals Unfehlbarkeit beanspruchen können, so soll es stets eine Pluralität von Meinungen geben: »Keine Meynung ist gefährlich, sobald ein jeder die seinige frey sagen darf. Eine jede aber ist es, wenn sie die einzige seyn will, und zu einem gewissen Grade der Herrschaft würklich gelangt.«27 Es ist also gerade dieser ihm eigentümliche Despotismus, in dem sich die Unvernünftigkeit der Vernunft zeigt, und − schlimmer noch − ihre intellektuelle Gewalttätigkeit. Ein weiterer, aus philosophischer Sicht grundlegenderer Aspekt der Gewalttätigkeit von derjenigen Vernunft, welche nicht die Vernunft ist, ist ihre Selbstgenügsamkeit. Damit gelangen wir allmählich zum Kern von Jacobis Metaphysikkritik. Die Vernunft strebt nicht nur nach Alleinherrschaft über die religiöse Offenbarung und andere, von ihr abweichende Meinungen, sondern behauptet diese zudem im Allgemeinen, indem sie sich im Namen ihrer Autarkie von aller Unterordnung und Abhängigkeit überhaupt losreißt. In Beziehung auf die Existenz Gottes zeigt sich dies im Vorgehen der Vernunft, »Gott selbst ihrer Gesetzgebung zu unterwerfen und ihm vorzuschreiben […], wie er seyn und handeln muß, wenn er Gott bleiben soll.«28 Jacobi beschuldigt demnach den Deismus, das wahrhafte Verhältnis zwischen Gott und der Vernunft zu verkehren, damit diese ihre Herrschaft auf das Übersinnliche ausdehnen kann, um dadurch letztendlich zur vollständigen Alleinherrschaft zu gelangen. Sobald die Vernunft jedoch ihren Inhalt aus sich selbst hervorzubringen versucht, entartet sie in reine Phantasie oder Einbildung, die aufgrund ihrer Leere sogar noch der Schwärmerei unterzuordnen ist, die immerhin als ein übertriebener Enthusiasmus ange26
JWA 5, 112. JWA 5, 125. Vgl. auch JWA 1, 327, wo es heißt: »daß sie [d. h. die Anhänger der Berliner Aufklärung, PJ] ihre Meynung für die Vernunft, und die Vernunft für ihre Meynung halten. Wahrlich SIE sind die Leute, die die Vernunft am Glauben prüfen, darnach allein sie zu oder absprechen«. 28 JWA 5,114. 27
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sichts eines vorausgesetzten wahren Gegenstandes betrachtet werden kann. Die »Vernunft, wenn sie Gegenstände gebiert, so sind es Hirngespinste.«29 In Beziehung auf den Deismus heißt das, dass der Gott, den jener aus sich selbst hervorzubringen versucht, in Wahrheit nur ein Produkt der Phantasie, also ein Götze ist. Wenn Jacobi dem Deismus gegenüber den Offenbarungsglauben verteidigt, geht es ihm also nicht sosehr darum, irgend eine spezifische, historisch offenbarte Konfession zu befürworten, denn, der allgemeinen Überzeugung der Aufklärung gemäß, liegt für ihn das Wesen einer Religion in ihrer allgemeinen Idee, nicht in ihrer historischen Einkleidung oder äußeren Gestalt. Was Jacobi mittels der Begriffe Offenbarung und Glaube herausstellen will, ist, dass der Mensch nur unter der Voraussetzung imstande ist, Gott zu denken, wenn dieser sich jenem gegenüber zuerst offenbart hat, dem Menschen also als eine objektive Wirklichkeit gegeben ist. Dies geschieht durch den Glauben oder – wie es später heißt – durch die Vernunft als Wahrnehmungsvermögen des Übersinnlichen, in gleicher Weise wie die Sinnlichkeit Jacobi zufolge dem Menschen seinen Bezug auf die Realität der empirischen Natur gewährt. Nur auf der Basis dieser Wahrnehmung vermag der Mensch darüber mithilfe seiner verständigen Begriffe zu reflektieren, ohne damit der Natur oder Gott vorzuschreiben, was sie sein sollen und sie so in ihrer selbständigen Realität zu vernichten. Die Erkenntnis Gottes ist also nicht von der menschlichen Vernunft, sondern umgekehrt ist diese von der Selbstoffenbarung Gottes abhängig. Im Gegensatz zu den endlichen, von dem Menschen hervorgebrachten Wahrheiten bezeichnet Jacobi daher Gott und die Natur als ›ewige Wahrheiten‹. Dass es Jacobi dabei weniger um eine Verteidigung der christlichen Religion denn um das Hervorheben eines wesentlichen Aspektes seiner Kritik an der Metaphysik geht, hatte er bereits in seinen »Spinozabriefen« deutlich gemacht. Darin unterscheidet er nicht allein seinen eigenen Glauben an die Offenbarung ewiger Wahrheiten von dem Deismus, sondern gleichermaßen von der christlichen Religion. Jener zeichnet sich dadurch aus, dass er uns »nicht allein befiehlt, sondern alle und jede Menschen zwingt zu glauben, und durch den Glauben ewige Wahrheiten anzunehmen.« Die christliche Religion hingegen befiehlt den Menschen nicht zu glauben und sie ist zudem ein »Glauben, der nicht ewige Wahrheiten, sondern die endliche zufällige Natur des Menschen zum Gegenstande hat«,30 d. h. seine individuellen, moralischen Beschaffenheiten. Im Vergleich zu diesen beiden Arten 29 30
JWA 1, 116. JWA 1, 116 f.
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von Glaubenswahrheiten fehlt es dem Deismus grundsätzlich am Bezug auf die Wirklichkeit, weil seine Wahrheiten nur auf die Vernunft oder – wie es später heißt – den reflexiven Verstand gegründet sind. Deshalb sind die Vernunftwahrheiten zwar ewig, aber ihres rein analytischen Charakters wegen zugleich auch leer oder phantastisch, wohingegen die dem Menschen durch seinen Glauben geoffenbarten Wahrheiten sowohl ewig als auch inhaltsvoll, d. h. wirklich und objektiv sind. Ein dritter Aspekt des Betrugs des Deismus ist, dass er dem Menschen vortäuscht, die positive, unvernünftige, historisch geoffenbarte Religion durch eine Vernunft-Religion ersetzen zu wollen, um dadurch den wahrhaften Glauben an Gott zu retten. Auf diese Weise versucht sich der Deismus bei den Verteidigern der Religion salonfähig zu machen. Aber der Deismus räumt nur augenscheinlich und vorläufig die Existenz Gottes ein, während er sie tatsächlich jedoch leugnet. Dieser Prozess vollzieht sich im Grunde genommen auf zwei Stufen. Die erste besteht darin, dass der Deismus mittels der Gottesbeweise den Glauben an einen lebendigen, persönlichen Gott durch denjenigen an ein unpersönliches Urwesen ersetzt. Er versucht die Gläubigen davon zu überzeugen, dass nur dieses Urwesen den Ansprüchen der Vernunft gerecht wird, bzw. dass nur ein solcher rationalistischer Glauben an Gott den Anforderungen der Aufklärung entspricht, so dass der Deismus sich seinerseits damit brüsten kann, der Retter des Glaubens zu sein. Jacobi zufolge bringt ein solches Vorgehen jedoch lediglich die Zweideutigkeit hervor, welche »durch alle übrige[n] Theile der natürlichen Theologie [dringt], ihre Sprache [verwirret]«. Sie »bringt zuletzt eine Vermischung von Deismus und Theismus zuwege, wobey mit dem größten Verluste für Verstand und Herz, die Phantasie allein ihre Rechnung findet.«31 Daher ist es für Jacobi offenkundig, dass es neben den einander ausschließenden Begriffen Theismus und Atheismus keinen Zwischenbegriff, wie Deismus oder Kosmotheismus, geben kann. Der Grund dafür, dass Jacobi den Deismus mit dem Atheismus gleichsetzt, ist darin zu sehen, dass jener dasjenige, was das wahrhafte Wesen Gottes ausmacht, nämlich sein Personsein, durch ein unpersönliches Urwesen ersetzen will, das nichts anderes als die natura naturans Spinozas oder die All-Einheit als höchster Begriff des Verstandes ist. Die zweite und gewalttätigste Stufe des Betrugs der ›unvernünftigen Vernunft‹ ist sein verborgener Nihilismus, der hier die Gestalt des bewussten Leugnens des Daseins Gottes oder, wie Jacobi es bezeichnet, eines Antitheismus annimmt.32 Zwar verwendet Jacobi den Begriff ›Nihilismus‹ in seiner 31 32
JWA 5, 116 f. Fußnote. JWA 3, 109.
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Schrift »Über den frommen Betrug« nicht, seine Argumentation jedoch stimmt weitgehend mit dem aus seinem »Brief An Fichte« stammenden Nihilismusvorwurf, sowie mit dem in seiner Schrift »Von den göttlichen Dingen« erhobenen Vorwurf des Antitheismus der Wissenschaft überein. Wie bereits bemerkt, ist sich Jacobi bereits 1786 dieser Tendenz des Antitheismus der Vernunft bewusst, wie sich aus seinem Brief an Hamann ergibt.33 Die Vernunft strebt also nicht nur danach, Gott ihren eigenen Gesetzen unterzuordnen (siehe oben), sondern seine Existenz als solche zu vernichten, damit ihre Alleinherrschaft gesichert ist. In diesem Zusammenhang beschreibt Jacobi die entzaubernde Wirkung, die von dem Fortschritt der Wissenschaft sowie von der Entwicklung der Vernunft auf den Glauben an Gott ausgeht. In einem frühen Stadium der menschlichen Bildung, als die Wissenschaft noch unentwickelt war, konnte der Mensch viele Naturwirkungen nicht begreifen, ohne sich auf einen Gott als ihrer Ursache zu berufen. Aber jetzt ist es so, dass wir die Wirkung der Natur »weit beßer ohne das begreifen, und unter schon bekannte physische Gesetze zu bringen wißen.«34 Dem Stand der weiteren Entwicklung der Wissenschaften gemäß erübrigt sich daher die Notwendigkeit, Gott zum Zwecke der Erklärung der Welt anzuführen. Schließlich ist es möglich, »Gott, als eine bloße zum Behuf der Naturlehre ersonnene Hypothese anzusehen, wo er einem kommenden und fliehenden Irrlichte gleicht, welches unaufhörlich seine Stelle verändert, und zuletzt verschwindet.«35 Insofern der Deismus die Faktizität aller Offenbarung zurückweist und sich nur innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft aufhalten will, übernimmt er zwangsläufig die der natürlichen Vernunft eigentümliche Haltung der Selbstgenügsamkeit. Dieses läuft darauf hinaus, dass er zu einem geschlossenen, rein immanenten System, einer ›Philosophie aus einem Stück‹ wird, in welcher Gott als Fremdkörper angesehen wird und als solch ein Fremdkörper aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden muss. Jacobi entlarvt also die erklärte Anmaßung des Deismus, den Glauben an Gott zu retten, als Betrug, indem er deutlich macht, dass dessen ›vernünftiger‹ Charakter letztendlich keine Vernunftreligion hervorbringen oder auch nur zulassen kann, sondern unweigerlich zum Antitheismus, zum bewussten Leugnen der Existenz Gottes führt. Es fragt sich jedoch, ob Jacobis Kritik nur auf den Deismus oder nicht vielmehr auch auf den Theismus zutrifft und, falls das letztere der Fall ist, warum er beide gleichsetzt. Wie oben bereits bemerkt, übernimmt er zunächst den von Kant behaupteten Unterschied, demzufolge der Deismus Gott lediglich 33 34 35
JBA 5, 412. JWA 5, 117. JWA 5, 118.
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als die oberste Ursache denkt, dessen Lebendig- und Personsein jedoch leugnet, während für den Theismus Gott eben ein lebendiger und persönlicher ist. Auch die Tatsache, dass der Theismus die Möglichkeit einer positiven Offenbarung Gottes offen lässt, ist für Jacobi zunächst das entscheidende Argument dafür, dem Theismus vor dem Deismus den Vorzug zu geben. Aber spätestens 1815 sieht er ein, dass diese Unterscheidung, besonders insofern es sich um den Theismus der modernen Philosophie, insbesondere Schellings, handelt, nicht zulässig ist und dass jener im Grunde genommen ebenso atheistisch ist wie dieser. Deswegen ersetzt er in der zweiten Auflage seiner Schrift »Über den frommen Betrug« im gesamten Text das Wort Deismus durch Theismus und setzt ihn auf diese Weise derselben Kritik aus. Eine erste Erklärung dafür, warum Jacobi den modernen, rein philosophischen Theismus mit dem Deismus gleichsetzt, ist darin zu sehen, dass beide gleichermaßen auf die natürliche Vernunft gegründet sind, so dass sie beide auch ihr Streben nach Alleinherrschaft, die Haltung der Selbstgenügsamkeit − und daher auch den Atheismus gemeinsam haben. Zwar vertreten Deismus und Theismus hinsichtlich der Frage, ob Gott als lebendig und persönlich zu denken ist, unterschiedliche Positionen, beide aber sind gleichermaßen davon überzeugt, dass »das Daseyn eines lebendigen Gottes sollte bewiesen werden können.«36 Hieraus ergibt sich, dass das natürliche Bedürfnis des Theismus in dieser Hinsicht dem des Deismus verwandt ist, das darin besteht, Gott aus einem Grund ableiten zu wollen, so dass seine Existenz von dem Bewusstsein dieses Grundes abhängig gemacht und er so der Vernunft untergeordnet wird. In gleicher Weise wie beim Deismus schlägt dieses Bedürfnis beim Theismus jedoch fehl, »[d]enn die bloße Deduction nur der Idee eines lebendigen Gottes aus der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnißvermögens führt so wenig zu einem Beweise seines wahrhaften Daseyns, daß sie im Gegentheil […] auch den natürlichen Glauben an einen lebendigen Gott, zu dessen Vermehrung und Bekräftigung ein philosophischer Beweis gesucht wurde, nothwendig zerstört, indem sie […] einsehen läßt, wie jene Idee ein durchaus subjektives Erzeugniß des menschlichen Geistes, ein reines Gedicht ist«.37 Obgleich Jacobi den Theismus hier nicht namentlich nennt, ist es klar, dass dieser im Grunde genommen ebenso atheistisch ist wie der Deismus, indem er implizit den lebendigen Gott aus der Vernunft hervorgehen lassen möchte. Im Vergleich zum Deismus ist der Theismus aber zudem auch noch inkonsequent, indem er in seinen offenen Äußerungen die Möglichkeit einer Offenbarung von Gott als objekti36 37
JWA 3, 87. Ebd.
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ver, lebendiger Realität offen lässt, während er das heimliche Bestreben in sich trägt, Gott als eine selbständige Realität zu vernichten. Bezüglich des kantischen Unterschiedes zwischen Deismus und Theismus ist Jacobi in der Schrift »Von den göttlichen Dingen« zu der Einsicht gelangt, dass Kant in demselben Zwiespalt wie bereits aufgrund seines Festhaltens am Ding an sich gefangen geblieben und eigentlich um der Konsequenz seines Systems willen gezwungen gewesen sei, den Vernunftglauben als einen Glauben aufzugeben, wodurch er dem Bestreben der Vernunft, Gott deduzieren zu wollen, letztlich beipflichtet. Aber selbst wenn man ihm nicht ein derartiges verborgenes Ansinnen unterstellen mag, ist der selbstproklamierte Zweck des Theismus, die Wirklichkeit eines lebendigen, persönlichen Gottes zu rechtfertigen, im Grunde genommen ein unmöglicher. Denn »die jenem tief inwendigen Sinne, den wir Vernunft nennen, sich offenbarende Wirklichkeit [bedarf] keines Bürgen: sie ist […] selbst und allein der kräftigste Zeuge ihrer Wahrheit. […] und es giebt keine Gewißheit über der Gewißheit in diesem Glauben.«38 Diese ist eine intellektuelle Anschauung der geistigen, übersinnlichen Wirklichkeit, so dass der Mensch sich ihrer unmittelbar gewiss ist. Der Verstand hingegen ist ein Reflexionsvermögen, das die Anschauung rational zu rechtfertigen beabsichtigt, dabei jedoch bloß zu einer Gewissheit ›aus zweiter Hand‹ gelangt. Daher bleibt die philosophische Rechtfertigung des Personseins Gottes, wie der Theismus sie zu geben behauptet, immer hinter der Offenbarung derselben in der intellektuellen Anschauung zurück. Der kulturphilosophische Hintergrund, vor welchem Jacobis Zurückweisung des Theismus verstanden werden muss, ist folgender: In der kulturellen Situation der Aufklärung, in welcher der Einfluss des Atheismus beständig zunahm, wollte der Theismus verständlicherweise der guten Sache der Verteidigung des Glaubens dienen und den Atheismus mit seinen eigenen Waffen bekämpfen, indem er die Existenz eines persönlichen Gottes rational zu beweisen oder diese Annahme immerhin zu rechtfertigen versuchte. Aber dadurch verlor er seine gegenüber der Offenbarung untergeordnete Position aus dem Auge und wurde − trotz aller frommen Mienen − vom logischen Enthusiasmus überwältigt. Die Folge war, dass er, ebenso wie Deismus und Atheismus, der verhängnisvollen Dialektik der ›unvernünftigen Vernunft‹ zum Opfer fiel, die unweigerlich auf einen Antitheismus hinausläuft. Ab 1815 zeigt sich bei Jacobi ein klares Bewusstsein dieser Dialektik: »Da man die 38
F. H. Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke. Band 2: Schriften zum transzendentalen Idealismus. Unter Mitarbeit von C. Goretzki hrsg. v. W. Jaeschke/I.-M. Piske. Hamburg 2004, 425 (im Folgenden: JWA 2).
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Wahrhaftigkeit unserer Vorstellungen von […] einem von dem Weltall selbst unterschiedenen freyen Urheber dieses Weltalls, von einer mit Bewußtseyn waltenden, das ist persönlichen, das ist allein wahrhaften Vorsehung, wissenschaftlich erweisen wollte, verschwand den Demonstratoren ebenfalls der Gegenstand; es blieben ihnen blos logische Phantasmen: sie fanden – den Nihilismus.«39 Aufgrund dessen hat Jacobi in der zweiten Auflage seiner Schrift »Über den frommen Betrug« Deismus und Theismus beide mit Atheismus und Nihilismus gleichgesetzt. Der Kern der Kritik Jacobis an der Metaphysik besteht also in der Behauptung, dass diese Metaphysik unwahr ist, einfach deswegen, weil sie auf einer Vernunft, welche nicht die Vernunft ist, beruht. Die Konsequenz ist, dass die Metaphysik, egal ob sie sich theistisch, deistisch oder atheistisch nennt, ihren Bezug zur Realität verliert, so dass sie unweigerlich auf einen Nihilismus hinausläuft. Indem die Metaphysik die Realität nicht länger als etwas unmittelbar Gegebenes akzeptiert, sondern sie aus sich selbst zu deduzieren versucht, bleibt – wie Hegel bildhaft schreibt – tatsächlich nur noch der Totenkopf eines abstrakten, leeren Wesens, der es nicht verdient, Gott genannt zu werden. 3. Kann die Philosophie Gott als Person denken? Es ist noch näher auf die wesentliche Frage einzugehen, ob sich bei Jacobi eine wahrhafte, nicht vom Verstand pervertierte philosophische Gotteslehre findet. Aufgrund des Vorangegangenen ist erstens deutlich geworden, dass eine solche Gotteslehre auf jener Vernunft, welche tatsächlich die Vernunft ist, gegründet sein muss. Es hat sich aber zweitens ergeben, dass sich Jacobis Auseinandersetzung mit der Vernunft, welche nicht die Vernunft ist, oder präziser gesagt: mit der Metaphysik der Aufklärung einschließlich des Theismus um die Frage nach dem Personsein Gottes drehte.40 Wie oben bemerkt, versucht Jacobi mit der Behauptung des Personseins Gottes herauszustellen,
39
JWA 2, 425. Ein zusätzliches Zitat zum Beleg dessen, welche Bedeutung Jacobi dem Personsein Gottes beimisst, stammt aus einem 1787 verfassten Brief Jacobis an Lavater, in dem es heißt: »Mir ist Personalität α und ω; und ein lebendiges Wesen ohne Personalität scheint mir das Unsinnigste, was man zu denken vorgeben kann. Seyn, Realität, ich weiß gar nicht, was es ist, wenn es nicht Person ist. Und nun gar Gott! Was für ein Gott wäre das, der nicht zu sich selbst sagen könnte: Ich bin, der ich bin! Die Ichheit endlicher Wesen ist nur geliehen, von Andern genommen, ein gebrochener Stral des transscendentalen Lichts, des allein Lebendigen.« In: Friedrich Roth (Hrsg.): Friedrich Heinrich Jacobi’s auserlesener Briefwechsel. Band 1. Leipzig 1825–27, 435 f. Zitiert nach Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? (vgl. Anm. 17), 219 f. 40
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dass Gott nicht nur da ist, sondern dass er ein selbständiges, durch Vernunft und Freiheit wirkendes Wesen ist. Im Gegensatz zu Herders theologischer Deutung seines philosophischen Credos ist es Jacobi darum zu tun, möglichst scharf den sich der Vernunft offenbarenden persönlichen Gott von dem durch den Verstand hervorgebrachten blindwirkenden Urwesen Spinozas zu unterscheiden.41 Meine Frage nach Jacobis Alternative zur metaphysischen theologia naturalis lässt sich also zuspitzen auf die Frage, ob und wie er imstande ist, Gott als eine Person zu denken. Es soll die Bemerkung vorausgeschickt sein, dass Jacobis Hervorhebung des Personseins Gottes im Rahmen seiner ganzen Philosophie der Person verstanden werden muss, die auch das Personsein des Menschen mit umfasst, und durch die er die Subjektivitätsphilosophie der Neuzeit kritisiert.42 Die grundsätzliche Bedingung dafür, Gott als eine Person ›vernehmen‹ zu können, besteht darin, dass der Mensch, weil er das Ebenbild Gottes ist, selbst eine Person ist. Gerade weil es dem Menschen eigentümlich ist, ein von aller mittelbaren Erkenntnis getrenntes, unmittelbares ›Wesenheitsgefühl‹ zu haben, d. h. Selbst-Wesen und Selbst-Ursache zu sein, ist er eine Person: »Dieses außerzeitliche, bloß inwendige, von jedem auswendigen und zeitlichen auf das klarste sich unterscheidende Bewußtseyn, ist das Bewußtseyn der Person, welche zwar in die Zeit tritt, aber keinesweges in der Zeit entsteht als ein blos zeitliches Wesen.«43 Es handelt sich dabei also nicht um einen abstrakten, durch den Verstand aus sich selbst hervorgebrachten Begriff vom Ich, wie etwa bei Fichte, sondern um eine existenzielle Erfahrung oder ein Bewusstsein, das der Mensch von seiner Identität hat. Obwohl der Mensch ein endliches und von der natürlichen und sozialen Umwelt abhängiges Wesen ist, verfügt er zugleich über ein stabilisierendes Bewusstsein seiner Identität, wodurch er seine Erfahrungen, Handlungen und Gedanken als die seinigen erkennen kann. Die persönliche Identität entspringt also einer Leistung des Bewusstseins.44 Weil der Mensch endlich ist, ist seine Personalität nur Eine unter Anderen, aber zugleich ist er eine Person und keine andere. Im Vergleich dazu besteht das Personsein Gottes darin, dass Er der Eine ohne Anderen ist, d. h. ein sich selbst genügendes, unbedingt selbständiges Wesen. Das Personsein des Menschen ist also darauf gegründet, dass es eine Analogie oder ein Teilhaftigkeitsverhältnis zwischen der Person Gottes und der des Menschen gibt. Diese Begriffe sind die Konkretisierung
41 42 43 44
Vgl. JWA 1, 219 ff. Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? (vgl. Anm. 17), 220. JWA 3, 27 Fußnote. Birgit Sandkaulen: Daß, was oder wer? (vgl. Anm. 17), 229.
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der für Jacobi wesentlichen Korrespondenzstruktur des menschlichen Wahrnehmungsvermögens, wodurch sich der Mensch als fähig erweist, Gott als Person zu erkennen. So lässt sich auch nachvollziehen, warum Jacobi seinen wahrhaften Theismus als einen Anthropomorphismus bestimmt, wodurch er zugleich Kants Kritik des Theismus (siehe oben) zurückweist: »Wir bekennen uns demnach zu einem von der Ueberzeugung: daß der Mensch Gottes Ebenbild in sich trage – unzertrennlichen Anthropomorphismus, und behaupten, außer diesem Anthropomorphismus, der von jeher Theismus genannt wurde, ist nur Gottesläugnung oder – Fetischismus.«45 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Jacobi im Sinn hat, Gott auf eine Projektion des menschlichen Geistes zu reduzieren, denn dies wäre gerade seiner so oft wiederholten Behauptung radikal zuwider, dass Gott sich als Person dem Menschen offenbart; es bedeutet vielmehr, dass es eine Art von ›analogia‹ oder ›participatio personalis‹ zwischen Gott und dem Menschen gibt: »[E]s ist die Erleuchtung durch Vernunft, oder […] durch den dem Menschen inwohnenden Geist aus Gott, der ihn Gottes und seiner Erkenntniß theilhaftig macht.«46 Eine philosophische Gotteslehre stützt sich jedoch nicht nur auf eine intellektuelle Anschauung von Gott als einer Person, d. h. als einer selbstbewussten Identität, sondern sie muss dasjenige, was in dieser Anschauung enthalten ist, auf eine verbale Weise ›darstellen‹. Es leuchtet ein, dass Jacobis Darstellung von Gott nicht den Charakter eines Beweises hat, wie die theologia naturalis der Aufklärung, sondern nur auf Gott (hin)weist oder ihn andeutet. Zudem ist dieses Verweisen weniger als ein theoretisches, sondern vor allem als ein praktisches aufzufassen. In seiner letzten Schrift, dem »Vorbericht der dritten Auflage der Spinozabriefe«, fügt er der oft zitierten Andeutung seiner Erkenntnistheorie, dass der Mensch durch ein göttliches Leben Gottes inne wird, hinzu, dass »der Weg zur Erkenntniß des Uebersinnlichen ein praktischer, kein theoretischer, bloß wissenschaftlicher [ist]«.47 Eine theoretische Erkenntnis Gottes läuft stets Gefahr, die hinsichtlich seines Personseins wesentliche Frage: ›Wer ist Gott?‹ auf die einfacher, weil rein begrifflich zu beantwortende Frage: ›Was ist Gott?‹ zu reduzieren. Denn unsere theoretischen Begriffe beziehen sich nun einmal ursprünglich auf die Natur und können nur in einem uneigentlichen Sinne auf das Übersinnliche, d. h. auf die menschliche oder göttliche Person übertragen werden. Deswegen müssen wir Jacobis Vorschlag für den praktischen Weg zur Erkenntnis des Über45 46 47
JWA 3, 115. JWA 3, 29 Fußnote. JWA 1, 342.
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sinnlichen näher untersuchen, um die von ihm angebotene Alternative zum neuzeitlichen Deismus und Theismus verstehen zu können. In den »Spinozabriefen« gibt Jacobi ein ausgezeichnetes Beispiel einer praktischen, philosophischen Darstellungsweise dessen, was Personsein für ihn bedeutet, obwohl es sich in diesem Beispiel nicht um die Persönlichkeit Gottes, sondern um menschliche Personen handelt. Zwei junge Spartaner, Spertias und Bulis, sind von dem Satrapen Xerxes zum Tode verurteilt. Der reiche Perser Hydarnes aber versucht sie zu überreden, sich zu Freunden des Königs zu machen, so dass sie am Leben bleiben können. Wider alle Erwartung aber, besonders wider diejenige, welche der berechnende Verstand hegen mag, lehnen die Spartaner sein Angebot mit den Worten ab: »Dein Rath […] ist nach Deiner Erfahrung gut, aber nicht nach der unsrigen. Hättest du das Glück gekostet, welches wir genießen, du würdest uns rathen, Gut und Blut dafür hinzugeben. […] Wie könnten wir […] hier leben; unser Land, unsere Gesetze verlassen, und solche Menschen, daß wir, um für sie zu sterben, freywillig eine so weite Reise unternommen haben.«48 Jacobi nimmt diese Geschichte, in der es um das individuelle praktische Verhalten konkreter Personen geht, zum Ausgangspunkt für seine Bestimmung geistiger Wirklichkeit. Spertias und Bulis wollen nicht die Wahrheit fundamentaler, geistiger ›Tatsachen‹, die aus ihren existenziellen Erfahrungen der Vaterlandsliebe oder des Stolzes auf die dort geltenden Gesetze hervorgeht, theoretisch ›beweisen‹, sondern sie bezeugen diese Wahrheit auf eine praktische Weise, nämlich mittels ihres persönlichen Engagements, das in ihrer Bereitschaft besteht, dafür ihr Leben aufzuopfern. Sie »beriefen sich […] nicht auf ihren Verstand, auf ihr feines Urtheil, sondern nur auf Dinge, und auf ihre Neigung zu diesen Dingen. Sie rühmten sich dabey auch keiner Tugend; sie bekannten nur ihres Herzens Sinn, ihren Affect. Sie hatten keine Philosophie, oder ihre Philosophie war blos Geschichte.«49 Damit sind wir bei einem Punkt angelangt, welcher sowohl für das Verständnis der Philosophie Jacobis überhaupt als auch für seine alternative philosophische Gotteslehre wesentlich ist. Wie bereits bemerkt, ist nicht nur das Bewusstsein von Gott, sondern auch das Bewusstsein des Menschen von sich selbst weniger das Resultat einer rein theoretischen Argumentation, als vielmehr auf konkrete Erfahrungen des jeweiligen Selbstseins gegründet. Nur auf diese Weise kann die Philosophie, die darauf ausgerichtet ist, die ›WerIdentität‹ Gottes oder des Menschen zur Darstellung zu bringen, einen Rückfall in die bloße Bestimmung der ›Was-Identität‹ vermeiden. Indem sie aber 48 49
JWA 1, 131. JWA 1, 132.
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existenzielle, persönliche Erfahrungen zum Ausgangspunkt ihrer Darstellung nimmt, folgt daraus eine geschichtliche Auffassung der Person, sowie eine geschichtliche Auffassung der Philosophie selbst. Nicht nur das oben angeführte Zitat bestätigt diese Deutung, sondern auch die Bedeutung, welche Jacobi der persönlichen Meinung und der persönlichen Ehre beimisst, sowie seine grundsätzliche Überzeugung, dass das eigentliche Majestätsrecht des Menschen darin besteht, wider den reinen Buchstaben des absolut allgemeinen Vernunftgesetzes zu handeln. Dies alles macht Jacobis Überzeugung einsichtig, dass sich personale Identität in der Einheit von Zeitlichem und Außerzeitlichem konstituiert. Wenn man diese Überlegungen auf die Ebene der philosophischen Gotteslehre transponiert, so ergibt sich, dass diese keine abstrakten metaphysischen Begriffe zum Ausgangspunkt nehmen muss, sondern allerlei konkrete Erfahrungen und Geschichten, worin von dem Handeln Gottes Zeugnis abgelegt wird. Deshalb erzählt Jacobi am Ende seiner Schrift »Von den göttlichen Dingen« die in dem Buch Genesis enthaltene ›Sage‹ der Schöpfung von Himmel und Erde und leitet daraus philosophische Einsichten über das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen ab, so wie er die Selbstoffenbarung Gottes Moses gegenüber im Buch Exodus zitiert, um anhand dieser Begebenheit die Persönlichkeit Gottes, sowie die seines Ebenbildes, des Menschen, darzustellen.50 Abschließend bleibt danach zu fragen, was diese Überlegungen hinsichtlich der philosophischen Gotteslehre Jacobis zur Folge haben. Diese gründet in der Einheit von Vernunft als dem menschlichen Vermögen, Gott als eine Person wahrzunehmen, und dem verbalen Ausdruck dieser Wahrnehmung. Gerade weil Gott eine Person ist, offenbart er sich in allerlei geistigen Erfahrungen von Personen, sowie in deren schriftlichem Niederschlag. Die philosophische Gotteslehre muss diese konkreten Erfahrungen und Geschichten in ihrer Darstellung zum Ausgangspunkt machen, wobei diese Darstellung unweigerlich hinter der unmittelbaren Wahrnehmung zurückbleibt. Es muss aber noch eine weitere Bedingung für eine wahrhaft philosophische Bestimmung von Gott als Person erfüllt sein: diese Bestimmung muss in einer grundsätzlichen Sympathie zwischen der Persönlichkeit des Philosophen und dem Gegenstand seines Denkens, Gott, wurzeln. »Sympathie mit dem unsichtbaren Wirklichen, Lebendigen und Wahren ist Glaube.«51 Philosophisch könnte man diese Sympathie in die oben bereits erwähnte 50
Vgl. JWA 3, 103 ff., 112 ff. F. H. Jacobi: Werke. Gesamtausgabe. Hrsg. v. Klaus Hammacher/Walter Jaeschke. Band 6: Romane I. Eduard Allwill. Hrsg. v. C. Götz/ W. Jaeschke. Hamburg 2006, 236. 51
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›analogia personalis‹ übersetzen. Diese für jede philosophische Darstellung notwendige Sympathie erklärt überdies den Umstand, warum Jacobi seine Philosophie eine persönliche und geschichtliche nennt: »[M]eine Schriften gingen hervor aus meinem innersten Leben, sie erhielten eine geschichtliche Folge«52. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass Jacobi in seinen Schriften auf der Suche nach einer Wahrheit ist, die nicht nur den Kopf, sondern Kopf und Herz gleichermaßen befriedigt. Zusammenfassend kann man also sagen, dass Jacobi mit seinem Versuch, Gott als eine Person zu denken, die Metaphysik seiner Zeit mit einem neuen philosophischen Paradigma konfrontiert. In diesem Sinne hat Hegel tatsächlich recht, wenn er behauptet, Jacobi habe »in der Geschichte der Philosophie überhaupt eine bleibende Epoche gemacht.«53
52 53
JWA 1, 339. GW 15, 25.
Die Gigantomachie von Idealismus und Realismus in der Frühphilosophie Fichtes und Schellings Rainer Schäfer
Im Folgenden sollen einige der grundlegenden Differenzen untersucht werden, die sich in Fichtes und Schellings teilweise direkt und teilweise indirekt aufeinander beziehenden Schriften und im Briefwechsel der beiden Philosophen in der Frühphase ihrer Denkentwicklung finden. Insbesondere soll Fichtes Kritik in der »Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre« (1797) an Schellings »Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus« (1795) untersucht werden. Hier wird gezeigt, inwiefern Schelling bereits seit seinen ersten Veröffentlichungen von der transzendentalphilosophischen Konzeption Fichtes abweicht und eine eigenständige, metaphysische Variante des Idealismus entwirft, welche auch die Rolle der Subjektivität modifiziert. Die These, dass Fichte und Schelling bereits seit der Frühphilosophie verschiedene Formen des Idealismus entwickelt haben, entspricht dem Konsens der Forschung; hier soll diese These anhand von spezifischen Unterschieden zwischen Fichtes »Erster Einleitung« und Schellings »Philosophischen Briefen« näher untersucht, spezifiziert und verifiziert werden. Zugleich soll deutlich werden, dass Fichte aus der Perspektive seines kritisch-transzendentalen Idealismus schlagende Argumente gegen den frühen Schelling und dessen metaphysischen Idealismus vorbringt. Über eine historische Untersuchung hinausgehend, werden die systematischen Differenzen und Argumente von transzendental-kritischem und metaphysischem Idealismus gegeneinander abgewogen. Die Unterschiede der beiden Formen des Idealismus bei Fichte und Schelling lassen sich systematisch in verschiedene Problemfelder einteilen. Einige der wichtigsten Differenzen bestehen auf den Ebenen der Konzeption der Subjektivität und der Begründung der Erfahrung durch die Subjektivität. Es gibt daher auch Unterschiede in der Konzeption der Transzendentalphilosophie. Weitere gewichtige Abweichungen bestehen in der Bestimmung der Natur und des Absoluten. Die beiden letzteren Problemfelder werden jedoch vor allem für die Philosophiekonzeptionen der beiden Denker seit 1801 wichtig und bleiben hier weitgehend ausgeblendet, denn auch Fichte überschreitet die erkenntnisrestringierenden Grenzen des transzendental-kritischen Idealismus seiner eigenen frühen Position mit der Spätphilosophie, zu der sich bereits in der »Bestimmung des Menschen« (1800) erste Ansätze
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finden, die Fichte in der »Darstellung der Wissenschaftslehre« (1801) und in den nachfolgenden Werken weiterführt.
1. Die Konstellation Fichtes und Schellings Fichte und Schelling gehen seit 1795 davon aus, dieselbe Idealismuskonzeption zu verfolgen, wobei der frühe Schelling zunächst als Anhänger und Schüler Fichtes erscheint. Die entscheidenden Differenzen treten beiden Denkern nicht deutlich ins Bewusstsein. In überschwenglicher Weise sehen sich beide gemeinsam als konsequente Vollender der kritischen Philosophie Kants und betrachten es auch als wichtige Aufgabe, die Philosophie Kants vor den Missdeutungen der Zeitgenossen in Schutz zu nehmen. In diesem Sinne schreibt Schelling an Hegel in einem Brief vom 6. Februar 1795: »Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch«.1 Diese »Prämissen« zu rekonstruieren, empfanden sowohl Fichte als auch Schelling als dringlichste Aufgabe der Philosophie. Für den frühen Fichte bestand allerdings die wohl wichtigste Voraussetzung des kantischen Kritizismus in einer Subjektivitätstheorie, für Schelling dagegen in einem Idealismus, der vom Absoluten ausgehend die Endlichkeit ableitet und zu bestimmen versucht. Zunächst reagiert Schelling mit seinen Schriften jeweils auf diejenigen Fichtes. Fichtes Veröffentlichung »Über den Begriff der Wissenschaftslehre« (1794) ist ein programmatischer Vorentwurf für seine Vorlesungen, die er in Jena halten wird. Auf diese Schrift reagiert Schelling mit der Abhandlung »Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt« (1794).2 Dann veröffentlicht Fichte 1794 den ersten, theoretischen Teil der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, und Schelling reagiert darauf mit der Schrift »Vom Ich als Prinzip der Philosophie« (1795).3 Auch noch Schellings »Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus« (1795) stehen in dieser gedanklichen Linie; sie sind von Schelling als Verteidigung gegen falsche 1
Vgl. hierzu F.W.J. Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. II (1775–1803). Zusatzband. Hrsg. v. Horst Fuhrmans, Bonn 1973, 57 (im Folgenden als Schelling: Briefe und Dokumente zitiert); vgl. hierzu auch Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795). – In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. K.F.A. Schelling, Stuttgart/Augsburg, 1856–1861, Abt.1/1, 154 (im Folgenden wird diese Ausgabe als SW zitiert). Kants Kritik der reinen Vernunft ist nach Schelling nicht selbst ein System, sondern eine Theorie über die Grenzen aller möglichen Systeme; vgl. Schelling Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795). – In: SW, Abt.1/1, 301 f. 2 Vgl. Schellings Brief an Fichte vom 26. 9. 1794. – In: Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. I, 51. 3 Vgl. Schellings Brief an Hegel vom 6. 1. 1795. – In: Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. II, 59 ff.
Idealismus und Realismus bei Fichte und Schelling
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dogmatische Deutungen der kritischen Philosophie Kants gedacht.4 In dieser frühen Phase unterscheiden sich Fichte und Schelling zwar schon in ihren Konzeptionen voneinander, wie noch genauer zu untersuchen sein wird, aber beide betonen immer wieder freundschaftliche Übereinstimmung. Erst seit 1800 werden die methodischen und sachlichen Differenzen beiden deutlicher bewusst, und vermehrt setzt eine wechselseitige sachliche Kritik ein, die sich insbesondere in ihrem Briefwechsel seit November 1800 zeigt. Beide planten, gemeinsam eine Zeitschrift herauszugeben. Aus diesem Anlass wollte Schelling im Austausch mit Fichte die für ihn gewichtigen Probleme abstimmen, wie Fichte einerseits Schellings »System des transzendentalen Idealismus« (1800) bewerte5 und andererseits den systematischen Ort der Natur und der Naturphilosophie bestimme.6 Aber gerade die systematische Verortung der Natur im System der Transzendentalphilosophie ließ die Uneinigkeit beider Denker deutlich werden. Schelling hatte im »System des transzendentalen Idealismus« angedeutet, dass Natur und Intelligenz zu koordinieren sind, dass also die Natur und die Intelligenz voneinander unterschieden sind und parallel nebeneinander bestehen. Danach bildet die Natur einen eigenständigen ontologischen Bereich, der abgetrennt von der Transzendentalphilosophie und der Erkenntnistheorie besteht. Die Natur verfügt daher über eine eigenständige Form der Tätigkeit, sofern die Natur sich selbst hervorbringt. Die Konsequenz hieraus ist, dass die Objekte der Natur sich selbständig konstituieren.7 Nach Fichte kann hingegen eine Naturphiloso4
Vgl. SW, Abt.1/1, 283 f. Vgl. Schellings Brief an Fichte vom 14. 5. 1800. – In: Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. II, 223. 6 Vgl. Schellings Brief an Fichte vom 19. 11. 1800. – In: Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. II, 294 f. 7 Vgl. F.W.J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. – In: SW, Abt. I/1, 331, 339 ff. In Schellings Naturphilosophie tritt die Natur allerdings auch noch in einem anderen Sinne auf, nämlich nicht als selbständige, parallel zur Intelligenz existierende Entität, sondern als Produkt der un- oder vorbewusst produzierenden Intelligenz. In diesem Sinne ist die Natur transzendentalphilosophisch als abhängiges Korrelat von Leistungen der Intelligenz deduziert. Bei Schelling gibt es überdies noch eine dritte Konzeption der Natur. Neben a) der Natur als Produkt der unbewusst produzierenden Intelligenz und b) der Natur als parallele, koordinierte und selbständige Entität neben der Intelligenz gibt es c) die Konzeption einer Subordination von Natur und Intelligenz, wobei ein hierarchisch sich potenzierender Aufstieg von der Natur als der Grundlage zur Intelligenz als dem höher vermittelten Sachverhalt von Schelling entworfen wird. Vgl. z. B. F.W.J. Schelling: Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art, ihre Probleme zu lösen (1801). – In: SW, Abt. I/4, 81 ff. Allerdings wendet sich Fichte gegen Schellings Konzeption einer von der transzendentalen Subjektivität unabhängigen Natur und gegen die Konzeption eines hierarchischen Aufstiegs von der Natur zur Intelligenz, wenn er schreibt: »Die Natur ist Produkt der Intelligenz; wie kann denn nun durch einen offenbaren Zirkel die Intelligenz wieder Produkt der Natur sein?« (J.G. Fichte: Sätze zur Erläuterung des 5
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phie nur auf dem Boden der Transzendentalphilosophie als dem System der Intelligenz durchgeführt werden. Sonst wäre ein realistischer Dogmatismus die Konsequenz, der ein Ding ohne eine Intelligenz voraussetzen muss, die dieses Ding als solches konstituiert. Vor diesem Hintergrund, die Natur als durch die Intelligenz konstituiert zu bestimmen, wird sich Fichte einer Differenz zwischen sich und Schelling bewusst, die sich bereits in dem Parallelismus ankündigt, den der frühe Schelling für Dogmatismus (= Realismus) und Idealismus in seinen »Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus« (1795) gelten lässt. Entscheidende Dokumente der kritischen Rezeption Schellings durch Fichte in dieser Phase um 1800 bilden, neben dem Briefwechsel der beiden Denker, Fichtes Notizen bei der Lektüre von Schellings »System des transzendentalen Idealismus« (1800) und bei der »Darstellung meines Systems der Philosophie« (1801), die Fichte bis zum § 51 kommentiert.8 Hier ist u. a. entscheidend, dass Fichte den Formalismus in den Deduktionen und Konstruktionen Schellings kritisiert sowie den systematischen Anfang des Identitätssystems mit dem Absoluten. Nach Fichte impliziert der Anfang des Systems der Philosophie als solcher – ähnlich wie später für Hegel – notwendigerweise eine gewisse Unvollkommenheit, weil die vollkommene Bestimmung des Absoluten einerseits einen vermittelnden Bestimmungsprozess voraussetzt und andererseits die sachliche Motivation fehlen würde, weitere Bestimmungen zu deduzieren, wenn bereits am Anfang eines Systems dessen Vollendung erreicht wäre. In diesem Sinne kritisiert Fichte an Schellings Identitätssystem: »Der Anfang kann nur das Unbestimmteste, Unfertigste sein, weil wir sonst von ihm aus weiter zu gehen und ihn durch Fortdenken schärfer zu bestimmen gar keine Ursache hätten.«9 Seit 1801/02 wird die Auseinandersetzung beider Denker dann zunehmend polemisch und persönlich. Zu persönlichen Missstimmungen führt insbesondere das Fehlverhalten Fichtes: Er kündigt in Berlin in der »Allgemeinen Zeitung« von 1801, Beilage Nr. 1 Schelling als seinen »geistvollen Mitarbeiter« an und äußert sich brieflich gegen Schelling, wobei der betreffende Brief Fichtes an den Jenaer Privatdozenten Schad vom 29. Dezember 1801 auch in Wesens der Tiere (1799/1800). – In: Fichte Werke, hrsg. von I.H. Fichte, Berlin 1971, Bd. XI, 362 (im Folgenden wird diese Ausgabe als FW zitiert). Vgl. zu diesem Thema Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre. Freiburg/ München 1975, 57–125 und ders. Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1984, Exkurs 172–190. 8 Vgl. J.G. Fichte: Bemerkungen bei der Lektüre von Schellings transzendentalem Idealismus (1800) und Zur Darstellung von Schellings Identitätssysteme (1801). – In: FW XI, 368–389. 9 FW XI, 371.
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Schellings Hände gelangt. In diesem Brief äußert sich Fichte gegen Schelling: »Ich hoffe, meine zu Ostern erscheinende neue Darstellung soll sein Vorgeben, dass er mein System, welches er nie verstanden hat, weiter geführt, in seiner ganzen Blöße darstellen.« Fichte identifiziert in diesem Brief Schellings System mit einem spinozistischen Dogmatismus. Danach wäre Schellings System eigentlich gar kein Idealismus, sondern Schelling würde in realistischer Weise ein existierendes Ding voraussetzen und von diesem ausgehend das Wissen über das Ding als etwas Nachgeordnetes ableiten. Fichte wirft Schelling aber auch vor, dieser glaube »die Wissenschaftslehre leite das Ding von dem Wissen vom Dinge ab, und dass er ehemals mit seinem eigenen Idealismus es wirklich also gemeint« hat.10 Dies meint Fichte wohl so, dass Schelling in willkürlicher Weise das Wissen als alleinigen Grund für das Ding deutet und daher einen Idealismus verfolgt, der das Ding allein von willkürlichen Vorstellungen des Subjekts abhängig macht – in modernerer Terminologie ausgedrückt, wäre dies der Vorwurf des Psychologismus. Daraus folgt: In Fichtes Sicht hat Schelling nie den transzendental-kritischen Idealismus verstanden, denn Schelling konzipiert nach Fichte einen in sich uneinheitlichen Idealismus, der einerseits dogmatische und andererseits psychologistische Züge aufweist. Nach Fichte erweist der Idealismus gerade das notwendige Wissen und die gesetzmäßigen Vollzüge der reinen und allgemeinen Subjektivität als die Konstitutionsbedingungen für das Ding und der Idealismus zeigt ferner, dass das endliche Selbstbewusstsein mit dem Ding oder dem Erfahrungsgegenstand in einer Wechselbeziehung steht. Über die brieflichen Anschuldigungen empört sich Schelling in einem letzten Brief vom 25. Februar 1802 und beide brechen den Briefverkehr ab.11 In der nachfolgenden Zeit kritisieren sich beide in deutlicher und polemischer Form in den veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften. Diese späte Phase der Auseinandersetzung bleibt hier jedoch ausgeblendet. Uns soll im Folgenden vor allem die implizite und indirekte Kritik Fichtes an Schelling in der »Ersten Einleitung« (1797) interessieren. Hier zeigt sich die unterschiedliche Auffassung von Transzendentalphilosophie und Subjektivität der beiden Denker.12 10
Vgl. Fichtes Brief an Schad vom 29. 12. 1801. – In: J.G. Fichte-Gesamtausgabe, Hrsg. v. R. Lauth/ H. Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, Abt. III/5, 100 f. 11 Vgl. F.W.J. Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. II, 383 ff. 12 Mit der Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling beschäftigt sich bereits Julius Ebbinghaus in seiner Habilitationsschrift: Die Grundlagen der Hegelschen Philosophie 1793– 1803. – In: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Bonn 1994, Der Streit Fichtes und Schellings, 300–320; Ebbinghaus geht allerdings davon aus, dass insbesondere im Briefwechsel seit 1800/01 die beiden Denker eigentlich dieselbe Konzeption vertreten, nämlich die transzendentalen Bedingun-
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2. Die Konfrontation im Rückblick Fichtes Fichte hat in einem Brief an Schelling vom 31. Mai 1801 rückblickend auf Unterschiede zwischen seiner eigenen Konzeption und derjenigen Schellings aufmerksam gemacht bezüglich der Bestimmung von Subjektivität, Transzendentalphilosophie und damit zusammenhängend des Verhältnisses gen des Bewusstseins durch eine vorbewusste, rein relationale Einheit, bzw. Identität, von Subjekt und Objekt zu explizieren; nach Ebbinghaus bildet die Einheit von Subjekt und Objekt eine reine wechselseitige Relation ohne vorgängig existente Relata. Inwiefern ein solcher vorbewusster und prinzipiell nicht bewusst zu vollziehender Einheitsgrund des Bewusstseins und der Subjektivität, noch transzendentalphilosophisch zu eruieren ist, bleibt allerdings bei Ebbinghaus unklar; auch die zahlreichen von Fichte und Schelling selbst, insbesondere im Briefwechsel, bekundeten und sachlich offensichtlichen Differenzen werden in der Darstellung von Ebbinghaus nivelliert. Zum Thema vgl. auch Karl Jaspers: Schelling. Größe und Verhängnis. München 1955, bes. 285–299, der auch auf die Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling nach 1801 eingeht. Vgl. auch die Einleitung von Walter Schulz in: Fichte-Schelling. Briefwechsel. Frankfurt a.M. 1968, 7–50, vgl. auch die klaren und präzisen Ausführungen von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Das Problem der Natur. Nähe und Differenz Fichtes und Schellings. – In: Fichte-Studien 12, 1997, 211–233 und von Jochem Henningfeld: Schellings Identitätssystem von 1801 und Fichtes Wissenschaftslehre. – In: Fichte-Studien 12, 1997, 235–246, vgl. auch Hartmut Traub: Schellings Einfluss auf die Wissenschaftslehre 1804. Oder: »Manche Bücher sind nur zu lang geratene Briefe«. – In: Fichte-Studien 18, 2000, 121–136; Traub betont allerdings die Ähnlichkeiten der Konzeptionen Fichtes und Schellings nach 1801 und sieht insbesondere einen Einfluss Schellings auf die späte Konzeption Fichtes und versucht, dies durch die briefliche Auseinandersetzung der beiden Denker zwischen 1801 und 1802 zu belegen. Vgl. zum Thema auch F.W.J. Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. I (1775–1809). Hrsg. v. Horst Fuhrmans, Bonn 1962, 201–237, bes. 217 ff. Fuhrmans stellt allerdings die Auseinandersetzung der beiden Denker v. a. aus der Perspektive Schellings dar und unter besonderer Berücksichtigung der persönlich-privaten Differenzen. Vgl. auch Xavier Tilliette: Schelling. Une philosophie en devenir. Bd. I, Paris 1970, 237–293; Reinhard Lauth: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre. Freiburg/München 1975 und ders.: Die erste philosophische Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling 1795–1797. – In: Zeitschrift für philosophische Forschung 21, 1967, 341–367; Lauth rekonstruiert das Verhältnis der beiden Denker zueinander mit dem Hauptgewicht auf der Perspektive Fichtes. Zum Thema auch Lore Hühn: Fichte und Schelling. Oder: Über die Grenze menschlichen Wissens. Stuttgart/Weimar 1994; sie berücksichtigt v. a. die Auseinandersetzung der beiden Denker nach 1801 und versucht, die Entwicklung des Idealismus von Fichte zu Schelling als konsequente Depotenzierung des Prinzips der Subjektivität und als Radikalisierung des Konzepts der Freiheit darzustellen. Die Depotenzierung der Subjektivität münde in den Begriff der Ekstasis des späten Schelling, der Freiheit als für das Subjekt unverfügbares Ereignis bestimme; die Ekstasis übernehme beim späten Schelling die Rolle der intellektuellen Anschauung. Zu den Unterschieden der späteren Konzeptionen Fichtes und Schellings vgl. auch Alfred Denker: In den Fußstapfen Gottes. Anfang und Methode der Philosophie und das Problem der Freiheit in der Spätphilosophie Fichtes und Schellings. – In: Fichte-Studien 18, 2000, 101–120. Diese Deutung unterscheidet sich von der zuvor genannten von L. Hühn: Denker stellt dar, dass auch noch der späte Fichte, wenn auch modifiziert, an Kants Bestimmung der Freiheit als Autonomie festhält, wogegen sich bei Schelling ein Freiheitsbegriff der Willkür zeige.
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von Idealismus und Dogmatismus in den Frühschriften der beiden Denker zwischen 1795 und 1797. Dabei ist beiden Philosophen allerdings in der Frühphase gemeinsam, dass sowohl Schelling in den »Philosophischen Briefen« (1795) als auch Fichte in der »Ersten Einleitung« (1797) die Transzendentalphilosophie als Begründung der Erfahrung vor dem Horizont einer Auseinandersetzung der beiden philosophischen Ansätze des Idealismus und des Dogmatismus konzipieren. Fichte macht allerdings auf einen grundlegenden Unterschied aufmerksam, wenn er in dem Brief vom 31. Mai 1801 an Schelling schreibt: »Ihre einsmalige Aeusserung im Philosophischen Journale von zwei Philosophien, einer idealistischen, und realistischen, welche – beide wahr, neben einander bestehen könnten, der ich auch sogleich sanft widersprach, weil ich sie für unrichtig einsahe, erregte freilich in mir die Vermuthung, dass Sie die Wissenschaftslehre nicht durchdrungen hätten«.13 Auch hier findet sich also Fichtes Vorwurf gegen Schelling, dieser habe den Sinn des kritischtranszendentalen Idealismus verfehlt. Den »sanften Widerspruch« gegen die Konzeption des Verhältnisses von Idealismus und Dogmatismus in Schellings »Philosophischen Briefen« formuliert Fichte indirekt insbesondere in der »Ersten Einleitung«, indem er das Verhältnis von Idealismus und Dogmatismus grundlegend anders als Schelling bestimmt.14 Fichte kritisiert
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Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. II, 339. Zu der impliziten Kritik an Schelling in Fichtes: Einleitungen in die Wissenschaftslehre (1797/98) vgl. Werner Flach: Fichte über Kritizismus und Dogmatismus. – In: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964) 585–596, Reinhard Lauth: Die erste philosophische Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling 1795–1797. – In: Zeitschrift für philosophische Forschung 21 (1967) 341–367, Jürgen Habermas: Dogmatismus, Vernunft und Entscheidung. – In: Theorie und Praxis. Frankfurt a.M. 1980, 312 ff.; Habermas sieht allerdings keinen Unterschied in den Positionen von Fichte und Schelling. Gegen diese Einschätzung wendet sich zu Recht Ingtraud Görland: Die Entwicklung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte. Frankfurt a.M. 1973, bes. 74, vgl. auch Hans Michael: Baumgartner: Der spekulative Ansatz in Schellings System des transzendentalen Idealismus. – In: Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807). Hrsg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1999, 127–143. Zu Fichtes Erster Einleitung in die Wissenschaftslehre und zu der freien Wahl zwischen Idealismus und Dogmatismus vgl. Heinz Heimsoeth: Fichte. München 1923, 70–104, Luigi Pareyson: Die Wahl der Philosophie nach Fichte. – In: Epimeleia. Die Sorge um den Menschen. Festschrift für H. Kuhn, Hrsg. v. F. Wiedmann, München 1964, 30–60, Reinhard Brandt: Fichtes 1. Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797). – In: Kant-Studien 69 (1978) 67–89, Edith Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewusstsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, zu Idealismus und Dogmatismus bes. 199 ff., Daniel Breazeale: How to make an Idealist: Fichte’s »Refutation of Dogmatism« and the Problem of the starting Point of the »Wissenschaftslehre«. – In: Philosophical Forum XIX (1987/88), 97–123, Johannes Römelt: »Merke auf dich selbst«. Das Verhältnis des Philoso14
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Schelling hier nur implizit, also ohne ihn eigens zu nennen, aber dennoch deutlich. In theoretischer Hinsicht bilden nach Schelling Dogmatismus und Idealismus nämlich gleichrangige Philosophiekonzeptionen zur Erklärung der Erfahrung. Fichte schreibt dagegen im selben Brief an Schelling weiter: »Ein Idealismus aber, der noch einen Realismus neben sich duldete, wäre gar nichts«.15 Damit hält Fichte an einer Bestimmung des Verhältnisses von Idealismus und Dogmatismus fest, die er bereits im ersten Teil der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« (1794) andeutet. Danach kann es nur zwei Systeme der Philosophie geben: das idealistisch-kritische und das dogmatische System. Der Dogmatismus führe allerdings in den Relativismus und damit in den Skeptizismus, denn notwendigerweise könne der Dogmatismus kein oberstes, letztbegründendes Prinzip des Wissens aufstellen; dazu sei nur der Idealismus mit dem absoluten Ich als Prinzip in der Lage, denn das absolute Ich ist dadurch letztbegründend und letztbegründet, dass es sich selbst setzt und dadurch die Frage nach einem höheren Grund sinnlos wird. Der Dogmatismus hebt sich durch den Widerspruch auf, ein System der Philosophie aufstellen zu wollen zugleich jedoch in skeptische und relativistische Konsequenzen zu führen, die ein System prinzipiell unmöglich machen.16 Also deutet Fichte bereits in der »Grundlage« an, dass neben dem Idealismus kein Dogmatismus bestehen kann. Weshalb der Dogmatismus in den relativistischen Skeptizismus führt, begründet Fichte hier jedoch noch nicht differenziert; eine derartige Begründung findet sich dann allerdings in der »Ersten Einleitung«.
3. Schellings Konzeption von Idealismus und Dogmatismus Schelling hat die »Philosophischen Briefe« verfasst, weil ihm die Trennung der beiden philosophischen Ansätze des Dogmatismus und des Idealismus durch Kant nicht deutlich und streng genug erschien. Er sieht sogar Tendenzen bei den Nachfolgern Kants, dessen Kritizismus in einen Dogmatismus umzuwandeln.17 phen zu seinem Gegenstand nach dem »Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98)«. – In: Fichte-Studien 1 (1990), 73–98. 15 F.W.J. Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. II, 344. Dass der Idealismus keinen Realismus neben sich dulden darf und dass vielmehr die realistische Ansicht einer von uns unabhängigen Welt außer uns im Idealismus selbst herzuleiten ist, betont Fichte bereits in einer Anmerkung zum 1. Abschnitt der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), die sich daher wohl auch gegen Schelling richten dürfte, auch wenn dieser hier nicht genannt wird; vgl. FW I, 455. 16 Vgl. FW I, 119 ff. 17 Vgl. SW, Abt. I/1, 283.
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In Schellings Umdeutung ist Kants transzendentalphilosophische Frage: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« identisch mit der Frage: »Wie komme ich überhaupt dazu, aus dem Absoluten heraus und auf ein Entgegengesetztes zu gehen?«.18 Daran wird deutlich, dass Schelling die Transzendentalphilosophie in einen metaphysischen Horizont einbindet. Diese Einbindung ist in Schellings Konzeption aufgrund eines bestimmten Verständnisses von synthetischen Urteilen möglich. Das synthetische Urteil ist demnach ein Akt der Subjektivität: in der Synthesis von Mannigfaltigem tritt das Subjekt aus sich selbst heraus und wird objektiv, diese Objektivität besteht in der Vereinigung einer Vielheit zu einer Einheit. Diese synthetische Einheit setzt jedoch »ein Widerstrebendes« voraus und diese widerstrebende Vielheit setzt wiederum absolute Einheit voraus. Deshalb, so Schelling, ist die Synthesisleistung des Subjekts nur auf der Grundlage einer absoluten Einheit erklärbar, nämlich derjenigen Einheit, die Entgegensetzung überhaupt erst ermöglicht.19 Daher sind die beiden oben genannten Fragen für Schelling identisch. Das zentrale Problem der Philosophie ist somit das Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit.20 Idealismus und Dogmatismus sind nach Schelling die beiden Philosophiekonzeptionen, die auf das Problem des Verhältnisses von Unendlichkeit und Endlichkeit eine Antwort zu geben versuchen. Der Dogmatismus postuliert nach Schelling die Unterwerfung des Menschen unter das »absolute Objekt«, d. h. unter Gott.21 Der Kritizismus hat es sich dagegen zum Ziel gesetzt, die Menschheit zu befreien.22 Dogmatismus und Kritizismus wollen beide den Grund des Daseins der Erfahrungswelt klären. Und dies ist in Schellings Sicht auch die Aufgabe der Transzendentalphilosophie: Den Grund des Daseins der Erfahrungswelt anzugeben. Dieser Grund liegt nicht mehr selbst in der Erfahrungswelt, sondern außerhalb ihrer.23 Dass der Grund der Erfahrungswelt nicht selbst eine Erfahrungstatsache sein kann, ist analog zu Fichtes Bestimmung der Transzendentalphilosophie in der »Ersten Einleitung«. Auch nach dem frühen Fichte ist es die Aufgabe der Transzendentalphilosophie, den Grund der Erfahrung anzugeben. Darin unterscheiden sich allerdings der frühe Schelling und der frühe Fichte grundsätzlich, dass nach Schellings »Philosophischen Briefen« der Grund der
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Vgl. SW, Abt. I/1, 294. Vgl. SW, Abt. I/1, 296 ff. Vgl. SW, Abt. I/1, 314. Vgl. SW, Abt. I/1, 284 und 316. Vgl. SW, Abt. I/1, 290. Vgl. SW, Abt. I/1, 310.
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Erfahrung das Absolute ist. Schelling will also die Erfahrungswelt vollständig transzendieren, um sie im Absoluten zu begründen. Hier wird wiederum deutlich, dass bei Schelling die Frage der Transzendentalphilosophie nach dem Grund der Erfahrung von vornherein in dem Horizont einer metaphysischen Einheitskonzeption des Absoluten gesehen wird. Bei Fichte bleibt die Begründung der Erfahrung dagegen immer rückbezogen auf die Erfahrung und auf die transzendentale Subjektivität. Der Dogmatismus versteht nach Schelling das Absolute als absolutes Nicht-Ich; demgegenüber bestimmt der Idealismus diesen Grund, d. h. das Absolute, als absolutes Ich. Nach Schelling ist das Absolute für Idealismus und Dogmatismus eigentlich dasselbe, nämlich dasjenige, in dem aller Gegensatz von Subjekt und Objekt überwunden ist und eine völlige Einigkeit realisiert ist. Daher haben nach Schelling Idealismus und Dogmatismus mit dem Absoluten als völliger Einigkeit ohne Entgegensetzung etwas Gemeinsames. Die Verschiedenheit der idealistischen und der dogmatischen Konzeption ergibt sich nach Schelling nur, wenn man aus dem Absoluten selbst herausgetreten ist und es unter spezifischen Perspektiven untersucht; immanent im Absoluten gibt es derartige Unterschiede jedoch nicht. Auch die Konzeption einer prinzipiellen Bewusstseinstranszendenz des Absoluten ist Idealismus und Dogmatismus gemeinsam. Die Erfahrungswelt selbst besteht nach Schellings Konzeption in den »Philosophischen Briefen« in dem Gegensatz von Subjekt und Objekt; das Absolute ist dagegen die unbedingte Einheit. Die absolute Einheit entzieht sich also aller Erfahrung und kann daher nicht Gegenstand des theoretischen Wissens oder der Erfahrung sein, weil sich im theoretischen Wissensvollzug Subjekt und Objekt entgegenstehen und unterscheiden, nämlich als Wissendes und Gewusstes.24 Daher zieht der frühe Schelling die Konsequenz, dass der Streit zwischen Idealismus und Dogmatismus nicht mit theoretischen Erkenntnissen entschieden werden kann und dass zumindest in theoretischer Hinsicht Idealismus und Dogmatismus zwar entgegengesetzte, aber doch gleichrangige und gleichwertige Erklärungsmodelle für die Erfahrung darstellen.25 Weiterhin zieht Schelling die Konsequenz, dass das Absolute für uns nur im praktischen Streben in der Form einer unendlichen und prinzipiell unabschließbaren Annäherung an das Absolute realisierbar ist. Das praktische Streben sowohl des Dogmatikers als auch des Idealisten zielt dabei darauf ab, die Entgegensetzungen aufzuheben. Dies ist eine praktische Aufgabe. Die praktischen Postulate von Dogmatismus und Idealismus lauten daher nach 24 25
Vgl. SW, Abt. I/1, 293, 308 und 333. Vgl. SW, Abt. I/1, 296, 298 und 305 ff.
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Schelling: »Wenn dieser fordert, ich soll im absoluten Objekt untergehen, so muss jener umgekehrt fordern, alles, was Objekt heißt, soll in der intellektualen Anschauung meiner selbst verschwinden. In beiden Fällen ist für mich alles Objekt, eben damit aber auch das Bewusstsein meiner selbst als eines Subjekts verloren. Meine Realität verschwindet in der unendlichen.«26 Im Absoluten selbst ist also alle Entgegensetzung und aller Widerspruch aufgehoben.27 Der Dogmatismus ist durch den Kritizismus prinzipiell nicht theoretisch zu widerlegen;28 in dieser Hinsicht stehen sich die beiden Systeme gleichwertig gegenüber. Die theoretische Philosophie kann den Streit zwischen Dogmatismus und Idealismus prinzipiell nicht klären, weil sie von der Entgegensetzung von Subjekt und Objekt ausgeht, aber Dogmatismus und Idealismus wollen über Subjekt und Objekt als Entgegengesetzte hinausfragen, nämlich nach dem absoluten Subjekt bzw. dem absoluten Objekt, die jeweils für sich eine absolute, vollständige Vereinigung bilden. Es gibt daher einen Parallelismus und Pluralismus der beiden Systeme.29 In praktischer Hinsicht gibt es allerdings nach Schelling einen gewissen Vorrang des Idealismus gegenüber dem Dogmatismus. Der Dogmatismus postuliert die Aufhebung des Subjekts zugunsten des absoluten Objekts. Vom Ich kann aber nicht abstrahiert werden, das Nichtsein des Ich kann nicht gedacht und praktiziert werden, denn um das Nichtsein des Ich denken oder durchleben zu können, muss sich das Ich als Denkendes oder als Erlebendes jeweils immer wieder voraussetzen. Das Nichtsein des Ich zu denken, wie es der Dogmatiker postuliert, impliziert daher nach Schelling die Fähigkeit, den Widerspruch denken zu können, nämlich den Widerspruch, dass das Ich sein muss, um nicht sein zu können. In dieser Hinsicht muss man, um im Absoluten untergehen zu können, immer wieder ein Ich, nämlich sich selbst als den Untergehenden voraussetzen, und das Ich ist daher auch für den Dogmatiker unhintergehbar. Da der Idealismus vom Ich ausgeht und auf eine Steigerung des Ich abzielt, hat er einen praktischen Vorteil gegenüber dem Dogmatismus.30
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SW, Abt. I/1, 327. Vgl. hierzu auch Schellings Brief an Hegel vom 4.2.1795. – In: Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. II, 65 f. Hier wird deutlich, dass Schelling in dieser Phase seines Denkwegs Gott als unpersönliches, überbewusstes Wesen konzipiert und dass es das Ziel des praktischen Strebens des idealistischen Philosophen sein soll, seine eigene Persönlichkeit zu vernichten. 27 Vgl. SW, Abt. I/1, 329. 28 Vgl. SW, Abt. I/1, 296, 339. 29 Vgl. SW, Abt. I/1, 296, 306. 30 Vgl. SW, Abt. I/1, 319 f.
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4. Konstitution des Ego und der Vorrang des Idealismus in Fichtes Gegenentwurf Nach Fichtes »Erster Einleitung in die Wissenschaftslehre« sind sich Idealismus und Dogmatismus in der Begründung der Erfahrung völlig uneinig und es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen beiden.31 Der Dogmatiker geht nach Fichte einseitig vom Ding an sich aus und abstrahiert vom Ich, um die Erfahrung zu begründen, und umgekehrt geht der Idealist vom Ich an sich aus und abstrahiert vom Ding, um die Erfahrung zu begründen.32 Wie nach dem frühen Schelling so ist es also auch nach dem frühen Fichte die Aufgabe der Transzendentalphilosophie, den Grund der Erfahrung anzugeben. Dabei darf nach Fichte der Grund der Erfahrung nicht selbst in der Reihe des Begründeten, also in der Erfahrung, liegen, da sonst ein fehlerhafter logischer Zirkel begangen würde; es würde nämlich vorausgesetzt, was allererst in seiner Möglichkeit erklärt werden soll; der Grund der Erfahrung kann daher nicht selbst in einer Erfahrungstatsache bestehen, da sonst die Erfahrung Grund der Erfahrung wäre.33 Grund und Begründetes sind daher auch nicht austauschbar; der Grund hat vielmehr logische bzw. konzeptuelle Priorität gegenüber dem Begründeten. Zugleich wird nach Fichte durch die asymmetrische Relation des Grundes zum Begründeten die Endlichkeit des Begründeten deutlich: Das Begründete hat seinen Grund jeweils außer sich; ein endliches Begründetes kann keine vollständige Selbstbegründung vollziehen, die es zu etwas schlechthin Notwendigem machen würde. Ein endliches Begründetes kann lediglich eine relative und hypothetische Notwendigkeit haben, insofern es nämlich notwendigerweise aus anderem folgt. Dass ein Begründetes seinen Grund außerhalb seiner selbst hat, macht es vielmehr zu etwas Kontingentem und bedingt Zufälligem, denn es ist abhängig von anderem, das es nicht selbst ist.34 Nach dem frühen Fichte besteht die Erfahrung in dem System der untereinander zusammenhängenden Vorstellungen, die vom Gefühl der Notwendigkeit begleitet werden. Daran wird deutlich, dass Fichte einen wesentlich weiteren Begriff von Erfahrung vertritt als Kant; für Fichte sind alle durch gesetzmäßige Notwendigkeit gegebenen »Tatsachen des Bewusstseins« Er31
Vgl. FW I, 429. Vgl. FW I, 429 ff. 33 Vgl. FW I, 424 f.: »Der Grund fällt, zufolge des bloßen Denkens eines Grundes, außerhalb des Begründeten«; mit dem »bloßen Denken« spielt Fichte offensichtlich auf den zu vermeidenden logischen Zirkel an. 34 Vgl. FW I, 424. 32
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fahrungen, also z. B. nicht nur die raum-zeitlichen Dingvorstellungen, sondern auch das Wissen um andere Subjekte (z. B. im Rechtsverhältnis und bei der intersubjektiven Anerkennung) und das Wissen um sittliche Verpflichtungen, aber auch kulturelle und künstlerische Produkte können erfahren werden. Von diesem Erfahrungsbegriff sind dagegen alle durch Willkür und pure Phantasie gebildeten Vorstellungen ausgeschlossen, weil diese Vorstellungen nicht vom Gefühl der Notwendigkeit begleitet werden können. Um die Erfahrung, als das System der notwendigen, zusammenhängenden Vorstellungen, zu begründen, muss nach Fichte – wie auch nach Schelling – die Erfahrung selbst überschritten werden. Aber es handelt sich nach Fichte nicht um einen vollständigen Überschritt zu einem metaphysischtranszendenten Grund, sondern dieser Überschritt über die Erfahrung zum Grund der Erfahrung bleibt immer an die Erfahrung zurückgebunden, d. h., der Grund der Erfahrung muss sich als Moment in der Erfahrung ausweisen lassen: »Das endliche Vernunftwesen hat nichts außer der Erfahrung; diese ist es, die den ganzen Stoff seines Denkens enthält. Der Philosoph steht notwendig unter den gleichen Bedingungen«.35 Wie sich zeigt, erhebt sich der Philosoph mittels einer spezifischen Abstraktionsmethode über die Erfahrung, bleibt aber immer auf diese rückbezogen. Nach dem frühen Fichte ist das Ich zwar einerseits Grund der Erfahrung, kann aber auch andererseits im Bewusstsein wissend und im weitesten Sinne erfahrend vollzogen werden; das Ich als konstituierender Grund der Erfahrung kann also selbst auch methodisch in der Abstraktion des Philosophen erfahren werden und ist keine unerfahrbare, transzendente Entität. Fichte will die Erfahrung nicht in einem metaphysisch-transzendenten Absoluten begründen. Allerdings kann das Ich als konstitutiver Grund der Erfahrung nur vom Philosophen als vom betrachtenden Ich in diesem allgemeinsten Sinne erfahren und gewusst werden, aber nicht vom betrachteten Ich, also nicht vom »natürlichen«, in die Erfahrung versenkten Ich. Denn dieses Ich ist »geradehin« in die Erfahrung versenkt und thematisch auf die notwendigen Vorstellungen gerichtet, die die Erfahrung ausmachen. Das tätige Ich ist für das betrachtete Ich, das in die Erfahrung versenkt ist, unbewusst. Nur dem analysierenden Philosophen und in dessen Bewusstsein zeigt sich das Ich als die Erfahrung hervorbringend.36 – Edmund Husserl wird diesen Unterschied zwischen dem geradehin 35
Vgl. FW I, 425. Das bewusste, reine Ich wird also vom Philosophen zu dem konkreten Zusammenhang der Erfahrung als transzendentale Konstruktion notwendig hinzugedacht, vgl. FW I, 449 und FW III, 25 f. In ähnlicher Weise deutet bereits Emil Lask: Fichtes Idealismus und die Geschichte. – In: Gesammelte Schriften, Hrsg. v. E. Herrigel, Tübingen 1923, Bd. I, 103–115. Lask deutet, dass das reine Ich nach Fichte »kritisch« ist, weil es keine konkrete Tatsache des Bewusstseins ist, 36
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ausgerichteten Ich und dem reflektierten Ich in seiner transzendentalen Phänomenologie als die Differenz zwischen dem anonym fungierenden Ich und dem phänomenologischen Ur-Ich begreifen. In gewissem Sinne liegt auch hier eine »egologische Differenz« vor. Im vorangehenden Kapitel bezog sich die »egologische Differenz« auf das Verhältnis von Absolutem und limitiertem Ich; hier bezeichnet die »egologische Differenz« den Unterschied zwischen dem anonym fungierenden Ich und dem selbstthematischen, reflektierten Ich. In der Hinsicht des Philosophen auf das natürliche Bewusstsein ist die auf den ersten Blick paradoxe Formulierung eines »anonymen Ich« also kein Widerspruch, sondern eine notwendige Konsequenz der intentionalen Ausrichtung des konstitutiven und fungierenden Ich, das auf das Ding konzentriert ist und daher seine eigene konstruktive Aktivität übersieht. Das anonyme Fungieren des Ich in der intentionalen Ausrichtung auf Gegenständlichkeit überhaupt zeigt sich bei Husserl insbesondere in der »passiven Synthesis«, also dort, wo wir in unserer Vorstellung, z. B. der des Raumes als einer zwar synthetischen Einheit, die uns aber einfach als vorliegend oder vorgegeben erscheint, nicht unsere vereinigende Aktuosität bemerken. – Nach Fichte ist das von der Wissenschaftslehre zu untersuchende »natürliche und erfahrende Ich« auf die Objekte gerichtet und nicht auf sich selbst als auf dasjenige, welches durch seine Handlungen die Objekte konstituiert; daraus folgt, dass das natürliche Ich selbstvergessen, in gewissem Sinne anonym fungierend ist und nur die noematischen Produkte seiner Handlungen in die Aufmerksamkeit des erfahrenden Ich fallen. Daher ist es die spezifische Aufgabe der Wissenschaftslehre, nicht nur die noematischen Produkte der Handlungen zu untersuchen, sondern auch die diesen noematischen Produkten korrelativ und konstitutiv zugeordneten Handlungen des Ich zu also kein Faktum, sondern eine Konstruktion, die durch Abstraktion gewonnen wird. Als ein solcher Allgemeinbegriff, der völlig formal ist, sei das Ich inhaltsleer (hierzu bes. 114). Gegen letzteres ist allerdings einschränkend zu sagen, dass das absolute Ich der Tathandlung zwar relativ unbestimmt ist, da es nämlich keinen Bezug auf anderes hat, aber es ist doch kein Allgemeinbegriff, denn bei der Bildung von Begriffen ist nach Fichte der Verstand konstitutiv, ein Vermögen, das im Rahmen des ersten Grundsatzes noch nicht hergeleitet ist. Ein Begriff ist für Fichte auch immer eine Fixierung; das absolute Ich kann eine solche auch deswegen nicht sein, weil es eine reine Handlungsstruktur ist. Vgl. auch Bruno Zimmermann: Freiheit und Reflexion. Untersuchungen zum Problem des Anfangs des Philosophierens bei Joh.G. Fichte. Diss. Köln 1969, 161 ff. Auch Zimmermann deutet, dass das reine, erkenntniskonstituierende Ich in Fichtes Entwurf der Wissenschaftslehre nova methodo ein erkenntnistheoretisches, transzendentalphilosophisches Konstrukt ist. Zur unbewussten Produktion der vorgestellten Objekte durch das Ich, genauer durch die Einbildungskraft als dem Grundvermögen des theoretischen Ich, bei Fichte vgl. Klaus Düsing: Einbildungskraft und selbstbewusstes Dasein beim frühen Fichte. – In: Kategorien der Existenz. Festschrift für W. Janke. Hrsg. v. K. Held/ J. Henningfeld, Würzburg 1993, 61–76.
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analysieren. Die Wissenschaftslehre vollzieht also nicht nur einerseits eine reflexive Rückwendung auf die Handlungen des Ich, die den noematischen Produkten der Handlungen zugrundeliegen, sondern sie soll andererseits auch die Korrelation von noetischem Handlungsvollzug des Ich und noematischem Produkt aufweisen. Das noematische Produkt der Handlungen ist dabei nichts anderes als das Objekt und dessen spezifischere Bestimmungen, z. B. als Wahrnehmungsobjekt, Anschauungsobjekt, Urteilsgegenstand etc. Das Objekt als noematisches Produkt ist also nichts anderes als die noetische Handlung, doch wird bei dem Objekt von der Agilität des Subjekts, also von den Konstitutionsleistungen abgesehen. Das Spezifikum der Wissenschaftslehre als Transzendentalphilosophie ist dabei, dass sie die Korrelation von handelndem Subjekt und »behandeltem« Objekt strikt beachtet. Das Objekt soll nicht ohne die notwendigen Vollzüge des Subjekts dargestellt werden und umgekehrt soll zugleich das handelnde Subjekt nicht ohne seine spezifischen Objekte dargestellt werden. Die Handlungen des Subjekts als Bedingungen der Möglichkeit der Objekte der Erfahrung sind nicht abgelöst von den Objekten der Erfahrung selbst zu analysieren und umgekehrt sind auch die Objekte der Erfahrung nicht ohne das Subjekt als Akteur der Erfahrung zu untersuchen. Nach Fichte gibt es – mit einem Wort Husserls – ein »Korrelationsapriori« zwischen Subjekt und Objekt, das eine ist nicht ohne das andere zu untersuchen und beide bedingen sich nach den Ergebnissen der transzendentalen Analyse gleichursprünglich. Die Wissenschaftslehre unterscheidet sich daher als Transzendentalphilosophie streng von jeder inhaltsleeren Formalphilosophie, da sie die notwendigen Objekte der Handlungsweisen des Subjekts mitberücksichtigt.37 Die Formalphilosophie berücksichtigt dagegen nur die subjektiven Handlungen und verliert die Gegenstände der Erfahrung aus den Augen. Daher ist der Wissenschaftslehre Fichtes auch kein Psychologismus vorzuwerfen, die Korrelation von Subjekt und Objekt verhindert ein leeres und abstraktes Konstruieren von bloß psychischen Akten. Weil nämlich die Objekte der Erfahrung zu untersuchen sind, kommen auch nur die notwendigen Handlungen des Ich, die für diese Objekte wesentlich und unersetzlich sind, in Betracht. Kontingente psychische Akte ohne reale Funktion für die Erfahrung werden durch die Korrelation und die Gleichursprünglichkeit von Subjekt und Objekt verhindert. Allerdings ist zur Erkenntnis dieser Korrelation von Subjekt und Objekt zunächst notwendig, beide voneinander in einer transzendentalen Analyse zu trennen und sie für sich zu untersuchen, sonst 37
Vgl. FW III, 1 ff.: Wie eine reelle philosophische Wissenschaft sich von bloßer FormularPhilosophie unterscheide.
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hätte man eine undifferenzierte Einheit beider vorliegen, wie es bereits für das natürliche, vorphilosophische Bewusstsein der Fall ist, aber man würde dann nicht den Konstitutionsprozess der Erfahrungsgegenstände untersuchen. Wenn auch die Erfahrung in der Korrelation von Subjekt und Objekt besteht, so ist diese Korrelation doch ein vom Ich konstituierter, in sich gegliederter, geordneter und gesetzmäßiger Zusammenhang, der als solcher überhaupt erst durch die Scheidung der Momente der Erfahrung erkennbar wird. De facto sind in der Erfahrung des »natürlichen« Bewusstseins Ding und Ich synthetisch vereint und nur der Philosoph mit seiner – in der Terminologie Rickerts und Husserls – »isolierenden« und »eidetischen Abstraktion« schaut den konstituierenden Wesenskern der Erfahrung heraus, nämlich entweder das Ding oder das Ich; im ersten Fall folgt der Dogmatismus, im zweiten der Idealismus. Die Abstraktion ist also sowohl die Methode des Idealismus als auch des Dogmatismus bzw. Realismus. Durch die isolierende Abstraktion erhebt sich der Philosoph über die Erfahrung, denn er ist nun nicht mehr in den unmittelbaren synthetischen Zusammenhang von Ding und Ich, wie er in der unmittelbaren Erfahrung zunächst vorliegt, versenkt, sondern der Philosoph isoliert Ding und Ich als konstitutive Elemente der Erfahrung. Für Fichte ist das Ding an sich des Dogmatikers mit der Bedeutung, dass es etwas ist, das nicht in Relation zu einem Ich steht, das also prinzipiell unvorgestellt bleibt, ein bloßes theoretisches Konstrukt und damit eigentlich bloß eine wissenschaftliche Hilfsannahme und Fiktion, die sich in der tatsächlichen Erfahrung nicht auffinden lässt; denn dort ist das Ding immer bezogen auf eine Intelligenz, für die es vorhanden ist.38 Umgekehrt lässt sich das Ich im konkreten Bewusstseinsleben sehr wohl ausweisen. Denn im Bewusstsein des idealistischen Philosophen zeigt sich das Ich als in der Erfahrung selbst enthaltene Struktur tätigen Setzens. Dagegen wäre ein Ding an sich, das nicht für ein Ich vorhanden ist, etwas, das nichts für das Ich ist. Dies ist jedoch ein völlig leerer und paradoxer Gedanke. An anderer Stelle sagt Fichte daher über das Ding an sich: »dass der Satz der W.-L. Es gibt kein Ding an sich – mit Kant zu reden, gar kein negativer, sondern ein unendlicher Satz ist; der nur aussagt, dass da unsere Erkenntnis ganz zu Ende ist, und dass wir ohne offenbaren Widerspruch über jene Grenze hinaus mit unserm Denken weder positiv, noch negativ dogmatisch, noch skeptisch, gehen können«.39 Das Ding an sich wird also von Fichte nicht einfach ver38 39
Vgl. FW I, 428, vgl. auch FW III, 3. Vgl. Fichtes Brief an E.A. Mehmel vom 22.11.1800. – In: Fichte-Gesamtausgabe. Hrsg. v.
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worfen oder abgelehnt, es wird vielmehr als eine zwar notwendige, aber in sich widersprüchliche Entität angenommen, daher sind Aussagen, die das Ding an sich thematisieren, unendliche Urteile, d. h., sie haben ein bloß negativ bestimmtes Prädikat zu ihrem Bestimmungsgrund. In der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« ist das Ding an sich diejenige theoretisch zu konstruierende Entität, die wir annehmen müssen, wenn wir etwas anschauen. Der Anschauung wird von uns etwas zugrunde gelegt, das nicht selbst eine Leistung des Ich ist, sondern dieses in einem Anstoß affiziert. Das Ding an sich ist in diesem Kontext – in einem Sinne, der ebenfalls schon Kants Konzept des Dinges an sich aufnimmt und weiterführt – ein negativer Grenzbegriff, der keine inhaltlich positive Erfüllung zulässt, sondern nur indirekt bestimmt werden kann: als dasjenige Residuum, das nicht mehr immanent, sondern nur transzendent auf die Spontaneität des endlichen Ich bezogen ist.40 Im Rahmen der praktischen Wissenschaftslehre ist das Ding an sich diejenige Entität, die demjenigen, welches uns im Gefühl gegeben ist, als ein äußerer Anstoß eingebildet wird und worüber das Ich strebend hinauszuwirken versucht.41 Damit meint Fichte nicht, dass ein Ding an sich uns direkt affiziert, sondern vielmehr, dass wir, indem wir ein Gefühl erleben, mitsetzen, dass es einen Raum gibt, in dem andere Dinge, die von unserem Gefühl unabhängig sind, jenes Ding kausal beeinflussen.42 Daraus folgt, dass R. Lauth/ H. Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, Abt. III/4, 370. Wie hier deutlich wird, konzipiert Fichte das Ding an sich als unendliche Aufgabe, denn es impliziert einen Widerspruch. Dies unterscheidet Fichtes Konzeption des Dinges an sich von derjenigen Kants. Für Kant ist das Ding an sich ein reines, aber widerspruchsfrei denkbares Gedankenkonstrukt, ein bloßes Noumenon, das als unabhängig von unseren sinnlichen Erkenntnisbedingungen und den schematisierten Kategorien konzipiert wird; nach Kant ist das Ding an sich zwar nicht erkennbar, aber doch zumindest widerspruchsfrei denkbar (vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 294 ff.). Bei Fichte ist analog zu Kant, dass wir das Ding an sich innerhalb der Philosophie ebenfalls notwendigerweise konzipieren müssen, um Erfahrung erklären zu können, aber es impliziert in sich einen Widerspruch, nämlich einerseits »an sich« zu sein und andererseits doch als Erklärungsgrund für Erfahrung zu fungieren, also doch wieder »für uns« zu sein. 40 Vgl. J.G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). – In: FW I, 238 f. 41 Vgl. Ebd., 281 f. 42 Die für Fichtes Denken fundamentale und zugleich changierende Rolle des Dinges an sich beweist die folgende Stelle: »Das Ding an sich ist etwas für das Ich, und folglich im Ich, das aber dennoch nicht im Ich sein soll: also etwas Widersprechendes, das aber dennoch als Gegenstand einer notwendigen Idee allem unserem Philosophieren zum Grunde gelegt werden muss, und von jeher, nur ohne dass man sich desselben und des in ihm liegenden Widerspruchs deutlich bewusst war, allem Philosophieren, und allen Handlungen des endlichen Geistes zu Grunde gelegen hat. Auf dieses Verhältnis des Dinges an sich zum Ich gründet sich der ganze Mechanismus des menschlichen und aller endlichen Geister. Dieses verändern wollen, heißt alles Bewusstsein, und mit ihm alles Dasein aufheben.« (J.G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). – In: FW I, 283) Vgl. hierzu auch: Alois K. Söller: Fichtes Lehre
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es Dinge immer nur für ein Bewusstsein geben kann und nicht ohne Relation auf ein Ich, dem sie bewusst sind. Ein Ding an sich ist daher ein rein negativer Grenzbegriff, wobei nach Fichte die Grenze darin besteht, dass dieser Begriff einen Widerspruch impliziert, den zu denken wir nicht in der Lage sind; denn einerseits ist das Ding an sich eben »an sich«, andererseits wird es aber jedesmal, wenn es als Erklärungsgrund für unsere Erfahrung fungiert, doch wieder »für uns« gesetzt. Das Changieren und Oszillieren des Dings an sich zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen An-sich-Sein und Für-uns-Sein zeigt sich schon an der Aussage: »Es gibt Dinge an sich«, denn dass es diese Dinge gibt bedeutet, ihnen kommt ein wirkliches Sein zu. Was wirkliches Sein ist, kann aber nur die Transzendentalphilosophie aufdecken, nämlich dann, wenn sie zeigt, wie die reine Subjektivität mit ihren einheitsstiftenden Synthesen Wirklichkeit überhaupt erst konstituiert. Es ist also die »Kopernikanischen Wende« der Transzendentalphilosophie, die zeigt, dass die reine Subjektivität den Rahmen für Gegenständlichkeit überhaupt und damit für wirkliches Sein festlegt und die damit zugleich zeigt, dass man umwillen der Endlichkeit und Begrenztheit des Subjekts zwar ein Ding an sich annehmen muss, durch das die Tätigkeit des Ich begrenzt wird, durch die es angestoßen wird, dass aber zugleich diese Begrenzung und der Anstoß das Ding doch wieder zu etwas machen, das für uns ist. Ein wirkliches Ich zu konzipieren, das sich seine Wirklichkeit tatsächlich vollständig und selbstmächtig praktisch erschafft, bezeichnet Fichte ironisch als Irrlehre des »konsequenten Stoizismus«; dort wird nämlich die Selbstmächtigkeit, die das absolute Ich hat, mit der beschränkten Produktivität des wirklichen Ich verwechselt oder vermengt. Die Vereinheitlichung von praktisch strebendem Ich und absolutem Ich ist für Fichte eine regulative Idee, die eine unendliche Aufgabe darstellt.43 Eine weitere Schwierigkeit, den Gedanken eines Dinges an sich zu denken, besteht darin, dass ein Ding an sich prinzipiell nicht nach der Adäquationstheorie der Wahrheit als wahr beurteilt werden kann. Die adaequatio rei et intellectus kann von einem Ding an sich nicht erfüllt werden, denn sofern es dem Intellekt adäquat ist – oder auch wenn der Intellekt dem Ding an sich adäquat ist – wäre das An-sich-Sein des Dinges aufgehoben. Soll ein Ding nach der Adäquationstheorie beurteilt werden, dann ist es ein Ding für eine vom Anstoß, Nicht-Ich und Ding an sich in der ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹. Eine kritische Erörterung. – In: Fichte-Studien 10 (1997) 175–189, sowie Rainer Schäfer: Johann Gottlieb Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794, Darmstadt 2006, 141 ff., 208 ff. 43 Vgl. J.G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). – In: FW I, 278 Anm.
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Intelligenz. Die Konzeption eines Dinges an sich würde also implizieren, dass die Adäquationstheorie der Wahrheit nicht gilt. Die Beurteilung eines Dinges an sich wäre auch nach der Kohärenztheorie der Wahrheit nicht möglich. Die Wahrheit als Kohärenz impliziert nämlich die Gültigkeit von verschiedenen zueinander in Relation stehenden Aussagen. Gültigkeit kann von Aussagen aber nur beansprucht werden, sofern sie für ein Subjekt gelten, das sie beurteilt und in einen Zusammenhang der Kohärenz bringt. Die Gültigkeit kann daher kein anonymes Geschehen sein, bei dem es niemanden gibt, für den die Aussagen Geltung besitzen. Also wäre für eine Kohärenztheorie der Wahrheit ein Ding an sich prinzipiell ungültig und kein sinnvoller Gedanke. Daher ist es unmöglich, dem Ding an sich nach der Adäquationstheorie oder nach der Kohärenztheorie der Wahrheit eine sinnvolle, d. h. inhaltlich positiv besetzte Bedeutung zuzugestehen. Nach Fichte kann nur entweder das Ding oder das Ich Grund der Erfahrung sein, denn die Transzendentalphilosophie soll die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung theoretisch auf der grundlegenden Ebene eines »ersten, absoluten«44 beantworten, d. h. von dem letztbegründenden Prinzip der Erfahrung ausgehend. Nach Fichte unterscheiden sich Ding und Ich radikal voneinander: Das Ding ist immer nur Sein-füranderes und befindet sich in der einfachen Reihe der kausal-mechanischen Veränderungen; es ist ein bloß Vorhandenes. Das Ich ist dagegen dasjenige, welches die Dinge vorstellt und in diesem Vorstellen zugleich ein Für-sichSein vollzieht. Das Ich ist also nicht zu einem bloß dinglichen Sein-für-anderes zu nivellieren, das lediglich für anderes vorhanden ist, sondern dem Ich kommt ein Für-sich-Sein zu, ein unmittelbares Seiner-selbst-inne-Sein. Diese tätige Selbstbezüglichkeit unterscheidet Ding und Ich radikal voneinander und lässt nach Fichte keine Gemeinsamkeiten der Prinzipien von Idealismus und Dogmatismus zu. – Dies ist ein Unterschied zu Schellings Konzeption, gemäß der das Absolute als Grund des Daseins der Erfahrungswelt für Dogmatiker und Idealisten dasselbe ist, wobei sich nur ihre praktischen Methoden unterscheiden, zu dem Absoluten in unendlicher Annäherung zu gelangen. Für Schelling ist ein »gemeinschaftliches Gebiet« sogar die Voraussetzung dafür, dass es verschiedene Systeme geben kann.45 – Nach Fichte ist im Ich eine synthetische »doppelte Reihe«46 angelegt: Das Ich weiß in seiner Tätigkeit und im Vorstellen von Gegenständen um sich selbst. Das Ding weiß sich dagegen nicht, da es nicht über die Fähigkeit der 44 45 46
Vgl. FW I, 437. Vgl. SW, Abt. I/1, 293. Vgl. FW I, 436.
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Selbsterkenntnis verfügt. Im Ich gibt es daher zwei Reihen, d. h. zwei verschiedene Betrachtungsarten, Perspektiven für die bewussten Vorkommnisse und Erlebnisse: Einerseits gibt es die Reihe der Dinge. Die Dinge sind Vorhandenes, dies besagt abstrakt ausgedrückt, dass die Dinge ein Sein-füranderes sind. Dieses Vorhandene kann sich kausal und mechanisch beeinflussen. Andererseits gibt es die zweite Betrachtungsreihe für die bewussten Erlebnisse, nämlich die Betrachtungsreihe desjenigen, welches diese Erlebnisse vollzieht, dies ist das Ich selbst. Das Ich kann sich seiner selbst thematisch bewusst werden, indem es seiner eigenen Tätigkeit unmittelbar inne ist. Das Ich sieht sich selbst. Abstrakt ausgedrückt kommt dem Ich Für-sich-Sein zu und nicht bloß Sein-für-anderes wie dem vorhandenen Ding. Der Realismus/Dogmatismus kann nur eine kausal-mechanische Reihe der vorhandenen Dinge in den Blick bekommen und muss daher die zweite Ebene, die des Selbstverhältnisses und der Spontaneität in den Vorstellungen als eine eigenständige Struktur übersehen: Der Dogmatismus nivelliert damit die unmittelbar selbstbewusste Intelligenz in ihrer Funktion als eine eigenständige, zweite Reihe der Erfahrungserlebnisse. Nach dem Dogmatismus bildet das Ich bloß ein Epiphänomen, ein den Dingen nachgängiges und angehängtes Phänomen, das sich, wie die Dinge, auch kausal-mechanisch erklären lässt. Damit hebt der Dogmatismus den radikalen Unterschied von Ding und Ich auf. Für den konsequenten Dogmatismus ist das Ich nichts anderes als eine Wechselwirkung der Dinge untereinander, das Ich wird selbst verdinglicht, zum Ding. Das Ich als Für-sich-Sein ist für den Dogmatismus bloß eine Täuschung. Wenn der Dogmatismus das selbständige und spontan tätige Ich als bloße Täuschung von in Wirklichkeit dinglichen Verhältnissen deutet, dann ist allerdings fraglich und kann von ihm nicht mehr erklärt werden, warum diese Dinge sich diesen für sie doch eigentlich aus kausalmechanischer Perspektive unzweckmäßigen Schein geben sollten. Aus der dinglichen Perspektive des Dogmatismus lässt sich also das Ich, selbst wenn zugegeben würde, dass es eine bloße Täuschung wäre, nicht erklären, denn der Dogmatiker kann nicht aufzeigen, weshalb es für die Dinge zweckmäßig sein sollte, eine solche Täuschung her vorzubringen. Auf der Ebene von bloß kausal-mechanischen Relationen ist eine derartige Täuschung kurios und sinnlos. Oder aber der Dogmatiker müsste sagen, das Ich sei ein völlig unbeabsichtigtes und zufälliges Nebenprodukt der Dinge. Dies ist allerdings schwierig damit zu vereinbaren, dass die Selbstvorstellung des Ich bei allen Gegenstandsvorstellungen mitthematisch werden kann; weshalb sollte ein solches zufälliges Nebenprodukt in dieser durchgängigen Allgemeinheit auftreten?
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Die Eigenart des dogmatisch aufgefassten Kausalverhältnisses besteht darin, dass ein Ding Ursache dafür ist, dass seine Kraft auf ein anderes Ding übergeht, welches dann das Bewirkte ist. Dies lässt sich regressiv wie progressiv unendlich fortsetzen. Daran zeigt sich, dass das Ding immer nur ein Seinfür-anderes ist und kein Für-sich-Sein. Das Ding ist jeweils Ursache für ein anderes Ding, oder das Ding ist Wirkung eines anderen Dinges, aber es ist nie für sich. Daher kann nach Fichte der Dogmatismus auch keine Letztbegründung der Erfahrung leisten, denn für jedes Ding lässt sich wiederum ein anderes Ding als Ursache aufweisen, was sich progressiv wie regressiv unendlich fortsetzen lässt; somit kann nie wirklich ein letzter oder eigentlicher Grund der Erfahrung angegeben werden, stattdessen gerät man in einen unendlichen Regress. Daher führt der Dogmatismus nach Fichte in den Relativismus und ist zugleich ein Determinismus, denn alle Dinge sind nach dem Dogmatismus durch andere Dinge außer ihnen festgelegt und fremdbestimmt. Aufgrund der radikalen Verschiedenheit von Ding und Ich kann es nach Fichte auch keinen kontinuierlichen – z. B. evolutionären oder physikalistischen – Übergang vom Ding zum Ich geben. Von der Erkenntnis des Dinges zu der Erkenntnis des Ich gelangt man nur durch einen Sprung; nämlich von der dinglichen Determiniertheit zur ichlichen Freiheit, die diese Dinglichkeit denkt und in den einheitlichen Zusammenhang der Erfahrung durch gesetzmäßige Freiheit ordnet. Weil Ich und Ding nicht eine kontinuierliche einfache Reihe der mechanischen Naturprodukte bilden, ist das Ich auch nicht aus der Kette der kausal-mechanischen Dinge abzuleiten.47 Die Aufgabe der beiden philosophischen Systeme des Idealismus und des Dogmatismus/Realismus ist es, die Erfahrung zu erklären. Erfahrung besteht nach Fichte in den Vorstellungen, die von dem Gefühl der Notwendigkeit begleitet werden. Nun zeigt sich nach Fichte als unleugbares Faktum der Erfahrung, dass in jeder Vorstellung nicht nur einerseits ein Vorgestelltes vorhanden ist, sondern andererseits auch ein Vorstellendes sich seiner selbst unmittelbar und spontan inne werden kann. Dieses Seiner-selbst-inne-Sein kann der Dogmatismus jedoch nicht erklären und daher kann er auch die Erfahrung nicht erklären, denn zu Erfahrungsvorstellungen gehört definitiv, dass es ein seiner selbst unmittelbar inne seiendes Ich gibt. Nach Fichte ist damit das Programm des Dogmatismus gescheitert und theoretisch widerlegt; der Dogmatismus kann eben die Erfahrung nicht vollständig vom Ding her bestimmen: Das Moment des Für-sich-Seins, das für alle Vorstellungen wesentlich ist, das unmittelbare Sich-auf-sich-Beziehen-können jeder Vorstellung kann der Dogmatismus nicht in den Blick bekommen, denn er berück47
Vgl. J.G. Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). – In: FW I, 298.
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sichtigt nur die kausal-mechanische erste Reihe der vorhandenen Dinge; aber die zweite Reihe der Erfahrung, das ichliche Seiner-selbst-inne-Sein kann der Dogmatismus nicht erklären, obwohl es doch für alle Arten von Vorstellungen definitiv ist.48 Das Bewusstsein seiner selbst kann das konkrete Ich durch den praktischen Willen erreichen. Nach Fichte ist auch der praktische Wille an der theoretischen Gegenstands- und Selbsterkenntnis mitbeteiligt: Selbstbewusstsein erlangt das Erkenntnissubjekt, indem das Ich sich der freien Wirksamkeit auf die Welt der Objekte durch den eigenen Willen bewusst wird. Dabei bedarf der handelnde Wille der sinnlichen Wirklichkeit, um sich als ein bestimmter zu realisieren. Ohne die Realisation des Willens in der sinnlichen Wirklichkeit bliebe der Wille bloß abstrakt und im Bereich leerer Möglichkeiten. – Dieser Ansatz ist nicht mit einer Reflexionstheorie des konkreten Selbstbewusstseins zu verwechseln, es verhält sich nicht so, dass das Ich einen Willensakt tätigt und sich im Anschluss durch induktiven und daher unsicheren Rückschluss auf sich selbst als den Akteur zurückkommt. Ein solcher Schluss würde nämlich voraussetzen, was er beweisen soll; in der Prämisse eines solchen Schlusses müsste die Freiheit des Ich zumindest im Allgemeinen bereits bekannt sein, um den spezifischen Freiheitsakt dann im Anschluss daran unter die allgemeine Prämisse subsumieren zu können. – Sofern das Ich mittels des Willens die Objektwelt gestaltend beeinflusst, manifestiert sich nicht nur unmittelbar die freie Wirksamkeit des Ich an der Objektwelt und wird für das Ich an den Veränderungen der Dingwelt erfahrbar, sondern die umgebende Dingwelt wird in ihren prinzipiellen und allgemeinen Strukturen des gegen-ständlichen Entgegenstehens vom Ich selbst vorgängig gesetzt und zwar als die Sphäre der möglichen Handlungen. Weil das Ich eine freie Tätigkeit vollzieht, setzt es sich eine Welt praktisch entgegen, auf die es handelnd einwirken kann. Ohne eine entgegengesetzte Sphäre der potentiellen Bestimmbarkeit, die zu einem widerständigen Bestimmten und damit durch die Handlungen des Ich zu einem Gegenstand modifiziert wird, hätte das Ich nicht die Möglichkeit seine Tätigkeit als eine bestimmte zu vollziehen. Absolute ungehemmte Tätigkeit des Ich muss beständig vorbewusst bleiben und kann damit nicht vom Selbstbewusstsein distinkt vollzogen werden. Der bewusste Vollzug des Ich bedarf notwendigerweise der Entgegensetzung und Begrenzung von Subjekt und Objekt. Ohne die limitierend begrenzte Setzung und Entgegensetzung von Subjekt und Objekt bliebe die reine Tätigkeit des Ich unbewusst. Damit das Ich sich bewusst vollziehen kann, bedarf es auch des Leidens im Ich, also der Setzung von Eingeschränkt48
Vgl. FW I, 435 ff.
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heit. Diese Eingeschränktheit erscheint dem Ich als Sphäre der Bestimmtheit, die ihm als zu modifizierende Realisationsmöglichkeit seiner selbst gegeben ist. Das Mannigfaltige der Wirklichkeit dient also nur dazu, dem Ich die Tätigkeit bewusst zu machen. Die Tätigkeit des Ich besteht darin, die Sphäre der bloßen Bestimmbarkeit so zu modifizieren, dass ein Übergang zu einem Bestimmten stattfindet. Die Sphäre der Bestimmbarkeit ist generell gesagt zunächst alles Nicht-Ichliche, also sowohl die Welt der Dinge als auch die anderen Ich(s). Aus diesen wird durch projizierende Aktuosität des Ich eine begrenzte Sphäre selektiert, in der sich der Übergang vom Bestimmbaren zum Bestimmten vollzieht und damit zu erfahrbarer Gegenständlichkeit wird. Genauer besteht der Übergang vom Bestimmbaren zum Bestimmten darin, dass das Ich Zweckbegriffe entwirft. Das Entwerfen von Zweckbegriffen wird dadurch erklärbar, dass das Ich eine reale Tätigkeit vollzieht, also eine Tätigkeit, die sich auf ein spezifisches Bestimmtes richtet. Dieses Sichrichten auf ein Bestimmtes ist eine selbstaffizierende Konzentration des Ich. Das Ich setzt sich darin selbst als begrenzt, sofern es für den eigenen Handlungsspielraum seiner realen Tätigkeit eine Sphäre der Bestimmbarkeit vorfinden muss. Diese Sphäre der Bestimmbarkeit ist ein unspezifischer Möglichkeitsbereich für die modifizierende Tätigkeit des Ich. Die reale Tätigkeit des Ich bedeutet daher letztlich die Setzung eines Zweckbegriffs, der eine abgrenzende Selektion von bestimmt gegebenen und gewählten Möglichkeiten ist. Mit der realen Tätigkeit ist eine ideale Tätigkeit synthetisch vereint, diese besteht in dem theoretischen Vorstellen, also dem bindenden Entgegenstellen eines Vorstellungsinhalts. Ohne die theoretische Vorstellung der idealen Tätigkeit wäre die praktische Handlung der realen Tätigkeit leer, bzw. es gäbe kein Korrelat der Handlung. Die freie Wirksamkeit kann das Subjekt nicht den Objekten zuschreiben, denn die freie Wirksamkeit ist gerade nicht etwas objektiv Dingliches, denn Objektives wird nach Fichte immer vom »Gefühl der Notwendigkeit« auf Seiten des Subjekts begleitet, freie Wirksamkeit ist diesem aber gerade entgegengesetzt. Die Erfahrung besteht aus einer Vielzahl von bewussten Vorstellungen, die gesetzmäßig miteinander verknüpft sind und daher einen einheitlichen Zusammenhang bilden. Eine Vielzahl von derartigen notwendigen Vorstellungen kann aber nur einen einheitlichen Zusammenhang bilden, wenn es einen einheitlichen und durchgängig mit sich identischen Akteur der Vorstellungen, d. h. ein Ich, gibt. Vorstellungen in einen Zusammenhang der Gesetzmäßigkeit zu bringen setzt ein leistendes Subjekt voraus, denn die Vorstellungen gehen nicht von sich selbst eine Verbindung miteinander ein. Ebenfalls setzt die notwendige Geltung dieser Verbindungen ein Subjekt vor-
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aus, für das die Verknüpfungen und Synthesen gelten, sonst wäre Geltung ein anonymes Geschehen. Keine Vorstellungen ohne Vorstellendes. Damit ist der Realismus in Fichtes Sicht theoretisch widerlegt. Der Realismus kann also eigentlich gar nicht erklären, was eine Vorstellung ist, denn er kann nicht aufzeigen, wie sich die kausal-mechanischen dinglichen Verhältnisse der »Realität« auf eine kausal-mechanische Weise in ichliche Vorstellungen umwandeln können. Allerdings kann gegen Fichtes Begründung der Erfahrung als System der mit dem Gefühl der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen eingewendet werden, dass hier unklar bleibt, was denn eigentlich »Gefühl der Notwendigkeit« bedeutet. Ein Gefühl ist doch eine bloß subjektive Empfindung und kann daher nicht zur Begründung von allgemein anzuerkennender und notwendiger Erfahrung dienen. Es ist also genauer zu erklären, was Fichte mit dem »Gefühl der Notwendigkeit« meint; offensichtlich ist kein bloß subjektives Gefühl gemeint. Die Notwendigkeit von Vorstellungen ergibt sich Fichte zufolge daraus, dass das Ich als Vorstellendes sich selbst gemäß seiner eigenen Gesetzlichkeit vollzieht, sonst wäre es nicht einheitlich und nicht ein in sich geordneter, regelhafter Akteur.49 Die grundlegende und notwendige Handlung des Ich besteht z. B. darin, sich selbst zu setzen. Diese Selbstsetzung kann aber kein willkürlicher Akt sein, denn das Ich kann nur Ich sein, wenn es sich selbst setzt; dem Ich ist sein Selbstsetzen also notwendig, und das Ich ist mit diesem Akt identisch. Weil sich also das Ich gemäß gewissen Gesetzen vollzieht, sind auch die Leistungen dieses Ich, d. h. die Vorstellungen, regelhaft und gesetzmäßig: »Zuförderst ist in der Philosophie die Rede von den mit dem Gefühl der N[otwendigkeit] begleiteten Vorstellungen. Da diese nun nicht wie im Dogmatismus durch ein Leiden, sondern aus einem Handeln der F[reiheit] erklärt werden soll, so würde dies ein notwendiges Handeln sein müssen; denn sonst würde es zu nichts helfen.«50 Die Notwendigkeit von Erfahrungsvorstellungen ist also in der selbstgesetzten Gesetzlichkeit der Ichvollzüge fundiert. Die Transzendentalphilosophie erklärt die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungen durch die notwendigen Handlungen des Ich; durch die Analyse der notwendigen Handlungen des Ich werden also zugleich die Voraussetzungen der Gegenstandserkenntnis und der Erfahrung analysiert.51 49
Vgl. J.G. Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796). – In: FW III, 1 ff. 50 Vgl. J.G. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift Krause 1798/99. Hrsg. v. E. Fuchs, Hamburg 1994, Zweite Einleitung, § 6, 19. 51 Vgl. J.G. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift Krause 1798/99. Hrsg. v. E. Fuchs, Hamburg 1994, 101 f.
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Damit ist allerdings noch nicht erklärt, wieso Fichte bezüglich der Erfahrungsvorstellungen vom Gefühl der Notwendigkeit spricht. Das Gefühl ist nach Fichte ein intuitiver Zustand des Subjekts und keine dingliche Eigenschaft. Dieser intuitive Zustand besteht in einem unmittelbaren Innesein der Begrenztheit des Subjekts.52 Zu dem Bewusstsein der gefühlten Begrenztheit kommt es im Ich folgendermaßen: Das Ich vollzieht nicht nur eine reale Tätigkeit, die darin besteht praktische Zwecke zu setzen und sich selbst immer mehr auszuweiten, sondern zugleich vollzieht das Ich eine ideale Tätigkeit, dies ist die theoretische Vorstellung. Die reale und die ideale Tätigkeit des Ich sind verbunden, sie bilden eine synthetische Einheit, das praktische Wollen von Zwecken ist nicht ohne die theoretische Vorstellung von bestimmten Inhalten des Wollens möglich. Die gesetzten Zwecke implizieren ein Bestimmbares, das Nicht-Ich. Das bloß Bestimmbare impliziert wiederum ein Widerstandsbewusstsein, das sich in Bewusstseinsdaten ausdrückt und diese werden in dem Trieb des Ich, sich zu realisieren, als etwas zu Überwindendes gespürt. Das gespürte zu Überwindende für die zu realisierende Bestimmung ist die Sinnlichkeit. Die gespürte Überwindungssphäre des Bestimmbaren für das Ich ist es, die sich im Gefühl darbietet. Das Gefühl ist also die empfundene Hemmung durch das Gegebene der sinnlichen Mannigfaltigkeit. Gefühl ist: zuständliche Empfindung der Ichgebundenheit in der Hemmung des Triebes. Im Gefühl findet eine erste Abhebung von Subjekt und Objekt statt, wodurch Bewusstsein entsteht. Bewusstsein setzt nämlich die Trennung und Unterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt voraus. Die Abhebung beider Relata verschärft sich zur Trennung in der Anschauung. Der Subjekt und Objekt noch schärfer trennende Akt wird dabei durch die ideale Tätigkeit vollzogen, dadurch ergibt sich das eigentliche Anschauungsobjekt. Das Anschauungsobjekt bildet den aus dem Ich vor sich hingestellten Widerstand und Stoff für die freie Handlungstätigkeit des Ich. Diese Projektion ist eine Leistung der produktiven Einbildungskraft, dadurch entsteht der Gegenstand (insbesondere als
52
Vgl. J. G. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift Krause 1798/99. Hrsg. v. E. Fuchs, Hamburg 1994, § 7, 78: »Ein Gefühl ist kein Ding, kein zu construierendes, das beschrieben werden kann; es ist ein Zustand; […] Aber das Gefühl scheint mit dem Objekte ›ganz‹ verknüpft zu sein, es kann nicht gefühlt werden ohne es auf ein Objekt zu beziehen«. In derselben Vorlesung sagt Fichte: »Eigentlich kommen wir zum Objecte so: es ist in uns ein Gefühl vorhanden, wir sind begrenzt, aus der Begrenztheit schließen wir auf ein Begrenzendes außer uns; aber dies ganze Verfahren ist unmittelbar« (ebd.). Fichte äußert sich auch in der Einleitung zur Grundlage des Naturrechts (1796) dazu, dass die Objekte uns als real erscheinen, weil wir notwendigerweise das Gefühl der Gezwungenheit verspüren und bemerkt darüber hinaus: »Das Kriterium aller Realität ist das Gefühl« (in: FW III, 3).
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äußerer), und hier findet die eigentliche, d. h. völlig distinkte Trennung von idealer und realer Tätigkeit des Ich statt. Das Objekt der Erfahrung enthält also nach Fichte eine Gegenstandsanschauung, die in sich Wirklichkeitsanschauung und Idealanschauung vereint, also auch hier sind wieder reale und ideale Tätigkeit des Ich vereint. Durch die Gegenstandsanschauung als eine zu überwindende, gefühlsmäßige Hemmung des Ich kann dieses sich selbst fühlen. Das Ich entwickelt damit das sinnlich-anschauliche Selbstgefühl, das wiederum in seiner Spezifikation zur konkreten Setzung des individuellen Ich führt. Das Ich erfährt sich notwendig in seiner Sensibilität als raum-zeitlich bestimmtes Individuum. Das allgemein die notwendigen Erfahrungsvorstellungen begleitende Gefühl kann der Realismus nicht erklären, denn das Gefühl ist nicht dinglich und kausal-mechanisch zu verstehen. Auch hier zeigt sich wiederum ein Erklärungsdefizit des Realismus. Wie aus Fichtes Brief an Schelling vom 31. Mai 1801 her vorgeht, ist das »Gefühl der Notwendigkeit« die »Evidenz«. Nach Fichte ist Evidenz – ähnlich wie für Husserl – kein bloß willkürliches Gefühl, sondern sie stellt sich notwendig und sachgebunden in intuitiver Selbstgegebenheit in den Vorstellungen des Ich ein; nämlich als das unmittelbare Wissen um eine spezifische Bestimmtheit des Subjekts. Evidenz ist ein notwendiges und gesetzliches Moment des Wissens selbst, gerade dann, wenn das Wissen Allgemeingültigkeit beansprucht. Die Evidenz besteht nach Fichte darin, dass sich das Ich einerseits selbst als ein bestimmtes und andererseits als ein bestimmbares setzt. Setzt sich das Ich als bestimmtes, dann erfasst es sich als ein konkretes Individuum, das den Inhalt seiner Vorstellungen material vorgegeben bekommt und ihn nicht selbstmächtig und willkürlich hervorbringt; setzt sich das Ich dagegen als bestimmbar, dann reiht es sich in das intelligible Reich der »Geister welt« ein, d. h., das Ich setzt sich dann als zugleich gesetzgebend und gesetzesgebunden in der Gemeinschaft mit anderen intelligiblen Wesen. Nur dadurch, dass sich das Ich als Mitglied der intelligibel-vernünftigen Welt setzt, kann es sich für die Möglichkeit offenhalten, sich konkret in der sinnlichen Welt bestimmen zu lassen. Die Bestimmtheit des Ich als individuelles in der sinnlichen Welt, setzt die bloße Bestimmbarkeit, d. h. das Sich-Offenhalten für konkrete Bestimmungen voraus. Erst aus der Vereinigung von individueller Bestimmung und allgemeinintelligibler Bestimmbarkeit entsteht das endliche Bewusstsein, für das die Evidenz ein notwendiges und allgemeingesetzliches Wissen und keine bloß subjektive Überzeugung bedeutet.53 Erfahrung als System der vom Gefühl 53
Vgl. Fichtes Brief an Schelling vom 31. 5. 1801. – In: F.W.J. Schelling: Briefe und Dokumente. Bd. II, 341 ff. Zu dieser Evidenzkonzeption als einem der Fundamente von Fichtes
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der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen bedeutet also nach der transzendentalphilosophischen Konzeption des frühen Fichte einen notwendigen, einheitlichen und ichlich gestifteten Zusammenhang, der mit sachbegründeter Evidenz vollzogen wird und von daher seine gegenständliche Setzungsrechtfertigung erhält. Angesichts der argumentativen Widerlegung des Dogmatismus und des daraus folgenden Vorrangs des Idealismus, wie Fichte dies im 6. Abschnitt der »Ersten Einleitung« entwirft, scheint es ein Widerspruch zu sein, wenn Fichte im 5. Abschnitt derselben Schrift sagt, die beiden Systeme könnten sich nicht gegenseitig widerlegen und keines der beiden habe einen Vorteil gegenüber dem anderen. Diese aporetische Situation könne nur durch eine praktische Entscheidung für eines der beiden Systeme gelöst werden. Die praktische Wahl hänge von unserem existentiellen Interesse für uns selbst ab, nämlich davon, ob wir unser Selbst verdinglicht haben und uns nur vermittels der Dinge selbst erkennen können – dann wählen wir den Dogmatismus – oder ob wir eine unmittelbare Introspektion vollziehen können, in der wir unserer Freiheit und Selbstsetzung durch das Ich unmittelbar inne sind – und daher dann den Idealismus wählen.54 Dieser Widerspruch löst sich jedoch, wenn man berücksichtigt, dass Fichte im 5. Abschnitt die aporetische Situation darstellt, wie sie sich dem noch ungebildeten philosophischen Anfänger darstellt, der noch nicht über die Argumente des 6. Abschnitts verfügt und sich aufgrund seiner »Ungebildetheit« unmittelbar für eines der beiden Systeme entscheiden muss. Fichtes Argumentation im 5. Abschnitt der »Ersten Einleitung« weist dabei eine große Nähe zu der Argumentation Schellings in den »Philosophischen Briefen« auf. In diesem Sinne zitiert Fichte Schelling, wenn er den berühmten Satz schreibt: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.«55 Damit meint Fichte nicht, dass die Entscheidung für eines der beiden Systeme völlig willkürlich ist. Fichte ist kein Relativist; dies zeigt auch seine argumentative Widerlegung des Transzendentalphilosophie äußert sich bereits überzeugend Hartmut Traub: Schellings Einfluss auf die Wissenschaftslehre 1804. Oder: »Manche Bücher sind nur zu lang geratene Briefe«. – In: Fichte-Studien 18, 2000, 121–136, bes. 129 ff. 54 Vgl. FW I, 429 ff. 55 Vgl. FW I, 434. Schelling formuliert diesen Sachverhalt in den Philosophischen Briefen folgendermaßen: »Welche von beiden [Dogmatismus oder Kritizismus/Idealismus; RS] wir wählen, dies hängt von der Freiheit des Geistes ab, die wir uns selbst erworben haben« (SW, Abt. I/1, 308).
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Dogmatismus im 6. Abschnitt der »Ersten Einleitung«. Fichte will vielmehr die existentielle Verantwortung in der Wahl einer Philosophie hervorheben und zeigen, dass sich in einer solchen Wahl das charakterliche Wesen des Wählenden selbst offenbart und erschließt. Derjenige, der den Dogmatismus wählt, entscheidet sich falsch, denn er unterläuft seine eigene Vernünftigkeit, die zumindest der Möglichkeit nach frei ist; dies übersieht der Dogmatiker allerdings, denn er hat kein Bewusstsein seiner Freiheit und ist sich auch nicht bewusst, dass bereits seine Entscheidung für den Dogmatismus eine gewisse Form der Freiheit beinhaltet. Nach Fichte ist die Entscheidung für den Idealismus für den, der sich der Freiheit bewusst ist, eine notwendige und keine beliebige Wahl. Die Wahl des Idealismus ist nach Fichte auch sittlich notwendig.56 Das umfassende Prinzip der Erfahrung muss nach Fichte nicht nur die theoretische Vorstellung in ihrer Möglichkeit erklären, sondern zugleich und in Bezug darauf auch die praktischen Vorstellungen. Die praktischen Vorstellungen des Subjekts sind Zweckbegriffe, und die praktisch-sittlichen Zweckbegriffe sollen sich in der theoretisch vorstellbaren Welt der Gegenstände erfahren und umsetzen lassen. Die praktisch-sittlichen Zwecke dürfen nicht bloß abstrakte Vorstellungen bleiben, sondern sie müssen sich in der erfahrbaren Wirklichkeit umsetzen lassen, sonst wäre das Entwerfen praktischer Zwecke und der Versuch, die Sittlichkeit zu realisieren, ein absurdes Spiel ohne Realitätsgehalt. Somit muss die theoretische Erklärung der Erfahrung nach Fichte zugleich auch eine ethische Dimension des Prinzips der Erfahrung mitberücksichtigen. Der Realismus kann mit seinem Ding an sich aber keine praktische Dimension mitberücksichtigen, weil Dinge sich keine Zwecke und erst recht keine sittlichen »Zwecke an sich« setzen können. »Zweck an sich« kann nur ein Ich sein; denn nur das Ich ist insbesondere in seiner sittlichen Selbstbezüglichkeit nicht um eines anderen Dinges willen vorhanden, sondern in der ethischen Selbstrelation des freien unbedingten Willens ist das Ich für sich. Vom sittlichen Ich aus, das sich seine praktischen Zwecke setzt und realisieren will, wird auch allererst die Erfahrung verständlich: Die Erfahrung von äußeren Gegenständen als eine begrenzende äußere Wirklichkeit, die als Notwendigkeit erlebt wird, gibt es, weil das sittliche Ich einer Sphäre bedarf um sich realisieren zu können. Die sinnliche Erfahrungswirklichkeit gibt es also, weil sich das praktische Ich sittliche Zwecke entwirft und diese muss es in einer Sphäre der Mannigfaltigkeit realisieren können, die es nach diesen Zwecken umgestalten kann. Die sinnliche Erfahrungswelt ist also notwendiges Korrelat für die freie Betätigung des Ich.57 56 57
Vgl. FW I, 466 f., 506, Bd. II, 190 ff. 253 f., 405 f. Vgl. zu diesem Zusammenhang Heinz Heimsoeth: Fichte. München 1923, 79 ff.
Idealismus und Realismus bei Fichte und Schelling
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Fichtes Konzeption der Transzendentalphilosophie und der Subjektivität unterscheidet sich also grundlegend von derjenigen Schellings in den »Philosophischen Briefen«. Bei Schelling stehen Transzendentalphilosophie als Erfahrungsbegründung und Subjektivität von vornherein vor einem metaphysischen Horizont, und die beiden Systeme Realismus und Idealismus können einander nicht theoretisch widerlegen. Diese Aporie lasse sich nur durch die praktische Tat der Entscheidung für eines der beiden Systeme lösen. Dieses letztere Motiv einer praktischen Entscheidung für eines der beiden Systeme, um die scheinbar aporetische Situation zu lösen, nimmt Fichte in seiner Konzeption zwar auf (5. Abschnitt der Ersten Einleitung), er lässt eine rein praktische Entscheidung jedoch nur beschränkt für den philosophischen Anfänger gelten. Nach eingehender Auseinandersetzung mit den theoretischen Argumenten von Realismus und Idealismus zeigt sich nach Fichte auch eine theoretische Priorität des letzteren (6. Abschnitt der Ersten Einleitung). Fichte konzipiert also auch eine theoretische Widerlegung des Dogmatismus durch den Idealismus: In der Erfahrung kommt als unleugbares Faktum vor, dass in jeder Vorstellung eines Gegenstandes der Erfahrung zugleich die Selbstbezüglichkeit des erfahrenden Ich mitthematisch werden kann. Diese Selbstbezüglichkeit des Ich ist nach Fichte in jeder bewussten Gegenstandsvorstellung konstitutiv und potentiell mitpräsent. Da der Dogmatismus jedoch, vom Ding ausgehend, nur das Sein-für-anderes erklären kann, aber nicht das selbstbezügliche sich selbst Vollziehen und das Fürsich-Sein des Ich, dieses jedoch zentraler Bestandteil jeder Gegenstandsvorstellung ist, kann der Dogmatismus die Erfahrung nicht erklären und scheitert bereits aus theoretischen Gründen. Allerdings ist das Ich in Fichtes Wissenschaftslehre keine freischwebende Phantasiekonstruktion, sondern ergibt sich für den Philosophen mit Notwendigkeit als ein Moment in der Erfahrung, ohne welches das Objekt der Erfahrung nicht möglich ist. Das Subjekt in seiner noetischen Handlung wird vom Philosophen zugleich mit der noematischen Objektivität vollzogen. Dabei ist der Philosoph bloß »Zuschauer«58 bei den notwendigen, das Objekt konstituierenden Handlungen des Subjekts. D. h., der Transzendentalphilosoph fingiert keine fiktiven Ichhandlungen, sondern ist bloß ein ohne Willkür beobachtender und zur Kenntnis nehmender Betrachter der ursprünglichen und wesensmäßigen – also nicht kontingenten – Handlungen des Ich im Objektvollzug. Die Transzendentalphilosophie Fichtes hat daher auch kein vorgegebenes Ziel auf das hin sie die Analyse des Ich in seinen objektkonstitutiven Akten verfolgen würde, sondern sie lässt sich von 58
Vgl. FW III, 5 f.; vgl. bes. die Anm.
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ihrem Untersuchungsgegenstand in dessen notwendiger Verfahrensweise leiten; anders verfährt die Transzendentalphilosophie dagegen bei Schelling, denn hier ist sie von vornherein auf das Absolute als Telos angelegt. Es ist deutlich geworden, dass, in grundsätzlichem Unterschied zu Schelling, in Fichtes früher Konzeption der Transzendentalphilosophie und des Verhältnisses von Idealismus und Realismus das Absolute keine Rolle spielt.59 Daher ist auch Jacobi zuzustimmen, wenn er in seinem »Sendschreiben an Fichte« (1799) diesen vor dem Vorwurf des Atheismus schützen will, indem er herausstellt, dass die Transzendentalphilosophie weder Theologie noch Atheismus lehrt, weil die Theologie gar nicht von ihr zu thematisieren ist, sofern es um den wissbaren, d. h. theoretisch aufklärbaren Grund der Erfahrung geht.60 Auf der Grundlage seines später veränderten Systems sieht allerdings auch Schelling die endliche und nicht-metaphysische Bestimmung des transzendentalen Ich bei Fichte: »Fichte sagt: die Ichheit ist nur ihre eigne Tat, ihr eignes Handeln, sie ist nichts abgesehen von diesem Handeln, und nur für sich selbst, nicht an sich selbst. Bestimmter konnte der Grund der ganzen Endlichkeit als ein nicht im Absoluten, sondern lediglich in ihr selbst 59
Dass Fichte in seiner späten Wissenschaftslehre das in sich geschlossene, nicht aus sich herausgehende, absolute Sein als Grund des Wissens und des Ich konzipiert, soll hier nur angedeutet werden, denn dies stellt eine eigene Schwierigkeit der Spätphilosophie Fichtes dar. Nach dem späten Fichte ist das in sich geschlossene, absolute Sein nicht immanent in der Wissenschaftslehre zu untersuchen; es wird nur bis zu ihm aufgestiegen und von ihm wiederum abgestiegen, wie dies z. B. die Wissenschaftslehre (1804) vollzieht. Das absolute Sein selbst kann jedoch nicht denkerisch zu erkennender Gegenstand der Wissenschaftslehre sein. Vgl. hierzu Die Wissenschaftslehre (1813). – In: FW X, 4: »Insofern nun die W.-L. einsieht, nur das Wissen zu ihrem Objekte haben zu können, mithin Wissenslehre ist, das Sein durchaus aussondert, und deutlich erkennt, dass es eine Seinslehre nicht geben kann: so ist sie dadurch zugleich transzendentaler Idealismus, d. i. absolute Aussonderung des Seins vermittelst der Besonnenheit über sich selbst. W.L. und tr. Ideal. bedeuten Ein und dasselbe. Wer da sagt: Eine Seinslehre gibt es nicht, die einzig mögliche absolute Lehre und Wissenschaft ist Wissenschaft des Wissens, der ist transzendentaler Idealist, indem er bekennt, dass das Wissen das höchste sei, von dem gewusst werden könne.« Das absolute in sich geschlossene Sein kann also nicht wissend oder denkend vollzogen werden. Das absolute Sein besteht in der Wir-Gemeinschaft der Synthesis der Geister; diese Wir-Gemeinschaft kann nur in der Aufhebung der Getrenntheit und in der Vereinigung im Wir unmittelbar erlebt werden: »Wir leben aber unmittelbar im Lebensakte selber; wir sind daher das Eine ungeteilte Sein selber, in sich, von sich, durch sich, das schlechthin nicht hinausgehen kann zur Zweiheit.« (Die Wissenschaftslehre (1804). – In: FW X, 206). Die Zweiheit, d. h. die differenzierende und objektivierende Bestimmtheit würde die Unmittelbarkeit des einigen Lebens der synthetischen Gemeinschaft der Geister zerstören. 60 Vgl. F.H. Jacobi: Sendschreiben an Fichte (1799). – In: ders. Werke. Hrsg. v. F. Roth/ F. Köppen. Darmstadt 1976 (reprografischer Nachdruck der Ausgabe: Leipzig 1819). Erste Abt., Bd. 3, 6: »Man hat seine Philosophie des Atheismus beschuldigt, mit Unrecht, weil Transzendentalphilosophie, als solche, so wenig atheistisch sein kann, als es Geometrie u. Arithmetik sein können. Nur kann sie, aus demselben Grunde, auch schlechterdings nicht theistisch sein.«
Idealismus und Realismus bei Fichte und Schelling
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liegender wohl nicht ausgedrückt werden.«61 In der Sicht des späteren Schelling liegt in dieser endlichen Bestimmung transzendentaler Prinzipien beim frühen Fichte jedoch bereits ein Abfall vom Absoluten vor, denn die endliche Subjektivität setzt sich als unabhängig von ihrem eigenen Ursprung, dem Absoluten. Wenn Schelling hier also eine Unabhängigkeit des transzendentalen Ich vom Absoluten konstatiert, dann liegt darin zugleich eine Kritik, nämlich dass dieses bloß endliche Ich ursprungsvergessen sei. Dagegen ist aus der Perspektive des frühen Fichte zu sagen, dass die Transzendentalphilosophie die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung thematisiert, sofern diese theoretisch wissbar sind, und von daher keine Absonderung oder Abwendung vom Absoluten vorliegt, weil dieses für eine endliche Subjektivität theoretisch nicht erkennbar ist. Nach Fichtes transzendentaler Konzeption in der Jenaer Zeit muss der endliche Grund der Erfahrung bewusst vollzogen werden können und im Rahmen einer Letztbegründung für ein endliches Subjekt wissbar sein. Dieser wissbare Grund der Erfahrung ist das Ich; dieses begründet die Erfahrung insofern, als es die notwendigen Vorstellungen konstituiert. Das Gefühl der Notwendigkeit, das für die Erfahrungsvorstellungen definitiv ist, erklärt Fichte durch die notwendigen Wesensgesetze, nach denen sich das Ich vollzieht. Weil das Ich sich selbst nur nach ganz bestimmten Gesetzen vollziehen kann, unterliegen auch die vom Ich vollzogenen Gegenstände der Erfahrung diesen Gesetzen.62 Der Vergleich zwischen dem frühen Fichte und dem frühen Schelling erweist Fichte somit als konsequenteren kritischen Transzendentalphilosophen: Denn aus der Sicht Fichtes ist das Absolute, wie Schelling es als Grund der Erfahrung konzipiert, ein in sich widersprüchliches Ding an sich. Das Ding an sich ist aber nicht das Absolute selbst, sondern nur ein notwendiger Widerspruch, den das endliche Ich sich immer wieder voraussetzen muss, um in der Unendlichkeit seiner Aufgabe, sich über sich und seine Tätigkeit selbst aufzuklären, einen Gegenspieler zu haben, der es begrenzt.
61 62
Vgl. F.W.J. Schelling: Philosophie und Religion (1804). – In: SW, Abt. I/6, 43. Vgl. FW I, 441.
»und das ist noch auffallender transcendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten«: Hölderlins Kritik der intellektuellen Anschauung Johann Kreuzer
1) Am 26. Januar 1975 schreibt Hölderlin – er nahm im Wintersemester 94/95 an Fichtes Kolleg zur Wissenschaftslehre teil – aus Jena an Hegel: »Fichtens spekulative Blätter – Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre – […] werden Dich ser interessiren. Anfangs hatt’ ich ihn ser im Verdacht des Dogmatismus; […] er möchte über das Factum des Bewußtseins in der Theor ie hinaus, das zeigen ser viele seiner Äußerungen, und das ist eben so gewis, und noch auffallender transcendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten – sein absolutes Ich (= Spinozas Substanz) enthält alle Realität; es ist alles, u. außer ihm ist nichts; es giebt also für dieses abs. Ich kein Object, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Object ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Object bin, so bin ich als solches notwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit seyn, also nicht absolut; also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein denkbar, als absolutes Ich hab ich kein Bewußtsein, und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts.«1 Deutlich wird – die Exposition der Fragestellung sei für die folgenden Überlegungen auf diesen Punkt beschränkt –, dass die Denkmotive, die Hölderlin in der unmittelbaren Reaktion auf Fichte umtrieben, mit dem Thema Metaphysik-Metaphysikkritik ursächlich zusammenhängen, etwa wenn er sich gegen die Absolutsetzung des Ich ausspricht: die sei noch ›auffallender transzendent‹ als das Hinauswollen über das Dasein der Welt, das den bisherigen Metaphysikern gemein sei. Wogegen Hölderlin opponiert, ist eine Konsequenz, die sich aus Fichtes Zuspitzung des Prinzips der transzendentalen Deduktion ziehen lässt: geht man davon aus, dass das, was mit dem transzendentalen Subjekt gedacht wird, Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung ist, dann ist, sozusagen natürlich, alle Realität – auch das, was es als von sich unterschieden weiß – prinzipiell ›in ihm‹. Aber was hier transzendentales Subjekt heißt bzw. als Struktur transzendentaler Subjektivität thematisch wird, verzeitlicht sich durch Erkennen. 1
Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. M. Knaupp. München 1992 (im folgenden: MA), II, 568–69.
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Johann Kreuzer
Es unterscheidet damit nicht nur mögliche Gegenstände der Erfahrung, sondern auch sich – in den Akten, in denen es wirklich ist, von sich – selbst, sofern Erkennen nicht anders denn als Beziehung auf Unterschiedenes sich denken lässt. Jedes Erkennen unterliegt der Bedingung der Zeit, insofern kann gerade das sein Erkennen erkennende ›Ich‹ diese Zeitbedingung nicht tilgen – oder sich ›absolut‹ setzen – es sei denn, es negierte sich selbst als erkennende Tätigkeit.2 In die Richtung, dass gerade eine ihr Erkennen erkennende Wissensform sich Aufklärung über die Zeitbedingung ihres Tätigseins verschaffen muss, weist im übrigen auch eine Bemerkung in der »Kritik der reinen Vernunft«: im Schematismuskapitel hält Kant fest, dass die Schemata der reinen Verstandesbegriffe, die als »Zeitbestimmungen a priori nach Regeln« zu denken seien, »die wahren und einzigen Bedingungen (sind, JK), diesen (den Verstandesbegriffen, JK) eine Beziehung auf Objekte, mithin B e deutung zu verschaffen […]«.3 ›Bedeutung‹ definiert Kant als (zeitlich zu differenzierende) Beziehung auf Objekte, nicht als einen mentaler Introspektion sich erschließenden Gehalt. Was Beziehung auf Objekte und damit ›Bedeutung‹ verschafft, ist kein ›mental content‹, würde man vielleicht heute sagen. Bedeutung als sich erfüllende Erkenntnisbeziehung lässt sich von keiner außer- oder überzeitlichen Instanz her (sei diese nun als Subjekt oder Objekt vorgestellt), sondern allein als zeitlich zu differenzierendes Tätigsein erklären. Die Annahme einer uns im positiven Verstande zugänglichen intellektuellen Anschauung hingegen negiert genau diese Zeitbedingung des Erkennens4 – sie negiert im übrigen auch die Möglichkeit von Selbsterkenntnis. »Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst, unerachtet aller Kategorien, welche das Denken eines Obj ekts üb erhaupt durch Verbindung des Mannigfaltigen in einer Apperzeption ausmachen.« Und Kant fährt (im § 25 der B-Deduktion in der Kritik der reinen Vernunft) fort, daß eine existierende »Intelligenz, die sich […] ihres Verbindungsvermögens bewußt ist, 2
Diese Konsequenz hat der frühe Schelling gezogen, vgl. F.W.J. Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus. – In: Schriften von 1974–1798. Darmstadt 1975, 204–207. Vgl. auch Anm. 10. 3 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 184/85, zit. nach: Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Hrsg. v. W. Weischedel. Frankfurt a.M. 1968, Bd. III, 192–93. 4 Zur »intellektuellen Anschauungsart« als einem »Noumenon in positiver Bedeutung«, »darunter ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung« verstanden werde, vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 307 (Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena), ebd., 277, sowie die oft zitierte Feststellung: »Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde a n s c h au e n ; der unsere kann nur d e n k e n und muß in den Sinnen die Anschauung suchen.« (Kritik der reinen Vernunft, B 135, ebd., 138).
Hölderlins Kritik der intellektuellen Anschauung«
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[…] jene Verbindung nur nach Zeitverhältnissen […] und sich daher selbst doch nur erkennen kann, wie sie, in Absicht auf eine Anschauung (die nicht intellektuell und durch den Verstand selbst gegeben sein kann), ihr selbst bloß erscheint, nicht wie sie sich erkennen würde, wenn ihre Ans chauung intellektuell wäre.«5 Daran schließt Hölderlin an: ein qua intellektuellem Anschauen ›absolut gesetztes‹ – die ›Zeitverhältnisse‹ überspringendes – Ich schließt Selbsterkenntnis gerade aus. Nun hatte Hölderlin (im Brief an Hegel) Fichte »im Verdacht«, dass er mittels der Annahme einer uns im positiven Verstande zugänglichen intellektuellen Anschauung die Zeitbedingung des Erkennens negieren wolle.6 Würde man diese Zeitbedingung – mittels der Absolutsetzung eines als gegeben vorgestellten ›transzendentalen Ichs‹ – leugnen, verfinge man sich aber genau in den Aporien des Reflexionsmodells des Selbstbewusstseins, dessen Zirkel gerade eine ursprüngliche Einsicht Fichtes darstellt.7 Jene Form der Identität, die sich in der Rede vom »identischen Selbst« reflektiert findet, ist nicht möglich als Selbstverdoppelung einer mentalen Substanz, sondern allein dadurch, dass sich ›das Ich‹ als Relation begreift.8 Das ist Hölderlins Argument.9 5
Kritik der reinen Vernunft, B 158/59. – Zum Hintergrund dieses Arguments vgl. Georg Mohr: Kants Grundlegung der kritischen Philosophie. – In: ders. (Hrsg.): I. Kant. Theoretische Philosophie. Texte und Kommentar. Bd. 3. Frankfurt a.M. 2004, 211–217 (vgl. dort auch weitere Literatur). 6 Vgl. Anm. 48. 7 Vgl. Dieter Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt a.M. 1967. 8 Zum mit »sich identischen Selbst« vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 135, 138. Zu Kants Kritik an der Setzung eines letztbegründend substantialen ›Ichs‹ vgl.: »[…] dieses Ich, oder Er, oder es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen […]« (B 404, ebd., 344). 9 Inwieweit Hölderlins Kritik auf Fichte selbst zurückgewirkt hat, kann hier nicht diskutiert werden. Zu dieser Rückwirkung vgl. z. B. Fichtes Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797): »Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Acts, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. […] Nun kömmt aber diese Anschauung nie allein, als ein vollständiger Act des Bewußtseyns vor […]. Nicht aber allein dies, sondern die intellectuelle Anschauung ist auch stets mit einer sinnlichen verknüpft. Ich kann mich nicht handelnd finden, ohne ein Object zu finden, auf welches ich handle […].« (Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797). – In: Fichtes Werke. Hrsg. v. I.H. Fichte. Berlin 1971, Bd. I, 463–64) – Vgl. Manfred Frank: »Intellektuelle Anschauung«. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewußtsein: Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis. – In: E. Behler/ J. Hörisch (Hrsg.): Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn u. a. 1987, 96–122; Violetta L. Waibel: Hölderlin und Fichte. 1794–1800, Paderborn 2000; Verf.: Vom Ich zur Sprache:
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2) Freilich ist es nun üblich geworden, Hölderlin im Horizont der Epochenschwelle 1800 zu denen zu rechnen, in deren Theoriekonzept der intellektuellen Anschauung eine zentrale Rolle zukomme. Diese Zuordnung Hölderlins zu den Absolutsetzern intellektuellen Anschauens sollen die folgenden Überlegungen unterlaufen. Denn gerade im Hinblick auf das Theorem der intellektuellen Anschauung hat sich Hölderlin an die Kantischen Vorgaben gehalten.10 Die logische Stelle, die die intellektuelle Anschauung bezeichnet, ist die eines nie allein nur denkenden, sondern immer zugleich dem Gedachten durch sich selbst Anschauung gebenden Verstandes: »Wenn wir also die Kategorien auf Gegenstände, die nicht als Erscheinungen betrachtet werden, anwenden wollten, so müssten wir eine andere Anschauung, als die sinnliche, zum Grunde legen, und alsdenn wäre der Gegenstand ein Noumenon in positiver Bedeutung.« Nun liege »eine solche, nämlich die intellektuelle Anschauung, schlechterdings außer unserem Erkenntnisvermögen«.11 Deshalb nennt Kant 1796 das behauptende Setzen einer ›intellektuellen Anschauung‹ zugespitzt eine »nichts kostende Apotheose von oben herab«.12 Hegel hat sich dem angeschlossen. In der »Phänomenologie des Geistes« hält er der Unmittelbarkeit ›anschauenden Denkens‹ entgegen, dass es in die »träge Einfachheit zurückfällt, und die Wirklichkeit selbst auf eine unwirkliche Weise darstellt.«13 Der polemische Ton, der hier mitschwingt, gilt Schelling.14 Das ist freilich nicht Gegenstand dieser Überlegungen. Deren Thema – bzw. Ziel – ist die Korrektur der Rezeptionsgewohnheit, die Hölderlin in der Geschichte des Deutschen Idealismus zu denen rechnet, die Kants Depotenzierung der intellektuellen Anschauung zu einem Noumenon im negativen Verstande hätten zurücknehmen wollen. Diese Korrektur soll in folgenden Schritten geschehen. Die Überlegungen beginnen mit den Stellen, die Hölderlins phasenweises Interesse an Begriff wie Semantik der intellektuellen Anschauung dokumentieren (im folgenden Fichte und Hölderlin. – In: H. Girndt/K. Hammacher (Hrsg): Fichte und die Literatur (Fichte-Studien Bd. 19). Amsterdam/New York 2002, 185–198. 10 Hier liegt auch der Grund für einen ursprünglichen Dissens mit Schelling, vgl. Johann Kreuzer: Hölderlin im Gespräch mit Hegel und Schelling. – In: Hölderlin-Jahrbuch 31 (1998– 1999). Eggingen 2000, 51–72. Vgl. zum Ganzen auch Lore Hühn: Fichte und Schelling oder: Über die Grenze menschlichen Wissens. Stuttgart/Weimar 1994, insbes. 43 ff. und 143 ff. 11 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 308, 278. 12 Vgl. Immanuel Kant: Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie. – In: Werke, Bd. VI, 379. 13 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. W. Bonsiepen. Hamburg 1988, 14. 14 Vgl. Anm. 2 und 10.
Hölderlins Kritik der intellektuellen Anschauung«
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Teil 3). Dies kulminiert im Fragment »Seyn, Urtheil, […]«, das nach seiner Edition 1961 die Debatten um den Deutschen Idealismus nachhaltig akzeleriert hat (Teil 4). Im nächsten Schritt geht es um die kunst- oder poetosemantische Funktion, die Hölderlin der intellektuellen Anschauung nach ihrer Relativierung zuweist (Teil 5) – in einem weiteren Schritt um die Argumentation, mit der er diese Relativierung vollzog (Teil 6). Als letzter Schritt folgt eine Art Resümee.15 3) Die Rezeptionsgewohnheit, die Hölderlin zur Linie der intellektuell anschauenden Absolutisten rechnet, kann sich auf Äußerungen Hölderlins im Umkreis der Arbeit am »Hyperion« berufen. Sie finden sich oft zitiert, da sie ebenso pathetisch wie eingängig sind. Im Umkreis der Arbeit am Hyperion spielt Hölderlin mit dem Pathos der Schönheit wie dem der Natur. Zugleich scheint er hier Restitutionsversuche bezüglich von Kant destruierter metaphysischer Grundannahmen zu betreiben – Restitutionsversuche, die sich gut ins Bild von Hölderlin als eines schönheitsbegeisterten Botschafters einer ursprünglichen Natur wie einer klassischen Antike, in der diese zu finden sei, fügen. Ich zitiere aus der Vorrede zur Vorletzten Fassung des Hyperion einen längeren Passus: »Wir durchlaufen alle eine exzentrische Bahn […]. – Die seelige Einigkeit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen Εν και Παν der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst. Wir sind zerfallen mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sich jetzt, und Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten. […] – Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen, das ist das Ziel all’ unseres Strebens, wir mögen uns darüber verstehen oder nicht. […] – Wir hätten auch keine Ahndung von jenem unendlichen Frieden, von jenem Seyn, im einzigen Sinne des Worts, wir strebten gar nicht, die Natur mit uns zu vereinigen […], wir wären selbst nichts, (für uns) wenn nicht dennoch jene unendliche Vereinigung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts vorhanden wäre. Es ist vorhanden – als Schönheit […].«16 ›Seyn‹, ›Einigkeit‹, ›Hen kai pan‹, Vereinigung mit der Natur zu einem ›unendlichen Ganzen‹, ein ›Friede, der höher ist denn alle Vernunft‹: Höl15
Vgl. insgesamt Johann Kreuzer: Einleitung zu: J.Ch.F. Hölderlin, Theoretische Schriften. Hamburg 1998 (im folgenden: ThSch), VII–XXXIV. 16 Hyperion, Vorrede, Vorletzte Fassung, MA I, 558/59.
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derlin instrumentiert den logischen Ort, den die intellektuelle Anschauung als ein Vermögen füllen soll, das uns zugänglich sei, virtuos. Aber entscheidend ist seine Kautele: Als Schönheit ist vorhanden, was Hölderlin hier in jugendlichem Überschwang ›jenes Seyn im einzigen Sinne des Wortes‹ nennt. Selbst im Überschwang folgt er kantischen Vorgaben. Dieser hat in der »Kritik der Urteilskraft« präzise vermessen, was der Grund ist, der uns Gegenstände der Erfahrung als schön beurteilen lässt. Nicht als Gegenstand intellektueller Anschauung, sondern in der bzw. als Struktur ästhetischer Erfahrung ist die unendliche Vereinigung ›vorhanden‹, in der der Gegensatz von Selbst und Welt, von Freiheit und Natur aufgehoben erscheint. Gerade hier zeigt sich Hölderlins Argumentation als durchreflektierter Kant. Denn mit der These, dass als Schönheit vorhanden ist, was die theoretische Vernunft sich gegenüber als transzendent abgrenzen muss und der praktischen Vernunft allein als Sollen gilt, zieht Hölderlin die Konsequenz aus der in der »Kritik der Urteilskraft« angelegten Einsicht, dass wir im ästhetischen Urteil – expliziert mit dem Verfahren der reflektierenden Urteilskraft – die Bedingungen der Möglichkeit erfahren, die uns zu Erfahrungen kommen lassen. In der Lust am Schönen lässt sich, so Kant im § 39 der »Kritik der Urteilskraft« (Von der Mitteilbarkeit einer Empfindung), im Spiel von Einbildungskraft und Verstand ein »Verfahren der Urteilskraft« begreifen, »welches sie auch zum Behuf der gemeinsten Erfahrung ausüben muß.«17 Im ästhetischen Urteil lässt sich erfahren, was Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung selbst ist. Daran knüpft Hölderlin an. Im Juli 1794 spricht er Neuffer gegenüber von seinen »kantischästhetischen Beschäftigungen« und schreibt zur gleichen Zeit an Hegel: »Meine Beschäftigung ist jetzt ziemlich konzentrirt. Kant und die Griechen sind beinahe meine einzige Lectüre. Mit dem ästhetischen Theile der kritischen Philosophie such’ ich vorzüglich vertraut zu werden.«18 Mit ›den Griechen‹ ist insbesondere (auch) Platon gemeint.19 Im Oktober 1794 fasst er dann die programmatischen Ergebnisse seiner ›Beschäftigung‹ in einem Brief an Neuffer zusammen. Er spricht von einem »Aufsatz über die
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Vgl. Kritik der Urteilskraft, § 39, B 155, zit. nach: Werke, Bd. X, 388. – Vgl. auch im § 76: Anmerkung zur Dialektik der teleologischen Urteilskraft, wo es heißt, daß die Vernunft »für sich schlechterdings keine konstitutive« (Objekte des Erkennens erzeugende) Prinzipien enthalte. Werden diese Prinzipien freilich als erkenntniskonstituierend – wie im ästhetischen Urteil – erfahren, B 342/43: »so werden es doch regulative, in der Ausübung immanente und sichere […] Prinzipien bleiben.« (B 342/43, ebd., 520). 18 Vgl. Brief an Hegel vom 10. Juli 1794, MA Bd. II, 541 (Brief an Neuffer, ebd., 539). 19 Zu Hölderlins Platonkenntnissen vgl. Michael Franz: Schule und Universität und ders.: Theoretische Schriften. – In: J. Kreuzer (Hrsg.): Hölderlin-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart/Weimar 2002, 67, 70, 224–28.
Hölderlins Kritik der intellektuellen Anschauung«
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ästhetischen Ideen« und hält programmatisch fest, dass er als ein Kommentar zu Platons Phaidros zu lesen sei. Auf die Beziehung zum Platon des »Phaidros«, der der Idee des Schönen in diesem Dialog eine ausgezeichnete Rolle zuweist, und die Tradition eines ästhetischen Platonismus kann hier nur hingewiesen werden.20 Entscheidend ist Hölderlins an die Kritik der Urteilskraft anschließendes Sachargument: Am oder im Schönen lässt sich begreifen, was die theoretische Vernunft als jenseits ihrer selbst bestimmt. Was wir im Denken notwendig als Transzendenz seiner selbst denken, wird mit dem Schönen zu einem immanenten Gegenstand der Erfahrung21 – zu einem »gegebenen Unendlichen«.22 Zurückkommend auf die ›kantischästhetischen Beschäftigungen‹ fährt Hölderlin im Brief an Neuffer fort, dass der avisierte Aufsatz im »Grunde […] eine Analyse des Schönen und Erhabenen enthalten (soll, JK), nach welcher die Kantische vereinfacht, und von der anderen Seite vielseitiger wird, wie es schon Schiller zum Theil in seiner Schrift über Anmuth und Würde gethan hat, der aber doch auch einen Schritt weniger über die Kantische Grenzlinie gewagt hat, als er nach meiner Meinung hätte wagen sollen.«23 Die Grenzlinie wird mit der Antwort auf die Frage virulent, ob auch ästhetischer Erfahrung der Status verallgemeinerbarer Erkenntnis zukommt. Für Kant bedeutet das »freie Spiel der Erkenntnisvermögen«, das die ästhetisch reflektierende Urteilskraft auszeichnet, bekanntlich »schlechterdings kein Erkenntnis […] vom Objekt«.24 Damit wird in der Analyse der Momente des Geschmacksurteils eine Grenzziehung vorgenommen. Freilich unterläuft Kant im Fortgang der »Kritik der Urteilskraft« diese strikte Grenzziehung mit der Erläuterung des Verfahrens der reflektierenden Urteilskraft selbst. Was uns in der bzw. als »Lust am Schönen« bewusst wird, ist ein »Verfahren der Urteilskraft«, »welches sie auch zum Behuf der gemeinsten Erfahrung ausüben muß […]«.25
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Vgl. Klaus Düsing: Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel. – In: C. Jamme/ O. Pöggeler (Hrsg.): Homburg v.d.H. in der deutschen Geistesgeschichte. Stuttgart 1981, 101–117. 21 Vgl. Johann Kreuzer: Göttliche Begeisterung. Zur Reflexion des Schönen in der Antike. – In: K.P. Liessmann (Hrsg): Vom Zauber des Schönen. Wien 2010, 41–66; ders.: Erinnerte Transzendenz. Zur Bestimmung des Schönen bei Platon und Augustinus. – In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 9. Hrsg. v. G. Figal, Tübingen 2010, 161–187. 22 Zur Rede vom »gegebenen Unendlichen« vgl. Kritik der Urteilskraft, § 26, B 92, 341. 23 MA II, 550/51. 24 Dazu, daß das »freie Spiel der Erkenntnisvermögen«, das die ästhetisch reflektierende Urteilskraft auszeichnet, »schlechterdings kein Erkenntnis […] vom Objekt« bedeute, vgl. KU, § 15, B 47. 25 Vgl. Anm. 17. Vgl. auch Kritik der Urteilskraft, §§ 35, 69, 76–78; vgl. Verf.: Ästhetik als
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Dass das Schöne kein Exklusivum, sondern ein Intensivum in Rücksicht allgemeiner (›gewöhnlich-alltäglicher‹) Erfahrung bedeutet, ist es, was Hölderlin interessiert und woran er anschließt. Für das damit verbundene Denkprogramm macht er bei denen, von denen er glaubt, daß sie dafür aufgeschlossen sind, Werbung. So schreibt er im September 1795 an Schiller, »daß die unnachläßliche Forderung, die an jedes System gemacht werden muß, die Vereinigung des Subjects und Objects in einem absoluten – Ich oder wie man es nennen will – zwar ästhetisch, in der intellectualen Anschauung, theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung möglich ist […].«26 Und im Februar 1796 will Hölderlin in seinen »philosophischen Briefen […] das Prinzip finden, das […] vermögend ist, den Widerstreit (zwischen dem Subject und dem Object) verschwinden zu machen, zwischen unserem Selbst und der Welt […] – theoretisch, in intellectualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn […]«.27 Was Hölderlin in dieser frühen Phase seines Denkens am Theorem der intellektuellen Anschauung (bzw. »intellectualen Anschauung« – er folgt meist der lateinischen Vorgabe ›intuitus intellectualis‹) interessiert, ist offenkundig, dass mit ihm die erkenntnis- und bewusstseinstheoretische Bedeutung des Sinngehalts ästhetischer Erfahrung beschreibbar wird. Die intellektuelle Anschauung bezeichnet im frühidealistischen Diskurs den logischen Ort, an dem die Erkenntnisfunktion dieses Sinngehalts ästhetischer Erfahrung bestimmt und erklärt werden soll.28 Später – oder vielleicht auch nur, weil er sich dann nicht mehr strategisch in Rücksicht auf den Briefpartner verhält – wird Hölderlin die intellektuelle Anschauung zu einem Ton herabstufen und die ihr entsprechende Bewusstseinsform als »mythisches Subject Object« kritisieren (vgl. Teil 4 dieser Überlegungen). Der logische Ort, den das Theorem der intellektuellen Anschauung bezeichnet, wird anders besetzt. 4) Angelegt ist diese Umbesetzung allerdings bereits in jenen drei thesenhaften Notaten, die Hölderlin auf dem herausgerissenen Vorsatzblatt eines gebundenen Buches formuliert hat – und die 1961 zum ersten Mal unter
Ethik. Überlegungen im Anschluß an die ›Kritik der Urteilskraft‹. – In: Friedrich Hölderlin: Philosophie und Dichtung (Turm-Vorträge 5. 1992–1998), Tübingen 2001, 14–16. 26 Brief an Schiller vom 4. 9. 1795, MA II, 595. 27 Brief an Niethammer vom 24.2.1796, MA II, 615. 28 Vgl. Manfred Frank: »Intellektuelle Anschauung«. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewußtsein: Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis (vgl. Anm. 9).
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dem Titel »Urtheil und Seyn« veröffentlicht wurden.29 Der Grundgedanke dieses zwei Seiten umfassenden Fragments hat dann, wie erwähnt, schnell Epoche gemacht.30 Er beginnt mit der Kritik nicht der Denkmöglichkeit, sondern der positiven Setzung des mit der intellektuellen Anschauung gedachten ›Seyns‹ – was im übrigen dafür spricht, dass das Fragment mit der ›Seyn‹-Seite beginnt: »Wo Subject und Object schlechthin […] vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Trennung vorgenommen werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verlezen, da und sonst nirgends kann von einem Seyn schlechthin die Rede seyn, wie es bei der intellectualen Anschauung der Fall ist.«31 Dieses Sein ist weder positiv gegeben noch bedeutet es »Identität«.32 Es ist eine Denknotwendigkeit, die im Begriff der Teilung – der Entgegensetzungen, in denen wir und vorfinden – liegt. Das »Seyn« der intellectualen Anschauung ist in theoretischer Hinsicht ein Noumenon in negativer Bedeutung.33 Die Rede von ihm ist Ausdruck einer logischen Implikation. Die Tätigkeit des Bewusstseins hat eine Voraussetzung, ohne die diese Tätigkeit – das Faktum des Selbstbewusstseins – nicht erklärt werden kann. Diese Voraussetzung bzw. heuristische Denknotwendigkeit zeigt sich in den Formen dieser Tätigkeit – und in den Entgegensetzungen, in die sie führt. Formal betrachtet ist die Entgegensetzung, in der sich ein urteilendes Selbstbewusstsein in Differenz zu dem erfährt, worüber oder was es urteilt, die zwischen ›Subjekt und Objekt‹. Diese Entgegensetzung hat den Gedanken einer »Einheit« (des »Seyn(s) schlechthin«) zur notwendigen Voraussetzung. Seiner internen Verfasstheit – seinem intensionalen Sinn – nach wie 29
Hölderlins Notate dürften in unmittelbarer Reaktion auf das Erscheinen von Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) – »Fichtes spekulative Blätter – Grundlage der gesammten Wissenschaftlehre – auch seine gedrukten Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten werden Dich ser interessiren«, schreibt Hölderlin im Januar 1795 in dem am Anfang dieser Überlegungen zitierten Brief an Hegel (vgl. Anm. 1) – und Schellings Schrift Vom Ich als Princip der Philosophie entstanden sein. 30 Vgl. v.a. die Arbeiten von Dieter Henrich zunächst: Hölderlin über Urteil und Sein. – In: Hölderlin-Jahrbuch 14 (1965–66), 73–96, und: Hegel und Hölderlin. – In: ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt a.M. 1971, 9–40, sowie dann die ausführlichen Zusammenfassungen. – In: ders.: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795). Stuttgart 1992. – Zu Seyn, Urtheil, … als »Grundriß« von Hölderlins Philosophie, vgl. auch Michael Franz: Hölderlins Logik. – In: Hölderlin-Jahrbuch 25 (1986–1987), 93–124. 31 Seyn, Urtheil, …, zit. ThSch, 7. 32 »Aber dieses Seyn muß nicht mit der Identität verwechselt werden. […] Identität (ist) keine Vereinigung des Objects und Subjects, die schlechthin stattfände, also ist die Identität nicht = dem absoluten Seyn.« (Seyn, Urtheil, ebd.) 33 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 249–253, A 278/334, 278–281, 297–299.
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seiner möglichen Erscheinung – seiner extensionalen Bedeutung – nach ist dieses Seyn Beziehung. Es ist kein Gegenstand des Bewusstseins, sondern die Beziehung, in der sich Bewusstsein vorfindet. Hölderlin entdeckt, dass Entgegensetzung die Erscheinung jener Einheit ist, die als Grund des Geurteilten gedacht wird. Der entscheidende Satz lautet: »Im Begriffe der Theilung liegt schon der Begriff der nothwendigen Beziehung des Subjects und Objects aufeinander, und die nothwendige Voraussezung eines Ganzen wovon Subject und Object die Theile sind.«34 Es ist schwer, sich hier Hinweise auf die sachlichen Voraussetzungen wie Präzisierungen zu verkneifen, die dieser Satz in der relationstheoretischen Konkretisierung von Einsichten des späten Platon in der Epoche des Denkens zwischen Augustinus und Nikolaus v. Kues erfahren hat. Denn gerade sie würden konkretisieren, dass die logische Stelle, die die Rede vom ›Seyn schlechthin‹ bezeichnet, mit dem Begriff einer ›notwendigen Beziehung‹ gefüllt wird. Aus der ›notwendigen Voraussetzung eines Ganzen, wovon Subjekt und Objekt die Teile sind‹, folgt deshalb gerade nicht, dass die Sphäre der Entgegensetzung auf jene gedachte Einheit zurückzuführen oder in deren Wiedervereinigung zurückzunehmen wäre. Die Einigkeit, die als Sein gedacht wird, und die Entgegensetzung der Sphäre der ›Urteile‹ schließen sich nicht aus. Die Entgegensetzung der Urteile ist gerade Erscheinung einer Beziehung, als deren Grund jenes Sein gedacht wird. Das ›Ganze vor‹ der bewusstseinstheoretischen Relation von Subjekt und Objekt ist als »Seyn schlechthin« keine positive Behauptung (dies käme einem Rückfall in vorkritische Metaphysik gleich). Schon die Rede über das in diesem Sein »innigst vereinigte Subject und Object« teilt oder urteilt das Gemeinte. Hölderlin begreift die »intellectuale Anschauung« als eine Voraussetzung, die wir in der Reflexion über die Struktur des Selbstbewusstseins machen, um die Entgegensetzungen zu erklären, die wir als Selbstbewusstsein bzw. in ihm vorfinden. Sie ist nichts positiv Gegebenes oder theoretisch Bestimmbares. In diesem Punkt hält er sich, wie gesagt, an die Vorgaben Kants. Was als intellektuelle Anschauung gedacht wird, ist die Wirklichkeit ästhetischer Erfahrung. Es gibt keinen Gegenstand intellektueller Anschauung. Was es gibt, sind die Gegenstände theoretischer oder praktischer Urteilung – und damit Entgegensetzung als Struktur des Selbstbewusstseins, die wir durch die negative Präsenz des »Seyns schlechthin« begreifen. Was mit dem Grenzbegriff intellektuellen Anschauens gedacht wird, teilt sich in den Urteilen über die Gegenstände der Erfahrung mit. ›Mitteilen‹ hat hier den doppel34
Seyn, Urtheil, …, ThSch, 7.
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ten Sinn von ›kommunizieren‹ und ›sich teilen‹ zugleich. Worauf wir in Formen der Äußerung als ihrer Modalität nach zu differenzierende Urteile der Entgegensetzung stoßen, lässt dieses Urteilen gleichsam als Palimpsest jener Vereinigung verständlich werden, die nicht zu restituieren, sondern im Urteil, das Äußerungsformen sind, negativ präsent erscheint. 5) Hölderlin deutet die intellektuelle Anschauung als Erfahrung des Bewusstseins, die dieses in den Formen des Sich-Mitteilens macht.35 In dem Fragment Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht … – vermutlich im Sommer 1800 entstanden – heißt es, dass das »tragische Gedicht […] die Metapher einer intellectualen Anschauung« ist.36 Was intellektuelle Anschauung heißt, stellt die begriffliche Entsprechung des Erfahrungsgehaltes tragischer Entzweiung dar, in der eine ›ursprüngliche Einigkeit aus sich herausgeht, um aus der äußersten Spannung der Entgegensetzung wieder in sich selbst zurückzukehren‹.37 Das ist die Struktur der Denkform ›Einheit/Einigkeit, Her vorgang/Ausgang und Rückgang‹ und eine fast wörtliche Übersetzung des neuplatonischen Theorems von »mone-proodos-epistrophē«, das expressis verbis seit Proklos und Dionysius Pseudo-Areopagita über Johannes Scottus Eriugena, Eckhart von Hochheim und Nikolaus v. Kues in die Neuzeit tradiert wurde.38 Dieses klassische Selbstentzweiungs- und Vermittlungstheorem appliziert Hölderlin nun auf die Kunstform der »tragischen Ode« und den Erfahrungsgehalt, den sie »fingirt«.39 Das aber heißt: 35
Das erklärt auch, weshalb »Hölderlin nach einem kurzen Interesse die intellektuale Anschauung schließlich suspendiert.« (Xavier Tilliette: Hölderlin und die intellektuelle Anschauung. – In: Philosophie und Poesie Bd. 1, hrsg. v. A. Gethmann-Siefert, Stuttgart 1988, 233) – Zur Depotenzierung der Positivität des Theorems der intellektuellen Anschauung vgl. auch Winfried Menninghaus: Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a.M. 1987, 104; Annette Hornbacher: »Eines zu seyn mit Allem, was lebt …«. Hölderlins intellectuale Anschauung. – In: Turm-Vorträge 5 (1992–1998) (vgl Anm. 25), 24–47. 36 Vgl. Das lyrische dem Schein nach idealische …, zit. nach: ThSch, 68. 37 Vgl. ebd., 71–73.. 38 Zur Dreierstruktur von monē-proodos-epistrophē vgl. Werner Beierwaltes: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt a.M. 21979, 158–239, sowie Hans Joachim Krämer: Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 21967, 312–337; vgl. auch Johann Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie. München 2000, pass., sowie ders.: Einleitung zu: Augustinus: De trinitate. Lat.-Dtsch.. Hamburg 2001, X–LXVII. 39 »Die tragische Ode fängt im höchsten Feuer an, der reine Geist, die reine Innigkeit hat ihre Grenze überschritten […] und so ist, durch Übermaas der Innigkeit, der Zwist entstanden, den die tragische Ode gleich zu Anfang fingirt (Hervorhebung, JK), um das Reine darzustellen.
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a) eine Kunstform ist die Wirklichkeit des Begriffsgehaltes des mit der intellektuellen Anschauung Gedachten. Daraus folgt b) die »intellectuale Anschauung« ist nicht mehr die höchste sozusagen Grenzfallbestimmung der Vernunft. Denn parallel zur Bestimmung des tragischen Gedichts als Metapher einer intellectualen Anschauung ist das lyrische Gedicht die Metapher »Eines Gefühls« und das epische Gedicht die Metapher »großer Bestrebungen«40. Die intellektuale Anschauung gehört nun zu den drei ›Tönen‹ (heroisch – naiv – idealisch): sie wird Moment im Tönewechsel. Man könnte – eine berühmte Formel Hegels frei variierend – sagen, dass sie damit ihrer höchsten Bestimmung nach ein Vergangenes ist.41 Den Gehalt des mit dem Begriff der intellektuellen Anschauung Gedachten expliziert Hölderlin deshalb dergestalt, dass diese »keine andere seyn kann, als jene Einigkeit mit allem, was lebt, die […] zwar von dem beschränkteren Gemüthe nicht gefühlt, die in seinen höchsten Bestrebungen nur geahndet, aber vom Geist erkannt werden kann und aus der Unmöglichkeit einer absoluten Trennung und Vereinzelung hervorgeht, und am leichtesten sich ausspricht, dadurch, dass man sagt, die wirkliche Trennung, und mit ihr alles wirklich Materielle Vergängliche, so auch die Verbindung, und mit ihr alles wirklich Geistige Bleibende, das Objective, als solches, so auch das Subjective, als solches, seien nur Zustände des Ursprünglichen einigen, in dem es sich befinde, weil es aus sich herausgehen müsse, des Stillstands wegen, der (in diesem Ursprünglichen Einigen, JK) nicht stattfinden […]« kann.42 Denn käme das Eine einem Stillstand gleich – würde aus ihm nichts mehr hervorgehen –, dann wäre es nicht das, was als prinzipiirendes Eines soll gedacht werden können. Hervorgehen kann aber aus dem Einen nur, was Nicht-Eines ist, d. h. der Form wie der Sache nach Trennung: Unterscheidung sowohl wie Unterschiedenes. Dass dem, was wir als höchste Einigkeit denken – bzw. im Unterschiedenen als Einheit erinnern – , in diesem Sinn Trennung seiner Bestimmung nach zugehört, nennt Hölderlin »nothwendige Willkür des Zeus«.43
[…] und so gehet sie […] aus der Erfahrung und Erkenntniß des Heterogenen […] in den Anfangston zurük.« (Die tragische Ode … (Grund zum Empedokles), zit. nach: ThSch, 79) 40 Vgl. Das lyrische dem Schein nach idealische …, ThSch, 68. 41 Beansprucht man als Sinn der Kunst eine Erhebung über die Bedingungen der Endlichkeit, dann »ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.« (G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I (= Theorie Werkausgabe Bd. 13). Frankfurt a.M. 1970, 25). 42 Vgl. Das lyrische dem Schein nach idealische …, ThSch, 70–71. 43 Vgl. ebd., 71.
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Was mit der intellektuellen Anschauung gedacht wird – höchste Einigkeit usw. –, kann sich nur durch Trennung darstellen. Damit aber widerspricht die Begriffsform der intellektuellen Anschauung – Wirklichkeit durch Trennung – ihrem Begriffsgehalt (Aufhebung von Trennung in einem »Seyn« schlechthinniger Einigkeit). Genau das wird zu Hölderlins entscheidendem Kritikpunkt am Theorem der intellektuellen Anschauung. 6) Die ›Harmonie‹ der intellektuellen Anschauung ist bloße Überwindung von Differenz, damit aber nicht wirklich Harmonie – keine wirkliche Einigkeit mit allem, sondern eine Einigkeit im Gegensatz zu oder als Transzendenz von allem. In »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist…« formuliert Hölderlin das in Bezug auf Zeit als Realgrund der Differenz bzw. als reale Natur dessen, was der Einigkeit des Seins, die der Geist sich denkt, gegenüber anders ist. Nachdem die »subjectiven Arten des Begründens« durchlaufen wurden, heißt es, dass in der Verfahrungsweise des poetischen Geistes »noch ein wichtiger Punct« fehle, da das reine poetische Leben »vermöge des Harmonischen überhaupt und des zeitlichen Mangels […] sich durchaus einig« bleibe.44 Dieses ›Sich-durchaus-einig-Bleiben‹ ist als Einwand gemeint. ›Zeitlicher Mangel‹ heißt also nicht, dass Zeit – als Bedingung der Sinnlichkeit und Endlichkeit – einen (durch das poetische Leben gegebenenfalls zu überwindenden) Mangel mit sich führe. Das wäre ein sozusagen im klassischen Sinn platonisierender Harmoniebegriff. Ihm setzt Hölderlin entgegen, dass dem poetischen Leben Zeit mangelt. Diesen zeitlichen Mangel fasst er fast im gleichen Atemzug als »Mangel in der Einigkeit« auf. Ihn gilt es zu überwinden. Bloße Einigkeit kann Einheit nicht erklären. (Der Gedanke der) Einheit schließt vielmehr nicht bloß gedachte, sondern die daseiende Wirklichkeit Verschiedener und mit ihr die Wechselwirkung Entgegengesetzter in sich. ›Einheit‹ fordert kein Subjekt-Objekt, sondern das Begreifen, dass es Beziehung nur geben kann zwischen Verschiedenen. Daraus folgt die explizite Kritik des Theorems und der positiven Setzung der intellektuellen Anschauung, mit der Hölderlin zugleich ihren Begriffsgehalt relativiert. Nicht die intellektuelle Anschauung, sondern was er »transzendentale Empfindung« nennt, entspricht der Forderung »eine Erinne-
44
Wenn der Dichter …, ThSch, 45. – Zu dem ›wichtigen Punkt‹, den Hölderlin hier anspricht und an dem die ganze ›Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹ hängt (vgl. auch die folgende Anm.), vgl. J. Kreuzer: Zeit, Sprache, Erinnerung (Dichtung als Zeitlogik). – In: ders. (Hrsg.): Hölderlin-Handbuch (vgl. Anm. 19), 147–161.
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rung zu haben«, deren Erfüllung unter den Bedingungen der Endlichkeit die »Identität der Begeisterung« realisierbar macht.45 Was Hölderlin als »transcendentale Empfindung« expliziert, bedingt keine bloße »Harmonie, wie die intellectuale Anschauung und ihr mythisches bildliches Subject Object«.46 Die Beziehung von ›Subjekt und Objekt‹ als Einheit beider zu denken – wie in intellektueller Anschauung – wird dem Begriffsgehalt des Gedankens dieser Einheit nicht gerecht: denn Einheit gibt es nur durch oder in Entgegensetzung (Differenz, Verschiedenheit), nicht durch deren Auflösung. Analog gibt es Erinnern nur im Wechsel, jeweils nur in Beziehung. Es erschöpft sich nicht in einer vom (›äußeren‹, zeitlichen) Wechsel unabhängigen (›inneren‹) Harmonie mentaler Selbstbeziehung. Nur in ›äußerer‹, der Bedingung der Zeit selbst unterliegender Form findet sich das ›innere‹ Beziehungsgefüge, das die ›transzendentale Empfindung‹ auf Grund der Erinnerung ist, wirklich wieder. Nicht Einheit statt Differenz, sondern Einheit durch Differenz: an diese Struktur der produktiven Einbildungskraft knüpft Hölderlin mit seinem Begriff der Erinnerung an.47 Die intellektuelle Anschauung bedeutet dem gegenüber »bloße Harmonie« und führt einen »Verlust des Bewußtseins und der Einheit« mit sich. Ihr »mythisches bildliches Subject Object« hat einen »zeitlichen Mangel«.48 In intellektueller Anschauung ist man sich »des eigentlich (weil zeitlich bestimmten, JK) Unendlichen zu wenig bewußt«. Dem ›eigentlich Unendlichen‹ entspricht nicht eine Denkform, die die Grenze zum Endlichen
45
Es ist seine (= des poetischen Geistes) »lezte Aufgabe, beim harmonischen Wechsel einen Faden, eine Erinnerung zu haben […]. Dieser Sinn ist eigentlich poëtischer Karakter […] poëtische Individualität – und dieser allein ist die Identität der Begeisterung […] die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment gegeben.« (Wenn der Dichter …, ThSch, 49). 46 Vgl. Wenn der Dichter …, ThSch, 57. 47 Vgl. Dieter Henrich: Hegel und Hölderlin. – In: ders.: Hegel im Kontext, 34. Was in Differenz zu Hölderlin nun »Hegels eigentümlicher Gedanke« sei: »daß die Relata in der Entgegensetzung zwar aus einem Ganzen verstanden werden müssen, daß dieses Ganze ihnen aber nicht vorausgeht als Sein oder als intellektuale Anschauung, – sondern daß es nur der entwickelte Begriff der Relation selber ist« (36) – dies ist in der Tat die Konsequenz aus Hölderlins ursprünglicher Einsicht, wenn er nach Seyn, Urtheil, … die logische Leerstelle, die das Theorem der intellektuellen Anschauung anzeigt, mit Sinn und Semantik der Erinnerung füllt. Die Erinnerung wird zum Grundbegriff der Poetik, auf der sein Spätwerk beruht: vgl. Verf.: Erinnerung. Zum Zusammenhang von Hölderlins theoretischen Fragmenten ›Das untergehende Vaterland …‹ und ›Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig ist …‹, Königstein/Ts. 1985. 48 Diese Kritik der intellektuellen Anschauung klingt wie eine vorweggenommene Kritik an Fichtes Ergänzung in der »Wissenschaftslehre«, wo es 1802 heißt: »Ich ist nothwendig Identität des Subjects und Objects: Subject-Object; und dies ist es schlechthin ohne weitere Vermittelung« (WL 1794, 98).
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überspringt. Erfordert ist vielmehr eine ›Empfindung‹, in der wir uns des »eigentlich Unendlichen, welches durch sie als eine b estimmte wirkliche Unendlichkeit, als außerhalb liegend bestimmt wird, […] empfänglich und (größerer) Dauer fähig« bewusst werden.49 Diese Empfindung ist der Zustand des Gemüts, der uns produktiv werden lässt. Genau in diesem Sinn versteht Hölderlin im übrigen das Adjektiv ›transzendental‹: was als Bedingung der Möglichkeit zu denken ist, wird wirklich, indem es schöpferisch wirkt – indem aus ihm (in der Terminologie der neuplatonischen Trias von ›Einheit-Hervorgang-erkennender Rückbezug‹ formuliert) eine Wirkung hervorgeht, wodurch, was wir als ursprüngliche Einheit denken, sich von sich unterscheidet wie sich selbst unterscheidbar macht.50 ›Verzeitlichung‹ ist hierfür konstitutiv oder gehört zur semantischen Natur dessen, was Hölderlin als »transcendentalen schöpferischen Act« begreift.51 ›Einheit‹ reproduziert sich nicht durch die Rückführung des Verschiedenen (Äußeren, Zeitlichen) auf den Gedanken der Einheit – oder gar in der Rückführung in die pure Einheit eines ›Seyns schlechthin‹. Einheit reproduziert sich nur dadurch, dass sie sich in Relation zu einem von ihr Verschiedenen selbst »empirisch individualisirt«.52 Die Form dieser empirischen Individualisierung ist Sprache. Es sind Akte der Sprachfindung, in denen das Vermögen produktiver Einbildungskraft zu einem »(transcendentalen) schöpferischen Act« wird.53 Nur »in der Äußerung kann gefunden werden«, was nicht bloß »Ideal« ist und »außerhalb der Äußerung nur in dem aus ihrer bestimmten ursprünglichen Empfindung hervorgegangenen Ideale gehofft werden kann.«54 Hölderlin faßt – als Antwort auf die rhetorische Frage: »Ist die Sprache nicht wie die Erkenntniß von der die Rede war?« – dies mit dem Satz zusam-
49
Wenn der Dichter …, ThSch, 57. Vgl. Anm. 38. 51 Vgl. Friedrich Hölderlin: Das untergehende Vaterland …: Geschichtlicher Übergang wird nur dadurch wirklich, daß das Moment des Übergangs »nicht als vernichtende Gewalt, sondern als ein […] (transcendentaler) schöpferischer Act erscheint […]« (ThSch, 37). Vgl. dazu ausführlich: Johann Kreuzer: Erinnerung (vgl. Anm. 47), 45–104. 52 Nur dadurch, daß das Ich »[…] nicht von sich selber und an und durch sich selber unterschieden wird, wenn es durch ein drittes (Hervorhebung JK) bestimmt unterscheidbar gemacht wird, […] wo sie dann zugleich sich selbst als ein durch eine Wahl bestimmtes, empyrischindividualisirtes (Hervorhebung JK) und karakterisirtes betrachtet, nur dann ist es möglich, daß das Ich im harmonischentgegengesezten Leben als Einheit, und umgekehrt das harmonisch-entgegengesezte, als Einheit im Ich erscheine und in schöner Individualität zum Objecte werde.« (Wenn der Dichter …, 52) 53 Vgl. Das untergehende Vaterland …, ThSch,37. 54 Wenn der Dichter …, ThSch, 60. 50
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men: »So wie die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkenntniß.«55 Wenn Hölderlin davon spricht, ›die Sprache zu ahnden‹, so behauptet er damit nicht, dass es im mentalen Innen des Geistes ein Wissen oder ein ›Sein‹ gäbe, dem dann durch Sprache sozusagen nur noch eine äußere Gestalt gegeben würde. Die ›Sprache zu ahnen‹ hat vielmehr mit der Bestimmung der Erinnerung zu tun. Es sind Formen der Äußerung oder Verdinglichung – jede Äußerung materialisiert sich als dingliches Zeichen und jedes ›äußerlich‹ materialisierte Zeichen ist eine Form der Äußerung –, in denen erst sich Denken realisiert bzw. ›empirisch individualisiert‹.56 In diesem Sinn ist der Akt, durch den sich der Geist die Wirklichkeit gibt, ein sprachlicher Akt.57 7) Was hat sich damit an Folgerungen aus Hölderlins Kritik daran, die Frage, die mit dem Theorem der intellektuellen Anschauung bezeichnet wird, schon als Antwort zu verstehen, ergeben? – aus der Kritik an jenem Quid pro quo, das »noch auffallender transcendent (ist), als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten […]«?58 – Die Debatten im Anschluss an Kant und mit ihnen die Formierungsphase des Deutschen Idealismus sind ohne den metaphysikkritischen Kontext, den die hier vorgetragenen Überlegungen skizziert haben, nicht hinreichend zu verstehen. Das Hinausgehenwollen über die von Kant gezogenen Grenzlinien erfüllt sich nicht in einem Rückgang in vorkantische Metaphysik. Um über die von Kant gezogene Grenzlinie hinaus zu gelangen und die erkenntnis- wie bewusstseinstheoretische Bedeutung dessen zu beschreiben, was ästhetischer Sinn heißt und was ästhetisch ›Sinn macht‹, hat sich Hölderlin für das Theorem der intellektuellen Anschauung interessiert.
55
Wenn der Dichter …, ThSch, 58. – »Ahnden« (ahnen) und Erinnern hängen zusammen. Kant bemerkt: »A h n d e n bedeutet so viel als g e d e n k e n . Es ahndet mir heißt, es schwebt etwas meiner Erinnerung […] vor« (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht – In: Werke, Bd. XII, 492). Vgl. auch Grimm’sches Wörterbuch, ND München 1984, Bd. 1, 192–195. 56 Zu »empyrisch individualisirt« vgl. Anm. 52. – Vgl. auch Johann Kreuzer: Zeichen machende Phantasie. Über ein Stichwort Hegels und eine ursprüngliche Einsicht Hölderlins. – In: Zeitschrift für Kulturphilosophie. 2 (2008), 253–278. 57 In diesem Punkt stimmt Hölderlins Verfahrungsweise des poetischen Geistes mit Hegels Konzept des spekulativen Satzes überein. Vgl. Josef Simon: Das Problem der Sprache bei Hegel. Stuttgart 1966; Günter Wohlfart: Der spekulative Satz. Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel. Berlin/New York 1981. – Zu dieser Übereinstimmung – und zur Differenz zwischen beiden – vgl. J. Kreuzer: Logik der Zeit und Erinnerung. Was unterscheidet die Wirklichkeit des Gesangs von der Form des Begriffs? – In: C. Jamme/A. Lemke (Hrsg.): Die späte Hymnik Hölderlins. München 2003. 58 Vgl. Anm. 1.
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Seine Kritik an der intellektuellen Anschauung zielt dann auf mehr als nur darauf, dass er sie als bloße ›Apotheose von oben herab‹ abweist. Hölderlin liest die intellektuelle Anschauung vielmehr als Erfahrung. Ihrer höchsten Bestimmung nach fungiert sie bereits in »Seyn, Urtheil, …« als Noumenon in negativer Bedeutung. Ab der Zeit des direkten Gesprächs mit Hegel in Frankfurt wird sie weiter depotenziert.59 Sinn und Semantik der Erinnerung rücken ins Zentrum der theoretischen Selbstreflexion, auf der das Dichtungsverständnis beruht, das sich Hölderlin insbesondere in den Fragmenten »Das untergehende Vaterland …« und Wenn der »Dichter einmal des Geistes mächtig ist …« erarbeitet.60 Die logische Stelle, die sich mit der intellektuellen Anschauung bezeichnet findet, füllt Hölderlin durch Sinn und Semantik der Erinnerung. Die intellektuelle Anschauung selbst integriert er in das Beziehungsgefüge der »transzendentalen Empfindung«. An die Stelle des ›Seins‹ der intellektuellen Anschauung tritt die Dialektik von Einheit und Verschiedenheit. Sie beruht auf der Einsicht der internen zeitlichen Verfasstheit seiner selbst bewusst werdenden Erkennens – die sich als Tätigkeit verstehende »Intelligenz« kann gerade um ihrer Selbsterkenntnis willen ihre Zeitbedingung nicht (wie im ›intellektuellen Anschauen präsumiert) negieren oder überspringen. Sie muss sich in ihrem Tätigsein verzeitlichen – das heißt zur Darstellung kommen oder sich äußern.61 Daraus folgt die Einsicht in die Sprachbedürftigkeit der Erinnerung und damit des Geistes – die nächste Konsequenz, die Hölderlin zieht. Sprachbedürftigkeit heißt hier, dass sich Erinnern nur in Notationsformen – Sprache ist eine davon, eine andere Notationsform beispielsweise Musik – mitzuteilen weiß und erhält. In der Sprachwerdung der Erinnerung ist Zeit nicht getilgt, sondern in der buchstäblichen Mehrdeutigkeit des Wortes aufgehoben. ›Eine Erinnerung zu haben‹ bedeutet deshalb nicht mehr Rückbindung an gegebene (und sei es mentale) Daten. ›Eine Erinnerung zu haben‹ erweist sich vielmehr als Grundakt des sich in seiner Endlichkeit begreifenden Geistes.62 In diesen Zusammenhang gehört der oft
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Zum direkten Gespräch zwischen Hölderlin und Hegel vgl. Christoph Jamme: »Ein ungelehrtes Buch«. Hegel und Hölderlin in Frankfurt 1797–1800. Bonn 1983. 60 Vgl. ThSch, 33–62; vgl. Johann Kreuzer: Erinnerung (vgl. Anm. 47). 61 Adorno weist in die Richtung dieser Einsicht, wenn er von den »geronnenen Zeitrelationen« spricht, die es in der Logik Hegels »zu gewahren« gelte, »so wie es verschiedentlich in der Vernunftkritik, zumal im Schematismuskapitel, (…) angezeigt war.« (T.W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1970, 324). 62 Diesen Sinn und diese Bedeutung der Erinnerung hat in der Epochenschwelle der Spätantike Augustinus entdeckt. Auf Grund der Erinnerung ist der menschliche Geist Bild jener Trinität, die er als göttliche denkt: vgl. Augustinus: De trinitate, insbes. Buch X, XIV und XV,
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zitierte Satz, den Hölderlin auf der Seite 66 des Homburger Foliohefts notiert hat: »Unterschiedenes ist / gut […].«63 In ihm fasst sich Hölderlins Kritik intellektuellen Anschauens zusammen.
neu übers. und mit einer Einleitung hrsg. v. J. Kreuzer, Hamburg 2001, 86–127, 194–247, 258–289, 336–343). – Hölderlin hat den Grundgedanken der Fleischwerdung des göttlichen Logos, der in der trinitarischen Selbstreflexion des Geistes zu Bewußtsein kommt, präzise formuliert: »Wie Fürsten ist Herkules. Gemeingeist Bacchus. Christus aber ist / Das Ende. Wohl ist der noch andrer Natur; erfüllet aber / Was noch an Gegenwart / Den Himmlischen Gefehlet an den andern. Diesesmal […]« (Der Einzige, V. 92–96, MA I, 469). Vgl. Verf.: Philosophische Hintergründe der Christus-Hymne Der Einzige. – In: Hölderlin-Jahrbuch 32 (2000–2001), Eggingen 2002, 69–104. 63 »Unterschiedenes ist / gut« (vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Supplement III. Homburger Folioheft. Hrsg. v. D.E. Sattler u. E.E. George. Frankfurt a.M. 1986, 92).
Hegels Kritik der Substanz-Metaphysik als Vollendung des Prinzips neuzeitlicher Philosophie Klaus Erich Kaehler
Die Metaphysik hat seit ihren geschichtlichen Anfängen ihre Kritiker auf den Plan gerufen, wenngleich aus den verschiedensten Gründen. Die Ansprüche und Inhalte der Metaphysik fordern wesensgemäß zu Zweifel oder gar Ablehnung heraus, insofern sie sich nicht von selbst verstehen. Während jedoch solche Kritik sich nicht formiert und rechtfertigt mittels derjenigen Begrifflichkeit, die der Metaphysik selbst angehören, gibt es eine andere Art von Kritik, die innerhalb der Metaphysik auftritt, so dass die kritisierende Instanz nur auf eine »Emendation« abzielt, nicht aber die Berechtigung oder den Sinn metaphysischer Erkenntnis überhaupt bestreitet. Vielmehr soll das Ergebnis der Kritik jeweils eine weiterentwickelte, nun endlich »wahre« Metaphysik sein. Diese Zielsetzung folgt konsequent der grundlegenden Intention aller Metaphysik auf von sich her feststehende, unwandelbare und alternativenlose Wahrheit, deren Fassung und Darstellung im menschlichen Denken Aufgabe und Anliegen der philo-sophia ist. Dass diese Fassung und Darstellung dem gesuchten Wahrheitsgehalt jedoch nicht äußerlich bleiben kann, zeigt sich zunehmend im Fortschreiten der in sich kritischen Entwicklung der Metaphysik von der Antike bis zur Neuzeit, welche diese Einsicht radikalisiert, d. h. zum Grundgedanken und zur Bedingung aller Wahrheit erhebt. Hegels Zuversicht, »dass die Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft an der Zeit sei« (PhG Vorrede, Abs. 5),1 steht am Ende der Entfaltung dieses Grundgedankens, dessen Vollzugswirklichkeit ›Subjekt‹ heißt. Wenn Hegel bekennt, er habe »sich vorgesetzt«, »daran mitzuarbeiten, dass die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein« (ebd.), so drückt sich darin seine Überzeugung aus, dass die Metaphysik als Wissen »der absoluten Wirklichkeit« (ebd., Abs. 16) zu vollbringen sei. Es kommt dann jedoch noch darauf an, wie sich dieses Wissen als Erkennen zu jener Wirklichkeit verhält: ob es diese außer sich hat oder sich selbst als die »absolute Wirklichkeit« vollbringt. 1
Die Werke Hegels werden nach der Ausgabe G.W.F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden (Theorie Werkausgabe), Frankfurt a.M. 1969 ff. zitiert. Als Siglen werden verwendet: Enz = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften; PhG = Phänomenologie des Geistes; RPh = Grundlinien der Philosophie des Rechts, WdL = Wissenschaft der Logik.
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Diese Differenz aber ist innerhalb der Entwicklung des neuzeitlichen Prinzips die Differenz zwischen der Metaphysik der Substanz vor Kant und der mit der »transzendentalen Wende« eröffneten Selbstvollendung des SubjektPrinzips; denn eine Metaphysik, deren Grundbegriff – wenngleich nicht Prinzip – ›Substanz‹ ist, nimmt dieser Substanz gegenüber eine real unterschiedene Stellung ein: Sie bezieht sich noch darauf als auf einen real außer ihr seienden Gegenstand. Eine solche Real-Metaphysik, der als Wissen ihr Gegenstand ein uneinholbares Voraus ist und bleibt, kann es in der neueren Philosophie nur vor Kant geben. Mit der prinzipiell-methodischen Wende der Begründung der Philosophie von der Realbegründung durch ein ursprünglich von sich her Seiendes zur Begründung in der Selbstreflexion der Vernunft, die kein Seiendes ist, wird auch die Kategorie der Substanz zurückgenommen in den Status einer Bedingung der Möglichkeit von Seiendem, dessen Wahrheit genau nur seine vom Subjekt konstituierte Gegenständlichkeit, also sein Sein-für-das-Subjekt ist. Die darin liegende Kritik der Substanz-Metaphysik, wie sie vor allem von Descartes, Spinoza und Leibniz ausgebildet wurde, ist also bereits Konsequenz jener prinzipiellen transzendentalen Wende, durch welche die vormals natürliche Vernunft bzw. das in ihrer Reflexion sich setzende Subjekt der Vernunft sich befreit von seiner Verortung im Ganzen des Seienden und sich in sich reflektiert als die »Quelle« aller Metaphysik, die selbst »außer der Metaphysik liegt«, nämlich in der reinen Vernunft.2 Eine Metaphysik der Substanz ist dann unmöglich, weil sie eine Theorie über einen unter dem Begriff der Substanz vorausgesetzten Gegenstand wäre, der nicht unter die Bedingungen a priori der Sinnlichkeit fällt. – Was aber ist die neuzeitliche Metaphysik der Substanz vor dieser prinzipiell-methodischen Wende, dieser Rück-Wende des VernunftSubjekts in sich? Eine Metaphysik der Substanz kann zwar auch innerhalb der Epoche der neueren Philosophie durchaus verschiedene Gestaltungen und Begründungen erhalten, wie sich an einem Vergleich der Positionen von Descartes, Spinoza und Leibniz leicht erkennen lässt. Zugleich aber ist diesen doch etwas gemeinsam, das sie prinzipiell unterscheidet von der klassischen SubstanzMetaphysik in der aristotelischen Tradition. Dieses Gemeinsame ist in der Sache die zunächst noch formale Grundstruktur von Subjektivität als Prinzip der Philosophie, in der Methode aber die prinzipielle Bindung der Entwicklung der Sache an den Weg und die Mittel ihrer Erkenntnis.. Wenn Hegel darauf dringt, »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Sub2
S. Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. AA IV, 377.17 f.
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jekt aufzufassen und auszudrücken« (PhG, Vorrede, Abs. 17), dann spricht er darin mehr aus als nur eine Kritik an einer bestimmten philosophischen Grundposition, etwa der von Spinoza (und/ oder der von Schelling); vielmehr bereitet er mit diesem viel zitierten Diktum die Exposition seiner Idee der Philosophie als absoluter Wissenschaft vor. Um den Zusammenhang dieser Idee mit dem, was in der neueren Philosophie vor Kant schon getan war, ersichtlich zu machen, sei im folgenden zuerst wenigstens in Grundzügen ausgeführt, inwiefern bei Descartes, Spinoza und Leibniz ein Substanzbegriff entwickelt wird, der zumindest partiell, wie bei Descartes der Begriff der substantia cogitans, die formale Struktur von Subjektivität aufweist.3 Diese Befunde sind dann zunächst mit den eher programmatischen Ausführungen zum Subjektbegriff Hegels in der »Vorrede« zur »Phänomenologie des Geistes« zu vergleichen, um daran zu prüfen, wie sich die von Hegel beanspruchte Wahrheit der Substanz – nämlich Subjekt als Sein der absoluten Negativität – zu den kritisierten Positionen selbst verhält: ob sie als Weiterentwicklung und Explikation, wie Hegel intendiert, oder eher als missverstehende Veränderung ihres Grundsinns zu begreifen ist. Diese Frage sei dann, soweit die gebotene Kürze es erlaubt, auch an der argumentativen Durchführung der Kritik der Substanz-Metaphysik bzw. ihres Grundbegriffs mit seinen Implikationen in der »Wissenschaft der Logik« überprüft.
1. Die Substanz-Metaphysik der Neuzeit a) Ausgangspunkt: die Struktur der res cogitans bei Descartes Descartes definiert die substantia generell als »ein Seiendes (Ens), das zu seiner Existenz keines anderen [Dinges] bedarf« (Princ. Philosophiae I, 51), – von dem alles andere abhängt, es selbst aber von nichts außer sich. Eine solche Substanz könne sensu stricto nur als eine einzige gedacht werden, »d. h. als Gott«. Wie allerdings aus der ursprünglichen Aktuosität dieser absoluten Substanz, dem Gott der Metaphysik, alles übrige hervorgeht und in Existenz gehalten wird, das bleibt für die natürliche Vernunft ein Geheimnis – und muss es bleiben, solange diese Grundstellung nicht verlassen werden kann. Die Möglichkeit dazu aber eröffnet sich in der Reflexion des philosophischen Wissens der natürlichen Vernunft aus dieser Grenze in sich zurück, diesseits 3
Für eine ausführliche Rekonstruktion dieses in sich kritischen Zusammenhangs – als Entfaltung des Prinzips Subjekts – sei verwiesen auf Klaus Erich Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg/München 2010: Kapitel I–V des Abschnitts A, 27–208.
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ihrer Einbettung in die sacra doctrina der Offenbarung:4 Nur die radikale Neubesinnung der natürlichen Vernunft auf ihre immanent eigene Ausstattung ermöglicht den scharfen Schnitt, mit dem sie sich lossagt von der Voraussetzung, diese dem endlichen Geschöpf gegebene Vernunft sei nur eine Sonderform des unerforschlichen intellectus Dei. Zwar bleibt dieser auch für Descartes ein Jenseits, doch dadurch wird die Selbstgewissheit des Denkens aus natürlicher Vernunft nicht mehr relativiert. Dieser methodische Rückzug der natürlichen Vernunft aus ihrer Bindung an ihre göttliche Ursache ist der Anfang des Subjekts: Was unbezweifelbar bleibt, wenn die Voraussetzung eines weisen und guten Schöpfergottes außer Geltung gesetzt ist, ist unmittelbar keine inhaltliche, gegenständliche Erkenntnis, sondern allein die Gewissheit des Bewusstseins, was immer es vorstellen und für wahr halten mag, dass es vorstellt, für wahr hält oder bezweifelt, will oder nicht will, einbildet oder empfindet; kurz: was bleibt, ist nicht das Sein des Gedachten, sondern nur das Sein des Denkens, cogitare, gleichviel in welchem seiner modi es sich vollzieht – immer ist unmittelbar mit der Bestimmtheit des Aktes das darin Tätige seiner selbst gewiss, insofern und indem es so tätig ist und ebenso, indem es auch wieder in anderen Akten sich als dasselbe unmittelbar mit-weiß. Diese conscientia, das Sich-Mit-Wissen im Bewusstsein, d. h. in jeglichem cogitare, ist die Seinsweise dieses mit sich durchgängig Identischen, das streng genommen nur noch als Tätigkeit in mannigfaltigen Bestimmtheiten gedacht werden darf. Wenn Descartes dieses Ganze, das sich in seinen Modi immer schon besondert und diese wiederum in je einzelnen cogitationes zur (veränderlichen) Existenz bringt, als res und dann metaphysisch als substantia cogitans bezeichnet, dann liegt die Pointe auf der Wesensbestimmung cogitans, die nämlich verlangt, die Seinsweise solcher »Substanz« gerade nicht mehr als bloßes Hypokeimenon, Zugrundeliegendes für wechselnde Eigenschaften und Akzidenzen zu denken, und damit in einem weiten Sinne doch jedenfalls zu verdinglichen, sondern die Substanz gerade als dieses sich für und in sich differenzierende Vollzugsganzes neu zu denken. Dass dieses cogitans ontologisch als Substanz zu begreifen sei, verweist nur auf die Selbständigkeit und qualitative Unableitbarkeit seiner Seins- als Vollzugsweise: cogitare. Eine solche »spekulative« Einheit, die sich als Ganzes (Allgemeines) mit sich in seinen Besonderungen durch einzelne, inhaltlich konkrete Vollzüge vermittelt und darin seine irreduzible Realität hat, ist überhaupt nicht als vorliegend, also gegenständlich, sondern nur als selbstreflexiver Vollzug einsehbar; und so ist die Gewissheit dieses Denkenden, das von Descartes 4
S. Thomas Aquin: Summa Theologiae, Pars Prima, Quaestio I.
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auch als Geist (mens) bezeichnet wird,5 zugleich die Wahrheit seines Seins in seinen wechselnd bestimmten Existenzzuständen. Gewissheit und Wahrheit fallen also in diesem seiner selbst gewissen Vollzug zusammen, weil die Gewissheit sich auf etwas bezieht, das in dieser Gewissheit auch existiert. Ich bin, indem ich denke, das ist also die erste Erkenntnis, die prima cognitio im Gang der Erkenntnis – und dieser Anfang zusammen mit dem durchgängig in ihm bleibenden Fortgang zu weiteren Erkenntnissen ist die Genesis des Subjekts für und durch sich selbst, und ineins damit der Neu-Aufbau der Ersten Philosophie, dessen Erkenntnismittel dieses selbstreflexiv Seiende, res cogitans, in einer natürlichen Vernunft findet, – und zwar in dieser Anfangsposition der Entfaltung des Subjekts als Prinzip noch erst nur vorfindet, wie eine innere Ausstattung.6 Der Zusammenhang aller Elemente dieser geistigen Ausstattung des Subjekts der natürlichen Vernunft kann nur ein innerer Zusammenhang sein, einsehbar nur durch und gültig nur für das selbsttätige Denken.7 Dass dieses sogar durch sich selbst, d. h. als sich für sich bestimmendes Denken die bestimmten Begriffe und ihre Relationen eigentlich erst hervorbringt und dass als derart selbsttätig entwickeltes Ganzes die denkende Substanz als das wahrhafte Subjekt sich realisiere – das ist der implizite Vollendungssinn des cartesischen Anfangs der Ersten Philosophie der Neuzeit. Als Vollendung des Subjekts aber muss dieses sich sein Werden in allen Stufen und Momenten zueignen. Es muss sein Sein als Sein des Denkens austragen, zusammenhalten und in diesem Gang sich selber leiten. Deshalb liegt in dieser dritten Epoche der Metaphysik die Methode bereits in ihrer Sache. Die Sache hat ihre Bestimmung nicht unabhängig davon, wie sie im Wissen sich zeigt und zu zeigen vermag. Die »Einheit von Denken und Sein« kann hier weder vom Sein her vernommen (Parmenides bis Aristoteles) noch von einem unvordenklichen Jenseits des Wissens nur empfangen und sekundär reflektiert werden (Plotin bis Thomas Aq. und Suarez); sie muss im Denken und für dieses selbst als das Wahre hervorgebracht werden. »Methode« hat somit diese prinzipielle Bedeutung der Ordnung und Bestimmung des Weges,
5
René Descartes: Meditationes – In: ders.: Œuvres (AT). Hrsg, v. Ch. Adam/P. Tannéry. Paris 1897–1910, VII, 161. Anhang zu den Secundae Responsiones, Def. VI: »Substantia, quae inest immediate cogitatio, vocatur Mens.« 6 So spricht Descartes in der V. Meditation vom thesaurus mentis (AT VII, 67.22 f.), der sowohl die formalen Regeln des Denkens, als auch kategoriale Grundbestimmungen, verae et immutabiles naturae (AT VII 64.11), enthält. 7 S. (u. a.) René Descartes: La Recherche de la Vérité par la Lumière naturelle. Hrsg. in der französischen und lateinischen Fassung, ins Deutsche übersetzt und eingeleitet von G. Schmidt. Würzburg 1989 (ELEMENTA – Texte, Bd. III), 28, 40, 84.
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auf dem mit der Gewinnung der Einsicht in die Sache auch erst alle Wahrheit der Sache in Geltung gesetzt wird. Dieses Denken ist nicht mehr ein »bloß subjektives« Tun, gegen das die zu erkennende Sache in ihrer Bestimmtheit auch äußerlich und gleichgültig bliebe; und so gewinnt die Subjektivität der (zunächst noch »natürlichen«) Vernunft, die sich als Erkenntnis vollbringt nur zusammen mit ihrer Sache, prinzipiellen Rang. Die Zurückhaltung des Urteils, die Descartes als Zweifel an allem, was das Denken von sich unterscheidet, indem es dieses denkt, voranschickt, kann in ihrer Epoche machenden Bedeutung angemessen verstanden werden nur, wenn diese ursprüngliche und sich kontinuierende Rückbindung der Wahrheit an den Vollzug des Denkens reflektiert und festgehalten wird als das Erste in Allem. Der Grundstruktur des Subjekts in dieser anfänglichen cartesischen Bestimmung wäre angemessen nur diejenige Entfaltung, die jede Erkenntnisbestimmung als die eigene der denkenden Substanz reflektiert. Das Wissen des philosophierenden Subjekts wäre dann zugleich das Selbstbewusstsein der denkenden Substanz, so wie diese umgekehrt ihre Wahrheit allein in der Gewissheit des Subjekts hätte. Anders gesagt: Diesen durch Descartes inaugurierten Subjektbegriff in den folgenden Positionen der neuzeitlichen Philosophie angemessen einzubringen, würde bedeuten, das Subjekt zu rekonstituieren als das gemeinsame Prinzip der neuzeitlichen Philosophie. Zu zeigen wäre, dass und wie sich »Subjekt« als Prinzip im radikalen und umfassenden Sinne zuerst (nur) bei Descartes herausbildet, wie es sich als Prinzip einer Metaphysik aus »natürlicher Vernunft« aber zunächst selbst nur verortet im Ganzen des Seienden und sich damit zum metaphysischen Subjekt objektiviert, obgleich es die Erkenntnismittel und die Methode dieser Objektivierung vollkommen in sich selbst findet; wie es sich dann in immanent, weil selbstreflexiv entspringenden Krisen wandelt vom metaphysischen zum transzendentalen Subjekt, und wie es aus diesem in einer erneuten Selbstreflexion, die sein Verhältnis zu jeglichem Anderssein aus ihm selbst entspringen lässt, sich vollendet zum absoluten Subjekt.8
8
Zur ausführlichen Rekonstruktion dieser Entwicklung des Prinzips der neueren Philosophie insgesamt (von Descartes bis Hegel) und seiner Transformation in das dezentrierte Subjekt als Prinzip des nachmetaphysischen Denkens sei verwiesen auf Klaus Erich Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen (Anm. 2).
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b) Die Erweiterung der Subjekt-Struktur der cartesischen res cogitans auf das Ganze des Seienden: Spinoza Wenn Substanz nur das ist, was zu seiner Existenz keines anderen außer sich bedarf, so sind die geschaffenen keine »wahrhaften« Substanzen. Von dieser Konsequenz geht Spinoza aus. Sein Substanzbegriff zieht also die die radikale Konsequenz aus der bereits erwähnten Überlegung Descartes’, dass die res cogitans und die res extensa nicht in demselben Sinne Substanzen seien wie Gott: Er schließt daraus, dass sie eben deshalb im strengen Sinne überhaupt keine Substanzen seien. Wohl sind sie irreduzible Wesenseigenschaften, Attribute der Substanz, die »durch sich selbst begriffen werden«, aber sie sind nicht durch sich selbst. Wie für Descartes alles, was es gibt, von der Wesensart einer der beiden Substanzen sein muss, so ist nun für Spinoza diese qualitative Differenz zwar ebenso universell gültig, aber nur als die differentielle Wesensbestimmung der einen Substanz. Alles, was die Substanz ist und bewirkt, ist und vollzieht sich gemäß diesen beiden Attributen, in denen die Substanz mit sich identisch ist. (Das gleiche gilt auch von den »unendlich vielen anderen Attributen«, die auf gleiche Weise die Substanz ausmachen sollen, aber uns unbekannt bleiben.) Diese Differenzierung des Wesens der Substanz erweitert sich wiederum bis zur Unendlichkeit in der Existenz dessen, was unter die Attribute der Substanz fällt als ihre Modi. Darin wird die Produktivität des cartesischen Schöpfergottes, aus der die beiden innerweltlichen Substanzen hervorgingen, so dass Descartes sagen konnte, Gott sei die absolut erste Ursache von allem, umgekehrt in die reflexive Kausalität der Substanz für sich selbst: »In dem(selben) Sinne, in dem Gott die Ursache seiner selbst genannt wird, muss er auch die Ursache aller Dinge genannt werden« (1p25s). Hiermit wird die erste Definition herangezogen, die Spinoza der Definition der Substanz noch voranstellt: causa sui – ein paradoxer Ausdruck, der aber schon auf die Schwierigkeit vorbereitet, das Verstehen nicht durch falsche Fragen irrezuführen: Wie soll eine Ursache sich selbst verursachen, wenn doch immer die Ursache »früher« ist als die Wirkung, also auch schon unabhängig von dieser etwas sein muss? Eben dieses Verhältnis darf offenbar nicht statthaben, wenn etwas die »Ursache seiner selbst« sein soll. Dasjenige, dem solches soll zugeschrieben werden können, ist weder nur Ursache noch nur Wirkung, sondern immer schon beides zumal. Dennoch soll die Differenz zwischen dem ontologisch Früheren, Selbständigen und dem Späteren, Abhängigen gewahrt bleiben, welche die Relationskategorien der Substantialität und der Kausalität in ihrem je ersten Glied voraussetzen. Diese Differenz ist mit der causa-sui-Formel Spinozas in das Ganze hineingesetzt, welches die Eine
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Substanz ist. Die Dynamik, welche der Substanz aufgrund ihrer kausalen Urkraft innewohnt, ist nur da zusammen mit dem Bewirkten – die natura naturans nur zusammen mit der natura naturata, das Produzieren nur mit seinem Produkt. »Alle Dinge«, wie es im Zitat hieß: das ist der Ausdruck für das Zweite, Abhängige in diesem Gesamtgeschehen; und »in demselben Sinne« sind diese kausal wie essentiell abhängigen Dinge, also die Modi, die Substanz selbst, nämlich als Bewirktes, Bestimmtes, Gesetztes ihrer eigenen Bestimmungsmacht: »Alles, was da ist [existiert], drückt Gottes Natur oder Wesen [essentia] auf gewisse und bestimmte Weise aus« (1p36dem).9 Dies also ist die Existenz der Substanz: deren eigene Bestimmung, Einschränkung und Verendlichung – und diese Existenz ist gleich notwendig wie das Wesen der Substanz als solcher, denn dass dieses Wesen die Existenz einschließt [involvit], ist nach 1def1 äquivalent der causa sui. Die Aussage über das Ganze der spinozanischen Substanz lautet also dahingehend, dass sie ihre volle Wirklichkeit nur in der Identität mit sich in ihren Modi hat, und zwar dadurch, dass sie diese Modi unter allen Attributen auch selbst hervorgebracht hat als ihre reale Selbstbestimmung und Selbstaffektion. Dass ihre essentia ihre existentia involviert, bedeutet hier also nicht, wie im cartesischen Gottesbeweis der V. Meditation, die Sicherung der Existenz eines aparten 9
Damit wird nur weiter verdeutlicht, was bereits 1p15 in äußerster Allgemeinheit gesagt hat: »Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden.« Unter dieses »alles« fällt also auch jeder Gedanke, jeder Affekt, jede Empfindung der mens humana, so dass alle Bestimmtheiten, in denen der menschliche Geist ihrer bewusst werden kann – obwohl er sie nur in seiner eigenen Erfahrung und Reflexion jemals finden kann –, in Wahrheit nichts anderes sind als der ins Unendliche der Kausalkette des Endlichen (1p28) ausgespannte »Ausdruck« der Kausalität der göttlichen Substanz, die alles unmittelbar oder (im Endlichen) unendlich vermittelt erzeugt. Der menschliche Blick auf all das durch die Substanz Erzeugte ist selbst ursprünglich so erzeugt, und ebenso das Handeln und »Wirken« (operari) des Menschen als Teil der Welt der Modi. Metaphysisch kann dieses modale Subjekt Mensch kein wahrhaft »selbständiges Sein« (Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen. Hamburg 1992, z. B. 32) haben, sondern immer nur ein abgeleitetes, eben als besonderer »Ausdruck« der ursprünglichen Macht der einen Substanz. Darin, dass diese besonderen Qualitäten und Möglichkeiten nur in der Erfahrung vorgefunden, nicht aber als solche gemäß ihrer vorausgesetzten metaphysischen Wahrheit dadurch erkannt werden, dass sie aus dem (Begriff des) Absoluten abgeleitet werden, mit anderen Worten: dass ihre reale Entstehung nicht als die Erzeugung erwiesen wird, die sie doch der metaphysischen Voraussetzung nach ist, sondern als eine Art Anthropologie zweiter Stufe entwickelt werden muss, – darin liegt eben das Grundproblem der Philosophie Spinozas als Wissen und Erkenntnis. Dieses Problem ist konsequenter Ausdruck eines unvermeidlichen methodischen Zwiespalts, in den auf verschiedene Weise alle Substanz-Metaphysiken der Neuzeit vor Kant geraten. (Dazu Klaus Erich Kaehler: Leibniz – der methodische Zwiespalt der Metaphysik der Substanz. Hamburg 1979, bes. Kap. IV b: »Die Rolle der Erfahrung«, 98–104; sowie ders.: Leibniz’ Position der Rationalität. Die Logik im metaphysischen Wissen der »natürlichen Vernunft«. Freiburg/München 1989, § 11b: »Die Situierung des endlichen Vernunft-Wissens in der existierenden Welt: Erfahrung und natürliche Religion«, 465–485).
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absoluten Wesens, außer dem die Welt als seine äußere Wirkung in der entsprechenden abhängigen Weise existiert. Vielmehr ist das, was ›Welt‹ heißt, die Existenz dieses absoluten Wesens selbst, dessen Wahrheit zu begreifen ist als Einheit seiner reinen Substantialität mit der Totalität alles dessen, was daraus »folgt«, bzw. was die Substanz ihrem Wesen nach »involviert« – nämlich eben ihre Existenz: Genau nur darin »drückt sich das Wesen Gottes auf gewisse und bestimmte Weise aus«. Mit dieser Gesamtkonzeption der Substanz hat Spinoza auch für das All der Realität genau die spekulative Form zu denken gegeben, deren inhaltliche Erfüllung und Entwicklung Hegel als ›Subjekt‹ an die Stelle der ›Substanz‹ setzen und damit den von Descartes bereits inaugurierten Grundlegungssinn vollenden wird. Denn die Grundstruktur der spinozischen Substanz als ganzer ist formal – nicht inhaltlich und qualitativ – die der cartesischen res cogitans: Ihre Identität mit sich erfüllt und affirmiert sich in ihren selbst erzeugten Bestimmungen, in denen sie sich auf sich bezieht. Diese Reflexion ist jedoch keine des Wissens der Substanz von sich, sondern deren ontologische Struktur. Die formale Grundstruktur des Subjekts erhält hiermit ihre Erweiterung auf das Ganze des Seienden, sie wird metaphysisch vorgestellt als reines, absolutes, an sich seiendes, wenngleich in sich unendlich dynamisches Objekt. – Diese Grundstellung des philosophischen Erkennens zu seiner Sache verlässt auch Leibniz nicht. Er holt jedoch die subjektive Qualität des substanziellen Seins, die Descartes in der res cogitans an den Anfang der Philosophie gestellt hat und die bei Spinoza zu einem Modus herabgesetzt wird, in die Grundbestimmung der Substanz ein. – Dieser Unterschied sei noch kurz umrissen, um die Substanz-Metaphysik der Neuzeit in ihrer Entwicklung vor Kant, auf welche die aufnehmende und aufhebende Kritik Hegels zielt, zugleich als Weiterentwicklung des Subjekt-Prinzips in der Sache und ihrer Methode erkennbar zu machen.
c) Die Vereinigung von ontologischer und subjektiver Reflexion bei Leibniz Ist bei Spinoza das cogitare nur eines der unendlichen Attribute der Substanz, so wird es durch Leibniz ausdrücklich zum innersten Wesensmerkmal dessen, was ›Substanz‹ heißen darf; und da es einen absolut höchsten Grad des cogitare gibt, bildet dieses auch das Maß für den Grad der Realität einer Substanz. Die Wirkmächtigkeit der Substanz Spinozas zieht sich zusammen auf das agere in se ipsum, als welches Leibniz das cogitare begreift,10 10
So z. B. G.W. Leibniz: Textes inédits. Hrsg. v. G. Grua. Paris 1948.
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und insoweit dieses actu vollzogen wird, ist das cogitans ratio sui: »Denken heißt, […] Grund seiner selbst sein«.11 Mit diesem Wesen ist schon gesetzt, was Leibniz als die andere Grundbestimmung der Substanz angibt, nämlich die Einheit. Denken kann nur, was im Vollzug des Denkens verschiedener Inhalte mit sich identisch ist. Mit der Gradualität der Tätigkeit aus je einer Einheit heraus verbindet sich die Vervielfältigung der Substanzen. Sie bedürfen einander nicht, um zu existieren, da sie je einem eigenen inneren Prinzip unterstehen, das die Abfolge ihrer Vorstellungen, der Perzeptionen, regelt. Das cogitare wird dabei selbst gradualisiert je nach dem Grad der Deutlichkeit, Klarheit oder Dunkelheit der Perzeptionen. Der höchste Grad aber ist derjenigen Substanz vorbehalten, deren Aktuosität sich ausschließlich in intuitiv-adäquatem Denken alles an sich oder logisch Denkbaren vollzieht. Vom Einsehen, Wollen und Vollbringen dieses göttlichen Geistes, wie die höchste Substanz ausdrücklich heißt, hängen Wesen und Existenz alles übrigen Seienden ab, direkt die geschaffenen Monaden, indirekt deren Phänomene, welche die körperliche Welt bilden. Dass die Monaden die selbstbezügliche Struktur der res cogitans und damit des Subjekts aufweisen, erhellt schon aus ihren Grundbestimmungen Perzeption, Appetitus und ursprünglich tätige Kraft. Doch das Entscheidende für die Architektonik des leibnizschen Universums und für den damit vollzogenen Schritt in der Entfaltung des Subjekt-Prinzips ist zweifellos die genannte Lehre von der Ultima Ratio: Sie setzt dem Universum der Monaden einen absolut rational agierenden letzten Grund, eben den göttlichen Geist, voraus. Auch für Leibniz ist die Substanz im eminenten Sinne allein der so gedachte Gott – den er jedoch, anders als Descartes und Spinoza, so voraussetzt, dass seine Wirklichkeit nichts anderes ist als die Aktuosität der Vernunft, gegliedert in die Scientia possibilium als Inhalt der simplex Intelligentia, und die Scientia Actualium, in der Gott mit einer cognitio reflexiva das Beste aus allem Möglichen erkennt und sich seines Beschlusses (decretum), dieses Bestmögliche zur Existenz zuzulassen, bewusst ist.12 So denkt Leibniz’ Metaphysik der natürlichen Vernunft die absolute Substanz, den letzten Grund, die originatio radicalis13 von allem, als absolutes Subjekt. Für das Denken der Metaphysik kann dieses absolute Subjekt jedoch nur Objekt sein. Es ist im Sein, welches der Vollzug dieser absoluten ratio sui wäre, von ihm getrennt und uneinholbar. 11
»Cogitare est […] esse rationem sui«. Ders.: Sämtliche Schriften und Briefe (A). Hrsg. v. d. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Reihe VI: Philosophische Schriften. Berlin 1926 ff., II, 283. 12 G.W. Leibniz: Die philosophischen Schriften I–VII (GP). Hrsg. von C.J. Gerhardt. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1875–1890, Hildesheim 1965. 13 GP VII, 302 ff.
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Aus diesen Grundzügen der Bestimmung der Substanz bei den drei Hauptvertretern der neuzeitlichen Substanz-Metaphysik lässt sich erkennen, dass bei keinem von ihnen die ›Substanz‹ so abstrakt und reflexionslos als bloße Unmittelbarkeit gedacht wird, wie Hegel es im Ansatz seiner Formel, die Substanz müsse Subjekt werden, zunächst unterstellt,14 um dann jedoch am Substanzbegriff selbst die Momente zu unterscheiden, die in ihrem Zusammenhang die spekulative Struktur ergeben, deren volle reflexive Entfaltung und in begrifflicher Bestimmung erfüllter Inhalt als ›Subjekt‹ bezeichnet wird. So wird dieser Begriff zwar über die vorkantische Substanz-Metaphysik hinausgehen, aber nur, um dieses Hinausgehen als Konsequenz aus der Analyse des vorherigen Grundbegriffs selbst zu entwickeln. Mit der vollen Entfaltung des Subjekts als der »wahrhafte[n] Substanz« (PhG Vorrede, Abs. 32, 3.26) geht es zugleich darum, dass »das Erkennen der absoluten Wirklichkeit sich über seine Natur vollkommen klar« werde (Abs. 16, 3.22).
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Es sei hier schon angemerkt, dass Hegels Kritik des Substanzbegriffs bei Spinoza im folgenden nicht auf den Vorwurf reduziert werden soll, dass Spinoza zufolge »alle Unterschiede und Bestimmungen der Dinge und des Bewusstseins nur zurück« in die eine Substanz gingen, dass »alles nur in diesen Abgrund der Vernichtung hineingeworfen« werde, dass »nichts heraus« komme (so in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie«, 20.166; vgl. 173, 180 ob.). Demgegenüber zeigt die Stellung, die Hegel Spinoza in der WdL (Lehre vom Wesen, Anmerkung zum 1. Kap. des 3.Abschnitts) gibt, dass er die in der Ausführung bei Spinoza implizierte spekulative Struktur der Substanz erkannt hat. Die eigentliche, zum Begriff des Subjekts führende Kritik knüpft jedoch gerade daran an, wie im folgenden zu zeigen ist. Dieser Fortgang wird in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes sogleich als direkte Exposition des spekulativen Begriffs des Subjekts und näher des Geistes ausgeführt (dazu s. unten); doch er kann begrifflich und methodisch zureichend nur in der Wissenschaft der Logik erfolgen. Hier wird der Begriff der Substanz erst eingeführt für die reflektierte Unmittelbarkeit des Absoluten (»die Wirklichkeit«), worin die zuvor entfalteten Begriffe von Wesen und Existenz aufgehoben sind zur Einheit und dann weiter entwickelt werden zum Begriff der »absoluten Notwendigkeit«, als welche die Substanz in sich selbst als absolutes Verhältnis bestimmt werden muss. So werden hier Begriffe, mit denen Spinoza die Substanz sogleich definiert (1def1), wie Wesen und Existenz, in einer logischen Genese abgeleitet und auf der Stufe der neuen Unmittelbarkeit des Ganzen gerechtfertigt für die Setzung und Entwicklung seiner Momente. In diesem Sinne kommt etwas »heraus«, das begreifbar ist als dem Wissen immanente Entwicklung der Gesamtwirklichkeit dessen, was unter dem Begriff ›Substanz‹ zu denken ist: eine Entwicklung nicht nur als ontologisches, an sich seiendes Geschehen, sondern dieses selbst nur als Entwicklung des Sich-Wissens, das in allen Momenten und Differenzen des Ganzen sich vollbringt. – Mit diesem Unterschied zu Spinoza in der begreifenden Darstellung der Sache hängt zusammen, dass und warum Hegel die Differenzierungen, d. h. Weiterbestimmungen der Substanz einer »äußerlichen Reflexion« bzw. einem »äußerlichen Verstand« zuschreibt: Sie werden nicht eingeführt und erwiesen als Selbstbestimmungen des Dargestellten. Wird Hegel so ernst genommen wie Spinoza, so schwindet der Schein, Hegel habe »falsch interpretiert« (vgl. die folgende Anm.). Er reflektiert vielmehr, was Spinoza getan, weil gesagt hat. (Zur »Äußerlichkeit« der bestimmenden Reflexion bei Spinoza s. u. Anm. 18).
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2. Hegels Anerkennung der Substanz-Metaphysik, insbesondere derjenigen Spinozas Wenn Hegel »das Wahre« statt als ›Substanz‹ als ›Subjekt‹ bestimmt, so geht es ihm der Sache nach, wie er in der WdL mit Bezug auf Spinoza ausdrücklich sagt, um die Widerlegung einer philosophischen Position aus ihrem Prinzip und ihren Grundbestimmungen. Eine solche Widerlegung ist nach Hegel jedoch nur dann geleistet und gerechtfertigt, wenn die kritisierte Position zuerst »als wesentlich und notwendig anerkannt« (6.250) wird, um dann »aus sich selbst auf den höheren [Standpunkt] gehoben« (ebd.) zu werden. Um also angemessen zu verstehen, worin Hegel einen Mangel der SubstanzMetaphysik sieht, ist es zuerst notwendig, zu bestimmen, was er daran als »wesentlich und notwendig« begriffen hat. Dies ist nun zunächst gar nicht die spekulative Struktur als solche, in der sich der Begründungszusammenhang der Metaphysik Spinozas entwickelt, sondern was Hegel stets zuerst hervorhebt, ist die Absolutheit der Substanz, außer der nichts wahrhaft selbständig sein kann, so dass, was immer von ihr zu unterscheiden sei, also alles Bestimmte, Mannigfaltige, Endliche, seine Wahrheit allein in der Substanz erhalte, für sich genommen aber »nichtig« sei. So ausgedrückt, ist sogleich erkennbar, dass die Substanz hier nur gefasst ist als Abstraktion von allem, was durch sie »zur Existenz und zum Wirken bestimmt ist« (1p28dem), – was aber so zu ihr gehört, wie sie Ursache ihrer selbst ist und ihr Wesen ihre Existenz einschließt (s. ob.). Um dieses grundlegende Verhältnis der Substanz als des Absoluten zu seiner Differenz, weil Bestimmtheit – wozu auch das endliche Erkennen gehört –, dreht sich die ganze Kritik, und damit auch die angemessene Beurteilung dieser Kritik. Insofern die absolute Substanz, Gott (1def6) oder das »absolut Unendliche« – genau nur als solches – keine Negation einschließt (ebd., expl.), so ist es, vom Endlichen her ausgedrückt (das dann allerdings schon – zu Unrecht – als irgendwie seiend »vor« oder außer der Substanz vorausgesetzt wäre), auch »das Nichtbesonderte« (ebd.), nämlich die Negation (Aufhebung) des Besonderen als des Endlichen, also des Negativen; und darin sieht Hegel »das Großartige der Denkungsart des Spinoza, auf alles Bestimmte, Besondere verzichten zu können und sich nur zu verhalten zu dem Einen, nur dies achten zu können« (20.167), – diese »Denkungsart« sei der wahre Anfang aller Philosophie – »das Denken [muss] sich zuerst auf den Standpunkt des Spinozismus gestellt haben […]; das ist der wesentliche Anfang alles Philosophierens […]. Es ist diese Negation alles Besonderen, zu der jeder Philosoph gekommen sein muss; es ist die Befreiung des Geistes und seine absolute Grundlage«; und deshalb sagt Hegel auch: »Die Seele muss sich baden in diesem Äther der
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einen Substanz, in der alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist.« (20.165)15 Mit all dem erkennt Hegel an, dass die abstrakte Allgemeinheit, die als solche indifferent gegen alle Bestimmung und Unterscheidung ist, das grundlegende Element auch des begreifenden Denkens (und damit dessen, was Hegel als »dialektische Begriffsentwicklung« systematisch zur Ausführung bringt) sei. Aber er verlangt zugleich, dass der Fortgang von diesem Anfang nicht 15
Diese Wertschätzung des spinozischen Grundbegriffs ist natürlich zu begreifen und zu bedenken im Zusammenhang mit dem »sich vollbringenden Skeptizismus« des »natürlichen Bewusstseins«, das an sich bereits das »erscheinende Wissen« – nämlich das Absolute (der Geist) in seiner Entzweiung und darum Endlichkeit – ist, dem jedoch zunächst »dasjenige das Reellste ist, was in Wahrheit vielmehr nur der nicht realisierte Begriff ist« (PhG, Einl., 3.72), das aber auf dem »Weg der Verzweiflung« (an seiner bisherigen Wahrheit) gerade seine »Bildung […] zur Wissenschaft« (3.73) erfährt. Ebenso entspricht der »Entschluß, rein denken zu wollen« (Enz. § 78 Anm., 8.168) jenem »wesentlichen Anfang alles Philosophierens«, denn auch er wird »durch die Freiheit vollbracht, welche von allem abstrahiert und ihre reine Abstraktion, die Einfachheit des Denkens, erfasst« (ebd.). Ferner entspricht im Geist als solchem diese Freiheit zur absoluten Abstraktion auch dem ersten Moment, der universellen »Grundlage« des Willens (s. RPh § 5, 7.49 ff.). – Von diesen Zusammenhängen, die die zitierten hegelschen Hochschätzungen des spinozischen Grundbegriffs als tief mit Hegels philosophischem Wahrheitsbegriff und näher mit seiner Methode dialektischer Begriffsentwicklung verbunden erkennen lassen, darf gar keine Notiz genommen haben, wer meinen kann, die erwähnten Äußerungen seien »eher erbauliche [was sie als Anfang des spekulativen Begreifens gerade nicht sind!] Wendungen ohne konkreten Gehalt, die Spinozas Philosophie in einer Weise stilisieren [!?], dass dabei allenfalls ein den originären Spinoza eigentümlich verfremdender Spinozismus herauskommt.« (Wolfgang Bartuschat: Nur hinein, nicht heraus. Hegel über Spinoza. – In: D.H. Heidemannn/ Ch. Krijnen (Hrsg.): Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt 2007, 102). Die hier beanspruchte Deutungshoheit über »den originären Spinoza« ist jedoch zu bestreiten, ebenso wie der angeblich »unbestrittene Stand der Forschung« hinsichtlich Hegels falscher Interpretationen »in grundlegenden Theoriestücken« (ebd.). (Zur gründlichen und differenzierten Sichtung der Forschungslage bis 1982 sei verwiesen auf Klaus Düsing: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt 1983, 161–170.) – Komplementär zu der Verkennung des Grundes für Hegels Hochschätzung des spinozischen Grundbegriffs verhält sich bei Bartuschat die Unterschätzung (bzw. auf das Ganze gesehen sogar Ignorierung) der spekulativen Stringenz der substanzmetaphysischen Grundlegung für das Ganze, also unbedingt auch für die »Welt der Modi«, den menschlichen Geist und die für ihn unhintergehbare Erfahrung – auch wenn die mens humana in der Tat nicht vermag, den Realitätsgehalt ihrer Erfahrung aus dem Absoluten abzuleiten, so bleibt doch die metaphysische Voraussetzung in Geltung, der zufolge alles, was überhaupt zu unterscheiden und zu wissen ist, ein Ausdruck der (Bestimmungs-)Macht der Substanz ist. Dieses Ansich und jenes Für-uns können nicht gegeneinander verselbständigt werden zu zwei verschiedenen Ursprüngen (bzw. »Ausgängen«, die nach Bartuschat gegeneinander selbständig sein sollen, nur weil das endliche Erkennen für sich in der Tat qualitativ irreduzibel ist). Damit wird das hier vorliegende Problem der realen Erkenntnisbegründung (s. ob. Anm. 8) gar nicht adäquat gestellt und deshalb so wenig gelöst, dass vielmehr der Weg zur Lösung versperrt wird, die dem »originären Spinoza« adäquat nur sein kann unter konsequenter Berücksichtigung der spekulativen Begründungsstruktur, wie sie sich auch bereits im Substanzbegriff von Descartes und Leibniz gezeigt hat (s. ob. Abschnitt 1).
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durch Bestimmungen gemacht wird, die außer der Reichweite der Negativität dieser »Grundlage« – als absolute Abstraktion von aller Bestimmtheit – lägen; denn dies würde zugleich bedeuten, dass der Anfang nicht radikal, nicht wahrhaft absolut gedacht bzw. gesetzt wäre – nicht als das Ganze in der gehörigen totalen Unbestimmtheit, die seine einzig angemessene Bestimmtheit ist. Alle weitere Bestimmung ist dadurch präjudiziert als Setzung des in der absoluten Abstraktion Negierten, eine schrittweise Aufhebung der Unbestimmtheit des »Absoluten«, das als wahrer Anfang gerade über sich hinaus drängt zur Setzung seiner Negativität, so dass diese sich auf sich bezieht und dadurch im nächsten Schritt zu setzen ist als bestimmte Negation des Ersten, Unbestimmten. Dieses wiederum ist darin als Bestimmtes und somit Negiertes zugleich erhalten: Alle Bestimmung ist Fortbestimmung des Selben, der »Grundlage«, aus ihr selbst.16 Damit ist jedenfalls formal ein Kriterium eingeführt, demzufolge ein Fortgang der begrifflichen Bestimmung der Sache durch eine Synthese zweier zunächst selbständiger Bestimmungen als unzureichend zu kritisieren ist. So liegt denn auch das Unzureichende des Fortgangs bei Spinoza für Hegel in der Weise, wie die Substanz, das an sich Absolute, sowohl an ihr selbst als auch in der Beziehung auf das durch sie Produzierte, das Endliche, bestimmt wird.17 Der Übergang von der Hochschätzung des Absolutheitscharakters der Substanz zur Kritik ihrer begrifflichen Bestimmung und Entwicklung, d. h. der Weise, in der sie erkannt wird, wird deutlich in der Anmerkung zum 1.Kapitel des 3.Abschnitts der »Lehre vom Wesen«. Hier erkennt Hegel an, dass die »Begriffe, die Spinoza von der Substanz gibt«, »tief und richtig« seien, 16
Diese allgemeine Struktur der spekulativen Begriffsentwicklung wird bereits im Vorspann zur Lehre vom Sein (»Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?«) exponiert: »Der Fortgang […] von dem, was den Anfang macht, ist nur als eine weitere Bestimmung desselben zu betrachten, so dass das Anfangende allem Folgenden zugrunde liegen bleibt und nicht daraus verschwindet. Das Fortgehen besteht nicht darin, dass nur ein Anderes abgeleitet oder dass in ein wahrhaft Anderes übergegangen würde; – und insofern dies Übergehen vorkommt [gemäß der Begriffsentwicklung in der Logik des Seins], so hebt es sich ebensosehr wieder auf. So ist der Anfang der Philosophie die in allen folgenden Entwicklungen gegenwärtige und sich erhaltende Grundlage, das seinen weiteren Bestimmungen durchaus immanent Bleibende.« (5.71) 17 Dass sowohl in der Substanz als absoluter Kausalität als auch in allem derart Hervorgebrachten selbst die für alles metaphysische Begreifen wesentliche Negativität von Spinoza gedacht (und mitzudenken verlangt) wird, besagen unübersehbar die Axiome 1 und 2 des Ersten Teils der Ethik.: »Alles, was ist, ist entweder in sich oder in einem Anderen«; und (etwas umformuliert): Alles, was ist, wird entweder durch sich oder durch Anderes begriffen. Damit ist an allem, auch an der Substanz, eine Differenz als notwendig (konstitutiv) für Sein und Begreifbarkeit zugrunde gelegt, so dass weder die Substanz noch irgend ein Modus ohne diese Differenz, deren Einheit ein jedes ist, sein und begriffen werden kann.
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und er zitiert die folgenden Grundbestimmungen: »[…] Ursache seiner [ihrer] selbst, – dass sie das ist, dessen Wesen die Existenz in sich schließe, – dass der Begriff des Absoluten nicht des Begriffs eines Anderen bedürfe, von dem er gebildet werden müsse« (6.196). Diese Begriffe der Substanz bestimmen sie nun aber nicht mehr nur als »einfache gediegene Identität des Absoluten« (6.187), worin »alle Bestimmtheit des Wesens und der Existenz oder des Seins überhaupt und der Reflexion aufgelöst« (ebd.) ist. Vielmehr ist die Substanz bestimmt jeweils als Einheit Unterschiedener, so dass beide Seiten der Unterscheidung für sich genommen Abstraktionen sind. Während jedoch in der Abstraktion des Wesens von der Existenz und der Ursache von ihrer Wirkung gerade die jeweilige Priorität des ersten Gliedes der Unterscheidung hervortritt, zeigt sich umgekehrt in der Abstraktion der Existenz vom Wesen bzw. der Wirkung von der Ursache die Abhängigkeit dieser Momente von dem, wovon sie abstrahiert sind. Das aber bedeutet: Die erste Seite kontinuiert sich auch jeweils in der anderen, sei es positiv: die Ursache ist in der Wirkung dasjenige, wodurch diese ist; das Wesen schließt die Existenz ein; sei es negativ: das Absolute bedarf keines Anderen, bezieht sich also auf alles, was nicht es selbst wäre, ausschließend; was wiederum bedeutet – da die Substanz mit allem, was von ihr abhängt (»aus ihr folgt«; »von ihr zur Existenz und zum Wirken bestimmt wird«; sie »ausdrückt«), das einzig wahrhaft Seiende ist –: jenes, das sie nicht selbst wäre, ist überhaupt nicht. Mit diesen Bestimmungen der Substanz aus der Einheit differentieller Momente, die in ihrer Untrennbarkeit gesetzt sind als aufgehoben, ist zwar die spekulative Dimension eröffnet, doch ist in diesen Grundformeln die Einheit derjenigen ursprünglichen Differenzen, aus denen dem metaphysischen Anspruch nach alle weiteren allein begründet werden können, nur unmittelbar ausgesprochen, also nur abstrakt vorausgesetzt, ohne dass die Differenzierung dieser Einheit aus ihrem Begriff entwickelt wird. An diesem Punkt schlägt deshalb Hegels Anerkennung dieser Begriffe um in Kritik.
3. Hegels Kritik der Substanz-Metaphysik Spinozas So sehr Hegel die Absolutheit der spinozischen Substanz, der alles untergeordnet, weil es von ihr auf irgendeine Weise abhängig ist, anerkennt, so sehr kritisiert er doch im nächsten Schritt, dass nach seiner Deutung Spinoza den Wahrheitsgehalt der Substanz nur in ihrer Unabhängigkeit und »reinen«, negationslosen Unendlichkeit (s. die zitierte explicatio zu 1def6) sieht. Der so gefasste Begriff der Substanz ist, wie sich zeigte, in der Tat nur die Abstraktion aus dem gesamten Verhältnis, in dem die Substanz sich zu sich
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selbst verhält – in der Abstraktion die eine Seite, deren andere Seite jegliche Differenzen bilden, also 1. sowohl die unendlichen Wesensformen, d. h. die Attribute in ihrer Verschiedenheit voneinander mit »allem, was aus der absoluten Natur irgendeines Attributes Gottes folgt« (1p21), also die unendlichen Modi (1p16, 21–23), als auch 2. überhaupt alles, »was zur Existenz und zum Wirken bestimmt ist«, d. h. alles Endliche in seiner besonderen Bestimmtheit; denn auch dieses »musste folgen oder zur Existenz und zum Wirken bestimmt werden von Gott oder irgendeinem Attribut desselben, wiefern dieses durch eine Modifikation modifiziert ist, welche endlich ist und ein bestimmtes Dasein hat« (1p28dem). Wird mit dem Gedanken Ernst gemacht, dass sich solche Formulierungen Spinozas nur »spekulativ« begreifen und durchhalten lassen (s. ob. Abschnitt 1b) – dem Gedanken also, dass die Substanz ihre volle Entwicklung, ihre Gesamtwirklichkeit erst in den Attributen und deren Modi hat, in denen sie nämlich sich selbst ihre reale Erfüllung erst gibt, so scheint der Vorwurf Hegels, Spinoza würde alles Besondere, Bestimmte und Unterschiedene in der absoluten Einheit der Substanz nur »verschwinden« lassen, ungerechtfertigt. Doch in welchem Sinne hat Hegel dieses »So geht alles nur hinein, nicht heraus« (20.173 ob.) überhaupt gesagt? Die Pointe dieses Ausspruchs muss darin gesehen werden, dass die Aufhebung der ontologischen Selbständigkeit alles Endlichen zwar wahr ist, dass diese Aufhebung jedoch nicht als eine völlige Vernichtung zu verstehen ist,18 sondern dass vielmehr auch umgekehrt von der Substanz aus im Erkennen selbst zu erweisen ist, wie das Endliche und Einzelne in seiner ihm zukommenden geordneten Mannigfalt und relativen Eigenbedeutung (s.u. Anm 21) aus der unendlichen produktiven Macht der Substanz hervorgeht. Dies aber ist bei Spinoza gemäß der Stellung des Erkennens, das an die mens humana gebunden ist, unmöglich. Statt diese Gegenbewegung vom Unendlichen zum Endlichen, dem Setzen der Substanz in ihren Modi, als ihre Selbstrealisation im Besonderen darzustellen, wird von Anfang an alles derart Unterscheidbare als immer schon da seiend vorausgesetzt, mit einer Positivität zweiter Hand aus der Erfah-
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Wenn Hegel das Endliche seinslogisch als »ideell«, als »ein nicht wahrhaft Seiendes« bezeichnet (5.172), so trifft das genau die metaphysische Bestimmung des Endlichen bei Spinoza: Es existiert nicht durch sich selbst (a se), sondern ab alio, von dem es auch seine – unmittelbare oder vermittelte – Bestimmtheit erhält. Die »Welt« aber ist die Totalität des Endlichen, und so hat der Ausdruck ›Akosmismus‹ bei Hegel eben diesen Sinn, dass die Welt ontologisch nichts wahrhaft Selbständiges ist, sondern mit Spinoza die Existenz der Substanz, die Wirkung ihrer eigenen Kausalität, die natura naturata ihrer selbst als natura naturans. Akosmismus meint also keineswegs eine Leugnung, Nichtexistenz der Welt, wie Bartuschat unterstellt, wenn er immer wieder betont, dass Hegel damit »Unrecht«, »falsch interpretiert« habe.
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rung aufgenommen und inhaltlich in die Darstellung eingebracht, gleichsam als Ersatz für den Mangel an Einsicht in den substanziellen Ursprung aller Realität.19 Insofern ist die spekulative Struktur der Substanz als dem Wahren und Absoluten, soweit sie an den grundlegenden Ausführungen Spinozas, in denen die Substanz in ihren Attributen und Modi entwickelt wird, zumindest als notwendiges Implikat erwiesen werden konnte, doch nicht ausreichend für den inhaltlichen Erweis der Wahrheit dieser spekulativen Struktur. Die Differenz zu Spinoza, auf der die Hegelsche Kritik im Grunde beruht, lässt sich also ausmachen an dem Verhältnis, welches das philosophische Erkennen zu dieser an sich spekulativen Struktur bei Spinoza einnimmt: Die spekulative Form der Sache selbst ist nicht die Form, in der diese erkannt
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Soll damit nicht die Priorität der substantiellen Kausalität in allem aufgehoben oder zumindest durchbrochen werden, dann kann es sich hier nicht um einen völlig eigenständigen, durch sich gültigen zweiten Anfang handeln, wie W. Bartuschat behauptet: »Um das wirkliche Sein (esse actuale) des menschlichen Geistes bestimmen zu können, startet Spinoza dort [Eth. 2p11] einen Neuanfang […], in dem Spinoza, nicht von oben fortschreitend, sondern gleichsam von unten her, von der wirklichen [sic!] Verfassung des menschlichen Geistes in dessen Faktizität, die Weise beschreibt, in der der Mensch erkennt« (Wolfgang Bartuschat: Nur hinein, nicht heraus (Anm. 14), 109). Da hier die endliche Perspektive des Menschen auf das All der substanziellen und abgeleiteten Realität »wirklich« genannt wird, soll damit offensichtlich eine eigenständige, also nicht von der Macht der Substanz gesetzte Stellung und Sicht des erkennenden Subjekts – qua mens humana – etabliert sein, obgleich doch unbestreitbar die »Wirklichkeit« aller Modi, also überhaupt alles Seiende und Erfahrbare, als nur in und durch Gott seiend von Spinoza behauptet wird. Spinozas direkter Rückgriff auf die Erfahrung für alle Bestimmung und Unterscheidung der Substanz und der durch sie generierten Realität, ist der konsequente Ausdruck der Situierung seines Erkenntnis-Subjekts im Ganzen des Seienden. So ist schon die Bestimmung der beiden Attribute »empirisch aufgenommen«, wie Hegel mit Recht sagt (6.196). W.G. Jacobs (Faktizität und System. Überlegungen zu Spinozas »Ethik«. – In: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), 583–589) wendet diesen Befund grundsätzlich kritisch gegen Spinoza. Ein Problem liegt darin jedenfalls insofern, als auch alles, was in der Erfahrung und allen inadäquaten Ideen dem endlichen Subjekt je bewusst werden und geschehen kann, an sich bereits »Ausdruck« der göttlichen Macht sein muss, der metaphysischen Voraussetzung gemäß, dass jedoch dieser Ausdruck nicht aus seiner vollständigen Vermittlung, seiner konkreten Entstehung im universalen Geschehen verstanden werden kann. Damit sind in der Tat zwei Ansätze der (»menschlichen«) Erkenntnis anzuerkennen, einer aus der Vernunft, der zu den abstrakt allgemeinen Lehren und Begriffen der Metaphysik führt, und einer, der komplementär, »gleichsam von unter her« (Bartuschat, ebd.), die Bestimmtheiten des Besonderen zur Kenntnis bringt. Aber damit ist die Kontinuität des Vernunft-Wissen jedenfalls zerrissen, obgleich zu diesem Wissen gehört, dass a parte rei alles mit allem zusammenhängt. Der epistemische Bruch kann diese Voraussetzung nicht außer kraft setzen; aus ihm folgt kein »Dualismus von Unendlichem und Endlichem« (Bartuschat, ebd.). Wohl aber sind die Prädikate der Substanz und ihrer Modi auf Grund empirischer Befunde – z. B. dass die Verschiedenheit der Attribute anzunehmen sei, weil »anders keine befriedigende Erklärung der Verfassung der Welt gegeben werden könnte« (Bartuschat, ebd.: 106) – zugeschrieben werden, ihrem reinen Vernunft-Begriff »äußerlich«. – S. zu diesem Grundproblem auch ob. Anm. 8.
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wird: Der Ursprung der Differenz und Negation wird nicht durch den Begriff des Absoluten selbst gerechtfertigt. So wird die Identität der Substanz mit sich als natura naturans im Bestimmten, Unterschiedenen und Endlichen zwar als Form des Seienden vorausgesetzt, sie hat aber im wirklichen Erkennen keine Konsequenz für dessen Bestimmtheit im Einzelnen, sondern nur für die generelle Selbsteinschätzung dieses Erkennens und seines Subjekts – der mens humana – als im Sein abhängig und in allen seinen Vollzügen begrenzt; und so werden die (im vorangehenden Abschnitt) zitierten Begriffe, durch deren Zusammenhang die Substanz unmittelbar in sich differenziert wird, als definierende Begriffe ebenso unvermittelt eingeführt. Dagegen wendet Hegel ein: »[…] das Absolute kann nicht ein Erstes, Unmittelbares sein, sondern das Absolute ist wesentlich sein Resultat« (6.196). Das Erste für das Erkennen und in ihm muss gerade das abstrakt Einfache, Unbestimmte sein, das, indem es dies ist, gegen alle Bestimmungen und Unterschiede gleichgültig ist, weil andernfalls jene bereits auch als etwas Erkanntes gelten müssten, das dann aber dem, was das Erste sein sollte, noch voraus läge. Darum und nur insofern lobt Hegel den ersten Gedanken (die erste »Setzung«) Spinozas, die absolute Substanz, weil vor oder außer ihr nichts als wahr und erkannt gesetzt ist. Alle Unterscheidungen, die folgen, sind und bleiben relativ darauf. Die Definitionen der Substanz aber setzen sie ihrem Begriff nach in Beziehung zu Bestimmungen, die nicht aus ihr gewonnen sind, sondern von einer »äußerlichen Reflexion« eingeführt werden, der Sache nach aber auch unmittelbar aufgehoben sind zur Einheit, welche die Substanz selbst ist. In dieser Einheit sind die definierenden Begriffe untrennbar, darum in ihrer verschiedenen Bedeutung aber auch wechselseitig voneinander abhängig, bedingt durch den (resp. die) jeweils anderen – so das Wesen durch die in es eingeschlossene Existenz, die Ursache durch die Wirkung, aber weiter auch die Substanz durch die Attribute, ja sogar diese durch ihre Modi – und umgekehrt. Aber ohnehin sind diese definierenden Begriffe, die zum Begriff der Substanz hinzukommen, ebenso wenig wie die Bestimmtheit der Attribute aus dem Begriff der Substanz selbst entwickelt. Einen Begriff, der dies ermöglicht, hat Hegel konsequenter Weise gefunden im Begriff des Subjekts – konsequenter Weise, wenn auf das geachtet wird, was grundbegrifflich in der Ersten Philosophie seit Descartes getan ist. Der Begriff des Subjekts bildet seit seiner sachgemäßen Einführung als res cogitans das Element, auf das alles Sein als zu erkennendes bezogen ist. Allem, was überhaupt in irgendeiner Weise erkennbar sein soll, ist vom »Subjekt« her, dem einzigen Ort des Vollzugs von Erkenntnis, eine Vorgabe sowohl seines Seins als auch seiner Erkennbarkeit gesetzt. Abstrakt gesagt, ist dieses Element – dessen Qualität, als existenzielle Beschaffenheit in der
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Vollzugswirklichkeit, die Gewissheit seiner selbst ist –, die notwendige Bedingung aller anderen wahren Wirklichkeit: keine Wahrheit ohne diese Gewissheit. Was dies für die Kritik der Substanz-Metaphysik bzw. als diese Kritik bedeutet, wird zuerst ganz deutlich und entschieden in der Vorrede zur PhG ausgeführt.
4. Hegels programmatische Erklärung der Substanz als Subjekt in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes Die immanente Anknüpfung der Kritik an das Kritisierte, die Hegel für eine »wahrhafte Widerlegung« fordert, wird in der Vorrede zur PhG so vollzogen, dass – nach einer Zurückweisung der einseitigen Bestimmung »des Wahren« und der entsprechenden Deutung der Substanz als bewegungs- und unterschiedsloser Unmittelbarkeit, sei es des Seins, sei es des Denkens – der Begriff der Substanz bereits als in sich differenziert aufgenommen und gesetzt wird,20 um dann deren Momente in ihrem inneren Zusammenhang als Bestimmungen des Subjekts zu deklarieren, dessen also, was Hegel zusammenfassend »das Wahre« nennt. Es ist nicht zu übersehen, dass diese Bestimmungen sich in der Tat als solche der im 1.Abschnitt beschriebenen Struktur der Substanz bei Descartes (hier nur für die res cogitans), Spinoza und Leibniz verstehen und in sie zurückübersetzen lassen, wenngleich zum Teil in einer neuen, reflektierten Begrifflichkeit. Diese Exposition beginnt mit dem Abs. 18, wo nun von der nicht mehr abstrakten, »bewegungslosen«, weil bloß unmittelbaren, sondern »lebendige[n] Substanz« gesagt wird, sie sei »das Sein, welches in Wahrheit Subjekt« sei. Dies bedeutet, dass sie nur wirklich ist, »insofern sie die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist« (Abs. 18). Verstehen wir in Bezug auf Spinoza das Setzen im Sich-selbst-Setzen als das producere, das naturare der natura naturans, so ergibt sich von selbst die bereits dargelegte Grundstruktur: Die Wirklichkeit dessen, was sich setzt, ist nur vollständig in dem Ganzen aus natura naturans und natura naturata, also Setzen und Gesetztsein, und zwar so, dass die natura naturata, also die Welt der endlichen Dinge, ihrer Bewegungen und Veränderungen, auch die Substanz selbst ist, nämlich, wie Spinoza sagt, die endlichen Dinge sind die Substanz, insofern in den Dingen die Substanz unter ihren Attributen »auf gewisse und bestimmte Weise (certo et determinato modo) ausgedrückt« wird. Dies wird auch im bereits zitierten 20
S. dazu den in Anmerkung 16 gegebenen Hinweis auf die entsprechende differentielle Grundbestimmung von Sein und Begriffenwerden von Allem, was ist, bei Spinoza selbst.
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Scholium zu Lehrsatz 25, Teil 1 betont: »[…] in dem[selben] Sinne, in dem Gott causa sui genannt wird, muss er auch Ursache aller Dinge genannt werden.« Von den Dingen aus gesehen bedeutet das zwar zunächst nur, dass sie ontologisch nicht selbständig sind. Ihre Wahrheit ist ihr Status als »Affektionen oder Modi der Attribute Gottes« (1p25c). Aber damit zugleich – und hierin liegt, wie sich zeigte, ihre spekulative Form – sind die Modi, von Gott her gesehen, dessen eigenes Gesetztsein, seine Bestimmungen, in denen er seine eigene durchbestimmte Existenz hat. Die Bewegung des »Sich selbst Setzens« ist also genau das, was zu denken ist, wenn die bereits beschriebene Grundstruktur des Ganzen der Spinozanischen Substanz-Metaphysik adäquat begriffen werden soll.21 Der zweite Teil des zitierten Satzes aus Abs. 18 der Vorrede PhG: »[…] oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst« macht dies noch deutlicher. Erstens: Die Wirkung der Substanz als Ursache, oder das Produkt ihres Produzierens als solches – mit Hegel gesprochen: als in sich Reflektiertes – ist ein Anderes zur Substanz als unmittelbarer Identität mit sich. Zweitens: die Substanz ist jedoch in diesem Anderen nicht verloren, sondern erhält darin gerade ihren »Ausdruck«, d. h. ihre Bestimmtheit. Deshalb ist das Ankommen in diesem Anderen ein »sich anders Werden«. Und drittens ist die darin bereits ausgesprochene Rückbeziehung der Substanz als Erstes, Unmittelbares im Zweiten, Vermittelten auf sich eben auch die »Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst«, also, wie Hegel kurz 21
Darum kann Hegel in der Wissenschaft der Logik (Lehre vom Wesen, 3.Abschn., Anm. zum 1. Kap.) sagen: »Dem Begriffe des Absoluten« – wie er in diesem Kapitel entwickelt worden ist – »entspricht der Begriff der spinozistischen Substanz.[…] Die Substanz dieses Systems ist eine Substanz, eine untrennbare Totalität; es gibt keine Bestimmtheit, die nicht in diesem Absoluten enthalten und aufgelöst [!] wäre; und es ist wichtig genug, dass alles, was dem natürlichen Vorstellen und dem bestimmenden Verstande als Selbständiges erscheint und vorschwebt, in jenem notwendigen Begriffe gänzlich zu einem bloßen Gesetztsein herabgesetzt ist.« (6.195) Hieraus wird noch einmal deutlich, inwiefern Hegel den Anfang bei Spinoza anerkennt, und zwar sogar noch einen Schritt weiter, indem er hier das Aufheben des Endlichen nicht nur als »Verschwinden«, sondern auch als Gesetztsein begreift, d. h. anerkennt. Dennoch liegt auch hier der Ansatz für die eigentliche Kritik darin, dass Spinoza nicht erweise, dass und wie die Substanz sich in Attribut und Modus differenziert, also auch sich verendlicht, sondern nur, dass – vom Endlichen aus – aller Unterschied und alles Mannigfaltige gar keinen eigenen Bestand habe, da es nur in alio sei. Wie beim Endlichen (seinslogisch) so auch beim Gesetztsein (wesens- bzw. reflexionslogisch) ist Hegels eigene Lösung dagegen die, dass er das Abhängige als Implikat des Vorrangigen aus dessen Begriff erweist, und zwar jedes Mal so, dass schon der Vollzug dieses Begriffs – der des Unendlichen/ der absoluten Reflexion – notwendig auf sein Anderes – das Endliche/ das Gesetztsein – führt und dadurch die Abhängigkeit sich auch umkehrt, so dass ein Wechselverhältnis entsteht, das dann im jeweils dritten Schritt als Selbstdiremtion/ Selbstsetzung des Ganzen unter einem neuen, höheren Begriff gefasst wird (Fürsichsein/ Grund bzw. absolutes Verhältnis).
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danach formuliert, die »sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst« (ebd.); und er fügt hinzu, nur diese, »nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche, ist das Wahre« (ebd.). Um zu erkennen, dass diese Gesamtstruktur, die Hegel als ›Subjekt‹ bezeichnet, expliziert, was der Substanzbegriff der vorkantischen Metaphysik bereits der Sache nach impliziert, mag zwar das bereits Ausgeführte hinreichend sein, doch sei noch ein Beleg hinzugefügt, der besonders deutlich macht, dass sowohl die »Bewegung des sich anders Werdens« als auch die »Vermittlung« dieses »anders Werdens« mit sich – nämlich der in der Vermittlung sich kontinuierenden substantiellen Tätigkeit (naturans) – der Sache wie der Form nach bei Spinoza unvermeidlich zu denken ist, wenn seine Konzeption kohärent und überhaupt verständlich werden soll. – Im Beweis des 28. Lehrsatzes, Teil 1 der »Ethik«, heißt es: »Was […] endlich ist und ein bestimmtes Dasein hat« – dass es das gibt, hat der Lehrsatz gerade behauptet, – »hat nicht von der unbeschränkten Natur irgend eines göttlichen Attributs hervorgebracht werden können; denn alles, was aus der unbeschränkten Natur irgend eines göttlichen Attributs folgt, ist unendlich und ewig (nach 1p21). Es musste also aus Gott oder irgendeinem Attribut desselben folgen, insofern dieses von einem gewissen Modus affiziert betrachtet wird.« Abgesehen von der scheinbaren Relativierung »…betrachtet wird…« – die Betrachtung enthält doch wohl Wahrheit, ist nichts Beliebiges – woher die Voraussetzung, dass »Gott oder irgendein Attribut« von einem Modus affiziert wird, wenn doch jeder Modus als endlicher erst dadurch existiert, dass er aus der Kausalität der Substanz (unter einem ihrer Attribute) folgt? Bevor er daraus folgen kann, müsste er schon da gewesen sein, um sein Attribut affizieren zu können – aus welcher Affektion er aber wiederum erst folgen, also überhaupt erst existieren soll bzw. kann. Die hier offenkundige Zirkularität kann nicht durch die Annahme einer Gleichursprünglichkeit der Substanz, des Unendlichen, und der Modi, des Endlichen, erklärt werden, denn es handelt sich nach der Voraussetzung um eine Folgebeziehung und nicht um die Behauptung, alles sei gleichermaßen von sich her da: Das eine soll rein unmittelbar, durch sich selbst sein; das andere aber soll nur vermittelt durch dieses Erste da sein. Das Erste muss also in dem Zweiten notwendig wirkend sein und bleiben und deshalb auch mitgedacht werden, aber nun nicht mehr als bloß Unmittelbares, und auch nicht nur als Anderes zum Zweiten, sondern so, dass es zusammen mit diesem, seinem Anderen, ist, was es ist – die causa sui also als causa rerum, aber reflektiert als die Einheit des ganzen dreistufigen Gefüges, die erst im Setzen und Aufheben ihrer Unterschiede, also nur als die Identität ihres ewigen Werdens, wahrhaft absolut ist.
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Nun ist allerdings aus dem Substanzbegriff in der Form, in der er bei Spinoza ausgeführt wird, gar nicht einsehbar, wie es dazu kommt bzw. immer schon gekommen ist, dass die Substanz in ihren Attributen überhaupt affiziert ist und als affiziert »betrachtet werden« kann: Die Behauptung dieses metaphysischen Faktums, dass die Substanz in ihren Attributen auch affiziert, modifiziert und damit verendlicht ist, impliziert logisch, dass an sich zum Ersten (Substanz/ Attribut) selbst ein schlechthin ursprüngliches Affizieren gehört. Dieses kann nicht von einem Modus kommen, da es einen solchen überhaupt nur gibt als Folge eines Affiziertseins. Die notwendige Kraft zum Affizieren und Bestimmen muss und kann nach den eigenen Voraussetzungen der gesamten Konzeption nur kommen und erklärt werden aus der Substanz in ihren Attributen, d. h. aus dem Ewigen und Unendlichen selbst – also als dessen Selbst-Affektion oder Selbst-Bestimmung. Damit entspricht sie genau dem, was bei Hegel das »sich anders Werden« ist, mit dem sich zu vermitteln wiederum das sich selbst Setzen der Substanz ist; und so gefasst, wäre diese grundsätzlich bereits das, was Hegel ›das Subjekt‹ nennt. Selbstaffektion, Selbstbestimmung, sich anders Werden – dies also ist es, was die abstrakte, von ihrer Vermittlung und Reflexion-in-sich getrennt oder zumindest unabhängig vorgestellte Substanz bereits formaliter zum Subjekt macht; und genau hier ist der Punkt, an dem Hegel seinen Grundbegriff der Negativität einführt, indem er sagt: »Die lebendige Substanz […] ist als Subjekt die reine einfache Negativität« (Abs. 18). Damit ist gesagt, dass, wie für Spinoza gezeigt, das sich anders Werden, die Selbstbestimmung und Selbstunterscheidung ursprünglich und essentiell zur Substanz gehört, die zu ihrer Existenz keines anderen außer sich bedarf und von nichts außer sich abhängig ist. Es ist gar nichts anderes als das Involviertsein der Existenz in der Essenz, aber als Bewegung und Dynamik des Hervorbringens der Wirkung; und diese Wirkung ist die Existenz der Substanz selbst, aber als Zurückkommen zu sich und deshalb in Wahrheit als das Ganze der Selbstbewegung. Die so gefasste Substanz ist »das Wahre«, nämlich nur als dieses Ganze, welches »das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen« ist (Abs. 20, erster Satz). Durch diese Explikation, die eine zunächst nur abstrakte und formale Bestimmung der Substanz als Subjekt ergibt, ist immerhin die immanente Voraussetzung für alle Realität im endlichen Sein und Erkennen erwiesen: Alles Endliche, der Mensch mit seinem Streben nach Erkenntnis und Glück inbegriffen, ist Modus der einen, absoluten Substanz, ist also dem Sein und der Bestimmtheit nach nichts wahrhaft, ursprünglich Selbständiges. Die beschränkte, relative Kausalität, die jedem Einzelding in der Verkettung der Ursachen und Wirkungen des Endlichen zukommt (1p28), ist seine eigene
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Kraft auch nur insofern und insoweit, als sie in der Bestimmtheit als solcher liegt. Dass überhaupt solche Bestimmtheit, und zwar genau als je diese, existiert, verdankt sich »in Wahrheit«, weil begriffen und verstanden in der höchsten Erkenntnisart, der Bestimmungs-Macht der absoluten Substanz. Denn diese besteht ihrem Wesen nach darin, sich von sich zu unterscheiden: sich als Modus, Endliches, von sich als »absolut Unendliches« (1def6). Darin liegt das Affirmative des Endlichen je in seiner Bestimmtheit, in der es als Endliches existiert und von allem übrigen Endlichen verschieden ist.22 Aber erst indem die Substanz als Kausalität, also dynamische Macht, zugleich mit sich identisch ist im Endlichen und durch dieses hindurch, dessen Bestimmtheit als seine eigene vollbringend und zur »Idealität« (s. ob. Anm. 17) aufhebend, ist sie wahrhaft »absolut«, nämlich in keiner Weise an anderes gebunden, das sie nicht selbst wäre. Indem sie also sich bestimmt (»affiziert«) zu Anderem, als ihrer Wirkung, besteht ihre Gesamtwirklichkeit darin, sich zu verendlichen – und zwar wahrhaft sich, weil die Wirkung ebenso sie selbst ist, so dass sie nicht nur die setzende, sondern auch die aufhebende Macht im Endlichen ist. Erst indem das, was als bloß Endliches im ersten Schritt nur zu »verschwinden« schien, im dritten Schritt als permanentes Produkt der Selbstbestimmung des Absoluten realisiert ist, kann die »Wahrheit« der Zurücknahme des Endlichen in das Absolute begriffen werden. Nun sind die drei Stufen, deren Gesamtprozess in der dritten Stufe in sich reflektiert und damit als das Ganze bestimmt ist, nur insoweit als Explikation der spinozischen Substanz anzuerkennen, wie sie deren Momente und ihren Zusammenhang reformulieren in der genauen Reflexion dessen, was Spinoza selbst sagt. Ist diese spekulative Explikation als Interpretation auch durch keine gleichwertige Alternative zu relativieren, weil sie immanent notwendige Konsequenzen entwickelt, so bleibt, wie sich schon andeutete, noch die
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Insoweit hat jedes Einzelding (res particularis) sein Eigensein und »strebt, so weit es in sich ist (quantum in se est), in seinem Sein zu beharren« (3p6). Dieses quantum in se est ist nur dann nicht inkompatibel mit der metaphysischen Grundbestimmung des Modus als esse in alio (1def6), wenn es als ein Insichsein zweiter Stufe, nämlich genau nur als das der jeweiligen besonderen Bestimmtheit begriffen wird. Das heißt, insoweit wird davon abgesehen, dass auch diese Bestimmtheit ursprünglich von der absoluten Kausalität der einen Substanz hervorgebracht wird, aus der sie allerdings vom Menschen nicht erkennend »abgeleitet« werden kann. Sich als ein endlich Einzelnes in seiner Wahrheit vom Absoluten her zu verstehen heißt eben nicht nur, sich als das zu verstehen, was das endliche Einzelne »nicht ist« (Wolfgang Bartuschat: Nur hinein, nicht heraus (Anm. 14), 113) – das wäre ohnehin nur die Abstraktion des Verstandes, das Stehenbleiben beim ersten Schritt –, sondern die Selbstreflexion des Einzelnen in seiner einmaligen Bestimmtheit als die des Absoluten in seiner Negativität. – Zur näheren Ausführung sei verwiesen auf Klaus Erich Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen (Anm. 2), Kap. A.II.3.
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Differenz, die Hegels Aneignung zugleich zur Kritik werden lässt. Was Hegel verlangt, ist, zu begreifen, warum und wie sich der Prozess, das substantielle Sein in allem, initiiert. Mit Hegel ausgedrückt: Wie kommt die Substanz als Substanz zu dieser Negativität, die mit sich identisch ist? Die folgenden Ausführungen der »Vorrede« zeigen die Antwort auf diese Frage an, und zwar in der Richtung auf die eigentliche und irreduzible Qualität des Subjekt-Seins, welche die bisher umrissene formale Struktur des Subjekts als Substanz erst inhaltlich erfüllt und dann kulminiert in der Einführung des Begriffs des Geistes als dem konkreten Begriff des Absoluten (Abs. 25). Jene Grundstruktur des Subjekts, die sich in der Tat bereits in den Substanzbegriffen von Descartes (für die substantia cogitans), Spinoza und Leibniz erkennen lässt, betrifft noch das Subjekt nur als Seiendes, eben als Substanz. Das Subjekt als Subjekt hingegen ist diese Struktur erst dadurch, dass sie als Sich-Wissen vollzogen wird. Nur als solches ist der Anfang bereits die Unterscheidung von sich; und deren konstitutive Notwendigkeit bleibt im Fortgang jederzeit reflexiv einsichtig. Zwar ist, wie sich zeigte, auch rein substanz-metaphysisch die immanente Kausalität der Substanz in der Erzeugung der Welt der Modi streng genommen nur als Selbstunterscheidung zu denken, aber dieses Denken bleibt »äußere Reflexion«, die selbst nicht das, was sie voraussetzt in ihrem Gegenstand, zu vollziehen vermag; wie damit auch umgekehrt dieser Gegenstand ein Ansichsein gegenüber dieser Reflexion behält. Der entscheidende Schritt über Spinoza hinaus liegt also im Vollzug der differentiellen Struktur der Substanz – nur dieser Vollzug, die selbstbewusste und selbstreflexive Tätigkeit ihres Erkennens macht einsichtig, dass in der Unmittelbarkeit, dem Sein der Substanz selber bereits die Negativität ihres Wesens liegen muss bzw. sich vollbringt. Das Absolute, als das Hegel die spinozische Substanz in der Wissenschaft der Logik ansetzt, entfaltet seine Negativität im sog. »Auslegen«, was Spinozas »Ausdrücken« entspricht. Dieses darf dem Absoluten nicht »äußerlich« sein. Die Kritik geht also wieder darauf, dass die gesamte Bestimmung des Absoluten in den Attributen und ihren Modi aus ihm selbst kommen müsse, d. h. als Sein wie als Erkennen die Entwicklung der Totalität der Substanz in ihren Modi sei. Damit verlangt er, wie gezeigt, im Grunde nichts anderes als das, was der von Spinoza selbst gegebene Begründungszusammenhang impliziert. Aber der Grund dafür, dass Spinoza diese Konsequenz nicht ziehen konnte, liegt offenbar darin, dass diese Entwicklung mit ihrer Reflexion des Ersten im Abkünftigen für das erkennende Subjekt, d. h. für die mens humana, einem bloßen Modus, nur als ontologisches Geschehen vorausgesetzt werden kann, in das dieses Subjekt sich immer schon als real eingebettet zu verstehen hat. Wenn dieses Geschehen, also das Sich-Ausdrücken der Substanz in ihren
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Modi, als Selbstbestimmung oder Selbstaffektion zu begreifen ist, so bleibt dieses Begreifen doch ein Vorstellen, weil es selbst nicht das zu denken vermag, was es in seiner Bestimmung des Vorgestellten als geschehend oder vollbracht voraussetzt. Die eigentliche, schlechthin ursprüngliche Kausalität der Substanz für ihre eigene Existenz als Welt der Modi kann zwar prinzipiell auch adäquat gedacht werden, nämlich von der Substanz selber unter dem Attribut des Denkens, in seinem unendlichen Modus, welcher »der aktual unendliche Verstand« ist. Aber was da gedacht wird, ist erstens nicht das Wissen der Philosophie; und zweitens ist auch in und für Gott selber, nach der Voraussetzung, der Vollzug der Totalität des Geschehens unter dem Attribut des Denkens nicht Gottes Sich-Wissen als diese gesamte Kausalität unter allen Attributen; denn diese Kausalität übt unter dem Attribut der Ausdehnung auch ohne Denken und Bewusstsein ihre universale Wirkung aus, und sie bringt damit dieselbe Realität hervor, die den wahren Inhalt des vollkommenen Denkens ausmacht. Es ist offensichtlich, dass Spinoza bei dieser Voraussetzung einer rein ontologischen Selbstreflexivität verharrt, die sich zwar auch im Denken vollzieht, aber nicht so, dass sie alle anderen Wesensformen der Substanz übergreift und dadurch das absolute Selbstbewusstsein der Substanz in der Binnendifferenzierung aller Attribute und daraus folgend das Wissen von sich als Ursache in ihrer Wirkung wäre. Hier ist also die Einheit von Denken und Sein, die im Denken durch und für es selbst zu entwickeln, zu »setzen«, als der Vollendungssinn des cartesischen Anfangs erkennbar ist, durchbrochen. Die Form dieser Entwicklung, nämlich die Selbst-Kontinuierung des Ersten in allem Unterscheiden, ist zwar realisiert, aber nur als seiende Kontinuität, nicht als sich wissende Wirklichkeit.23 23
Auch wenn der menschliche Geist sich in seiner Partikularität erkennt, also adäquat erkennend und so auch in nicht mehr inadäquatem Affekt sich in das Ganze einfügt, so ist damit noch nicht die Wende in die volle spekulative Wahrheit vollzogen, die grundsätzlich und methodisch von der Selbstunterscheidung und –bestimmung der Substanz, d. h. des Absoluten ausgehen müsste, so dass sich die Absolutheit desselben als Resultat seiner Ausbreitung und Rückgewinnung (»Erinnerung«) im Begreifen dieses Ganges herstellt. Die Selbstaufhebung des Endlichen im amor Dei intellectualis entspricht im Ansatz zwar dem Weg der »Erfahrung des Bewusstseins« in der Phänomenologie des Geistes, aber das Resultat ist nicht fortsetzbar mit der immanenten Rekonstruktion des umgekehrten Weges, nämlich des Werdens des Absoluten an ihm selbst (Logik), da die volle Wirklichkeit der Substanz nicht zusammenfällt mit ihrem Sich-Wissen. – An dem Punkt stehen zu bleiben, wo bloß die faktische Gegebenheit des Zusammen von Substanz und Totalität der Modi (unter allen Attributen) festgestellt wird, ist für alle Deutungen Spinozas entscheidend, welche vor der spekulativen Konsequenz zurückschrekken. Dass hier dann für die nähere Bestimmung des Endlichen die Erfahrung eintreten muss, bleibt allerdings in jedem Fall unvermeidlich. Für das derart Gefundene gibt es bei Spinoza keine andere metaphysische Rechtfertigung als die ganz abstrakt-allgemeine These, dass Wesen und Existenz der endlichen Dinge Wirkungen der absolut ersten Ursache sind – auch unter
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Die Kritik Hegels an der Substanz-Metaphysik der Neuzeit hat also ihren Kern in der Feststellung des Mangels der Selbstunterscheidung im Ersten selber, wie sie nur dem Geist als absolute Subjektivität zukommt. Vielmehr wird die Entwicklung der Bestimmtheiten aus der Substanz oder dem Absoluten von außen an es herangetragen, nicht aus seinem Begriff als notwendig erwiesen. Die »Auslegung« ist nur an sich die des Absoluten selbst. So muss zwar von Anfang an das Absolute vorausgesetzt werden als Identität mit sich in seinen Bestimmungen, also der Substanz in ihren Attributen und Modi. Aber diese Voraussetzung bleibt dem Erkennen äußerlich, die seiende Selbstvermittlung wird nicht als »reflektierende eigene Bewegung des Absoluten« (WdL II, 6.194), d. h. als die Bewegung der Sache selbst gesetzt und begriffen. Diese Bestimmungen im dritten Abschnitt der »Lehre vom Wesen« der WdL24 entsprechen durchaus den Erläuterungen, die Hegel in der PhG seiner Grundthese gibt, die Substanz müsse Subjekt werden. Die Substanz als »das Absolute« muss an ihr selbst die Vermittlung und Reflexion vollbringen. Dies wahrhaft zu vollbringen, ist es eben, was sie zum Subjekt macht. So wenig wie das Absolute selbst unmittelbar die wahre Wirklichkeit ist, so wenig kann das Erkennen der »absoluten Wirklichkeit« sich diese Vermittlung, also Unterscheidung und Rückkehr in sich ersparen. Vielmehr kann das Erkennen sich in Wahrheit genau nur als eben dieses Subjekt vollbringen, das die Wahrheit der Substanz ist – so ist es die Natur der Subjektivität, die das Absolute, die abstrakte reine Substanz, zur wirklichen Totalität macht: »Denn die Vermittlung ist nichts anderes als die sich bewegende« – die ursprünglich tätige oder spontane – »Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseienden Ich, die reine Negativität oder, auf ihre reine Abstraktion herabgesetzt, das einfache Werden«25. (Abs. 21) Ist dieses Werden
Berücksichtigung der qualitativen Mitbestimmung jeweiliger Zustände durch die horizontale Kausalität, denn auch diese ist ja in toto letztlich von der Substanz verursacht nach Wesensgehalt und Existenz. 24 Auf die Argumentationen Hegels in der WdL im Einzelnen kann hier nicht mehr eingegangen werden. Zu einer komprimierten Darstellung des »Weges von der Substanz zum Subjekt« in der WdL sei verwiesen auf Klaus Erich Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen (Anm. 2), 2010a: 598–603. Die Möglichkeiten, auch Bedeutungsverschiebungen und Implikationen der Argumentation Hegels für diesen entscheidenden Gang erschließen sich im Detail nur durch einen genauen Vergleich der Darstellungen (a) im 3. Abschnitt der Lehre vom Wesen, (b) im Einleitungskapitel der Lehre vom Begriff und (c) der Ausführung in der Enzyklopädie §§ 142–159. – Zum 3. Kap. des 3. Abschnitts der Lehre vom Wesen s. Stephen Houlgate: Substance, Causality, and the Question of Method in Hegel’s Science of Logic. – In: S. Sedgwick (Hrsg.): The Reception of Kant’s Critical Philosophy. Cambridge 2000, 232–252. 24 Die Bestimmung ›Werden‹ ist ausdrücklich nur die »reine Abstraktion« dessen, was die
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selbst zwar die Negativität, das Hervorbringen des Andersseins, das Unterscheiden schlechthin, so ist es doch in jedem Unterschied, jeder Bestimmung unmittelbar mit sich identisch und so zugleich durchgängig einfach, das Unmittelbare in aller Vermittlung und durch sie hindurch.26 Wenn die Wirklichkeit die des sich vollbringenden absoluten Subjekts oder Geistes ist, dann ist dessen Vollzugsform die Form der wahren Wirklichkeit. Diese ist es, die Hegel hier bereits »die absolute Form« nennt (Abs. 26), die in ihrer Unmittelbarkeit dem Subjekt ursprünglich eigen ist: »die unmittelbare Gewissheit seiner selbst und […] damit unbedingtes Sein«. Es kommt für Hegel darauf an, das Sein in allem Seienden von der Bestimmtheit her zu begreifen, in der es seine Vollendung hat. Das aber ist die Einheit der Entwicklung des Ganzen mit dem Sich-Wissen dieses Ganzen in allen Stufen und Bestimmungen. So ist die »Gewissheit seiner selbst« das »unbedingte Sein« als die Selbstbewegung der Bestimmtheit; und diese ist bereits die »Realität« der absoluten Form, ihr Unterschied, doch so, dass sie in dieser mit sich identisch bleibt. Darum treibt sie über jede Bestimmtheit hinaus, ist die Negativität in aller Bestimmtheit (Leibnizens inquiétude 27), wie sie schon zuvor die Negativität der Bestimmtheit selbst ist, nämlich als diese die Negation ihrer selbst. Für die Qualifikation der absoluten Form als Selbstgewissheit bedeutet das, dass diese sich in die Bestimmtheiten eines Inhalts einlässt, sei es in der Entzweiung des Geistes als Bewusstsein von Gegenständen, sei es in der immanenten Bewegung der bestimmten Begriffe selbst, deren Bestimmtheit eo ipso ihre Realität und ihr Inhalt ist (WdL II, 6.265). Dies also ist die »Natur des Erkennens der absoluten Wirklichkeit« (PhG, Vorrede, Abs. 16, 3.22): die Natur des Subjekts als Prinzip des Erkennens zugleich mit seinem Erkannten, der Wirklichkeit, die nur als erkannte und im Erkennen gesetzte die absolute Wirklichkeit ist. Die »absolute WirklichNegativität als selbsttätige Subjektivität in Wahrheit ist – wie die Logik der Seinsbestimmungen überhaupt nur erst die Abstraktion der Selbstvermittlung des Begriffs ist. 26 Vgl. die weiteren prägnanten Ausführungen zu dieser »einfachen Negativität«, die das Subjekt ist (s. Abs. 18), in den Absätzen 32 und 47. 27 NE II,21 (u. ö.) Diese »Unruhe«, welche die Monade zur existenziellen Selbstentfaltung dessen treibt, was in ihrem vollständigen Begriff enthalten ist, ist nur für die endliche, d. h. geschaffene Monade unüberwindlich. In Gott als ursprünglich-vollkommenem Vernunft-Subjekt hingegen ist die tiefste und umfassendste Negativität – nämlich die Schöpfung als Setzung der Existenz einer Welt außer sich – gerade zugleich der höchste und umfassendste Ausdruck seiner Allmacht im Einsehen, Wollen und Vollbringen, so dass er in dieser Unterscheidung von sich die reichste Erfüllung seiner Identität hat. – Zur näheren Bestimmung des Verhältnisses zwischen Leibniz und Hegel sei verwiesen auf Joachim Christian Horn: Monade und Begriff. Der Weg von Leibniz zu Hegel. Wien 1965 und Klaus Erich Kaehler: Hegel und Leibniz. Begreifendes und vorstellendes Denken des Absoluten. In: D.H. Heidemann/ Ch. Krijnen (Hrsg.), Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt, 116–130 2007.
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keit« gibt es gar nicht anders denn als das Sich-Vollbringen des absoluten Erkennens selber. Die sich in sich bestimmende Entfaltung des Erkennens ist die Verwirklichung des Subjekts; diese sich wissende Wirklichkeit ist der Geist, nämlich die »Wirklichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Elemente erbaut« (Abs. 25) – mit einem Wort: die »Wissenschaft«. Das so verstandene Subjekt wird im Fortbestimmen des Inhalts des Erkennens zunehmend selbst erst als Subjekt, ist also ein »Sich-selbst-Werden«. Dieses Werden aber ist in seiner durchgängigen Selbstbeziehung zugleich und immer schon »das Ganze«. Alles wahrhafte Erkennen ist Selbst-Erkennen der Wirklichkeit – und das, was »Wirklichkeit« genannt wird, ist dazu tauglich, sich selbst zu erkennen: Es besteht im Ganzen nur als Selbstverhältnis. Deshalb drängt das Erkennen in jedem Stadium und in jeder Bestimmung dahin, sich zu realisieren, d. h. seinen zunächst nur äußerlich, als ein Anderes seiner selbst vorgefundenen Gegenstand als sich selbst zu bestimmen, indem nämlich die Wahrheit des Gegenstandes nicht seine dem Erkennen äußerliche Existenz, sondern seine begriffene und im Wissen gesetzte Bestimmtheit ist. Dem derart sich vollbringenden Erkennen ebenso wie seinem wahren Gehalt sind also die Reflexion und die Vermittlung immanent: nämlich die Reflexion als Reflexion-in-sich jedes bestimmten Inhalts (s. Abs. 54) und damit die Vermittlung als die Selbstvermittlung des Ganzen in seinen notwendigen Momenten, so dass es in deren vollendeter Bestimmung das absolute Subjekt ist und als solches selbst die sich erkennende, d. h. die für sich an und für sich seiende absolute Wirklichkeit (s. Abs. 25). Ist also »das Wahre« die Wirklichkeit des vollendeten und deshalb absoluten Subjekts selbst, so ist es, wie der letzte Satz des Abs. 18 bereits sagte, »das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist«. – Dieser Satz drückt nicht nur entscheidende Grundzüge des gesamten spekulativen Denkens der Tradition aus, er gibt vor allem auch einen »Vorbegriff« davon, dass und warum die hegelsche Philosophie zu sehen und zu nehmen ist als die Selbstvollendung der neueren Philosophie, sofern diese ernstlich aus ihrem immanenten Prinzip und dessen Sinngehalt begriffen wird.
Logik als Metaphysikkritik Myriam Gerhard
Ein längst tot geglaubtes Gespenst geht um – das Gespenst der Metaphysik. Es mit der Methode gesicherter Erkenntnis zu bannen, lässt die Logik als metaphysikkritisches Instrumentarium erscheinen. Doch lassen sich die Inhalte der Metaphysik durch die reinen Formen der Logik aufheben? Der bisherige oder gewöhnliche Begriff der Logik beruht, wie Hegel in der »Wissenschaft der Logik« darlegt, »auf der […] Trennung des Inhalts der Erkenntniß und der Form derselben«.1 Die formale Logik gewinnt ihre Stärke durch diese vollständige Trennung von Inhalt und Form, die allerdings auch ihren Preis hat. Es ist ein Preis, der einigen Denkern zu hoch ist. Die Kritik der Inhaltsleere der formalen Logik eint so unterschiedliche Denker wie z. B. Hegel und den Reformlogiker Conrad Herrmann, der die Inhaltslosigkeit der formalen Logik des Mittelalters durch den Mangel an konkreten Inhalt der damaligen Wissenschaften bedingt sieht. Der Reformbedarf ist demnach vor allem dem Fortschritt der Naturwissenschaften geschuldet. Während die im Laufe des 19. Jahrhunderts sich zunehmend durchsetzenden Reformbemühungen »die Logik durch Berücksichtigung der einzelnen Wissenschaften erfahrener […] und dadurch auch nach aussen fruchtbarer zu machen«2 suchen, geht Hegel den entgegengesetzten Weg. Der Inhalt der Logik soll ihr nicht von außen zugeführt werden. Vielmehr soll den Formen des Denkens eine »Inhaltsbestimmende Wirksamkeit zugeschrieben«3 werden, so dass die Logik zur eigentlichen Metaphysik werde.4 Die Hegelsche Philosophie provoziert in ihrer systematischen Gestalt vor allem zwei Streitfragen: Die erste Frage betrifft das Verhältnis von Logik und Metaphysik und die zweite das Verhältnis der Metaphysik zu den Realwissenschaften.5 Der folgende Beitrag
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G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik. Erstes Buch. Die Lehre vom Sein. Hrsg. v. F. Hogemann/ W. Jaeschke. Hamburg 1984. GW 21, 28. Die zitierten Werke Hegels werden einmal genannt und im weiteren Verlauf mit der Sigle GW und Bandund Seitenzahl belegt. 2 F.A. Trendelenburg: Logische Untersuchungen. Erster Band. Berlin 1840, VIII. 3 GW 21, 13. 4 GW 21, 7. 5 Vgl. Karl Rosenkranz: Die Metaphysik in Deutschland seit 1831. – In: Jahrbücher für speculative Philosophie. 4. Heft. Darmstadt 1846, 167: »Der Inhalt des ganzen Verlaufs der Fortbil-
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beschränkt sich auf einige wenige Aspekte des Verhältnisses von Logik und Metaphysik. Dabei wird es vor allem um die Frage gehen, inwiefern Logik als Metaphysikkritik verstanden werden kann. Als Ausgangsthese mag hier fungieren, dass Hegel, dem oftmals eine Restitution der dogmatischen Metaphysik vorgeworfen wird, die Kantische Transformation der Metaphysik radikalisiert. Die transzendentale Logik Kants, die eine Metaphysik als Wissenschaft ermöglichen soll, erfährt somit durch die spekulative Logik Hegels ihrerseits eine Transformation. Mit kaum einem Logikverständnis wird heutzutage eine genuine Metaphysikkritik derart unzertrennlich verbunden gedacht wie mit dem des Logischen Positivismus. Und doch findet sich schon im 1553 erstmals erschienenen »Antibarbarus« von Nizolius die Forderung, die Metaphysik, verstanden als Wissenschaft der Sachen, durch die Logik, verstanden als Wissenschaft der Rede, zu ersetzen. In der Forderung, die Metaphysik durch Logik zu ersetzen, stimmen so unterschiedliche Denker wie Nizolius und Russel, aber auch Kant und Hegel überein. Was auf dem ersten Blick irritierend erscheinen mag, relativiert sich, sobald man davon absieht, den einheitlichen Bezeichnungen Logik und Metaphysik einen einheitlichen Begriff zu unterstellen. Auch die Frage, ob es sich überhaupt um Disziplinen der Philosophie handele und ob es tatsächlich verschiedene oder nicht doch nur eine Disziplin sei, ist überaus strittig. So gesteht Fichte der Logik allenfalls den Status eines Propädeutikums der Philosophie zu, während für Hegel die Logik, »welche die eigentliche Metaphysik ausmacht«,6 einen fundamentalen Charakter innerhalb der Philosophie aufweist. Als ein wesentlicher, wenn nicht gar der Meilenstein auf dem Weg der Transformation des Metaphysik- und Logikverständnisses der Neuzeit wird zu Recht die Kritische Philosophie Kants betrachtet. Mit ihr ist dasjenige, was zuvor Metaphysik hieß, »mit Stumpf und Styl ausgerottet worden«,7 wie Hegel es bildhaft beschreibt. Als eine Kardinalsaufgabe der »Kritik der reinen Vernunft« bestimmt Kant in der Vorrede, dass der »Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören« der »sichere(n) Gang einer Wissenschaft« zu verschaffen sei.8 Es ist die bekannte Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Metaphysik als Wissenschaft, die hinter dieser Forderung eines sicheren, dung der Wissenschaft der Metaphysik seit dem Tode Hegel’s drehet sich in Deutschland um zwei Punkte: um das Verhältnis der Metaphysik zu den sogenannten realen Wissenschaften und um das Verhältniss zur Logik.« 6 GW 21, 7. 7 GW 21, 5. 8 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (KrV). Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken. Bd III. Berlin 1968, B VII.
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wissenschaftlichen Gangs für die Vernunfterkenntnisse steckt. Zur gesuchten Wissenschaft, die die vormalige, dogmatische Metaphysik ersetzen soll, soll die Kritik der Vernunft führen. Der Logik wird dieser sichere Gang einer notwendigen Wissenschaft schon von altersher zugesprochen, was auch daran zu erkennen sei, daß sie seit Aristoteles keinen Fortschritt gemacht habe »und also allem Anschein nach geschlossen und vollendet zu sein scheint.«9 Der Grund der Wissenschaftlichkeit der Logik sei ihre Reflexivität, denn in ihr habe »der Verstand es mit nichts weiter als sich selbst und seiner Form, zu tun«.10 Soll die Metaphysik es der Logik gleich tun und den Rang einer geschlossenen, vollendeten Wissenschaft einnehmen, so müsste in der Metaphysik die Vernunft es »mit nichts als sich selbst« und ihrer Form zu tun haben. Diese Forderung der durchgängigen Reflexivität an die Metaphysik geht Kant jedoch zu weit. Anders als die Logik habe die Vernunft es mit ihr heteronomen Gegenständen zu tun. Diese Beziehung des Vernunftgeschäftes auf ihr heteronome Gegenstände hält Kant sogar für notwendig, um einen die mögliche Erfahrung überfliegenden Gebrauch zu restringieren. Würde Kant diese Differenz zwischen der Logik, die es nur mit sich selbst und ihrer Form zu tun hat und der Metaphysik, die es auch mit ihr heteronomen Gegenständen zu tun hat, aufheben, müsste er die Metaphysik als ebenso leer wie die Logik begreifen. Die allgemeine Logik, die sich allein auf die Formen des Verstandes bezieht, ist ausschließlich zu analytischem Erkennen fähig. Ein solches beschränktes Erkennen möchte Kant jedoch nicht für die Metaphysik gelten lassen. Die Metaphysik soll zu wahrer Erkenntnis, und das ist für Kant immer eine synthetische Erkenntnis, fähig sein. Wenn die Metaphysik nun einerseits die Wissenschaftlichkeit, den sicheren Gang der Logik übernehmen soll, andererseits sie sich aber nicht dem Vorwurf der Inhaltslosigkeit aussetzen soll, muss die Logik selbst eine Transformation erfahren, um der Metaphysik zur Wissenschaftlichkeit verhelfen zu können. Aus diesem Grund unterscheidet Kant die formale, von ihm allgemein bezeichnete Logik von einer transzendentalen Logik. Die allgemeine oder formale Logik macht »als Propädeutik gleichsam nur den Vorhof der Wissenschaften aus […], und wenn von Kenntnissen die Rede ist, man zwar eine Logik zur Beurteilung derselben voraussetzt, aber die Erwerbung derselben in eigentlich und objektiv so genannten Wissenschaften suchen muß.«11 Die Logik ist somit, obwohl sie in der Form des Denkens einen Gegenstand hat, als Form ohne Inhalt, als Form von nichts bestimmt. Mit der Logik allein lässt sich 9
KrV, B VIII. KrV, B IX. An späterer Stelle, KrV B X, heißt es jedoch, dass in bezug auf die Logik die Vernunft, und nicht der Verstand, es nur mit sich selbst zu tun habe. 11 KrV, B IX. 10
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keine Erkenntnis gewinnen. Deshalb erklärt Kant die Wirklichkeit der Wissenschaft zur Voraussetzung der Bestimmung der Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt. Im Gegensatz zur formalen Logik soll mit der transzendentalen Logik ein Erkenntnisgewinn möglich sein, d. h. in ihr geht es explizit um die Beziehung der in ihr formulierten Begriffe auf einen Gegenstand. Diese neuartige Logik, »von welcher niemand auch nur den Gedanken vorher gefaßt hatte, wovon selbst die bloße Idee unbekannt war«12 soll die Aufgabe lösen, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist bzw. wie eine Erkenntnis möglich sein könne, die ebenso allgemein und notwendig ist wie die analytischen Urteile der formalen Logik, aber im Gegensatz zu diesen wirkliche Erkenntnis hervorbringen kann, d. h. synthetisch ist. Mit der Beantwortung der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori ist demnach zugleich die Frage beantwortet, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich sei. Die transzendentale Logik »bestimmt den Ursprung, den Umfang und die objektive Gültigkeit solcher Erkenntnisse«, wodurch wir »Gegenstände völlig a priori denken«.13 Kant transformiert damit die Metaphysik in Logik, wie Hegel später hervorhebt. Aber Kant geht es nicht um eine vollständige Aufhebung der formalen Logik; sie behält für ihn ihre spezifische Berechtigung. Und auch die transzendentale Logik schränkt Kant soweit ein, dass die Denkbestimmungen nicht vollständig in Seinsbestimmungen aufgehen. Die Unterscheidung der transzendentalen Logik in transzendentale Analytik und transzendentale Dialektik entspricht der Unterscheidung in metaphysica generalis und metaphysica specialis. Während die allgemeine Metaphysik durch die transzendentale Analytik ersetzt werden soll, erteilt Kant der metaphysica specialis in der transzendentalen Dialektik eine deutliche Absage. Gegenstand der transzendentalen Analytik sind »die Prinzipien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann«.14 Damit ist sie zugleich als eine Logik der Wahrheit bestimmt, denn »ihr kann keine Erkenntnis widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgendein Objekt, mithin alle Wahrheit.«15 Wahrheitsbegründend ist für Kant nicht die bloße Form des Erkennens, sondern der Bezug auf einen Gegenstand möglicher Erfahrung. Die transzendentale Logik analysiert eben diesen wahrheitsbegründenden Bezug auf einen Gegenstand. Die reinen Verstandesbegriffe konstituieren damit nicht 12
Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken. Bd IV, 262. 13 KrV, B 81. 14 KrV, B 78. 15 Ebd.
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nur die Erkenntnis von Objekten, sondern zugleich die Objektivität der Erkenntnis. Die transzendentale Logik hat also genau das zu ihrem Gegenstand, wovon die allgemeine Logik abstrahiert, nämlich die Beziehung der Erkenntnis auf das Objekt. Auch Hegel hält die Einführung des Inhalts in die Logik für zwingend geboten. In der Bestimmung des Inhalts der Logik differieren Kant und Hegel jedoch deutlich. Hegel kritisiert, dass die transzendentale Logik den Objekten verhaftet bleibe. »Die kritische Philosophie machte zwar die Metaphysik zur Logik, aber sie wie der spätere Idealismus gab […] aus Angst vor dem Object den logischen Bestimmungen eine wesentlich subjective Bedeutung; dadurch bleiben sie zugleich mit dem Objecte, das sie flohen, behaftet, und ein Ding-an-sich, ein unendlicher Anstoß, blieb als ein Jenseits an ihnen übrig.«16 Aufgrund der eingeforderten Beziehung auf den Gegenstand möglicher Erfahrung mache Kant letztendlich die Dinge und nicht wie Hegel fordert, den Begriff der Dinge zum Gegenstand der logischen Betrachtung.17 Die Richtigkeit und Wahrheit des Denkens wird »ganz von dem Vorhandenen selbst abhängig gemacht [….] und den Denkbestimmungen für sich keine Inhaltsbestimmende Wirksamkeit zugeschrieben«.18 Als Grund für die vermeintliche Kurzsichtigkeit der Kantischen Logik verweist Hegel auf die Erklärung des Logischen und des Begriffs »für etwas nur formelles […], das, weil es von dem Inhalt abstrahire, die Wahrheit nicht enthalte.«19 Dagegen fordert Hegel, dass der Begriff »nicht nur als eine gleichgültige Form die an einem Inhalte sey, angesehen«20 werde, sondern als selbst inhaltsbestimmend begriffen werde. Gegen eine solche synthetische Erkenntnis aus Begriffen hat Kant sich stets verwahrt.21 Hinter der Forderung Hegels, dass dem Begriff selbst eine inhaltsbestimmende Wirksamkeit zugesprochen werde, steckt die Überzeugung, dass die Logik die eigentliche Metaphysik sei. Denn wenn die Logik nicht nur rein formal, d. h. rein, ohne jeden Inhalt sein soll, dann muss sie zugleich Metaphysik sein. Die Denkbestimmungen gehen damit in Seinsbestimmungen über. Oder Kantisch formuliert: Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung. Kant hatte gegen die Identität von Erkenntnis- und Existenzgrund der Gegenstände an der selbständigen, d. h. von der 16
GW 21, 35. Vgl. GW 21, 17. 18 GW 21, 13. 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff. Hrsg. v. F. Hogemann/W. Jaeschke. Hamburg 1981. GW 12, 19. 20 GW 21, 15. 21 Vgl. KrV, B 358. 17
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Erkenntnis unabhängigen Existenz der Gegenstände festgehalten. Deshalb formuliert Kant auch anders: Für ihn sind die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erkenntnis. Der Preis hierfür ist die Supposition des Ding-an-sich als der unbekannten Ursache der Erscheinungen. Der Verdacht liegt nahe, dass Hegel mit der Zusammenführung von Logik und Metaphysik nichts anderes beabsichtige und bewerkstellige als eine Restitution der vormaligen Metaphysik und damit hinter Kants Forderung, die Metaphysik in den Rang einer Wissenschaft zu erheben, zurückfällt. Diesen Schein gilt es im Folgenden zu entkräften. Hegels Kritik an der Kantischen Erneuerung der Logik bezieht sich vor allem auf den für die spekulative Logik entscheidenden Punkt der Funktion des Begriffs. In der transzendentalen Logik Kants bleiben die reinen Verstandesbegriffe vom Objekt abhängig und die reinen Vernunftbegriffe verlieren durch ihre Beschränkung auf den empirischen Gebrauch ihren konstitutiven Charakter. Diese genuine Konstitutivität des Begriffs ist jedoch das eigentliche Herzstück der transzendentalen Logik. In der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe trifft Kant mit der ursprünglichsynthetischen Einheit der Apperzeption das Wesen des Begriffs, das Hegel zum Movens seiner Logik macht. »Es gehört« – wie Hegel zu Beginn der subjektiven Logik schreibt – »zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, daß die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperception, als Einheit des: Ich denke, oder des Selbstbewußtseyns erkannt wird.«22 Eben weil es Kant gelingt, das Wesen des Begriffs vermittelst seiner Explikation des Selbstbewusstseins zumindest implizit darzustellen, sucht Hegel über die Kantische Bestimmung des Selbstbewusstseins dem Leser eine Einleitung in die Begriffslogik zu bieten. So erinnert Hegel zu Beginn der subjektiven Logik an die Natur des Ich, wie sie in der kritischen Philosophie zur Darstellung kommt, um eine Hinleitung zum Begriff des Begriffs zu ermöglichen. Entscheidend bei der Kantischen Bestimmung des Ich sei die Erkenntnis, daß der Begriff nicht wie »ein Besitz oder eine Eigenschaft«23 dem Ich inhäriere, sondern für das Selbstbewusstsein selbst von konstitutiver Bedeutung sei. Es ist eben diese Konstitutivität, die die synthetische Einheit der Apperzeption zum höchsten Punkt macht, an dem man, wie Kant schreibt, »allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik […] heften muß«.24 22 23 24
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Weil die Identität des Selbstbewusstseins selbst bedingt sei, müsse der analytischen Einheit, der Verstandeseinheit des Ich = Ich, eine synthetische zugrunde liegen. Diese synthetische Einheit des Selbstbewusstseins nennt Kant die ursprüngliche Apperzeption, »weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung Ich denke hervorbringt, die alle anderen muß begleiten können, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann.«25 Dieses ursprüngliche Selbstbewusstsein sei Bedingung der Verstandeseinheit, so dass die analytische Einheit des Selbstbewusstseins Resultat der Reflexion der synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins sei. Die Forderung einer der analytischen Einheit des Bewusstseins vorausgehenden synthetischen Einheit ist analog der Forderung, »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird.«26 Die Verstandeseinheit, die analytische Einheit des Bewusstseins, ist Gegenstand der Vernunft, niemals aber des Verstandes. Als Prinzipium der reinen Vernunft besagt diese Forderung nichts anderes als, dass »wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben«27 Die transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe verweist damit schon in den Bereich der transzendentalen Dialektik, die von eben denjenigen Begriffen und ihrer objektiven Gültigkeit handelt, vermittelst deren keine Gegenstände erkannt werden, sondern Begriffe des Unbedingten gedacht werden. Die transzendentale Deduktion soll den Nachweis bringen, dass die reinen Verstandesbegriffe nicht leer sind, sondern in transzendentaler Bedeutung einen notwendigen Inhalt haben. Der Nachweis gilt Kant dann als erbracht, wenn erwiesen ist, dass »durch sie allein Erfahrung möglich ist«.28 Eben hierin sieht Hegel den wesentlichen Mangel der Deduktion. Sie leiste nicht den Übergang »jener einfachen Einheit des Selbstbewußtseyns in diese ihre Bestimmungen und Unterschiede«, »die Aufzeigung dieses wahrhaft synthetischen Fortgehens, des sich selbst producirenden Begriffs«.29 Kurz: Kants Transformation der Metaphysik in Logik geht Hegel nicht weit genug. Ein wesentlicher Grund hierfür ist Kants Einschätzung der transzendentalen Dialektik. Die in der transzendentalen Dialektik thematisierten Ideen sind zum Unbedingten erweiterte Verstandesbegriffe. Diese Tendenz über das Bedingte hinaus zum Unbedingten fortzuschreiten fasst Kant als eine ganz natürliche 25 26 27 28 29
KrV, B 132. KrV, B 364. KrV, B 364. KrV, B 126. GW 12, 205.
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Anlage zur Metaphysik auf. Aber dennoch müsse der Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe auf den Bereich der möglichen Erfahrung eingeschränkt werden, um nicht der Illusion des transzendentalen Scheins aufzusitzen. Der Grund für den transzendentalen Schein sei, »daß die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe […] für eine objektive Notwendigkeit, der Bestimmung der Dinge an sich selbst, gehalten wird.«30 Beschränkte man die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe nicht auf einen Kanon der Beurteilung des empirischen Gebrauchs und ließe sie zugleich »als das Organon eines allgemeinen und unbeschränkten Gebrauchs gelten«31, so würde der Gebrauch des reinen Verstandes dialektisch sein. Die aus diesem Gebrauch folgende Logik des Scheins ist Gegenstand der Kritik, die Kant in der transzendentalen Dialektik abhandelt. Diese Beschränkung der Logik auf einen Kanon zur Beurteilung von Erkenntnissen hält Hegel für verfehlt. Werde die Logik ausschließlich als Kanon und nicht »als ein Organon zur Hervorbringung objektiver Einsichten angesehen«,32 so haben die Vernunftbegriffe nichts Konstitutives mehr. Das Wesen des Begriffs, das Hegel in der ursprünglich-synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins dargestellt findet, wird in der transzendentalen Dialektik von Kant wieder zurückgenommen. Als eine Logik des Scheins beinhaltet sie vornehmlich eine Kritik der Geltung der durch die Vernunft gebildeten Begriffe vom Unbedingten. Darüber hinaus bietet die transzendentale Dialektik aber das positive Resultat, dass die transzendentalen Ideen Ausdruck der eigentümlichen Bestimmtheit der Vernunft sind, »nämlich als eines Princips der systematischen Einheit des Verstandesgebrauchs«,33 dass also »zu gegebenen Wissenschaften die Quellen in der Vernunft selbst zu suchen«34 sind. Diese Konstitutivität der Vernunft ist für Hegel das Movens der wahren Logik, die zugleich Metaphysik ist. Problematisch an der Kantischen Philosophie ist für Hegel der Zusammenhang zwischen der Vernunft als das Vermögen zu schließen und der Vernunft als der Quelle von Gesetzen, ewigen Wahrheiten etc.35 Die Vernunft als das Vermögen zu schließen ist eine rein formale Vernunft, wohingegen die gesetzgebende Vernunft aus sich einen Inhalt erzeugen soll. Mit der Beschränkung des Vernunftgeschäftes auf die transzendentale Analytik grenze Kant die Vernunft letztendlich auf die formale Vernunft ein. Für 30 31 32 33 34 35
KrV, B 353. KrV, B 88. GW 12, 23. Prolegomena, 350. Vgl. Anm. 12. Ebd., 280. GW 12, 90.
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Hegel ist die transzendentale Analytik, die er der Sache nach im Kapitel über das Urteil abhandelt, eine Stufe auf der Entwicklung des Begriffs zur absoluten Idee. Die transzendentale Dialektik findet analog dazu ihren Ort im dritten Kapitel der subjektiven Logik, dem Schluss. Hier will Hegel mit dem Übergang des Schlusses in die Objektivität demonstrieren, wie die Denkbestimmungen in Seinsbestimmungen übergehen können. Damit wäre ein wesentlicher Aspekt der Aufgabe der subjektiven Logik erfüllt, nämlich zu zeigen, wie der Begriff die Realität in und aus sich bildet.36 Es ist kein Zufall, dass Hegel eben an dieser Stelle den ontologischen Gottesbeweis thematisiert. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind bekanntlich die Themen der metaphysica specialis, die Kant in der transzendentalen Dialektik endgültig destruieren will. Unter »C. Der Schluss der Nothwendigkeit« thematisiert Hegel den kategorischen, den hypothetischen und den disjunktiven Schluss. Alle drei Schlussformen finden sich auch in der transzendentalen Dialektik Kants wieder, denn »aller transzendentaler Schein der reinen Vernunft« beruht »auf dialektischen Schlüssen […], deren Schema die Logik in den drei formalen Arten der Vernunftschlüsse überhaupt an die Hand gibt.«37 »Die erste Art dieser vernünftelnden Schlüsse«, der kategorische Schluss, geht demnach auf »die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts«.38 Die zweite Art, der hypothetische Schluss, geht auf »die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung« und die dritte Art, der disjunktive Schluss, thematisiert »die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt«.39 Den drei Schlussformen entsprechen demnach die Idee der Seele, die Idee der Welt und die Idee Gottes. Mit der Abhandlung der drei Formen des notwendigen Schlusses, dem kategorischen, hypothetischen und dem disjunktiven Schluss, thematisiert Hegel somit die Inhalte der metaphysica specialis. Vor allem mit dem Übergang von der Subjektivität zur Objektivität vermittelst des ontologischen Gottesbeweises liegt die Vermutung nahe, dass es Hegel um eine affirmative Darstellung der dogmatischen Metaphysik geht. Doch genau genommen geht es Hegel nicht um den Übergang von der Subjektivität zur Objektivität, sondern um den Übergang vom subjektiven Begriff zum objektiven Begriff. Darin liegt die entscheidende Differenz. Hegel will nicht demonstrieren, wie ein Begriff einem als unabhängig von der Erkenntnis existierenden Ding zugesprochen werden könne. Der Begriff soll eben keine bloße Eigenschaft oder Prädikat an einem meta-
36 37 38 39
Vgl. GW 12, 24. KrV, B 432. KrV, B 391. Ebd.
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physisch vorausgesetzten Ding sein. Die Sphäre des Begriffs soll überhaupt nicht transzendiert werden, die Begriffe nicht hypostasiert werden. Das ist für Hegel auch gar nicht notwendig, denn der logische Begriff enthält alle Metaphysik, zu der er fähig ist. Damit ist zumindest angedeutet, dass Hegels Logik zwar einerseits zugleich Metaphysik ist, aber diese Metaphysik nicht mit der vormaligen, schon von Kant kritisierten Metaphysik zu verwechseln ist.40 Die Auffassung der Logik als Metaphysikkritik bedeutet demnach nicht einen Verzicht auf sämtlichen metaphysische Fragen, wie es u. a. in der Tradition der Analytischen Philosophie gewöhnlich gefordert wird. Wenn die Logik sich nicht, wie Hegel artikulieren würde, in begrifflosen Formalismen auflösen soll, gilt es vor allem die Konstitutivität des Begriffs jenseits der vermittelst der Kritischen Philosophie mit »Stumpf und Styl«41 ausgerotteten Metaphysik aufzuzeigen. Doch das ist eine Forderung, deren Erfüllung, wie die Erzählung so mancher spannenden Geschichte, an einem anderen Ort zu erfolgen hat.
40
Vgl. hierzu Walter Jaeschkes Plädoyer für einen historischen Metaphysikbegriff in diesem Band. 41 GW 21, 5.
Metaphysik in der Realphilosophie Hegels? Hegels Lehre vom freien Geist und das axiotische Grundverhältnis kantianisierender Transzendentalphilosophie Christian Krijnen
Hans Friedrich Fulda zum 82. Geburtstag
Zwar lässt sich Metaphysik durchaus als eine Disziplin auffassen, die auf die tiefsten Gründe aus und insofern ein Grundlagenwissen ist, das die Natur bzw. deren Erfahrung transzendiert. Sie untersuchte die Grundstruktur unseres Begriffssystems, im Rahmen dessen wir Gegenstände denken, sowie die implizite Ontologie, der dieses Denken verpflichtet ist.1 Setzt man sich mit dem Thema Metaphysik und Metaphysikkritik in der Klassischen Deutschen Philosophie auseinander, dann muss man allerdings nicht nur berücksichtigen, dass hier eine bestimmtere Auffassung von Metaphysik vorherrscht, nämlich die im 18. Jahrhundert in der deutschen Schulphilosophie etablierte Einteilung in metaphysica generalis und metaphysica specialis (in eine Lehre vom Seienden als einem solchen einerseits und Kosmologie (rationale Naturlehre) sowie die aus Psychologie und Theologie bestehende Pneumatik (rationale Geistlehre) anderseits). Darüber hinaus und vor allem muss man bedenken, dass für Kant und Hegel Metaphysik nicht bloß eine thematische Bestimmtheit hat, etwa, dass sie »übersinnliche« Gegenstände bzw. das »Ansich« oder »Wesen« der Dinge gedanklich erfasst – Metaphysik, ich meine speziell die vorkantische, hat nicht weniger eine methodische Bestimmtheit: gleich, ob als eine Erkenntnisweise, der es an einer »Kritik« gebricht (Kant), oder als eine »Stellung des Gedankens zur Objektivität«, die bloß »Verstandes-Ansicht der Vernunft-Gegenstände« ist (E § 27)*, die, er1
So etwa Peter Frederick Strawson: Individuals. London 1959 oder neuerdings Otfried Höffe: Ethik mit und ohne Metaphysik. Zum Beispiel Aristoteles und Kant. – In: Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007), 405–422. * Es werden folgende Siglen verwendet: Nik. Eth. = Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übers., eing. u. erläut. v. O. Gigon. Zürich/München 1991. SW = J.G. Fichtes Werke. Hrsg. v. I.H. Fichte. Nachdr. Berlin 1971 Aufl. (zit. nach Band und Seitenzahl). GA = J.G. Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. R. Lauth/H. Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., (zit. nach Band und Seitenzahl). I = G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Teil, hrsg. v. G. Lasson, Leipzig 1951. II = G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil. Hrsg. v. G. Lasson. Leipzig 1951. R = G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 41955. TWA = G.W.F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. v. E. Moldenauer / K.M. Michel. Frankfurt a.M. 1986 (zit. n. Band und Seitenzahl bzw. §). AA =
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neut mit Hegel gesprochen, in einem »unbefangenen Verfahren«, sagen wir: in direkter Gegenstandszuwendung, die zu untersuchenden Gegenstände vermeintlicherweise erkennt, in Wahrheit aber »Denkbestimmungen als die Grundbestimmungen der Dinge« ausgibt (E § 28, vgl. I 46 f.). Eine solche Wissenschaft kann man wegen der Unbedachtheit ihrer eigenen Grundlagen nur als »dogmatisch« qualifizieren. Hegel hat sie wegen der vernichtenden Kritik Kants philosophiegeschichtlich gesehen denn auch ohne Abstriche als »vormalig« bezeichnet (E § 27). Das heißt nicht, Kants Programm der Philosophie sei der geeignete Nachfolger. Hegel ist vielmehr bemüht, Kants Transzendentalphilosophie durch einen spekulativen Idealismus zu überbieten. Keinesfalls aber wollte er die Metaphysik gegen Kants Intentionen restaurieren.2 Indes tritt in diesem spekulativen Idealismus die Logik an die Stelle der nunmehr überflüssig gewordenen vormaligen, d. i. vorkantischen Metaphysik (vgl. I 46 mit E § 24). In Hegels System der Philosophie ist sie erste wie letzte Wissenschaft. Hegel gibt die Logik auch als die »eigentliche Metaphysik« aus (I 5), verleiht damit der Metaphysik allerdings eine andere thematische und methodische Bedeutung als sie in der vorkantischen Metaphysik hatte,3 weicht damit aber auch von Kants Vorschlag einer transzendentalisierten allgemeinen und speziellen Metaphysik ab. Statt ihre Bestimmungen als Bestimmungen von »Substraten« aufzufassen, die der »Vorstellung« entnommen sind, thematisiert Hegels Logik die Denkbestimmungen frei von solchen seienden Substraten der Vorstellung, betrachtet die »Natur« der Gedankenbestimmungen und ihren »Wert« »an und für sich« (I 46 f.). In die-
Immanuel Kant: Kants gesammelte Schriften. Bde. I–XXVI. Hrsg. v. der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1910 ff. GMS = Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. – In: AA IV. MS = Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten. – In: AA VI. 2 Wie Hans Friedrich Fulda mit der nötigen Bestimmtheit herausgearbeitet hat. Vgl. ders.: Ontologie nach Kant und Hegel. – In: D. Henrich/R. Peter Horstmann (Hrsg.): Metaphysik nach Kant? Stuttgart 1988, 44–82; ders.: Die Ontologie und ihr Schicksal in der Philosophie Hegels. Kantkritik in Fortsetzung Kantischer Gedanken. – In: Revue Internationale de Philosophie, 53 (1999), 465–484; ders.: G.W.F. Hegel, München 2003; Der letzte Paragraph der Hegelschen »Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften«. – In: H.-Ch. Lucas / B. Tuschling / U. Vogel (Hrsg.): Hegels encyclopädisches System. Von der »Wissenschaft der Logik« zur Philosophie des absoluten Geistes. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 481–506. 3 Pirmin Stekeler-Weithofer sieht bei Hegel eine »ontologische Wende« (Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie. Frankfurt a.M. 2005, 155), einen Weg »von der Erkenntniskritik zu einer sinnkritischen Ontologie« (ebd., 153) angelegt. Solche Ontologisierungen bergen nolens volens die Gefahr in sich, ›ontologischen‹ Fehldeutungen Tür und Tor zu öffnen. Gerade als sinnkritische Ontologie ist sie nicht mehr, was sie als Ontologie sein wollte.
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sem Kontext gibt Hegel auch gleich an, worauf es ihm methodisch ankommt, nämlich, dass es im philosophischen Begreifen die »Natur des Inhalts« selbst ist, die sich »bewegt«, der Inhalt also selbst seine Bestimmung »setzt und erzeugt« (I 6). Eine solche Logik ist keine vorkantische Metaphysik mehr, sondern eine Logik der (absoluten) Idee, und zwar eine, die sich vollzieht in einem immanenten Bestimmungsprozess vom Anfang des Denkens als des unbestimmten Unmittelbaren, das das Denken qua ›Sein‹ ist, bis hin zur Vollendung dieser Selbstbewegung im Verständnis seiner Bewegung, das das Denken qua ›absolute Idee‹ ist. Eine derartige Selbstbewegung des ›Begriffs‹ (und damit die Entfaltung des Zusammenhangs der ›Denkbestimmungen‹) soll freilich in einer begründeten Weise erfolgen: in der ›Form der Notwendigkeit‹ (E § 9). Schon dies legt es nahe, dass die Philosophie für Hegel nur einen einzigen Inhalt und Gegenstand hat: die Idee, näherhin: die absolute Idee (II 484), die der »sich begreifende Begriff« (II 504), die »absolute Wahrheit und alle Wahrheit« ist (E § 236, vgl. II 484). Die Idee ist also kein Seiendes. Die absolute Idee erweist sich vielmehr als die Methode, d. h. als die eigentümliche Prozessualität, die der in der Logik thematischen reinen Gedankenbestimmungen eigen ist, in eins mit dem System dieser Gedankenbestimmungen. So gesehen laboriert die Philosophie nicht an Substraten der Vorstellung oder sonstwie Vorgegebenem – die absolute Idee enthält alle Bestimmtheit in sich (II 484). Als alle Bestimmtheit in sich enthaltende, erschöpft sie sich, wie angedeutet, nicht als logische Idee, sondern aufs Ganze der Philosophie gesehen, ist die absolute Idee thematisch in drei Bestimmungshinsichten: im Element des reinen Denkens ist sie Logisches, im Element der Natur ist sie Naturales, im Element des Geistes ist sie Geistiges.4 Zur Einlösung des neuartigen Philosophieprogramms Hegels gehört also, dass Natur und Geist als die beiden Sphären des Realen in die Philosophie einbezogen werden, und zwar in der Weise einer immanenten, durchaus die ›Erfahrung‹ anerkennenden Entwicklung der Idee in unterschiedlichen Elementen.5 Die Logik übernimmt dabei als
4
Vgl. hierzu und zum Folgenden: Christian Krijnen: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie. Würzburg 2008, 4.2.1.2. 5 Immanente Entwicklung ist als eine methodische Qualifikation gemeint. Inhaltlich bleibt der spekulative Idealismus seinem Selbstverständnis nach durchaus dem ›fruchtbaren Bathos der Erfahrung‹ (Kant) verpflichtet. Hegel lässt weder die Empirie noch die Geschichte der Philosophie beiseite, sondern erkennt die empirische und philosophische Erkenntnis als Material an, bildet dieses Material jedoch weiter und formt es somit dem spekulativ-idealistischen Erkenntnisanspruch und der methodischen Handhabe dieses Anspruchs gemäß um. Vgl. dazu etwa Christian Krijnen: Philosophie als System (vgl. Anm. 4), 190 ff.
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»innerer Bildner« und »Vorbilder« der Realphilosophie (II 231) eine fundierende Rolle: sie bildet die »Grundlage« jeglicher naturalen oder geistigen Bestimmtheit (II 224, vgl. auch TWA 8, § 24, Z 1). Ihrer schlechthin fundierenden Funktion zufolge, hat Hegel sie nicht nur als »erste«, sondern auch als »letzte« Wissenschaft qualifiziert (II 437). Darin liegt u. a., dass jegliche Bestimmtheit – sei sie nun eine ›empirische‹ oder eine (Empirisches fundierende) realphilosophische – nicht nur letztlich in die Logik als schlechthinnige Grundlage zurückgenommen wird; zugleich bleibt die Logik in den anderen Sphären als fundierende Grundlage erhalten und wird sogar am Ende der Systementwicklung sich wissendes Logisches, das sich zugleich als Einheit von Natur und Geist, und damit als Prinzipiationsgrund von Realem weiß, wodurch die Philosophie selbst als schlechthinnige Grundlegungsoder Totalitätswissenschaft begriffen wird.6 Die Ausführung eines solchen herkulischen Philosophieprogramms musste zwangsläufig zu der meist elaborierten Form von Systemphilosophie führen, die wir bis heute kennen. Ebendeshalb ist die Gefahr besonders groß, dass Hegel ungeachtet seines Anspruchs mit unbegründeten, also nicht dem spekulativen Selbsterkenntnisprozess der Idee verdankten Bestimmungen arbeitet und insofern doch mit bloß Vorgegebenem operiert, pejorativ gesprochen in Metaphysik, in sog. schlechter, ihre eigenen Grundlagen nicht bedenkender Metaphysik zurückfällt, sozusagen die Bestimmungen der »Vorstellung« als »fertig gegebenen Subjekte« entnimmt (E § 30; I 46 f.). Im mich interessierenden Fall sind es gerade Entwicklungen in der nachhegelschen Philosophie, die es erforderlich machen, Hegel mit einem spezifischen Problem tradierter, aber spekulativ möglicherweise unbewältigter Reste zu konfrontieren. Das Folgende ist daher nicht bloß relevant für ein Verständnis der Hegelschen Philosophie, sondern auch für die gegenwärtige. Dabei entspringt das Problem einer Debatte, die sehr weit entfernt vom idealistischen Gedankengut geführt wird, nämlich der Grundlegungsdebatte der Sozialwissenschaften. 1. Wille als Problem 1.1 Kompartimente und Einheit der Vernunft Das Problem einer Sozialontologie, wie der im Diskurs gängige Terminus lautet, d. h. die Bestimmung dessen, was das Soziale ist, wird gegenwärtig im Rahmen der Grundlegungsdebatte der Sozialwissenschaften viel disku6
Vgl. zur Logik als letzter Wissenschaft ebd., 4.2.3, bes. 228 ff.
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tiert. In dieser vorwiegend von Positivisten, Sozial-Konstruktivisten und Kritisch-Realisten beherrschten Debatte spielt die deutsche idealistische Philosophie keine nennenswerte Rolle. Zu Unrecht, wie ich meine.7 Gleichwohl wundert diese Absenz nicht, denn zum einen hat der Begriff des Sozialen problemgeschichtlich gesehen eine ›praktische‹ Färbung, sei es nun eine rechts-, staats- bzw. politik- oder moralphilosophische.8 Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer theoretischen Ausdifferenzierung des Sozialen als einer eigenen Sphäre, wenn auch wiederum vermischt mit praktischen Gesichtspunkten der sog. ›sozialen Frage‹. Ende des 19. Jahrhunderts jedenfalls ist mit Stammler, Lehmann, Dilthey, Spranger, Scheler, Durkheim oder etwa Weber das Ringen um den Begriff des Sozialen in vollem Gang. Darin liegt zum andern: für die Gewinnung des Begriffs des Sozialen zwecks einer Sozialontologie für die Sozialwissenschaften ist es erforderlich, den dazu nötigen Begriff des Sozialen aus den Philosophien des deutschen Idealismus systematisch zu rekonstruieren, besser gesagt: zu konstruieren. Genau das Erfordernis einer solchen systematischen Konstruktion verlangt aufgrund der Fortbildungen innerhalb der deutsch-idealistischen Tradition die Klärung eines für den Begriff des Sozialen zwar relevanten, ihm aber logisch vorangehenden Sachverhalts. Es ist ein Sachverhalt, der sich vor dem Hintergrund ›kantianisierender Transzendentalphilosophien‹ – im Sinne von: Hegels spekulative Begriffsentwicklung im Kern ablehnend und sich statt dessen primär am Korrelationsdenken Kants orientierend – als axiotisches Grundverhältnis bezeichnen lässt. Man denke dabei namentlich an neukantianische Philosopheme, beispielhaft und wirkungsmächtig die Philosophie Heinrich Rickerts,9 und Gegenwartsphilosophen wie Hans Wagner und Werner Flach.10 Aspekte der Lehre vom axiotischen Grundverhältnis sind seit Kant immer wieder unter dem Stichwort ›Primat der praktischen Vernunft‹ thematisiert worden; das axiotische Grundverhältnis steht also im 7
Vgl. etwa Christian Krijnen: Realism and the Validity Problem of Knowledge. – In: Christian Krijnen/Bas Kee (Hrsg.): Philosophy of Economics and Management & Organization Studies. Deventer 2009, 237–264; Christian Krijnen: Le problème de la fondation de l’ontologie sociale et les dispositifs fondationnels du néokantisme de Bade. – In: Les Études philosophiques. 84 (2010), 67–86. 8 Vgl. zur Begriffsgeschichte von Sozial und Sozialphilosophie: Kurt Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg 2002, 25 ff. 9 Vgl. Christian Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts. Würzburg 2001, 7.2.3. 10 Vgl. Hans Wagner: Philosophie und Reflexion. München/Basel 31980, §§ 9, 25; Werner Flach: Grundzüge der Ideenlehre. Die Themen der Selbstgestaltung des Menschen und seiner Welt, der Kultur. Würzburg 1997, insb. Kap. 2 u. 3.
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Kontext der ebenfalls seit Kant vehement diskutierten ›Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft‹, geht es doch um die Erzeugung eines durchgängigen Vernunftverhältnisses, in Bezug auf das Subjekt formuliert: um die Erzeugung eines durchgängigen Verhältnisses von Subjektität. Offenbar handelt es sich beim axiotischen Grundverhältnis um einen Sachverhalt, der die Entwicklung des deutschen Idealismus von Kant zu Fichte und Hegel und dann über den Neukantianismus hinaus bis zu den neuesten Entwürfen transzendentaler Philosophie in eminenter Weise mitbestimmt hat. Es ist ein Sachverhalt, der zudem auf die Verabschiedung der von Aristoteles11 initiierten Einteilung der Philosophie in ›theoretische‹ und ›praktische‹ hinausläuft. An die Stelle der Aristotelischen Vorlage tritt ein allgemeineres und ursprünglicheres Verhältnis, das dann für die Einteilung der Philosophie und deren Grundprobleme ausschlaggebend wird: der alte, noch für Kants Philosophie maßgebende Gegensatz von ›Theorie‹ und ›Praxis‹ ist zu voraussetzungsvoll – er macht den Menschen und dessen Welt nur unzureichend verständlich. Wie sich zeigen wird, ist das axiotische Grundverhältnis für Hegels Philosophie in besonderem Maß eine Herausforderung, sofern Hegel zum einen die Notwendigkeit der Überwindung des tradierten Gegensatzes deutlich vor Augen steht, er zum anderen aber ebenfalls mit ihm zu arbeiten scheint – was in der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben ist –, so dass Hegels Angebot zugleich eine besondere Herausforderung für diejenigen ist, die sich für eine heutige Form von Transzendentalphilosophie einsetzen.
1.2 Zur Vorgeschichte der Problemlage [i] Die Auszeichnung der Erkenntnis als Schau und deren Vorordnung vor anderen Leistungen des Menschen rührt wirkungsgeschichtlich gesehen von Aristoteles her: Aristoteles gilt theoria (Schau, Betrachtung, contemplatio), ›theoretische‹ Vernunft, gemäß dem Modell freien Strebens als höchste Form von Praxis (vgl. Nik. Eth. X 6–9, bes. 1177a 27 ff.). Kant indes propagiert wirkungsmächtig für die moderne Philosophie einen Primat der praktischen Vernunft.12 Die Deutung dieses Kantischen Lehrstücks ist umstritten und die 11
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übers., eing. u. erläut. v. O. Gigon. Zürich/München 1991, VI. Buch. 12
Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (KpV). – In: Kant-Werke. Bd. 5. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 51983, A 215 ff. Einen philosophiegeschichtlichen Überblick des changierenden Verhältnisses von ›Verstand‹ und ›Wille‹ bietet Heinz Heimsoeth: Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelal-
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Variationsbreite der Auslegungsvorschläge beeindruckend. Gemeinhin wird Kants Primatlehre jedoch als Vorordnung des praktischen Vernunftglaubens vor dem theoretischen Wissen gedeutet:13 Während der theoretischen Vernunft die Möglichkeit der Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände versagt ist, rechtfertigt die praktische Vernunft in Form von ›Postulaten der reinen praktischen Vernunft‹ (theoretische) Sätze über solche Gegenstände, näherhin über das Dasein Gottes, die menschliche Freiheit und die Unsterblichkeit der Seele. Das Thema des Primats wird mit dieser Deutung jedoch keineswegs erschöpft: Erstens gibt es bei Kant eine gewisse (unbewältigte) Konkurrenz verschiedener Fundierungsansätze (praktische, nicht-praktische) in der Primatlehre.14 Zweitens wäre die besonders von Bauch betonte und auf Fichte Bezug nehmende Umgreifungsfunktion der praktischen Vernunft für das Vernunftganze zu berücksichtigen, also auch bezüglich der Erkenntnis, die sich dabei als zweckbestimmt erweist.15 Schon bei Fichte wiegt eine über den Kantischen Sprachgebrauch hinausgehende Bedeutung von ›praktischer Philosophie‹ vor, die gerade in der frühen Phase (»Wissenschaftslehre« von 1794) beispielsweise auch eine Ästhetik oder eine Lehre vom gemeinen Menschenverstand einschließt (GA I/2, 151), bisweilen ja auch als Synonym für die »Wissenschaftslehre« selbst fungiert (GA II/3, 265); jedenfalls wird durch den weiteren Gebrauch von ›praktischer Philosophie‹ bei Fichte diese etwas anderes, als sie es bei Kant war.16 Für Fichte ist »das Wollen […] der eigentliche, wesentliche Charakter der Vernunft« (SW III, 20 f.), das »praktische Vermögen die innigste Wurzel des Ich« (SW III, 21).17 Das Interesse an der Erkenntnis ist dabei sogar eine ters. Darmstadt 41958, 204–251. Hier werden Kant und noch stärker Fichte vielbezeichnend dem »Voluntarismus« zugeschlagen (ebd., 235), Hegel fehlt allerdings gänzlich. 13 Vgl. stellvertretend für viele: Eckart Förster: Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft. – In: Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Hrsg. v. Otfried Höffe. Berlin 2002, 173–186, 184 ff. 14 Vgl. etwa Rudolf Zocher: Kants Grundlehre. Ihr Sinn, ihre Problematik, ihre Aktualität. Erlangen 1959, 77 ff. 15 Vgl. zu Bruno Bauchs Interpretation von Kants Primat: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit. Leipzig 1923, 478 ff.; Immanuel Kant. Berlin/Leipzig 31923, 300 ff. Bauch hebt dabei, trotz aller Vorsicht, die Bedeutung von Fichtes Interpretation des Primats hervor (Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, 487; Immanuel Kant, 301). 16 Vgl. Daniel Breazeale: Der fragwürdige »Primat der praktischen Vernunft« in Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹. – In: W.H. Schrader (Hrsg.): Die ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794/95 und der transzendentale Standpunkt. Amsterdam/ Atlanta 1997, 259 f., 271. 17 Allerdings ist ›praktisch‹ vor allem beim frühen Fichte ein mehrdeutiger Begriff: er steht zum einen für eins der zwei Grundvermögen, zum anderen aber auch für die Einheit beider (vgl. Marek Jan Siemek: Praktische Vernunft und Transzendentalphilosophie bei Fichte. – In: K.
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Äußerung und Anwendung des sittlichen Interesses (SW IV, 57 f.). Worauf es Fichte dabei ankommt, ist, dass »ohne ein Streben überhaupt kein Object möglich sey« (SW I, 264), dass Vernunft nur theoretisch sein kann, wenn sie auch praktisch ist (vgl. SW I, 264),18 dass also der Wille nicht bloß nachträglich in Bezug auf ein als wahr oder gut Erkanntes ins Spiel kommt, sondern die Erkenntnis selbst von der Wirksamkeit des Willens abhängt: Wille und Denken machen keine bloß nebeneinander bzw. getrennt voneinander wirksamen Vermögen aus, sondern bilden einen inneren Zusammenhang, sind wesentlich aufeinander bezogen. Fichte konzipiert diese Wechselbeziehung in der Weise eines Primats des Willens, letztlich des sittlichen Willens;19 daher kommen Konnotationen wie ›Sittengesetz‹ und ›kategorischer Imperativ‹ in die Bestimmung der Erkenntnis hinein bzw. wird Tätigkeit als solchen Begriffen unterworfen gedacht. Auf dieses, sagen wir, nicht-kontemplative, sondern tätige, aktive Moment in der Erkenntnis, ja: in jeglicher vernünftigen Leistung kommt es auch im axiotischen Grundverhältnis an, allerdings noch diesseits von Spezifikationen wie ›Wollen‹/›Wille‹ und ›praktisch‹, geht es doch um ein durchgängiges, keineswegs auf das Praktische, Sittliche, Ethische usw. beschränktes Vernunftverhältnis. [ii] Das ist die eine Seite dessen, was hier am Primat der praktischen Vernunft interessiert: Erkenntnis ist nicht bloß contemplatio, Schau, sondern bedarf der Tätigkeit. Insofern kann es sich bei der von Aristoteles vorgearbeiteten, in der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts (Wolff ) aufgegriffenen und noch für Kant maßgeblichen Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische bzw. in das Gebiet der Natur und das der Freiheit nicht um eine zureichende Einteilung handeln: der Unterscheidung der Vernunft in ›theoretisch – praktisch‹ bzw. deren Gegenstände in ›Natur – Freiheit‹ liegen
Hammacher/A. Mues (Hrsg.): Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979, 395–410; Marek Jan Siemek: Fichtes Wissenschaftslehre und die Kantische Transzendentalphilosophie. – In: K. Hammacher (Hrsg.): Der transzendentale Gedanke. Hamburg 1981, 531). 18 Genau auf diese Passage Fichtes spielt Bauch in seiner Kant-Deutung an, wenn er auf die Zweckbestimmtheit der Erkenntnis zu sprechen kommt, dass also bei Kant »alle Theorie bereits unter der praktischen Bestimmung durch die Idee« steht (Immanuel Kant, 301). 19 Vgl. zu Fichtes Primatlehre etwa Daniel Breazeale: Der fragwürdige »Primat der praktischen Vernunft« (vgl. Anm. 16), 253–271 und Edith Düsing: Zum Verhältnis von Intelligenz und Wille bei Fichte und Hegel. – In: F. Hespe/B. Tuschling (Hrsg.): Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, 107–133. Düsing erblickt in Fichtes Ausgestaltung des Vernunftverhältnisses unter dem Primat des Willens eine »Radikalisierung von Kants Kopernikanischer Wende« (ebd., 111).
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ursprünglichere Verhältnisse zugrunde.20 Die andere Seite ist: die aktive, leistende, verhaltensmäßige Komponente in der menschlichen Tätigkeit wird bei Kant von vornherein unter ›praktischen‹ Gesichtspunkten thematisch und bleibt es größtenteils. So gesehen haben wir es zu tun mit einer Ethisierung von Verhalten im Sinne von ›Reduktion aufs Praktische‹. Zweifelsohne ist Willensfreiheit als Selbstbestimmung des Wollens eine für den Menschen eminente Freiheitsbestimmung, gleich ob man sie, gemäß dem bei Kant uneinheitlichen Sprachgebrauch, als ›ethisch‹, ›moralisch‹ oder ›sittlich‹ qualifiziert. Kant jedenfalls ist einer der prominentesten Theoretiker moralischer Freiheit. Zwar zeigt Kant in der dritten Antinomie, und damit innerhalb der theoretischen Philosophie, dass Freiheit (qua Vermögen, spontan, also nicht-kausaldeterminiert zu handeln) denkmöglich, und im Rahmen seiner praktischen Philosophie, dass sie wirklich ist.21 Aber schon im Nachweis der Denkmöglichkeit einer solchen kosmologischen Freiheitskausalität wird klar, dass es Kant vor allem um die Möglichkeit moralischer Freiheit für unser Handeln zu tun ist (der die kosmologische Freiheit, auch transzendentale genannt, logisch vorhergeht: KrV B 561 f., vgl. 831). Die »Freiheit im praktischen Verstande« definiert er in der Kritik der reinen Vernunft seinen Ethikschriften gemäß als »Unabhängigkeit des Willkürs [bzw. Willens, ck] von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« (KrV B 561 f., kurs. ck) und als Vermögen des Menschen, sich in solcher Unabhängigkeit »selbst zu bestimmen« (KrV B 562). Auf der Grundlage der gesicherten kosmologischen Freiheit der »Kritik der reinen Vernunft«,
20
Vgl. zu Kants Einteilung: Kritik der reinen Vernunft (KrV). – In: Kant-Werke. Bd. 2. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 51983, B 868 ff.; KpV, A 29 f., 218; Kritik der Urteilskraft (KdU). In: Kant-Werke. Bd. 5. Hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 51983, B III ff., XI–XX. – Es war schon früh ein Stachel im Fleisch der deutschen Idealisten, dass Kant die Philosophie nicht »in einem einzigen philosophischen System« (KrV B 868) darlegen konnte, es zwar »eine und dieselbe Vernunft« sei, die sich in theoretischer oder praktischer Absicht betätige (KpV A 219; GMS 391), es aber bei der unerfüllten Erwartung blieb, »es vielleicht dereinst bis zur Einsicht der Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens (des theoretischen sowohl als praktischen) zu bringen, und alles aus einem Prinzip ableiten zu können« (KpV A 162). 21 Vgl. zur Wandlung der kontrovers diskutierten diesbezüglichen Theoriebildung etwa Klaus Düsing: Spontaneität und Freiheit in Kants praktischer Philosophie. – In: ders.: Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 211–235; ders.: Spontaneität und sittliche Freiheit bei Kant und Fichte. – In: E. Düsing u.a. (Hrsg.): Geist und Willensfreiheit. Würzburg 2006, 107–126 und Hans Wagner: Kants schwierige Bestimmung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Moralgesetz. – In: ders.: Zu Kants Kritischer Philosophie. Hrsg. v. B. Grünewald/H. Oberer, Würzburg 2008, 107–120; ders.: Kants ergänzende Überlegungen zur Möglichkeit von Freiheit im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie. – In: ders., Zu Kants Kritischer Philosophie. Hrsg. v. B. Grünewald/H. Oberer. Würzburg 2008, 98–106.
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also unseres handelnden Bewirkens von etwas, dreht sich nun alles um die Willensfreiheit. In der praktischen Philosophie (vor allem in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und der »Kritik der praktischen Vernunft«), in der die Wirklichkeit oder objektive Realität der Freiheit dargetan wird, fasst Kant Freiheit von vornherein in der Perspektive des ›Sittengesetzes‹ und damit im Kontext ethischer/sittlicher Erwägungen: das Problem des Wollens und dessen Geltungsbestimmtheit ist der Angelpunkt. Ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen sind ihm einerlei (GMS IV, 447), Wille und praktische Vernunft fallen letztlich zusammen (MS VI, 213, vgl. auch KpV A 29). Praktische Freiheit und Willensfreiheit können einerlei sein, liegt doch die Willensfreiheit der Handlungsfreiheit logisch voraus: nur unter Voraussetzung der Willensfreiheit kann der Handelnde ›Ursache‹ sein. Gegen diesen Befund einer bei Kant vorliegenden ›Ethisierung‹ der Freiheit könnte man einiges ins Feld führen, etwa: Dass Kant auch die Freiheit zu denken bzw. zu urteilen kennt, d. i. die logische Freiheit des Menschen als spontanes Ich, als reine Intelligenz, folglich eine noch nicht praktisch bestimmte Freiheit. Zudem gibt es auch einen nicht ›reinen‹ Willen; die Sphäre des Praktischen, der praktischen Freiheit, der freien Willkür enthält vielmehr drei Stufen, die den Einfluss der affizierenden Sinnlichkeit zunehmend einschränken. Kant kennt also auch einen weiten Praxisbegriff. Dieser enthält das Technisch-Praktische (›hypothetische Imperative der Geschicklichkeit‹), bei der es bloß um die Zweck-Mittel-Beziehung geht; das Pragmatisch-Praktische (›hypothetische Imperative der Klugheit‹), bei der es um die Realisierung eines bestimmten Zwecks, nämlich um das natürliche Streben des Menschen nach Glück geht; das Moralisch-Praktische (›der kategorische Imperativ der Sittlichkeit‹), in der die Moralität selbst zum Zweck wird.22 Derartige Unterscheidungen werden aber im Kontext der praktischen Philosophie vorgenommen, und zwar um einen bestimmten Begriff des Moralisch-Praktischen, also des unbedingt Guten zu bekommen. Dieses unbedingt Gute ist in den bedingten Formen freier Betätigung vorausgesetzt. Auch in Bezug auf das ›Recht‹ lässt sich feststellen, dass es Bestandteil des Moralisch-Praktischen ist, in der »Metaphysik der Sitten« nicht losgelöst von der praktischen Philosophie behandelt wird. Und die Teleologie, wie sie Kant in seinen ›geschichtsphilosophischen Schriften‹ entwickelt hat, kennt zwar wie die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die Hinsichten des Kultivierens, Disziplinierens und Moralisierens, und bezieht sich dabei nicht nur 22
Vgl. zu diesen Unterscheidungen und dem Kantischen Wortlaut: KrV B 830, 834; GMS IV, 415 ff.; KdU B XIII.
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auf Tugend und Recht, sondern auch etwa auf die Sphäre der Erkenntnis und der Kunst; gleichwohl bleibt die teleologische Betrachtung letztlich wiederum der sittlichen Perspektive unterworfen. Daraus ergibt sich: Kant entwickelt keinen die mannigfaltigen Freiheitskonzepte bzw. -ansätze (zu denen der der Heautonomie der »Kritik der Urteilskraft« noch hinzufügen wäre) enthaltenden Begriff von Freiheit, der als Einheitsgrund seiner Spezifikationen zu dienen vermag. Es herrscht die Bestimmung der Freiheit als praktischer Freiheit vor. So wundert es nicht, dass Kant durchaus grundlegende Aspekte des axiotischen Grundverhältnisses herausgearbeitet hat, gerade in seinen praktischen Grundlegungsschriften, und es bei ihm Ansätze zu einem allgemeinen Freiheits- und ›Praxis‹Begriff gibt – das axiotische Grundverhältnis selbst hat Kant nicht expliziert. Auf die Herausarbeitung eines vor-willentlichen und vor-praktischen Begriffs von Selbstbestimmung oder Selbstgestaltung kommt es aber an: auf die Herausarbeitung eines Begriffs, der ein durchgängiges Verhältnis etabliert und folglich jeglicher Spezifikation von Freiheit zugrunde liegt, gleich ob der logischen Freiheit, der Willensfreiheit, der Handlungsfreiheit, der ästhetischen Freiheit usw. Zu diesem Zweck soll Hegels Geistphilosophie einer eingehenden Betrachtung unterworfen werden. Bei Hegel gibt es nämlich einen weiten Begriff von Freiheit als Selbstbestimmung; zudem kritisiert Hegel die Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft; außerdem entwickelt er eine Lehre von der Realisierung des Geistes in seiner Objektivität. Hegels Geistphilosophie übergreift Bereiche der theoretischen und der praktischen Philosophie und relativiert auch damit Kants Einteilung der Philosophie in theoretische und praktische. Man wird über die Geistphilosophie hinausgehend sogar sagen müssen, dass Freiheit Bestandteil des die ganze Philosophie Hegels bestimmenden spekulativen Begriffs ist, so dass wir es hier mit einem wahrhaft umfassenden und grundlegenden Freiheitsbegriff zu tun haben. Dabei war es nicht zuletzt Kants praktische Philosophie, namentlich der Freiheitsbegriff, die/der Hegel – zunächst dem Kantischen Verständnis verpflichtet – schon bald zu einem anderen, fundamentaleren und umfassenderen Freiheitsbegriff angeregt hat.23 Allerdings hat es auch innerhalb der kantianisierenden Transzendentalphilosophie Versuche gegeben, dem von Kant auf den Weg gebrachten, aber unbefriedigend gelösten Problem des axiotischen Grundverhältnis23
Vgl. zum Kantianismus des jungen Hegel etwa Martin Bondeli: Der Kantianismus des jungen Hegel. Die Kant-Aneignung Hegels auf seinem Weg zum philosophischen System. Hamburg 1997 oder Hans Friedrich Fulda: G.W.F. Hegel (vgl. Anm. 2), Teil I.
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ses zu einer befriedigenden Lösung zu verhelfen. Die Diskussion über dieses Problem und die Auseinandersetzung mit Hegel gewinnen an Prägnanz, führt man sie vor dem Hintergrund des innerhalb jener kantianisierenden Tradition Erreichten. Besonders der Blick auf den Neukantianismus, auf eine Richtung also, die sich in herausragender Weise um eine systematische Weiterbildung des deutschen Idealismus verdient gemacht hat, ermöglicht eine scharfe Herausarbeitung des axiotischen Grundverhältnisses und dessen Problematizität. Vor allem das axiotische Grundverhältnis, wie es von Rickert konzipiert ist, hat sich als maßgeblich auch für spätere transzendentale Philosophen erwiesen. Ich nehme es daher als Ausgangspunkt.
1.3 Die Lösung kantianisierender Transzendentalphilosophie Wie bei Hegel kommt bei Rickert der ›Logik‹, wie Rickert auch sagt: der Erkenntnistheorie, qua erkenntnisfunktionaler Logik eine Primatstellung im System der Philosophie zu.24 Sie ist philosophia prima nicht nur in logischer und methodischer Hinsicht, sondern auch in system-axiotischer Hinsicht; sie legt nämlich Prinzipien frei, die über die Sphäre der Erkenntnis hinaus eine universale, systembestimmende Funktion übernehmen. Diese systemaxiotische Bedeutung der Logik ist primär fassbar in der sogenannten Lehre vom ›Primat der praktischen Vernunft‹.25 Es handelt sich sachlich also nicht um eine ethische Verengung der Grundlegungssphäre. Rickert entwickelt diese Lehre, indem er das Theoretische axiotisiert. Die theoretische Kultur enthält insofern paradigmatische Verhältnisse für das System, als in allen Kulturgebieten jene Grundverhältnisse wiederkehren, die sich im Rahmen der Erkenntnistheorie als die grundlegenden erweisen. Durch diese Paradigmatisierung theoretischer Grundverhältnisse ergibt sich ein Verhältnis, das Rickert als »Ausgangspunkt« und »gemeinsame Wurzel« aller Philosophie bestimmt: »die Korrelation des geltenden Wertes und des wertenden
24
Vgl. Christian Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn (vgl. Anm. 9), 3.4. mit 7.2.1; ders: Philosophie als System (vgl. Anm. 4), 4.2.2. 25 Vgl. zum Terminus »Primat der praktischen Vernunft« Heinrich Rickert: Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. Berlin 1899, 44; Heinrich Rickert: Zwei Wege der Erkenntnistheorie. Transcendentalpsychologie und Transcendentallogik. – In: Kant-Studien. 14 (1909), 169–228, 215 f.; ders: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. Tübingen 21922, 188; ders: Der Gegenstand der Erkenntnis. Eine Einführung in die Transzendentalphilosophie. Tübingen 61928, VII, 309 ff., 437. Vgl. zu Rickerts Primatlehre ausführlich: Christian Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn (vgl. Anm. 9), 7.2.3.1.
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Subjekts«.26 Es ist ein Verhältnis, das als fundierendes Verhältnis spezifischer Wertgebiete gilt. ›Kultur‹ ist somit eine Bestimmtheit, die durch die Struktur eines Werte anerkennenden (wertbezogenen) und darin Kulturgüter schaffenden Subjekts prinzipiiert ist; korrelativ handeln alle philosophischen Disziplinen geltungsnoematisch von geltenden Werten (Orientierungsdeterminanten subjektiver, näherhin: menschlicher Leistungen) und geltungsnoetisch von deren Verwirklichung27 in Kulturgütern durch Subjekte, die Werte anerkennen. Mit dieser axiotischen Fundamentalstruktur ist Rickert zufolge der Sinn des ganzen menschlichen Daseins grundlegend bestimmt, denn jeder konkret-inhaltlich erfüllte Sinn stellt eine Konkretion und Spezifikation des axiotischen Grundverhältnisses dar. Werte-Anerkennung (bzw. ›Stellungnehmen zu Werten‹) ist nicht schon eo ipso ›praktisch‹: auch das Erkennen ist ein Verhalten des Subjekts, eine wahrheitsorientierte Leistung, ein in seiner Geltungsbestimmtheit nicht ›praktisch‹ bestimmtes ›Wollen‹ und ›Handeln‹ (was nicht verhindert, dass es auch als ›praktisch‹ bestimmbar ist, aber darin liegt nicht die ›theoretische‹ Geltungsbestimmtheit der Erkenntnis). Nur in einem weiten, alles umfassenden und der spezifischen Bedeutung von ›praktisch‹ (als dem Theoretischen entgegengesetzt, auf den Willen konzentriert) konterkarierenden Sinne kann noch von ›praktisch‹ die Rede sein: der Sache nach bezieht es sich auf das vernunft- oder wertbestimmte Leisten schlechthin des Subjekts, auf jegliche Art von ›Stellungnehmen‹, ›Werten‹, ›Aktivität‹, gleich ob um eine ›theoretische‹ oder eine ›praktische‹ Leistung – immer geht es um die Selbstgestaltung des Subjekts gemäß Orientierungsdeterminanten (letztlich gemäß solchen, die seine Subjektität auszeichnen, ihm also als Subjekt zukommen), immer handelt es sich um ›freie‹, Werte anerkennende (bzw. verwerfende) Leistungen. Folglich ist Freiheit gar kein ›praktischer‹ Begriff mehr, sondern ein durchgängiges Charakteristikum des Subjekts; entsprechend hat etwa der Begriff der ›Autonomie‹ keinen primär ›praktischen‹, sondern vielmehr einen axiotisch-universalen, das Theoretische einschließenden Gehalt. Beim axiotischen Grundverhältnis handelt es sich um eine Integration von ›praktischer‹ und ›theoretischer‹ Vernunft. Jedenfalls fasst Rickert das Erkennen wirkungsmächtig nicht als ›Vorstellen‹ oder ›reines, indifferentes Schauen‹, und somit als etwas, das dem aktiven Wollen und Handeln bloß entgegengesetzt ist. Erkennen schließt ihm zufolge vielmehr ein ›Anerkennen von Werten‹, ein ›Stellungnehmen zu Werten‹ (etwa zum Wert der Wahrheit) 26 27
Heinrich Richert: Der Gegenstand der Erkenntnis (vgl. Anm. 25), 438. – im Sinne von: Gestaltung des Wirklichen nach Maßgabe von Werten.
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ein, und damit ein gewisses ›praktisches‹ Verhalten.28 Dadurch soll der alte Gegensatz von Theorie und Praxis, oder allgemeiner: von theoretischen und atheoretischen Werten, überwunden und »Einheit« in unser »Gesamtleben« gebracht werden. Die Erkenntnistheorie (bzw. das Ergebnis ihrer Bestimmung der Erkenntnis) ermöglicht es, den tradierten Gegensatz zwischen theoretischem (kontemplativem) und praktischem (aktivem) Verhalten zu überwinden, weil durch die wertphilosophische Fassung der Erkenntnis das Erkennen als Handlung, neutraler: als Verhalten bestimmt ist. Deshalb gilt es für ein umfassendes Welt- und Selbstverständnis, das Verhältnis von Theorie und Praxis neu zu fassen, zeichnen sich doch beide Objektivationsbereiche geltungsnoetisch als Stellungnehmen zu Werten aus – das Theoretische ist nicht weniger wertbezogen wie das Praktische.29 In diesem Sinne lehrt Rickert den »Primat des Praktischen« als »Primat des Wertes«.30 Offenbar kommen damit Motive der Weiterbildung von Kants Philosophie zur Geltung, die schon im frühen nachkantischen Idealismus eine Rolle spielten. Bekanntlich hatte schon Fichte versucht, theoretische und praktische Vernunft im Anfang der Grundlegung der Philosophie zur Einheit zu bringen. Gerade die Grundlegung der Erkenntnis wie Fichte sie in der »Wissenschaftslehre« (1794, 1798) vorgelegt hat, erweist die Erkenntnis als der setzenden Tätigkeit des ›Ich‹ verdankt. Bezüglich der Axiotisierung dieses Gedankens schließt sich Rickert (1899, 12 ff.) in eigenständiger Weise vor allem Fichtes31 Interpretation von Kants (KpV A 215 ff.) Lehre des Primats 28
Vgl. dazu und zum folgenden: Heinrich Rickert: Über logische und ethische Geltung. – In: Logos, 19 (1914), 208 ff.; ders: Der Gegenstand der Erkenntnis (vgl. Anm. 25), 185 f., 434, 438; ders: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Tübingen 61929, 689 ff. 29 Heinrich Rickert: Über logische und ethische Geltung (vgl. Anm. 28), 220 f., 215 f.; Heinrich Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis (vgl. Anm. 25), 189 f., 292 f. u. ö. 30 Heinrich Richert: Zwei Wege der Erkenntnistheorie (vgl. Anm. 25), 216. 31 Rickert (Fichtes Atheismusstreit (vgl. Anm. 25), 8 ff.) bezieht sich vor allem auf Fichtes System der Sittenlehre (SW, IV, 165–173). Für die Südwestdeutschen ist Kants Lehre vom Primat der praktischen Vernunft relevant in der Interpretation, die Fichte ihm gegeben hat (vgl. Christian Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn (vgl. Anm. 9), 474 f.). Die Affinität von Rickerts Lehre vom Primat der praktischen Vernunft mit Fichtes Primatlehre ist neuerdings von Forschern wie Marion Heinz: Die Fichte-Rezeption in der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. – In: W.H. Schrader (Hrsg.): Fichte im 20. Jahrhundert. 200 Jahre Wissenschaftslehre – Die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, Amsterdam/Atlanta 1997, 109–129), Claude Piché: Fichte und die Urteilstheorie Heinrich Rickerts. – In: W.H. Schrader (Hrsg.), Fichte im 20. Jahrhundert (vgl. Anm. 29), 143–160), Andrzej Przylebski: War Rickert ein Fichteaner? Die Fichteschen Züge des badischen Neukantianismus. – In: W.H. Schrader (Hrsg.), Fichte im 20. Jahrhundert (vgl. Anm. 29), 131–141) oder Jürgen Stolzenberg: Fichte im Neukantianismus. Probleme der FichteRezeption bei Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Hermann Cohen und Paul Natorp. –
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der praktischen Vernunft an. Für Rickert steckt nämlich schon im Urteilsakt ein »›praktisches‹ Verhalten« im Sinne des Stellungnehmens zu Werten: Erkennen ist »Werten«.32 Von einem »Primat des Willens vor der theoretischen Vernunft« ist im Fichte-Aufsatz des frühen Rickert insofern die Rede, als die »Geltung und Anerkennung eines absoluten Sollens« die »Grundlage« auch des theoretischen Wissens bildet.33 Rickert zufolge hat Fichte klar gesehen, daß auch dass Erkennen wesentlich ein »Wollen und Werten« ist (1899, 17); Fichte sei Kants »grösster Jünger«, dessen Interpretation und Weiterbildung von Kants Primatlehre eine der »tiefsten Wirkungen der Kantischen Philosophie«; Fichtes Deutung gebe zumindest prinzipiell die Möglichkeit, auf »Kantischem Boden« eine einheitliche Weltanschauungslehre zu bewerkstelligen.34 Diesem systematischen Ziel einer einheitlichen Weltanschauungslehre35 ordnet Rickert sowohl seine Kant-Interpretation als auch seine Fichte-Deutung unter: immer kommt es Rickert auf die Bedeutung der Einsicht an, dass schon Erkennen ein Stellungnehmen und damit ein ›Werten‹ ist, ein im weiten Sinne praktisches ›Verhalten‹. Da es Rickert sosehr um diese axiotische Einheitlichkeit, um die theoretische Bestimmung der ›überlogischen Basis‹ von Theorie und Praxis im Logos selbst geht und es sich daher gar nicht um einen Primat der praktischen Vernunft handeln kann, heißt es im Nachtrag zu Fichtes Atheismusstreit bezeichnenderweise: Der Terminus Primat der prakIn: R. Alexy u. a. (Hrsg.): Neukantianismus und Rechtsphilosophie. Baden-Baden 2002, 421–434 hervorgehoben worden; dabei sind auch Differenzen (zwischen Fichte und Rickert ebenso wie zwischen den Interpretationen zu diesem Verhältnis) hervorgetreten. Schon Zeitgenossen Rikkerts haben freilich auf die Bedeutung von Fichte für die damaligen Lehren vom Primat der praktischen Vernunft gewiesen (vgl. Arthur Liebert: Das Problem der Geltung. Leipzig 21920, 168 ff.) bzw. Rickerts Primatlehre und die damit verbundene Freiheitslehre als Fichtesches Motiv bei Rickert bestimmt (vgl. Franz Böhm: Die Philosophie Heinrich Rickerts. – In: KantStudien. 38 (1933), 1–18, 11 ff.). 32 Der Gegenstad der Erkenntnis (vgl. Anm. 25), 186. 33 Fichtes Atheismusstreit (vgl. Anm. 25), 15. 34 Ebd., 18, vgl. 15 ff. Kants Primatlehre bestimmt Rickert im Nachtrag zu seinem FichteAufsatz wiederum »als entscheidenden Wendepunkt des modernen Denkens« (ebd., 49). Mittlerweile sich wohl der Komplexität des Kantischen Theorems bewusster geworden, unterscheidet Rickert 1934 zwischen Kants Lehre vom Primat qua Primat hinsichtlich der Erkenntnis des Übersinnlichen (Heinrich Rickert: Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus. – In: Hermann Schwarz (Hrsg.): Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern. Bd. 2 (Sonderdruck H. Rickert). Berlin 1934, 39 f.) und der Lehre vom Primat »in einem ganz anderen Sinne, als er von Kant gemeint ist« (41, kurs. ck), wenn auch dem Wesen von Kants Philosophie zugehörig (ebd., 40): dem Primat des Praktischen als Primat des Stellungnehmens des Subjekts zum Wert (ebd., 41). 35 Vgl. zum Sinn dieser Weltanschauungslehre Christian Krijnen: Nachmetaphysischer Sinn (vgl. Anm. 9), 3.1.
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tischen Vernunft sei »unzureichend«, um das axiotische Fundamentalprinzip auf den Begriff zu bringen, da auch das Praktische nur eine Dimension menschlicher Möglichkeiten sei und insofern nicht dem Theoretischen übergeordnet werden dürfe; vielmehr gelte es nach einem »Dritten« zu suchen, das als Basis von Theorie und Praxis fungieren könne und das Thema einer Philosophie »aller« Werte – also nicht der »Ethik als der praktischen Philosophie« – bilde.36 Kurz: Der »Primat der praktischen Vernunft« zielt auch in den skizzierten historischen Bezügen auf die, mit einem Wort des späten Windelband: »sachliche Einheit des transzendentalen Idealismus als der Kulturphilosophie«.37 Dieser »Idealismus der Aktivität«, wie sich Rickert in den Grundproblemen ausdrückt,38 zeigt, dass es im sinnvollen Leben, näherhin in der Kultur als wertbestimmtem Leben des wertenden Subjekts, auf die Selbstgestaltung des Subjekts ankommt; es kommt damit zugleich an auf eine umfassende, nicht bloß in praktischer bzw. willensmäßiger oder handlungsmäßiger Spezifikation explizierte Lehre von der Freiheit (Selbstbestimmung) des Subjekts.39 Um eine solche Lehre von der Selbstgestaltung und eines umfassenden Freiheitsbegriffs sind ebenfalls neuere Lehren vom axiotischen Grundverhältnis bemüht, wie die Wagnersche und die Flachsche; auch bei ihnen gibt die Erkenntnissphäre die für das axiotische Grundverhältnis relevanten Momente her und lässt sich die theoretische Sphäre als eine Spezifikation des axiotischen Grundverhältnisses begreifen.40
36
Heinrich Richert: Fichte’s Atheismusstreit (vgl. Anm. 25), 44. Wilhelm Windelband: Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus. – In: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. Bd. 2. Tübingen 51915, 287. Nach Bemerkungen über den »Springpunkt« von Kants Transzendentalphilosophie (das Prinzip der Synthesis) weist Windelband auf die analoge Struktur der »Vernunfttätigkeit« im Theoretischen und Atheoretischen hin und erblickt in ihr die sachliche Pointe vom Primat der praktischen Vernunft. 38 Heinrich Richert: Grundprobleme der Philosophie. Methodologie, Ontologie, Anthropologie. Tübingen 1934, 231. 39 Darum geht es etwa auch Husserl in der Krisis (Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Hua VI). – In: Gesammelte Schriften (Husserliana). Bd. VI. Hrsg. v. Walter Biemel. Haag 1954, 275 f.). Ihm zufolge ist der Mensch ›für sein eigenes Sein verantwortlich‹, ›berufen zu einem Leben in der Apodiktizität‹, Sein-zur-Vernunft, »Teleologischsein und Sein-Sollen«. Von hieraus lehnt Husserl eine Teilung der Vernunft in »‚theoretische‹, ›praktische‹ und ›ästhetische‹ und was immer« ab. 40 Vgl. Hans Wagner: Philosophie und Reflexion (vgl. Anm. 10), insb. §§ 9, 25; Werner Flach: Grundzüge der Ideenlehre (vgl. Anm. 10), insb. Kap. 2 u. 3. 37
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2. Hegel und das axiotische Grundverhältnis 2.1 Die geistphilosophische Fokussierung Wo in Hegels Philosophie ist das axiotische Grundverhältnis systematisch zu lokalisieren? Das Gefragte ist komplex, denn es bezieht sich auch auf die logische Grundlage des axiotischen Grundverhältnisses. Die Grundlage des axiotischen Grundverhältnisses liefert bei Hegel, den Neukantianern und späteren Transzendentalphilosophen wie Wagner und Flach, die, mit Hegel gesprochen, Logik als Lehre des »begreifenden Denkens« (I 23), die Logik als Logik des Denkens qua Prinzip von Objektivität, d. i. als erkenntnisfunktionale Logik.41 Während die kantianisierende Transzendentalphilosophie in der Analyse der Erkenntnis Verhältnisse aufweist, die sich dann als paradigmatisch für die atheoretischen Sphären erweisen, entwickelt sich bei Hegel die (absolute) Idee spekulativ zu sich selbst im Element des Logischen und anschließend im Element des Realen, dem sie zugrunde liegt und in dem sie sich bis zu ihrer Selbsterkenntnis als Geist manifestiert.42 Auf die logische Grundlage des axiotischen Grundverhältnisses (speziell in der ›Idee des Erkennens‹ (II 429 ff.) und in der ›absoluten Idee‹ (II 483 ff.)) kommt es im Kontext der vorliegenden Studie aber nicht an43 – es kommt auf das axiotische Grundverhältnis qua geistphilosophisches Verhältnis an. Hegels Philosophie des Geistes (E §§ 377 ff.) handelt von der ›Idee‹ im ›Element‹ des ›Realen‹, näherhin von der Idee, so wie sie aus ihrem »Anderssein«, durch das sie als »Natur« qualifiziert ist, »in sich zurückkehrt«, was die Idee als »Geist« qualifiziert (E § 18). Erst in der Realphilosophie Hegels, näherhin in der Philosophie des Geistes lässt sich sinnvollerweise reden von einer Distanz zwischen Wert (Normierendem) und Subjekt sowie den dazugehörigen Implikationen der Lehre vom sog. ›Primat der praktischen Vernunft‹: hier hat die Konstellation eines ›Subjekts‹, das sich ›Werten‹ unterworfen weiß und darin ›Kultur‹ schafft, ihren genuinen Sinn.
41
Vgl. zum Sinn des Primats der Logik bei Hegel Christian Krijnen: Philosophie als System (vgl. Anm. 4), 186 ff. 42 Vgl. ebd., 4.2.3 f.; ders.: Selbsterkenntnis und Systemgliederung: Hegel und der südwestdeutsche Neukantianismus. – In: Hans Friedrich Fulda/ Christian Krijnen (Hrsg.): Systemphilosophie als Selbsterkenntnis. Hegel und der Neukantianismus. Würzburg 2006. 43 Der logischen Grundlage bin ich an anderer Stelle nachgegangen (Christian Krijnen: Philosophie als System (vgl. Anm. 4), 349 ff.). Dabei wurde die geistphilosophische Perspektive ausdrücklich ausgeblendet (ebd., 356, Anm. 199).
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2.2 Geistphilosophie als Freiheitsphilosophie [i] An dieser Philosophie des Geistes ist hinsichtlich des axiotischen Grundverhältnisses zunächst relevant, dass und wie sie auf Freiheit ausgelegt ist. Dazu muss man sich die von Hegel propagierte Systemstruktur vor Augen halten.44 Hegel zufolge hat die Philosophie nicht nur formal das Ganze zum Thema, sondern dieses Ganze ist auch inhaltlich ein einziges (wenn auch ein in sich differenziertes): der »einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie« ist die »absolute Idee« (II 484, vgl. E § 18). Die Unterschiede der »besonderen philosophischen Wissenschaften« betreffen folglich nur »Bestimmungen der Idee selbst« (E § 18 A). Hegel unterscheidet drei (besondere) Wissenschaften der Idee: die Logik qua »Wissenschaft der Idee an und für sich«; die Naturphilosophie qua »Wissenschaft der Idee in ihrem Anderssein«; die Geistphilosophie qua Wissenschaft der Idee, »die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt« (E § 18). Die Logik (bzw. das Logische) macht dabei die Grundlage des Systems aus, und damit auch der sich aus Natur- und Geistphilosophie zusammensetzenden Realphilosophie. Während die Logik Wissenschaft der Idee im Element des Denkens ist, sind die Realphilosophien Wissenschaften der Idee im Element des ›Reellen‹; man könnte auch sagen: Der Begriff des Realen wird nicht im Medium des Denkens (des Begriffs), sondern im Medium der Realität entwickelt. Das Element der Realphilosophie ist so nicht der Begriff, sondern das ›Dasein‹ des Begriffs. Natur und Geist sind unterschiedliche Weisen, das »Dasein« der absoluten Idee »darzustellen« (II 484). In der Realphilosophie werden Naturales und Geistiges als Konkretion von Logischem begriffen, und zwar: nicht als bloßes Anwendungsverhältnis zwischen äußerlichen Relata, sondern als Prinzipiationsverhältnis. Dabei erscheint die Natur als Prozess der Geistwerdung der Idee, der Aufhebung ihres Andersseins. Der Natur als »Idee im Elemente des Außereinander« (E § 312 A), eignet keine Selbstbezüglichkeit der Bestimmungen, wie sie für die geistige Wirklichkeit charakteristisch ist. In der Natur bleibt die Idee sich äußerlich, wenn auch in einem zunehmend geringeren Grad. Die Geistphilosophie ist wie die Naturphilosophie Ideenlehre: Lehre der Idee, »die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt« (E § 18), der zu ihrem »Fürsichsein gelangten Idee« (E § 381). Aufgabe der Geistphilosophie ist es, das Absolute als Geist zu begreifen (E § 384 A); Inhalt der Geistphilosophie sind sämtliche geistigen Tätigkeiten und Gehalte. Auch dieses Begreifen ist Funktion der Realisierung der abso-
44
Vgl. ebd., 4.2.1.2.
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luten Idee: am Ende des Realisierungsprozesses weiß diese sich in der ihr adäquaten Weise – in der Form des Begriffs. Die Realisierung der absoluten Idee im Element des Geistes ist vollendet, sobald der Geist zu einem Dasein gelangt, in dem er völlig befreit ist von Formen, die seinem Begriff nicht adäquat sind: nur dann ist der Geist »der Wirklichkeit nach« frei; diese Freiheit erlangt der Geist als etwas »durch seine Tätigkeit Hervorzubringendes«; entsprechend thematisiert die Geistphilosophie den Geist als »Hervorbringer seiner Freiheit«; die Entwicklung des Geistbegriffs stellt sodann »das Sichfreimachen des Geistes von allen seinem Begriffe nicht entsprechenden Formen seines Daseins dar« (TWA 8, § 382 Z). Formell genommen ist das Wesen des Geistes die Freiheit (E § 382), der Geist im Reich des Geistes ist ›freier Geist‹ (E §§ 382 mit 384). Dieser freie Geist »offenbart« (E §§ 383 ff.) sich,45 und zwar: in drei bzw. zwei Formen seiner selbst (E § 385): Als subjektiver Geist bezieht sich die Entwicklung des freien Geistes in einem engeren Sinne auf diesen selbst. Damit ist nicht nur das Wesen des Geistes Freiheit, sondern indem der »Begriff« des Geistes »für ihn« wird, wird ihm sein »Sein«, »bei sich, d. i. frei zu sein« (E § 385). Anschließend objektiviert der freie Geist sich zu einer geistigen Welt, die er sich allmählich adäquat macht, zu einer Welt also, in der »Freiheit als vorhandene Notwendigkeit« ist; in dieser Form seiner Tätigkeit und deren Produkt(e) ist der Geist »objektiver«, eine geistige Welt hervorbringender, Freiheit in der Realität verwirklichender Geist (E § 385). Subjektiver und objektiver Geist machen den endlichen Geist aus (E § 386). Davon zu unterscheiden ist der Geist als absoluter oder unendlicher Geist, der die Einheit des subjektiven und des objektiven Geistes ist. Hier betätigt der freie Geist sich in einer Weise, in der es um den Geist in seiner »absoluten Wahrheit« geht; als Wahrheit vereinigt diese Tätigkeit Subjektivität und Objektivität, »Objektivität des Geistes und seiner Idealität oder seines [subjektiven, ck] Begriffs«, d. h. die beiden vorangehenden Stufen geistiger Entwicklung; in dieser Form ist der Geist »absoluter Geist« (E § 385). Erst auf dieser Stufe geistiger Entwicklung liegt eine Weise des Offenbarens vor, die »Offenbaren im Begriffe« (E § 384), 45
Es ist ein Verdienst der Hegel-Deutung Fuldas, dass er zu einer religions- bzw. theologie-indifferenten, nämlich rein bestimmungstheoretischen Deutung von Hegels Philosophie kommt. Vgl. etwa wider die Deutung der Natur als Schöpfung Gottes Hans Friedrich Fulda: G.W.F. Hegel (vgl. Anm. 2), 178 ff.; wider das Verständnis des absoluten Geistes als Theologoumenon: ders.: Der letzte Paragraph der Hegelschen »Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften«. – In: Hans Christian Lucas/ Burkhard Tuschling/ Ulrich Vogel (Hrsg.): Hegels enzyklopädisches System. Von der »Wissenschaft der Logik« zur Philosophie des absoluten Geistes. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 481–506.
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Offenbaren in der Form des Begriffs ist. In diesem Offenbaren im Begriff ist nicht weniger die Natur einbezogen; denn das Offenbaren ist »Erschaffen« der Natur als Sein des Geistes, wodurch dieser die »Affirmation und Wahrheit seiner Freiheit sich gibt« (E § 384): Rein sachlich gesehen bringt Hegel so prägnant zum Ausdruck, dass der freie Geist in seinem Schaffen die Natur überformt und ihr dadurch ein geistiges Gepräge verleiht, in ihr ein Sein seiner selbst erschafft, in ihr letztlich sich im Begriff erfasst. Philosophie ist diejenige Gestalt des Geistes, in der der Geist sich in seinem eigenen Element durchsichtig wird: im Begriff (vgl. E § 384 A) – hier vereinigt sich in schlechterdings nicht mehr überbietbarer Weise die absolute Idee als Geist in ihrem Anderen, das die Natur ist, mit sich. [ii] In Bezug auf das Problem des axiotischen Grundverhältnisses und dessen Ethisierung sind vor allem Hegels Lehre vom subjektiven und objektiven Geist relevant: Zum subjektiven Geist: In der Philosophie des subjektiven Geistes muss geklärt werden, wie der Geist sich zum Erkennen bestimmt, und zwar: konform der logischen Ideenlehre sowohl hinsichtlich der theoretischen als auch der praktischen Dimension.46 Die erste Stufe dabei ist der (subjektive) Geist »an sich« als »Seele oder Naturgeist«, die zweite der (subjektive) Geist »für sich« als »Bewusstsein«, die dritte der (subjektive) Geist an und für sich als »sich bestimmender Geist, als Subjekt [theoretischer oder praktischer Tätigkeit, ck] für sich« (E § 387). Der Fortgang von der Seele zum Subjekt ist eklatanter weise Teil einer Entwicklung des Geistes zu sich, d. h. eines Bestimmungsprozesses »sich zu dem zu machen und für sich zu werden, was er an sich ist«, eines »Sich-zu-sich-selbst-Hervorbringens« (E § 87 A). Am Ende dieses Prozesses ist die Gestalt des »freien Geistes« erreicht (E §§ 481 f.). Hegel bestimmt den freien Geist als Einheit von theoretischem und praktischem Geist: »freier Wille, der für sich als freier Wille ist«, »Wille als freie Intelligenz« (E § 481), Geist, der sich als frei »weiß« und »will«, d. h. Geist, der sich seine Freiheit zum Zweck macht (E § 482). Die Einheit von
46
Vgl. für eine Darstellung der Ideenlehre der Logik etwa Klaus Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik. Bonn 1976, 289 ff. oder Rainer Schäfer: Hegels Ideenlehre und die dialektische Methode. –In: A.F. Koch/ F. Schick (Hrsg.): G. W. F. Hegel. Wissenschaft der Logik. Berlin 2002, 243–264. Vgl. zu Hegels Lehre von der logischen Idee des Erkennens und ihre Bedeutung für die Realphilosophie Hans Friedrich Fulda: Hegels Logik der Idee und ihre epistemologische Bedeutung. – In: Ch. Halbig / M. Quante / L. Siep (Hrsg.): Hegels Erbe und die Philosophie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2004.
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theoretischem Geist und praktischem Geist besteht in der Freiheit (Selbstbestimmung). In der Philosophie des objektiven Geistes kommt es anschließend darauf an, den freien Geist in seinem objektiven Dasein zu erkennen. Der freie Geist als Endergebnis des subjektiven Geistes ist nämlich »wirklich« (E §§ 480 f.) freier Wille; als wirklich freier Wille hat er Freiheit nicht nur zu seinem »Wesen«, sondern dieses Wesen zugleich zur »Bestimmung« und zum »Zwecke« (E § 482, vgl. § 483). Der objektive Geist ist also derjenige freie Wille, der sich das Dasein seiner Freiheit zum Zweck gemacht hat. Die Verwirklichung dieses Zwecks findet in einer »äußerlich vorgefundenen Objektivität« statt, die das »Material für das Dasein des Willens« ausmacht (E § 483). Indem der freie Wille seinen Begriff (Freiheit) »in der äußerlich objektiven Seite« realisiert, ist er »in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen«, ist der Begriff zur Idee vollendet (E § 484). Die Welt, die die »äußerlich objektive Seite« ist, erhält so die »Form der Notwendigkeit«; deren »substantieller Zusammenhang« ist die Freiheit – der »erscheinende Zusammenhang« hingegen ist ihr »Anerkanntsein«: ihr »Gelten im Bewußtsein« (E § 484). Der dergestalt erreichte Zusammenschluss von freiem (›vernünftigem‹: E §§ 482, 485) und einzelnem Willen – »Element« der »Betätigung« des freien Willens – macht die »Wirklichkeit der Freiheit« aus (E § 485). Durch diese Vereinzelung des wirklich freien Willens wird das ›äußerliche Material‹ durch Freiheit überformt, kommt Freiheit in die Welt, und zwar: laut Hegel zuerst als »Recht«, dann als »Moralität« und schließlich als »Sittlichkeit« (vgl. E § 487). 2.3 Zusammenhang von theoretischem und praktischem Geist im freien Geist Beim Geist als zu ihrem Fürsichsein gelangter Idee, deren Subjekt wie Objekt der Begriff ist (E § 381), kann es sich also nicht um einen abstrakten Allgemeinbegriff möglicher geistiger Tätigkeiten bzw. Geister handeln. In Anbetracht dessen, dass die absolute Idee kein Seiendes, Bestimmungen Voraussetzendes, sondern (allumfassender) Prozess ist, in die Natur und Geist ebenfalls nicht als Seiende, sondern als Prozesse, als Phasen des einen Prozesses, das die absolute Idee ist, einbezogen sind, ist der Geist vielmehr das Am-Werk-Sein (energeia) der Freiheit, auf den Zweck ausgerichtet, sich hervorzubringen und mit sich als Freiheit in Übereinstimmung zu kommen. Speziell im subjektiven Geist kommt es zu einer Aufnahme von Aspekten der logischen Ideenlehre dergestalt, dass der theoretische und der prak-
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tische Geist keinen Dualismus ausmachen, sondern in ihrer Unterschiedenheit oder Dualität die begriffliche Beziehung gewahrt bleibt, die zwischen Denken (theoretischem Geist) und Willen (praktischem Geist) besteht.47 Deren Einheit besteht nämlich in der Freiheit, die das Ziel beider ist. Den Dualismus beider hatte Hegel schon überwunden in der logischen Ideenlehre, in der Denken und Wollen zunächst im Rahmen der Idee des Wahren und der des Guten gedacht waren; der darin liegende Dualismus wurde mit dem Fortgang zur absoluten Idee aufgehoben. Im Unterschied zur Logik ist die Idee des Erkennens in der Geistphilosophie von vornherein auf die absolute Idee ausgelegt, also nicht bestimmt wie in der logischen Ideenlehre (vgl. E § 387). Geist ist ja die zu ihrem Fürsichsein gelangte absolute Idee. Der hinsichtlich des axiotischen Grundverhältnisses dabei besonders bedeutsame und weiter unten näher zu betrachtende Punkt ist: Der theoretische und praktische Geist, wie man auch sagen könnte: die theoretische und praktische Intelligenz, das theoretische und praktische agens gehören beide schon in der Erkenntnis zusammen, bestimmt doch die Intelligenz den Gegenstand der Erkenntnis, weiß, wie Hegel am Ende der selbsterkenntnisfunktionalen Entwicklung des theoretischen Geistes sagt, die Intelligenz sich »als das Bestimmende des Inhalts« (E § 468) – was zugleich den Übergang vom theoretischen in den praktischen Geist ausmacht, den Hegel näherhin als Willen bestimmt (vgl. noch E § 443). Denken und Wollen sind also keine voneinander losgelösten Größen bzw. isolierten Vermögen oder Tätigkeiten (E § 445 A; R § 4 Z); der Wille ist vielmehr eine besondere Weise des Denkens: »das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben« (R § 4 Z). Umgekehrt freilich ist auch das Wollen nicht ohne Denken (vgl. E § 469 f.). Beide Erkenntnisprozesse sind auf die Befreiung ihrer zunächst bestehenden einseitigen Subjektivität angelegt: Während die theoretischen damit beginnen, einen Inhalt als seiend in sich zu finden, die Intelligenz diesen Inhalt letztlich als den seinigen setzt (somit ›in ihm bei sich‹, d. h. ›frei‹ ist), und sich damit als Einzelheit in sich bestimmt; beginnen die praktischen mit diesem Sichselbstbestimmen und enden damit, dass die Intelligenz beim Setzen und Verwirklichen von Zwecken die Form der Allgemeinheit erlangt und der Wille sich somit zum »denkenden Willen« (E § 469, vgl. § 443) erhebt. Sowie das Denken sich qua »freier Begriff« nun auch dem »Inhalt« nach als frei herausstellt (E § 468), so überwindet der 47
Nicht ohne Grund kehrt Hegel sich in den einleitenden Paragraphen der Geistphilosophie gegen die »Zersplitterung« der »lebendigen Einheit des Geistes« in »verschiedenen, gegeneinander selbständig vorgestellten Vermögen, Kräfte oder […] Tätigkeiten« (E, § 379).
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Wille seine Subjektivität ebenfalls in der Selbstbestimmung, die Freiheit ist (E § 480). Beide Prozesse des Denkens und Wollens sind für sich genommen zwar nicht notwendig miteinander verträglich, können sich ihrer einseitigen Subjektivität wegen vielmehr gegenseitig be- und verhindern; sie kommen aber zur Übereinstimmung durch die Idee der Freiheit: im Geist »der sich als frei weiß und sich als diesen seinen Gegenstand will, d. i. sein Wesen zur Bestimmung und zum Zweck hat« – im »freien« Geist, und damit im Kontext der Hegelschen Philosophie als an und für sich freiem »Willen« (E §§ 481 mit 482, vgl. 469). So sind im subjektiven Geist als freiem Geist alle Tätigkeiten der theoretischen Intelligenz (Anschauen, Vorstellen, Denken) und der praktischen Intelligenz (praktisches Gefühl, willkürliche Triebbefriedigung, Eudämoniestreben) auf das Ziel der Freiheit ausgerichtet und daraufhin relativiert. Nur eine solche Selbstbestimmungsinstanz kommt zu wahren, objektiv gültigen Gehalten: weder das praktische Gefühl (E § 472) noch die Trieb-, Willküroder Glücksbestimmtheit (E §§ 474 mit 477 und 479 ff.) ist der objektiven Bestimmung, des objektiven ›Inhalts‹ (d. i. des Guten als Inhalt des Willens) fähig,48 und damit der theoretischen Erkenntnis, wahrer Gehalte, der Wahrheit. Im »wirklich freien Willen« als der »Einheit des theoretischen und praktischen Geistes« (E § 481), als Geist, der sich als frei weiß und will, kommen das Theoretische und das Praktische des Geistes zusammen.49 48
Der Wille ist der Subjektivität des Inhalts wegen nur an sich frei, denn die zu befriedigenden Bedürfnisse sind bloß ›gegeben‹. 49 Rometsch’ Deutung des Übergangs vom theoretischen zum praktischen Geist verfehlt so gesehen den entscheidenden Punkt: Rometsch zufolge weiß der theoretische Geist zwar, dass er über alle Inhalte der Erkenntnis verfügt, nur weiß die Intelligenz damit noch nicht »wie sich mit ihrem Besitz etwas anderes anfangen ließe als ihn zu erkennen« (Jens Rometsch: Hegels Theorie des erkennenden Subjekts. Systematische Untersuchungen zur enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes. Würzburg 2007, 225), wie die Intelligenz »diese Freiheit über ihre Inhalte anders als in bloßer Erkenntnistätigkeit gebrauchen könnte« (ebd., 226): »Wenn man nur weiß, dass und wie man Wissen produziert, weiß man noch nicht, wie man etwas anderes als bloßes Wissen produzieren könnte« (ebd., 227), die »Pointe« des Übergangs zum praktischen Geist sei, dass eine Selbsterkenntnis des Subjekts, die sich »nur als Erkenntnis« erkennt, »unvollständig« sei, da das Subjekt auch als Bestimmungsinstanz »aller anderen ihm möglichen Tätigkeiten« erfasst werden müsse (ebd., 245, vgl. 246 ff.). Zwar steht Rometsch damit die Möglichkeit der Objektivierung vor Augen (ebd., 226, vgl. 156, 227), und Rometsch mag zu Recht monieren, dass in der Forschungsliteratur der praktische und freie Geist nur als Coda des subjektiven oder Vorspann des objektiven Geistes gesehen werden (ebd., 226, Anm. 253); Rometsch selbst verkennt jedoch, dass es einen ›bloß‹ theoretischen Geist gar nicht gibt (für Rometsch’ Formel ›was man sonst noch mit dem Wissen anfangen könne‹, gibt es zudem keine Handhabe im Hegelschen Text), so dass die ›epistemologische‹ Bedeutung (vgl. ebd., 226, Anm. 253) des praktischen Geistes bzw. freien Geistes nicht darin liegt, zu wissen, wie man anderes als Wissen produzieren könnte, sondern darin, dass um das Wissen zu wissen, auch
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Ohne die Selbstbestimmungskompetenz der Intelligenz, sich von subjektiven (subjektiv gültigen) Bestimmungsgründen loszulösen und durch allgemeine oder objektive (objektiv gültige) zu bestimmen (und damit den Inhalt der Erkenntnis zu bestimmen), gibt es keine geistige Tätigkeit, die zu Recht Anspruch darauf erheben könnte, wahre Erkenntnis zu sein. Am Ende des subjektiven Geistes ist der Geist freier Geist und hat er sich als freier Geist erkannt; hier erweist sich die Intelligenz qua Subjekt erkennender Tätigkeit letztlich als Subjekt, das an und für sich frei und nicht bloß einseitig theoretisch oder einseitig praktisch agiert: es objektiviert seine Freiheit und ist darin eine Einheit von theoretischer und praktischer Intelligenz – freier Geist.48 Mit dieser Objektivierungsdimension der Freiheit wird die die Bestimmungskompetenz des erkennenden Subjekts gewusst werden muss, weil sonst unverstanden bleibt, was es heißt, dass die Intelligenz das Bestimmende des Inhalts ist, d. h. wie sie verfasst sein muss, um Inhalt bestimmen zu können: sie muss frei sein, sich im eminenten Sinne selbst bestimmen können. Mit dieser ›Entwicklung des Begriffs‹ wird so bei Hegel die Freiheitsbestimmtheit des ›Willens‹ in der Erkenntnis hervorgekehrt (dass dies geschieht, bleibt Rometsch natürlich nicht verborgen (ebd., 246 f.), er deutet aber offenbar den systematischen Stellenwert dieses Sachverhalts anders). – Vielleicht ist Rometsch durch Fuldas mehrdeutige, aber von Fulda wohl erkenntnisfunktional gemeinte Formulierung, dass sich nur im freien Geist der »fürs Gute aufgeschlossene Wille« zu Gehalten entschließt, »die eo ipso auch wahr sind« (Hans Friedrich Fulda: G.W.F. Hegel (vgl. Anm. 2), 196; Hans Friedrich Fulda: Anthropologie und Psychologie in Hegels »Philosophie des subjektiven Geistes«. – In: Ralph Schumacher (Hrsg.): Idealismus als Theorie der Repräsentation? Paderborn 2001, 121) auf die falsche Fährte gesetzt. – Ich halte daher auch Rometsch’ Behauptung, Hegels subjektive Geistphilosophie fasse den Geist nicht bloß als eine »erkenntnisintentionale Beziehung zwischen Subjekt und Objekt«, sondern wesentlich auch als »handlungsintentional« (Jens Rometsch: Hegels Theorie des erkennenden Subjekts, 79), für zu unpräzise; denn eine »ausschließlich« erkenntnisintentionale Beziehung im Sinne Rometsch‹ gibt es nach Hegel nicht: der erkennende Geist ist freier Geist, also immer auch praktischer Geist. Rometsch leistet damit zugleich einer ethisierenden Deutung des Erkennens Vorschub, noch abgesehen davon, dass Hegel zufolge die praktische Hervorbringung des subjektiven Geistes nicht »Tat und Handlung« ist, sondern so etwas sehr Indifferentes wie »Genuß« (E § 444). 48 Insofern verdeckt Neuhousers durchaus auch hilfreiche Bestimmung von Freiheit bei Hegel die systemische Anlage von dessen Geistphilosophie: Neuhouser unterstreicht zwar, der meist allgemeine Freiheitsbegriff Hegels sei der der ›Selbstbestimmung‹ im Sinne von ›Beisichsein im Anderen‹ (Frederick Neuhouser: Foundations of Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom. Cambridge u.a. 2000, 18 f.); zugleich aber unterscheidet er ›theoretische‹, genauer, wie er sagt, ›spekulative‹ (als Fall von theoretischer: ebd., 21) von ›praktischer‹ Freiheit wie sie im Sozialen realisiert werde (ebd., 18, 20 f.). Lässt man das Soziale als das eigentliche Anliegen Neuhousers beiseite, dann bleibt gleichwohl, dass Neuhouser Freiheit im Kontext der Rechtsphilosophie als ›praktische‹ Freiheit auffasst, näherhin als Freiheit des ›Willens‹ (spezifiziert wiederum als persönliche Freiheit (›abstraktes Recht‹), moralische Freiheit (›Moralität‹), soziale Freiheit (›Sittlichkeit‹)), realisiert in der ›Außenwelt‹ durch ›Handlungen‹ (ebd., 21). Neuhouser begünstigt damit nicht nur zu Unrecht eine (weitverbreitete, vgl. meine Anm. 52) Deutung der Philosophie des objektiven Geistes als praktischer Philosophie, sondern lässt zugleich den (damit zusammenhängenden) Sachverhalt unberücksichtigt, dass der Endpunkt des
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Dimension des Geistes als ›Beziehung auf sich‹ verlassen und zur Dimension des objektiven Geistes, des objektiv werdenden, sich ein objektives System von Freiheitsbestimmungen (Objektivierungen, Verwirklichungen aus Freiheit) schaffenden Geistes fortgeschritten.
2.4 Programmatische Konvergenzen und der Wille als Divergenz Blickt man vom Erreichten zurück auf das axiotische Grundverhältnis, dann lassen sich was das Programmatische betrifft durchaus Konvergenzen mit dem Hegelschen Modell feststellen [i] – zugleich lässt sich auch und entscheidend eine Differenz feststellen, die sodann eingehend zu thematisieren ist [ii]. [i] Hegels freier Geist bietet auf der Ebene der Geistphilosophie eine Lösung für den Primat der praktischen Vernunft, die es so bei Kant nicht gibt, von Fichte zwar ins Rollen gebracht wurde, Fichtes praktische Färbung aber vermeidet und im übrigen anders als Fichte nicht einem die durchgängige Einheit sprengenden Dualismus von Ich und Nicht-Ich verfällt, also ›immanente‹ Explikation der Einheit des Denkens bleibt, von der reinen Unmittelbarkeit ›Sein‹ bis zur Realisierung der absoluten Idee im ›absoluten Geist‹. Hinsichtlich des axiotischen Grundverhältnisses lässt sich näherhin sagen, dass es ein Verhältnis nicht bloß eines Geistes überhaupt, eines Naturgeistes, eines theoretischen oder praktischen Geistes ist, sondern das eines freien Geistes: Die Werte, zu denen sich das Subjekt verhält, sind dem axiotischen Grundverhältnis gemäß nicht bloß irgendwelche Werte, sondern letztlich solche Werte, die Bestimmungsstücke des Subjekts, der ›theoretischen und praktischen bzw. freien Intelligenz‹, selbst sind, seine Subjektität ausmachen; es sind, wie es heißt: ›unbedingte‹ Werte, in die die bedingten freilich einbezogen sind und ihren Sinn verdanken. Auch im axiotischen Grundverhältnis geht es um Selbstbestimmung und damit um Selbstgestaltung; und obwohl dieses Selbstgestaltungsverhältnis nicht wie bei Hegel zugleich als
subjektiven Geistes nicht der praktische Geist bzw. der Wille ist, sondern der freie Geist – den Hegel freilich als an und für sich freier Wille bestimmt, der aber damit Einheit von praktischem und theoretischem Geist ist. Für die Kennzeichnung der Freiheit im Kontext der Philosophie des objektiven Geistes als ›praktischer‹ Freiheit müsste eigens argumentiert werden. Wer dabei jedoch so argumentiert, dass im Unterschied zur spekulativen Freiheit praktische Freiheit eine ›praktische‹ Beziehung zur Welt involviere, eine Welt, die durch sie bestimmt und willentlich verändert werde (ebd., 21), dem dürfte es schwer fallen zu verneinen, dass eine willentliche Beziehung zur Welt auch im absoluten Geist vorhanden ist, also ›praktisch‹ offenbar unzureichend diskriminiert.
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Selbsterkenntnisverhältnis entwickelt wird, spielt der selbsterkenntnisfunktionale, wie man dann besser sagte: der selbstvergewisserungsfunktionale Aspekt durchaus eine prominente Rolle, kulminiert doch die Bestimmung einer jeden Wertsphäre in der philosophischen Erkenntnis des in allem wert-, zweck- oder ideenorientierten Leisten vorausgesetzten Begriffs eben der jeweiligen Orientierungsdeterminante und damit zugleich in der Aneignung des Normierenden als Eigenes (›Denken‹ und ›Wille‹ hängen also auch hier zusammen).51 Kurz: Im axiotischen Grundverhältnis ist das Subjekt frei, weiß es sich als frei und setzt es seine Freiheit als Zweck seiner Tätigkeit: das axiotische Grundverhältnis ist nicht bloß ein Gestaltungs-, sondern immer auch ein Selbstgestaltungsverhältnis, mag es sich auch in wichtigen Punkten von dem Hegelschen unterscheiden. Einen Dualismus von Denken und Willen (qua Selbstbestimmungsinstanz) gibt es jedenfalls nicht, sondern beide kommen in einer jeglichen geistigen Gestaltung zusammen. Und wie bei Hegel der Geist als »Wille« in die »Wirklichkeit« tritt (E § 469, vgl. § 482 u. ö.), so ist das Subjekt im axiotischen Grundverhältnis die Vereinzelungsinstanz der Geltung. Wie bei Hegel die Unterscheidung von theoretischem und praktischem Geist nicht mit der von Theorie und Praxis zusammenfällt, sondern der freie Geist Voraussetzung von Theorie und Praxis qua Daseinsgestalten des Geistes ist, so ist das im axiotischen Grundverhältnis vorliegende Normierungsverhältnis ebenfalls Voraussetzung möglicher ›Güter‹, also möglicher Geltungsphänomene. Wenn Hegel also darauf aufmerksam macht, dass in der Sphäre des subjektiven Geistes der theoretische und praktische Geist noch nicht als »aktiv« und »passiv« zu unterscheiden sind, sondern der subjektive Geist »hervorbringend« ist, wenn auch »formell« (immerhin handelt es sich im subjektiven Geist bekanntlich (E § 385) um eine Beziehung des Geistes auf sich im Unterschied von der Realität als der vom Geist hervorgebrachten Welt), so ist in diesem Sinne auch die Produktion im axiotischen Grundverhältnis formell. Wie im axiotischen Grundverhältnis das Normiertsein, die Wert- oder Ideenbezogenheit des Subjekts hervortritt, so tritt bei Hegel dieses Normiertsein ebenfalls hervor, sobald die Bestimmungsinstanz im Bestimmen, der ›Wille‹, thematisch wird: in der Entwicklung des praktischen Geistes (E §§ 469 ff.) wird deutlich, dass und wie der Geist als Wille, als »sich selbst den Inhalt gebend« (§ 469) ein »gedoppel-
51
Vgl. zur diesbezüglichen Differenz von Selbstgestaltung und Selbsterkenntnis Christian Krijnen: Selbsterkenntnis und Systemgliederung (vgl Anm. 36), 113–132; ders.: Der geltungsreflexive Bildungsgang. Bemerkungen zu Werner Flachs Systemkonzeption. – In: Thomas Göller/ Christian Krijnen (Hrsg.), Geltung und Begründung: Perspektiven der Philosophie Werner Flachs, Würzburg 2007, 59–70; ders.: Philosophie als System (vgl. Anm. 4).
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tes Sollen« in der Selbstbestimmung enthält (E § 470). Dabei stellt sich heraus: Im ›praktischen Gefühl‹ (des Angenehmen und Unangenehmen) wirkt das Sollen qua Selbstbestimmung in einer maximal unmittelbaren Weise; es entwickelt sich aber über die ›Triebe‹ (Bedürfnisse zu befriedigen), die ›Willkür‹ (sich für oder gegen Triebe zu entscheiden) und die ›Glückseligkeit‹ (als durch Willkürentscheidungen herbeizuführenden Idealzustand maximaler Triebbefriedigung) zur maximalen Selbstbestimmung; hier ist Selbstbestimmung – also die ›Freiheit‹, die das »Wesen« (E § 382) des Geistes ist – selbst zur Bestimmtheit des Willens, zum ›Inhalt und Zweck‹ des Willens gemacht und damit die Triebhaftigkeit seines Inhalts überwunden (E §§ 471–480). Kurz: der Geltungsbezug wird von der bedingten bis hin zur unbedingten Gestaltung herausgearbeitet – wie im axiotischen Grundverhältnis.52 [ii] Nun lässt sich keineswegs in Abrede stellen, dass es vielerlei logische und methodische Differenzen gibt zwischen der spekulativen Begriffsentwicklung Hegels und derjenigen kantianisierender Transzendentalphilosophie.53 Das kann hier aber nicht mein Thema sein. Vielmehr muss in Bezug auf das axiotische Grundverhältnis als geistphilosophisches und vor dem Hintergrund der skizzierten Problematik des Primats der praktischen Vernunft und der Grundlegungsaufgabe einer Sozialontologie etwas anderes auffallen: Hegel fasst die Bestimmungskompetenz des agens, der Intelligenz, von vornherein als Willen ebenso wie er den freien Geist – laut Ergebnis der Philosophie des subjektiven Geistes Einheit von theoretischem und praktischem Geist, Geist, der sich als frei weiß und will – als »wirklich freien Willen« bestimmt (E §§ 480 ff.). Der freie Wille ist sodann der Anfangspunkt der Philosophie des objektiven Geistes (E § 483). Es ist dies ein doppelter und in der Forschung viel zu wenig beachteter,54 aber wegen der nachhegelschen Entwicklungen in puncto axiotischen Grundverhältnisses notwendig zu thematisierender Problemkomplex: 52
– ganz dezidiert bei Hans Wagner: Philosophie und Reflexion (vgl. Anm. 10), §§ 25–28 oder Werner Flach: Grundzüge der Ideenlehre (vgl. Anm. 10), Kap. 2 ff. 53 Vgl. dazu ausführlich Christian Krijnen: Philosophie als System (vgl. Anm. 4). 54 Eine Ausnahme ist Fulda insofern, als er in seiner Besprechung des Rechts nur nebenbei darauf hinweist, dass man konzedieren muss, der freie Geist sei eo ipso Wille und nicht vom Willen noch verschieden, ohne allerdings auf dieses zu machende Zugeständnis weiter einzugehen (Hans Friedrich Fulda: G. W. F. Hegel (vgl. Anm. 2), 198). Interessant ist diesbezüglich auch, dass die mögliche Spannung, die zwischen Freiheit und Wille besteht, in schwankenden und schwebenden Formulierungen ihren Niederschlag findet: Während Fulda von den theoretischen und praktischen Erkenntnisprozessen schreibt, sie kämen zur Adäquation in der Idee der »Freiheit oder vielmehr des freien Willens« (ebd., 195, kurs. ck), heißt es zu jener Idee ebenfalls, sie sei die der »Freiheit bzw. des Willens« (Hans Friedrich Fulda: Hegels Begriff des absoluten Geistes. – In: Hegel-Studien, 36 (2001), 171–198, kurs. ck). – Weder bei Jens Ro-
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1. braucht man ein Argument dafür, die, sagen wir, Bestimmungskompetenz des Subjekts als ›Willen‹ auszuzeichnen, und zwar: nicht auch als Willen, d. h. als eine Bestimmungsdimension unter anderen (wie im axiotischen Grundverhältnis die Sphäre des Willens eine spezifische Selbstgestaltungsdimension ausmacht);55 2. braucht man ein Argument dafür, in der Einheit des theoretischen und des praktischen Geistes, der der freie Geist ist, die Dimension des Willens, also des praktischen Geistes, so prävalieren zu lassen, dass die Erkenntnis des objektiven Daseins des freien Geistes – die Aufgabe einer Philosophie des objektiven Geistes – Erkenntnis des Daseins des (freien) Willens ist. Gibt es die erforderlichen Argumente bei Hegel? Sind sie gültig? Und falls sie (teilweise) fehlen: was spricht systematisch für, was gegen die Hegelsche Option? 2.5 Selbstbestimmung als Wille? Zunächst will ich versuchen, klar zu machen, dass es bei Hegel kein zureichendes Argument für die Identifikation von Bestimmungskompetenz und Willen gibt, dass Wille vielmehr eine spezifische Gestalt der Bestimmungskompetenz ist, also die Protagonisten des skizzierten axiotischen Grundverhältnisses am längeren Hebel zu sitzen scheinen (2.5.1). Sodann versuche ich darzulegen, was dennoch dafür spricht, den Anfang des objektiven Geistes, wie Hegel, mit dem Willen zu machen, jene Protagonisten also auch den kürzeren ziehen, was zugleich Rückwirkungen auf ersteres hat (2.5.2).
metsch: Hegels Theorie des erkennenden Subjekts (vgl. Anm. 44) noch bei Dirk Stederoth: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Ein komparatorischer Kommentar. Berlin 2001, Adriaan Peperzak: Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar zur enzyklopädischen Darstellung der menschlichen Freiheit und ihrer objektiven Verwirklichung. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991 oder etwa Frederick Neuhouser: Foundations of Hegel‘s Social Theory (vgl. Anm. 44) ist Hegels Willensbegriff als Bestimmungskompetenz im freien Geist auch nur zum sachlichen Problem geworden. Gleiches gilt für Michael Städtler: Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei Hegel, Thomas und Aristoteles. Berlin 2003, der sich ausdrücklich den Zusammenhang der theoretischen mit der praktischen Philosophie zum Thema gesetzt hat. 55 – namentlich die von Ethik bzw. Sittlichkeit. Vgl. aus dem Angebot der Gegenwartsphilosophie etwa Hans Wagner: Philosophie und Reflexion (vgl. Anm. 10), § 26 oder Werner Flach: Grundzüge der Ideenlehre (vgl. Anm. 10), 70 ff.
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2.5.1 Wider den Willen Argumentativ gesehen geht es Hegel im Übergang vom theoretischen zum praktischen Geist darum, dass der theoretische Geist sich in der Erkenntnis selbst bestimmt, die denkende Intelligenz das Bestimmende des Inhalts und insofern Wille ist. Was ist das Argument für die Identifikation von Selbstbestimmung und Willen? Zwar schreibt Hegel mit ihr ein Kantisches Erbe fort – Wille als praktische Vernunft, als (auf die Bestimmungsgründe des Willens abgestelltes) sich Gesetze gebend und gemäß Gesetzen bestimmend Am-Werk-Sein der Vernunft –, aber genau dessen Geltung ist vor dem Hintergrund des axiotischen Grundverhältnisses fraglich, so dass für es eigens argumentiert werden müsste. Hegel kritisiert zwar die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft – ist er jedoch von ihr selbst ebenfalls über Gebühr bestimmt? Da Hegel an der besagten Stelle des Übergangs (E § 468) nicht eigens für die Identifikation argumentiert, gilt es an anderer Stelle nach einem Argument Ausschau zu halten, und zwar an derjenigen Stelle, wo der Willensbegriff eingeführt wird. Dies geschieht in der logischen Ideenlehre, und zwar: innerhalb der kleinen Logik (a) wie innerhalb der großen (b). (a) Die enzyklopädische Logik ist nicht ergiebig, sondern bestätigt geradezu die Vermutung einer nicht eigens reflektierten Identifikation, möglicherweise begünstigt durch die auf der Hand liegende sprachliche Assoziation von Sollen mit Wollen: In E § 232 zeigt Hegel auf, dass das endliche Erkennen, das seinen Inhalt zunächst als bloß Gegebenes hat, im ›Beweis‹ Notwendigkeit hervorbringt und damit in Nicht-Gegebenem, aber dem Subjekt Immanentem seine Grundlage hat, wodurch die Idee des Erkennens in die des »Wollens« übergeht. Dessen Inhalt ist sodann »das Gute«; die »vorgefundene Welt« wird ihm gemäß, also gemäß dem »Zweck« (des Guten) bestimmt (E § 233). Ergo: Wie in der Geistphilosophie ist auch hier die Bestimmungskomponente von vornhinein als Wille bzw. Wollen gefasst.56 (b) In der Logik liegt die Sache im Kern nicht anders: Die Idee des Erkennens ergibt sich aus der des Lebens, die am Ende nicht mehr »unmittelbare Idee«, sondern zur Bestimmtheit gelangt ist, dass die Idee »sich zu sich als Idee verhält«, und damit »Idee des Erkennens« ist (II 429). Die absolute Idee
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So auch in den allgemeinen Ausführungen zum Erkennen: Hegel unterscheidet hier den Trieb des Wissens nach Wahrheit, d. i. das Erkennen als solches, d. i. die theoretische Tätigkeit der Idee, vom Trieb des Guten zu dessen Vollbringung, d. i. das Wollen, d. i. die praktische Tätigkeit der Idee (E § 225).
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qua Subjekt-Objekt-Einheit ist sie freilich nur in einer einseitig subjektiven Verfasstheit: die »Idee in ihrer Subjektivität und damit in ihrer Endlichkeit überhaupt« (II 438). Sie ist zwar Subjekt, aber Subjekt, welches das Wahre noch sucht und dem ein bloß gegebener Gegenstand gegenübersteht, das diesen Gegenstand sodann in Begriffsbestimmungen verwandelt und sich darin auf sich bezieht (vgl. II 438). Die Idee des Erkennens erweist sich dabei näherhin zunächst als theoretisches Erkennen unter der ›Idee des Wahren‹ und sodann als praktisches Erkennen (und sich Verwirklichen) unter der ›Idee des Guten‹, wobei es sich bekanntlich um einander gegenläufige Bewegungen der Aufhebung einseitiger Subjektivität handelt. Im Rahmen der theoretischen Idee des Wahren für das theoretische Erkennen ist die zu erkennende Welt bloß das Gegebene; diese Vorgefundenheit des Inhalts wird in der »Idee des Guten« überwunden, erhält die Welt hier doch die Funktion, Mittel für die Realisierung von Zwecken zu sein. Die zu realisierenden Zwecke sind dabei Zwecke des Subjekts, ihm immanent, also keine äußerliche Gegebenheit.57 Am Ende des Erkennens unter der Idee des Wahren stellt sich heraus, dass dieses im ›Beweis‹ mit »Notwendigkeit« konfrontiert wird, ohne dass es damit innerhalb des Rahmens theoretischen Erkennens zum »Begriff als Einheit seiner mit sich selbst in seinem Gegenstand oder seiner Realität« kommt: der Gegenstand bleibt ein »äußerlicher, d. i. nicht durch den Begriff bestimmter Stoff« (II 476 f.). Genau diese dem theoretischen Erkennen fehlende Bestimmung liegt jedoch in der praktischen Idee vor. Von der damit erreichten »praktischen« Idee redet Hegel auch als vom »Handeln« (II 477). Auch hier geht es darum, dass ein Subjektives sich ›realisiert‹: »der Zweck, der sich durch sich selbst in der objektiven Welt Objektivität geben und sich ausführen will« (II 477). Was da realisiert wird, ist »das Gute« (II 478). Ohne Umstände spricht Hegel von der »Willensidee«, die er aber schlicht charakterisiert als das »Selbstbestimmende«, das »für sich den Inhalt in sich selbst hat« (II 478). Während dem theoretischen Erkennen die »vorhandene Wirklichkeit« als das »wahrhaft Seiende« gilt, gilt dem praktischen Erkennen diese Wirklichkeit »als das an und für sich Nichtige, das erst seine wahrhafte Bestimmung und einzigen Wert durch die Zwecke des Guten erhalten solle«
57
Vor dem Hintergrund unserer Analyse wundert es nicht, dass Rainer Schäfer (Hegels Ideenlehre und die dialektische Methode (vgl. Anm. 40), 255) moniert, Hegel liefere keine Begründung für einen kontinuierlichen Übergang zwischen theoretischer und praktischer Subjektivität und dabei verweist auf Kants Auffassung, die praktische Vernunft bzw. der Wille sei ein eigenständiges, nicht aus der theoretischen Vernunft ableitbares Vermögen. – Indes soll bei Hegel genau die Bestimmungskomponente diese ›Ableitung‹ besorgen; mitnichten aber ist damit schon so etwas wie ›Wille‹ abgeleitet.
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(II 481 f.). Auch in diesem Kontext identifiziert Hegel praktisches Erkennen bzw. praktische Idee umstandslos mit »Willen« (II 481). Daraus ergibt sich: Der Argumentation nach kommt es was die Bestimmtheit des ›Praktischen‹, ›Willens‹ oder ›Handelns‹ betrifft, auf die Bestimmungsinstanz im Bestimmungsprozess an, auf das ›Bestimmende im Inhalt‹. Diesbezüglich kann von einem ›spezifischen‹ Vermögen unter anderen Vermögen, von einem spezifischen Gebrauch von ›Willen‹, ›praktisch‹, ›Handeln‹, ›dem Guten‹, wie er in der wirkungsmächtigen praktischen Philosophie bzw. Ethik Kants vorliegt, gar keine Rede sein. Offenbar haben wir es mit einem Tätigkeitsbegriff sui generis zu tun – wie im axiotischen Grundverhältnis. Mit einem Tätigkeitsbegriff, der zudem sowohl im Kontext der Logik wie im Rahmen der Enzyklopädie dem Problem der Erkenntnis verbunden ist: die Logik ist eine Lehre »begreifenden Denkens« (I 23) und die Geistphilosophie dem Delphischen Orakel der Selbsterkenntnis verbunden (E § 377), so dass in der Philosophie des subjektiven Geistes entsprechend geklärt werden muss, wie der Geist sich zum Erkennen bestimmt (E § 387).58 58
Peperzak thematisiert Hegels Philosophie des praktischen subjektiven Geistes und der des objektiven Geistes unter dem Titel »Hegels praktische Philosophie« (Adriaan Peperzak: Hegels praktische Philosophie (vgl. Anm. 52; Hegels Lehre vom praktischen Geist enthalte sogar »entscheidende Prinzipien für eine Ethik (ebd., 19) bzw. biete als Psychologie die »Grundlegung einer Moralphilosophie« (ebd., 26) bzw. der »Ethik« (ebd., 99). Abgesehen davon, dass Peperzak feststellen muss, dass eine inhaltliche Ethik den Einbezug des objektiven Geistes erfordert (ebd., 105 f.), verdeckt eine solche ›praktische‹ Fokussierung den Sinn von Hegels Geistphilosophie, die gerade die tradierten Unterscheidungen zu relativieren versucht (Stederoth folgt Peperzak und sieht in der Philosophie des praktischen Geistes ebenfalls eine Fundamentalethik: Dirk Stederoth: Hegels Philosophie des subjektiven Geistes (vgl. Anm. 44), 387). Ebenso wird speziell über den objektiven Geist bzw. Teile daraus in ethischen Termini gesprochen: K. Düsing etwa fasst Hegels Sittlichkeitslehre als »politische Ethik«, auch Albena Neschen (Ethik und Ökonomie in Hegels Philosophie und in modernen wirtschaftsethischen Entwürfen. Hamburg 2008) bietet eine ethisierende Deutung des subjektiven und objektiven Geistes, Neuhouser übersetzt ›Sittlichkeit‹ mit ›ethical life‹ (Foundations of Hegel’s Social Theory (vgl. Anm. 44), 5, 9 u. ö.) und fasst Hegels Sozialphilosophie als Teil der Hegelschen ethischen Theorie (ebd., 9 f.). Obwohl Schnädelbach sehr wohl weiß, dass Hegel den Terminus nicht verwendet und anders als Aristoteles den Begriff des Praktischen nicht für zureichend trennscharf und fundamental gehalten hat, diskutiert er Hegels Philosophie des objektiven Geistes unter dem Titel ›Praktische Philosophie‹ (Herbert Schnädelbach: Der objektive Geist. – In: Herbert Schnädelbach (Hrsg.): Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹. Frankfurt a.M. 2000, 289–316, 289 ff.). Als Titelbegriff fungiert ›Hegels praktische Philosophie‹ (bzw. ›ethisches Leben‹) auch bei Pippin (Robert B. Pippin: Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life. Cambridge u. a. 2008). – Was wäre dann Hegels ›theoretische Philosophie‹? Die ›Logik‹, die Philosophie des absoluten Geistes, der subjektive theoretische Geist, Teile aus ihnen, eine Kombination? Und ist Hegels freier Geist nicht eine Einheit von theoretischem und praktischem Geist? Ist die Philosophie des objektiven Geistes nicht primär aus Hegels Begriff des Geistes zu verstehen, der Begriff des Praktischen also im Kontext des Geistbegriffs bestimmt? Wer darunter anderes
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Zweifelsohne spielen dabei Aspekte eine Rolle, die ihren angestammten Sitz in der ›praktischen Philosophie‹ bzw. ›Ethik‹ haben – bei Hegel aber im Rahmen einer Geistphilosophie abgehandelt, also geistphilosophisch gemodelt und folglich in ihrer Bestimmtheit modifiziert werden. Allerdings wundert Hegels Terminologie nicht; denn dass, was mit dem Geist an Zuständen, Tätigkeiten und deren Produkte involviert ist, ist uns an uns selbst bekannt und im vorstellenden Denken unserer alltäglichen wie auch in philosophischen Redeweisen geläufig. Gerade weil anders als in Hegels Naturphilosophie die Stadien der Begriffsentwicklung nicht für sich existieren, sondern die Bestimmungen und Stufen des Geistes »wesentlich nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höheren Entwicklungsstufen« sind (E § 380), tut sich das Erfordernis auf, Termini zu finden, die uns angesichts vertrauter Phänomene bekannt sind, und sich dazu eignen, jene abstrakt gedachten Geistphänomene, wenn sie denn für sich existierten, zu benennen bzw. die wir in der Antizipation einer späteren, also konkreteren Gestalt des Geistes jetzt schon geneigt sind zu verwenden.59 ›Wille‹, ›Handeln‹, ›praktisch‹, ›das Gute‹ usw. liegen zweifelsohne nahe, um die Bestimmungsdimension zu qualifizieren. Sie müssen freilich in der Bestimmtheit genommen werden, die sich aus der Hegelschen Argumentation ergibt, nicht in der, die sich aus der alltäglichen bzw. tradierten philosophischen Redeweise ergibt. Was ergibt sich aus Hegels Argumentation für denjenigen Begriff, der der ausschlaggebende ist im praktischen und freien Geist: den Begriff des Willens? Es ergibt sich primär einen weiten, keineswegs auf tradierte Gehalte der praktischen Philosophie bzw. Ethik festgelegten und vom Denken losgelösten Begriff: Im Kontext eines Selbsterkenntnisprozesses erweist sich der Wille als Grundbegriff des Praktischen bzw. des praktischen Geistes. Als solversteht bzw. in die Geistphilosophie eine Ethik hineinliest, müsste sich auch der Aufgabe unterwerfen, sein eigenes (zweifelsohne der Tradition entnommenes) Verständnis von ›praktisch‹ und ›ethisch‹ zu explizieren und dieses Verständnis im Kontext der Hegelschen Philosophie zu rechtfertigen, bevor Hegels Philosophie in solchen Begriffen charakterisiert werden soll. Gewiss bietet Hegels Geistphilosophie formale und materiale Ansatzpunkte für das, was die praktische Philosophie und die Ethik jenseits Hegel war oder ist, aber Hegels Geistphilosophie ist weder das eine noch das andere. (Hösle deutet Hegels Begriff des praktischen Geistes als den der poiesis (Vittorio Hösle: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Hamburg 1988, 394 f.), was verwunderlich ist, da die Objektivierungsdimension Thema des objektiven Geistes als Dasein des freien Geistes ist, dessen Produktionen also auf Freiheit ausgelegt sind.) 59 Vgl. zu diesem Problem des ›Namhaftmachens empirischer Erscheinungen‹ (E § 246 A) im Rahmen der Geistphilosophie die Überlegungen von Hans Friedrich Fulda: G. W. F. Hegel (vgl. Anm. 2), 161. Für Hegels Einbezug empirischen Materials in die philosophische Begriffsbildung vgl. Christian Krijnen: Philosophie als System (vgl. Anm. 4), 190 ff.
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cher Grundbegriff ist er Begriff der sich als »das Bestimmende des Inhalts« wissenden Intelligenz (E § 468, vgl. § 443), und damit Begriff des ins Dasein, in die Wirklichkeit tretenden Geistes (E § 469, vgl. § 482); der Wille ist sozusagen ›tätiger Zweck‹ (vgl. E § 484), das Wollen darauf angelegt, die Welt »nach seinem Zwecke zu bestimmen« (E § 193). Als Begriff dieser Bestimmungsinstanz, als »sich selbst den Inhalt gebend« (E § 469) wird er jedenfalls in der Philosophie des subjektiven Geistes abgehandelt. Liegt die Sache aber so, dann scheint es sich was das axiotische Grundverhältnis betrifft bloß um einen terminologischen Streit zu handeln. Von einer ›Ethisierung‹ oder ›Praktizierung‹ des subjektiven Geistes kann der Sache nach nicht die Rede sein: wir haben es nicht mit Hegels »praktischer Philosophie«60 zu tun – was freilich nichts daran ändert, dass Hegels Willensterminologie praktischen bzw. moralphilosophischen Tätigkeitsbestimmungen Vorschub leistet, die dann den Begriff des Erkennens freilich verunreinigen, statt dessen Sinn klar zum Ausdruck zu bringen: die freie Intelligenz hat Dasein.
2.5.2 Für den Willen Gleichwohl scheint die Konzentration auf den Willen sachlich für eine Ethisierung der Geistphilosophie zu sprechen. Denn ist es nicht so, dass das Dasein der freien Intelligenz als Ansatzpunt des objektiven Geistes nicht nur als (freier) ›Wille‹, sondern zugleich als »Recht« bestimmt wird (E §§ 483 ff.)? Also doch als eine Gestalt, die paradigmatischerweise zur ›praktischen‹ Philosophie gehört und die zudem noch als fundiert in einem Begriff gedacht wird, der seit Kant Grundbegriff der Moralphilosophie ist? Ist das objektive Dasein der Vernunft dann doch ›bloß‹ praktisch, statt es gemäß dem axiotischen Grundverhältnis zunächst als objektives Dasein sui generis aufzufassen, das sich dann in unterschiedliche ›Kulturgebiete‹ spezifiziert? Liegt somit eine Ethisierung vor? Schon insofern trivialerweise ›ja‹, als Hegels Philosophie des objektiven Geistes als ›Rechtsphilosophie‹ konzipiert ist, das Dasein des freien Willens ganz allgemein als »Recht« bestimmt wird (E § 486), etwa schon zu Beginn dieser Philosophie der vernünftige Wille als das Allgemeine im subjektiven Willen eingebildet ist als »Sitte« (E § 485), bald von »Rechten« und »Pflichten« die Rede ist (E § 486), sodann das »Eigentum« zum Thema wird, und auch ansonsten eine Vielzahl von Themen der klassischen Rechts- und Staats60
Vgl. Anm. 52.
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philosophie verhandelt werden, wenn auch in modifizierter und neuartig begründeter Weise. Vom Gesichtspunkt des axiotischen Grundverhältnisses aus gesehen, thematisiert Hegel damit zweifelsohne eine spezifische Dimension der Selbstgestaltung des Subjekts und identifiziert folglich Objektivierung von Freiheit mit Rechtsverhältnissen. Bei näherer Betrachtung ist die Sachlage jedoch komplizierter und muss das Urteil in Sachen Ethisierung differenzierter ausfallen. Dreierlei ist dabei zu berücksichtigen: die Logik des Fortgangs spekulativer Begriffsentwicklung und deren Bedeutung für die Realphilosophie [i], das Recht als umfassender Begriff von Freiheitsrealisierung [ii], die erkenntnisfunktionale Bestimmtheit des Rechts als Moment der Selbsterkenntnis der Idee [iii]. Der erste dieser drei Aspekte gibt zudem Anlass, die oben entwickelte Deutung und Problematisierung des Willens und damit zugleich die der Hegelschen Lehre vom subjektiven Geist um einen Gesichtspunkt zu ergänzen, der gerade für Hegels Geistlehre wesentlich und in Bezug auf das axiotische Grundverhältnis aufschlussreich ist. [i] Gemäß der Logik des Fortgangs spekulativer Begriffsentwicklung und deren Bedeutung für die Realphilosophie,61 bildet der Anfang einer neuen Bestimmungssequenz diejenige Bestimmtheit, die der zuletzt erreichten maximal äußerlich ist. So ist Hegels Naturphilosophie bezeichnenderweise Wissenschaft der »Idee in ihrem Anderssein« (E § 18); die Natur ist also thematisch als Idee in der »Form des Andersseins« (E § 247). Deren begriffliche Entwicklung ist dem in der Logik befolgten und bestimmten Verfahren verbunden: der Explikation (›Setzung‹) von Vorausgesetztem, die Bestimmung des anfänglich Unbestimmten. Anders als die Logik gehen die beiden Realphilosophien indes von einem gegebenen, d. h. von der Logik bzw. der Naturphilosophie bereitgestellten, Begriff aus. Dieser Begriff wird sodann in methodisch geregelter Weise ›realisiert‹. Dadurch schließen sich die logische und die ›daseiende‹ Dimension des Begriffs zusammen und die Bewegung wird eine zur bzw. der ›Idee‹ (qua in der Objektivität mit sich zur Übereinstimmung gekommenem Begriff ). Gemäß der spekulativen Struktur der Begriffsbewegung ist das jeweils Andere, etwa die Natur als das Andere des Logischen, als genitivus subjectivus zu verstehen, verdankt sich folglich der Selbstverbesonderung des ursprünglich Allgemeinen, das strikt genommen die absolute Idee als »einziger Gegenstand und Inhalt der Philosophie« (II 484) ist. Auch die Natur ist also Idee, jedoch als das Andere der Idee oder als Idee ›in der Form des Andersseins‹, inhaltlich gesehen: als Idee in einem 61
Vgl. zur Logik des Fortgangs spekulativer Begriffsentwicklung Christian Krijnen: Philosophie als System (vgl. Anm. 4), 3.4.2, was speziell die Realphilosophie betrifft vgl. 4.2.1.2.
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ihr maximal inhomogenen Element. So kommt es zu einer methodisch bzw. logisch fundierten Qualifikation des Anfangsbegriffs. Es ist eine Qualifikation, die zugleich den Selbstbestimmungsgang der Idee weitertreibt; denn beim Sich-Äußerlichsein der Idee kann es nicht sein bewenden haben; vielmehr ergibt das Sich-Äußerlichsein der Idee als Natur für Hegel einen »Widerspruch« (E § 250; vgl. § 248 A). Die Äußerlichkeit muss also überwunden werden. Die Idee bestimmt sich folglich im Element des Realen, geht von der ›Äußerlichkeit‹ zur ›Innerlichkeit‹ des Begriffs fort. – Und wie die Naturphilosophie ist auch die Geistphilosophie Ideenlehre: Lehre der Idee, »die aus ihrem Anderssein in sich zurückkehrt« (E § 18), der zu ihrem »Fürsichsein gelangten Idee« (E § 381). Auch hier kommt es für das philosophische Begreifen des Geistes darauf an, dass der Geist als Funktion der Realisierung ihres einzigen Gegenstandes und Inhalts, d. i. der absoluten Idee, gedacht wird: am Ende des Realisierungsprozesses (im ›absoluten Geist‹) weiß die Idee sich in der ihr adäquaten Weise, nämlich in der Form des Begriffs. Was heißt das für das Problem der Ethisierung? Gemäß der Logik spekulativer Begriffsbildung, muss es sich am Anfang der Philosophie des objektiven Geistes um einen Begriff von Geist handeln, der dem erreichten Endbegriff des subjektiven Geistes als dem des freien Willens maximal äußerlich ist. Dieses Dasein des freien Willens ist Hegel zufolge das Recht. Das Recht ist dabei keineswegs in beschränkter Weise gefasst, sondern ausdrücklich »umfassend« bestimmt als »das Dasein aller Bestimmungen der Freiheit« (E § 486). Es ist im Zuge der spekulativen Begriffsentwicklung auch nachvollziehbar, dass Hegel den Aspekt des Willens im freien Geist prävalieren lässt und zum Grundbegriff des objektiven Geistes macht (während im absoluten Geist das Denken im Vordergrund steht): Der Wille ist bekanntlich nichts vom Denken Getrenntes, sondern geradezu eine Art von Denken, nämlich das Denken »als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben« (R § 4 Z, vgl. E § 233), »denkender Wille« (E § 469). Innerhalb des freien Geistes macht ebendieses Moment des Willens als Trieb das maximal äußerliche Moment des Denkens, das maximal äußerliche Moment der Freiheitsrealisierung des Geistes aus. Auf dieses Denken aber ist der Entwicklungsgang der Enzyklopädie als der selbsterkenntnisfunktionale Gang der absoluten Idee angelegt, von ihrer unbestimmten Unmittelbarkeit am Anfang der Logik bis hin zu ihrem realen Sich-Wissen am Ende des absoluten Geistes. Es treten also die oben erwähnten zwei im folgenden zu berücksichtigenden Gesichtspunkte hervor: das Recht als umfassender Begriff von Freiheitsrealisierung und die erkenntnisfunktionale Bestimmtheit des Rechts als Moment der Selbsterkenntnis der Idee.
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Bevor diesen zwei Gesichtspunkten nachzugehen ist, gilt es auf einen Einwand einzugehen. Man könnte nämlich monieren, der skizzierte Übergang vom subjektiven in den objektiven Geist sei bloß ›abstrakt‹, denn er argumentiere eben von der Logik spekulativer Begriffsentwicklung her, folge damit aber nicht dem Argumentationsgang Hegels, der diesen Übergang aus der dort entwickelten Sache selbst bewerkstellige, mag dieser Übergang auch eine Exemplifikation allgemeinerer Verhältnisse sein. Dem ist so. Wie einsichtig der Übergang aus der abstrakten Überlegung auch zu werden vermag, es handelt sich um eine Skizze von einer Metaperspektive her, die möglicherweise inhaltliche Aspekte verdeckt, die gerade für das Verständnis des Willens bzw. freien Geistes bei Hegel und dessen Relevanz für das axiotische Grundverhältnis bedeutsam sind. Tatsächlich wurde im vorherigen einerseits ständig darauf hingewiesen, dass der Entwicklungsgang der Enzyklopädie als selbsterkenntnisfunktionaler Gang der absoluten Idee angelegt ist; es wurde zudem darauf hingewiesen, dass es im axiotischen Grundverhältnis zwar um ein Selbstbestimmungsverhältnis qua Selbstgestaltungverhältnis geht und dieses Selbstgestaltungsverhältnis anders als bei Hegel nicht zugleich als ein Selbsterkenntnisverhältnis entwickelt wird; anderseits aber wurde dieser selbsterkenntnisfunktionale Aspekt gerade bei der Deutung des Willens und des freien Geistes zurückgestellt und auf die Bestimmungskompetenz der Intelligenz als allgemeines Charakteristikum abgestellt. Kehrt man den selbsterkenntnisfunktionalen Aspekt hervor, dann wird klar, dass am Ende der begrifflichen Entwicklung des subjektiven Geistes ein freier Wille konstituiert ist, d. h. der Wille ein wirklich freier Wille ist: freier Wille, der für sich als freier Wille ist. Der Wille ist so gesehen nicht bloße Bestimmungskompetenz (die selbstverständlich frei, sich als frei wissend und wollend sein muss), sondern in sich bestimmt und sich in dieser seiner Bestimmtheit wissend und wollend, und in dieser Einheit von theoretischem und praktischem Geist zugleich Moment im Selbsterkenntnisprozess der Idee. Als dieses Moment macht der freie Wille, wie Hegel sagt, das »Dasein der Vernunft« (E § 482) aus, und zwar als freier Wille, der darauf aus ist, sich in einer äußerlich vorgefundenen Objektivität Dasein zu geben, seinen Begriff, Freiheit, zu verwirklichen, und insofern, selbsterkenntnisfunktional gesprochen, »an sich die [absolute, ck] Idee«, »nur Begriff des absoluten Geistes« ist (E § 482, vgl. § 483). Es ist genau dieser selbsterkenntnisfunktionale Impetus der Hegelschen Begriffsentwicklung, der eine entscheidende Differenz zum axiotischen Grundverhältnis hergibt, die eben auch auf der Ebene des subjektiven Geistes zum Tragen kommt und ohne die die dort entwickelten Bestimmungen nicht ihre volle Bestimmtheit haben. Berücksichtigt man diesen selbster-
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kenntnisfunktionalen Impetus, dann wird deutlich, warum in Hegels Konzeption gerade der Wille qua wirklich freier, sich und damit der Idee Dasein gebender Wille der Anfang des objektiven Geistes bzw. Recht ist. [ii] Beim exponierten Begriff des Rechts handelt es sich um einen weiten Rechtsbegriff, in welchem Wille als energeia (Wirklichkeit), als Am-WerkSein der Freiheit, als sich vernünftig zum Dasein Bestimmen des Geistes ist. Diesem weiten Begriff des Rechts gemäß, gilt es den Begriff des Rechts als Dasein des freien Willens, der die Freiheit zu seiner »inneren Bestimmung und Zweck« hat, in einer »äußerlich vorgefundenen Objektivität« zu verwirklichen und damit den Begriff der Freiheit in der »äußerlich objektiven Seite« zu realisieren, freilich so dass er sich zur »Idee« vollendet (E § 483 f.). Der Anfang macht dabei das »abstrakte Recht« (E § 487) qua Dasein des wirklich freien Willens in einzelnen Personen, die ihren Willen in ihnen äußerlichen Gegenständen legen (E §§ 488 ff.). Zu Beginn der Ausführungen über das abstrakte Recht haben wir es mit einem Fall eines sich maximal-äußerlichSein des freien Geistes zu tun – mit demjenigen Fall, in dem sich sozusagen das Subjektsein des freien Geistes noch gar nicht an ihm selbst manifestiert, sondern an einer »äußerlichen Sache«, und zwar: es manifestiert sich im Erheben eines Anspruchs auf »Besitz« bzw. »Eigentum«, also darin, dass »Ich« meinen »Willen« in eine Sache hineinlege (E §§ 488 f.). So kommt ein Prozess begrifflicher Entwicklung in Gang. Dieser Prozess setzt beim freien Willen in seinem ›unmittelbaren‹ Auftreten an (abstraktes Recht), geht sodann in eine ›in sich reflektierte‹ Gestalt über (Moralität) und endet im Rahmen des objektiven Geistes beim »substantiellen« Willen, in der Subjektivität und Objektivität in Übereinstimmung gebracht sind (Sittlichkeit) (E § 487) – jedenfalls was den willentlichen Aspekt im freien Geist anbelangt, denn der Entwicklungsgang schreitet fort zum absoluten Geist (Kunst, Religion, Philosophie). Im absoluten Geist wird das Sich-Wissen der Idee als Geist Thema, so dass der Gang von der maximalen ›Äußerlichkeit‹ zur maximalen ›Innerlichkeit‹ zur Vollendung gelangt. Der Anfang mit dem abstrakten Recht hat also den tieferen Sinn, die Dimension der Realisierung von Freiheit aus einer Form maximaler Äußerlichkeit des freien Geistes zu begreifen. Die Realisierungsperspektive der Freiheit ist die dominierende – nicht die Ausrichtung auf das Recht. Das Recht hat vielmehr selbst einen selbsterkenntnisfunktionalen Sinn; entsprechend ändert sich die Bedeutung von ›Recht‹ in der Philosophie. Der selbsterkenntnisfunktionale Sinn geht freilich den tradierten Rechtsphilosophien vorher, liegt er ihrem Rechtsbegriff doch zugrunde. In der Philosophie des objektiven Geistes geht es um Daseinsgestalten des freien Geistes, angefangen bei der minimal adäquaten
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des abstrakten Rechts bis hin zur maximal adäquaten, der im Rahmen des objektiven Geistes die Sittlichkeit ist. [iii] Der selbsterkenntnisfunktionale Sinn des Rechts als Movens der Hegelschen Entwicklung des objektiven Geistes führt über diesen hinaus zum absoluten Geist. Die objektiv-geistigen Gestalten des freien Geistes liefern nämlich keine adäquate Form des Wissens seiner selbst – erst mit dem absoluten Geist liegt dergleichen vor. Der objektive Geist wird zwar im Laufe seiner Entwicklung zu einem »in der Sittlichkeit denkenden Geist«, der sich darin zu einem »Wissen seiner in seiner Wesentlichkeit« (dem Wesen der Sittlichkeit) erhebt (E § 552); dieses Wissen um seiner willentlichen Zwecktätigkeit ist jedoch noch keine wissende Selbstbeziehung. Ohne diese wissende Selbstbeziehung könnten wir aber nicht sein, was wir sind: freier Geist. Erst im absoluten Geist ist eine Gestalt des Wissens erreicht, »in welcher die wissende Vernunft frei für sich« ist; für den absoluten Geist sind »Natur und Geschichte nur seiner Offenbarung dienend«, ihm funktional subordiniert (E § 552). Der absolute Geist ist diejenige Form des Geistes, in der der Geist sich als Geist thematisch wird, sich als Geist weiß: erst im Begriff des absoluten Geistes ist der Begriff des Geistes verwirklicht; genauer und umfassender: mit dem absoluten Geist ist die absolute Idee realisiert – das Wissen, das mit dem absoluten Geist realiter vorliegt, ist Wissen der absoluten Idee (auch der absolute Geist ist freier Geist und damit Wille, aber auf das Willensmäßige kommt es nicht mehr an). Dieses Sich-Wissen des Geistes erfolgt in drei Gestalten wissender Selbstbeziehung: in Kunst, Religion und Philosophie (E §§ 556 ff.). Hier hat der »Begriff« des Geistes seine »Realität« im Geist, während der subjektive und der objektive Geist aus systemtheoretischer Perspektive der »Weg« sind, auf dem sich das Wissen, das der absolute Geist ist, »ausbildet« (E § 553).
3. Schluss Wer sich für eine Sozialontologie interessiert und dabei die Geschichte der Philosophie als Herausforderung ernst nimmt, kommt nicht daran vorbei, sich mit dem Problem der Selbstbestimmung und des mit ihm verbundenen Verhältnisses von theoretischer und praktischer Vernunft auseinanderzusetzen. Diese Problemkonstellation ist im axiotischen Grundverhältnis der kantianisierenden Transzendentalphilosophie gedacht. Sie bietet damit eine umfassende, nicht bloß in praktischer bzw. willensmäßiger oder handlungsmäßiger Spezifikation explizierte Lehre von der Freiheit (Selbstbestimmung)
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des Subjekts und der Kultur als Objektivation freier Leistungen. Vor dem Hintergrund der Philosophie Hegels bildet das axiotische Grundverhältnis eine besondere Herausforderung; Hegel ist nämlich ebenfalls auf eine Überwindung des tradierten Gegensatzes von theoretischer und praktischer Philosophie aus, fasst aber gleichwohl Selbstbestimmung primär als Wille und diskutiert die Objektivierung des freien Geistes im Rahmen des Rechts qua Dasein der Freiheit. Indem tradierte Termini wie ›praktisch‹, ›Wille‹ oder ›Recht‹ bei Hegel eine prominente Stellung gewinnen, scheint er das axiotische Grundverhältnis aufs ›Praktische‹ zu reduzieren und einer ›Ethisierung‹ das Wort zu reden. Eine eingehende Analyse dieses Sachverhalts führt jedoch zu einer differenzierten Beurteilung dessen, was da in Hegels Entwicklung des Systems der Philosophie vor sich geht. Vor allem muss man sich vor Augen halten, dass schon in der Erkenntnis der theoretische und der praktische Geist zusammengehören. Das praktische Moment betrifft dabei das sich als das Bestimmende des Inhalts wissende Moment des Geistes. Es handelt sich also um eine allgemeine Bestimmungscharakteristik, die zwar mit tradierten Termini (etwa aus der Kantischen Philosophie) belegt wird, die freilich bei Hegel einen über den spezifisch praktischen Kontext hinausgehenden Sinn haben, ohne dass die Identifikation von Wille und Bestimmungskompetenz des Subjekts von Hegel eigens problematisiert wurde. Auf der Ebene des subjektiven Geistes handelt es sich bezüglich einer möglichen Ethisierung so gesehen eher um eine terminologische Angelegenheit, nicht um eine sachliche Differenz. Gleichwohl macht sich hier die im Vergleich zur kantianisierenden Transzendentalphilosophie andersartige philosophische Theoriebildung bemerkbar, denn der Wille erweist sich nicht nur als Bestimmungskompetenz des Subjekts in seiner Selbstgestaltung, sondern in einem und zugleich als solches Moment im Selbsterkenntnisgang der Idee. Gerade im Kontext des objektiven Geistes wird in Bezug auf die Ausgestaltung der Objektivierungsdimension des Geistes deutlich sichtbar, was dieser selbsterkenntnisfunktionale Impetus nach sich zieht. Denn Hegel lehnt das axiotische Grundverhältnis nicht nur insofern ab, als er die für das axiotische Grundverhältnis maßgebende Idee der Selbstgestaltung durch die der Selbsterkenntnis überformt; mit dieser Überformung geht aus Gründen, die das Programm und die Methode der Philosophie Hegels betreffen, zugleich eine selbsterkenntnisfunktionale Objektivationsordnung einher, die mit dem Recht anhebt. Es wundert infolgedessen nicht, dass im absoluten Geist – dort, wo der »Begriff des Geistes« seine »Realität im Geiste« hat (E § 553) – das Moment des Denkens im Willen prävaliert. Wenn Hegel den Anfang des objektiven Geistes als Recht deutet und dieses als fundiert im Begriff des
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Willens konzipiert, so hat dies sachlich nichts mit einer ›Ethisierung‹ bzw. mit ›praktischer Philosophie‹ zu tun. Der erkenntnisfunktionale Impetus der Systementwicklung indiziert tatsächlich eine ganz entscheidende Differenz zwischen Hegels Ansatz und dem des axiotischen Grundverhältnisses, wird doch ein andersartiges Ordnungsprinzip der Bestimmungen ins Spiel gebracht. In Bezug auf den diesem Themenkomplex vorangehenden Sachverhalt ist jedoch klar geworden, dass Normiertsein, Selbstbestimmung bzw. Freiheitsrealisierung und -Objektivierung keineswegs an ›praktische‹ Verhältnisse rückgebunden ist, sondern allgemeinere Verhältnisse maßgebend sind. Herauszuarbeiten, was im herausgeschälten Tätigkeitsbegriff sui generis und der aufgewiesenen Differenz des Ordnungsprinzips von Bestimmungen speziell liegt für den Begriff des Sozialen und damit für eine Sozialontologie, muss einer weiteren Untersuchung vorbehalten bleiben.
Das Verschwinden der Metaphysikkritik beim späten Schelling Lu De Vos
Es ist schon eine erstaunliche Tatsache, dass Schelling ab 1800, nach dem Atheismusstreit, scheinbar unbefangen erneut über das Absolute redet. Noch erstaunlicher scheint es, dass er in seiner Spätphase, die spätestens mit der Erstfassung der »Philosophie der Offenbarung« (1831/32) beginnt, in einer positiv genannten Philosophie Gott und göttliche Offenbarung als für alle erkennbare und philosophisch erkannte und nicht bloß religionsphilosophische Themen betrachtet. Nach Kants »Kritik der reinen Vernunft« ist die philosophische Betrachtung der Religion zwar eine spezifisch philosophische, aber nicht mehr metaphysische Wiederherstellung wenigstens eines einzelnen ›eminenten‹ Gegenstandes der besonderen Metaphysik.1 Schelling verspricht aber mehr: Die positive Philosophie leistet seinem Programm nach genuin philosophische Gotteserkenntnis. Sie tut dies zwar nicht aus, dafür aber zumindest mit Vernunft, sofern sie den Begriff des Monotheismus als positive Grundlage nicht nur der Mythologie, sondern auch der reellen oder positiven Offenbarung Gottes darstellt.2 Diese positive Philosophie scheint also insgesamt metaphysische Theologie (eine Disziplin der besonderen Metaphysik) und Philosophie der doppelten religiösen Offenbarung in einem zu sein. Ihr geht immer eine ausführliche, vielleicht notwendige Einleitung voraus, die zum Teil oder insgesamt als negative Philosophie bezeichnet wird.
1
Vgl. Walter Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 9–91. – Die Metaphysik überhaupt betrachtet das Verhältnis von Denken und Sein, was weiterhin eine genuin philosophische Aufgabe bleibt. Metaphysik hat immer auch die Bedeutung von ›alter‹ (vergangener oder vormaliger) Metaphysik: Diese war gespalten in eine allgemeine Metaphysik vom Sein und Seienden überhaupt, die als unabhängig vom Denken gefasst wurden, und eine besondere Metaphysik, die spezifische Seiende unabhängig vom Denken als je Seiende bestimmte. ›Dogmatisch‹ heißt sie, sofern sie nicht das Verhältnis von Denken und Sein als Problem betrachtet, sondern es schon als zugunsten des Seins gelöst erachtet. ›Metaphysisch‹ bedeutet in diesem Zusammenhang daher immer, wenn nicht als Sprachgebrauch von Schelling gekennzeichnet, dass schon gewusst wird, dass es Sein oder Seiendes gibt, unabhängig von der Bestimmung desselben, obwohl die Philosophie oder die Vernunft dasselbe doch gerade in deren Bedeutung zu erweisen hat. Die sogenannte metaphysische Seinsvergessenheit wäre, nach diesem Sprachgebrauch, wirklich schlecht oder dogmatisch-metaphysisch. 2 Horst Fuhrmans: Der Ausgangspunkt der Schellingschen Spätphilosophie. – In: Kant-Studien 48 (1956/57), 302–323; vgl. ders.: Schellings letzte Philosophie. Berlin 1940.
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Ob diese in der Lage ist, die erneut betrachteten Themen der besonderen Metaphysik auch gegen metaphysik-kritische Skepsis zu rechtfertigen, steht in diesem nicht theologisch orientierten Beitrag zur Diskussion. Mit den vorherigen Aussagen sind alle wichtigen Themen der Schellingschen Spätphilosophie, Vernunft, negative und positive Philosophie, Gotteserkenntnis und Formen der Offenbarung, berührt. Diese insgesamt zu thematisieren, ist nicht das Ziel dieses Beitrags. Sein Vorgehen ist stärker eingegrenzt: Es wird lediglich gefragt, warum Schelling sich scheinbar über die alleszermalmende Kritik Kants bezüglich der vernünftigen Erkenntnis der metaphysischen Dinge hinwegsetzen kann. Damit die Frage nicht unbestimmt bleibt, ist genau zu überprüfen, welche Metaphysik-Konzeption Schelling selbst hat und welche Kant nach Schelling zu Recht kritisiert. Es ist die Frage, ob es nur die besondere oder auch die allgemeine ist. Weiter stellt sich die Frage: Vermag es Schelling wirklich, Gotteserkenntnis mit Vernunft (ohne hinzugezogene christliche oder sonstige spezifische Offenbarung) zu vollführen?3 Vorweg bereits die Hauptthesen: Schelling erkennt Kants Kritik nicht als Metaphysikkritik überhaupt an. Die grundlegende Kritik der Vernunft wird in seinen Augen nicht zur Kritik jeder (dogmatischen) Metaphysik erweitert, sondern als Aufgabe einer rein logischen Philosophie gedeutet. Diese negative Philosophie übernimmt damit die Funktion der allgemeinen Metaphysik oder einer in ihrer Bedeutung beschränkten Ontologie, die vollständige Lehre eines möglichen Seienden zu sein. Die wirkliche Metaphysik vollzieht sich in der rationalen Theologie der positiven Philosophie, die zugleich als Philosophie der Mythologie und Offenbarung die (neu entstandene) Religionsphilosophie (schon) beerbt und umfasst. Damit stellt Schelling die ganze (aristotelisch artikulierte) Metaphysik, aber in einer jetzt eindeutig und genau ausgearbeiteten Fassung, wieder her. Ob sie auf diese Weise vertretbar ist, bleibt im Weiteren meine Hauptfrage. Der Beitrag ist in die folgenden Schritte gegliedert. Erstens beleuchte ich die Varianten der Metaphysik, wie sie Schelling in seiner Spätphase unterscheidet. Zweitens betrachte ich die Formen der Metaphysik, die mit Schellings Darstellung der negativen und positiven Philosophie verbunden wer-
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Meine Frage erhebt sich auch angesichts folgender, mehrfach erfahrener Verwunderung: Was ist eigentlich los, dass fast jede philosophische (nicht die theologisierende) Schellinglektüre die Einleitungskonzeption (negative Philosophie) betrachtet und sich nicht mit Schellings Ziel, mit dem Monotheismus und der (mythologischen und geschichtlichen) Offenbarung als der geschehenen Handlung Gottes auseinandersetzt, ja diese Themen nahezu als Holzweg betrachtet?
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den können. Drittens versuche ich die Konzeption nachzuzeichnen und ihre Rechtfertigung zu überprüfen.
I. Begriffe der Metaphysik in Schellings Spätphase Die Metaphysik insgesamt ist, so Schelling, die Wissenschaft, die sich auf Gegenstände bezieht, die über das bloß Physische und Natürliche hinausreichen. Sie beschäftigt sich vorzugsweise mit Übernatürlichem und Übersinnlichem.4 Der Hauptgegenstand dieser (sonst ›ehemalig‹ genannten) Metaphysik war Gott, sowohl an sich als auch in seinem Verhältnis zur Welt. Weitere Themen waren die Welt als Ganzes und der Mensch als Band zwischen der physischen und höheren, übernatürlichen Welt. Darüber hinaus betrachtete sie die Freiheit des menschlichen Willens und den Unterschied zwischen Gut und Böse und zuletzt die Geistigkeit der menschlichen Seele und deren Fortdauer nach dem Tode. Mit diesem Programm referiert Schelling die klassisch gewordene, besondere Metaphysik. Weil diese Metaphysik nicht Hyperphysik, sondern Metaphysik war, betont er auch, dass die bis jetzt nicht angesprochene sinnliche Natur auch eine metaphysische Seite hat, sofern an der sichtbaren Natur selbst nicht alles Gegenstand einer bloß physischen Erörterung ist. Durch diese letztere Allusion wird entweder auf die allgemeine Metaphysik (der Natur) oder auf die (grundlegenden) kantischen metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft alludiert.5 Wichtiger aber war und ist für Schelling die an erster Stelle schon genannte rein theologische Problematik: Das Ziel aller metaphysischen Bestrebungen war und ist es, die Mittel zu finden, mit denen Gott oder das Übersinnliche par excellence erkannt werden kann. Diese fand die frühere Metaphysik zwar in den drei verschiedenen Arten der Erkenntnis, i. e. Verstand, Erfahrung und Vernunft, wobei Verstand und Erfahrung die gegebenen Quellen der Erkenntnis sind. Die Metaphysik ist aber keine schon gegebene, ohne unser Zutun vorhandene Wissenschaft, sondern eine durch die Vernunft zu erzeugende, wissenschaftliche Erkenntnis, weil sie auf Gott schließen lässt. (Vgl. O 31–34).6 4
Mit dieser Defintion ist die Metaphysik weder die Untersuchung des Verhältnisses von Denken und Sein noch eine andere Ansicht besonderer Denkbestimmungen, sondern vorzugweise beschäftigt sie sich mit Seienden, die nicht auf Natur oder sinnliche Welt reduziert werden können, was demnach eine gewisse Vorentscheidung mit sich bringt. 5 Dabei zeigt sich schon, dass diese Metaphysik keine andere (spezifisch philosophische) Ansichtsweise der Dinge ist, sondern eine besondere Erörterung einer (zweiten) realen Seite ebendieser. 6 Ich zitiere Schelling nach verschiedenen Editionen. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling:
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I.1 Die geschichtlich gewordene Metaphysik Die so umschriebene Aufgabe der Metaphysik wird von Schelling als wichtig und einzigartig anerkannt, dennoch unterscheidet er in den Einleitungen auf verschiedene Weise ausgeprägte Metaphysikbegriffe: Die alte oder griechische, die mittelalterliche und zuletzt die neuzeitliche oder ›ehemalige‹ Konzeption derselben. Diese Differenz bildet sich immer weiter in geschichtlichen Varianten aus und setzt sich gleichfalls zunehmend intensiver anlässlich der Aristoteles-Auseinandersetzung durch. In der alten oder griechischen Metaphysik bildet Aristoteles den Anfang, obwohl es nicht klar ist, wie sich der Titel seines Buches, das das Lehrbuch aller Zeiten geworden ist, zur eigentlichen Lehre der Metaphysik verhält. (Vgl. RR 380). Die Hauptbegriffe der aristotelischen Metaphysik sind nach Schelling für das heutige Verständnis deshalb so wichtig, weil dann, wenn man sich denkend verhält, kein wesentlicher Unterschied zwischen den von Schelling abgeleiteten Prinzipien, den sogenannten Potenzen in Beziehung auf das Sein selbst, und den vier Prinzipien oder Ursachen des Aristoteles besteht. (RR 409) Damit ergibt sich eine erste Möglichkeit, Schellings Einleitungskonzeption oder seine negative Philosophie ausdrücklich zur Frage nach dem Sein des Seienden in dessen Sein in eine enge Beziehung zu setzen. Im Mittelalter war der Scholastik die Metaphysik die eigentliche und höhere Wissenschaft, obwohl sie als bloße Kategorien- und Prädikatenlehre begriffen wurde. (RR 334) Darüber hinaus wurde die scholastische Metaphysik als natürliche Theologie verstanden. Obwohl diese sich um die Auffassung Gottes als eines Einzelwesens mit einem eigenen Dasein bemüht hat,
Urfassung der Philosophie der Offenbarung. Hrsg. v. Walther Ehrhardt. Hamburg 1992. Im weiteren Verlauf zitiert mit der Sigle U und Seitenzahl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Grundlegung der positiven Philosophie. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Torino 1972. Im weiteren Verlauf zitiert mit der Sigle G und Seitenzahl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der rein-rationalen Philosophie. – In: ders.: Werke XI. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart 1856–1861. Im weiteren Verlauf zitiert mit der Sigle RR und Seitenzahl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Die Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten. – In: ders.: Werke XI. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart 1856–1861. Im weiteren Verlauf zitiert mit der Sigle Q und Seitenzahl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Mythologie. – In: ders.: Werke XII. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart 1856–1861. Im weiteren Verlauf zitiert mit der Sigle M II und Seitenzahl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung. – In: ders.: Werke XIII und XIV. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart 1856–1861. Im weiteren Verlauf zitiert mit der Sigle O bzw. O II und Seitenzahl.
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hat das ontologische Argument, aus dem Begriff auf das Sein zu schließen, keinen weiteren Eingang in die herrschende Metaphysik gefunden. (vgl. RR 260–264) In der Neuzeit ändert sich die Sachlage. Die natürliche Theologie, die sich mit dem Dasein Gottes beschäftigt und ihren eigentlichen Zweck in der Theodizee sieht, bleibt der wichtigste Teil der ›ehemaligen‹ Metaphysik. Dabei nimmt sie diesen Begriff des höchsten Wesens aus der Überlieferung. Das vorzugsweise Metaphysische und gleichsam die Crux der rationalen Theologie ist ihr das ontologische Argument geworden.7 (U 11–12) Aus dem Begriff Gottes folgt Gott, wenn er existiert, aber dass Gott existiert, folgt aus dem Begriff Gottes nach Schelling nicht. Denn der aufgestellte Begriff kann ohne die vorzeigbare Existenz nichts über die Existenz aussagen. (G 164) Für Schelling beweist also das ontologische Argument nicht die Existenz, weil es eine Dichotomie von Begriff und Existenz gibt. Oder aber die Metaphysik nimmt das ontologische Argument in einem anderen Sinn und versteht Gott als ein in seiner logischen Begrifflichkeit bloß abgelöstes bzw. subjektives (gewusstes) Wesen, als bloß abstrakte, gedachte Substanz des Seins. Jene ältere Metaphysik empfand allerdings, dass mit diesem Begriff Gott nicht eigentlich gegeben sein könne. Deshalb ging sie zu einem zweiten ›kosmologischen‹ Argument fort, in dem sie Gott als die letzte Ursache betrachtet hat. Der rationale Bestandteil der vormaligen Metaphysik ist genau dieser logische Schluss, worin sie mit subjektiven Begriffen über die objektiven, existierenden Dinge hinweggegangen ist. Sie ist aber niemals immanente Wissenschaft der Vernunft gewesen, weil sie nicht bestimmt gesagt hat, inwiefern genau Gott der Schöpfer der Welt ist. (G 165–6) Denn sie hat keine dem Stoff selbst innewohnende Ursache erkannt, sondern bloß ein Analogie-Verfahren als ihre eigentliche Methode verwendet. Gegen die Überlieferung einerseits und gegen den Mangel an Immanenz, wie diese bei der Analogie auftrat, andererseits erregte sich der Empirismus, der auf alles Metaphysische verzichten und als einzige Quelle die Erfahrung gelten lassen wollte.8 (RR 277–282) Darauf folgte in Deutschland eine neue Phase, in der sich die metaphysischen Begriffe nicht einfach mehr voraussetzen ließen, sondern dazu anregten, als angeborene im Rahmen eines Hauptkapitels tiefer verstanden zu werden. Denn Ideen sind metaphysische Gedanken, die als über die Erfahrung hinausgehende nicht mehr Gedan-
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Dies Argument geht zwar auf das Verhältnis von Denken und Sein, schließt aber unter Bezug auf ein unabhängig Seiendes oder Sein. 8 Hier wird Metaphysik als ›über die Erfahrung hinaus‹ gedeutet, was ja – nach Kant – genau die Bedeutung hat, ›überfliegend‹ zu sein.
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ken sind, die der Erfahrung entspringen. Mit solchen kontingenten Zügen aber ist die Metaphysik eine künstliche und gemachte Wissenschaft. Allein mit diesem Urteil kann nach Schelling die Metaphysik selbst allerdings noch nicht eo ipso als ein bloß zufälliges Erzeugnis abgetan werden.
I.2 Kant Kant kritisierte und erschütterte die alte, mit den Mitteln der natürlichen Vernunft aufgebaute Metaphysik der neuzeitlichen Philosophie, die ein höchst unkritisches chaotisches Ganzes war, sofern der Begriff Gottes ihr im Grunde ebenso zufällig wie alle anderen Begriffe war. (G 167) In Beziehung auf diese Zufälligkeit war nur der Spinozismus nach Schelling eine Ausnahme. (G 172) Die herrschende Philosophie wurde durch das Auftreten Kants zur ›ehemaligen‹ Metaphysik. Kants Zweck war ein doppelter: Er wollte einerseits die Erfahrungswissenschaft retten, wobei die absolute empirische Negation alles Metaphysischen oder Übernatürlichen in der Wissenschaft und selbst der Menschheit seine Leistung in dieser Hinsicht bedroht. (O 42) Andererseits wollte er in Ansehung des Metaphysischen selbst eigentlich dasselbe, was die herkömmliche Metaphysik vor ihm gewollt hat. (G 174) Denn das Streben, über das unmittelbar Gewisse hinaus zu kommen, gab es schon in der vorkantischen Metaphysik. Kant stellte sich also im Grunde nicht feindselig gegen diese alte Metaphysik. Mehr noch: In Kants Denken gibt es vielmehr den Geist der alten Metaphysik. Nicht gerade dass sie eine falsche Wissenschaft sei, werfe ihr Kant laut Schelling vor, sondern sie sei nur nicht das völlig Rechte, nicht das eigentlich zu Wollende und das im Grunde immer Gewollte. Schelling meint, Kant anerkenne die Metaphysik, solange sie sich haltbar zeigen könne und überweise sie eigentlich keines Irrtums. Kant schien außer der Kritik noch immer eine durch dieselbe Kritik auf den rechten und überzeugenden Standpunkt gebrachte Metaphysik übrig zu lassen. Kants Methode besteht darin, nicht nur die Fundamente alles Wissens zu überprüfen, sondern auch alle Grundlagen des menschlichen Daseins und Lebens zu untersuchen. Dazu analysiert er die Vernunft als Erkenntnisvermögen des einzelnen Subjekts oder als subjektives Wissen. (O 10) Sein Resultat ist, dass er die Autorität der faktisch hergebrachten Metaphysik in ihrer geschichtlichen Ausprägung als Ontologie, Kosmologie, Psychologie und rationale Theologie unter Voraussetzung seines eigenen dialektischen Verfahrens erheblich erschüttert hat, weshalb diese Metaphysik ab dann ›vormalig‹ zu nennen ist. Aber in Hinsicht auf die vernünftige Grundlage der
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Metaphysik überhaupt ist seine Kritik von keiner allgemein geltenden Wirkung. Sofern nämlich jene Art von Philosophie, die frühere oder ehemalige Metaphysik, niemals allgemeine Gültigkeit erworben hat, kann diese (rationalistische) Metaphysik nicht für diejenige gelten, mit welcher die Existenz der Metaphysik unbedingterweise angenommen werden muss oder hinfällig wird. (O 44) Damit restringiert Schelling Kants Leistung auf eine Antwort in Verhältnis zu dessen geschichtlicher Grundlage und Prämisse, wo Kant selbst eine Rekonstruktion der unbedingten Art (theoretisch-)metaphysisch zu denken oder zu schließen, seinem Anspruch nach in der Dialektik vorgeführt hat. Gerade weil Kants Kritik sich auf das letzte Resultat aller Metaphysik wirklich bezieht, und damit auf dasjenige, um dessentwillen es eigentlich allein eine Metaphysik geben muss, ist Kants Kritik dennoch nach Schelling für die ganze Zukunft der weiteren Metaphysik entscheidend. Indem Kant die alte Metaphysik zerstört hat, ist er der Urheber einer ganz neuen Wissenschaft geworden, denn seine Fragen haben eine Theorie des menschlichen Erkenntnisvermögens hervorgebracht und der philosophischen Untersuchung die Richtung auf das Subjektive zur Orientierung vorgegeben. Zuallererst macht Kant also klar, dass eine ›definitive‹ Metaphysik nicht so unmittelbar, wie größtenteils für möglich gehalten wird, aufgestellt werden kann. Eine kritische Beurteilung der Möglichkeit derselben muss vorausgehen und diese Untersuchung ist selbst wiederum nicht möglich ohne eine allgemeine Untersuchung des menschlichen Wissens überhaupt sowie dessen Möglichkeiten und erreichbaren Ziele. Durch Kants Kritik ist nach Schellings Auffassung dem menschlichen Geist zum ersten Mal der Ansatz einer rein rationalen Wissenschaft gesichert worden, zu der nichts der Vernunft Fremdes Zutritt hat, im Gegensatz zur ehemaligen – auf zufällige Weise ausgearbeiteten – Metaphysik. Denn die behauptete Transzendenz der alten Metaphysik war noch eine bloß relative, wobei man mit einem Fuß im (negativen) Begriff stehen bleibt, obwohl gerade die Transzendenz als eine positive gewollt wird. Reine Vernunft-Wissenschaft ist die Kritik aber sowohl vermöge der Vernunft, aus der sie schöpft, als auch vermöge derselben Vernunft, die in ihr als das Schaffende zur Anwendung kommt.9 (RR 368–69) Das Resultat bei Kant ist für Schelling also, dass von der ehemaligen Metaphysik auszugehen ist, um zu zeigen, dass und wie die Kritik die Metaphysik als negative und positive unterscheidet. Die »Kritik der Vernunft«, die die (reale) Möglichkeit der Metaphysik untersucht, bringt die offenbar kritische und insofern nur verneinende Wissenschaft hervor. Ihren Zweck kann sie nur 9
Wie die Vernunft selbst auch zum Kriterium der Vernunft werden kann, wird offenbar übergangen.
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durch Ausscheidung dessen erreichen, was nicht wirklich gewolltes Prinzip der Vernunft selbst ist. (RR 374–5) Die alte Metaphysik glaubte zwar die Existenz Gottes rational beweisen zu können, aber dieser Versuch ist von Kant so verletzt worden, dass von nun an bei der alten Metaphysik keine Hilfe mehr zu suchen ist. Es musste also sogleich die Frage entstehen, ob denn nach der Zersetzung der alten Metaphysik das andere, positive Element zugleich vollkommen vernichtet sei oder ob nicht vielmehr nach der Kritik das Positive sich nun erst frei und unabhängig von jenem Negativen oder bloß Vernünftigen zeigen kann. Kant verbietet deshalb der Metaphysik die Transzendenz, aber er verbietet sie nur der dogmatischen und dogmatisierenden Vernunft, d. h. einer solchen Vernunft, die von sich aus durch Schlüsse zur Existenz eines ihr transzendierenden Prinzips gelangen will. Kant aber, so hebt Schelling ausdrücklich hervor, verbietet nicht, umgekehrt vom unendlich Existierenden zum Begriff des höchsten Wesens als posterius zu gelangen.10 (O 170) Genauer besehen ist mit der Forderung, Gott als die transzendente Idee der Vernunft auszuweisen, nicht verbunden: Er ist selbst nur Idee, sondern lediglich, er ist für die sich vollziehende Idee selbst noch die Ursache des Seins, als freie Ursache, dass sie ist. Gott enthält so in sich nichts als das reine Dass des eigenen Seins; aber dieses Dass, nämlich dass er ist, wäre selbst noch keine Wahrheit, wenn er nicht Etwas wäre, das zum Denken und zur Idee reicht. (Q 583ff ) Insgesamt scheint die allgemeine Metaphysik zwar von der (negativen) Vernunftwissenschaft als bloß kritische und rein denkende korrigiert und sogar ersetzt worden zu sein; das Positive oder das gewollte Prinzip aber ist nach Schelling davon unberührt, oder besser: Es ist nach Schellings Ansicht aus der allgemeinen, rein vernünftigen Wissenschaft ausgeschieden. Kants Leistung kritisiert also laut Schelling nicht die Möglichkeit der Metaphysik überhaupt, sondern nur die faktisch vorhandene, rationalistische Metaphysik. Noch wichtiger ist es aber, dass sie es zugleich ermöglicht, durch ihre Restriktion der Vernunft auf das rein Vernünftige, dem Ansatz nach, eine andersartige Erkenntnis des von der Metaphysik bezweckten Transzendenten oder Überseienden zu erlangen.
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Ob eine der kosmologischen ähnliche Beweisführung (mit einem unbestimmten und vielleicht unbestimmbaren Begriff der ›Ursache‹ – selbst aus Freiheit –) wirklich noch begreifbar ist, und ob für (und nach) Kant ein unendlich vorausliegendes Existierendes noch mit einem vertretbaren Begriff aufgezeigt werden kann, mag fraglich sein. Für die sachliche systematische Kontroverse vgl. zuletzt Gunnar Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt. Frankfurt a.M. 2008, 142–145.
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I.3 Die resultierende ›Metaphysik‹ nach Kant Die Aufgabe der Philosophie nach Kant besteht für Schelling darin, die eröffnete Möglichkeit einer erneuerten Metaphysik des wirklich Gewollten auszuschöpfen. Die von Kant ermöglichte Vernunftwissenschaft hat ja als letztes Ziel, Gott frei, in völliger Abgeschiedenheit vom Seienden und deshalb für sich zu haben, wie es schon in Kants Lehre vom Ideal der Vernunft von der Vernunft ausgehend vorgeführt worden ist. (RR 413) Deshalb besteht die gegenwärtige Philosophie ihrem Programm nach in einer wissenschaftlichen Ableitung der möglichen Gegenstände selbst aus der denkenden Vernunft, die in der früheren Metaphysik aus der bloßen Erfahrung oder dem allgemeinen Bewusstsein einfach vorausgesetzt wurden. (O 42) Von der ehemaligen Ontologie würde diese ableitende Wissenschaft sich nur durch ihre Darstellung unterscheiden, die von der strikten oder logischen Notwendigkeit gezwungen wird. (RR 466) Zugleich wird damit nach Schelling der Begriff des (Über-)Seienden immanent erwiesen und der Begriff Gottes zeigt sich als der letzte Begriff ohne Anspruch auf eine in, mit oder aus der rein rationalen Wissenschaft sich ergebenden Existenz. Gott als die rein vernünftige Idee, und damit aller Transzendenz beraubt, wird in das logische Denken hineingezogen. (RR 488) Die Aufgabe der rein rationalen Philosophie ist es also, das gesuchte und gewollte Prinzip, frei vom möglich Seienden und deshalb für sich, in seiner Abgeschiedenheit im reinen Denken zu haben. Ihr Ausweis bleibt kritisch in Beziehung auf das, was das Sein selbst ist, und ist deshalb negativer Art. (O 81–83) Dasjenige nun, was das Seiende selbst actu ist, oder der wirkliche Inbegriff aller Möglichkeiten, ist zwar das Prinzip, aber es ist nur durch die Abstraktion von Seiten der Vernunft zu erkennen. Die Vernunft ist durch diese abstrakte oder abgehobene Erkenntnis in sich befriedigt und wird nicht mehr in das Gebiet des Positiven einbrechen. Denn die Vernunft erhält ihre Grenze, weil ihre eigene dialektische Antinomie kein Widerspruch in sich ist, sondern ein solcher zwischen der Vernunft selbst und dem, was mehr als Vernunft ist. (O 146) Die erste Wissenschaft der Vernunft ist für Schelling daher im Grunde nur Logik, und genauer Logik des Werdens; alles wahrhaft Metaphysische aber fällt nach der Verwirklichung und Vervollständigung der rein rationalen Philosophie ganz der anderen, d. h. der positiven, Philosophie anheim. (O 151 N) Es gibt also ein wesentliches Interesse an der Metaphysik, denn um aller Metaphysik entfliehen oder entraten zu können, müsste alles aus der bloßen Materie erklärbar sein. Solche Hyperphysik zöge nur die Erfahrung in Betracht oder sie zeigte die Materie nur als die denkende oder metaphysische Notwendigkeit ersetzende Bestimmung auf. (RR 499) Solche Weise
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des empirischen und wissenschaftlichen Wissens ist aber früher oder später dem menschlichen Geist ungenügend, denn entweder müsste der menschliche Geist dann alle Metaphysik, d. h. alle Erkenntnis der außer und über der Erfahrung liegenden Gegenstände aufgeben oder er muss nach Schelling einen anderen Weg suchen, zu denselben zu gelangen. Die Brücke, über welche die Metaphysik eintritt, besteht aus Grundsätzen des Wissens, insbesondere aus dem Grundsatz der Kausalität. Eben damit hat die Metaphysik ihre wirkliche Richtung genommen. Denn die Metaphysik hat einen wirklichen Inhalt: Könnte man aus dem Staat und öffentlichen Leben all das verbannen, was Metaphysik genannt werden kann, sie würden zusammenbrechen. Wahre Metaphysik ist Ehre und Tugend; sie ist nicht nur Religion, sondern auch die Ehrfurcht vor dem Gesetz und die Liebe zum Vaterland. Denn »alle höhere Philosophie ist Metaphysik, insofern sie an die übersinnliche Welt anknüpft« (O 27–28). Auch die Religion ist nach Schelling Metaphysik in demselben Sinne. Die Metaphysik oder die eigentliche Philosophie hat die wesentlichen Teile ihres Gegenstands mit der Religionslehre gemein. Die großen Gegenstände der Metaphysik sind und bleiben auch nach der Kritik die menschliche Seele, die Freiheit, die Fortdauer nach dem Tode, der Unterschied des Bösen und Guten und beider Schicksale. (G 77) Die positive Philosophie geht nach Schelling vom dem aus, was schlechterdings außerhalb der Vernunft ist. Diese Vernunft unterwirft sich diesem aber nur, um unmittelbar wieder in ihre Rechte zu treten. (O 171) Das bezweckte und gewollte Sein ist nicht von der Art des empirischen Seins. Es ist über aller Erfahrung und somit das schlechterdings transzendente Sein, von dem die positive Philosophie ausgeht. (O 126 f.) Der eigentliche Gegenstand der Philosophie ist dennoch erfahrungsmäßig (G 240; RR 325–328), denn das Denken in seiner kritischen Ausarbeitung macht auch selbst die Erfahrung, dass seine Leistung als abstrahierende Vernunft sich dadurch in ihrer Reinheit vom immer gewollten Sein ablöst.
II. Formen der neuen Metaphysik II.1 Negative – positive Philosophie? Die schon bestimmte, aber nicht in ihren Besonderheiten vorgeführte Einleitung oder auch negative Philosophie stellt die Entfaltung des Seins als des möglichen (überseienden) Geistes mit den dazu begreifbaren Potenzen dar. Wenn die Philosophie von vorn anfangende Wissenschaft oder ›Erste Philosophie‹ ist, dann will sie nach Schelling das Freie, das vor dem vorhandenen
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Sein und der denkenden Vernunft ist, als die Quelle des Seins um dieses Seins willen begreifen. Es wird nicht abgehandelt, weshalb das Wollen selbst über die Vernünftigkeit und Vertretbarkeit ihres Gegenstandes zuverlässig aufgeklärt ist. Das in der Urfassung vorgebrachte Argument, dass die Vernunft von Freiheit, aber nicht umgekehrt (U 21), abhängig zu sein scheint, reicht (wenigstens für die damit bemühte praktische Vernunft) nicht aus, sofern diese Annahme ohne weitere Argumente als zutreffend verstanden wird. Dazu entfaltet Schelling hypothetische Gedanken oder mögliche Prinzipien des Seins, die vom Begriff des Sein-Könnens zum spekulativen Begriff des reinen Seins gehen und die zu Aristoteles in Beziehung gesetzt werden. Das Dritte zum Sein-Können und Sein ist das unzertrennliche Subjekt-Objekt, das im Sein-Können zugleich seiend ist. Wenn die drei Begriffe oder Potenzen entfaltete Bestimmungen eines Subjekts sind, das zugleich Objekt ist, dann ist dies per definitionem das Absolute. Mit dieser Aussage ist die Vernunft festgelegt auf eine Ordnung, die sie zwar entdecken kann, die aber eine Ordnung der Dinge ist, in die sie sich einzuordnen hat. (U 20) Damit wird ein Ordnungsgedanke hervorgehoben, der von der Vernunft zwar erkannt wird, der aber nicht in Bezug auf sie hervorgebracht worden ist. Dieses Subjekt-Objekt, das die Ordnung der Potenzen oder (möglichen) Gedanken ordnet, ist der wirkliche Geist, der die Potenzen aufhebt und der nicht von den gesetzten Prinzipien des Seins beherrscht wird, sondern diese als künftiges eigenes Sein in Freiheit annehmen oder verwerfen kann. (vgl. O II, 86) Damit sind die Seinsprinzipien keine bestimmenden, sondern abkünftigen Prinzipien des Geistes. Gerade die Entfaltung des Geistes ist in der Geschichte der Philosophie von Kant bis Schelling genauer fortgetrieben, wie diese schon beim Programm der Philosophie vorgestellt worden ist. Mit dieser Einleitung (in verschiedenen Gestaltungen, mit je unterschiedlicher Betonung der einzelnen Teilaspekte) entfaltet Schelling eine Nachfolge der Ontologie als ›erste‹ Philosophie, die dazu führt, den (möglichen) Geist auszuweisen; dieser zeigt sich in seiner möglichen Gliederung zwar nicht unabhängig von Vernunftbestimmtheiten, aber er hat sich in freier Tat auszuweisen, damit die abstrakten oder abstrahierten Möglichkeiten als solche Halt bekommen (und die Vernunft wieder ihr dann abhängiges Recht erlangt). Der Geist, oder das Prius, in seiner Freiheit wird dann so konzipiert, dass er, der wahre Anfang, nicht das bloße oder logische (reine) Denken ist, sondern dasjenige, das das Seiende selbst ist, das absolute Prius, oder mit anderer Terminologie Sein, Ursein, Überseiendes oder auch Sein, das actu ist. (U 77) Der Beweis des Geistes wird nicht von der Philosophie geliefert, sondern durch die Philosophie hindurch. Die ganze Philosophie ist Erweis die-
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ses Geistes, aber er selbst ist und bleibt das absolute Prius, nicht nur der Darstellung der Vernunft und ebensowenig nur der Darstellung aus Vernunft, sondern er ist auch das wirkliche Prius der Vernunft selbst. Denn der Geist ist die reale Ursache der Vernunft, wodurch allem philosophischen Rationalismus das Fundament zerstört worden ist: Der Geist ist absolutes Prius oder der vollkommene Geist ist, weil er selbst ist. (U 71) Mit dem Begriff des Monotheismus entfaltet Schelling eine vom Geist oder der Freiheit, der oder die sich selbst zeigt, ausgehende trinitarische Konzeption Gottes, die auch die Schöpfung des Menschen beinhaltet, der als (abkünftiger) Geist unmittelbar ist wie Gott. Die wirksame Freiheit des Menschen ist auf die göttliche Kausalität bezogen. Der ursprüngliche Geist ist in seiner Freiheit wie Gott: Der Mensch ist der gewordene Gott, wie Gott der tätige, ursprüngliche oder ungewordene Gott ist.11 Wenn der Mensch glaubt, sowohl in der von ihm verursachten Trennung von den Potenzen wie in ihrer ursprünglichen Einheit Herr über dieselben zu sein, stellt er sich gegen sie und über sie. Dadurch tritt der Fall ein, mit den Potenzen gottesgleich zu wirken wollen, damit aber kann der Mensch sie als Gegensätze fühlen12 Sich an die Stelle Gottes setzend, hat der Mensch die Welt außer Gott gesetzt oder geschöpft. Die mit dem Fall und dem selbständigen Bewusstsein für sich notwendige Mythologie wird vom Christentum aufgehoben.13 Die somit vollzogene Geschichte ist keine ideale, stufenförmige Geschichte des bloßen Bewusstseins, sondern eine wirkliche des im Christentum auftretenden Geistes, weil nur dieser gegen alle Vernunft den Entschluss Gottes durchsetzt, sich zu offenbaren. (vgl. auch O II, 23) Das Christentum bezeichnet Christus als den Logos: Jesus habe die Einsicht als Sohn Gottes, aber die Philosophie kann diese Einsicht nicht ohne geschichtliche Vorlage begreifen. Johannes
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Mit diesem Hinweis wiederholt Schelling eine möglicherweise leere Erklärung, wie er sie für die Freiheit schon in der Freiheitsschrift vorgeführt hat, sofern sich die doppelte Bezugname argumentativ im Kreis dreht. Vgl. vom Verf.: Is de vrijheid van God denkbaar en begrijpbaar. Vortrag CDI Utrecht. Dez. 2009. 12 Dieser Fall ist zwar der positive Ursprung des Bewusstseins, es geht aber in diesen späten Texten nicht mehr um die Gegensätzlichkeit des Bewusstseins, wodurch vereinigende Metaphysik notwendig wird, sondern um den Ursprung der wirklichen Geschichte, deren Wirklichkeitsgehalt die von dieser Geschichte abhängige Vernunft zu bestätigen hat. 13 In der Philosophie der Mythologie und der Offenbarung selbst verschwindet die Rede von Metaphysik fast vollständig. Es gibt weiter nur noch Folgendes: über die Mythologie hinausgehende, fast metaphysisch zu nennende Götter (M 393), ein metaphysisches Göttersystem (M 416), die Negation der Metaphysik (M 560), einen metaphysischen Begriff (M 597) in der Philosophie der Mythologie und ebenso eine Bestimmung der Zeit als die leere Unmöglichkeit für die Metaphysik (O II, 108) sowie eine ausführlichere Diskussion mit Hegels MetaphysikBegriff (O II, 216) in der Philosophie der Offenbarung.
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bietet eine Kurzgeschichte Christi vom Anfang der Welt bis zur geschichtlichen Erscheinung, wobei Christus’ Präexistenz gewahrt sein kann. Mit solcher Darlegung deduziert Schelling nicht das Christentum, sondern rechtfertigt seiner Ansicht nach die freie Tatkraft und Geschichte Gottes, die als Offenbarung ausgeführt wird. Diese Philosophie der Offenbarung aber bis zum ›Ende der Zeiten‹ ist nicht das Thema dieser Untersuchung.14
II.2 Metaphysikvarianten Die negative Philosophie zeigt nun als ihren Inhalt allgemeine, aber leere reine Gedanken, die zwar nicht die abstrakten Allgemeinbegriffe eines jeden gesonderten Seienden wiedergeben oder ausführen, sondern die die Gesamtgliederung des möglichen Seienden im Ganzen hervorbringen, damit die mögliche Ursache vor der Vernunft erscheint; aber erst noch bloß als mögliche, von der Vernunft unabhängige Existenz.15 Die darauf angezeigte Ursache wird, wie in der besonderen Metaphysik oder ihr wenigstens ähnlich, angedeutet.16 Nur wird sie anders, durch die vollständige Negation der Allgemeinheit des Begriffs, die auf ein sie übersteigendes Dass hindeutet, aufgewiesen, wodurch auch die ›besondere‹ Metaphysik nicht als solche von der positiven Philosophie restauriert wird. Denn sie wird in der Geschichte der Religionen, Mythen und der Offenbarung vernünftig angewiesen und dargelegt. Die ›Ursache‹ ist das einzig Existierende, das von den leeren Gedanken der Vernunft als die einzige, ihnen zugrunde liegende ›übervernünftige‹ Existenz im Scheitern der Vernunft ausgewiesen wird. Diese Existenz zeigt sich erst dann als Macht (oder jetzt als wirkliche Potenz) der weiteren Existenzen (vgl. O II, 280), wodurch sie das Ganze der besonderen (jetzt ebenso über-vernünftigen, weil wirklichen) Formen herstellt, die dennoch mit der Vernunft und deren Bestimmtheiten gegliedert werden. Damit ersetzt die positive Philosophie die rationale Theologie, die diese als Grundlage der (Deutungs-)Geschichte der auftretenden Götter und des einzigen handelnden Gottes betrachtet, sofern in dieser Geschichte oder 14
Wie sich die als wirkliche hervorzubringende Metaphysik zu der Erklärung der Mythen und der Bibel aus sich selbst verhält, wäre ein gesondertes Problem. (O II, 234) 15 Frank Meier: Transzendenz der Vernunft und Wirklichkeit Gottes. Regensburg 2004, 187 ff. Außerdem schon bei Albert Franz: Philosophische Religion. Amsterdam 1992. 16 Thomas Buchheim (Eins von Allem. Hamburg 1992.) macht die Idee stark, dass die positive Philosophie nicht auf ein bestimmtes inhaltliches Thema festgelegt wird. Dies stimmt nur, insofern alle Themen von einer dogmatisch-metaphysischen Religionsgeschichte aus beleuchtet werden.
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in diesen Geschichten seine freie Existenz sichtbar wird (vgl. O II, 35, 220) und sie diese Geschichte des Geistes zugleich zum Ganzen der besonderen Metaphysik, das Wesen des Menschen und der Welt betreffend, ausweitet.
II.3 Resultat dieser Angabe Schelling restauriert die alte Metaphysik nicht ohne Weiteres. Er will weder die allgemeine noch die besondere Metaphysik aus reiner Vernunft herstellen, noch gibt er der empirischen Erfahrung Anlass, diese zu übersteigen. Er nimmt weder Offenbarung oder Überlieferung noch die sinnliche Erfahrung der Natur und des endlichen Geistes an, sondern vielmehr eine spezifische Erfassung (wie eine intellektuelle Erfahrung) als Quelle, die das besondere Objekt der positiven Philosophie zu liefern hat. Ebensowenig versucht er, ein von der Vernunft aus reines Substrat festzustellen, dem bestimmte Begriffe in einer besonderen Gestalt zugrunde liegen, mit Ausnahme des rein Existierenden. Gerade der Aufweis dieser Existenz wird also zum Hauptproblem der Erneuerung der jetzt für Schelling endgültigen Metaphysik.
III. Die Rechtfertigung der unterschiedlichen Varianten der Metaphysik Das Problem der Rechtfertigung der Metaphysik ist ein Problem der Vernunft. Dabei gibt es zwei Fragen: Wieso erhält sie Einsicht in ihr Scheitern, sodass ihre Vollendungsgestalt eine Antinomie von Vernunft und Übervernunft aufzeigt? Wieso und zugleich wie kann die Vernunft in der positiven Philosophie einen existierenden Gegenstand als ihren Gegenstand annehmen? Gerade das Problem der Einsicht in das, was die Vernunft ist oder leistet, zeichnet die Geschichte der Auffassung und der Bedeutung der sogenannten negativen Philosophie aus. Aber die Differenz von dem, was Vernunft ist oder was sie leistet, ist ein Gedanke, der von Schelling nicht allzu genau bemüht wird. Schon in der Urfassung legt er die Vernunft fest auf das, was als Ordnung von einer ihr vorausgesetzten Freiheit vorgegeben ist. Dadurch ist ihr Scheitern vorprogrammiert, denn vernünftig ist ja nur, was aus der auf diese Weise eingesetzten Ordnung der Dinge folgt. Die Vernunft bedarf also selbst einer Erklärung; und in Wirklichkeit gibt es Folgen der Freiheit, die nicht Folgen der Vernunft sind. (vgl. U 20–21)
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Welcher Art diese Erklärung oder Aufklärung der Vernunft selbst sein muss, vernünftig oder nicht, wird allerdings nicht ausgemacht. Ausgewiesen wird dann auch das Scheitern der Vernunft in Beziehung auf deren vorausgehendes, weil vorausgesetztes (und aus einem normalen, aber nicht kritisch untersuchten Gebrauch gerechtfertigtes) Prinzip. Die Vernunft in ihrem zusammenhängenden Ausweis ist so ›absolute Kategorienlehre‹, wie sie zuletzt in der rein rationalen Philosophie erscheint. Sie negiert sich in Beziehung auf dies vorgegebene oder aufgestellte Prius, weil sie als bloß mögliche dies nicht als wirklich darzustellen vermag. Gerade ihr Scheitern ist dann die Erfahrung der Vernunft selbst. Die sich als unzureichend darstellenden Erklärungen eines sich nicht aus ihr Ergebenden bilden eine spezifische Erfahrung, die keine zweite, zusätzliche Quelle mehr ist, sondern die sich selbst als vernünftig unzureichende Quelle begreift, die eo ipso in ihrer Behauptung das Zureichende zuverlässig anweist. Von Schelling werden dabei wenigstens zwei andere mögliche Weisen des Vorgehens der Vernunft nicht untersucht: Müsste die Vernunft sich tatsächlich auf einen ihr gegenüberstehenden, ihr transzendenten Gegenstand (wie ein theoretisches Fremdbewusstsein) beziehen, wäre dies kein Rückfall in eine unüberwundene Dichotomie des bloßen Bewusstseins? Und was die gleiche, aber umgekehrt formulierte und pointierte Frage ist: Erfasst eine sich auf sich beziehende Vernunft, die sich selbst wirklich darin erreicht und darin ihren eigenen Begriff vollständig ausführt, sich selbst in ihrer Aktivität oder doch nicht? Wenigstens denkt sie sich selbst im Ideal der Vernunft als vollendet, denn die Vernunft selbst muss in der Lage sein, sich ihre eigenen Erkenntnisse zu erwerben, die keine möglichen, sondern wirkliche Gedanken in Hinblick auf sich selbst sind. Nur in Beziehung auf eine von der Vernunft unabhängige und dennoch vernünftige oder vernünftig zuverlässige Existenz hat sie mit dieser Selbstbeziehung weder eine solche Existenz noch einen von ihrer Bestimmung auch unabhängigen Gegenstand erwiesen. Die Selbstbetrachtung, Selbsterfassung oder Selbsterfahrung ist nur dann negativ, wenn die Vernunft nur mögliche Gedanken zu einem angenommenen (oder vorausgesetzten) Zugrundeliegenden bereitstellen muss, und dies nur leisten kann, sofern ein Zugrundeliegendes immer schon da ist. Das Scheitern ist also nur vorgefunden in Beziehung auf das Prius, weil die Vernunft von vorne herein so gefasst wird, als ob außer der Vernunft noch etwas anderes vernünftig entschieden werden könne bzw. weil sich die Vernunft über sich hinaus noch um eine ›vernünftige‹ Erklärung ihrer selbst zu bemühen hätte. Dadurch stellte sich aber nicht mehr Vernünftiges bzw. Unvernünftiges innerhalb der Konzeption der Vernunft dar, sondern die Vernunft entledigte sich ihrer aktiven, auf sich bezogenen Vernunft.
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Lu De Vos
Die Erfassung der vorprogrammierten Unzureichendheit ist nur bei der Annahme der Unzureichendheit der eigenen Leistung der Vernunft eine (dann scheinbare) Vernunftnotwendigkeit. Diese kann weder aus der eigenen Praxis rechtfertigt werden, weil keine über die Vernunft hinausgehende Praxis noch als vernünftige anerkannt werden kann (und zudem die Vernunft dann bloß theoretisch wäre), noch kann sie aus der Geschichte als Ereignis gerechtfertigt werden; denn dann müsste diese Geschichte selbst als nicht nur für die individuelle, sondern auch für die allgemeine Vernunft als ausreichende verstanden werden, die die allgemeinen Möglichkeiten im Einzelnen vernünftig einsehbar machte, ohne sich auf nicht-vernünftige oder übervernünftige Instanzen zu berufen.17 Es bleibt also als Lösung, wieso die Vernunft sich auf ein für sie notwendiges Existieren hindenken muss, nur eine eigene metaphysische Erfahrung, die sich auf eine (geschichtlich oder freiheitlich zu verstehende) »Wirklichkeit im emphatischen Sinn«18 bezieht. Was dieser emphatische Sinn genau bedeutet, der dem metaphysischen oder überfliegenden unterschoben wird, ein physischer, ethisch-geschichtlicher, mythologischer oder religiöser, mag dann nach Gutdünken weiter entschieden werden. Auf jeden Fall sind Erfahrung und Wirklichkeit dabei entspezifiziert und sie sind dadurch – wenn es erlaubt ist, dies dennoch so zu bezeichnen – unvernünftige Begriffe geworden. IV. Resultat Obwohl Schelling selbst behauptet, mit seiner negativen Philosophie Kants Vernunftkritik weiterzuführen, betrifft die Weiterführung nicht so sehr die Kritik der überfliegenden Metaphysik, als vielmehr die antinomische oder dialektische Gliederung der Vernunft selbst, deren Konzeption von der Vernunft als unzureichend zur Erhellung der notwendigen Erklärung der Vernunft oder der Übervernunft herauszustellen wäre. Kants Argumentation wird deshalb von dessen eigenem Interesse, die Metaphysik in irgendeiner Form wiederherzustellen, her aufgefasst. Damit spaltet Kant, zumindest nach Schelling, die Aufgabe der Philosophie in eine doppelte: Einerseits ergibt sich eine negative, begrenzende Philosophie und andererseits eine positive, wirkliche, weil Schelling positive Subjekte (wie sie auch bestimmt werden) als
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Vgl. O II, 220, wo die Geschichte als innere, göttliche, transzendente und wahre gedeutet wird. Um gerade solch eine Geschichte noch als ein praktisches und für jeden gültiges Geschehen zu deuten, werden genaue Argumente gebraucht. 18 Axel Hutter: Geschichtliche Vernunft. Frankfurt a.M. 1996, 235.
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positive (zwar mit Vernunft, aber nicht aus Vernunft) gesichert annehmen will. Auf diese Weise wird das Thema der Metaphysik par excellence oder das Absolute als aufgegebenes Prius der negativen Philosophie und als Anfang der positiven wiederhergestellt, die es in eine metaphysische Erörterung der Religionsphilosophie einbindet. Die Metaphysik-Kritik (Kants) ist nicht völlig verschwunden, weil beide Formen der Metaphysik, allgemeine Seinslehre und Lehre eines höchsten, jetzt einzigen Seienden zu sein, aufgrund einer Umgestaltung in negative und positive Philosophie definitiv unterschieden werden. Schelling liest die Kantische Kritik aber als eine Kritik der bloßen Vernunft, die ein leeres logisches Allgemeines der bloßen Möglichkeiten aufgrund einer ›positiven‹ Annahme herausstellt. Deshalb scheint sie zugleich nie in ihrer zerstörenden und Skepsis berücksichtigenden Kraft dagewesen zu sein, weil Schelling die ewige, jetzt wirkliche Metaphysik als positive, behauptende und bejahende Aufgabe, ein immer (da)seiendes Absolutes oder Übersinnliches darzustellen, verstanden, in oder mit Freiheit gewollt und ausgeführt hat. Schelling bietet auf diese Weise eine Erneuerung der Metaphysik als erste (onto)logische und letzte theologische Disziplin. Ob man diese Erneuerung begrüßen oder ihr sogar zujubeln muss, hängt davon ab, ob man die von Schelling vertretene Position eines selbst momentanen Seins ohne Vernunft gegen eine philosophische Beweisführung aus Vernunft aufrechterhalten kann. Wenigstens der hoffentlich vernünftige Skeptiker in mir betrachtet, wie gezeigt, diese Position als eine unvernünftige Darstellung einer möglichen, aber weder gesicherten noch philosophisch zuverlässigen Transzendenz per se.