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German Pages [337] Year 2014
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Kant verfolgt in seinen ethischen Grundlegungsschriften das wiederholt erklärte Ziel, »eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre«. Die damit beanspruchte strikte Trennung einer erfahrungsfreien Metaphysik praktischer Vernunft von empirischer Anthropologie wird im vorliegenden Buch kritisch in Hinblick auf ihre systematische Tragfähigkeit für die von Kant ausgearbeitete Moralphilosophie überprüft. Dabei zeigt sich, dass Kant den begründungstheoretischen Status der empirisch-anthropologischen Elemente, die er bei der konkreten Ausgestaltung seiner moralischen Pflichtenlehre offenkundig in Ansatz bringt, weder hinreichend expliziert noch geltungstheoretisch in Hinblick auf die Kohärenz seiner dichotomischen Wissenschaftsaufspaltung reflektiert. Vielmehr überschätzt Kant die metaphysische Reichweite und den streng apriorischen Charakter seiner Ethik und Rechtsphilosophie insbesondere in seinen diesbezüglichen programmatischen Äußerungen. Erst durch die Korrektur dieses Selbstverständnisses anhand einer systematischen Rekonstruktion und Beurteilung der Kantischen Argumentationsschritte erschließt sich die substanzielle Bedeutung seines Terminus »Metaphysik der Sitten«. Im Rahmen dieser Korrektur tritt zudem die Parallelität der Kantischen »Metaphysik der Sitten« zu seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zutage, die – unbeschadet ihres apriorischen Geltungsanspruchs – ebenfalls auf empirische Begriffe und Fakten Bezug nehmen.
Der Autor: Oliver Laschet, geb. 1978, hat Philosophie, Geschichte und Sportwissenschaften in Köln studiert. Promotion am Philosophischen Seminar der Universität zu Köln. Er arbeitet derzeit als Lehrer an einem Gymnasium in Bonn.
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 84
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Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48459-3 (Print)
ISBN 978-3-495-86019-9 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860199 © Ver
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Inhaltsverzeichnis
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zitierweise und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
I.
1.
Das Verhältnis von Metaphysik und Erfahrung in den Grundlegungsschriften der Kantischen Moralphilosophie . .
29
Kants theoretische Grundlegung seiner Moralphilosophie . .
29
1.1 Die Exposition des Begriffes einer »reinen Moralphilosophie« in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten . . 1.2 Die Herleitung des Sittengesetzes in der Kritik der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Geltungsfundierung des Sittengesetzes in der Kritik der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zur Verhältnisbestimmung von Sittengesetz und Kategorischem Imperativ als dem »allgemeinen Imperativ der Pflicht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.
Zur Funktionalität des Kategorischen Imperativs für die Ableitung konkreter sittlicher Pflichten . . . . . . . . . . .
31 46 63
70
79
2.1 Die Beispielfälle des Kategorischen Imperativs in der 79 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten . . . . . . . . . 84 2.1.1 Die Beispiele nach der ›Naturgesetz-Formel‹ . . . . 2.1.1.1 Das Beispiel des unaufrichtigen Versprechens 89 a) Die ›logische‹ Widerspruchsinterpretation 106
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b) Die ›praktische‹ Widerspruchsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . c) Das Rigorismusproblem der AllgemeinenGesetzes-Formel . . . . . . . . . . . . 2.1.1.2 Kants Selbstmord-Beispiel . . . . . . . . . 2.1.1.3 Das Kultivierungsgebot . . . . . . . . . . 2.1.1.4 Das Hilfsgebot . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die ›Selbstzweck-Formel‹ und das regulative Ideal eines »Reichs der Zwecke« . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Relativismusproblem der Allgemeinen-Gesetzes-Formel
118 124 129 134 138 140 155
II.
Apriorität und Empirie in Kants Rechtsphilosophie . . . . .
163
3.
Zur Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
3.1 Ethische und juridische Gesetzgebung . . . . . . . . . . . 3.2 Apriorität und Empirie in Kants moralischem Rechtsbegriff 3.2.1 Das Metaphysikverständnis der Rechtslehre . . . . 3.2.2 Die deskriptiven Anwendungsbedingungen und der Zuständigkeitsbereich des Rechts . . . . . . . . . . 3.2.3 Das allgemeine Rechtsprinzip und das Problem der Begründung moralischer Zwangshandlungen . . . . 3.2.4 Die verbindlichkeitstheoretische Fundierung der rechtlichen Zwangsbefugnis in der Würde der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.
Die Begründung der drei Grundzüge einer Theorie des öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Privatrecht, öffentliches Recht und Naturrecht . . . . . . 4.2 Staats- und Eigentumsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Rechtsnotwendigkeit und die Grundprinzipien des bürgerlichen Zustandes . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Apriorität und Empirie in Kants Eigentumslehre . . 4.2.2.1 Die systematische Problematik einer handlungstheoretischen Verortung der Erlaubnisgesetze und deren besitzrechtliche Bedeutung 8
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182 202
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232 232 236 236 253
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Inhaltsverzeichnis
4.3 Das Völkerrecht und das Problem der supranationalen Zwangsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Der Weltfriede als öffentlich-rechtlicher Stiftungsakt 4.3.2 Völkerbund oder Weltrepublik? . . . . . . . . . . . 4.4 Das Weltbürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.
281 281 283 297
Ausblick: Kants Begriff der Politik als ›ausübende Rechtslehre‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
5.1 Öffentlichkeit und Recht als Prämissen der Politik . . . . 5.2 Publizität als Vermittlungsprinzip von Moral und Politik .
305 311
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register
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Danksagung
Die vorliegende Arbeit ist im November 2009 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation im Fach Philosophie angenommen worden. Tag der mündlichen Prüfung war der 20. Januar 2010. Die Referenten der Arbeit waren die Professoren Smail Rapic und Andreas Speer, denen ich meinen herzlichen Dank für Ihre vielfältige Unterstützung aussprechen möchte. Mein Doktorvater Smail Rapic hat die Entstehung dieser Arbeit mit vielen hilfreichen Anregungen und kritischen Hinweisen intensiv begleitet. Er war es auch, der durch seine akribische Lektüre des Vorentwurfs wesentlich zur Verbesserung der Endfassung beigetragen hat. Für seine langjährige akademische Unterstützung zu Dank verpflichtet fühle ich mich auch Andreas Speer, der selbst unter größter Arbeitsbelastung jederzeit ein offenes Ohr für mich hatte. Vieles verdanke ich darüber hinaus der Hilfsbereitschaft des Bibliothekars am Philosophischen Seminar, Manfred Bauer. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Familie sowie meiner Lebensgefährtin, ohne deren persönliche und auch finanzielle Unterstützung dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können. Ihnen sei es deshalb gewidmet. Köln, im November 2010 Oliver Laschet
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Zitierweise und Siglen
Kants Druckschriften werden – mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft – nach den Band- und Seitenzahlen der Ausgabe von Wilhelm Weischedel, Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, 5. Aufl., Darmstadt 1983, zitiert (abgekürzt: KW). Für die Angabe von Belegstellen in Kants Nachlassreflexionen, Briefen und Vorlesungsnachschriften wird die Ausgabe der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften (und deren Nachfolger) zugrunde gelegt (abgekürzt: AA); römische Ziffern ohne weiteren Zusatz bezeichnen die Bandnummern, arabische die Seitenzahlen der jeweiligen Ausgabe. Die Kritik der reinen Vernunft (KrV) wird durch Angabe der Seitenzahlen der ersten (= A) oder der zweiten (= B) Auflage zitiert (z. B. KrV A 413 = KrV, 1. Aufl., S. 413). Alle übrigen Literaturangaben beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Anhang. Auf die dort angeführte Literatur wird mit Verfassernachnahme, Erscheinungsjahr und Seitenzahl verwiesen. Sofern mehrere Publikationen eines Verfassers aus demselben Erscheinungsjahr berücksichtigt worden sind, werden diese zusätzlich mit Minuskeln in alphabetischer Reihenfolge gekennzeichnet. Folgende Siglen werden verwendet: Anfang Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (KW VI, 85–102) Anthropologie Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (KW VI, 399–690) Aufklärung Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (KW VI, 53–61) Fakultäten Der Streit der Fakultäten (KW VI, 267–393) Frieden Zum ewigen Frieden (KW VI, 195–251) Gemeinspruch Über den Gemeinspruch (KW VI, 127–172)
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Zitierweise und Siglen
Grundlegung Idee KpV KrV
KdU Logik Lüge MAN MdS Nachricht
Pädagogik Prolegomena
Religion RL TL
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (KW IV, 11– 102) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (KW VI, 33–50) Kritik der praktischen Vernunft (KW IV, 107–302) Kritik der reinen Vernunft, zitiert nach der ersten (= A) und zweiten (= B) Original-Ausgabe neu hg. v. J. Timmermann, Hamburg 1998. Kritik der Urteilskraft (KW V, 173–620) Immanuel Kants Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen (KW III, 423–582) Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (KW IV, 637–643) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (KW V, 11–135) Die Metaphysik der Sitten (KW IV, 309–643) Immanuel Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre, von 1765–1766 (KW I, 907–917) Über Pädagogik (KW VI, 695–761) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (KW III, 113–264) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (KW IV, 649–879) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (= 1. Teil der MdS: KW IV, 309–499) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (= 2. Teil der MdS: KW IV, 503–643)
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Einleitung
In der Vorrede zur Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) fordert Immanuel Kant, dass die – von ihm auch »sittliche Weltweisheit« genannte – Moralphilosophie »dem Willen des Menschen, so fern er durch die Natur affiziert wird, ihre Gesetze bestimmen muß« (Grundlegung, KW IV, 11). Bei den Gesetzen, von denen hier die Rede ist, handelt es nicht um »Gesetze der Natur«, »nach denen alles geschieht«, sondern um »Gesetze der Freiheit«, »nach denen alles geschehen soll« (ebd.). Die These, dass es neben kausal determinierenden Naturgesetzen normative Gesetze der freien Bestimmbarkeit des vernünftigen menschlichen Willens durch diesen selbst gibt, steht unter offenkundigem Legitimationsdruck. Ihre Wahrheit bildet als eine Grundüberzeugung Kants die Voraussetzung für die systematische Wissenschaftseinteilung in Logik, Physik und Ethik, wie er sie in der Vorrede der Grundlegung unter Berufung auf die »alte griechische Philosophie« 1 skizziert (ebd.). Demnach ist die Ethik bzw. »Sittenlehre« neben der Physik bzw. »Naturlehre« materiale Vernunfterkenntnis. Beide Wissenschaften befassen sich nicht wie die formale Theorie der Logik 2 ausschließlich mit Diese Einteilung, die Kant als »der Sache vollkommen angemessen« gutheißt (Grundlegung, KW IV, 11), war laut R. Bittner in der Stoa herrschende Lehre (vgl. Bittner 2000, S. 14, Anm. 4). 2 Kants Anmerkungen zum wissenschaftstheoretischen Status der Logik sind inkonsistent. Während er in der Grundlegung zunächst argumentiert, dass die Logik »keinen empirischen Teil haben« kann (vgl. KW IV, 11), behauptet er kurz darauf: »Man kann, wenn man will, (so wie die reine Mathematik von der angewandten, die reine Logik von der angewandten unterschieden wird, also) die reine Philosophie der Sitten (Metaphysik) von der angewandten (nämlich auf die menschliche Natur) unterscheiden« (ebd., S. 38 Anm.). Und in der Kritik der reinen Vernunft heißt es: »Eine allgemeine Logik heißt aber alsdenn angewandt, wenn sie auf die Regeln des Gebrauchs des Verstandes unter den subjektiven empirischen Bedingungen, die uns die Psychologie lehrt, gerichtet ist. Sie hat also empirische Prinzipien […]« (KrV A 53, B 77). In seinen Vorlesungen 1
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Einleitung
den gesetzlichen Formen vernünftigen Denkens, sondern mit »bestimmten Gegenständen und den Gesetzen […], denen sie unterworfen sind« (ebd.). Anders als die Physik hat es die Ethik nicht eigentlich mit Objekten der Natur zu tun, die sinnlicher Anschauung zugänglich sind, sondern mit Gegenständen und Gesetzen der praktischen Freiheit. Physik und Ethik besitzen nach Kant jeweils einen apriorisch-rationalen und einen aposteriorisch-empirischen Teil. »Man kann alle Philosophie, so fern sie sich auf Gründe der Erfahrung fußt, empirische, die aber, so lediglich aus Prinzipien a priori ihre Lehren vorträgt, reine Philosophie nennen. Die letztere, wenn sie bloß formal ist, heißt Logik; ist sie aber auf bestimmte Gegenstände des Verstandes eingeschränkt, so heißt sie Metaphysik« (Grundlegung, KW IV, 11 f.) 3 .
Kant geht davon aus, dass sich sowohl in der Natur- als auch in der Sittenlehre der reine Teil von dem empirischen isolieren lässt: Die reine Physik heißt »Metaphysik der Natur«; die empirische Physik wird von Kant nicht eigens benannt. Sofern die Ethik sich als apriorisch reine Wissenschaft von der sittlichen Person realisiert, d. h. sofern sie die Bedingungen und Gründe des Sittlichen aus reiner praktischer Vernunft heraus konstruiert, nennt Kant sie in der Grundlegung »Metaphysik der Sitten« 4 oder Moral im »eigentlich[en]«, engeren Sinne über Logik, die im September 1800 von seinem Studenten Gottlieb Benjamin Jäsche veröffentlicht wurden, äußert sich Kant gegenüber einem solchen Sprachgebrauch schließlich kritisch: »Die angewandte Logik sollte eigentlich nicht Logik heißen. Es ist eine Psychologie, in welcher wir betrachten, wie es bei unserm Denken zuzugehen pflegt, nicht, wie es zugehen soll« (Logik, KW III, 440). Vgl. dazu Louden 2000, S. 183 f. 3 Vgl. dazu die Parallelstelle in der Kritik der reinen Vernunft: »Alle Philosophie aber ist entweder Erkenntnis aus reiner Vernunft, oder Vernunfterkenntnis aus empirischen Prinzipien. Die erstere heißt reine, die zweite empirische Philosophie« (KrV A 840, B 868). 4 Auch in anderen Schriften verwendet Kant den Ausdruck »Metaphysik der Sitten« in dieser Bedeutung. So schreibt er beispielsweise in der Kritik der reinen Vernunft: »Daher ist die Metaphysik der Sitten eigentlich die reine Moral, in welcher keine Anthropologie (keine empirische Bedingung) zum Grunde gelegt wird« (KrV A 841 f., B 870 f.; vgl. auch RL, KW IV, 319–322). Für eine Untersuchung des äquivoken Sprachgebrauchs des Ausdruckes »Metaphysik der Sitten« in der Grundlegung vgl. Bittner 2000, S. 14– 16; Schönecker/Wood 2004, S. 10–13. Demnach lässt sich bei seiner Verwendung eine dreifache Bedeutung unterscheiden: Erstens bezeichnet der Begriff »Metaphysik der Sitten« Kants gesamtes Projekt einer reinen Moralphilosophie, zu dem auch die Grundlegung gehört. So führt Kant den Begriff in der Vorrede ein, und an verschiedenen Stellen greift er auf diese Bedeutung zurück; vgl. z. B. Grundlegung, KW IV, 14, 38 Anm.). Zweitens heißt auch die Rechts- und Tugendlehre von 1797 »Metaphysik der
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(ebd., 12). Stützt sie sich hingegen als Erfahrungswissenschaft vom Menschen, d. h. als »auf die menschliche Natur« »angewandte[.]« Ethik (ebd., 38 Anm.), auch auf empirisch ermittelte Daten und begründet sie ihre Thesen im Horizont der Bedingungen einer humanen Lebenswelt, unter denen das sittlich Geforderte »öfters nicht geschieht« (ebd., 11), heißt sie »praktische Anthropologie«. »Auf solche Weise entspringt die Idee einer zwiefachen Metaphysik, einer Metaphysik der Natur und einer Metaphysik der Sitten. Die Physik wird also ihren empirischen, aber auch einen rationalen 5 Teil haben; die Ethik gleichfalls; wiewohl hier der empirische Teil besonders praktische Anthropologie, der rationale aber eigentlich Moral heißen könnte« (Grundlegung, KW IV, 12). 6
Kant hat den unter dem Begriff der »praktischen« oder »moralischen« Anthropologie 7 als »das andere Glied der Einteilung der praktischen Philosophie überhaupt« (RL, KW IV, 322) konzipierten empirischen Teil der Ethik nicht weiter ausgeführt oder gar systematisch entwickelt 8 . Innerhalb seiner Druckschriften findet sich dessen detaillierSitten«. In diesem Sinne spricht Kant in der Grundlegung auch davon, »eine Metaphysik der Sitten dereinst zu liefern« (Grundlegung, KW IV, 15). Schließlich nennt Kant drittens denjenigen Teil seiner Moralphilosophie »Metaphysik der Sitten«, den er im Zweiten und Dritten Abschnitt der Grundlegung behandelt (vgl. ebd., 33, 81). Da die erstgenannte Bedeutung von »Metaphysik der Sitten« die umfassendste und auch der Sache nach erste ist, wird der Begriff nachstehend in der Regel in dieser Bedeutung einer moralphilosophischen Disziplin verwendet und zu seiner Unterscheidung von dem gleichnamigen Werk in Anführungszeichen gesetzt. Demgegenüber wird der Buchtitel – wie alle anderen Titel der Kantischen Schriften – kursiv gesetzt. 5 Kant verwendet die Begriffe »rational« und »rein« in diesem Fall univok. 6 Vgl. zu dieser Wissenschaftseinteilung Grundlegung, KW IV, 11 f. Sie entspricht weitgehend der »Architektonik« der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft (vgl. insbes. KrV A 840–848, B 868–876). Vgl. dazu Siep 2000, S. 34 f. 7 Kant bezeichnet den empirischen Teil der Ethik in synonymer Bedeutung als »moralische Anthropologie« (vgl. RL, KW IV, 322; Moral Mrongovius II, AA XXIX, 599), »praktische Anthropologie« (vgl. Grundlegung, KW IV, 12), »auf die menschliche Natur« »angewandte[.]« »Philosophie der Sitten« (vgl. ebd., 38 Anm.) oder einfach als »Anthropologie« (vgl. ebd., 40; Moralphilosophie Collins, AA XXVII, 244; Moral Mrongovius I, AA XXVII, 1398). Vgl. dazu Louden 2000, S. 15 u. 72. 8 Aufgrund dessen Bezeichnung als »praktischer Anthropologie« könnte man vermuten, dass sich weiterführende Informationen zu diesem Forschungszweig der – aus Kants seit den frühen 1770er Jahren regelmäßig gehaltenen Anthropologie-Vorlesungen hervorgegangenen und 1798 veröffentlichten – Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht entnehmen lassen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Bemerkenswerterweise tauchen die Begriffe »moralische Anthropologie« bzw. »praktische Anthropologie« in A
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teste Beschreibung in der allgemeinen Einleitung zur Metaphysik der Sitten: »Das Gegenstück einer Metaphysik der Sitten […] würde die moralische Anthropologie sein, welche, aber nur die subjektive, hindernde sowohl, als begünstigende, Bedingungen der Ausführung der Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Erziehung der Schul- und Volksbelehrung) und dergleichen andere sich auf Erfahrung gründende Lehren und Vorschriften enthalten würde, und die nicht entbehrt werden kann, aber durchaus nicht vor
der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht überhaupt nicht auf. Und auch die Wörter »kategorisch« und »Imperativ« begegnen weder in den Vorlesungsnachschriften noch im Drucktext der Anthropologie. Umgekehrt wird in den moralphilosophischen Schriften Kants zwar von einer »moralischen« oder »praktischen«, jedoch nie von der »pragmatischen« Anthropologie oder einer Anthropologie ›in pragmatischer Hinsicht‹ gesprochen. Auch unabhängig von diesen lexikologischen Indizien herrscht in der Forschungsliteratur weitgehender Konsens darüber, dass Kants unvollendet gebliebenes Projekt einer praktischen Anthropologie – aus Gründen, die an dieser Stelle nicht rekonstruiert werden können – nicht gleichzusetzen ist mit seinem Verständnis von pragmatischer Anthropologie, dessen genauer theoretischer Status in Kants Philosophie im Übrigen ebenfalls nur schwer zu ermitteln ist (vgl. Hinske 1966, S. 421–427; Brandt/Stark 1997, S. XLVII; Schönecker/Wood 2004, S. 34). So urteilen R. Brandt und W. Stark in der Einleitung zu der erst kürzlich innerhalb der Akademie-Ausgabe veröffentlichten Edition der Anthropologie-Vorlesungsnachschriften: »Die pragmatische Anthropologie ist in keiner ihrer Entwicklungsphasen identisch mit derjenigen Anthropologie, die Kant wiederholt als Komplementärstück seiner Morallehre nach 1770 vorsieht.« Trotz vereinzelter thematischer Berührungspunkte fehle jeder Hinweis darauf, dass die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht in der genannten systematischen Beziehung zu Kants Moralphilosophie steht. Die »große, begrifflich nicht näher bestimmte Distanz der kritischen Moralphilosophie und pragmatischen Anthropologie« mache letztere »immun« gegen erstere (vgl. Brandt/Stark 1997, S. XLVIf., hier verw. Zitate ebd.). Vgl. auch Becker 1983, S. 14: »[D]er Idee einer systematischen Vermittlungsfunktion zwischen Freiheit und Natur des Menschen entspricht die ›Anthropologie [in pragmatischer Hinsicht]‹ nicht, da in ihr trotz gelegentlicher moralischer Beurteilungen menschlicher Handlungsweisen der grundlegende und leitende Gesichtspunkt nicht die Ausführung moralischer Gesetze unter den subjektiven Bedingungen der menschlichen Natur ist. Eine solche ›praktische Anthropologie‹ müsste in ihrer Konzeption, in ihrem systematischen Verfahren und in ihrer Durchführung im einzelnen viel enger an die Moralphilosophie gebunden sein, als es bei der Anthropologie [in pragmatischer Hinsicht] der Fall ist.« Ähnlich urteilen Brandt 1991, S. 77 f., 92 f.; Brandt 1999, S. 14–17; Pieper 1978, S. 318. Für einen Überblick über die »nur dunkel konzipierte Idee« der Kantischen Anthropologie vgl. Hinske 1966 (hier verw. Zitat: ebd., S. 425).
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jener vorausgeschickt, oder mit ihr vermischt werden muß« (RL, KW IV, 322) 9 .
In ähnlicher Weise wird die Aufgabe der praktischen Anthropologie in der Vorrede zur Grundlegung charakterisiert. Dort heißt es, sie solle den apriorischen moralischen Gesetzen »Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung […] verschaffen, da dieser, als selbst mit so viel Neigungen affiziert, der Idee einer praktischen reinen Vernunft zwar fähig, aber nicht so leicht vermögend ist, sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu machen« (Grundlegung, KW IV, 14) 10 . Vgl. zu dieser Textstelle die Erörterung bei Firla 1981, S. 218–220. Vgl. auch KrV A 54 f., B 79. Vergleichbare Beschreibungen finden sich auch an verschiedenen Stellen in den Nachschriften der Moral-Vorlesungen Kants. So heißt es etwa in der Praktischen Philosophie Powalski: »Man muß nicht bloß das Object, das ist, das sittliche Verhalten, sondern auch das Subject das ist den Menschen studiren, das ist nöthig, man muß sehen, was sich im Menschen für Hindernisse der Tugend finden. Der erste Theil der Moral enthält die Criteria der diiudication deßen was practisch gut und böse ist. […]. Der zweyte enthält die Regeln und Mittel der Execution, Mittel wodurch ein Wille der nach Regeln abgehandelt wird möglich ist. Dieser zweyte theil ist der schwerste, weil man den Menschen studiren muß« (vgl. AA XXVII, 97 f.). Und in der von Georg Ludwig Collins (unmittelbar vor der Veröffentlichung der Grundlegung) angefertigten Nachschrift von Kants Ethik-Vorlesung des Wintersemesters 1784–85 lesen wir: »Die Betrachtung der Regel ist unnütz, wenn man nicht die Menschen bereitwillig machen kann, solche Regeln zu befolgen.« Zwar könne man »die practische Philosophie wohl erwegen auch ohne die Anthropologie oder ohne die Kentniß des Subjects, allein denn ist sie nur speculative, oder eine Idee; so muß der Mensch doch wenigstens hernach studiert werden.« (AA XXVII, 244). Schließlich ist es erwähnenswert, dass auch Zeitgenossen Kants, die dessen Philosophie einem größeren Rezipientenkreis zugänglich machen wollten, die spezifisch moralische – im Unterschied zur pragmatischen – Dimension der Kantischen Anthropologie betonen und auffallend detailliert beschreiben: So schreibt Carl Christian Erhardt Schmidt in der vierten, 1798 veröffentlichten Auflage seines Wörterbuches zum leichteren Gebrauch der Kantischen Schriften: »Praktische Anthropologie« – d. h. »angewandte und empirische Philosophie der Sitten, eigentliche Tugendlehre – ist die Betrachtung des moralischen Gesetzes in Beziehung auf den menschlichen Willen, dessen Neigungen, Triebe und auf die Hindernisse, dasselbe auszuüben. Sie stützt sich eines Theils auf Principien der reinen Moral, oder der Metaphysik der Sitten, anderntheils auf Lehren der theoretischen Psychologie« (Schmidt 1798, S. 62 f.). Vgl. auch das ausführliche Lemma »Anthropologie« in dem 1797 von Georg Samuel Albert Mellin veröffentlichten ersten Band seines Enzyclopädischen Wörterbuches der kritischen Philosophie (Mellin 1797, S. 277–282, hier insbes. S. 279 ff.). Zum Begriff der 9
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Die prinzipielle Aufgabe des empirischen Teils einer Ethik besteht für Kant demnach darin, das empirisch anzuwendende Wissen über die Vollzugsvoraussetzungen und Realisierungsbedingungen der a priori und für sich zu begründenden moralischen Gesetzgebung zusammenzufassen, die deren – so könnte man in moderner Terminologie vielleicht sagen – kognitive und motivationspsychologische Wirksamkeit im konkreten Lebenswandel der Menschen beeinflussen, und auf dieser Grundlage moralpädagogische »Lehren und Vorschriften« zu entwickeln. Diese hier skizzierte, erstmals von Kant in Anspruch genommene strikte Trennung einer erfahrungsfreien Metaphysik praktischer Vernunft von empirischer Anthropologie 11 soll im Folgenden kritisch in Hinblick auf ihre systematische Tragfähigkeit für die von Kant ausgearbeitete Moralphilosophie überprüft werden. Ich orientiere mich dabei vor allem an Kants Grundlegungsschriften 12 sowie den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre – dem ersten Teil seines Spätwerks, der Metaphysik der Sitten (1797) 13 . Im Vorgriff auf die folgenpraktischen Anthropologie vgl. weiterführend die materialreiche Arbeit von R. B. Louden (Louden 2000, insbes. S. 27–29 u. 71–74). 11 So Forschner 1983, S. 25. Vgl. dazu auch Bittner 2000, S. 13 f. 12 Hier und im Folgenden werden die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Kritik der praktischen Vernunft der Einfachheit halber auch als (ethische) »Grundlegungsschriften« bezeichnet. 13 Diese Eingrenzung bzw. der damit verbundene weitgehende Ausschluss der Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre – des zweiten Hauptteils der Metaphysik der Sitten – aus der vorliegenden Untersuchung bedarf einer Begründung, die an dieser Stelle bereits angedeutet werden soll (vgl. dazu u. Kap. 3.1). Kant stellt sich in der Tugendlehre die mit schwerwiegenden deduktionslogischen Problemen belastete Aufgabe, aus dem seit der Grundlegung bekannten »formale[n]« und »negative[n] Prinzip« des Sittengesetzes (TL, KW IV, 519; vgl. auch RL, KW IV, 331 f.), das – wie noch zu zeigen sein wird – gerade von allen besonderen Zwecken als Bestimmungsgründen des Willenssubjektes abstrahiert, ein qualitativ neues, affirmatives Prinzip für die menschliche Zwecksetzung (vgl. TL, KW IV, 526) und damit anthropologisch vermittelte »Tugendpflichten« abzuleiten, welche die durch verschiedene Handlungen allererst zu verwirklichenden Zwecke der »eigenen Vollkommenheit« und »fremden Glückseligkeit« als – einzig legitime – materiale Bestimmungsgründe des Willens (vgl. ebd., 510, 516–519, 522–525) objektiv verbindlich machen. Die diesem Ableitungsweg zugrunde liegenden Argumentationsschritte sind meines Erachtens außerordentlich angreifbar: zum einen in Hinblick auf ihre innere deduktionslogische Kohärenz und den systematischen Anspruch der beiden obersten Pflichtzwecke als Einteilungsprinzipien der Ethik, zum anderen in Bezug auf die von Kant in den Grundlegungsschriften aufgestellten Anforderungen an die Beweggründe sittlichen Handelns. Bei näherer Betrachtung lassen die von
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den Untersuchungen sei schon hier darauf hingewiesen, dass Kant es nur in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft unternimmt, »eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre« (Grundlegung, KW IV, 13) 14 . Wie bereits E. Arnoldt in seiner 1894 veröffentlichten Studie Kritische Excurse im Gebiete der Kant-Forschung zurecht bemerkte, entspricht Kants Metaphysik der Sitten, nicht dem, was der von den Grundlegungsschriften herkommende Leser aufgrund des Buchtitels erwarten würde, nämlich »reine Philosophie der Sitten (Metaphysik)« (Grundlegung, KW IV, 38 Anm.) 15 . Kant erkennt ausdrücklich an, dass die systematisch an die Kritik der praktischen Vernunft sich anschließende Metaphysik der Sitten »auf die empirische Mannigfaltigkeit […] Rücksicht nehmen« müsse (RL, KW IV, 309) und »nicht […] vernünftige Wesen überhaupt […], sondern […] Menschen als vernünftige Naturwesen« betreffe (TL, KW IV, 508; vgl. auch ebd. 551). Daher bezeichnet er die Rechtslehre und die Tugendlehre auch nicht schlechthin als Metaphysik, sondern lediglich als »metaphysische Anfangsgründe« 16 . Ähnlich wie im Fall der Kritik der reinen Vernunft (1781), Kant in der Metaphysik der Sitten vorgetragenen Ausführungen zum »oberste[n] Prinzip der Tugendlehre« (ebd., 526) wie auch die sich daran anschließenden Ableitungen konkreter Tugendpflichten allerdings erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass hier tatsächlich ein gegenüber dem allgemeinen Kategorischen Imperativ neuer oder gar genauerer Grundsatz der Begründung ethischer Pflichten entwickelt bzw. angewendet werden soll (s. dazu u. S. 164–168). Unabhängig von diesen Bedenken gegen Kants Ethikkonzeption der Tugendlehre werden im Zusammenhang mit der Erörterung der Kantischen Beispielfälle für die Pflichtenableitung Passagen und Argumente aus der Tugendlehre berücksichtigt, insofern sie im Sinne der in der Grundlegung vorgeführten Verfahrensweise als Anwendung einer der ›klassischen‹ Formulierungen des Kategorischen Imperativs betrachtet werden können. 14 Gleichwohl taucht der Begriff »Metaphysik der Sitten« in der Kritik der praktischen Vernunft bemerkenswerterweise nicht auf. Kant bezieht »Metaphysik« hier nur auf den Bereich theoretischer Metaphysik (vgl. Brandt 1990a, S. 83, Anm. 35). Dieser Umstand verliert allerdings seine ihm auf den ersten Blick anhaftende Befremdlichkeit dadurch, dass Kant in der zweiten Kritik nirgends Rücksicht auf ein mögliches moralphilosophisches System nimmt, sondern sich ausschließlich mit dem Prinzip eines solchen Systems befasst. 15 Vgl. Arnoldt 1894, S. 350 sowie Paton 1962, S. 19. 16 Zu Kants Lebzeiten hat es laut B. Ludwig keine einbändige Ausgabe beider Teile gegeben (vgl. Ludwig 1988, S. 49). Die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre bilden den ersten Teil der Metaphysik der Sitten und erscheinen zunächst separat, mit A
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der nicht – wie die oben skizzierte wissenschaftstheoretische Systematik nahe legt – eine »Metaphysik der Natur«, sondern nur die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) folgen, soll der Ausdruck »metaphysische Anfangsgründe« nach Kant das Vorhandensein und die Inanspruchnahme empirischer Elemente anzeigen (vgl. RL, KW IV, 309). Die Metaphysik der Sitten setzt die Herleitung und Geltungsfundierung des obersten Moralprinzips voraus; sie soll das von den Grundlegungsschriften gelieferte Rahmenwerk durch »Anwendung desselben Prinzips auf das ganze System« der Moralphilosophie inhaltlich ausarbeiten (vgl. Grundlegung, KW IV, 16) und eine vollständige »Einteilung der Pflichten« vornehmen (ebd., 52 Anm.). Eine derartige Ausarbeitung einer substanziellen moralischen Pflichtenlehre – in welcher der eine, bloß formale allgemeine Kategorische Imperativ sich in eine Mehrzahl inhaltlich voneinander unterschiedener, aber ebenfalls kategorisch gebietender Einzelpflichten ausdifferenziert (ebd., 51; RL, KW IV, 331) – erfordert und beinhaltet eine Fülle von empirisch-anthropologischen Kenntnissen und Hintergrundinformationen. Die Verifizierung dieser Einschätzung anhand einer Erörterung des Beispielkataloges der Grundlegung, wo Kant den Kategorischen Imperativ erstaunlicherweise am ausführlichsten in seiner exemplarischen Anwendung vorstellt, bildet einen wesentlichen Teil des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit. Diese gliedert sich in zwei Hauptteile. Im I. Teil soll zunächst untersucht werden, ob es Kant methodisch gelingt, eine »reine [Moral-] Philosophie« »aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten« (Grundlegung, KW IV, 40). Dazu werden die relevanten Passagen der beiden Grundlegungsschriften einer vergleichenden Analyse unterzogen, in deren Folge eine Unterscheidung innerhalb Kants metaphysischer Fundamenaltethik zu treffen ist zwischen a) demjenigen Systemteil, der das Sittengesetz als streng formales, deskriptives Prinzip sittlicher Beurteilung exponiert, und b) demjenigen Systemteil, der den Kategorischen Imperativ als präskriptives Pflichtprinzip einführt (Kap. 1) 17 . Im Anschluss an diese vorbereitenden Überlegungen soll einiger Verzögerung vermutlich Anfang Januar 1797. Der zweite Teil, die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre, wird erst im August desselben Jahres ediert. Zur Publikationsgeschichte vgl. auch die beiden Einleitungen Ludwig 1990 und Ludwig 1998. 17 Vgl. Cramer 1996, S. 322. Laut K. Cramer hat Kant »es unterlassen, diese innertheo-
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ausführlich erörtert werden, welche funktionale Bedeutung empirisches Wissen innerhalb der Kantischen Moralphilosophie für das Problem der sittlichen Willensbestimmung des Menschen und für die Begründung einzelner moralischer Pflichten besitzt (Kap. 2). Kants eigener Standpunkt in dieser Frage ist schwierig zu ermitteln. Er gesteht zwar die Notwendigkeit der Inanspruchnahme empirisch-anthropologischer Informationen für die Bestimmung der systematologisch nachgeordneten Anwendungsbedingungen einer als »für sich a priori bestehend« (Grundlegung, KW IV, 38 Anm.) und für »vernünftige Wesen überhaupt gelten[d]« (ebd., 40) vorausgesetzten Fundamentalethik durchaus zu 18 ; allerdings werden der einer konkreten (menschlichen) Pflichtenlehre zwangsläufig immanente begründungstheoretische Status empirisch gewonnener Kenntnisse sowie deren inhaltliche Spezifizierung und systematische Beziehung zum apriorisch reinen Teil der Moralphilosophie von Kant weder expliziert noch geltungstheoretisch im Hinblick auf die Kohärenz seiner dichotomischen Wissenschaftsaufspaltung reflektiert 19 . Vielmehr – so die im 2. Kapitel zu verifizieretischen Verhältnisse seiner metaphysischen Grundlegung der Ethik klarzumachen« und »methodisch angemessen zu unterscheiden« (ebd.). Allerdings finden sich in der Grundlegung Äußerungen, die als eindeutige Anhaltspunkte dafür bewertet werden müssen, dass Kant die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung durchaus erkannt hat. So schreibt er in der Vorrede, dass eine »Metaphysik der Sitten«, als der reine Teil der Moralphilosophie, »nichts mehr, als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität, welche allein ein, in seiner Absicht, ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung abzusonderndes Geschäfte ausmacht«, enthalte, nicht aber die »Anwendung desselben Prinzips auf das ganze System« (Grundlegung, KW IV, 16; vgl. auch KpV, KW IV, 113). 18 Vgl. etwa RL, KW IV, 321 f.: »So wie es aber in einer Metaphysik der Natur auch Prinzipien der Anwendung jener allgemeinen obersten Grundsätze von einer Natur überhaupt auf Gegenstände der Erfahrung geben muß, so wird es auch eine Metaphysik der Sitten daran nicht können mangeln lassen, und wir werden oft die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande nehmen müssen, um an ihr die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Prinzipien zu zeigen, ohne daß jedoch dadurch der Reinigkeit der letzteren etwas benommen, noch ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird.« Vgl. auch Grundlegung, KW IV, 40. 19 Auf dieses Problem hat bereits E. Arnoldt aufmerksam gemacht: »Kant [hat] klar und deutlich eine moralische Anthropologie als unentbehrlich, als nothwendig hervorgehoben und sie auch, eben weil sie moralische Lehre ist, nicht weniger klar und deutlich als einen Theil der praktischen Philosophie in Anspruch genommen. […]. Aber ihre Richtung, ihr Inhalt, ihr Charakter kann A
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rende Grundthese des ersten Hauptteils dieser Arbeit – überschätzt Kant die metaphysische Reichweite und den streng apriorischen Charakter seiner Ethik insbesondere in seinen diesbezüglichen programmatischen Äußerungen insofern, als er 1.) die – freilich hochgenerellen – empirischen Implikationen einer Ableitung konkreter sittlicher Pflichten nicht in seine Überlegungen einbezieht 20 . Damit zusammenhängend stellt er 2.) das komplexe Anwendungs- und Vermittlungsproblem zwischen reiner Morallehre und konkreter menschlicher Handlungssituation mitunter vereinfachend so dar, als beschränke sich die Bedeutung empirischen Wissens hier auf die Leistung und Kultivierung einer bestimmenden praktischen Urteilskraft, die einzelne Handlungen lediglich unter gegebene apriorische Gesetze zu subsumieren, d. h. als deren Anwendungsfall zu identifizieren habe 21. Aus dem Anwendungsverständnis des Kategorischen Imperativs, wie nicht genau derselbe sein, sofern sie ein Theil der praktischen Philosophie, und so fern sie ein Theil einer [empirischen] Anthropologie ist. Denn als Theil der praktischen Philosophie steht sie unter der Gesetzgebung der Vernunft nach dem Freiheitsgesetze, welche vorschreibt, was sein soll; dagegen steht sie, mag sie immerhin moralisch-praktisch sein, als Theil einer [empirischen] Anthropologie doch irgendwie unter der Gesetzgebung der Vernunft nach dem Naturbegriffe, welcher angiebt, was ist. Dieses Verhältnis hat Kant nicht näher bestimmt« (vgl. Arnoldt 1894, S. 351). Im Fortgang seiner Argumentation entwirft Arnoldt (ebd., S. 352–354) ein vielschichtiges Schema, das die zahlreichen Relationen zwischen praktischer Philosophie und empirischer Anthropologie zu vereinigen beabsichtigt. Die in ihm zum Ausdruck kommende Verhältnisbestimmung von »reiner« und »angewandter« Moralphilosophie entspricht in weiten Teilen dem Analyseergebnis der nachstehenden Untersuchungen. 20 Kant verkennt zwar nicht die grundsätzliche Bedeutung empirischen Wissens für die Genese von einzelnen Maximen, er ist jedoch der Auffassung, dass es »in einer praktischen Philosophie […] nicht nötig« sei, über die intersubjektiv gültigen, empirisch-anthropologischen Entstehungsbedingungen von Maximen »Untersuchung anzustellen« (vgl. Grundlegung, KW IV, 58). Inwieweit diese Einschätzung im Kontext der Begründung konkreter moralischer Pflichten aufrechterhalten werden kann, soll die Analyse der vier Anwendungsbeispiele des Kategorischen Imperativs zeigen, die Kant im Zweiten Abschnitt der Grundlegung erörtert. Darüber hinaus gilt es, in Auseinandersetzung mit der Position Kants zu erörtern, inwieweit bei der moralischen Beurteilung von Handlungsmaximen praktische Folgenüberlegungen zu berücksichtigen sind, die nur unter Kenntnis empirischer und pragmatischer Sachverhalte angestellt werden können. 21 Vgl. Grundlegung, KW IV, 13 f.: »… alle Moralphilosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Teil, und, auf den Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das mindeste von der Kenntnis desselben (Anthropologie), sondern gibt ihm, als vernünftigem Wesen, Gesetze a priori, die freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft erfordern, um teils zu unter-
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es in den Beispielfällen der Grundlegung zum Ausdruck kommt, ergeben sich darüber hinaus grundsätzliche verbindlichkeitstheoretische Problemstellungen, die den Status der sog. Allgemeinen-Gesetzes-Formel als Sittengesetz, d. h. als für die sittliche Willensbestimmung des Menschen alleinmaßgebliches Prinzip, fragwürdig erscheinen lassen (vgl. Kap. 2.1.1.1 u. Kap. 2.2). Der II. Hauptteil der nachstehenden Untersuchungen beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Apriorität und Empirie in Kants Rechtsphilosophie, d. h. insbesondere in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten. Kant unternimmt es hier, in systematischer Perspektive moralische Grundnormen zu formulieren und zu begründen, denen eine Rechtsordnung nicht widerstreiten darf, wenn sie auf diese Bezeichnung legitimerweise Anspruch erheben will. Die Relevanz empirischer und anthropologischer Elemente bei der Herleitung und Ausarbeitung dieses Normensystems beschränkt sich aber keineswegs – wie Kants Ankündigung in der Vorrede der Rechtslehre nahe legt – auf die in den Anmerkungen enthaltenen Rechtsbeispiele »besondere[r] Erfahrungsfälle« (RL, KW IV, 309). Es zeigt sich vielmehr, dass in den grundlegenden Rechtsbegriff selbst empirische Bestimmungsmomente von sehr hohem Allgemeinheitsgrad einfließen, die seinen Regelungsbereich überhaupt erst konstituieren und ohne welche er seinen Sinn als ein »auf die Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter Begriff« verlieren würde (ebd.). Wie in Kap. 3.2 verdeutlicht werden soll, enthält das Kantische Rechtsprinzip neben einem metaphysisch-normativen Geltungsanspruch bereits in seiner formalen Grundstruktur empirisch-deskriptive Geltungsvoraussetzungen, welche die notwendigen und zureichenden materialen Bedingungen benennen, unter denen es überhaupt rechtserhebliche Sozialverhältnisse gibt. Darüber hinaus fließen empirisch zunehmend reichhaltige Prämissen in die Geltungsbedingungen spezifischer Rechtspflichten und Rechtsinstitute ein (vgl. Kap. 4.2, 4.3 und 4.4). Diese für das Recht eigentümliche Verschränkung von apriorisch verbindlichen Vernunftgründen und basalen Erfahrungstatsachen ist gemäß Kants Selbstverständnis eine innermetaphysische; ihr entspricht ein gegenüber der Grundlegung erweiterter Metaphysikbegriff (vgl. Kap. 3.2.1). Ein zweiter Untersuchungsschwerpunkt des zweiten Hauptteils scheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen«. A
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der vorliegenden Arbeit liegt in der begründungstheoretischen Beziehung der ethischen Grundlegungsschriften zur Rechtslehre Kants. Wenngleich sowohl die Grundlegung als auch die Kritik der praktischen Vernunft Hinweise auf eine zukünftige Metaphysik der Sitten enthalten und bereits Pflichtbeispiele aus dem Bereich der späteren Rechtspflichten vorweg nehmen, so findet sich doch in keiner der beiden Grundlegungsschriften ein Anhaltspunkt dafür, dass die moralische Gesetzgebung der praktischen Vernunft sich systematisch in die beiden Arten der ethischen und juridischen auseinanderfaltet (vgl. RL, KW IV, 323–326) 22 . Während die ethische Gesetzgebung mit der inneren Triebfeder der Pflicht, d. h. der »Achtung fürs Gesetz«, ein bestimmtes Exekutionsprinzip bei der Befolgung ihrer Gesetze vorschreibt, verzichtet die juridische Gesetzgebung bei ihren äußeren Rechtspflichten auf jede normative Verknüpfung mit einer bestimmten Ausführungsmotivation. Das Rechtsprinzip als solches sieht von der für die Ethik zentralen Frage nach dem Handlungsmotiv gänzlich ab; zur Erfüllung der fremdgeschuldeten Rechtspflichten bedarf es lediglich eines äußeren Handelns der Menschen. Damit wird bereits deutlich, dass die Bedeutung des so verstandenen »strikte[n] Recht[s]« (RL, KW IV, 339) nicht darauf reduziert werden kann, eine ethische Minimalbedingung zu definieren (vgl. Kap. 3.1). Ein zentrales Interpretationsproblem besteht nun in dem begründungslogischen Verhältnis zwischen dem mit dem Rechtsprinzip laut Kant verknüpften »Prinzip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges« (RL, KW IV, 339) und dem Kategorischen Imperativ als dem ethischen Prinzip aller moralischen Verpflichtung (ebd., 331 f.): Inwieweit kann der nach Kant die Autonomie reiner praktischer Vernunft verbürgende »oberste Grundsatz der Sittenlehre« (ebd., 332) zugleich die geltungstheoretische Grundlage für eine empirischen Zwang als Befolgungsmodus erlaubende Fremdverpflichtung sein? Kant selbst hat sich zu dieser Frage an keiner Stelle seiner Druckschriften explizit geäußert. Die in diesem Zusammenhang (Kap. 3.2.3, 3.2.4) einzulösende These Kant gebraucht die Ausdrücke »Ethik« und »Moral« in den Grundlegungsschriften daher auch meist in synonymer Bedeutung. In der vorliegenden Arbeit werden die Termini »moralisch«, »rechtlich« und »ethisch« grundsätzlich so verwendet, dass »moralisch« den Oberbegriff für »ethisch« und »rechtlich« bezeichnet. So sind die moralischen Prinzipien bzw. moralischen Pflichten in Abhängigkeit von der sie ursprünglich erlassenden Gesetzgebungsweise der praktischen Vernunft entweder genuin ethisch oder genuin rechtlich.
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der vorliegenden Arbeit lautet: Eine systematische Ableitbarkeitsbeziehung zwischen dem ethischen Moralprinzip und einer vernunftrechtlich beschränkten Zwangsbefugnis lässt sich nur unter der Voraussetzung unverlierbarer Persönlichkeitsrechte der Subjekte legitimen Zwangs nachweisen. Wie unter besonderer Berücksichtigung von Kants Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten gezeigt werden soll, resultiert die rechtliche Zwangsbefugnis verbindlichkeitstheoretisch aus der menschheitsrechtlich begründeten Pflicht des Einzelnen, in seinem äußeren Verhalten allen Anderen gegenüber den unbedingten Wert seiner moralischen Persönlichkeit zu behaupten. Dieser Ableitungszusammenhang kann anhand der Druckfassung der »Einleitung in die Rechtslehre« rekonstruiert werden. Dabei wird deutlich, dass Kant hier eine Neubestimmung des Verhältnisses von AllgemeinerGesetzes-Formel und Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs nahe legt, die letztere gegenüber erstgenannter aufwertet. Das abschließende 5. Kapitel der vorliegenden Arbeit wendet sich den systematisch weitgehend unausgearbeitet gebliebenen politikphilosophischen Ansichten Kants zu. Von besonderer Bedeutung ist dabei der zweiteilige Anhang zu Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795). Wie gezeigt werden soll, dürfen die vernunftrechtlichen Bedingungen, an die Kant seine Begriffsbestimmung moralischer Politik bindet, nicht den Blick verstellen für einen eigenständigen Handlungsbereich der politischen Sphäre. Vor dem Hintergrund der historisch tradierten Lebensverhältnisse der Menschen muss der Politiker empirische Prämissen anerkennen, die weit über die empirisch-anthropologischen Grundannahmen des Moralphilosophen hinausreichen. Dabei kommt dem Reformdruck einer kritischen Öffentlichkeit nach Kant eine kaum zu überschätzende regulative Funktion für die positive Rechtsentwicklung zu.
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I. Das Verhältnis von Metaphysik und Erfahrung in den Grundlegungsschriften der Kantischen Moralphilosophie 1. Kants theoretische Grundlegung seiner Moralphilosophie Kants Begründung der Ethik erfolgt vermittels einer kritischen Prüfung des praktischen Vernunftvermögens. Er ist der Überzeugung, »daß alle sittliche[n] Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und Ursprung haben, und dieses […] in der gemeinsten Menschenvernunft eben sowohl, als der im höchsten Maße spekulativen« (Grundlegung, KW IV, 39). Indem Kant jeweils eine dieser beiden Ausgangsperspektiven philosophischer Reflexion einnimmt, verfolgt er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft unterschiedliche Begründungswege, um den Nachweis zu führen, dass Sittlichkeit im strengen Sinne des Wortes nur als Tätigkeit reiner praktischer Vernunft verstanden werden kann. Die Grundlegung beginnt mit einer Analyse »der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis« (Grundlegung, KW IV, 18), von der aus Kant einen »Übergang« zur »Metaphysik der Sitten« als »philosophischer sittlicher Vernunfterkenntnis« vollziehen will (ebd., 18–80). Im Mittelpunkt dieser ersten beiden Abschnitte steht die Bedeutungsanalyse, d. h. die »bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit« (ebd., 75), die nach Kant »dem gemeinen Gebrauche unserer praktischen Vernunft« abgelesen sind (ebd., 33). Er ist der Auffassung, dass zwischen dem auf diese Weise explizierten, zu wissenschaftlicher Bewusstheit gebrachten Moralverständnis und »der gemeinen sittlichen Beurteilung« (ebd., 40) kein prinzipieller Unterschied besteht. Mehrfach betont er, dass das oberste moralische Prinzip »schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnet und nicht so wohl gelehret als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf« (ebd., 22) 1 . Kant bezieht sich also in der Grundlegung – so jedenfalls sein Selbstverständnis – zunächst auf Die so verstandene »philosophische sittliche Vernunfterkenntnis« besteht mithin in der begrifflichen Konkretisierung desjenigen impliziten moralischen Wissens, das schon
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Kants theoretische Grundlegung seiner Moralphilosophie
das vortheoretische elementare Handlungswissen, das in der alltäglichen Praxis moralischen Urteilens unreflektiert benutzt und anerkannt wird. Durch eine Explikation dieser »moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschenvernunft« will er »bis zu ihrem Prinzip« gelangen (ebd., 30). Seine Methodik setzt im Ersten Abschnitt nun genauer mit dem Versuch an, »den Begriff eines […] ohne weitere Absicht guten Willens« anhand einer Analyse dessen zu gewinnen, was es bedeutet, »aus Pflicht« zu handeln (ebd., 22) 2 . Demgegenüber hat Kant die zweite ethische Grundlegungsschrift, die 1787 in erster Auflage erschienene Kritik der praktischen Vernunft, von Anfang an in der Perspektive einer systematischen Vernunftkritik verfasst 3 . In der Absicht, die gesetzgeberische Tätigkeit der reinen praktischen Vernunft nachzuweisen, beschreitet Kant hier einen von dem Analyseverfahren der Grundlegung unterschiedenen und unabhängigen methodischen Weg. Dieser nimmt nicht die Explikation der analytischen Eigenschaften eines »aus dem gemeinen Gebrauche unserer praktischen Vernunft gezogen[en]« »Begriff[s] der Pflicht« (Grundlegung, KW IV, 33) zum Ausgangspunkt der Exposition eines sittlich guten Willens, sondern versucht, dessen innere formale Bestimmtheit aus dem Begriff eines zunächst nur hypothetisch in Ansatz gebrachten objektiv gültigen praktischen Gesetzes abzuleiten, den Kant von vornherein mit dem Begriff eines »Grundsatzes der reinen praktischen Vernunft« verknüpft (KpV, KW IV, 125). Ohne argumentativen Bezug auf Phänomene des natürlichen moralischen Bewusstseins entwickeln die Eingangsparagrafen der Kritik der praktischen Vernunft die Bedeutung der moralischen Grundbegriffe entlang der
die »gemeine[.] Menschenvernunft […] jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurteilung braucht« (Grundlegung, KW IV, 30 f.). 2 Gemäß dem Selbstverständnis seiner methodischen Darstellung verfährt Kant in den ersten beiden Abschnitten der Grundlegung »bloß analytisch«, indem er vom Alltagswissen ausgehend zu dem obersten Prinzip der Moralität vordringt. Im Dritten Abschnitt schreitet er »synthetisch« von der Prüfung dieses Prinzips und seiner Quellen in der praktischen Vernunft zu der Stufe des Alltagswissens zurück, in der es angewendet wird (vgl. Grundlegung, KW IV, 17, 80). Vgl. zur Einteilung und Methode der Grundlegung Schönecker/Wood 2004, S. 9–20; Kaulbach 1996, S. 4–17; Bittner 2000, S. 29 f. 3 Vgl. die Einleitung zur Kritik der praktischen Vernunft (KpV, KW IV, 120 f.). Zum Verhältnis der beiden Kritiken des theoretischen und praktischen Vernunftvermögens vgl. Brandt 2007, S. 351–384.
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Die Exposition des Begriffes einer »reinen Moralphilosophie«
Fragestellung, was ein solches objektives praktisches Vernunftgesetz sein kann. Im Folgenden soll eine Gegenüberstellung dieser beiden Argumentationswege der Grundlegungsschriften in Hinblick auf das sich in ihnen dokumentierende Verhältnis von Apriorität und Empirie vorgenommen werden.
1.1 Die Exposition des Begriffes einer »reinen Moralphilosophie« in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten In der Kritik der reinen Vernunft schreibt Kant, dass in einer »Metaphysik der Sitten« die »Gesetzmäßigkeit der Handlungen […] völlig a priori aus Prinzipien abgeleitet werden kann«, so dass »keine Anthropologie (empirische Bedingung) zum Grunde gelegt wird« (KrV A 841 f., B 869 f.). Dieser rationale Teil der Ethik ist – wie Kant in der Grundlegung konkretisiert – von seinem anthropologischen Komplementärstück »jederzeit sorgfältig abzusondern« und »von allem Empirischen« vollständig »gesäubert« (Grundlegung, KW IV, 12) 4 . In der Form einer »Metaphysik der Sitten« liefert er die theoretischen Grundlagen der praktischen Anthropologie: Insofern das methodische Vorgehen ein wesentliches Merkmal von Wissenschaftlichkeit überhaupt ausmacht 5 , erfordert es »die Natur der Wissenschaft«, ihrem empirischen Teil einen rein rationalen »voranzuschicken«, auf dem sie »beruht« (ebd., 12 f.; vgl. auch MAN, KW IX, 14). Zugleich betont Kant wiederholt, dass es auch »von der größten praktischen Wichtigkeit sei«, die »Begriffe und Gesetze« der »obersten praktischen Prinzipien« »aus reiner Vernunft zu schöpfen« (vgl. Grundlegung, KW IV, 40; Hervorheb. v. m.). Denn die menschlichen Sitten blieben »selber allerlei Verderbnis unterworfen […], so lange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer richtigen Beurteilung fehlt« (ebd., 14). Eine »völlig isolierte Metaphysik der Sitten« sei »nicht allein ein unentbehrliches Substrat aller theoretischen sicher bestimmten Erkenntnis der Pflichten, Kant warnt immer wieder vor dem ›Vermischen‹ von reinen und empirischen Prinzipien (vgl. z. B. Grundlegung, KW IV, 14, 37–39). 5 Nach Kant impliziert jedes wissenschaftliche, methodisch geregelte Vorgehen eine »systematische Einheit« der anhand desselben zu gewinnenden Erkenntnisse, welche gerade »dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft […] macht« (vgl. KrV A 832, B 860). 4
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sondern zugleich ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung ihrer Vorschriften« (ebd., 38 f.; Hervorheb. v. m.). Gleich zu Beginn der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) differenziert Kant zwischen zwei Arten von erfahrungsunabhängigen, im strengen Sinne apriorischen Erkenntnissen. Wie er äußerst knapp bemerkt, sind »von den Erkenntnissen a priori« a) »diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist«, die also schlechterdings frei von empirischen Begriffen sind (vgl. KrV B 3 f.). Von ihnen unterscheidet Kant b) apriorische Erkenntnisse, die Begriffe enthalten, die nur vermittels vorgängiger Erfahrung gebildet und gerechtfertigt werden können 6 . Diese Distinktion ist – ohne dass Kant einen solchen Transfer selbst explizit vorgenommen hätte – von großer systematischer Bedeutung für Kants praktische Philosophie: »Rein« ist eine Moralphilosophie demnach, wenn sie »bloß die notwendigen sittlichen Gesetze eines freien Willen überhaupt enthält« – eines Willens also, der in seinem Vollzug unabhängig ist von den empirischen Einschränkungen, die sich aus seiner etwaigen sinnlichen Affizierbarkeit ergeben (KrV A 54 f., B 79) 7 . Eine »MetaEr fährt fort: »So ist z. B. der Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein nicht rein, weil Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann« (KrV B 3). Demnach wäre das Kausalitätsprinzip als ein nichtreines synthetisches Urteil a priori und sein Subjektbegriff ›Veränderung‹ als ein nichtreiner Begriff a priori zu bezeichnen. Vgl. dazu Cramer 1985, Kap. 4; Ricken 2000, S. 251; Höffe 1990a, S. 115. 7 Die reine Moralphilosophie unterscheidet sich darin – wie Kant hinzufügt – von »der eigentlichen Tugendlehre, welche diese Gesetze unter den Hindernissen der Gefühle, Neigungen und Leidenschaften, denen die Menschen mehr oder weniger unterworfen sind, erwägt und […] empirische und psychologische Prinzipien bedarf« (KrV A 55, B 79). Unter »Tugend« versteht Kant den anzustrebenden Zustand der »menschliche[n] Moralität« (vgl. TL, KW IV, 513; Hervorheb. v. m.): »Tugend ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst konstituiert. – Sie […] gebietet und begleitet ihr Gebot durch einen sittlichen (nach Gesetzen der inneren Freiheit möglichen) Zwang; wozu aber, weil er unwiderstehlich sein soll, Stärke erforderlich ist, deren Grad wir nur durch die Große der Hindernisse, die der Mensch durch seine Neigungen sich selber schafft, schätzen können« (TL, KW IV, 537; vgl. auch ebd., 509). Wie Kant bereits 1765 schreibt, bezieht sich eine »Tugendlehre« auf die »Natur des Menschen« (vgl. Nachricht, KW I, 914 f.; Hervorheb. v. m.); dies gilt auch für die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre von 1798. In materialer Hinsicht setzt sie sich zusammen aus apriorischer Moralphilosophie, insofern sie das Wissen um die sitt6
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physik der Sitten«, die sich allein mit der »Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität« beschäftigt – nicht aber die »Anwendung desselben Prinzips auf das ganze System« enthält – und die »ein in seiner Absicht, ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung abzusonderndes Geschäfte ausmacht« (Grundlegung, KW IV, 16), hat nach Kant in diesem strengen Sinne apriorisch rein zu sein. Das extensional weitere Gebot der bloßen Apriorität hingegen determiniert eine Wissenschaft nicht unmittelbar inhaltlich über ihren Gegenstandsbereich, sondern formal über ihre Methode: Eine über das fundamentale Moralprinzip hinausgehende systematisch ausgearbeitete Moraltheorie, verstanden als ein »Inbegriff […] von praktischen Regeln«, »betrifft« »Gegenstände der Anschauung«, denn »es würde nicht Pflicht sein, auf eine gewisse Wirkung unsers Willens auszugehen, wenn diese nicht auch in der Erfahrung […] möglich wäre« (Gemeinspruch, KW VI, 127–129; vgl. auch KpV, KW IV, 186 f.). Sie wird mithin nicht selbst schon dadurch empirisch, dass sie gegebene empirische Begriffe reflektiert oder – durch die Zuschreibung bestimmter Prädikate und das Aufstellen von Grundsätzen, die sich allein aus den terminologischen Grundbestimmungen ergeben – analytisch mit ihnen verfährt 8 . Was es bedeutet, den rationalen Teil einer bestimmten erfahrungsbezogenen Wissenschaft – die darum noch keine Erfahrungswissenschaft ist –, d. h. eine »besondere« Metaphysik, zu erarbeiten, hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft angedeutet und in den kurz nach der Grundlegung veröffentlichten Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft für die Physik näher ausgeführt 9 . Während die »allgemeine« bzw. »der transzendentale Teil der Metaphysik der Natur« – deren Theoriestatus im Bereich der praktischen Philosophie gemäß dem Sprachgebrauch der Grundlegung eine völlig lichen Prinzipien beinhaltet, und praktischer Anthropologie, die sich um die systematische Zusammenfassung von »empirischen und psychologischen Prinzipien« (s. o.) der Entwicklung des Anlagenkomplexes zur Moralisierung des Menschen bemüht. Vgl. dazu Firla 1981, S. 216–219. 8 Eine derartige »vollständige Zergliederung« der bereits vorgegebenen, für eine bestimmte Wissenschaft konstitutiven Grundbegrifflichkeit ist – wie Kant betont – zu unterscheiden von der vorgängigen, auf Erfahrung gestützten Bildung und Rechtfertigung dieser Begriffe. Sie bedient »sich keiner besonderen Erfahrungen, sondern nur dessen, was sie im abgesonderten (obzwar an sich empirischen) Begriffe selbst antrifft« (vgl. MAN, KW V, 16). 9 Vgl. KrV A 847–49, B 875–77; MAN, KW V, 13–24. Vgl. dazu insbesondere Gregor 1963, S. 11–17 sowie Forschner 1983, S. 26 f. Vgl. auch Wood 1999b, S. 386, Anm. 4. A
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reine »Metaphysik der Sitten« entspräche – »ohne Beziehung auf irgend ein […] Erfahrungsobjekt« verfährt und nur »von den Gesetzen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen«, handelt, beschäftigt sich eine »besondere« Metaphysik der »körperlichen« Natur »mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, daß außer dem, was in diesem Begriffe liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur Erkenntnis derselben gebraucht wird« (vgl. MAN, KW V, 14). Demnach entlehnt eine »Erkenntnis a priori, mithin Metaphysik [!], von Gegenständen […], so fern sie unseren Sinnen, mithin a posteriori gegeben sind«, »aus der Erfahrung nichts weiter, als was nötig ist, uns ein Objekt, teils des äußeren, teils des inneren Sinnes zu geben«. Sie hat sich aber »aller empirischen Prinzipien gänzlich [zu] enthalten, die über den Begriff noch irgend eine Erfahrung hinzusetzen möchten, um etwas über diese Gegenstände daraus zu urteilen« (KrV A 847 f., B 875 f.; vgl. auch ebd., A 842, B 870). Wendet man die hier skizzierte Differenzierung der Metaphysik der Natur auf die Moralphilosophie an, so gelangt man zu einer Zweiteilung der praktischen Metaphysik, die sich in der Grundlegung bereits andeutet und in der Metaphysik der Sitten von 1797 vorausgesetzt wird: 1.) Ein transzendentaler Teil, der sich allein mit der »Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität« (Grundlegung, KW IV, 16) als einem Gesetz für Vernunftwesen überhaupt beschäftigt (ihm entspricht der transzendentale Teil der Naturphilosophie, der nur von Prinzipien handelt, die uns die Erfahrung von Naturobjekten im Allgemeinen ermöglichen), ist zu unterscheiden von 2.) einem Teil (dem eine Metaphysik der körperlichen Natur korrespondiert), der sich mit Gesetzen für das Verhalten spezifischer Vernunftwesen (wie dem Menschen) beschäftigt, die sich dann ergeben, wenn man das oberste Moralprinzip auf ein begrenztes Maß an (anthropo-) relationalem Empiriewissen anwendet 10 . Unabhängig von dieWie noch zu erörtern sein wird, setzt auch das Konzept einer praktischen (d. h. ethischen und juridischen) Metaphysik, die in Bezug auf menschliches Handeln etwas aussagt und fordert, eine gewisse nur empirisch zu gewinnende Kenntnis der Natur des Menschen voraus. Eine solche heuristische Parallelisierung von Metaphysik der (körperlichen) Natur und Metaphysik der (menschlichen) Sitten darf selbstverständlich nicht die grundsätzliche systematische Unterschiedlichkeit beider Disziplinen übersehen, die darin besteht, dass jene »den empirischen Begriff einer Materie […] zum Grunde« legt,
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ser innermetaphysischen Differenzierung und analog zur Naturlehre ist die Tatsache, ob der epistemische Status einer Morallehre insgesamt apriorisch ist oder nicht, abhängig davon, was a priori über den Typ ihrer Erfahrungsobjekte gewusst werden kann, d. h. mit welcher Art von Erkenntnisurteilen eine Morallehre die von ihr behaupteten Grundsätze rechtfertigt. Die Frage: »wie kann ich eine Erkenntnis a priori, mithin Metaphysik, von Gegenständen erwarten, so fern sie unseren Sinnen, mithin a posteriori gegeben sind?« (KrV A 847, B 875) lokalisiert das Wesensmerkmal einer Metaphysik in dem apriorischen Charakter ihrer Aussagen und nicht in der Reinheit ihrer Begriffe. Der eine Moralphilosophie kennzeichnende Theorietyp ist – wie Kant sagt – dann empirisch, wenn er seine Prinzipien »auf Gründe der Erfahrung fußt« (Grundlegung, KW IV, 11) 11 . Wie wir noch ausführlich erörtern werden, ist es für die Beurteilung des weitaus größten Teils seiner rationalen Moralphilosophie maßgeblich, dass für den Ausweis der objektiven Gültigkeit ihrer Prinzipien – im Sinne der methodologisch gebotenen Apriorität – keine empirischen Begründungsmomente ausschlaggebend sind, ihr Geltungsmodus mithin unabhängig von Erfahrung legitimiert wird: »Jedermann muß eingestehen, […] daß […] der Grund der Verbindlichkeit [moralischer Gesetze] nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft« (Grundlegung, KW IV, 13). um »den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese [materiellen] Gegenstände a priori fähig ist«, auszuloten (vgl. MAN, KW V, 14), wohingegen diese mit der Begründung eines rein apriorischen praktischen Prinzips beginnt, das sie auf die empirische Natur eines sinnlich affizierbaren Vernunftwesens (wie den Menschen) anwendet, um auf diese Weise substantielle moralische Pflichten abzuleiten. Kant selbst verfolgt eine »Analogie« zwischen (mathematischer) Naturwissenschaft und praktischer Philosophie lediglich an einer Stelle in seiner Rechtslehre im Zusammenhang mit der dortigen Rechtfertigung der rechtlichen Zwangsbefugnis (vgl. RL, KW IV, 340 f.; zu letzterer vgl. unten Kap. 3.2.3 u. 3.2.4). 11 Diese für die systematische Einordnung der gesamten Pflichtethik Kants zentrale Unterscheidung zwischen der ›Reinheit‹ und ›Apriorität‹ ethischer Prinzipien übersieht – neben vielen anderen Kant-Interpreten – Bittner 2000, S. 16 f. Eine in dem beschriebenen Sinne apriorische Morallehre darf durchaus empirische Begriffe enthalten und verwenden, die uns durch die vorgängige alltägliche Lebenspraxis und deren Selbstverständnis gegeben sind. Eine rationale Moralphilosophie im Sinne Kants darf allerdings nirgends empirische Prinzipien »zum Grunde ihrer Vorschriften legen« (vgl. KrV A 15, B 29). Das im Hinblick auf ihre Apriorität entscheidende Kriterium besteht darin, wie eine Theorie ihre Kernaussagen legitimiert (s. u. Kap. 2). A
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Die diese Grundbehauptung stützende Prämisse wird von Kant im Zweiten Abschnitt der Grundlegung, in dem der »Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten« (vgl. ebd., 33) vollzogen werden soll, ausdrücklich formuliert. »Setzet man« – so führt Kant hier aus – »hinzu, daß, wenn man dem Begriffe von Sittlichkeit nicht gar alle Wahrheit und Beziehung auf irgend ein mögliches Objekt bestreiten will, man nicht in Abrede ziehen könne, daß sein Gesetz von so ausgebreiteter Bedeutung sei, daß es nicht bloß für Menschen, sondern alle vernünftige Wesen überhaupt, nicht bloß unter zufälligen Bedingungen und mit Ausnahmen, sondern schlechterdings notwendig gelten müsse: so ist klar, daß keine Erfahrung, auch nur auf die Möglichkeit solcher apodiktischen Gesetze zu schließen, Anlaß geben könne. Denn mit welchem Rechte können wir das, was vielleicht nur unter den zufälligen Bedingungen der Menschheit gültig ist, als allgemeine Vorschrift für jede vernünftige Natur, in unbeschränkte Achtung bringen, und wie sollen Gesetze der Bestimmung unseres Willens für Gesetze der Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt, und, nur als solche, auch für den unsrigen gehalten werden, wenn sie bloß empirisch wären, und nicht völlig a priori aus reiner, aber praktischer Vernunft ihren Ursprung nähmen?« (Grundlegung, KW IV, 35 f.)
Zunächst ist festzuhalten, dass nach Kant die Prinzipien einer rationalen Ethik ausnahmslos (»schlechterdings notwendig«) »für alle vernünftige[n] Wesen ohne Unterschied gelten« müssen (ebd., 76) und daher »aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten« sind (ebd., 40), wenn schlechthin sinnvoll von moralischen Prinzipien die Rede sein kann. Während die »spekulative [d. h. hier: theoretische; O. L.] Philosophie« auf das durch die Anschauung gegebene Erfahrungsmaterial angewiesen ist und es »gar bisweilen notwendig findet, die Prinzipien von der besondern Natur der menschlichen Vernunft abhängig zu machen«, ist die Moralphilosophie »zuerst unabhängig von dieser [anthropologischen Kenntnis; O. L.] als reine Philosophie, d. i. als Metaphysik, vollständig […] vorzutragen« und bedarf dann allerdings, nach Kant aber eben auch nur »zu ihrer Anwendung auf Menschen [,] der Anthropologie« (ebd., 40) 12 . Kants pri12
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Um es mit den Worten W. Röds zu sagen: »Während es also in der KrV darum geht, die Anmaßungen der reinen Vernunft zurückzuweisen, sollen in der KpV [resp. reinen Moralphilosophie; O. L.] die Anmaßungen der empirisch bedingten Vernunft zunichte gemacht werden, denn so wie es keine Wirklichkeitserkenntnis aus reiner Vernunft geben kann, so kann es
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märes Anliegen in der Grundlegung ist es daher, »a priori zu beweisen, daß […] es ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfedern für sich gebietet, und daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei« (ebd., 56) 13 . Nun ist es in der Tat einleuchtend, dass moralische Gesetze speziell für unseren, d. h. den menschlichen Willen, welche nur unter Berücksichtigung der empirischen Kenntnis der »besondern Eigenschaft der menschlichen Natur« abgeleitet werden können (ebd.), nicht als Gesetze der Bestimmung des Willens eines jeden vernünftigen Wesens Gültigkeit beanspruchen können. Denn die Naturbestimmtheit von neben der Menschheit möglichen weiteren Arten vernünftiger Lebewesen ist uns – wenn es sie gibt – völlig unbekannt. Damit lässt sich im Umkehrschluss jedoch nicht ohne Weiteres der philosophisch anspruchsvolle Gedanke rechtfertigen, dass wir praktische Gesetze nur insofern als Gesetze der Bestimmung des menschlichen Willens anerkennen können, als sie Gesetze der Bestimmung eines jeden denkbaren vernünftigen Wesens sind – man dem Begriff der Sittlichkeit andernfalls, wie es hieß, alle Wahrheit und Beziehung auf irgendein Objekt absprechen müsse (s. o.). Was also ist überhaupt Kants Argument bzw. was sind die Prämissen für seine weitreichende These vom Adressatenkreis moralischer Gesetze? Und was ist der Zusammenhang zwischen dieser Allgemeinheit moralischer Gesetze und ihrer Notwendigkeit? Kant grenzt in der Vorrede zur Grundlegung sein Projekt einer erfahrungsfreien Fundamentalethik von der »allgemeinen praktischen Weltweisheit« im Sinne Christian Wolffs anhand der Exposition eines reinen Willensbegriffes ab 14. Während die allgemeine praktische Weltweisheit im Sinne Wolffs »die Handlungen und Bedingungen des nach Kant keine sittlichen Normen geben, die nicht auf reiner Vernunft beruhten« (Röd 1981, S. 233). 13 Kant unterscheidet im obigen Zitat zwischen objektiven »Bewegungsgründen« des Wollens und subjektiven »Triebfedern« des Begehrens: Wenn eine Handlung nicht durch eine subjektive Triebfeder motiviert ist, dann durch einen objektiven Bewegungsgrund, der für jedes vernünftige Wesen gilt (vgl. Grundlegung, KW IV, 59) und allein übrig bleibt, wenn von allen Neigungen und Gegenständen des Willens abstrahiert wird (ebd., 27). Weitaus häufiger verwendet Kant in den Grundlegungsschriften aber die Ausdrücke »Triebfeder«, »Bewegungsgrund« und »Bestimmungsgrund« in einer synonymen ›weiten‹ Bedeutung zur Bezeichnung beider Motivationsarten des Willens (vgl. für die Grundlegung ebd., 24, 27, 30, 74, 85, 97 Anm., 99; für die Kritik der praktischen Vernunft vgl. KW IV, 191 f., 293). 14 Vgl. dazu die kritischen Einschätzungen bei Bittner 2000, S. 20 f. A
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menschlichen Wollens überhaupt, welche größtenteils aus der Psychologie geschöpft werden«, untersuche, sei es die Aufgabe einer Metaphysik der Sitten, nur »die Idee und die Prinzipien eines möglichen reinen Willens [zu] untersuchen« (Grundlegung, KW IV, 15). Dieser reine Wille wird sodann von Kant mit einem »nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen« identifiziert, der »schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnet und nicht so wohl gelehret als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf« (vgl. ebd., 21 f.) 15 . Dass es nun eine »reine Moralphilosophie […] geben müsse«, welche die Idee und die Prinzipien dieses schlechterdings guten Willens untersucht, leuchte aber, so Kant, »von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze ein« (ebd., 13) 16 . Und wenig später erklärt er, um den Begriff des guten Willens zu »entwickeln«, müssten wir »den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält« (ebd., 22). Wie sind Kants Thesen an dieser argumentativen Schlüsselstelle seines Ethikprogramms, die den »Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen« konstruieren soll (vgl.
Der damit von Kant erhobene Anspruch, der Begriff eines pflichtmotivierten »reinen Willens« sei impliziter Bestandteil unseres natürlichen moralischen Bewusstseins, ist kritisierbar. Vgl. unten Kap. 2.1.1.1 u. 2.2. 16 Sein in direktem Anschluss an diese Äußerung folgender exemplifizierender Hinweis, wie dies der Fall sein soll, ist erklärungsbedürftig; noch dazu wird er von Kant als Gemeinplatz eingeführt. Er schreibt: »Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten; und so alle übrige eigentliche Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft […]« (Grundlegung, KW IV, 13). Es bleibt an dieser Stelle insbesondere unklar, ob jedes einzelne Gebot für alle Vernunftwesen in demselben Sinne gelten soll oder nur das zugrunde liegende Gesetz. Wie wir sehen werden, ist es denkbar, dass dasselbe praktische Gebot, d. h. dieselbe moralische Pflicht, für unterschiedliche Vernunftwesen unterschiedliche Konsequenzen besitzt. Insofern mögen moralische Pflichten wie das Lügenverbot für vernünftige Wesen überhaupt gelten, aber sie betreffen nur Wesen, denen die in Frage stehenden Handlungsmöglichkeiten überhaupt zur Verfügung stehen, die also etwa die Fähigkeit haben zu lügen. Vgl. dazu die Erörterungen in Kap. 2.1.1.1. 15
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ebd., 18), zu verstehen? Wie kann der Begriff der Pflicht für die Notwendigkeit einer von aller Empirie und daher auch von aller Anthropologie freien und in diesem strengen Sinne reinen Moralphilosophie einstehen? Und was soll es bedeuten, dass der Pflichtbegriff den Begriff eines guten Willens »enthält«, obzwar unter »gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen«? Problematisch an diesen Äußerungen ist zunächst, dass die Analyse des Pflichtbegriffs nicht in einen reinen Teil der Moralphilosophie vom Anspruchsniveau der Grundlegung fallen und für diesen daher auch keine theoretische Begründungsfunktion übernehmen kann. Denn es ist unmöglich, dass bei der Erschließung der logischen Bedeutung des Pflichtbegriffs – wie für die Grundlegungsdimension einer Ethik gefordert – »von allem, was nur empirisch sein mag« (Grundlegung, KW IV, 13), abgesehen wird, und zwar derart, dass dieser Begriff »völlig a priori, frei von allem Empirischen, schlechterdings in reinen Vernunftbegriffen und nirgend anders, auch nicht dem mindesten Teile nach, anzutreffen« wäre (ebd., S. 38). Dass das moralische Gesetz als Pflicht gilt, ist keine Einsicht, die sich reiner praktischer Vernunft allein verdankt. Vielmehr setzt das Verständnis des Pflichtbegriffs ein Wissen voraus, das nur aufgrund von Erfahrung erwerbbar ist: nämlich die Bezugnahme auf den empirischen Begriff eines »vernünftige[n] Naturwesen[s]« (vgl. TL, KW IV, 550), dessen Wille aufgrund seiner natürlichen Bestimmtheit auch unvernünftigen Antrieben (»sinnlichen Triebfedern«) folgen kann. Diesen Sachverhalt hat Kant in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft in bemerkenswerter Deutlichkeit selbst festgestellt und in deren – zwei Jahre nach der Grundlegung veröffentlichten – zweiten Auflage (1787) nicht nur wiederholt, sondern entscheidend präzisiert 17 . Hier ist es nämlich ausgerechnet der Begriff der Pflicht, aufgrund dessen er die Ethik aus dem Bereich der Transzendentalphilosophie ausschließt: »Daher, obzwar die obersten Grundsätze der Moralität, und die Grundbegriffe derselben, Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendental-Philosophie, weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen etc., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, zwar selbst nicht zum Grunde ihrer Vorschriften legen, aber doch im Begriffe 17 Vgl. dazu Cramer 1996 (hier insbes. S. 287 f.), dem ich in der nachstehenden Argumentation in weiten Teilen folge. Vgl. auch Siep 2000, S. 32.
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der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen« (KrV A 15, B 28 f.; Hervorheb. i. O.) 18 .
Der Begriff der Pflicht – so muss man Kant hier verstehen – lässt sich nur im Rekurs auf die Vorstellung eines inneren Hindernisses, das überwunden, bzw. eines Anreizes, der nicht zum Beweggrund einer Willensbestimmung gemacht werden soll, explizieren. Zu seinem intensionalen Gehalt gehören die mit Lust und Unlust verbundenen Begierden und Neigungen – mithin diejenigen empirischen Begriffe, vor deren Hintergrund allererst die Idee der Nötigung eines Willens verstanden werden kann, die im Pflichtbegriff analytisch enthalten ist. Das Wollen einer Handlung 19 steht mir dann als Pflicht vor Augen, Auf die kontrovers diskutierte Frage, ob die Moralphilosophie Kants als Teil seiner Transzendentalphilosophie anzusehen ist, werde ich nicht detailliert eingehen, da ein solches, den Horizont der vorliegenden Untersuchung übersteigendes, Unternehmen nichts zur Klärung der hier relevanten Fragestellungen einbringen würde. Exemplarisch sei an dieser Stelle nur auf die unterschiedlichen Positionen O. Höffes und W. Röds verwiesen: Während Höffe mit dem Verweis auf die zitierte sowie weitere Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft belegen möchte, dass Kant selbst zwar die Moralphilosophie aus dem transzendentalphilosophischen Rahmen auszuschließen versucht – dies jedoch misslingt, wie Höffe gegen Kant zu zeigen beabsichtigt (vgl. Höffe 1981, S. 197 ff.; Höffe 1990a, S. 112 f.), sucht Röd anhand einer Interpretation der transzendentalphilosophischen Methode der Kritik der reinen Vernunft zu verdeutlichen, dass Kant »die transzendentale Betrachtungsweise zunächst im Bereich der Erfahrungstheorie entwickelt und später versucht, sie auch im Bereich der Ethik zur Geltung zu bringen, die somit der Intention nach ebenfalls transzendental ist« (vgl. Röd 1981, S. 231). Röd kommt schließlich jedoch zu dem Urteil, dass Kant diese Ausweitung »nicht geglückt ist« (ebd., S. 241). Mit Bezug auf die oben zitierte Textstelle aus der Kritik der reinen Vernunft möchte ich nur darauf hinweisen, dass Kants Argument für den Ausschluss der Ethik aus der Transzendentalphilosophie auf der Annahme beruht, dass die im Begriff der Pflicht enthaltenen empirischen Bedeutungselemente deshalb in das »System der reinen Sittlichkeit« Eingang finden müssen, weil der Pflichtbegriff selber in dieses System »hineingezogen« werden muss. Dass aber der Begriff der Pflicht in diesem Sinne tatsächlich ein unverzichtbarer Grundbegriff des im strengen Sinne der Grundlegung reinen Teils der Moralphilosophie ist, lässt sich mit guten Gründen bezweifeln, wie noch zu zeigen sein wird. 19 ›Wollen‹ und ›Handeln‹ sind nach Kant sehr eng miteinander verknüpft, da der ›Wille‹ im Gegensatz zum ›Wunsch‹ durch die »Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind«, charakterisiert ist (vgl. Grundlegung, KW IV, 19). Etwas zu wollen, bedeutet für Kant, sich überlegt für eine Handlung zu entscheiden: »Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner 18
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wenn ich sie tun soll, obgleich ich nicht notwendig die Neigung zu ihrer Ausführung habe. An dieser Stelle kann die von Kant in der Kritik der Urteilskraft vorgenommene Einteilung der »Seelenvermögen« in das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und in das Begehrungsvermögen nicht im Detail erörtert werden (vgl. KdU, KW V, 85–87, 108– 110); entscheidend für die hier thematische Problemstellung ist, dass Begierden und Neigungen – also das, was wir in unserem heutigen Sprachgebrauch auch als subjektive Interessen oder Wünsche (Präferenzen) bezeichnen 20 – laut Kant auf dem Gefühl der Lust und Unlust »beruhen« (vgl. Grundlegung, KW IV, 58), mithin als Teil unserer sinnlichen Veranlagung (vgl. ebd., 95) 21 nur empirisch verstanden werden können. Dies hat Konsequenzen für die innere Struktur des Pflichtbegriffs: Dass eine Handlung, die ich tun soll, meinen Begierden und Neigungen entgegenstehen kann, weiß ich nur deshalb, weil ich von meinen Begierden und Neigungen eine zumindest ungefähre Kenntnis besitze. Ich kenne sie aber nur insofern, als ich sie aufgrund der sinnlichen Erfahrung dessen, was mir in der Vergangenheit Lust gewährte, habitualisiert und ausgebildet habe. Mit K. Cramer ist festzuhalten: »Den Auftritt einer Mannigfaltigkeit gegebener und qualitativ voneinander unterschiedener Empfindungen und von Gefühlszuständen, die auf sie bezogen werden, konnte ich nicht a priori antizipieren, sondern an mir nur dadurch kennen lernen, daß ich mich de facto in ihnen befand. Hier ist von einer Erkenntnis a priori nicht zu reden.« 22
Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objekts, als meiner Wirkung, wird schon meine Kausalität, als handelnder Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ [der Geschicklichkeit; O. L.] zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks heraus« (Grundlegung, KW IV, 46). Vgl. dazu unten S. 182–188. 20 So Schönecker/Wood 2004, S. 100. 21 Kant spricht in diesem Zusammenhang auch von »Bedürfnis und Neigung« (vgl. Grundlegung, KW IV, 33) und definiert: »Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heißt Neigung, und diese beweiset also jederzeit ein Bedürfnis« (ebd., 42, Anm.). ›Neigung‹ wird darüber hinaus von Kant in systematischer Hinsicht als habitualisierte sinnliche Begierde verstanden (vgl. RL, KW IV, 316). 22 Cramer 1996, S. 289. A
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Der Begriff der Pflicht lässt sich also zusammenfassend dadurch charakterisieren, dass ein sinnliches Vernunftwesen nur verstehen kann, dass etwas für es Pflicht ist, wenn es die Voraussetzung erfüllt, dass sein Wille dem verpflichtenden praktischen Gesetz aus Gründen der Bestimmbarkeit seines Willens durch empirische Beweggründe nicht schon per se entspricht. Dies aber weiß es nur aus (innerer) sinnlicher Erfahrung23 . Nun muss man zunächst feststellen, dass Kant auf diese empirischen Zusammenhänge in seinen programmatischen Äußerungen zur Notwendigkeit einer streng erfahrungsfreien »Metaphysik der Sitten« nicht aufmerksam macht. Daher reflektiert er die Tatsache, dass der Begriff der Pflicht nicht ohne Rekurs auf Informationen gebildet werden kann, die nicht den Status empiriefreier Einsichten haben, auch nicht hinreichend im Hinblick auf daraus resultierende Konsistenzprobleme für die von ihm propagierte Methodik einer rein rational argumentierenden Moralphilosophie. Gleichwohl findet der im Pflichtbegriff analytisch enthaltene, aus der Vermittlung des schlechthin guten Willens mit den sinnlichen Antrieben eines unvollkommenen Vernunftwesens sich ergebende Zusammenhang von Apriori und Aposteriori implizit Eingang in zahlreiche Definitionen 24 und argumentative Schlussfolgerungen 25 Kants. Gleichwohl betont Kant, dass der Pflichtbegriff kein bloßer »Erfahrungsbegriff« sei (vgl. Grundlegung, KW IV, 33): »Man kann auch denen, die alle Sittlichkeit, als bloßes Hirngespinst einer durch Eigendünkel sich selbst übersteigenden menschlichen Einbildung, verlachen, keinen gewünschteren Dienst tun, als ihnen einzuräumen, daß die Begriffe der Pflicht (so wie man sich auch aus Gemächlichkeit gerne überredet, daß es auch mit allen übrigen Begriffen bewandt sei) lediglich aus der Erfahrung gezogen werden mußten; denn da bereitet man jenen einen sichern Triumph« (ebd., 34 f., Hervorheb. v. m.). Dieser Triumph bleibt den Skeptikern nach Kant allerdings verwehrt, »weil […] Pflicht als Pflicht überhaupt, vor aller Erfahrung, in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft liegt« (Grundlegung, KW IV, 35). Diese Äußerungen sind nur verständlich, insofern der apriorische Status des Pflichtbegriffs damit vereinbar ist, dass dieser empirische Bedeutungsmomente impliziert. Daher müsste eine Pflichtethik von dem reinen Teil der Ethik als ein nicht-reiner, jedoch a priori verfahrender Teil unterschieden werden. Zur konzeptionellen Möglichkeit nicht-reiner Begriffe und Erkenntnisse a priori vgl. Cramer 1985; Cramer 1996, S. 290 f., 321 f. Zur Apriorität der Begründung konkreter Pflichten vgl. unten Kap. 2.1.1.1. 24 So definiert Kant in der Grundlegung Pflicht als die »objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit«. Unter Verbindlichkeit versteht er im moralischen Kon23
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Die Exposition des Begriffes einer »reinen Moralphilosophie«
Dem Begriff der Pflicht kann in einem rein rationalen Teil der Ethik, der ausschließlich erfahrungsfreie Grundbegriffe und Grundsätze enthält (vgl. Grundlegung, KW IV, 11 f.), für die Exposition eines schlechterdings guten Willens keine theoretische Begründungsfunktion zukommen 26 . Eine praktische Erkenntnis, an welcher der Pflichtbegriff begründend teilhat, kann nicht in eine im strengen Sinne des Ausdruckes ›reine‹ Moralphilosophie fallen 27 . Das von Kant in der Grundlegung gewählte Vorgehen, den Begriff des guten Willens über eine Analyse des Pflichtbegriffes – derivativ – zu entwickeln, kann daher unter dem Gesichtspunkt der systematischen Begründung einer »Metaphysik der Sitten«, die »keine empirische Bedingung« zugrunde legen darf (KrV A 841 f., B 869 f.), nicht überzeugen. Eine derartige Begründung müsste vielmehr den Nachweis liefern können, dass der (über den Begriff eines zugrunde liegenden praktischen Gesetzes) zu entwickelnde Begriff eines uneingeschränkt guten Willens unabhängig von seinem Verhältnis zu empirisch vermittelten Begriffen wie Vertext die »Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung)« (Grundlegung, KW IV, 74); und entsprechend wird Pflicht selbst sogar mit »praktische[r] Nötigung« identifiziert (ebd., 67). 25 Vgl. beispielsweise Grundlegung, KW IV, 41: »Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt. Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich, ist dieser noch subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit den objektiven übereinstimmen; mit einem Worte, ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist): so sind die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens, objektiven Gesetzen gemäß, ist Nötigung; d. i. das Verhältnis der objektiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist.« 26 Den von G. Geismann behaupteten »rein intelligiblen Sachverhalt der Pflicht« gibt es nicht – und zwar eben deshalb, weil im Pflichtbegriff der »rein empirische Sachverhalt der Neigung« analytisch enthalten ist (vgl. Geismann 2004, S. 241). 27 Diese Einsicht ist keineswegs neu. Bereits H. Cohen urteilt in seiner erstmals 1897 veröffentlichten Arbeit Kants Begründung der Ethik mit Bezug auf die oben zitierte Stelle in der Kritik der reinen Vernunft (KrV A 15, B 28 f.): »Vom System der reinen Sittlichkeit wird demnach der Begriff der Pflicht ausgeschlossen; er gehört der angewandten Sittenlehre an« (Cohen 1910, S. 322; vgl. auch ebd., S. 19, 149). A
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bindlichkeit, Nötigung und Pflicht exponiert werden kann. Erst auf der Grundlage dieser autonomen Exposition der internen Bestimmtheit eines rein vernünftigen Willens könnte dann methodologisch im Einklang mit der für eine »Metaphysik der Sitten« geforderten Verfahrensweise aufgewiesen werden, was es in einem ursprünglichen Sinne bedeutet, dass der Begriff der Pflicht den des reinen oder in aller Absicht guten Willens enthält. Allerdings behauptet Kant an keiner Stelle der Grundlegung, dass der Pflichtbegriff mit dem Begriff des guten Willens äquivalent sei. Zwar »enthält« der Begriff der Pflicht den des guten Willens, jedoch nur insofern, als dieser »unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen« steht (Grundlegung, KW IV, 22). Es gilt umgekehrt aber nicht zugleich auch, dass der Begriff des uneingeschränkt guten Willens den der Pflicht analytisch voraussetze. Die entscheidende Textstelle sei nochmals – nunmehr in voller Länge – zitiert: »Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens, so wie er schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnet und nicht so wohl gelehret als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung des ganzen Werts unserer Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übrigen ausmacht, zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält, die aber doch, weit gefehlt, daß sie ihn verstecken und unkenntlich machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und desto heller hervorscheinen lassen« (Grundlegung, KW IV, 22).
Mit den ›subjektiven Hindernissen‹ gemeint sind zweifellos die Wünsche, Begierden, Interessen und Neigungen – oder wie immer man die einer heteronomen Willensbestimmung zugrunde liegenden sinnlichen Triebfedern nennen mag –, die den moralischen Anforderungen zwar nicht notwendigerweise entgegenstehen müssen, dies aber doch können und oft genug auch tun 28 . Dieselben Hindernisse sind es, deren Ein Konflikt zwischen Pflicht und Neigung ist zwar niemals ausgeschlossen, jedoch keineswegs unausbleiblich; vgl. dazu unten S. 62 f., Anm. 71. Zur Bezeichnung der durch die sinnliche Natur vernünftiger Wesen bedingten Neigungen und Bedürfnisse als Hindernisse der Tugend vgl. auch Kants prägnante Formulierung in der Einleitung zur Tugendlehre der Metaphysik der Sitten: »Die Antriebe der Natur enthalten also Hindernisse der Pflichtvollziehung im Gemüt des Menschen und (zum Teil mächtig) widerstrebende Kräfte, die also zu bekämpfen und durch die Vernunft, nicht erst künftig, sondern gleich jetzt (zu-
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Überwindung – wie Kant sagt – den guten Willen »durch Abstechung« hebt und »desto heller hervorscheinen« lässt; sie veranlassen Kant aber auch zu der Aussage, dass der Begriff der Pflicht den des guten Willens nur »mit Einschränkungen« enthalte 29. Dabei macht er durch die Konjunktion »obzwar« nochmals deutlich, dass er auch einen guten Willens für möglich hält, der nicht »subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern)« unterworfen, sondern »an sich völlig der Vernunft gemäß« ist (Grundlegung, KW IV, 41) – dass also Instanzen eines guten Willens denkbar sind, auf die der Begriff der Pflicht nicht anwendbar ist 30 . Man wird mithin nicht sagen können, dass die mit ihren Reinheitsforderungen im Konflikt stehende Verfahrensweise der Grundlegung als Indiz dafür gewertet werden muss, dass Kant sich grundsätzlich »über den epistemischen Status seiner Ethik und über die theoretische Dimension ihrer Grundlegung […] nicht […] ins Klare zu setzen vermochte« 31 . Die von ihm in der Grundlegung gewählte Methode ist vielmehr anhand kontextueller Rahmenvorgaben plausibel zu machen: »Das Verfahren, den Begriff des guten Willens über eine Analyse des einmal im Schwange befindlichen Begriffs der Pflicht zu entwickeln, mag sich für den Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen als besonders plausibel anbieten. Denn dieser muss an phänomenale gleich mit dem Gedanken) zu besiegen er sich vermögend urteilen muß: nämlich das zu können, was das Gesetz unbedingt befiehlt, daß er tun soll« (TL, KW IV, 509). 29 Vgl. dazu auch Grundlegung, KW IV, 67, wo Kant den Begriff »Einschränkung« ganz in diesem Sinne verwendet, wenn er von einem »völlig unabhängige[n] Wesen, ohne Bedürfnis und Einschränkung seines dem Willen adäquaten Vermögens« spricht. An anderer Stelle schreibt Kant ausdrücklich, dass das moralische »Sollen […] eigentlich ein Wollen [wäre], wenn die Vernunft bei ihm [dem Menschen] ohne Hindernisse praktisch wäre« (ebd., 84). 30 Dies kommt in Kants Unterscheidung zwischen dem Begriff eines unvollkommenen und dem eines vollkommenen vernünftigen Wesens mit einem ›heiligen Willen‹ zum Ausdruck; vgl. dazu Kap. 1.4. Vgl. auch Paton 1962, S. 39: »[E]in völlig guter und vollkommener Wille würde niemals aus Pflicht handeln, denn gerade in der Idee der Pflicht liegt ja der Gedanke an Wünsche und Neigungen, die überwunden werden müssen. Ein vollkommen guter oder – wie Kant sagt – ›heiliger Wille‹ würde ganz aus einem Guß sein: er würde sich in guten Handlungen manifestieren, ohne natürliche Neigungen zurückdämmen zu müssen, und so würde er überhaupt nicht unter einem Pflichtbegriff handeln.« 31 So fragt rhetorisch Cramer 1996, S. 291, um diese Vermutung anschließend zu widerlegen. A
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Bestände des sittlichen Alltagsbewusstseins anschließen, um sich diesem vernehmlich machen zu können. […] Eine a priori verfahrende Moralphilosophie, die sich ihrer eigenen Autonomie gegenüber heuristischen Vorbereitungen ihres Standpunktes vergewissert hat, kann und muss […] anders verfahren.« 32
Dass Kant das in der Grundlegung eingeschlagene Analyseverfahren nicht als das einzig mögliche für die Exposition eines guten Willens eingeschätzt hat, zeigt ein Blick auf die Eingangsparagraphen der Kritik der praktischen Vernunft, die eine systematisch revidierte und im Vergleich zur Grundlegung beträchtlich verkürzte Methode der Suche nach dem obersten ethischen Prinzip dokumentieren 33 .
1.2 Die Herleitung des Sittengesetzes in der Kritik der praktischen Vernunft Auf der Suche nach dem obersten sittlichen Prinzip schlägt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft einen von der Grundlegung prinzipiell unterschiedenen Begründungsweg ein und entgeht so den dort aufgezeigten heuristischen Methodenproblemen, die sich – wie deutlich geworden sein sollte – dadurch ergeben, dass der empirisch bedingte Pflichtbegriff in der Grundlegung zum Ausgangspunkt der Exposition eines schlechterdings guten Willens gemacht wird. Wie er in der Einleitung zur Kritik der praktischen Vernunft bemerkt, lautet die dem nachfolgenden Argumentationsverfahren zugrunde liegende und von Anfang an erkenntnisleitende Fragestellung, »ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund derselben sein könne« (KpV, KW IV, 120; Hervorheb. v. m.) 34 . Ebd., S. 293. Schon H. Cohen hat den Vorzug der Kritik der praktischen Vernunft darin gesehen, dass jene nicht den Begriff der Pflicht zum Ausgangspunkt nimmt, sondern das Sittengesetz als solches analytisch entfaltet und dadurch die Vermischung einer rein rational verfahrenden Ethik mit psychologischen Erklärungen vermeidet (vgl. Cohen 1910, S. 220). Interessant ist auch sein Hinweis, dass die Kritik der praktischen Vernunft die psychologische Terminologie der Grundlegung generell zu vermeiden suche (vgl. ebd., S. 217). 34 Ein angestrebtes Handlungsziel bildet den »Bestimmungsgrund« des Willens, wenn dieser von der Absicht geleitet ist, das Handlungsziel zu verwirklichen (vgl. KpV, KW IV, 127 f.). 32 33
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In § 1 werden »praktische Gesetze« von (praktischen) »Maximen« unterschieden und unter den Oberbegriff »praktische[r] Grundsätze« subsumiert (ebd., 125) 35 . Bei letztgenannten handelt es sich um »Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv, oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird« (ebd.); die objektive Gültigkeit eines praktischen Gesetzes hingegen ergibt sich daraus, dass das, was Kant die »Bedingung« für die Bestimmung des Willens nennt, »für den Willen jedes vernünftigen Wesens [als] gültig erkannt wird« (vgl. ebd.) 36 . Da nur vernünftige Wesen einen Willen im Kantischen Sinne besitzen 37 , wäre ein praktisches Gesetz eine universell geltende Regel, unter der jeder beliebige Fall von Wille »unvermeidlich stehe« (ebd., 126). Negativ ist ein praktisches Gesetze daher zu bestimmen als ein Grundsatz, der unabhängig von jeglicher von einem Willen gegebenen empirischen Beschreibung gilt. »[A]ls Regel für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens« (KpV, KW IV, 125) kann er seine Gültigkeit nicht auf den Willen dieser oder jener Art vernünftiger Wesen – z. B. den Menschen – beschränken. Ein von allen empirischen Bedingungen absehender Grundsatz wäre nur durch die Möglichkeit bedingt, dass reine Vernunft überhaupt praktisch sein kann und als solche den Willen zu bestimmen vermag. Insofern praktische Vernunft sich bei der Ausübung
35 Im Folgenden werden »Maximen« durchweg im Sinne »praktischer Maximen« verstanden. Demgegenüber kennt Kant auch »Maximen der spekulativen Vernunft, die lediglich auf dem spekulativen Interesse derselben beruhen« (vgl. KrV A 666, B 694; vgl. auch ebd., A 471, B 499 Anm.; A 671, B 699 und A 680, B 708) sowie »Maximen der Urteilskraft, die der Nachforschung der Natur a priori zum Grunde gelegt werden« (vgl. KdU, KW V, 91, vgl. auch ebd., 93, 280, 335, 339, 350). 36 Vgl. dazu und zum Folgenden Scholz 1972 (hier: S. 165 f.), die den Begriff der »Bedingung« auf die Voraussetzungen bezieht, die erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Regel unseren Willen faktisch beeinflussen kann. Gegenüber dem Standpunkt L. Wh. Becks (vgl. Beck 1974, S. 84), der unter dem Ausdruck ›Bedingung‹ »dasselbe wie ›Bestimmung‹« versteht – ihn mithin als Synonym für den Begriff der ›Bestimmung des Willens‹ auffasst –, ist die Interpretation G. Scholz’ dem Textbefund angemessener. In diesem Sinne stellt Kant auch kurz darauf mit Bezug auf praktische Gesetze fest, dass diese unabhängig von solchen »zufällige[n], subjektive[n] Bedingungen [gelten], die ein vernünftig Wesen von dem anderen unterscheiden« (KpV, KW IV, 127). 37 Vgl. z. B. Grundlegung, KW IV, 59: »Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein.«
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ihres Vermögens ausschließlich auf sich selbst bezieht, aktualisiert sie sich als reine Vernunft. Dementsprechend wird zu »ihrer Gesetzgebung […] erfordert, daß sie bloß sich selbst vorauszusetzen bedürfe, weil die Regel nur alsdenn objektiv und allgemein gültig ist, wenn sie ohne zufällige, subjektive Bedingungen gilt, die ein vernünftig Wesen von dem anderen unterscheiden« (ebd., 127).
Im Unterschied zu einem praktischen Gesetz ist eine »bloße Maxime[.]« (ebd., 125) ursprünglich ein subjektiv gültiger praktischer Grundsatz, nach dem ein Subjekt in einer bestimmten Situation tatsächlich handelt oder handeln will (vgl. Grundlegung, KW IV, 51 Anm.) 38 . Eine Maxime gilt zunächst nur für denjenigen, der sie sich macht 39 , weshalb Kant sie in seinen Beispielen auch meist in egologischer Perspektive formuliert. Obwohl eine Maxime per se keine universelle Geltung beansprucht, enthält auch sie für das Subjekt, das sie adaptiert, eine allgemeine Bestimmung des Willens (das ergibt sich schon aus ihrer Bestimmung als »praktischer Grundsatz«) 40 . Der 38 Die von Kant in § 1 der Kritik der praktischen Vernunft vorgenommene Definition von Maximen als bloß subjektiv gültigen praktischen Grundsätzen muss allerdings dahingehend korrigiert werden, dass sie auch die formale Eigenschaft ihrer widerspruchsfreien Universalisierbarkeit aufweisen können müssen. Da praktische Vernunft nach Kant verlangt, dass »ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll« (KpV, KW IV, 135), muss er die Möglichkeit allgemeinverbindlicher und dadurch »moralische[r] Maximen« (ebd., 204) offen lassen. Versteht man dagegen, wie der Textbefund des ersten Paragrafen nahe legt, die Einteilung »praktischer Grundsätze« in »praktische Gesetze« und »Maximen« im strengen Sinne disjunktiv, dann hielte schon die Einleitungserklärung der Kritik der praktischen Vernunft keinen logischen Ort mehr für Maximen als potentiellen Trägern eines moralischen Wertes frei. Demgegenüber unproblematisch definiert Kant in der Grundlegung den Begriff der Maxime als »das subjektive Prinzip des Wollens«, das mit einem praktischen Gesetz durchaus übereinstimmen (ihm ›Folge leisten‹) kann (vgl. Grundlegung, KW IV, 27). 39 Vgl. Bittner 1974, S. 486; Höffe 1977, S. 357; Schönecker/Wood 2004, S. 78. 40 Dies schließt allerdings nicht aus, dass Maximen auch sehr speziell formuliert sein können. Auf die Frage, was für einen Allgemeinheitsgrad eine Willensbestimmung aufweisen muss, um in einer Maxime im Unterschied zu einer »praktischen Regel«, die unter einer Maxime steht (vgl. KpV, KW IV, 125; Grundlegung, KW IV, 51, Anm.) ausgedrückt werden zu können, wird im Zusammenhang mit der Problematisierung der von Kant im Zweiten Abschnitt der Grundlegung geschilderten Anwendungsfälle zurückzukommen sein (vgl. unten Kap. 2.2). Angesichts der zentralen Bedeutung des Maximenbegriffes als Gegenstand der Prüfung im Verallgemeinerungsverfahren des Kategorischen Imperativs ist die Beantwortung dieser Frage für die Interpretation der Kantischen Moralphilosophie von größter Wichtigkeit.
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Grund dafür, diese in seinen Willen aufzunehmen, kann auf die Bedingungen des Subjekts eingeschränkt sein, sodass die Maxime von ihm als nur für seinen individuellen Willen verbindlich angesehen wird. Gleichwohl können Maximen mit allgemeinverbindlichen Regeln zusammenfallen – nämlich dann, wenn eine Person, wie die Grundformel des Kategorischen Imperativs es verlangt, nur Maximen annimmt, die »als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne[n]« (KpV, KW IV, 140). Sofern eine Maxime diese formale Eigenschaft aufweist, verliert sie ihren ursprünglichen Status, nur für das Subjekt zu gelten, das sie sich zu Eigen gemacht hat, und erwirbt den Status eines objektiv gültigen praktischen Grundsatzes, d. h. eines Prinzips für die mögliche Willensbestimmung aller vernünftigen Subjekte. In einem ersten Argumentationsschritt (»§ 2. Lehrsatz I«) versucht Kant nachzuweisen, dass alle praktischen Grundsätze, »die ein Objekt (Materie) des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen […] insgesamt empirisch« sind und aus diesem Grunde »keine praktische[n] Gesetze abgeben« können (KpV, KW IV, 127). »Begehrungsvermögen« wird in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft definiert als das Vermögen eines Subjektes, »durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein« (ebd., 114, Anm.). Die Ausdrücke »Objekt« oder »Gegenstand« bezeichnen hier den Zweck einer Handlung 41 und müssen in einem sehr weiten Sinne verstanden werden; infrage kommen nicht bloß materielle Dinge, sondern etwa auch soziale oder psychologische Ereignisse, Zustände und Sachverhalte, kurzum: das Handlungsziel selbst und alles, was »durch Handlungen zur Existenz gebracht werden« kann 42 . Dasjenige Verhältnis der Vorstellung eines Gegenstandes zum vorstellenden Subjekt, wodurch dieses allererst dazu motiviert wird, den vorgestellten Gegenstand zu realisieren, bezeichnet Kant als »die Lust an der Wirklichkeit« dieses Gegenstandes (KpV, KW IV, 128). Die für den weiteren Argumentationsgang ent41 »Zweck« wird von Kant definiert als »der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält« (KdU, KW V, 89). Die Gegenstände seines Begehrungsvermögens zwingen sich dem Menschen als sinnlichem Vernunftwesen nicht durch eine natürliche Bestimmtheit (Instinkt) unweigerlich auf, sondern er kann (und muss) sie sich im Unterschied zu reinen Sinnenwesen – als Zwecke – allererst setzen. Diese innere Handlung der Zwecksetzung geht aller äußeren Handlung voraus. Vgl. dazu u. S. 171, Anm. 13 u. S. 182–188. 42 Beck 1974, S. 94. Vgl. dazu auch Scholz 1972, S. 169, 177 m. Anm.
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scheidende These formuliert Kant in § 2 der Kritik der praktischen Vernunft folgendermaßen: »Es kann […] von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde. Also muß in solchem Falle der Bestimmungsgrund der Willkür jederzeit empirisch sein, mithin auch das praktische materiale Prinzip, welches ihn als Bedingung voraussetzte« (ebd.).
Materiale – d. h. einen begehrten Gegenstand als Bestimmungsgrund der Willkür 43 voraussetzende – praktische Grundsätze sind für Kant somit durch die Lust an der Wirklichkeit dieses Gegenstandes bedingt. Es ist genau genommen die subjektiv unterschiedliche »Empfänglichkeit« 44 für Lust und Unlust, die empirisch-kontingente »Beschaffenheit des inneren Sinnes« (KpV, KW IV, 130), die es nach Kant ausschließen, dass ein praktisches Gesetz durch einen materialen Bestimmungsgrund des Willens bedingt ist. Denn in welchem Verhältnis die Wirklichkeit eines vorgestellten Gegenstandes zu meiner individuell beschaffenen Empfänglichkeit für Lust und Unlust steht, weiß ich nicht a priori, sondern nur aufgrund der inneren Erfahrung, in der mir die Empfindung meiner Gefühle gegeben ist. »Da nun […] ein Prinzip, das sich nur auf die subjektive Bedingung der Empfänglichkeit einer Lust oder Unlust (die jederzeit nur empirisch erkannt, und nicht für alle vernünftige Wesen in gleicher Art gültig sein kann) gründet, zwar wohl für das Subjekt, das sie besitzt, zu ihrer Maxime, aber auch für diese selbst (weil es ihm an objektiver Notwendigkeit, die a priori erkannt werden muß, mangelt) nicht zum Gesetze dienen kann, so kann ein solches Prinzip niemals ein praktisches Gesetz abgeben« (KpV, KW IV, 128).
Dass die erwartete Lust an der Existenz eines begehrten Gegenstandes »als Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung der Willkür vorausKant hat in der Grundlegung terminologisch nicht zwischen Wille und Willkür unterschieden. Diese Unterscheidung ist zwar in der Kritik der praktischen Vernunft präsent, expliziert wird sie jedoch erst in der Metaphysik der Sitten. Vgl. dazu Gregor 1990, S. XXIII–XXIV; Köhl 1990, S. 56–58. S. u. S. 190–192. 44 Vgl. KpV, KW IV, 128 f.: »Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts […]; mithin gehört sie dem Sinne (Gefühl) und nicht dem Verstande an.« »Empfänglichkeit« muss hier als »eine dem inneren Sinne angehörige Rezeptivität« (KpV, KW IV, 175) verstanden werden, als Fähigkeit, »Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen« (KrV A 19, B 33). 43
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gesetzt werden« muss (ebd.), nimmt Kant als eine psychologische Verhaltenskonstante in Anspruch. Dadurch suggeriert er, dass der entscheidende handlungsmotivierende Effekt der Vorstellung eines Gegenstandes des Begehrungsvermögens darauf beruht, dass wir von seiner Realisierung ein sinnliches Vergnügen erwarten. In § 3 der Kritik der praktischen Vernunft stellt er explizit die nicht eigens begründete These auf, dass »[d]ie Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache […] nur so [in]fern praktisch [d. h. handlungsmotivierend; O. L.]« ist, »als die Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subjekt von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt« (ebd., 128 f.; Hervorheb. v. m.). Damit aber impliziert die Argumentation, die den durchgängig empirischen Charakter materialer praktischer Grundsätze nachzuweisen versucht, eine »bestreitbare[.] hedonistische[.] Theorie des Begehrungsvermögens« 45 . Wie bereits L. W. Beck zeigen konnte, bildet deren Richtigkeit jedoch keine notwendige Voraussetzung für Kants Schlussfolgerung 46 . Denn der entscheidende, bereits in § 2 der Kritik der praktischen Vernunft entwickelte Argumentationsschritt, demgemäß »von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welche sie auch sei, a priori erkannt werden [kann], ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde« (KpV, KW IV, 128), lässt zwei von Kant nicht ausdrücklich unterschiedene Interpretationsvarianten zu: 1.) Setzt man die »hedonistische« Theorie des Begehrungsvermögens als wahr voraus und identifiziert dementsprechend die »Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes« (ebd.) mit einer »Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subjekt von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet« (ebd., 129), so ergibt sich der empirische Status materialer praktischer Grundsätze auf die beschriebene Weise: Welche als realisierbar vorgestellten Gegenstände das handelnde Subjekt lustvoll affizieren und welche nicht, weiß dieses nur vermittels der inneren Erfahrung seiner individuellen Art, Lust- und Unlustgefühle zu empfinden 47 . Vgl. Beck 1974, S. 98. Vgl. dazu ebd., S. 85–87 und S. 93–99. Vgl. zum Folgenden auch Rapic 2007, S. 407– 411. 47 Selbst wenn die »Empfänglichkeit« oder »Beschaffenheit des inneren Sinnes« (KpV, KW IV, 130) eine anthropologische Konstante wäre – vorausgesetzt also, »endliche vernünftige Wesen dächten auch in Ansehung dessen, was sie für Objekte ihrer Gefühle des Vergnügens oder Schmerzens anzunehmen hätten, imgleichen sogar in Ansehung der 45 46
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2.) Betrachtet man hingegen die »Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes« lediglich unter ihrem funktionalistischen Aspekt, das Subjekt dazu zu motivieren, den vorgestellten Gegenstand zu realisieren – ohne in diesem Zusammenhang das Moment des ›angenehmen Gefühls‹ zu assoziieren –, beschränkt sich die Frage, ob die Vorstellung eines bestimmten Gegenstandes »mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde« (KpV, KW IV, 128), darauf, ob dieser von dem handelnden Subjekt tatsächlich realisiert wird oder nicht. Da induktiv verallgemeinernde Aussagen darüber, dass handelnde Personen faktisch einen bestimmten Zweck verfolgen, jederzeit durch neue Erfahrungen falsifiziert werden können, besitzen sie keine »objektive Notwendigkeit […], die nur in Urteilen a priori stattfindet« (KpV, KW IV, 117); aus ihnen kann daher auch kein allgemeingültiges praktisches Gesetz abgeleitet werden. Das in § 2 erzielte Analyseergebnis, wonach alle Grundsätze, die einen Gegenstand des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen – die ein Subjekt also nur aufgrund einer kontingenten inhaltlichen Zielsetzung angenommen hat 48 –, empirisch bedingt sind und deshalb niemals praktische Gesetze sein können, gilt demnach unabhängig davon, ob man Kants »hedonistische« Theorie des Begehrungsvermögens akzeptiert 49 . Mittel, deren sie sich bedienen müssen, um die erstern zu erreichen, die andern abzuhalten, durchgehends einerlei« – so könnte aus einer solchen Übereinstimmung kein praktisches Gesetz entspringen, »denn diese Einhelligkeit wäre selbst doch nur zufällig. Der Bestimmungsgrund wäre immer doch nur subjektiv gültig und bloß empirisch, und hätte diejenige Notwendigkeit nicht, die in einem jeden Gesetze gedacht wird, nämlich die objektive aus Gründen a priori; man müßte denn diese Notwendigkeit gar nicht für praktisch, sondern für bloß physisch ausgeben, nämlich daß die Handlung durch unsere Neigung uns […] unausbleiblich abgenötigt würde« (KpV, KW IV, 134). 48 Materiale praktische Prinzipien sind kontingent, d. h. abhängig vom Begehren und den Interessen bestimmter Handelnder. Die Kontingenz besteht dabei relativ zu unserer vernünftigen Natur: Dass ein Verlangen oder eine Neigung kontingent ist, bedeutet nämlich, dass sie nicht konstitutiv für uns als eine Spezies von vernünftigen Wesen ist. So ist beispielsweise auch das von allen Menschen geteilte Verlangen nach Nahrung immer noch kontingent – d. h. wir würden nicht aufhören, Vernunftwesen zu sein, wenn wir aufgrund unserer natürlichen Bestimmtheit keine Nahrung benötigten. Für die Unterscheidung kontingenter und notwendiger Interessen vgl. die Erörterung bei Herman 2004, S. 127 mit dem dortigen Verweis auf weiterführende Literatur. 49 Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es nach Kant ein natürliches Handlungsziel gibt, das »notwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens, und
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Wie anders aber muss unter den genannten Bedingungen ein praktisches Gesetz beschaffen sein, falls es ein solches gibt? In § 4 der Kritik der praktischen Vernunft folgert Kant, dass das, was einen praktischen Grundsatz zu einem praktischen Gesetz zu machen vermag, nur die Form des durch ihn bestimmten Willens sein kann. Der hypothetisch formulierte »Lehrsatz III« lautet: »Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll, so kann es sich dieselben nur als solche Prinzipien denken, die, nicht der Materie, sondern bloß der Form nach, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten« (KpV, KW IV, 135).
Kant spezifiziert den Begriff der Form durch die Feststellung, dass »von einem Gesetze, wenn man alle Materie, d. i. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig [bleibt], als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung« (ebd., 135 f.; Hervorheb. v. m.) 50 . Für die handlungsleitenden Maximen eines Willenssubjektes gilt daher folgende Disjunktion: »Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjektiv-praktische Prinzipien, d. i. Maximen, entweder gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze denken, oder es muß annehmen, daß die bloße Form derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein zum praktischen Gesetze mache« (KpV, KW IV, 136).
Die Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit eines praktischen Gesetzes ist damit gefunden: Es ist die Form einer allgemeinen Gesetzgebung, die als der einzige Bestimmungsgrund des Willens aufweisbar also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens« ist (KpV, KW IV, 132), nämlich das Streben nach der »eigenen Glückseligkeit«, die er definiert als »das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet« (ebd., 129; vgl. auch KrV A 806, B 834: »Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen«). Denn da berücksichtigt werden muss, dass die Individuen unterschiedliche Vorstellungen vom Glück haben (vgl. insbes. Grundlegung, KW IV, 47 f.), wäre auch die – so verstandene – Glückseligkeit ein nur empirisch erkennbarer Bestimmungsgrund: »Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an […], und ein subjektiv notwendiges Gesetz (als Naturgesetz) ist also objektiv ein gar sehr zufälliges praktisches Prinzip, das in verschiedenen Subjekten sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann« (KpV, KW IV, 133 f.). 50 Vgl. KpV, KW IV, 138: »Es ist aber, außer der Materie des Gesetzes, nichts weiter in demselben, als die gesetzgebende Form enthalten.« A
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sein muss, wenn die ursprünglich in ihrer Verbindlichkeit auf das sie anerkennende Subjekt beschränkte Maxime den Status eines objektiv gültigen praktischen Gesetzes, d. h. eines Prinzips für die mögliche Willensbildung aller vernünftigen Subjekte, gewinnen soll. Aus der egologischen Perspektive einer handelnden Person formuliert, wäre ein praktisches Gesetz mithin ein Grundsatz, von dem ich a priori – d. h. ohne Rücksicht auf meine besonderen, mich von anderen vernünftigen Subjekten unterscheidenden Eigenschaften – sagen könnte, dass ich allein wegen seiner gesetzgebenden Form nach ihm handeln müsse, und den ich eben deshalb als für jedes vernünftige Wesen gültig anerkenne 51 . Wie Kant in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten prägnant formuliert, ist »das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein […,] nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze« (RL, KW IV 318). Denn reine praktische Vernunft kann, »da ihr die Materie des Gesetzes abgeht, nichts mehr, als die Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetze selbst zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrunde der Willkür machen« (ebd.). Das von Kant in § 7 der Kritik der praktischen Vernunft im imperativischen Modus formulierte »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« (»Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«; KpV, KW IV, 140) 52 ist daher nichts anderes als das Prinzip der geltungslogischen Universalisierbarkeit einer allein aufgrund dieser gesetzgebenden Form adoptierten Maxime 53 : Eine Maxime hat demnach dann den Status eines objektiv notwendigen praktischen Gesetzes, wenn sie zugleich universalisierbar ist, ihr kontradiktorisches Gegenteil aber nicht universalisierbar ist und daher nicht die Maxime aller vernünftigen Agenten sein kann (s. die nachstehende Erläuterung). Aus diesem zunächst »bloß problematisch« (ebd., 141) in Anspruch genommenen Analyseergebnis zieht Vgl. Scholz 1972, S. 180. Dass Kant das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« hier als einen präskriptiven Satz formuliert, ist dem Argumentationszusammenhang, in dem es steht, unangemessen. Das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« ist als solches noch keine Vorschrift; vgl. dazu unten Kap. 1.4. 53 Ihm entspricht in voll und ganz die Grundformel des Kategorischen Imperativs in der Grundlegung: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (Grundlegung, KW IV, 51). 51 52
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Kant schließlich die die Absicht der Kritik der praktischen Vernunft 54 erreichende assertorische »Folgerung«: »Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen« (ebd., 142) 55 . Die Identifikation des »Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft« mit dem »Sittengesetz« beruht auf zwei Argumentationsschritten56 : a) Zunächst weist Kant darauf hin, dass praktische Gesetze, mithin auch das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft«, nicht aus einem unabhängig vom Begriff dieses Gesetzes zur Verfügung stehenden Begriff eines reinen Willens abgeleitet werden können. Dieser »entspringt« stattdessen allererst aus jenem Grundgesetz: »Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, eben so, wie wir uns reiner theoretischer Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Notwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht haben. Der Begriff eines reinen Willens entspringt aus den ersteren, wie das Bewußtsein eines reinen Verstandes aus dem letzteren« (KpV, KW IV, 139) 57 .
Insofern ein Wille sich die Einsicht in die Universalisierbarkeit seiner Maxime zum alleinigen Bestimmungsgrund macht, sich mithin von seiner physischen Bestimmtheit vollständig emanzipiert, ist er ein a priori bestimmter, rein vernünftiger Wille: »Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht, und dieser Bestim54 Wie Kant in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft schreibt, soll sie »bloß dartun, daß es reine praktische Vernunft gebe« (vgl. KpV, KW IV, 107). 55 Erstmals verlässt Kant die in der Analyse des Begriffs eines praktischen Gesetzes bis dahin streng eingehaltene hypothetische Betrachtungsweise in der Anmerkung zu § 6 der Kritik der praktischen Vernunft, wo er unterstellt – wenngleich noch nicht näher ausführt –, dass das inzwischen entdeckte unbedingte »moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt werden […] so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen«, wirklich gilt (KpV, KW IV, 139). Vgl. dazu u. Kap. 1.3. 56 Vgl. dazu Cramer 1996, S. 304–307. 57 Vgl. auch KpV, KW IV, 180: »Hier ist nun der Ort, das Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft zu erklären: daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem es dem Anschein nach so gar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern nur (wie hier auch geschieht) nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.« Kant wendet sich mit dieser Erklärung gegen eine kritische Anmerkung, die Hermann Andreas Pistorius 1786 in seiner Rezension der Grundlegung gemacht hatte (wiederabgedruckt in Bittner/Cramer 1975, S. 144–160). Vgl. dazu KpV, KW IV, 113 f.
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mungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen« (KpV, KW IV, 141; Hervorheb. v. m.). In einem zweiten Schritt b) setzt Kant den reinen Willen mit dem unbedingt guten Willen gleich: Im reinen Willen wird »ein Vernunftprinzip […] schon an sich als der Bestimmungsgrund des Willens gedacht, ohne Rücksicht auf mögliche Objekte des Begehrungsvermögens (also bloß durch die gesetzliche Form der Maxime), alsdenn ist jenes Prinzip praktisches Gesetz a priori, und reine Vernunft wird für sich praktisch zu sein angenommen. Das Gesetz bestimmt alsdenn unmittelbar den Willen, die ihm gemäße Handlung ist an sich selbst gut, ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze gemäß ist, ist schlechterdings, in aller Absicht, gut, und die oberste Bedingung alles Guten« (KpV, KW IV, 179 f.).
Durch diese Identifikation des reinen mit dem unbedingt guten Willen ist Kant nunmehr in die Lage versetzt, das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« mit dem »Sittengesetz« in eins zu setzen: »Das moralische Gesetz ist der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens« (KpV, KW IV, 237). Das Sittengesetz hat – wie Kant an zahlreichen Textstellen betont und mit einer Reihe von metaphorischen Begriffen zum Ausdruck bringt – als »Primärregel der sittlichen Beurteilung« 58 für konkrete Maximen eine diiudikativ-sichernde Kriterienfunktion 59 . Kant weist darauf hin, dass bestimmte Maximen – etwa die, mit der er das Depositum-Beispiel in der Kritik der praktischen Vernunft einleitet: »Ich habe […] es mir zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern« (KpV, KW IV, 136) – »sich selbst vernichten würde[n]« (vgl. ebd.), wenn sie als ein allgemeines praktisches Gesetz gedacht werden. Dies bedeutet, dass der kontrafaktische Gedanke der uneingeschränkten Geltung einer von mir adoptierten Handlungsmaxime für sämtliche Fälle des betreffenden Handlungstyps meinem Handeln gemäß dieser Maxime bzw. meiner durch sie verfolgten Henrich 1990, S. 39. Im moralphilosophischen Zusammenhang wird der Begriff »Kriterium« meines Wissens von Kant nicht verwendet. In der Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant zur Bezeichnung des Kategorischen Imperativs aber wiederholt von einer »Richtschnur« und einem »Probierstein des Guten oder Bösen« (KpV, KW IV, 181); in der Grundlegung zum Beispiel von einem »Richtmaße«, einem »Kompasse« (Grundlegung, KW IV, 31) und »der oberste[n] Norm« der »Beurteilung« (ebd., 14). Vgl. auch ebd., 54: »Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt.«
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Handlungsabsicht notwendig widerstreitet – und zwar insofern, als durch die Allgemeingültigkeit dieser Maxime als praktisches Gesetz die allein hinreichende Bedingung aufgehoben wird, unter der mir die Innehabung der Maxime bzw. die damit intendierte Verwirklichung ihres Handlungszwecks möglich ist 60 . Der negative Ausgang dieses Universalisierbarkeitstests soll also die Unsittlichkeit meiner Maxime anzeigen, die in diesem Fall, »weit gefehlt, daß sie zu einer allgemeinen Gesetzgebung tauglich sein sollte, […] vielmehr in der Form eines allgemeinen Gesetzes sich selbst aufreiben« muss (KpV, KW IV, 136). Als Überprüfungsinstanz von Maximen determiniert das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« folglich zunächst den Bereich des sittlich Verbotenen und ermöglicht auf dieser Grundlage Rückschlüsse auf das sittlich Gebotene und Erlaubte 61 : Jede Handlung ist ethisch geboten, deren Unterlassung eine nicht-verallgemeinerungsfähige Maxime zugrunde liegt; umgekehrt ist das Unterlassen einer jeden Handlung ethisch geboten, deren Ausführung auf einer nicht-verallgemeinerungsfähigen Maxime basiert. Lässt sich eine Maxime sowie ihr kontradiktorischer Gegensatz widerspruchsfrei universalisieren, sind beide Handlungsvorhaben erlaubt, d. i. moralisch bloß möglich 62 . 60 Die Frage, wie die Einsicht in die Universalisierbarkeit bzw. Nichtuniversalisierbarkeit von Maximen methodisch zustande gebracht werden kann, d. h. das Problem der argumentativen Bestimmung des ›logischen Ortes‹ und der spezifischen Art eines im Universalisierungsverfahren etwaig auftretenden Widerspruches, wird in der nahezu unüberschaubaren Literatur zu den von Kant insbesondere in der Grundlegung geschilderten Beispielfällen kontrovers diskutiert; vgl. dazu ausführlich unten Kap. 2. 61 Damit übereinstimmend definiert Kant den Begriff eines guten Willens in der Grundlegung nur e contrario: »Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann« (vgl. Grundlegung, KW IV, 70). 62 Vgl. Scholz 1972, S. 151–160, 184 f.; Ebert 1976, S. 577 f.; Höffe 1990a, S. 189 f. und Horn/Mieth/Scarano 2007, S. 229 f. Vgl. dazu weiterführend Brinkmann 2003, S. 85– 93, 140–153. Kant sagt weder in der Grundlegung noch in der Kritik der praktischen Vernunft explizit, dass es Maximen gibt, nach denen zu handeln durch die Vernunft weder verboten noch geboten, sondern bloß erlaubt ist. Allerdings führt er den Begriff des moralisch bloß Möglichen in der Metaphysik der Sitten unter den Vorbegriffen – zunächst problematisch – ein: »Eine Handlung, die weder geboten noch verboten ist, ist bloß erlaubt, weil es in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt. Eine solche Handlung heißt sittlich-gleichgültig (indifferens, adiaphoron, res merae facultatis). Man kann fragen: ob es dergleichen gebe […]« (RL, KW IV, 329). In der Tugendlehre wird diese Frage dann ausdrücklich positiv beantwortet: »Phantastisch-tugendhaft aber kann doch der genannt werden, der keine in Anse-
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Wenn wir uns also einen Willen durch nichts anderes als die gesetzgebende Form seiner Maxime bestimmt denken, dann kann diese Maxime keine sein, deren Gegenteil ebenfalls zur Gesetzgebung tauglich wäre. G. Scholz begründet dies folgendermaßen: »[W]enn zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Maximen beide der Gesetzesform fähig sind, dann kann die bloße Vorstellung dieser ihnen gemeinsamen Form nicht den Willen bestimmen, die eine zu verwerfen und die andere anzunehmen. In einem solchen Fall würde die Vernunft nur nicht hindern, sei es die eine, sei es die andere Maxime zu befolgen. Bestimmungsgrund des Handelns könnte dann aber nicht die Vernunft selbst sein, sondern nur irgendeine Neigung.« 63
Ein objektiv schlechthin notwendiges praktisches Gesetz kann mithin nur ein solcher Grundsatz sein, dessen kontradiktorische Entgegensetzung nicht auch der gesetzgebenden Form fähig, d. h. widerspruchsfrei universalisierbar ist. In der Vorstellung der gesetzgebenden Form einer Maxime als dem alleinigen Bestimmungsgrund eines sittlich guten Willens sind nach Kant zwei zu einer jeden Gesetzgebung gehörende »Stücke« bzw. Hinsichten enthalten: »erstlich, ein Gesetz, welches die Handlung, die geschehen soll, objektiv als notwendig vorstellt, d. i. welches die Handlung zur Pflicht macht, zweitens, eine Triebfeder, welche den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjektiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft« (RL, KW IV, 323). In der hier thematischen ethischen Gesetzgebung (s. u. Kap. 3.1) sind diese beiden »Stücke« unzertrennlich miteinander verbunden. Nach Kants Auffassung hat die sittliche Selbstbestimmung des Willens bei sinnlich-endlichen Vernunftwesen eine psychisch-emotiohung der Moralität gleichgültigen Dinge (adiaphora) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekömmt, nähre; eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde« (TL, KW IV, 541). 63 Scholz 1972, S. 184; vgl. auch ebd., S. 187–189. Vgl. dazu RL, KW IV, 327, wo Kant über die moralischen Gesetze schreibt, nach ihnen seien »gewisse Handlungen erlaubt oder unerlaubt, d. i. moralisch möglich oder unmöglich, einige derselben aber, oder ihr Gegenteil moralisch notwendig, d. i. verbindlich«; d. h. einige der moralisch möglichen Handlungen bzw. Maximen, nämlich diejenigen, deren Gegenteil moralisch unmöglich (nicht widerspruchsfrei verallgemeinerbar) sind, sind nicht bloß erlaubt, sondern sogar geboten. Vgl. Scholz 1972, S. 154.
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nale Auswirkung im spezifisch moralischen Gefühl der »Achtung« vor dem Sittengesetz (vgl. insbes. KpV, KW IV, 191–212). Seine diesbezüglichen Äußerungen bringen allerdings gewisse Verständnisschwierigkeiten in Bezug auf die Funktion der Achtung im sittlichen Handeln mit sich 64 . Das Gefühl der Achtung setzt gemäß Kant zwar die Affizierbarkeit unseres Willens durch sinnliche Neigungen voraus und kann daher »einem von aller Sinnlichkeit freien Wesen […] nicht beigelegt werden«, gleichwohl hat es seine bestimmende Ursache in der reinen praktischen Vernunft (vgl. ebd., 196 f.); es entsteht aus der »Vorstellung des Vorzuges ihres objektiven Gesetzes vor den Antrieben der Sinnlichkeit« (ebd., 196) bzw. ist selbst das »Bewusstsein« der »unmittelbare[n] Bestimmung des Willens durchs Gesetz« (Grundlegung, KW IV, 27 f. Anm.; vgl. auch KpV, KW IV, 202). Wie aber kann die »Achtung fürs moralische Gesetz« dann auch als – »oberste[.] und schon für sich allein hinlänglich-bestimmende[.]« (ebd., 212) – »Triebfeder zu[r] Befolgung desselben […] angesehen werden« (ebd., 199 f.)? Kant ist der Ansicht, dass wir das Sittengesetz zunächst als ein objektives Prinzip einsehen, durch das eine »Handlung als Pflicht vorgestellt« wird, »welches ein[e] »bloße[.] theoretische[.] Erkenntnis der möglichen Bestimmung der Willkür, d. i. praktischer Regeln ist« (RL, KW IV, 323 f.). In diesem Sinne schreibt Kant auch: »Zuerst bestimmt das moralische Gesetz objektiv und unmittelbar den Willen im Urteile der Vernunft« (KpV, KW IV, 199; Hervorheb. v. m.). Das moralische Gesetz, das »objektiv, d. i. in der Vorstellung der reinen Vernunft, ein unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens ist«, können wir Menschen als sinnlich affizierbare Vernunftwesen in seiner nötigenden Wirkung auf uns »zwar a priori einsehen«; wir erkennen in ihm aber »nicht die Kraft des reinen praktischen Gesetzes als Triebfeder, sondern nur den Widerstand gegen Triebfedern der Sinnlichkeit« (ebd., 200). Diese negative Erkenntnis erweckt in uns nach Kant nun das »positive[.] Gefühl« der Achtung (ebd.), das uns seinerseits wiederum dazu veranlasst, das moralische Gesetz als subjektives Prinzip oder unsere Maxime anzunehmen und so wirkliche sittliche Handlungen in der Sinnenwelt auszuführen. »Die Anerkennung des moralischen Gesetzes […] ist das Bewußtsein einer Tätigkeit der praktischen Vernunft aus objektiven Gründen, die bloß darum [beim Menschen] nicht ihre Wirkung in Handlungen äußert, weil subjektive 64
Vgl. dazu auch Paton 1962, S. 63–69. A
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Ursachen (pathologische) sie hindern. Also muß die Achtung fürs moralische Gesetz auch als positive aber indirekte Wirkung desselben aufs Gefühl […], mithin als subjektiver Grund der Tätigkeit, d. i. als Triebfeder zu Befolgung desselben, und als Grund zu Maximen eines ihm gemäßen Lebenswandels angesehen werden« (KpV, KW IV, 200)
Da wir Menschen einen solchen Willen besitzen, der aufgrund unserer natürlichen Bedürfnisse und sinnlichen Neigungen »mit dem objektiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt« (ebd., 201), ist das »aus dem Bewusstsein« der damit verbundenen praktischen »Nötigung entspringen[de]« »moralische Gefühl« der Achtung für uns das handlungsmotivierende Moment der sittlichen Willensbestimmung (ebd., 203 f.) 65 ; das Gefühl der Achtung ist nach Kant das vermittelnde Bindeglied zwischen unserer Erkenntnis des Sittengesetzes als eines objektiven Prinzips und unserer Annahme bzw. praktischen Ausführung dieses Gesetzes als eines subjektiven Prinzips 66. Das »reine moralische Gesetz selbst« bezeichnet Kant insofern auch als die »Triebfeder der reinen praktischen Vernunft« als »es […] subjektiv, in Menschen, die sich zugleich ihres sinnlichen Daseins und der damit verbundenen Abhängigkeit von ihrer so fern sehr pathologisch affizierten Natur bewußt sind, Achtung […] [be]wirkt« (KpV, »Die sittliche Stufe, worauf der Mensch (aller unserer Einsicht nach auch jedes vernünftige Geschöpf) steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz« (KpV, KW IV, 207). Während der Wille »eines allervollkommensten«, »über alle [sinnliche] Abhängigkeit erhabene[n]« Vernunftwesens in einer »niemals zu verrückende[n] Übereinstimmung […] mit dem reinen Sittengesetze« steht, ist das »moralische Gesetz […] für den Willen jedes endlichen vernünftigen Wesens […] ein Gesetz […] der moralischen Nötigung und der Bestimmung der Handlungen desselben durch Achtung für dies Gesetz« (ebd., 203 f.). 66 »Dieses Gefühl [der Achtung] […] dient nicht zur Gründung des objektiven Sittengesetzes selbst, sondern bloß zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen« (KpV, KW IV, 197). Die »Begriffe […] der […] Triebfeder […] und […] Maxime, können nur auf endliche Wesen angewandt werden. Denn sie setzen insgesamt eine Eingeschränktheit der Natur eines Wesens voraus, da die subjektive Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objektiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt« (ebd., 201). In diesem Sinne spricht Kant gelegentlich auch vom moralischen Gesetz als dem »objektiven Bestimmungsgrund« und von der Achtung als dem »subjektiven Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder« unseres sittlichen Willens (ebd., 196, 200, 202). Vgl. auch Grundlegung, KW IV, 27: »Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung, und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als, objektiv, das Gesetz, und, subjektiv, reine Achtung für dieses praktische Gesetz.« 65
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KW IV, 211 f.). Mit seiner Lehre von der »Achtung fürs Gesetz« integriert Kant die These der englischen Gefühlsethik, dass uns Gefühle und Emotionen zu sittlichen Handlungen antreiben, in modifizierter Form in seine eigene Theorie der Sittlichkeit 67 . Der absolute Geltungsanspruch der reinen praktischen Vernunft impliziert nach Kant also, dass das Prinzip einer universalen Gesetzlichkeit des Wollens nicht nur der Grund der Bestimmung des Sittengesetzes, sondern – bei »jedem endlichen vernünftigen Wesen« vermittelt durch das moralische Gefühl der Achtung (KpV, KW IV, 201) – auch der (Beweg-) Grund seiner Befolgung ist 68 . In der einen Hinsicht erweist sich das Sittengesetz als moralepistemologisches Prinzip der Beurteilung – Kant spricht vom »principium der dijudication der Verbindlichkeit« oder der »Richtschnur« –, in der anderen Hinsicht als das moralpsychologische Prinzip der Unterlassung bzw. Ausführung von Handlungen – das »principium der Exekution […] der Verbindlichkeit« oder die »Triebfeder« (AA, XXVII, 1, 274) 69 . Nur insofern eine Maxime darum verworfen wird, weil sie der gesetzgebenden Form nicht fähig ist, d. h. nur insofern die kontradiktorisch entgegengesetzte Maxime allein aufgrund der Einsicht in ihre widerspruchsfreie Universalisierbarkeit angenommen und verfolgt wird, ist ein Wille unbedingt, d. h. durch die alleinige Bindung an die darin als seinem Gesetz zum
Vgl. Düsing 2000, S. 204; Brandt 2007, S. 360. Wie das von Kant in der Grundlegung vorgetragene Beispiel vom ehrlichen Kaufmann veranschaulicht (vgl. Grundlegung, KW IV, 23), ist es nämlich denkbar, dass ein Wille einer universalisierbaren Maxime (hier: der Ehrlichkeit) aufgrund eines von ihrer gesetzgebenden Form unabhängigen subjektiven Interesses (hier: an der eigenen Vorteilsmaximierung) folgt, so dass die Befolgung dieser Maxime unter der Bedingung jenes Interesses steht. In einem solchen Fall wäre die Gesetzestauglichkeit der Maxime nicht selbst der Beweggrund für ihre Befolgung; das aus dieser Maxime resultierende gesetzmäßige (legale) Verhalten wäre mithin auch nicht autonom durch das Prinzip der universalen Gesetzlichkeit des Wollens (sondern heteronom durch eine physisch-sinnlich bedingte Eigenschaft des Handlungssubjektes) bestimmt. 69 Vgl. dazu Scholz 1972, S. 189–194. Vgl. auch Kersting 1990, S. 64 f.; Schönecker/ Wood 2004, S. 26 f. und Geismann 2004, S. 242. Wie Geismann (ebd., Anm. 31) mit unterschiedlichen Textstellen belegen kann, bezieht sich Kants Rede vom »Bestimmungsgrund des Willens« auf das Sittengesetz als Beurteilungs- und Ausübungsprinzip des Willens. Diese Unterscheidung zweier Hinsichten auf ein und dasselbe Prinzip der Vernunft weist voraus auf den Ethik und Recht trennenden Unterschied zwischen »innerer« und »äußerer Gesetzgebung«. Vgl. dazu die Einleitung zur Metaphysik der Sitten (RL, KW IV, 323 f.); s. u. Kap. 3.1. 67 68
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Ausdruck kommende reine praktische Vernunft, bestimmt 70 . In diesem Sinne hat eine Handlung nur dann »sittlichen Wert, als Gesinnung«, wenn sie allein »um des moralischen Gesetzes willen« ausgeführt worden ist (KpV, KW IV, 203, 297) 71 . Vgl. Scholz 1972, S. 159: »Sittlich gut würde handeln, wer die Maxime, die nicht zugleich sich selbst als allgemeines […] Gesetz zum Gegenstand haben kann, allein darum verwerfen, bzw. eine Maxime, deren Gegenteil nicht zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann, allein darum befolgen würde.« 71 Vgl. auch Grundlegung, KW IV, 14: »Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und mißlich, weil der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmäßige, mehrmalen aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen wird.« Kant vertritt in den Grundlegungsschriften eindeutig die Position, dass Handlungen nur dann einen ethisch-sittlichen Wert haben, wenn sie »aus Pflicht, d. i. bloß um des Gesetzes willen« (KpV, KW IV, 203) ausgeführt werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Handeln aus Pflicht eine Neigung zu der entsprechenden Handlung ausschließt oder gar Neigungen zugunsten pflichtwidriger Handlungen voraussetzt. Die von Kant für ein Handeln aus Pflicht angeführten Beispiele, in denen die Neigung der Pflicht zuwiderläuft (oder in denen zumindest keine Neigung besteht, pflichtgemäß zu handeln), haben demnach nicht die Funktion, ein moralphilosophisches Paradigma aufzustellen. Das in den Beispielen auf die extreme Entscheidungssituation eines hypothetischen EntwederOder zugespitzte Gegeneinander von Pflicht und Neigung hat vielmehr argumentationsstrategische Gründe: Um den moralischen Antrieb einer Handlung zu isolieren und so evident wie möglich unter Beweis zu stellen, dass eine Person aus moralischer Gesinnung handelt, konstruiert Kant Situationen, in denen für eine Befolgung der Pflicht »Triebfedern der Sinnlichkeit« (ebd., 200) als Handlungsgrund nicht zur Verfügung stehen. Die Moralität einer Handlung manifestiert sich besonders augenfällig – aber keineswegs notwendigerweise – im Konflikt von Pflicht und Neigung. Aufgrund der vollständigen Heterogenität von Natur- und Freiheitsgesetzlichkeit ist nach Kants Ansicht zwar ein Handeln aus Pflicht unvereinbar mit einem Handeln aus Neigung. Aber der Umstand, dass es nicht Neigungen und Bedürfnisse waren, welche die sittliche Person durch ihre Willensbestimmung zur Handlung veranlasst haben, bedeutet nicht, dass sie keine Neigungen und Bedürfnisse hat, wenn sie handelt (die Handlung also nicht mit Neigung geschieht). Die »sittliche Ordnung der Triebfedern« (vgl. Religion, KW IV, 685) fordert für die Willensbestimmung nicht mehr als den absoluten Vorrang der Pflicht vor der Neigung. Dass ein Handeln aus Pflicht von einer entsprechenden Neigung, die zum bestimmenden Pflichtmotiv hinzutritt, durchaus begleitet werden kann, ja dass – wie Kant in der zweiten Kritik schreibt – »eine Neigung zum Pflichtmäßigen […] die Wirksamkeit der moralischen Maximen sehr erleichtern«, wenngleich nicht »hervorbringen« kann (KpV, KW IV, 247), manifestiert sich auch in Kants Definition der Freiheit: »Freiheit […], als ein […] Vermögen […], mit überwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist Unabhängigkeit von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als affizierenden) Bewegursachen 70
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1.3 Die Geltungsfundierung des Sittengesetzes in der Kritik der praktischen Vernunft Dass reine Vernunft für sich allein praktisch sein kann, dass das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« bzw. das »Sittengesetz« mithin wirklich gilt, und dass – in einem weiteren Gedankenschritt – der Wille, der sich dieses Gesetz zum alleinigen Bestimmungsgrund macht, ein freier Wille ist, all dies lässt sich – wie Kant insbesondere im ersten Anhang zum ersten Hauptstück der Analytik in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV, KW IV, 155–165) erläutert – nicht vermittels der theoretischen Vernunft rechtfertigen, sondern kann nur als ein »Faktum« der reinen praktischen Vernunft eingeführt werden, das »apodiktisch gewiß ist« (ebd., 161) 72 . Die Gedankenbewegung, die Kant zu dem von ihm eher beiläufig eingeführten und dennoch zentralen Theorem vom »Faktum der reinen Vernunft« veranlasst hat, soll im Folgenden kursorisch erörtert werden 73 . unseres Begehrens« (ebd.; Hervorheb. v. m.; vgl. auch ebd. 139, 211 f.). Zur Verhältnisbestimmung von Pflicht und Neigung vgl. insbes. Geismann 2004; Paton 1962, S 42–45; Nisters 1989, S. 99–106 und 226–231, Baron 2004 sowie Horn/Mieth/Scarano 2007, S. 181 f. Dass sittliche Gesetze ihre Befolgung ausschließlich um ihrer ›vernünftigen‹ Gesetzlichkeit willen verlangen, dass für Kant also nur Handlungen, die wegen der Tauglichkeit ihrer Maximen zu einem allgemeinen Gesetz ausgeführt werden, moralischen ›Wert‹ besitzen, bezweifelt und kritisiert Siep 2000, S. 41–44: »Nicht nur für die Fälle des heroischen Altruismus’ – mit deren moralischem Wert Kant in der Metaphysik der Sitten erhebliche Schwierigkeiten hat [vgl. TL, KW IV, 524] –, sondern auch für ›normale‹ Fälle ist nicht einsichtig, warum jemand, der das Richtige primär aufgrund seiner Neigungen hat vollbringen können, nicht etwas moralisch ›Wertvolles‹ zustande gebracht haben sollte. Daß vernünftige Motivation auch unabhängig von oder sogar gegen widerstrebende Neigungen wirksam sein sollte, muß nicht implizieren, dass alles moralisch Richtige oder Wertvolle vom Primat vernünftiger Motivation abhängt« (ebd., 43 f.). Dieser, auf der Grundlage der ethischen Grundlegungsschriften geäußerten Kritik ist allerdings entgegenzuhalten, dass Kant den moralischen – nämlich moralisch-rechtlichen – Wert einer ›bloß‹ gesetzmäßigen, durch welche Triebfeder auch immer motivierten Handlung in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten nicht nur zugesteht, sondern als Gebot der äußeren, juridischen Vernunftgesetzgebung ausdrücklich einfordert (s. u. Kap. 3.1). 72 Zum irreführenden Titel dieses Anhangs (»Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft«; KpV, KW IV, 155) vgl. Sala 2004, S. 120 f. 73 Vgl. dazu und zum Folgenden Henrich 1973; Düsing 2002 sowie Rawls 2004, S. 44– 51. Wie insbesondere D. Henrich anhand einer Untersuchung der Reflexionen des KanA
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Welche Art der Wirklichkeitsbegründung, welchen Erkenntnisbzw. Wissensstatus besitzt das moralische Gesetz? Warum ist die Formel des Sittengesetzes, der Kategorische Imperativ, überhaupt für uns Menschen gültig und absolut verpflichtend? In der Kritik der praktischen Vernunft vertritt Kant die Auffassung, dass eine »Deduktion« des Sittengesetzes im Sinne »der Rechtfertigung seiner objektiven und allgemeinen Gültigkeit« durch »alle Anstrengung der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft« unmöglich ist (KpV, KW IV, 160 f.). Demnach lässt sich nicht schlussfolgernd beweisen, dass das Pflichtprinzip auch wirklich gilt. Dies stellt einen bedeutsamen Wandel gegenüber der von Kant in der Grundlegung vertretenen Position dar, in deren Dritten Abschnitt er die objektive Realität des moralischen Gesetzes im Rückgriff auf Erkenntnisse der Kritik der reinen Vernunft aus der »Idee der Freiheit« nachzuweisen versucht (vgl. Grundlegung, KW IV, 81–101) 74 . Er hält es dort für eine »unnachlaßliche Aufgabe der spekulativen [d. h. hier: theoretischen; O. L.] Philosophie […] zu zeigen […], daß wir den Menschen frei nennen« und zugleich als naturgesetzlich bestimmt denken müssen (ebd., 93) 75 . tischen Nachlasses exemplarisch darlegt, hat Kant im Verlaufe der siebziger und frühen achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Anstrengungen unternommen, die Gültigkeit und den absolut verpflichtenden Charakter des moralischen Gesetzes direkt aus der theoretischen Vernunft oder – indirekt – aus der Einheit bzw. engen Verwandtschaft von theoretischer und praktischer Vernunft abzuleiten, bevor er zur Lehre vom »Faktum der Vernunft« gelangt ist (vgl. Henrich 1973, S. 239–247). Der Dritte Abschnitt der Grundlegung enthält noch deutliche Restbestände dieser indirekten Deduktionsversuche (vgl. dazu Düsing 2002, S. 213–223; Paton 1962, S. 251–253, 256–276). 74 Wie Kant im Zweiten Abschnitt der Grundlegung ankündigt, geht es ihm darum, »a priori zu beweisen, daß dergleichen Imperativ wirklich stattfinde, daß es ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfedern für sich gebietet, und daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei« (Grundlegung, KW IV, 56). 75 Insbesondere in der Auflösung der Dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft hat Kant zu zeigen versucht, dass in der noumenalen Welt der Dinge an sich – selbst unter der Annahme einer lückenlosen Naturkausalität für deren Erscheinungen – eine »Kausalität aus Freiheit« wenigstens denkbar ist. Diese versteht er als »transzendentale«, noch nicht spezifisch praktische Freiheit, d. h. als unzeitliche und »absolute Spontaneität der Ursachen« (vgl. KrV A 444–447, B 472–475). Der Mensch kann als ein natürliches Vernunftwesen aufgrund seines empirischen und intelligiblen Doppelcharakters beide Kausalarten in sich vereinigen. Hiermit ist freilich weder die innere Möglichkeit von Freiheit als intelligibler Kausalität erwiesen, noch deren Wirklichkeit für den Menschen. Dass einzige, was die theoretische Philosophie nach Kant leisten kann, ist die Erkenntnis, »daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite« (ebd., A 558., B 586). Vgl. zur Dritten Antinomie ebd., A 444–451, B 472–479,
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»Diese Pflicht« liege »aber bloß der spekulativen Philosophie ob, damit sie der praktischen freie Bahn schaffe« (ebd.). Den entscheidenden Rechtfertigungsgrund dafür, Freiheit und – damit »unzertrennlich verbunden« – das absolute Sollen des selbstgegebenen moralischen Gesetzes für den menschlich-endlichen, durch sinnliche Neigungen affizierbaren Willen als »wirklich« (und nicht nur einzig möglich) anzunehmen, besteht nach der von Kant in der Grundlegung vertretenen Auffassung in einer »reinen«, noch nicht spezifisch praktisch bestimmten »Spontaneität« des Vernunftvermögens, die der Mensch in abstrahierender Betrachtung seiner selbst als »Intelligenz«, d. i. als reines intellektuelles Wesen, sich notwendig zuschreibt. Durch diese »Selbsttätigkeit« seines Vernunftvermögens muss der Mensch sich laut Kant als »wirkende Ursache« in einer »Verstandeswelt« oder »intelligiblen Welt« ansehen (ebd., 88 f.), in der eine bestimmte Weise von Kausalität, nämlich gesetzmäßige unzeitliche »Kausalität der Vernunft« (ebd., 95) herrscht76 . Allerdings enthält diese – hier nur skizzierte – Deduktion des Sittengesetzes mit der Voraussetzung, dass der Mensch sich noch vor aller sittlichen Selbstbestimmung als existierendes Mitglied der intelligiblen Welt denken muss, inhaltlich metaphysische Prämissen, deren Geltung mit den Mitteln theoretischer Erkenntnis nicht erweisbar ist. Vermutlich hat Kant sie deshalb in der Kritik der praktischen Vernunft fallengelassen 77 . Wenn er dort in impliziter Erinnerung an die Bemühungen der Grundlegung von der »vergeblich gesuchten Deduktion des moralischen Prinzips« spricht (KpV, KW IV, 161 f.), so zu deren Auflösung ebd., A 532–558, B 560–586. Vgl. dazu Düsing 2000, S. 199–204; Oberer 1997, S. 158–162. 76 Vgl. Grundlegung, KW IV, 95 f.: »Der Begriff einer Verstandeswelt ist […] nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken, welches, wenn die Einflüsse der Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend wären, nicht möglich sein würde, welches aber doch notwendig ist, wofern ihm nicht das Bewußtsein seiner selbst, als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende Ursache, abgesprochen werden soll. Dieser Gedanke führt freilich die Idee einer anderen Ordnung und Gesetzgebung, als die des Naturmechanismus, der die Sinnenwelt trifft, herbei, und macht den Begriff einer intelligibelen Welt (d. i. das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst) notwendig.« Für die umstrittene Unterscheidung von »Dingen an sich« bzw. »noumenaler Welt« und »Dingen in der Erscheinung« bzw. »phänomenaler Welt« in der praktischen Philosophie Kants vgl. die Erörterungen bei O’Neill 1989a, insbes. S. 73–82. 77 Vgl. Düsing 2002, S. 222. A
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hat er das Scheitern jener komplizierten metaphysischen Beweisführung offenbar vor Augen gehabt 78 . Kant stellt daher in der zweiten Kritik eine neue Theorie des Verhältnisses von Sittengesetz und Freiheit auf, in der keine theoretisch-metaphysischen Rechtfertigungsgründe für die Verbindung des Willens sinnlich-vernünftiger Wesen mit dem Sittengesetz mehr erforderlich sind, die mithin auch nicht mehr von der reinen, noch nicht sittlich bestimmten Spontaneität des Selbstbewusstseins ausgeht, um zur Freiheitsthese und daraufhin zur Wirklichkeit des Sittengesetzes zu gelangen. Im Gegenteil ist es hier das unbeweisbare Bewusstsein des moralischen Prinzips selbst, das »gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft« das Postulat der Freiheit des Willens erzwingt (ebd., 161, 139; s. u. S. 67–69). Mit seiner Lehre vom »Faktum der Vernunft« möchte Kant betonen, dass die Realität des Sittengesetzes »für sich selbst fest« steht und »keiner rechtfertigenden Gründe bedarf« (KpV, KW IV, 161 f.). Es wird dabei aufgefasst als Inhalt einer ursprünglichen, »sich für sich selbst uns aufdringenden« Evidenz des sittlichen Bewusstseins (ebd., 141 f.): Wir (Menschen) werden uns des moralischen Gesetzes »unmittelbar bewusst«, »so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen« (ebd., 139). Dieses Bewusstsein von der absoluten Verbindlichkeit des Sittengesetzes ist – wie Kant erklärt – weder eine Tatsache im empirischen Sinne, noch kann es im Rückgang auf Seinssätze der rationalistischen Metaphysik erklärt werden (ebd., 160 f.). Die Faktizität des Gebietens jenes Grundgesetzes lässt sich vielmehr nur als eine »sittliche Einsicht« 79 bestimmen, in der reine Vernunft dem einsichtigen Subjekt »ihre und ihrer Begriffe Realität« erweist (ebd., 107). Mit diesem, theoretischer Rechtfertigung unzugänglichen Wissen um ein unbedingtes intelligibles Faktum des sittlichen Bewusstseins kann die Gültigkeit des Sittengesetzes aber nur behauptet werden; sie lässt sich nicht in einem demonstrativen Beweis erzwingen. »Theoretisch ist der Zweifel an der Realität des sittlichen Gesetzes ebenso möglich wie die Überzeugung von seiner Wirklichkeit.« 80 Dass Kant mit der Lehre vom »Faktum der Vernunft« seine bis dahin vergebliche Suche nach einer argumentativen Deduktion des Sittengesetzes aufgegeben hat, führt somit zu der
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Ebd., S. 229; Rawls 2004, S. 47, Anm 15. Vgl. zu diesem Begriff Henrich 1973. Ebd., S. 248 f.
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problematischen Konsequenz, dass dessen Gültigkeit sich nicht aus Prinzipien ableiten lässt, die nicht selbst moralisch sind. Da sich zur Bewusstseinstatsache des Sittengesetzes die theoretische Distanz des Begründens und Erschließens nicht herstellen lässt, kann dessen Gültigkeit zwar gegen Angriffe und indirekte Widerlegungen mit spezifisch praktischen Argumenten – insbesondere dem Argument der strengen Allgemeingültigkeit als der Vernünftigkeit des Sittengesetzes – verteidigt werden; diese Argumentationen können letztlich aber immer nur an die sittliche Einsicht als den spontanen Akt einer zustimmenden Entscheidung des Dialogpartners appellieren 81 . Ein radikaler Amoralist, der sich strikt weigert, seinen Willen auch nur irgendwelchen moralischen Prinzipien zu unterstellen und alles für erlaubt hält, vertritt damit einen Standpunkt, der ›außerhalb‹ jeder ethischen Dialogargumentation liegt; mit ihm kann es auf der Grundlage der Lehre vom »Faktum der Vernunft« keine argumentative Diskussion mehr geben. E. Cassirer formuliert diesen Sachverhalt folgendermaßen: »Weshalb die Ordnung dem Chaos, weshalb die freie Unterordnung unter die Allgemeinheit eines selbstgegebenen Gesetzes der Willkür der individuellen Begehrungen vorzuziehen ist; darauf erteilt uns die kritische Ethik keine Antwort mehr. In der Kritik der [praktischen] Vernunft […] ist die Idee der Vernunft, die Idee einer letzten und höchsten Bindung […] des Willens vorausgesetzt. Wer diese Idee nicht anerkennt, der stellt sich damit außerhalb des Umkreises ihrer Problemstellung – außerhalb der Begriffe, die sie von […] ›Gut‹ und ›Böse‹ besitzt und die sie vermöge der Eigenart ihrer Methodik allein zu begründen vermag.« 82
Die metaphysische Aufgabe der Begründung und Rechtfertigung des moralischen Gesetzes muss daher im Sinne Kants als hinreichend gelöst betrachtet werden, wenn derjenige, der es als die Beschreibung des Guten akzeptiert, zugleich die damit verbundene und ihn adressierende praktische Forderung als unbedingt verbindlich anerkennt. Die Einsicht in die Gültigkeit des Sittengesetzes ist nach Kants Auffassung in der zweiten Kritik nun auch der Grund dafür, »nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit« praktischer Freiheit anzunehmen (KpV, KW IV, 162). Die ursprüngliche moralische Selbsterfahrung, durch das Sittengesetz absolut verpflichtet zu sein, verleiht allererst der Idee der Freiheit eine objektive, wenngleich auch nur – 81 82
Vgl. dazu Düsing 2002, S. 232. Cassirer 1984, S. 262 f. A
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dies muss betont werden – praktische Realität 83 , denn der sinnlich affizierbare Wille kann das moralische Gesetz nur als sinnvolles Gebot an ihn auffassen, wenn er auch in der Lage ist, dem damit verbundenen Anspruch zu entsprechen. Es wäre eine »offenbare Ungereimtheit«, wie Kant in Zum ewigen Frieden feststellt, nachdem man dem unbedingt gebietenden Gesetz »seine Autorität zugestanden hat, noch sagen zu wollen, daß man es doch nicht könne« (Frieden, KW VI, 228 f.). »Denn, wenn das moralische Gesetz gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein: so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können« (Religion, KW IV, 702). Weil und insofern wir einsehen, dass das moralische Gesetz gilt, können wir uns auch unserer Freiheit bewusst werden und erkennen zugleich, dass wir über sie in praktischer Hinsicht tatsächlich verfügen. Zur Begründung der These, dass »Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz« in einem reziproken Implikationsverhältnis stehen, verweist Kant darauf, dass wir mit der bewussten Anerkennung dieses Gesetzes uns zugleich auch der Möglichkeit vergewissern, unsere dem moralischen Gebot entgegenstehende »Neigung« zu »bezwingen« (KpV, KW IV, 139 f.), d. h. die psycho-physische Determiniertheit zu überwinden. Diese Unabhängigkeit von einem sinnlichen Bestimmungsgrund des Willens ist für Kant prinzipiell Unabhängigkeit von der Naturkausalität, die er als deterministisch unter raumzeitlichen, sinnlichen Erscheinungen auffasst; er nennt sie auch den »negativen« Begriff praktischer Freiheit. Freiheit in »positiver«, vollbestimmter Bedeutung ist erst die »eigene Gesetzgebung […] der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft« (KpV, KW IV, 144), d. h. »das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein« (RL, KW IV, 318); sie ist mithin als intelligible Kausalität einer spontanen Selbstbestimmung des Willenssubjektes aufgrund des Bewusstseins der Verbindlichkeit des Sittengesetzes zu verstehen (vgl. auch Grundlegung, KW IV, 81 f.). Als Implikat der sittlichen Einsicht kommt dem Menschen nach Kant Willensfreiheit in beiderlei Bedeutung wirklich zu: Der Mensch »urteilet […], daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre« (KpV, In seinen 1800 herausgegebenen Vorlesungen über Logik schreibt Kant: »Man kann keiner theoretischen Idee objektive Realität verschaffen oder dieselbe beweisen, als nur der Idee von der Freiheit; und zwar, weil diese die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, dessen Realität ein Axiom ist« (Logik, KW III, 523).
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KW IV, 140). Damit wird das unableitbare Bewusstsein des Sittengesetzes selbst zum »Prinzip der Deduktion der Freiheit« und kommt so einem Bedürfnis der theoretischen Vernunft entgegen, welche neben der durchgängigen Wirklichkeit der Naturkausalität im Bereich der Erscheinungen die Möglichkeit transzendentaler Freiheit als bloß formaler Selbstursprünglichkeit »anzunehmen genötigt war«, um die Antinomien aufklären zu können (ebd., 162 f.; vgl. auch KrV A 557 f., B 585 f.). Die Wirklichkeit und Positivität dieser intelligiblen »Kausalität aus Freiheit« (ebd.) für uns sowie die Annahme, wir seien Mitglieder der intelligiblen Welt, sind allein in der praktischen Vernunft bzw. im Bewusstseinsfaktum ihres Grundgesetzes begründet. Eine theoretische Erkenntnis der inneren Möglichkeit dieser metaphysischen Annahmen ist damit nicht verbunden; sie ist im Argumentationszusammenhang der zweiten Kritik aber auch nicht erforderlich, weil die Kausalität in der intelligiblen Welt hier nicht mehr – wie in der Grundlegung – Rechtfertigungsgrund für die Verbindung des menschlich-endlichen Willens mit dem Sittengesetz ist. Da das sittliche Selbstbewusstsein sich gar nicht anders auslegen kann als im positiven Sinne frei, macht die praktische Vernunft also selbst die transzendentalidealistische Unterscheidung von »Ding an sich« und »Erscheinung«, von »homo noumenon« und »homo phaenomenon« notwendig (vgl. TL, KW IV, 550; vgl. auch KpV, KW IV, 139 f., 249–252) 84 . Das ursprüngliche Bewusstsein von der Verbindlichkeit des Sittengesetzes ist nach Kant der Erkenntnisgrund (»ratio cognoscendi«) der Freiheit – und umgekehrt offenbart sich von diesem praktischen Standpunkt aus zugleich, dass die in der noumenalen Sphäre der »Dinge an sich« zu verortende ›positive‹ Freiheit praktischer Vernunft der Seinsgrund (»ratio essendi«) des moralischen Gesetzes ist (vgl. ebd., 108 Anm.) 85 .
84 »Die Vereinigung der Kausalität, als Freiheit, mit ihr, als Naturmechanism, davon die erste durchs Sittengesetz, die zweite durchs Naturgesetz, und zwar in einem und demselben Subjekte, dem Menschen, fest steht, ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung auf das erstere als Wesen an sich selbst, auf das zweite aber als Erscheinung, jenes im reinen, dieses im empirischen Bewußtsein, vorzustellen. Ohne dieses ist der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst unvermeidlich« (KpV, KW IV, 110 Anm.). 85 Vgl. dazu Brandt 2007, S. 367; Düsing 2002, S. 231; Beck 1974, S. 77 f.
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1.4 Zur Verhältnisbestimmung von Sittengesetz und Kategorischem Imperativ als dem »allgemeinen Imperativ der Pflicht« Während Kant in der Grundlegung den propositionalen Gehalt des moralischen Gesetzes aus der Analyse dessen, was es heißt, »aus Pflicht« zu handeln, ableitet, ist die in den Eingangsparagrafen der zweiten Kritik in hypothetischer Betrachtungsweise entwickelte Exposition des »Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft« und damit des die unbedingte Güte eines Willens definierenden Sittengesetzes argumentationslogisch vollkommen unabhängig vom Pflichtbegriff; letzterer taucht in ihr überhaupt nicht auf. Die formale Herleitung des Sittengesetzes steht mithin nicht unter der empirisch vermittelten Voraussetzung, dass natürliche Vernunftwesen, deren Wille aufgrund der sinnlich-affektiven Bestimmtheit ihres Begehrungsvermögens auch unvernünftigen Antrieben folgen kann, seine Adressaten sind 86 . Auch lässt die in der Perspektive der Frage, was denn ein objektiv gültiges praktisches Gesetz als solches kennzeichne, entwickelte Argumentation es völlig offen, ob der oberste praktische Grundsatz de facto von jemandem befolgt wird 87 . Unabhängig von jedem ErfahrungswisDies gilt freilich nur für die analytische Herleitung des propositionalen Gehalts des »Grundgesetzes des reinen praktischen Vernunft« als Deskriptor eines reinen und damit sittlich guten Willens, nicht aber für dessen im Faktum-Theorem vorgenommene Geltungsfundierung in der imperativischen Form eines »sich für sich selbst uns aufdringenden« (KpV, KW IV, 141), unbedingt verpflichtenden Sollensbewusstseins. Die mit der Einführung des Kategorischen Imperativs zu identifizierende Anwendung des Sittengesetzes auf einen sinnlich affizierbaren Willen kann von allem Empirischen nicht absehen (s. die nachstehenden Erörterungen). 87 Kant ist der Auffassung, dass wir weder über uns selbst noch über andere ein sicheres Urteil hinsichtlich der Sittlichkeit von Handlungen fällen können, da wir weder über ein vollständig transparentes Selbstbewusstsein noch über das introspektive Wissen um fremde Willensbestimmungsgründe verfügen. Diese Opazität der eigenen und fremden Handlungsmotive macht es nach Kant unmöglich zu wissen, ob es jemals einen einzigen Fall von einem unbedingt guten Willen gegeben hat. Sie lässt es mithin möglich erscheinen, dass noch niemals eine Handlung vollzogen wurde, deren allein zureichender Bestimmungsgrund die Einsicht in die allgemeingesetzliche Widersprüchlichkeit des kontradiktorischen Gegenteils der ihr zugrunde liegenden Maxime war (vgl. Scholz 1972, S. 184 f.). Daher ist nicht auszuschließen, dass bisher vielleicht nur solche Handlungen ausgeführt worden sind, die bloß moralische Legalität besaßen: »In der Tat ist es schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen 86
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sen und allein unter der Voraussetzung, dass vernünftige Wesen einen praktischen Willen besitzen (vgl. KpV, KW IV, 142 f.), stellt das Sittengesetz zunächst nur fest, dass ein solcher Wille genau dann sittlich gut ist, wenn seine Maxime zugleich als objektiv notwendiges Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung für jeden möglichen Fall von Willen gelten kann. Damit erbringt erst die Kritik der praktischen Vernunft den methodischen Nachweis, dass es den in der Grundlegung geforderten und beschriebenen reinen Teil der Kantischen Moralphilosophie auch wirklich gibt 88 . Denn, wie es dort hieß, in einer »Metaphysik der Sitten« ist nur »vom objektiv-praktischen Gesetze die Rede, mithin von dem Verhältnisse eines Willens zu sich selbst, so fern er sich bloß durch Vernunft bestimmt, da denn alles, was aufs Empirische Beziehung hat, von selbst wegfällt; weil, wenn die Vernunft für sich allein das Verhalten bestimmt (wovon wir die Möglichkeit jetzt eben untersuchen wollen), sie dieses notwendig a priori tun muß« (Grundlegung, KW IV, 58 f.).
Das höchste Prinzip der reinen praktischen Vernunft als solches, d. h. so wie es in einem rein rationalen Teil der Ethik von Kant entwickelt worden ist, ist also kein präskriptiver, sondern ein deskriptiver »kategorisch praktischer Satz« (KpV, KW IV, 141), dessen universale Gültigkeit Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruhet habe. Denn es ist zwar bisweilen der Fall, daß wir bei der schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, was außer dem moralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Aufopferung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe, unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee, die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei, dafür wir denn gerne uns mit einem uns fälschlich angemaßten edlern Bewegungsgrunde schmeicheln, in der Tat aber selbst durch die angestrengteste Prüfung hinter die geheimen Triebfedern niemals völlig kommen können, weil, wenn vom moralischen Werte die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene innere Prinzipien derselben, die man nicht sieht« (Grundlegung, KW IV, 34). Zum Problem der opaken Introspektion vgl. auch ebd., 49; KrV A 552 Anm., B 580 Anm.; TL, KW IV, 523 und Religion, KW IV, 667, 693, 703. Zur Unterscheidung von Moralität und Legalität s. u. S. 172 f.). 88 Vgl. dazu Cramer 1996, S. 307–310. Der Grund dafür liegt – wie bereits hervorgehoben wurde – darin, dass der Argumentationsgang der Grundlegung mit dem empirischen Phänomen der im Pflichtbegriff enthaltenen moralischen Nötigung beginnt, wohingegen die (rein analytischen) ersten Paragrafen der Kritik der praktischen Vernunft in der Einteilung praktischer Grundsätze ihren argumentativen Ausgangspunkt haben. A
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nach Kant ohne jeden Bezug auf empirische Zusammenhänge angenommen werden muss 89 : »Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht« (ebd.). Wenngleich das oberste praktische Vernunftgesetz als das die sittliche Güte eines reinen Willens definierende Prinzip eigentlich ein deskriptives Gesetz über das Verhalten vollständig vernünftiger Wesen ist, so handelt es sich doch – aufgrund der wertenden Konnotation des in ihm beanspruchten Vernunftbegriffs – um ein normatives Gesetz 90 . Allerdings hat Kant das Sittengesetz weder in § 7 noch an einer anderen Stelle der Kritik der praktischen Vernunft deskriptiv formuliert 91 . In seiner ursprünglichen Gestalt – als Beschreibung des sittlich Guten – formuliert er es nur in der Grundlegung: »Der Wille ist schlechterdings gut, […] dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann« (Grundlegung, KW IV, 70; vgl. auch ebd., 82). Die Unterscheidung zwischen der Idee des Willens bloß vernünftiger Wesen und der Wirklichkeit des Willens sinnlich-vernünftiger Wesen liegt auch den Kantischen Überlegungen bezüglich des synthetischen Charakters des Kategorischen Imperativs zugrunde. Das Sittengesetz wie es sich »uns aufdringt« (KpV, KW IV, 141 f.) – d. h. im imperativischen Modus verstanden – bezeichnet Kant als einen »synthetisch-praktische[n] Satz a priori« (ebd.; vgl. auch Grundlegung, KW IV, 50, 80). Wenn man aber – wie bei bloßen Vernunftwesen – den positiven Begriff der praktischen Freiheit im Sinne reiner Vernunftbestimmtheit eines Willens als notwendig voraussetzen könnte, so wäre das Sittengesetz – wie Kant bemerkt – ein analytischer Satz a priori (KpV, KW IV, 142; vgl. Grundlegung, KW IV, 50 Anm., 82; Religion, KW IV, 652–655 Anm.). Es ist aus der Idee des »vollkommenen Willen[s]« (Grundlegung, KW IV, 50 Anm.) bloß vernünftiger Wesen als Zur Unterscheidung von deskriptiven und präskriptiven (reinen) praktischen Sätzen vgl. die ausführliche Erörterung bei Brinkmann 2003, S. 23–37. 90 Vgl. Brinkmann 2003, S. 29; Patzig 1965, S. 250. 91 Darauf hat bereits L. W. Beck hingewiesen: »›Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne‹. Dies ist nach Kant das gesuchte moralische Gesetz oder der oberste Grundsatz der reinen praktischen Vernunft. Tatsächlich handelt es sich aber nicht um ein Gesetz, sondern um einen Imperativ. Obwohl Kant zwischen Gesetz und Imperativ unterscheidet, formuliert er doch in der Kritik das Gesetz nirgends in seiner eigentlichen Gestalt« (Beck 1974, S. 120 f.). 89
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deren invariante Bestimmtheit analytisch erschließbar – und eben deshalb als Bestimmtheit des menschlichen Willens ohne solche Wesensnotwendigkeit 92 . Weil das moralische Gesetz nach Kant die notwendige interne Verfassung eines rein vernünftigen Willens beschreibt, gilt das in folgendem Konditionalsatz ausgedrückte Bedingungsverhältnis: »Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt« (Grundlegung, KW IV, 41) 93 .
Nur eine Handlung, deren Ausführung unvermeidlich aus dem Bewusstsein des Prinzips einer universalen Gesetzlichkeit des Wollens heraus erfolgt, ist objektiv und subjektiv notwendig; und nur ein vollständig vernünftiges Wesen mit einem »heiligen Willen«, d. h. »vollkommen gute[n] Wille[n]« (ebd., 42 f.), wird »innerlich notwendig« (RL, KW IV, 328) dem Sittengesetz folgen, das zugleich dessen Seinsgesetz wäre. Bei ihnen ist daher »das Sollen […] am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist« (Grundlegung, KW IV, 43). Dass es für vollkommen vernünftige Wesen mithin keine nötigende Pflicht geben kann, bedeutet auch, dass ihnen das Sittengesetz nicht in der Geltungsform einer unbedingten Forderung, d. h. als kategorischer Imperativ, entgegentritt. »Ein vollkommen guter Wille würde also eben sowohl unter objektiven Gesetzen (des Guten) stehen, aber nicht dadurch als zu gesetzmäßigen Handlungen genötigt vorgestellt werden können, weil er von selbst, nach seiner 92 Vgl. Wolff 1986, S. 198. Dieser von mir geteilten Einschätzung folgen auch Oberer 1997, S. 167 und Freudiger 1993, S. 55, Anm. Vgl. auch Paton 1962, S. 306–308. 93 Kant fährt in dem zitierten Abschnitt fort: »Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich, ist dieser noch subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen, die nicht immer mit den objektiven übereinstimmen; mit einem Worte, ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäß (wie es bei Menschen wirklich ist): so sind die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens, objektiven Gesetzen gemäß, ist Nötigung; d. i. das Verhältnis der objektiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist. – Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ« (Grundlegung, KW IV, 41).
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subjektiven Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperativen« (ebd., 42 f.) 94 .
Demgegenüber genügt der Mensch aufgrund seiner unabänderlichen Naturanlage nicht schon von sich aus der Beschreibung, die das moralische Gesetz von einem guten Willen gibt (KpV, KW IV, 206), sondern er »fühlt in sich selbst ein mächtiges Gegengewicht« (Grundlegung, KW IV, 32). Da wir einen solchen Willen besitzen, der aufgrund unserer natürlichen Bedürfnisse und sinnlichen Neigungen auch unvernünftigen Antrieben folgen kann – ja vielleicht immer folgt –, wird von uns die Einsicht in die Notwendigkeit einer allgemeingesetzlichen Willensbestimmung als »praktische Nötigung, d. i. Pflicht« erfahren (Grundlegung, KW IV, 67; KpV, KW IV, 203 f.). Der Begriff der Pflicht enthält somit insofern tatsächlich den Begriff eines guten Willens, als allen Handlungen, die »aus Pflicht, d. i. aus Achtung fürs Gesetz« (ebd., 203) ausgeführt worden sind, auch ein guter Wille zugrunde gelegen hat. Umgekehrt gilt aber nicht, dass der Begriff des guten Willens den der Pflicht enthält, denn die im Pflichtbegriff mitgedachten und potentiell praktisch wirksamen ›subjektiven Einschränkungen und Hindernisse‹ sind bei einem heiligen Willen nicht vorhanden 95 . Der Kategorische Imperativ drückt als »der allgemeine Imperativ Ein vollkommen guter Wille bei Kant ist nicht zwangsläufig dadurch charakterisiert, dass er der Wille eines ›affektfreien‹, von keinerlei subjektiven Gefühlen der Lust oder Unlust betroffenen Vernunftwesens ist. Man kann vielmehr schon da von einem »heiligen Willen« sprechen, wo ein Subjekt, deren Wille zwar grundsätzlich durch Bedürfnisse und Neigungen affiziert werden kann, diese in der Befolgung seiner Maximen jederzeit und auf nicht-zufällige Weise der Triebfeder des moralischen Gesetzes unterordnet – mithin »keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre« (KpV, KW IV, 143; vgl. auch ebd., 206). Vgl. O’Neill 1989a, S. 71 f.; vgl. dazu auch Brinkmann 2003, S. 34 f. Die Frage, welchen Wert die Vorstellung von vollständig vernünftigen Wesen für eine humane Ethik besitzt, hat – »ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, an die man im Bezug auf die Freiheit vernünftig handelnder Wesen denken könnte« – bereits H. J. Paton gestellt: »Sie kann […] nützlich sein, wenn wir dabei sind, den Charakter objektiver Prinzipien zu untersuchen […], nach denen ein vernünftiges Wesen notwendig handeln würde, wenn die Vernunft seine Leidenschaften vollständig beherrschte« (Paton 1962, S. 99). Nach Kant ist die ›Funktion‹ des Begriffs eines reinen Vernunftwesens die eines regulativen »Ideal[s]« oder »Urbild[s]«, »welchem wir uns zu näheren, und, in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus, gleich zu werden streben sollen« (KpV, KW IV, 206). 95 Der Ausdruck »unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen« (Grundlegung, KW IV, 22) kennzeichnet mithin den Begriff des Willens und nicht die 94
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der Pflicht« (Grundlegung, KW IV, 51) also eine Nötigung aus, die sich als Relation zwischen objektiv gültigen Vernunftgesetzen und dem durch subjektive Interessen und Neigungen affizierten Willen eines nicht vollständig vernünftigen Wesens beschreiben lässt. Durch diese Nötigung wird das, was nicht ›analytisch‹ im jeweils anderen Bestandteil der Relation enthalten ist, allererst »verknüpft« (ebd., 50 Anm., vgl. auch ebd., 82): »Daher sind Imperativen nur Formeln, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des menschlichen Willens, auszudrücken« (ebd., 43). Kant leitet die imperativische Geltungsform des Sittengesetzes einzig aus der mangelhaften Entsprechung von subjektivem Streben und objektiver Vernunft her 96. Der Kategorische Imperativ ist somit kein Produkt praktischer Vernunft allein. Erst der empirisch bedingte Komplex psychosomatischer Bedürftigkeit sowie die daraus resultierende sinnlichaffektive Strebenstendenz des Willens erzeugen im Menschen jene Herausforderung, zu der die Vernunft in konkreten Handlungssituationen immer wieder aufs Neue Stellung beziehen muss. Das hat aber nicht zur Folge, dass der Kategorische Imperativ und mit ihm die Begriffe von Nötigung, Verbindlichkeit und Pflicht in dem empirischen Teil der Ethik beheimatet sind, den Kant als das »Gegenstück einer Metaphysik der Sitten, als das andere Glied der Einteilung der praktischen Philosophie überhaupt« (RL, KW IV, 322) bezeichnet und für deren strukturierende Darstellung und Differenzierung die ›praktische Anthropologie‹ zuständig ist (s. o.) 97 . Denn mit der Bezugnahme auf den bloßen Begriff eines generisch als ›nicht-reines Vernunftwesen‹ bestimmten Adressaten der im Kategorischen Imperativ ausgedrückten Vernunftforderung wird noch unbestimmt gelassen, welcher spezifischen Art die Erfahrung ist, die ein solcher Adressat mit seiner Natur macht (d. h. welche zu überwindenden natürlichen Bedürfnisse, Wünsche und Neigungen er besitzt). Der Sollenscharakter des Kategorischen Imperativs beruht nicht auf Besonderheiten einer biologischen Art, wie der Begriff des guten Willens in dem der Pflicht enthalten ist (vgl. Baron 2004, S. 81, Anm. 3). 96 So auch Horn 2004, S. 199. 97 Diese Konsequenz zieht dagegen Siep 2000, S. 36: »Bezieht man das Sittengesetz auf den ›Willen des Menschen‹ als einen durch Neigungen ›affizierbaren‹ […], so befindet man sich bereits im empirischen Teil der Ethik, in der ›praktischen Anthropologie‹.« Ähnlich auch Wood 1991, S. 326. A
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Spezies, er hat mithin auch keine spezielle Beziehung auf die menschliche Natur (vgl. KpV, KW IV, 142 f.) 98 . Er gilt vielmehr – wie Kant in der Grundlegung formuliert – für alle mit einem Willen begabten Vernunftwesen, »auf die nur überall ein Imperativ treffen kann […] und allein darum auch für allen menschlichen Willen« (Grundlegung, KW IV, 56; vgl. auch RL, KW IV, 328). Nicht weil wir Menschen sind, ist unser Wille laut Kant Adressat der unbedingten Forderung des Kategorischen Imperativs, sondern weil dieser Imperativ für alle Vernunftwesen gilt, deren Wille »unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen« steht (Grundlegung, KW IV, 22) und nach Kant in verschiedenen ›Naturen‹ verwirklicht sein kann, ist die durch ihn ausgewiesene Pflicht auch für den Menschen (als den Sonderfall eines vernünftigen Naturwesens) verbindlich 99 . N. Sherman stellt zwar richtig fest, dass der Kategorische Imperativ »adresses the problem of moral law for a finitely rational agent who can be aware of that moral law and yet oppose it because of inclination«. Wenn sie jedoch behautet, dass »Kant himself would be the first to concede that the Categorial imperative […] is itself an anthropological construct« (vgl. Sherman 1997, S. 130), so verfehlt sie die Grundlegungsdimension der Kantischen Ethik, ja verkehrt ihre Intention nachgerade ins Gegenteil; der Kategorische Imperativ ist für Kant eben ausdrücklich kein spezifisch anthropo-relationaler Begriff. 99 Vgl. dazu Cramer 1996, S. 317–320; Louden 2000, S. 10–12 und Höffe 1990a, S. 102 f. Die Annahme von nichtmenschlichen Adressaten des Kategorischen Imperativs hat allerdings die spekulative Bedingung zur Voraussetzung, dass derartige Vernunftwesen in Analogie zu unseren sinnlichen Bedürfnissen und Neigungen ein natürlichphysisches Empfindungspotential besitzen, das ihren Willen zu Handlungen motivieren kann. Obwohl »wir von vernünftigen, nicht irdischen Wesen keine Kenntnis haben« (vgl. Anthropologie, KW VI, 672; vgl. auch KdU, KW V, 598), war insbesondere der junge Kant davon überzeugt, dass es in unserem Universum andere, vom Menschen unterschiedene Formen rationalen Lebens gibt und dass die Klasse aller vernünftigen Naturwesen, für die der Kategorische Imperativ Geltung beansprucht, nicht koextensiv ist mit der Spezies Mensch (vgl. dazu weiterführend Beck 1985 und Crowe 1986, insbes. S. 47– 55). So spricht er schon in Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) von unterschiedlichen »Klassen vernünftiger Wesen« (vgl. KW I, 353–355) und äußert die Vermutung: »Indessen sind doch die meisten unter den Planeten gewiß bewohnt, und die es nicht sind, werden es dereinst werden« (ebd., S. 381). Er behauptet sogar, dass »die menschliche Natur […] in der Leiter der Wesen gleichsam die mittelste Sprosse inne hat« – zwischen den »erhabensten Classen vernünftiger Creaturen, die den Jupiter oder den Saturn bewohnen« und den »niedrigen Stufen […], die in den Planeten Venus und Mercur« beheimatet sind (ebd., S. 386 f.). Noch in einer Fußnote seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) äußert Kant die Vermutung, dass »wir unter unseren Nachbaren im Weltgebäude einen nicht geringen 98
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So ist der Kategorische Imperativs im Hinblick auf seine theoretische Verortung nur dann »von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert« (Grundlegung, KW IV, 13; vgl. auch KrV A 841 f., B 869 f.), wenn die Konjunktion »und« in einer einschränkend-präzisierenden Bedeutung interpretiert wird: dahingehend, dass das auszuschließende empirische Wissen, von dem hier die Rede ist, gänzlich zur Anthropologie gehört. Von allem, »was aufs Empirische Beziehung hat« (Grundlegung, KW IV, 58), kann eine begrenzt vernünftige Sinnenwesen adressierende Ethik jedoch nicht vollständig befreit werden 100 . Wenngleich Kant diese innertheoretischen Zusammenhänge in der Kritik der reinen Vernunft – wie wir oben sahen (s. o. S. 39 f.) – selbst erkannt hat, ja sie in der zweiten Auflage sogar noch präzisiert, berücksichtigt er sie bei der Formulierung seines Ethikprogramms in der Vorrede zur Grundlegung nicht und trägt ihnen in dessen Durchführung methodisch nur unzureichend Rechnung. Denn dass »die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen etc. […] insgesamt empirischen Ursprungs sind« (KrV A 15, B 28), muss bedeuten, dass der Begriff des Kategorischen Imperativs und mit ihm der der Pflicht aufgrund ihres nicht-reinen Charakters keine Grundbegriffe, ja nicht einmal überhaupt Begriffe eines – im Sinne des überaus starken metaphysischen Anspruchsniveaus der Grundlegung – streng rationalen Teils der Moralphilosophie sind. Da ihnen der Adressat fehlt, sind Sollenssätze in einer »völlig isolierte[n] Metaphysik der Sitten« (Grundlegung, KW IV, 38) schlichtweg nicht anwendbar, ja bedeutungslos 101. Gleichwohl haben der Kategorische Rang behaupten« (vgl. Idee, KW VI, 41). Und in der Kritik der reinen Vernunft betrachtet er das Gesetz »der kontinuierlichen Stufenleiter der Geschöpfe« als »ein rechtmäßiges und treffliches regulatives Prinzip der Vernunft« (vgl. KrV A 668, B 696) und schreibt: »[S]o möchte ich wohl alles das Meinige darauf verwetten, daß es wenigstens in irgend einem von den Planeten, die wir sehen, Einwohner gebe« (ebd. A 825, B 853). 100 Wie O. Höffe zutreffend bemerkt, ist »schon der allgemeine kategorische Imperativ […] kein reines Apriori« (Höffe 1990a, S. 108): »Wirklich erfahrungsfrei ist lediglich der Grund der Verbindlichkeit, die Idee einer höchsten Stufe, nach der wir Praxis bewerten« (ebd., S. 120). 101 Vgl. dazu Cramer 1996, S. 320–322. Die Beantwortung der Frage, in welchen Teil der Ethik die Einführung des Kategorischen Imperativs bzw. Pflichtbegriffs fällt, ist ersichtlich von großem systematischen Gewicht für die theoretische Einordnung der Kantischen Ethik als ganzer. Da beide Begriffe ihre moralische Verbindlichkeit einerseits aus dem nach Kant schlechterdings a priori geltenden reinen Sittengesetz beziehen, sich andererseits aber an einen empirisch verführbaren Willen richten, lassen sie sich als A
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Imperativ und der Pflichtbegriff eine fundamentale Bedeutung für den Teil der Ethik, der zwar nicht rein ist, aber doch a priori zu verfahren hat, und in dem auf einer ersten Anwendungsstufe des Sittengesetzes substantielle moralische Verbindlichkeiten entwickelt werden. Dessen theoretischer Status soll uns im folgenden Kapitel beschäftigen.
›nicht-reine Begriffe a priori‹ kennzeichnen, deren Verortung in einem ethischen Theorieteil auch diesen zu einem ›nicht-reinen Teil a priori‹ macht (vgl. ebd., S. 291 u. 321 f.). Kant selbst hat eine solche Differenzierung innerhalb seiner praktischen Philosophie nicht vorgenommen. Der Begriff »a priori« bringt hier die im Rahmen der Lehre vom »Faktum der Vernunft« (s. o. Kap. 1.3) diskutierte Bewusstseinsevidenz zum Ausdruck, dass ein sinnlich veranlagtes Vernunftwesen unabhängig von seinen empirisch-faktisch vorhandenen natürlichen Interessen und Neigungen einsieht, dass das moralische Gesetz ihm die Verfolgung bestimmter Maximen verbietet bzw. vorschreibt und dass diese Forderungen in jedem Falle, zu jeder Zeit und unter jeder Bedingung für es Gültigkeit besitzen. Diese Bedeutung scheint auch im Einklang zu stehen mit Kants Charakterisierung des Apriorischen in KpV, KW IV, 116 f. Vgl. dazu auch Rawls 2004, S. 52 f.: »Unbedingtheit und apriorischer Charakter des moralischen Gesetzes sind Aspekte, die von Kant herangezogen werden, um zu erklären, in welchem Sinne unser Handeln aus [Achtung vor] diesem Gesetze unsere Unabhängigkeit von der Natur zeigt sowie unsere Freiheit von einer Determination durch Wünsche und Bedürfnisse, die in uns durch natürliche und psychologische Ursachen hervorgerufen werden.«
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2. Zur Funktionalität des Kategorischen Imperativs für die Ableitung konkreter sittlicher Pflichten
2.1 Die Beispielfälle des Kategorischen Imperativs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten In den drei systematischen Schriften, die Kant zur Ethik veröffentlicht hat – d. h. in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Kritik der praktischen Vernunft und der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten –, lassen sich zwei zentrale Erkenntnisbemühungen voneinander unterscheiden: 1.) Zum einen untersucht Kant das oberste Prinzip der Moralität – das für einen reinen Willen deskriptive Sittengesetz bzw. den für einen empirischen Willen präskriptiven allgemeinen Kategorischen Imperativ. Kant ist der Auffassung, dass dieses Prinzip tatsächlich von der »gemeinen Menschenvernunft« als Richtmaß für ihre moralischen Urteile benötigt und benutzt wird, wenn gleich sie es sich »freilich nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt« (Grundlegung, KW IV, 30 f.). 2.) Zum anderen erhebt er daher den Anspruch, anhand des Verallgemeinerungsverfahrens des Kategorischen Imperativs konkrete moralische Verpflichtungen 1 ableiten zu können 2 . Zwar beabsichtigt er in der Grundlegung, sich mit »nichts mehr als [der] Aufsuchung Kant spricht in diesem Zusammenhang synonym auch von moralischen bzw. kategorischen »Imperativen« im Plural (Grundlegung, KW IV, 90) sowie von moralischen ›Geboten‹ und moralischen ›Gesetzen‹ (vgl. z. B. ebd., 46). Er meint dabei aber stets die diversen moralischen Pflichten, die er aus dem allgemeinen Kategorischen Imperativ als dem Prinzip aller moralischen Pflichten für ableitbar hält. Vgl. dazu ebd., 51: »Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der Pflicht, als aus ihrem Prinzip, abgeleitet werden können […].« 2 Vgl. auch Grundlegung, KW IV, 14 und 38 f.: »Es ist aber eine […] völlig isolierte Metaphysik der Sitten […] nicht allein ein unentbehrliches Substrat aller theoretischen 1
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und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität« zu beschäftigen, welche Suche »ein, in seiner Absicht, ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung abzusonderndes Geschäfte ausmacht« (ebd., 16), und auch in der Kritik der praktischen Vernunft sollen lediglich die Prinzipien a priori für das Begehrungsvermögen »ausgemittelt« werden, um »hiedurch […] einer systematischen […] praktischen Philosophie, als Wissenschaft«, das Fundament zu legen (KpV, KW IV, 116) 3 . Gleichwohl gehen beide Werke inhaltlich über das Programm einer praktischen Fundamentalmetaphysik hinaus. Wie die verhältnismäßig ausführliche Diskussion der Beispielfälle in der Grundlegung und die weitaus knapperen Hinweise der Kritik der praktischen Vernunft zeigen, befasst sich Kant bereits hier mit den Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn die Praktikabilität des Sittengesetzes nicht nur postuliert, sondern in der Begründung konkreter Pflichten erwiesen werden soll. Die systematische Ausarbeitung dieser Beispielfälle zu einem, in eine Rechts- und Tugendlehre unterteilten, »moralischen Gesetzbuch« 4 behält er sich freilich für die spätere Metaphysik der Sitten von 1797 ausdrücklich vor 5. Ebenso wie die formale Herleitung des obersten (Bestimmungsund Beurteilungs-) Prinzips der Sittlichkeit unabhängig von empirisch-pragmatischen Überlegungen und anthropologischen Einschränkungen zu geschehen hat, wird von Kant auch für die Begründung einzelner moralischer Pflichten gefordert, »daß […] der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft« (Grundlegung, KW IV, 13) 6 . Beide Legitimationsprozesse sind für ihn Thema einer rationalen Moralphilosophie, und in diesem begründungstheoretischen Sinne gehört auch die Ableitung konkreter Pflichten für Kant durchaus zur Metaphysik 7 . So warnt er seine Leser immer wieder davor, die Gelsicher bestimmten Erkenntnis der Pflichten, sondern zugleich ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung ihrer Vorschriften.« 3 Vgl. auch die in der Vorrede formulierte Absicht einer Kritik der praktischen Vernunft: »Sie soll bloß dartun, daß es reine praktische Vernunft gebe« (KpV, KW IV, 107). 4 Paton 1962, S. 154. 5 Vgl. Grundlegung, KW IV, 52 Anm. sowie ebd., 15–17. 6 Vgl. etwa Grundlegung, KW IV, 13 f., 38 Anm., 39 f., 56, 63, 76, 82. 7 O. Höffe unterscheidet in diesem Zusammenhang eine »primäre Metaphysik« der Begründung des Sittengesetzes bzw. Kategorischen Imperativs von einer »sekundären
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tung sittlicher Pflichten »von der besondern Natur der menschlichen Vernunft abhängig zu machen«, da sie dann ihre Verbindlichkeit für alle vernünftigen Wesen verlören (ebd., 40); für das im Kategorischen Imperativ geforderte Gedankenexperiment der Verallgemeinerung sind gemäß Kants Selbstverständnis mithin keinerlei empirische Begründungsmomente zulässig. Kant ist darüber hinaus der Auffassung, dass die Beweislast, die mit der heuristischen Methode der Ermittlung des obersten praktischen Beurteilungskriteriums verbunden ist, gleichermaßen wichtig und anspruchsvoll ist, wohingegen die Methodenprobleme der Anwendung dieses Kriteriums auf konkrete Beispiele zwar ebenfalls wichtig, jedoch auch verhältnismäßig einfach zu bewältigen seien 8 . Entgegen der dominierenden Einschätzung seiner späteren Interpreten und Kritiker urteilt Kant, dass die Ableitung moralischer Pflichten »aus dem einigen angeführten Prinzip klar in die Augen fällt« (Grundlegung, KW IV, 54), dass es »leicht zu zeigen« sei, wie die »gemeine Menschenvernunft […] mit diesem Kompasse in der Hand, in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei« (ebd., 31), so dass etwa die »Beantwortung [der] Aufgabe, ob ein lügenhaftes Versprechen pflichtmäßig sei, auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art« zu erbringen sei (ebd., 29). Programmatisch fordert er, dass »man in der sittlichen Beurteilung immer nach der strengen Methode verfährt, und die allgemeine Formel des Kategorischen Imperativs zum Grunde legt: Metaphysik«, in der mithilfe des Verallgemeinerungsverfahrens moralische Pflichten fundiert werden; vgl. Höffe 1990a, S. 100 f. Vgl. auch Forschner 1983, S. 26 f., der im Sinne der letztgenannten »sekundären Metaphysik« von einer »speziellen Metaphysik« spricht. Kant selbst verwendet eine derartige Differenzierung im Bereich der Moralphilosophie nicht. Allerdings unterscheidet er in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft mit Bezug auf die Physik eine »allgemeine« bzw. den »transzendentale[n] Teil der Metaphysik« – deren wissenschaftstheoretischer Status auf dem Gebiet der Moralphilosophie eine reine ›Metaphysik der Sitten‹ entspräche – von einer »besondere[n] metaphysische[n] Naturwissenschaft«, der analogisch eine metaphysische Pflichtenlehre zuzuordnen wäre (vgl. MAN, KW V, 14). S. o. S. 33–35. 8 So schreibt Kant in der Vorrede zur Grundlegung: »Zwar würden meine Behauptungen, über diese wichtige und bisher bei weitem noch nicht zur Genugtuung erörterte Hauptfrage [nach der Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität, O. L.], durch Anwendung desselben Prinzips auf das ganze System, viel Licht, und, durch die Zulänglichkeit, die es allenthalben blicken läßt, große Bestätigung erhalten: allein […] die Leichtigkeit im Gebrauche [gibt] keinen ganz sicheren Beweis von der Richtigkeit desselben« ab (Grundlegung, KW IV, 16 f.). A
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handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann« (ebd., 70). Dementsprechend kann es für Kant keine moralischen Pflichten geben, die nicht durch das Gedankenexperiment der Verallgemeinerung als kategorisch verbindlich ausweisbar wären. Entsprechend Kants eigener Intention handelt es sich beim Kategorischen Imperativ also nicht lediglich um eine sich selbst genügende Beschreibung des obersten Moralprinzips, eine bloß formale Analyse dessen, was es heißt, »aus Pflicht« zu handeln, die ihre Erfüllung schon darin fände, das Resultat einer heuristisch einwandfreien Herleitung und Rechtfertigung zu sein. Als ein Beurteilungsprinzip findet er seine eigentliche Bestimmung vielmehr in nichts anderem als in seiner diagnostischen Tauglichkeit für die menschliche Handlungsorientierung, die sich in seiner erfolgreichen und korrekten Anwendung auf konkrete Handlungsmaximen erweist 9 . Man wird das begründungstheoretische Gewicht des Beispielkataloges der Grundlegung daher nicht unterschätzen dürfen 10 . Die Beispielfälle, die Kant im Zweiten Abschnitt erörtert, werden nicht nur zum Zwecke der Illustration gegeben; er bedient sich ihrer vielmehr ganz gezielt zur Erläuterung des ›Funktionswertes‹ des Kategorischen Imperativs. Sie sollen die systematischen Grundsteine einer umfassenden Theorie moralischer Pflichten legen (vgl. Grundlegung, KW IV, 55), deren formale Einteilung Kant noch in den beiden Teilbänden der Metaphysik der Sitten – freilich mit
Vgl. dazu Enskat 1990, S. 43–45. Diesen Gesichtspunkt betont auch O. Nell (mittlerweile: O. O’Neill): »I do not doubt the importance of justification, but I believe a principle which cannot help us act is not worth ›justifying‹. The first requirement for a refurbished Kantian ethics is to show the Categorical Imperative can help us solve some of the moral problems we all confront« (Nell 1975, S. VIII). Vgl. auch Schnoor 1989, S. 121 f. 10 Dies tut meines Erachtens H. J. Paton, wenn er gegen eine Überbewertung der »skizzenhaften Beispiele in der Grundlegung« kritisch einwendet, dass sich Kants »Methode der Anwendung [des Kategorischen Imperativs] nicht aufgrund einiger weniger Beispiele beurteilen [lasse], die nur zum Zwecke der Illustration gegeben werden« (vgl. Paton 1962, S. 154 f.; hier verw. Zitat ebd., S. 155). In der Geringschätzung des begründungstheoretischen Gewichts der Beispielfälle noch einen Schritt weiter als Paton geht dessen Schülerin M. Gregor, die behauptet, Kant sei in der Grundlegung, anders als in der späteren Metaphysik der Sitten, noch gar nicht in der Lage gewesen, ›adäquate Kriterien‹ anzugeben, anhand derer sich bestimmen ließe, welche Maximen man als allgemeines Gesetz wollen könne. Vgl. Gregor 1963, S. 20–22. Dazu kritisch Schnoor 1989, S. 122. 9
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grundlegenden verbindlichkeitstheoretischen Abweichungen 11 und unter Anbringung zusätzlicher dichotomischer Einteilungskriterien – bestätigt und rechtfertigt (s. u. Kap. 3.1) 12 . Sollte sich der Kategorische Imperativ bzw. das in ihm formulierte Verallgemeinerungsverfahren, das Kant in der Beispielsequenz der Grundlegung exemplarisch durchzuführen beansprucht, als geeignetes Legitimationskriterium für die Aufstellung und Begründung bestimmter materialer Pflichten erweisen, kann er als ein anwendbares Moralprinzip gelten 13 . Insofern ist an dem in den Beispielen vollzogenen Prüfverfahren tatsächlich abzulesen, was Kant in concreto mit dem Kategorischen Imperativ gemeint hat 14 . »Wenn nun aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der Pflicht, als aus ihrem Prinzip, abgeleitet werden können, so werden wir […] anzeigen können, was wir dadurch denken und was dieser Begriff sagen wolle« (Grundlegung, KW IV, 51). Das Verallgemeinerungsverfahren ist als ein Schema zu verstehen, das dazu dient, den Überlegungsrahmen zu kennzeichnen, den vollkommen vernünftige Personen ihren handlungsleitenden Motiven implizit zugrunde legen 15 . Kant veranschaulicht die Ableitung konkreter Pflichten in der Grundlegung durch vier beispielhafte Maximen, die er zweimal – anhand der sog. Naturgesetz-Formel sowie anhand der sog. SelbstzweckFormel – diskutiert. Die Funktionalität dieser beiden Formeln als »strenger Methoden« sittlicher Dijudication soll im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung ihres apriorischen Begründungsanspruches untersucht und bewertet werden.
Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, d. h. den dort thematisierten Bereich der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst und der unvollkommenen Pflichten, die nunmehr einem materialen, die bestimmten Zwecke der eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit gebietenden Prinzip unterstellt werden. Vgl. dazu Gregor 1990; Baum 2007 und Scholz 1972, S. 136–138. W. Kersting unterschlägt den tugendethischen Bereich der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst (vgl. Kersting 1983, S. 404). S. auch u. S. 164–168. 12 Vgl. dazu Höffe 1990a, S. 179–182; Brinkmann 2003, S. 212–218. 13 Höffe 2000, S. 209. 14 Vgl. Schöndorf 1985, S. 550. 15 Vgl. Rawls 2004, S. 24. 11
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2.1.1 Die Beispiele nach der ›Naturgesetz-Formel‹ Kant formuliert zunächst eine erste Variante des Kategorischen Imperativs, die von der oben zitierten Allgemeinen-Gesetzes-Formel abgeleitet ist und gemeinhin als ›Naturgesetz-Formel‹ bezeichnet wird: »handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte« (Grundlegung, KW IV, 51) 16 . Als eine subsidiäre Formel der zentralen Allgemeinen-GesetzesFormel hat die Naturgesetz-Formel die Aufgabe, die zu verallgemeinernde Handlungsmaxime »so viel sich tun läßt, der Anschauung zu nähern« (ebd., 70), das Universalisierungsverfahren mithin mithilfe einer »Analogie« (ebd., 69) gleichnishaft verständlich zu machen und dem Sittengesetz so »Eingang« zu verschaffen, d. h. den Handelnden zur Befolgung des Kategorischen Imperativs zu motivieren (ebd., 70) 17 . Praktische Vernunftgesetze und Naturgesetze beinhalten in einem unterschiedlichen Sinn den Geltungsmodus der Notwendigkeit und die durch sie hergestellte Allgemeinheit 18 . Während praktische Gesetze uns mit dem Anspruch normativer Verbindlichkeit begegnen und mit einer vernunftgezeugten, autonomen Allgemeinheit gelten, die noch keinerlei Gewähr dafür bietet, dass sie auch faktisch befolgt werden, wirken Naturgesetze mit einer heteronomen kausalen Notwendigkeit. Die durch Natur-Kausalität erzeugte Allgemeinheit von Ereignisabläufen verleiht Naturgesetzen den Charakter empirischer Regelstrukturen, »wornach Wirkungen geschehen« (ebd., 51). Zur Veranschaulichung des mit der Allgemeinen-Gesetzes-Formel Ausgesagten sollen wir durch die Naturgesetz-Formel demnach in einem Gedankenexperiment eine hypothetische Welt konstruieren – Kant hat dies in der Naturgesetz-Formel durch ein »als ob« zum Ausdruck gebracht –, in der wir uns unsere Maximen als ausnahmslose und unabLaut G. Scholz wird die Bezeichnung »Naturgesetz-Formel« eingeführt von K. Reich (Reich 1935, S. 35); vgl. Scholz 1972, S. 77 Anm. 17 Für die kontroverse Diskussion um das Verständnis der speziellen Formulierungen des Kategorischen Imperativs, ihr systematisches Verhältnis zueinander und ihre Rückbindung an die Grundformel des allgemeinen Gesetzes vgl. Wimmer 1982, insbes. S. 293–300; Schnoor 1989, S. 46–83 sowie Brinkmann 2003, S. 279–328. Die Bedeutung der Naturgesetz-Formel wird ausführlich diskutiert von Schnoor (ebd., S. 61–83). Zum Verhältnis der Natur- bzw. Allgemeinen-Gesetzes-Formel zur Selbstzweck-Formel vgl. auch unten Kap. 2.1.2. 18 Vgl. Wimmer 1982, S. 304. 16
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änderliche Naturgesetze vorstellen, nach denen jeder – in den von der Maxime spezifizierten Situationen – mit wirkursächlicher Naturnotwendigkeit und allgemeinbekanntermaßen handelt 19 . 19 Vgl. dazu auch Kersting 1983, S. 409 f.; Nell 1975, S. 66. Dagegen verstehen Paton 1962, S. 176–181; Geismann 2002, S. 389 und – mit Einschränkungen – Beck 1974, S. 155 f. unter Hinweis auf zu Kants Zeiten verbreitete Naturvorstellungen die Naturgesetz-Formel von vornherein teleologisch in dem Sinne, dass diese »in ihrer Brauchbarkeit für die Ableitung der von Kant problematisch angenommenen Pflichten durchweg abhängig [sei] von der Möglichkeit, die Natur als zweckvoll ausgerichtet auf gewisse Zwecksetzungsmöglichkeiten des Menschen zu betrachten« (so, die Ausführungen H. J. Patons präzisierend, Ebbinghaus 1968c, S. 146). Diese Deutungsversuche, auf die im Einzelnen einzugehen hier zu weit führte, können meines Erachtens nicht überzeugen. Wenn Kant sich bei der Anwendung der Naturgesetz-Formel teleologischer Argumente bedient – und er tut dies, wie sich zeigen wird, unabweislich nur bei der Begründung des Selbstmordverbotes –, dann ist dies nicht durch den Inhalt der Naturgesetz-Formel gefordert (vgl. Scholz 1972, S. 102; vgl. dazu auch die ausführliche Diskussion bei Schnoor 1989, S. 72–81 m. Anhang 37 und 38). Es ist unstrittig, dass in den Kantischen Anwendungsbeispielen des Kategorischen Imperativs Formulierungen vorkommen, die nicht mit wünschenswerter Klarheit zum Ausdruck bringen, dass eine Maxime im Sinne der Naturgesetz-Formel als striktes Naturgesetz vorgestellt werden muss. So könnte man im Falle der im Versprechens-Beispiel der Grundlegung formulierten Maxime – nach der jeder, der »in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten« (Grundlegung, KW IV, 53) – das »könne« als ein »dürfe« lesen, so dass man sich ein Gesetz vorzustellen hätte, wonach es jedem erlaubt wäre, in finanziellen Notsituationen falsche Versprechen zu machen. Und schon vor der Einführung der Naturgesetz-Formel untersucht Kant anhand der Allgemeinen-Gesetzes-Formel das »lügenhafte[.] Versprechen« ausgehend von der Frage: »würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein unwahres Versprechen tun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann?« (ebd., 29 f.; Hervorheb. v. m.). G. Scholz hat zudem auf eine Formulierung im Depositum-Beispiel der zweiten Kritik hingewiesen, in dem die zu prüfende Maxime – »mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern« – explizit in die Form eines Erlaubnisgesetzes gebracht wird: »Ich […] frage, ob […] ich wohl durch meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann« (KpV, KW IV, 136; Hervorheb. v. m.; vgl. Scholz 1972, S. 94). Ein Unterschied zwischen der Allgemeinen-Gesetzes-Formel und der Naturgesetz-Formel besteht also darin, dass jene die Vorstellung der zu prüfenden Maxime als Erlaubnisgesetz zulässt, wohingegen dies im Falle der Naturgesetz-Formel nicht möglich ist (Scholz 1972, S. 101). G. Scholz (ebd., S. 93–103), Chr. Schnoor (Schnoor 1989, S. 62–64 u. 110–113) und auch Th. W. Pogge (Pogge 2000, 172 f.) halten es für angemessener, dem Verallgemeinerbarkeitstest den deontischen Modus der Erlaubtheit zugrunde zu legen. Kant selbst fordert jedoch an verschiedenen Stellen – sowohl der Grundlegung (vgl. KW IV, 51, 71) als auch der Kritik der praktischen Vernunft (vgl. KW IV, 157, 188 f.) – ausdrücklich, dass wir bei
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Kant unterscheidet in der Grundlegung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Maximen, die gegen eine vollkommene Pflicht verstoßen, können nach Kant nicht »als allgemeines Naturgesetz gedacht werden« (Grundlegung, KW IV, 54 f.); bei Maximen, die einer unvollkommenen Pflicht widerstreiten, ist es zwar denkbar, dass sie »zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben« werden, jedoch können wir dies – so Kant – nicht »wollen«, »weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde« (ebd., 55) 20 . Da Kant das Kriteder Durchführung des Universalisierungstests unseren Maximen probeweise den kontrafaktischen Status allgemeingültiger Naturgesetze beilegen sollen. Dafür dass – wie es nach Kant letztlich der Fall sein müsste – dieser Unterschied für das Ergebnis der Anwendung der beiden Formeln belanglos ist, der Widerspruch, an dem die Illegitimität einer Maxime zu erkennen sein soll, in beiden Interpretationsvarianten mithin derselbe ist, spricht Kants verschiedenen Formulierungen zu entnehmende Behauptung, dass von der Erlaubtheit eines allgemeinen Gesetzes faktisch auch allgemein oder doch zumindest größtenteils Gebrauch gemacht würde (vgl. dazu insbesondere TL, KW IV, 589 f., wo Kant im Zusammenhang mit der Diskussion des Hilfsgebotes ausdrücklich die Erlaubnis zur Beistandsverweigerung und das tatsächliche Gebrauchmachen von ihr als für den Fortgang der Verallgemeinerungsüberlegung gleichwertig nebeneinander stellt; ähnlich eindeutig KpV, KW IV, 188 f.). Inwieweit diese Einschätzungen Kants legitim sind, kann hier nicht entschieden werden. Aber da die Überlegung, was geschähe, wenn es allen Personen erlaubt wäre, nach der eigenen Maxime zu handeln, keine kontrafaktischen Annahmen verlangt, verfehlt die ›Erlaubnis‹-Variante meines Erachtens einen substanziellen Grundzug der praktischen Konsistenzprüfung des Verallgemeinerungsverfahrens. Die von Kant in der Naturgesetz-Formel zum Ausdruck gebrachte »Analogie« (Grundlegung, KW IV, 69) zwischen der Geltung des Sittengesetzes und der empirisch ausnahmslosen Wirksamkeit von Naturgesetzen macht die hypothetische Annahme erforderlich, dass alle anderen Personen allein dadurch, dass ich will, dass sie nach meiner Maxime handeln, dies auch wirklich tun. Es gehört zu den kontrafaktischen Annahmen des Universalisierungstests, dass der Wille einer Person eine wirkursächlich gesetzgebende Kraft hat (so auch Brinkmann 2003, S. 191 f. m. Anm. 65; Wimmer 1982, S. 304). 20 Kant spricht im Falle von vollkommenen Pflichten auch von »strengen oder engeren (unnachlaßlichen)« Pflichten, im Falle der unvollkommenen Pflichten auch von »weiteren (verdienstlichen)« Pflichten (vgl. Grundlegung, KW IV, 55). Auf die lediglich in der Grundlegung – und auch hier nur andeutungsweise – erläuterte und in der Kantinterpretation umstrittene Bedeutung der mit der Pflichteneinteilung verbundenen Unterscheidung zweier Widerspruchsarten wird in der nachstehenden Diskussion der Kantischen Beispielfälle noch zurückzukommen sein. Im Gegensatz zum Kriterium des Nicht-Wollen-Könnens (vgl. Grundlegung, KW IV, 28, 51, 54 f., 58, 70 f.) finden sich zum Kriterium des Nicht-Denken-Könnens bemerkenswerterweise neben der programmatischen Unterteilung (ebd., 54 f.) keine weiteren Textbelege. Selbst in den beiden Beispielfällen für vollkommene Pflichten ist von einer Denkunmöglichkeit nicht mehr explizit die Rede. Anstelle dessen sagt Kant, vollkommenen Pflichten zuwiderlaufende
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rium des Nicht-Denken-Könnens als das engere ansieht, können Maximen, die nicht als Naturgesetz gedacht werden können, folglich auch nicht als ein solches gewollt werden 21 . Darüber hinaus müssen vollkommene Pflichten nach Kant »unnachlasslich […]«, d. h. ohne Abstriche befolgt werden (vgl. ebd., 52 Anm., 55), wohingegen unvollkommene Pflichten hinsichtlich der auszuführenden Handlungen »einen Maximen seien in der Form eines allgemeinen Naturgesetzes selbstwidersprüchlich und als Teil einer Naturordnung unmöglich (ebd., 52 f.). In seinen späteren moralphilosophischen Schriften, namentlich in der Kritik der praktischen Vernunft und in der Metaphysik der Sitten, scheint Kant die Unterscheidung zwischen einem Widerspruch im Denken und einem Widerspruch im Wollen aufgegeben zu haben, und zwar – wie G. Scholz (vgl. Scholz 1972, insbes. S. 77–80) gezeigt hat – »nicht zugunsten eines der Unterschiedenen, sondern so, daß sie beide der Sache nach zusammenfallen« (ebd., 80; vgl. dazu die Wendungen in KpV, KW IV, 125, 136, 140 und RL, KW IV, 331 f.). Ob Kant die Widerspruchsarten-Unterscheidung später sogar bewusst »als unhaltbar erkannt« hat – wie W. Kersting nachzuweisen versucht (vgl. Kersting 1983; hier verw. Zitat ebd., S. 406) – kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erörtert werden. Zur Ergiebigkeit der Überlegungen Kerstings vgl. Schnoor 1989, S. 297–300. 21 Diese entscheidende Pointe übersehen D. Schönecker und A. W. Wood mit ihrer als Kantisch in Anspruch genommenen, jedoch schon im Ansatz verfehlten »Korrespondenzthese« (vgl. Wood 1999b, S. 97–102; Schönecker/Wood 2004, S. 130 u. S. 137 f.), gemäß der – im Sinne einer ausschließenden Zuordnung – vollkommene Pflichten anhand eines Denkwiderspruchs und unvollkommene Pflichten durch einen Widerspruch im Wollen erkannt werden. Aufgrund dieser, dem eindeutigen Textbefund widersprechenden, exklusivistischen Fehldeutung der beiden Widerspruchsarten gelangen sie zu der Auffassung, dass die Kantische Unterscheidung vollkommener und unvollkommener Pflichten »nicht haltbar« sei, weil »es Maximen [gibt], deren Befolgung die Verletzung beider Pflichtarten implizieren könnte […], so dass aus der Tatsache, dass eine solche Maxime einen der beiden Tests nicht besteht (oder besteht), nicht gefolgert werden kann, dass die entsprechende Pflicht allein der dem Test zugeordneten Pflichtart angehört« (Schönecker/Wood 2004, S. 138). Dazu ist zweierlei zu bemerken: Erstens folgt aus Kants Feststellung, dass diejenigen Maximen, mit denen wir gegen unsere vollkommenen Pflichten verstoßen, als Naturgesetz nicht gedacht und damit erst recht nicht gewollt werden können, wohingegen wir die universelle Gültigkeit der Grundsätze, die unseren unvollkommenen Pflichten zuwiderlaufen, zwar denken, jedoch nicht wollen können, ja gerade, dass Handlungsmaximen, die gemäß dem Universalisierbarkeitskriterium im engeren Sinne illegitim sind (d. h. als allgemeines Naturgesetz nicht gedacht werden können), eo ipso auch gemäß dem erweiterten Universalisierbarkeitskriterium illegitim sind (d. h. als allgemeines Naturgesetz auch nicht gewollt werden können; vgl. Grundlegung, KW IV, 54 f.). Zweitens werden ethische Pflichten überhaupt nur dann unmittelbar »durch einen Maximentest erkannt« (Schönecker/Wood 2004, S. 130), wenn die der zu prüfenden Handlungsmaxime entgegengesetzte Maxime nicht verallgemeinerungsfähig ist (s. o. S. 57 f.; bei weitem nicht jede den Verallgemeinerungstest bestehende Handlungsmaxime ist deshalb schon sittliche Pflicht). A
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Spielraum der Anwendung« besitzen (TL, KW IV, 567 Anm.). Nach Kant reicht die konkrete Handlungsorientierung im Falle der »unnachlaßlichen« vollkommenen Pflichten daher weiter als bei den unvollkommenen Pflichten, denn im Unterschied zu diesen definieren jene genauer, worin für eine Person in einer bestimmten Situation die konkrete Handlung bzw. Unterlassung besteht, die durch die normative Vorgabe geboten ist. Aufgrund dieser Differenz sind für die Befolgung vollkommener und unvollkommener Pflichten unterschiedliche Funktionen einer erfahrungsbezogenen praktischen Urteilskraft sowie ein entsprechend unterschiedliches Maß an empirischen Kenntnissen notwendig. Für die Ausübung vollkommener Pflichten braucht es – so sind Kants Äußerungen wohl zu verstehen – eine »durch Erfahrung geschärfte[n] Urteilskraft« lediglich, um »zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben«, d. h. um im Sinne einer Subsumtion zu bestimmen, in welchen konkreten Entscheidungssituationen der Fall eines moralischen Gesetzes gegeben ist (Grundlegung, KW IV, 13 f.; KpV KW IV, 186 f.) 22 . Bei der situationsgerechten Umsetzung unvollkommener Pflichten hat praktische Urteilskraft darüber hinaus weiterreichende Interpretations- und Beurteilungsleistungen zu erfüllen, die ein reichhaltigeres Erfahrungswissen erfordern. Wie Kant in der Metaphysik der Sitten schreibt, ergeben sich auf dem Gebiet der Ethik »wegen des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet, unvermeidlich« kasuistische Problemstellungen, »welche die Urteilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei« (TL, KW IV, 543; Hervorheb. v. m.). Diese zusätzliche Aufgabe der Urteilskraft besteht nach Kant nun genauer darin, mit Blick auf eine bestimmte gesellschaftlich-geDiese Entscheidung mag im Falle der in der Grundlegung diskutierten Beispiele für vollkommene Pflichten keine großen Schwierigkeiten bereiten: Wer eingesehen hat, dass er niemals unehrliche Versprechen abgeben darf und dass (eine bestimmte Form der) Selbsttötung verboten ist, muss in einer konkreten Situation wohl nicht lange überlegen, ob und wie diese Pflichten anzuwenden sind. Dagegen kann es beispielsweise im Zusammenhang mit der Pflicht zur Erfüllung von Verträgen – einer vollkommenen (Rechts-) Pflicht, die Kant in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten diskutiert (vgl. RL, KW IV, 325, 383 ff.) – durchaus größerer Anstrengungen erfordern, um in einem erfahrungsbezogenen Beurteilungsprozess zu entscheiden, ob eine beabsichtigte Handlung bzw. Unterlassung als Anwendungsfall dieser Pflicht zu gelten hat, d. h. unter ihren Gegenstandsbereich zu subsumieren ist. So bildet etwa das Problem der Einordnung eines Sachverhaltes unter den Gegenstandsbereich einer Vertragsnorm den Streitpunkt in zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen.
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schichtliche Situation empirisch-pragmatische »Regeln der Klugheit« zu bilden oder gegebene Regeln zu beurteilen, mithilfe derer wir situationsabhängig entscheiden können, in welchem Maße und mit welchen Mitteln wir unvollkommenen Pflichten im Einzelfall nachkommen (vgl. TL, KW IV, 567 Anm., 543; Grundlegung, KW IV, 38 Anm.) 23 . Indem Kant die Einteilung der Pflichten in vollkommene und unvollkommene mit der Unterscheidung von »Pflichten gegen uns selbst und gegen andere Menschen« kombiniert (vgl. ebd., 52), gewinnt er vier Klassen von Pflichten. Jeden Pflichttyp erläutert er anhand je eines Beispieles und beansprucht, »so alle Pflichten, was die Art der Verbindlichkeit (nicht das Objekt ihrer Handlung) betrifft, […] in ihrer Abhängigkeit von dem einigen Prinzip vollständig aufgestellt« zu haben (ebd., 55). 2.1.1.1 Das Beispiel des unaufrichtigen Versprechens Das Maximenprüfverfahren soll zunächst am Beispiel des den Typ der ›vollkommenen Pflicht gegenüber anderen‹ exemplifizierenden unaufrichtigen Versprechens durchgeführt werden, da dessen – in Kants Bei23 Vgl. dazu Nisters 1989, S. 217–226; Höffe 1990a, S. 121–123; Forschner 1983, S. 32– 35; O’Neill 2004, S. 63; Strangas 1990. Angewendet auf Kants Beispiele in der Grundlegung bedeuten die oben vorgetragenen Überlegungen: In den Fällen des betrügerischen Versprechens und der Selbsttötung aus Lebensüberdruss sind – sofern die Subsumtion einzelner Handlungen unter diese Begriffe keine Schwierigkeiten bereitet – die Handlungen, die durch die entsprechenden Verbote ausgeschlossen werden, relativ genau bestimmt. Demgegenüber sind die Gebote der Kultivierung meiner Talente und der Hilfeleistung für Notleidende zwar auch für jedermann verpflichtend; sie können aber nur einen allgemeinen Grundriss für bestimmte Absichten und Handlungsschemata als moralisch auszeichnen, dessen nähere Regelbestimmung und konkrete Ausgestaltung situationsabhängig variiert und der erfahrungsvermittelten praktischen Urteilskraft überlassen bleibt. Kant hat die beiden in der Grundlegung genannten Unterscheidungsmerkmale von vollkommenen bzw. unvollkommenen Pflichten, d. h. die Unterscheidung zweier Widerspruchsarten sowie die ihnen korrespondierende Differenzierung unterschiedlicher Verbindlichkeitsgrade, ebenso wenig erläutert, wie er sie aufeinander bezogen hat (vgl. Kersting 1982, S. 187 f.; Nisters 1989, S. 17–19 m. Anm. 3; Horn/Mieth/Scarano 2007, S. 239–241). In der Pflichtentypologie der Metaphysik der Sitten (s. u. Kap. 3.1) wird u. a. der Umstand betont, dass vollkommene Rechtspflichten der Art und dem Grade nach genau bestimmte Handlungen vorschreiben bzw. verbieten, während unvollkommene Tugendpflichten nur Maximen zur Pflicht machen und, was die äußeren Handlungen angeht, »der Befolgung […] einen Spielraum […] für die freie Willkür« offenlassen (TL, KW IV, 520, 543).
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spielkatalog an zweiter Stelle erörterte – Verbotsbegründung zum Paradebeispiel für die Anwendung des Kategorischen Imperativs avanciert ist 24 . Dies liegt wohl nicht zuletzt darin begründet, dass die im Detail kontrovers diskutierte Struktur des Verallgemeinungsverfahrens sich an ihm besonders gut rekonstruieren lässt. Über das falsche Versprechen hat Kant bereits im Ersten Abschnitt der Grundlegung – also noch vor Einführung der Naturgesetz-Formel sowie der Pflichteneinteilung mit ihren beiden Widerspruchsarten – behauptet, »daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, oder, wenn sie es übereilter Weise täten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine Maxime, so bald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse« (Grundlegung, KW IV, 30) 25 .
Im Zweiten Abschnitt schreibt Kant, die Maxime, »wenn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen, und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen«, könne »niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen« (ebd., 53). Vielmehr müsse sie sich in der Geltungsform eines allgemeinen Naturgesetzes »notwendig widersprechen« (ebd.). Aber worin genau besteht der vorgeblich aufgedeckte Widerspruch? Gerade im Hinblick auf die exakten Bezugspunkte des behaupteten Widerspruchs sind die Formulierungen Kants keineswegs klar und präzise. Dass er zudem die im vorliegenden Beispiel einer vollkommenen Pflicht zu erweisende Denkunmöglichkeit des falschen Versprechens
Vgl. Nisters 1989, S. 65. Kant untersucht an dieser Stelle (Grundlegung, KW IV, 29 f.) das lügenhafte Versprechen im Allgemeinen, d. h. ohne jede Angabe über den Gegenstand des Versprechens. Obwohl Kant in dem eigentlichen Anwendungsbeispiel des Zweiten Abschnitts der Grundlegung sogar einen besonderen Fall von Versprechen – den der Darlehensaufnahme mit dem »Vorsatz«, das dabei gegebene Rückzahlungsversprechen »nicht zu halten« (ebd., 53) – diskutiert, macht die von ihm angeführte, sich auf den Glaubwürdigkeitsverlust als solchen beziehende Argumentation deutlich, dass Kant legitimationsstrategisch das allgemeine Lügenverbot im Blick hat. Die nicht näher bestimmte finanzielle Notlage (vgl. ebd. 52 f.) bzw. das »Gedränge« (ebd., 29), in der sich der Promittent befindet, bleibt letztlich ebenfalls ohne Auswirkungen auf den Gang und das Ergebnis der Argumentation.
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nicht näher erläutert, hat unterschiedlichen Interpretationen der Anwendungsweise des Kategorischen Imperativs bzw. der daraus gegebenenfalls resultierenden Art der Widerspruchsgenese Vorschub geleistet. Weitgehender Konsens herrscht zunächst nur hinsichtlich der Annahme, dass der vermeintliche Denkwiderspruch sich weder bereits in der singulären Maxime, für sich genommen, noch im daraus entwickelten allgemeinen Naturgesetz als solchen, sondern erst in der Beziehung der beiden Sätze bzw. Sachverhalte zueinander ergeben kann. Der eine Bezugspunkt wäre demnach im Bereich der partikularen Maxime bzw. einzelnen maximengemäßen Handlung zu suchen, der andere im Bereich der zum allgemeinen Gesetz universalisierten Maxime bzw. im durch die Verallgemeinerungsüberlegung imaginierten Zustand der naturgesetzlichen Maximengeltung 26 . Unmoralisch im Sinne eines Verstoßes gegen eine strenge Pflicht wäre eine Maxime bzw. die ihr gemäße Handlung entsprechend Kants Selbstverständnis’ dann, wenn sie bei ihrer (kontrafaktisch unterstellten) naturgesetzlich-allgemeinen Praxis undenkbar würde. Um dieses anspruchsvolle Beweisziel zu erreichen, führt Kant im vorliegenden Beispiel folgende Argumentation an: »[D]ie Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag 27 , selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, daß ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung, als eitles Vorgeben, lachen würde« (Grundlegung, KW IV, 53; Hervorheb. v. m.).
Offensichtlich lassen sich in dieser knappen Passage zwei Begründungslinien voneinander unterscheiden: a) Für das Verbot der Lüge soll zum einen entscheidend sein, dass im Falle der naturgesetzlichen Geltung der Maxime, vorsätzlich Versprechen zu brechen (bzw. zu lügen), die soziale Institution ›Versprechen‹ – von der in einem dieser Maxime gemäßen Handeln gerade Gebrauch gemacht wird – unmöglich (d. h. notwendig zerstört) wird, weil keinem (mehr) geglaubt würde. So vertritt Kant auch an anderer Stelle
Vgl. Hoerster 1974, S. 462 f.; Nisters 1989, S. 21–24; Schnoor 1989, S. 118, 133. Aus diesen beiden Gesichtspunkten kann die Unterscheidung zwischen einer ›logischen‹ und einer ›praktischen‹ Widerspruchsinterpretation gewonnen werden (s. u.). 26 27
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die These, dass es im Falle der Geltung eines solchen allgemeinen Gesetzes zu lügen »gar kein Versprechen geben« könnte (ebd., 30). b) Zum anderen nennt er den Gesichtspunkt der Zweckvereitelung, aus dem ein Widerspruch im Denken erwachsen soll: ›Versprechen‹ ist eine Sprechhandlung, die den Zweck hat, eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Diese besteht allgemein darin, beim Versprechensempfänger eine vertrauensvolle Erwartung hervorzurufen, die ihn zu einem spezifischen prognostizierbaren Verhalten – im vorliegenden Fall des Darlehensrückzahlungsversprechens: der Geldleihe – motiviert. Die möglicherweise widerspruchträchtige Folge der allgemeinen Geltung einer Maxime des lügenhaften Versprechens wäre dann, dass der Zweck der Maxime von ihrem Inhaber nicht mehr erreicht werden könnte. Ausgehend von dieser Doppelung der Konsequenzen, die sich laut Kant aus der hypothetischen Verallgemeinerung der zu prüfenden Maxime ergeben, kann man – grob gesprochen – zwischen einer ›logischen‹ und einer ›praktischen‹ Interpretation des allfällig zu erwartenden Widerspruchs unterscheiden28 . Wie sich zeigen wird, besteht ein für die vorliegende Untersuchung entscheidendes differenzierendes Merkmal dieser beiden wohl plausibelsten Interpretationsansätze des Maximentests 29 darin, in welchem Maße und insbesondere auf welche Weise sie empirische Informationen sowie möglicherweise auch teleologische Deutungsmuster in ihre Argumentation einbeziehen. Neben der argumentativen Schlüssigkeit des Begründungszusammenhangs soll im Folgenden daher der epistemische Status der für die jeweilige Diese Bezeichnungen gehen ursprünglich zurück auf Korsgaard 1996, S. 78. Allerdings lassen sich in der nahezu unüberschaubaren Literatur zum Kantischen Beispielfall des unaufrichtigen Versprechens für jeden der beiden Typen zahlreiche Interpretationen finden, die sich in Details teilweise stark unterscheiden und hinsichtlich ihrer Plausibilität nicht gleichermaßen gewichtig sind; zudem gibt es ein weites Spektrum an Mischformen von Deutungsmöglichkeiten der Widerspruchsgenese, die Elemente verschiedener Typen verwenden. Um einen Überblick über die geradezu uferlose Kasuistik der Interpretationsvarianten der einzelnen Beispielfälle zu ermöglichen, hat man in der Literatur immer wieder den Versuch unternommen, ein systematisierendes Ordnungsschema zu erstellen (vgl. Korsgaard 1996, insbes. S. 78; Herman 1993, S. 132–158; Nisters 1989, S. 16–82; Brinkmann, insbes. S. 193–203; Timmons 2006, insbes. S. 194–196; Horn/Mieth/Scarano 2007, S. 231–239). Die folgende Gegenüberstellung der zwei genannten Interpretationstypen erhebt nicht den Anspruch, die äußerst facettenreiche Forschungsdiskussion vollständig zu erfassen. 29 So urteilt auch Timmons 2006, S. 182. 28
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Widerspruchsgenese relevanten Zusatzinformationen genauer erörtert und überprüft werden, ob und gegebenenfalls inwiefern deren Verwendung im Universalisierbarkeitstest dem apriorischen Begründungsanspruch der Kantischen Ethik zuwiderläuft. Allerdings ist in diesem Zusammenhang darauf zu achten, dass man – unabhängig von der untersuchten Deutungsvariante des Verallgemeinerungsverfahrens – die antiempiristischen Grenzen nicht enger zieht als Kant selbst. Wie die Untersuchung der Eingangsparagrafen der Kritik der praktischen Vernunft gezeigt hat, verläuft die formale Herleitung des Sittengesetzes argumentationslogisch erfahrungsfrei 30 . Zwar mussten mit der Einführung des Pflichtbegriffes und des sich daran anschließenden Begriffs des Kategorischen Imperativs empirische ›Hindernisse‹ der Gefühle, Neigungen und Leidenschaften, denen ihr Adressatenkreis unterworfen ist, erwogen werden; anthropologisch spezifizierte Bestimmungen mussten dabei aber nicht vorausgesetzt werden. Von der Fundierung des Kategorischen Imperativs unterscheidet Kant nun dessen Applikation zur Begründung konkreter moralischer Pflichten. Während jene Fundierung lediglich den nicht-reinen Begriff eines endlichen bzw. natürlichen Vernunftwesens voraussetzte, muss für die Anwendung des Kategorischen Imperativs auf konkrete Handlungsmaximen ein spezifischeres Mehr an empirischem Wissen in Anspruch genommen werden. »[A]lle Moral [bedarf] zu ihrer Anwendung auf Menschen der Anthropologie« (Grundlegung, KW IV, 40): »[D]enn die besondere Bestimmung der Pflichten, als Menschenpflichten […], ist nur möglich, wenn vorher das Subjekt dieser Bestimmung (der Mensch), nach der Beschaffenheit, mit der er wirklich ist, […] erkannt worden« ist (KpV, KW IV, 113; Hervorheb. v. m.) 31 . Demgegenüber darf aber die eigentliche Legitimation der durch den Verallgemeinerungstest begründeten Pflichten niemals »von der besondern Natur der menschlichen Vernunft abhängig« sein, »weil moralische Gesetze
30 Für diesen rein metaphysischen Teil der Kantischen Moralphilosophie gilt die strenge Reinheitsforderung R. Bittners, wonach »eine reine Moralphilosophie eine solche [ist], die weder direkt noch indirekt auf empirische Sätze gebaut ist; die also keinen empirischen Satz unter all ihren Gründen, Gründesgründen usw. hat« (Bittner 2000, S. 17). 31 Im Fortgang dieses Zitates schränkt Kant dieses bemerkenswerte Zugeständnis an die empirische Anthropologie jedoch wieder weitgehend ein: Kenntnisse von der Natur des Menschen seien für die Pflichtbestimmung erforderlich, »obzwar nur so viel als in Beziehung auf Pflicht überhaupt nötig ist« (ebd.).
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für jedes vernünftige Wesen überhaupt gelten sollen« (Grundlegung, KW IV, 40). Wie sind diese Äußerungen zu verstehen? Auch wenn in einer »Metaphysik der Sitten«, wie sie in der Grundlegung konzipiert wird, nicht »die Handlungen und Bedingungen des menschlichen Wollens« untersucht werden sollen (ebd., 15), so ist doch das spezifisch menschliche Wollen schon aus illustrativen Gründen der einzige und somit paradigmatische Ausgangspunkt, von dem aus die methodische Fundierung sittlicher Pflichten exemplarisch veranschaulicht werden kann – und zwar deshalb, »weil wir von vernünftigen, nicht irdischen Wesen keine Kenntnis haben, um ihre Eigentümlichkeit angeben […] zu können« (Anthropologie, KW VI, 672; vgl. auch KdU, KW V, 558, 598) 32 . Insofern ist es auch keineswegs verwunderlich, dass in die Beispielfälle eine Fülle von – freilich hochgenerellem – Empiriewissen über die Natur des Menschen Eingang findet. Da die Erfahrung uns bislang nicht mit einer anderen Spezies partial rationaler Naturwesen bekannt gemacht hat, besitzt Kants Projekt der beispielhaften Anwendung des Kategorischen Imperativs zur Begründung einzelner Pflichten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Problem eines Biologen, der eine phylogenetische Theorie über eine natürliche Gattung verifizieren möchte, von der nur eine einzige Art überlebt hat. Anhand dieser einzelnen Spezies versucht der Naturwissenschaftler nun, die Charakteristika ihrer Gattung näher zu bestimmen. Aber da die Eigenschaften gerade dieser Spezies im Hinblick auf ihr Genus ver-
Vgl. O’Neill 1989a, S. 68: »To illustrate the duties of (finite) rational beings as such Kant has to offer examples chosen from the case of the only species of rational being with which we are acquainted.« In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft schreibt Kant mit Bezug auf die »allgemeine Metaphysik der Natur«: »Es ist auch in der Tat sehr merkwürdig (kann aber hier nicht ausführlich vor Augen gelegt werden), daß die allgemeine Metaphysik in allen Fällen, wo sie Beispiele (Anschauungen) bedarf, um ihren reinen Verstandesbegriffen Bedeutung zu verschaffen, diese jederzeit aus der allgemeinen Körperlehre, mithin von der Form und den Prinzipien der äußeren Anschauung hernehmen müsse, und [andernfalls] unter lauter sinnleeren Begriffen unstet und schwankend herumtappe. […] Und so tut eine abgesonderte Metaphysik der körperlichen Natur der allgemeinen vortreffliche und unentbehrliche Dienste, indem sie Beispiele (Fälle in concreto) herbeischafft, die Begriffe und Lehrsätze der letzteren (eigentlich der Transzendentalphilosophie) zu realisieren, d. i. einer bloßen Gedankenform Sinn und Bedeutung unterzulegen« (vgl. MAN, KW V, 23 f.). Für eine aus heuristischen Gründen sinnvolle Parallelisierung von Metaphysik der (körperlichen) Natur und Metaphysik der (menschlichen) Sitten vgl. oben S. 33–35. 32
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hältnismäßig untypisch sein könnten, veranlassen den Biologen seine Erkenntnisse möglicherweise zu unzulässigen Verallgemeinerungen 33 . Kant hat diese Problematik grundsätzlich durchaus erkannt, wenngleich er die empirischen Implikationen der exemplarischen Durchführung des Maximentests in der Beispielediskussion der Grundlegung nicht systematisch reflektiert, ja im Zusammenhang mit der dortigen Pflichtenableitung gänzlich unerwähnt gelassen hat. So schreibt er – ohne auf das hier diskutierte Beispiel des unaufrichtigen Versprechens explizit Bezug zu nehmen – am Ende seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: »Es könnte wohl sein: daß auf irgendeinem anderen Planeten vernünftige Wesen wären, die nicht anders als laut denken könnten, d. i. im Wachen wie im Träumen, sie möchten in Gesellschaft oder allein sein, keine Gedanken haben könnten, die sie nicht zugleich aussprächen. Was würde das für ein von unserer Menschengattung verschiedenes Verhalten gegen einander abgeben?« (Anthropologie, KW VI, 688 f.)
Letztere Frage lässt sich nur spekulativ und sehr vage beantworten: Sicherlich wäre die verbale Lüge, darüber hinausgehend vermutlich auch die vorsätzliche Täuschung im Allgemeinen – zumindest aber die unmittelbare Täuschung von Angesicht zu Angesicht – für moralische Subjekte unter den genannten Umständen unmöglich. Kant erkennt mit diesem Gedankenexperiment implizit an, dass ethische Prinzipien – wie die Pflicht zur subjektiven Wahrhaftigkeit interpersonalen Handelns – für spezifisch verschiedene vernunftbegabte Naturwesen in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Handlungsfähigkeit auch unterschiedliche Konsequenzen haben können. Im Hinblick auf unseren Beispielfall sagt Kant an anderer Stelle explizit: »daß Menschen aus Interesse lügen können«, d. h. überhaupt vor der Alternative stehen, ehrlich oder unehrlich zu sein, wissen wir »nur durch Erfahrung« (vgl. Logik, KW III, 533) – nämlich nur aufgrund der empirisch-kontingenten Tatsache, dass Menschen nicht laut denken: »Es gehört also schon zur ursprünglichen Zusammensetzung eines menschlichen Geschöpfs und zu seinem Gattungsbegriffe: zwar Anderer Gedanken 33 Vgl. O’Neill 1989a, S. 68. Während dem Naturwissenschaftler zur Bestätigung seines Befundes in derartigen Fällen aber meist evolutionstheoretische Erkenntnisse, etwaige Fossilienfunde o. ä. zur Verfügung stehen, kann der am vernünftigen Willensbegriff interessierte Moralphilosoph auf vergleichbares empirisches Wissen nicht zurückgreifen (vgl. ebd., S. 69).
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zu erkunden, die seinigen aber zurückzuhalten; welche saubere Eigenschaft denn so allmählig von Verstellung zur vorsetzlichen Täuschung, bis endlich zur Lüge fortzuschreiten nicht ermangelt« (Anthropologie, KW VI, 689).
In einer Untersuchung der argumentationslogischen Struktur des Universalisierbarkeitsverfahrens muss mithin auch zwischen dem Verallgemeinerungsverfahren selbst und den erfahrungsabhängigen Handlungsmaximen, auf die es angewendet wird, unterschieden werden 34 . Für die Bildung von Maximen sind basale empirische Kenntnisse darüber erforderlich, welche prinzipiellen Handlungsmöglichkeiten ihren Inhabern zur Erreichung selbst gesetzter Zwecke zur Verfügung stehen. Erfahrungswissen wird nicht erst gebraucht, um geeignete Mittel zur Verwirklichung von Zwecken zu bestimmen; es ist schon unentbehrlich für die willkürliche Setzung von subjektiven Zwecken überhaupt. Die für den vorliegenden Beispielfall des falschen Versprechens zu prüfende Handlungsmaxime ist darüber hinaus auch in dem Sinne erfahrungsvermittelt, dass sie die faktische Geltung der regelhaften Verwendungspraxis des Versprechensbegriffs voraussetzt. Vorausgesetzt wird von Kant nämlich eine Sprachgemeinschaft, in der allgemein ein Mindestmaß an Vertrauen gegenüber der bestehenden sozialen Institution ›Versprechen‹ herrscht, so dass die illokutionäre Abgabe eines Versprechens überhaupt dazu geeignet ist, bei ihrem Empfänger eine bestimmte intendierte Wirkung hervorzurufen 35 . Der Kreditbetrüger nimmt also mit seinem unehrlich abgegebenen Rückzahlungsversprechen die vorausgesetzten bzw. konventionell akzeptierten sprachlichen Verwendungsregeln des Versprechensbegriffs in Anspruch: Er beruft sich selbst offen auf eine tatsächlich bestehende soziale Institution, die er stillschweigend verletzt. 36 Bei all diesen Voraussetzungen handelt es sich aber nicht um von außen zu der zu prüfenden Maxime hinzukommende empirische Prämissen, sondern sie werden von dem Handelnden selbst zugleich mit seiner Handlungsabsicht wissend impliziert. Die Erfordernis derartiger Kenntnisse gilt für jede vorstellbare Spezies rationaler Naturwesen, denn auch dann, wenn der nach Kant für alle sinnlich ›verführbaren‹ Brinkmann 2003, S. 172. Dies macht Kant selbst deutlich durch den Hinweis auf die prinzipielle Möglichkeit ganz anderer Reaktionen als der bezweckten – etwa das von ihm am Ende seiner Fallerörterung genannte ›Lachen über ein eitles Vorgeben‹ (vgl. Grundlegung, KW IV, 53). 36 Vgl. dazu Schnoor 1989, S. 149 f. 34 35
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Vernunftwesen apodiktisch verbindliche Kategorische Imperativ zur Begründung sittlicher Pflichten auf nicht-menschliche rationale Naturwesen angewandt würde, ginge in die Bildung ihrer Maximen ein entsprechendes artspezifisches Wissen über die Kommunikationsbedingungen und konfligierenden Handlungsmöglichkeiten dieser moralischen Subjekte ein, das nur empirisch bestimmbar wäre 37 . Da die in den Kantischen Beispielfällen zu prüfenden Handlungsmaximen also praktisch-zwangsläufig mit Blick auf die ›conditio humana‹ und die durch sie vorgezeichneten Fähigkeiten formuliert sind, können sie von jeder Person adaptiert werden, die aufgrund ihrer natürlichen Veranlagung über die betreffenden elementaren Handlungsmöglichkeiten menschlichen Lebens verfügt und folglich in spezifischen Situationstypen einen optional offenen Handlungskonflikt durch einen Willensentschluss entscheiden kann. Wie an dem hier erörterten Beispiel deutlich wird, beziehen sich die in Maximen enthaltenen empirischen Anwendungsbedingungen auf anthropologische Situationskonstanten 38 , die – im Unterschied zu den empirisch-kontingenten Charakteristika einer spezifischen Ethnie, Kultur, sozialen Schicht oder Geschlechtszugehörigkeit 39 – zumindest für jeden Menschen jederzeit zutreffen Vgl. Louden 2000, S. 12 f. Vgl. Forschner 1983, S. 29, 39. 39 Vgl. dazu TL, KW IV, 607: Die von der »Verschiedenheit der Beschaffenheit der Menschen, oder ihrer zufälligen Verhältnisse, nämlich der des Alters, des Geschlechts, der Abstammung, der Stärke oder Schwäche, oder gar des Standes und der Würde« abgeleiteten Pflichten können »nicht Prinzipien der Verpflichtung der Menschen als solcher gegen einander« sein, »und können also von den metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre eigentlich nicht einen Teil abgeben«. In einem analogen Sinne bedient sich die Philosophie auch im Bereich der »Metaphysik der körperlichen Natur« »keiner besonderen Erfahrungen, sondern nur dessen, was sie im abgesonderten (obzwar an sich empirischen) Begriffe selbst antrifft« (vgl. MAN, KW V, 16 f.). Eben darin unterscheidet sich für Kant die philosophische Anthropologie von der »Physischen Geographie«, die »den Menschen nach der Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Eigenschaften und dem Unterschiede desjenigen, was an ihm moralisch ist, auf der ganzen Erde« betrachtet und auf diese Weise »eine große Karte des menschlichen Geschlechts vor Augen legt« (vgl. Nachricht, KW I, 915 f.). In der philosophischen Anthropologie bedeutet »Menschenkenntnis« dagegen vorrangig »Generalkenntnis«, die die Lebenserfahrung des Menschen als solchem umfassen soll: »Die Generalkenntnis geht hierin immer vor der Lokalkenntnis voraus, wenn jene durch Philosophie geordnet und geleitet werden soll: ohne welche alles erworbene Erkenntnis nichts als fragmentarisches Herumtappen und keine Wissenschaft abgeben kann« (vgl. Anthropologie, KW VI, 400). Als Leitfaden für eine solche »Generalkenntnis« dient Kant seine Vermögenstheorie. Sie garantiert als ein allgemeines Schema »die Vollständigkeit der Titel, unter wel37 38
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oder zutreffen können. Sie bezeichnen fundamentale Eigenschaften und Möglichkeiten des menschlichen Wesens, die für dessen Handlungsfähigkeit eine nicht substituierbare Bedeutung besitzen 40 . J. Harrison hat die darüber hinausgehende Auffassung vertreten, dass Kants Behauptung – die zu einem Naturgesetz verallgemeinerte Maxime, Versprechen nicht einzuhalten, widerspreche sich selbst, weil unter diesen Voraussetzungen niemandem mehr vertraut würde – von Annahmen über »kontingente« Eigenheiten menschlichen Verhaltens abhängig ist 41 . So sei es vorstellbar, dass man sich in einer Welt, in der jedermann unter schwerem Gedächtnisverlust leidet 42 bzw. (von Natur aus) nur über ein kurzes Erinnerungsvermögen verfügt 43 , immer wieder von neuem täuschen ließe, so dass das universale Gebrauchmachen von lügenhaften Versprechen nicht zwangsläufig dazu führe, dass man diesen keinen Glauben mehr schenke 44. Dieser (selbst empirisches Wissen über die Handlungssubjekte voraussetzende) Empirismuseinwand hat aber – ähnlich wie das von Kant selbst imaginierte Gedankenexperiment eines von vernünftigen Wesen bewohnten Planeten, »die nicht anders als laut denken könnten« (Anthropologie, KW VI, 688 f.) – keine gravierende Bedeutung, da derartige Wesen die hier zu prüfende Maxime vermutlich gar nicht bilden bzw. adoptieren könnten. Denn versteht man unter Maximen sich in die Zukunft erstreckende, mithin temporale Allgemeinheit besitzende subjektive Lebensregeln (vgl. unten S. 155–57, Anm. 167), dann sind durch wesenhaften Gedächtnisverlust charakterisierte Handlungssubjekte, die in ihrer Wahrnehmung nur in einer sehr kurzen Zeitspanne (im Falle einer besonders stark ausgeprägten Amnesie gar in einem ›ewigen Moment‹) leben, zu gar keiner Maximenbildung fähig. Dementsprechend würde das von Harrison vorgestellte ›Universum‹ eine fundamentale Rationalitätsbedingung verletzen. Denn es ist fraglich, ob wir im Falle einer universalen, zu unserer natürlichen Bestimmtheit gehörenden Amnesie,
che diese oder jene menschliche, ins Praktische einschlagende, beobachtete Eigenschaft gebracht werden kann« (ebd., 402). Vgl. dazu weiterführend Hinske 1966, S. 415–418. 40 Vgl. Höffe 1990a, S. 111; Forschner 1983, S. 30; Pogge 2000, S. 177 f. 41 Vgl. Harrison 1969a, S. 216 f. 42 Harrison 1969a, S. 217. 43 Vgl. Harrison 1969b, S. 250. 44 Ebd.; gleichermaßen argumentiert neuerdings – allerdings ohne Verweis auf Harrison – Timmons 2006, S. 173.
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mithin im Falle eines prinzipiellen Verlustes der Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, überhaupt noch als vernünftige Wesen anzusehen wären 45 . Während also für die Bestimmung einer Maxime und das Verständnis der in ihnen enthaltenen Begriffe empirische Informationen hoher Allgemeinheitsstufe erforderlich sind, darf eine Entscheidung darüber, welche der alternativen Handlungsmaximen in einer ethischen Konfliktsituation verpflichtend ist, gemäß Kants Selbstverständnis jedoch keinesfalls von der Wahrheit empirischer Prämissen abhängen. Diese, die eigentliche moralische Verbindlichkeit ausmachende Entscheidung muss vielmehr rein rational und insoweit metaphysisch über den Universalisierungstest erfolgen 46 . Falls also alle Personen – die sich in ihrem äußeren Verhalten aus Interesse verstellen können und daher der Alternative ›ehrlich oder aber unehrlich‹ ausgesetzt sind –, wenn sie nur unaufrichtige Versprechen abgeben, »das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen« (Grundlegung, KW IV, 53), dann darf dabei der Ausdruck »unmöglich machen« nach Kant keine empirische Beziehung bezeichnen 47 . Aus dem bislang ermittelten Analysebefund ergibt sich für den weiteren Verlauf der Erörterung des Kantischen Beispielkataloges folgender Zwischenstand der Argumentation: 1.) Die in der Vorrede der Grundlegung programmatisch geforderte Säuberung der Moralphilosophie von allen empirischen Elementen trifft für Kants formale Herleitung des Sittengesetzes zu; dort ist sein Anspruch in der Tat erfüllt. 2.) Kants strikte Reinheitsforderung betrifft nicht (unbedingt) das in der Durchführung des Verallgemeinerungsverfahrens verwendete Ausgangsmaterial: Die in Maximen einfließende Beschreibung von Handlungsmöglichkeiten und Kommunikationsbedingungen impliziert zwangsläufig empirisch-anthropologische Prämissen und Kenntnisse 48. Die durch das Prinzip einer universalen Gesetzlichkeit des Wollens zu begründenden sittlichen Erlaubnisse, Verbote und Gebote sollen mithin – so muss man Kants Forderung präzisieren – in dem
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Vgl. auch Rapic 2007, S. 414 f. Vgl. Höffe 1990a, S. 204. Vgl. dazu auch Pogge 2000, S. 179. Vgl. Brinkmann 2003, S. 175. So auch Freudiger 1992, S. 22; Höffe 2000, S. 212 und Brinkmann 2003, S. 173. A
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Sinne a priori verbindlich sein, dass sie notwendig und allgemein für alle Vernunftwesen gelten, die von ihnen betroffen sein können 49 . 3.) Wenn überhaupt, dann kann der Kategorische Imperativ im Singular wie im Plural ein im strengen Sinne reines Apriori nur in seinem Verbindlichkeitsgrund besitzen, der – insofern er zugleich den Beweggrund, d. h. das Motiv für dessen Befolgung, ausmacht – die sinnlichen Bedürfnisse und Interessen des Willenssubjektes transzendiert. Ob das in seinem Geltungsumfang derart eingeschränkte strikte Reinheitsgebot tatsächlich für das formale Verallgemeinerungsverfahren als ein »von empirischen Elementen freies Vernunftprinzip« bzw. a fortiori auf die daraus resultierende Verbindlichkeitserkenntnis aufrechtzuerhalten ist 50 , muss freilich noch überprüft werden. Die hier zum Ausdruck kommenden verschiedenen Reinheitsforderungen 51 sind von Kant in seinen ethischen Schriften weder deutlich Dieses epistemologische Verständnis von Apriorität scheint mir konsistent zu sein mit den bereits diskutierten (vgl. oben S. 32 f.) Ausführungen Kants zu Beginn der Kritik der reinen Vernunft (vgl. KrV B 2 f. Für einen ganz ähnlichen Sprachgebrauch des Begriffes ›a priori‹ vgl. auch Frieden, KW VI, 245). Mit dieser Auffassung folge ich Cramer 1985. Sie wird auch vertreten von Freudiger 1993, S. 22, Ricken 2000, S. 251 f. und Pogge 2000, S. 178, Anm. 50 Diesen Standpunkt vertritt Höffe 1977, S. 372. Vgl. auch Höffe 1990a, S. 120: »Im kategorischen Imperativ […] beschränkt sich das rein rationale Moment, der Grund der Verbindlichkeit, auf die Verallgemeinerung. Die beiden anderen Elemente dagegen, schon der Imperativcharakter (›Handle nach … !‹) und noch deutlicher der Gegenstand der Verallgemeinerung (›nach … Maximen‹), hängen von einer Erfahrung ab.« Wenige Seiten später stellt O. Höffe kritisch gegen Kant fest: »Wer Rechts- und Tugendpflichten begründen will, muss den kategorischen Imperativ mit anthropologischen Elementen vermitteln« (ebd., 123). Allerdings finden sich auch in den Kategorischen Rechtsprinzipien Höffes noch zumindest missverständliche Formulierungen, etwa wenn er nur zwei Seiten zuvor schreibt: »Auf der ersten Stufe [der Anwendung des Kategorischen Imperativs; O. L.] werden mithilfe der Verallgemeinerung moralische Pflichten begründet, beispielsweise das Hilfsgebot.« Auf dieser »ersten Stufe« lasse Kant »keinerlei empirische Kenntnisse zu« (ebd., S. 121). Es bleibt offen, ob Höffe Kant in dieser Auffassung sachlich zustimmt. 51 Die von Kant für seine Ethikkonzeption (der Grundlegungsschriften) beanspruchten ›Reinheitsgrade‹ lassen sich zusammenfassend folgendermaßen differenzieren: 1.) Das allgemeine Sittengesetz bringt als eine Idee der reinen praktischen Vernunft deren oberstes Prinzip zum Ausdruck, dessen formale Herleitung ohne Bezug auf empirische Zusammenhänge erfolgt und dessen universale Gültigkeit für alle vernunftbegabten handlungsfähigen Wesen als solche, d. h. unabhängig von sinnlichen Bedürfnissen und Neigungen für jeden möglichen Willen, angenommen werden muss. 2.) In der präskriptiven Form einer unbedingten Forderung, d. h. als Kategorischer Im49
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genug herausgestellt noch systematisch angemessen gewürdigt worden. In der Einleitung in die Metaphysik der Sitten gesteht er zwar durchaus zu, dass die Moralphilosophie »oft die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstande nehmen« müsse. Sie dürfe dies aber lediglich in einem philosophisch nachgeordneten Sinne tun, wenn es darum gehe, »die Folgerungen aus den allgemeinen moralischen Prinzipien zu zeigen, ohne daß jedoch dadurch der Reinigkeit der letzteren etwas benommen, noch ihr Ursprung a priori dadurch zweifelhaft gemacht wird« (RL, KW IV, 321). Abgesehen davon, dass unklar bleibt, worin dieses »Zeigen« bestehen soll, wird durch diese Forderung der metaphysische Charakter der Ethik Kants überbewertet; gleichzeitig unterschätzt sie das begründungstheoretische Gewicht empirischen Wissens 52. Denn empirischanthropologische Elemente sind, wie wir gesehen haben, bereits für die Maximenfindung und d. h. den Begründungszusammenhang einzelner moralischer Prinzipien bzw. Gesetze unverzichtbar. Da diese Informationen die grundlegenden intersubjektiven Anwendungsbedingungen des als moralisches Beurteilungskriterium dienenden Sittengesetzes auf die typischen Handlungskonflikte und lebensweltlichen Widerfahrnisse des Menschen definieren, bilden sie in systematischer Zusammenführung eine praktische bzw. moralische Anthropologie. Diese entspricht inhaltlich allerdings nicht Kants eigenem, perativ der Pflicht, gilt das Sittengesetz für alle mit einem Willen begabten vernünftigen Wesen, »auf die nur überall ein Imperativ treffen kann […] und allein darum auch für allen menschlichen Willen« (Grundlegung, KW IV, 56). Der Kategorische Imperativ impliziert die Bezugnahme auf den empirisch vermittelten Begriff eines endlichen und bedürftigen Vernunftwesens, das aufgrund der seinen Willen affizierenden sinnlichen Natur Wünsche und Neigungen besitzt, die ausschließen, dass es notwendig vernünftig handelt. 3.) Als ein praktisches Beurteilungsprinzip von Maximen für die Begründung konkreter moralischer Pflichten stellt der Kategorische Imperativ die ›conditio humana‹, d. h. die grundlegenden lebensweltlichen Bedingungen und Handlungsfähigkeiten des Menschen, in Rechnung. Da wir die humanen Lebensumstände letztlich nur aus Erfahrung kennen, fließt in die Bestimmung und Adaption der dem moralischen Dijudikationsverfahren zugrunde liegenden Handlungsmaximen hochgenerelles anthropo-relationales Empiriewissen ein. 4.) Die den eigentlichen moralischen Verbindlichkeitsgrund erzeugende Entscheidung darüber, welche der alternativen Handlungsmaximen in einer ethischen Konfliktsituation verpflichtend ist, hat nach Kants Anspruch erfahrungsunabhängig durch eine rein rationale Prüfung des formalen Verallgemeinerungsverfahrens zu erfolgen. 52 Ähnlich urteilt auch Paton 1962, S. 19. A
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vorwiegend moralpädagogischen und motivationspsychologischen Verständnis des von ihm selbst so genannten empirischen Theorieteils der praktischen Philosophie, den er programmatisch als das systematische Komplementärstück einer reinen Moralphilosophie einführt und der »nur die subjektive[n] […] Bedingungen« zu untersuchen habe, die die »Ausführung« der bereits als für sich begründet vorausgesetzten konkreten Pflichtgesetze begünstigen oder aber behindern (vgl. RL, KW IV, 322; s. o. S. 17–20.) 53 . Nicht als subsidiäres »GegenKant ist für sein konzeptuelles Verständnis der praktischen Anthropologie als des empirischen Teils der Moralphilosophie heftig kritisiert worden. Bereits H. J. Paton erhebt den Vorwurf, Kant spreche zumindest in einer »unklaren Weise« »von angewandter Ethik«: Während angewandte Ethik im eigentlichen Sinne sich beschäftigen müsse »mit moralischen Gesetzen und moralischen Vorschriften, die sich dann ergeben, wenn wir die obersten moralischen Prinzipien auf die besonderen Bedingungen der menschlichen Natur anwenden«, werde dieser Begriff von Kant primär »gebraucht für eine besondere Art moralischer oder praktischer Psychologie (oder, wie er es nennt, Anthropologie), die sich mit den Bedingungen befaßt, die das moralische Leben begünstigen oder hindern. […] Es besteht jedoch kein Grund, weshalb wir eine derartige Psychologie für praktisch halten sollten; sie ist eine theoretische Untersuchung der Ursachen von bestimmten, moralisch wünschenswerten Wirkungen. Noch weniger liegt ein Grund vor, weshalb wir sie mit Kant als eine Art angewandter oder empirischer Ethik ansehen sollten« (Paton 1962, S. 20). Patons Äußerungen lassen sich zwei Kritikpunkte entnehmen: 1.) Kant hat nicht hinreichend berücksichtigt, dass anthropologische Prämissen in die Begründung konkreter Pflichten eingehen. 2.) Die wissenschaftliche Disziplin, die Kant als den empirischen Teil der Ethik bezeichnet, gehört nach Paton nicht zur Ethik. Im Sinne dieses zweiten Vorwurfs urteilt auch M. Gregor: »Applied or empirical ethics is, for Kant, ›practical or moral anthropology‹, a discipline which, assuming that we know what our duties are, studies ›only the subjective conditions which hinder or help the following of the laws of the first [i. e. of pure ethics] in human nature‹ […]. But the fact that moral anthropology is of use to us in fulfilling the moral law and imparting it to others does not make it a part of ethics […]. [T]he precepts derived from practical anthropology […] do not prescribe duties: they seem rather to be hypothetical imperatives prescribing, under the assumption that we know our duties and want to fulfil them, the means by which we can use nature most effectively to this end. Moral anthroplogy is, then, not ethics but rather a sort of psychology […]« (vgl. Gregor 1963, S. 8). Kant selbst scheint dieser Kritik an einer Stelle der Grundlegung paradoxerweise zumindest teilweise Recht zu geben. Er schreibt: »In einer praktischen Philosophie, wo es uns nicht darum zu tun ist, Gründe anzunehmen, von dem, was geschieht, sondern Gesetze von dem, was geschehen soll […]: da haben wir nicht nötig, über die Gründe Untersuchung anzustellen […], wie das Vergnügen der bloßen Empfindung […] von einem allgemeinen
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stück«, sondern als originärer Bestandteil stellt die hier skizzierte moralische Anthropologie ein integrales Element der Fundamentalethik Kants dar 54. M. Gregor ist mithin in ihrem Urteil zuzustimmen, dass Wohlgefallen der Vernunft unterschieden sei; worauf Gefühl der Lust und Unlust beruhe, und wie hieraus Begierden und Neigungen, aus diesen aber, durch Mitwirkung der Vernunft, Maximen entspringen; denn das gehört alles zu einer empirischen Seelenlehre, welche den zweiten Teil der Naturlehre ausmachen würde, wenn man sie als Philosophie der Natur betrachtet, so fern sie auf empirischen Gesetzen gegründet ist« (vgl. Grundlegung, KW IV, 58; vgl. auch KrV A 54 f., B 79; KdU, KW V, 175–178). In der Vorrede zur Grundlegung sowie in der oben zitierten Stelle der Metaphysik der Sitten wird die praktische Anthropologie jedoch auch mit derartigen Aufgaben betraut und gleichwohl als empirischer Teil der Ethik verstanden, den Kant ausdrücklich von der ›Naturlehre‹ abgrenzt. Zu der Frage, ob Kants moralische Anthropologie dem Bereich der praktischen oder theoretischen Philosophie zugeordnet werden muss, vgl. die von mir geteilten Einschätzungen bei Louden 2000, S. 16–19. 54 Vgl. Höffe 1990a, S. 104; Wood 1999b, S. 193–196 u. S. 383–386. Die Möglichkeit und Notwendigkeit eines empirischen Teils der Ethik, der sich als »praktische Anthropologie« von dem reinen »rationalen« Teil der »Metaphysik der Sitten« unterscheidet, ergibt sich, wie wir sahen, für Kant dadurch, dass die Moralphilosophie dem Willen des Menschen, sofern er durch die Natur affiziert wird, die praktischen Gesetze, »nach denen alles geschehen soll«, »auch mit Erwägung der Bedingungen, unter denen es öfters nicht geschieht«, »bestimmen muß« (vgl. Grundlegung, KW IV, 11; Hervorheb. v. m.). Diese Stelle in der Vorrede zur Grundlegung lässt sich dahingehend interpretieren, als gehöre es auch zur Aufgabe der praktischen Anthropologie, die Bedingungen ausfindig zu machen, die es erlauben, einzelne moralische Gesetze (konkrete Pflichten) überhaupt erst für den Menschen zu begründen. Unterstützung scheint diese Lesart durch einige Bemerkungen zu finden, die Kant in den Nachschriften seiner Ethikvorlesungen zugeschrieben werden. So heißt es in der von Georg Ludwig Collins (unmittelbar vor der Veröffentlichung der Grundlegung) angefertigten Nachschrift von Kants Ethik-Vorlesung des Wintersemesters 1784–85: »Die Wißenschaft der Regel, wie der Mensch sich verhalten soll, ist die practische Philosophie, und die Wißenschaft der Regel des wirklichen Verhaltens ist die Anthropologie; diese beide Wißenschaften hangen sehr zusammen, und die Moral kann ohne die Anthropologie nicht bestehen, denn man muß das Subject erst kennen, ob es auch im Stande ist, das zu leisten, was man von ihm fordert, das es thun soll. Man kann zwar die practische Philosophie wohl erwegen auch ohne die Anthropologie oder ohne die Kentniß des Subjects, allein denn ist sie nur speculative, oder eine Idee; so muß der Mensch doch wenigstens hernach studiert werden. Es wird immer geprediget was geschehen soll, und keiner denkt daran ob es geschehen kann […]. Daher muß man den Menschen kennen, ob er auch das thun kann, was man von ihm fordert« (AA XXVII, 244; vgl. auch Moral Mrongovius I, AA XXVII, 1398). Eine bemerkenswert ähnliche Auffassung findet sich auch in den Anthropologienachschriften. So heißt es in der ebenfalls im Wintersemester 1784–85 angefertigten NachA
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Kants »references to empirical or applied ethics […] do not really fulfil our expectations« 55 . Ohne dass Kant dies ausdrücklich unternimmt, müssen bei der ›Anwendung‹ des Kategorischen Imperativs grundsätzlich zwei Ebenen unterschieden werden 56 , denen ein jeweils anderes Verständnis von ›angewandter Ethik‹ entspricht 57 : schrift des Mrongovius: »Die Anthropologie ist pragmatisch dienet aber zur Moralischen Kentniß des Menschen denn aus ihr muß man die Bewegungsgründe zur Moral schöpfen und ohne sie wäre die Moral scholastisch und auf die Welt gar nicht anwendbar und derselben nicht angenehm« (AA XXV, 1211). Und in dem Eröffnungsteil der bereits ein Jahrzehnt zuvor (im Winter 1775–76) entstandenen Friedländer-Nachschrift lesen wir: »Der Mensch aber, das Subject muß studirt werden, ob er auch das praestiren kann, was man fordert, das er thun soll. Die Ursache, daß die Moral und Kanzelreden, die voll Ermahnungen sind, in denen man niemals müde wird, weniger Effect haben, ist der Mangel der Kenntniß des Menschen. Die Moral muß mit der Kenntnis der Menschheit verbunden werden.« (AA XXV, 471 f.). Zudem merkt Kant selbst in seinem späteren Aufsatz »Über den Gemeinspruch« an: »[E]s würde nicht Pflicht sein, auf eine gewisse Wirkung unsers Willens auszugehen, wenn diese nicht auch in der Erfahrung (sie mag nun als vollendet, oder der Vollendung sich immer annäherend gedacht werden) möglich wäre; und von dieser Art der Theorie ist in gegenwärtiger Abhandlung nur die Rede« (Gemeinspruch, KW VI, 129). Im Unterschied dazu betont Kant jedoch an zahlreichen Stellen seiner Druckschriften, dass die Bestimmung einzelner sittlicher Gesetze und Pflichten ausdrücklich ohne jegliche Rücksicht auf empirisch-anthropologische Voraussetzungen zu erfolgen habe (vgl. etwa Grundlegung, KW IV, 13 f., 38 Anm., 40, 56 f., 76, 82 f.; vgl. auch RL, KW IV, 319; KrV A 54 f., B 79; ein weiteres Indiz für die Forderung nach Anthropologiefreiheit der Pflichtenbegründung bieten die Textstellen, an denen Kant die Anwendung des Kategorischen Imperativs als »Ableitung« von Pflichten aus diesem bezeichnet; vgl. Grundlegung, KW IV, 51, 54, 61). Da er die moralische bzw. praktische Anthropologie als eigenständige systematische Wissenschaft in seinen Schriften nicht expliziert, ihre Problemstellungen und ihren theoretischen Status innerhalb der praktischen Philosophie – insbesondere ihre Systembeziehung zur reinen »Metaphysik der Sitten« – mehr andeutet als ausführt, muss letztlich unklar bleiben, in welchem präzisen Sinne gemäß seinem Selbstverständnis empirisches Wissen über den Menschen bei der Ableitung konkreter Pflichten ausgeschlossen werden soll. Vgl. auch Schönecker/Wood 2004, S. 31–37, Paton 1962, S. 8. 55 Vgl. Gregor 1963, S. 7. 56 Vgl. für eine solche Unterscheidung bereits Arnoldt 1894, S. 352–354. 57 Vgl. [1] und [2] in nachstehendem Zitat: »… alle Moralphilosophie beruht gänzlich auf ihrem reinen Teil, und, auf den Menschen angewandt [1], entlehnt sie nicht das mindeste von der Kenntnis desselben (Anthropologie), sondern gibt ihm, als vernünftigem Wesen, Gesetze a priori, die freilich noch durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft erfordern, um
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1.) Auf einer ersten Anwendungsstufe werden anhand des Universalisierungsverfahrens des Kategorischen Imperativs einzelne moralische Pflichten begründet. Eine in diesem Sinne »auf den Menschen angewandt[e]« Ethik (Grundlegung, KW IV, 13) befasst sich also mit einer Theorie moralischer Gesetze und Pflichten, die sich laut Kant dann ergeben, wenn wir das oberste moralische Prinzip auf den »allgemeinen Begriff« eines sinnlich affizierbaren »vernünftigen Wesens« anwenden (vgl. ebd., 40, vgl. auch ebd., 13, 16) 58 . Die von Kant wiederholt betonte programmatische Forderung, auf dieser ersten Stufe dürfe der Kategorische Imperativ keinerlei empirische Informationen voraussetzen 59 , lässt sich – wie exemplarisch anhand des unehrlichen Versprechens gezeigt wurde – nicht einlösen. Allerdings sind allgemeine moralische Pflichten in Abhängigkeit von der ihnen eigentümlichen »Art der Verbindlichkeit« (ebd., 55) mehr oder weniger unterbestimmt in Bezug auf die konkreten Handlungen derjenigen Personen, die sie befolgen (s. o. S. 86–89) 60 . 2.) In einem zweiten Sinne spricht Kant daher von ›Anwendung‹ zur Bezeichnung der situationsgerechten Konkretisierung ethischer Pflichten unter den besonderen, historisch und individuell variierenden Lebensumständen der menschlichen Natur (vgl. Grundlegung, KW IV, 14, 40; RL, KW IV, 321 f.; TL, KW IV, 543, 567 Anm.; KrV A 54 f., B 79). Das in dieser Bedeutung gebrauchte Verb ›anwenden‹ stellt mithin eine urteilende Vermittlung der abstrakten ethischen Norm mit der konkreten Situation des Handlungssubjektes dar. Die so verstandene, der »praktischen Anthropologie« im Kantischen Sinne entsprechende ›angewandte Ethik‹ bedarf der Leistung und Kultivierung einer »durch Erfahrung geschärfte[n] Urteilskraft […], um teils zu unterteils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung [2] haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen« (Grundlegung, KW IV, 13 f.). 58 Empirische Kenntnisse beschränken sich hier auch nicht auf das Wissen, das »in Beziehung auf [den] Pflicht[begriff] überhaupt nötig ist«; vielmehr ist für »die besondere Bestimmung der Pflichten, als Menschenpflichten,« ein Wissen um die »Beschaffenheit« der »menschliche[n] Natur« (vgl. KpV, KW IV, 113) und ihrer Kommunikationsbedingungen unerlässlich. 59 Vgl. die zusammengetragenen Belegstellen oben in Anm. 54. 60 Kant überschätzt die dem Kategorischen Imperativ eigene Handlungsorientierung mitunter – etwa wenn er in der Kritik der praktischen Vernunft pauschal erklärt, dass die in der Grundlegung aufgestellte Formel »das, was zu tun sei […], ganz genau bestimmt und nicht verfehlen lässt«; vgl. KpV, KW IV, 113 Anm.) A
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scheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen«, d. h. »sie in seinem Lebenswandel in concreto wirksam zu machen« (Grundlegung, KW IV, 13 f.; s. o. S. 88 f.) 61 . Zusammenfassend lässt sich in Anlehnung an H. J. Paton gegen Kants zu enges Verständnis der praktischen Anthropologie als »auf die menschliche Natur« »angewandte[r]« Ethik (Grundlegung, KW IV, 38 Anm.) einwenden: Die ›Anwendung‹ des Kategorischen Imperativs im doppelten Wortsinne der Begründung und Ausführung von einzelnen ethischen Gesetzen und Pflichten hängt »nicht nur von einer Psychologie ab, die speziell auf die Bedingungen beschränkt wird, die das moralische Leben fördern oder hindern, sie hängt auch von einer allgemeinen Psychologie als einer Erkenntnis der menschlichen Natur ab« 62 . Denn die Fundierung konkreter moralischer Pflichten anhand des Universalisierungsverfahrens des Kategorischen Imperativs wäre »ohne empirische Kenntnis sowohl der menschlichen Natur wie auch der Welt, in der wir leben, unmöglich, und je mehr derartige empirische Kenntnis wir haben, umso besser werden wir richtige moralische Urteile fällen können. Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß die Kenntnis moralischer Prinzipien [nämlich des Sittengesetzes und der besonderen moralischen Gesetzen] etwas ganz anderes ist als empirische Psychologie und sich auch nicht aus empirischer Psychologie ableiten läßt« 63 .
a) Die ›logische‹ Widerspruchsinterpretation Kehren wir nun also zurück zu der umstrittenen Interpretation des Denkwiderspruchs, der sich einstellen soll, wenn die Maxime des falschen Versprechens zum Naturgesetz erhoben würde. Gemäß der ›logischen‹ Widerspruchsinterpretation hat Kant bei der Anwendung des Kategorischen Imperativs auf den Beispielfall des lügenhaften Versprechens einen (begriffs)logischen Widerspruch im Blick: Unmoralisch wäre eine Handlung demnach dann, wenn sie selbst im Falle ihrer uniVgl. dazu Nisters 1989, S. 217–226; Höffe 1990a, S. 121–123; Forschner 1983, S. 28– 32; Pogge 2000, S. 178; Louden 2000, S. 10–16. 62 Vgl. Paton 1962, S. 20. 63 Ebd. Paton fährt fort: »[E]s läßt sich vieles für die Ansicht anführen, daß es eine große Hilfe zum Verständnis seiner Moralphilosophie gewesen wäre und diese in gewisser Hinsicht näher bestimmt hätte, wenn er [Kant] eine detaillierte, vernünftige Philosophie des Handelns vorgelegt hätte« (ebd., S. 21). Vgl. auch Gregor 1963, S. 6–11; Wood 1991, insbes. S. 326. 61
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versalen Praxis undenkbar würde. Die Vertreter dieser Deutung bemühen sich also um den Nachweis, dass eine Handlung nach der Maxime, unter bestimmten Bedingungen (in finanziellen Notsituationen) unehrliche Versprechen abzugeben, von einer sozialen Institution (Versprechen) Gebrauch macht, die im Falle der naturgesetzlichen Geltung der Maxime aus begrifflichen Gründen, mithin prinzipiell, unmöglich würde. Es ginge also darum zu zeigen, dass es durch ein solches »allgemeines Gesetz zu lügen […] gar kein Versprechen geben« könnte (Grundlegung, KW IV, 30), da »die Allgemeinheit eines Gesetzes, daß jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, […] das Versprechen […] selbst unmöglich machen« würde (ebd., 53). Folgt man diesen Ausführungen, dann verlangt das Gedankenexperiment des Universalisierungstests, die zu prüfende Maxime als für alle gültiges Handlungsgesetz so zu denken, dass sie das Nichterfülltsein der hauptsächlichen Bedingung ihres Möglichseins als auch nur für einen Einzelnen gültige Regel– und damit ihre vollständige Zerstörung – impliziert 64 . Wie die zitierten Textstellen belegen, lässt sich dafür, dass Kant den Nachweis eines solchen analytischen Widerspruchs intendiert hat, philologisch korrekt argumentieren. So hat insbesondere J. Kemp in seiner Erwiderung auf J. Harrisons Auslegung der Kantischen Beispiele mit Nachdruck die Auffassung vertreten, dass der Ausdruck »unmöglich machen«, der die Beziehung zwischen der Maxime und dem sich bei ihrer Verallgemeinerung einstellenden Zustand bezeichnet, eine »logical or quasi logical, not causal consequence« bedeuten müsse: »The argument has the effect of a reductio ad absurdum. If […] there were a universal law to this effect, then there would not be and never have been any promises […]. Hence it has contradictory implications – i. e. it is self contradictory.« 65
Kemp behauptet demnach nicht den wirkursächlichen, prozessualen Zusammenbruch der Praxis des Versprechens für den Fall, dass alle Versprechen unehrlich sind, sondern er will zeigen, dass es mit analytiVgl. Schnoor 1989, S. 137. Vgl. Kemp 1969, S. 236–239 (hier verw. Zitat ebd., S. 238). Der Auffassung Kemps, dass der Ausdruck »unmöglich machen« keine kausale, sondern eine analytische, logische oder wenigstens quasi-logische Beziehung bezeichnet, folgen u. a. Wood 1972, hier insbes. S. 616; Hoerster 1974, hier insbes. S. 463; sehr ausführlich Schnoor 1989, S. 138– 152 und Schönecker/Wood 2004, S. 134 f. 64 65
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scher Notwendigkeit keine Versprechen geben könne, wenn alle Versprechen unehrlich wären. »People might have used the expression ›I promise‹, but they could not (logically) have used it for the purpose of making a promise; for you cannot (again logically) make a promise if nobody will believe you. Although you could say ›I promise to repay the money‹, it would be only a statement of intention, not a promise, which requires the existence of a promisee as well as a promisor.« 66
Diese Interpretation sieht sich aber mit mindestens zwei Problemen konfrontiert 67 . 1.) Ein erster Einwand hat den Charakter eines argumentum ad hominem und kritisiert den epistemischen Anspruch der Argumentationsweise Kemps. Denn es stellt sich die Frage, ob er in seiner Deutung des Widerspruchs auch wirklich alle kausalen Verknüpfungen durch begriffliche Implikationen ersetzt hat. Kemp setzt in seiner Argumentation die Beziehung zwischen den Sachverhalten, dass alle Versprechen unaufrichtig sind und dass keinem Versprechen mehr geglaubt wird, voraus. Er müsste also gemäß seiner eigenen Demonstrationsabsicht erklären können, dass und warum es begriffslogisch unmöglich ist, einem Versprechen zu glauben, wenn alle Versprechen naturgesetzlich unehrlich sind. Aber genau dieser Zusammenhang ist nicht analytisch zwingend (»logical or quasi logical«). Aus der Verallgemeinerung der Maxime, zur Verwirklichung eines selbstgesetzten Handlungszwecks unaufrichtig zu versprechen, folgt ja zunächst nur die Vorstellung, dass alle Personen lügenhafte Versprechen abgeben, wenn sie glauben, so ihr Ziel erreichen zu können. Unter den o. g. empirischen Bedingungen (s. o. S. 95–99) griffe dann auch zweifellos ein allgemeiner Vertrauensschwund platz. Das Versprechen als Strategie hätte praktisch keinerlei Erfolgsaussichten. Aber der Übergang von einem Zustand, in dem alle Versprechen unehrlich sind, zu dem Zustand, in dem keinem Versprechen Glauben geschenkt würde, kann nur wirkursächlich unter der Voraussetzung empirischer Hintergrundannahmen erklärt werden. 2.) Der zweite Einwand betrifft den von Kemp behaupteten »Effekt«, dass »there would not be and never have been any promises«, wenn die Maxime unehrlichen Versprechens naturgesetzlich gälte. Denn warum soll es in einer Welt ohne gegenseitiges Vertrauen nicht Kemp 1969, S. 238, Anm. 17. Die nachstehende Argumentation erfolgt in Anlehnung an Harrison 1969b, S. 250 f.; Brinkmann 2003, S. 175–179 und Rapic 2007, S. 415–418.
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prinzipiell möglich sein, dass eine Aussage im Sinne eines Versprechens verstanden wird? Oder anders formuliert: Warum und inwiefern bildet die Tatsache, dass einem Versprechen aufgrund der gängigen Praxis seiner aufrichtigen Abgabe geglaubt wird, ein analytisches Bedeutungselement des Begriffs ›Versprechen‹ ? Im Unterschied etwa zu einer Wette, die eine Annahme durch einen zweiten Sprecher bzw. Hörer begrifflich voraussetzt, scheint das Versprechen doch auch allein mit Bezug auf einen Sprecher definierbar zu sein 68 . Demnach könnte ein Versprechen auch dann noch als solches verstanden werden, wenn der Hörer es nicht akzeptiert bzw. ihm keinen Glauben schenkt. Jedenfalls erlaubt uns die gegenwärtig gültige Semantik des Begriffs, von einem ›leeren‹ oder ›bloßen Versprechen‹ zu reden. Auch Kant scheint ein derartiges Begriffsverständnis in Betracht zu ziehen, wenn er in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten präziser von der Pflicht spricht, dass »angenommene Versprechen gehalten werden müssen« (vgl. RL, KW IV, 325; Hervorheb. v. m.) Doch selbst wenn sich dieses Problem sprachtheoretisch durch Rekurs auf den ›korrekten‹ Gebrauch im Sinne des ursprünglichen, kindlichen Spracherwerbs des Begriffes ›Versprechen‹ lösen ließe und man einräumt, dass es durch einen allgemeinen Wortbruch in der Folge der sprachlichen Tradierung zu einem Bedeutungswandel des Versprechensbegriffs käme 69 , hätte dies nicht zwangsläufig zur Konsequenz, dass wir keinen Sprechakt mehr vollziehen könnten, der bislang als ›Versprechen‹ in der ursprünglichen Wortbedeutung bezeichnet wurde. Um eine Handlung im Sinne eines Versprechens nachdrücklich anzukündigen, könnten wir uns nach wie vor Formulierungen wie »bestimmt/gewiss/sicherlich/in jedem Fall werde ich XY tun« bedienen. Derartige Wendungen würden bei der allgemeingesetzlichen Gültigkeit der Maxime, vorsätzlich Versprechen zu brechen, ja keineswegs aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwinden, da sie auch der Bekräftigung von Wahrheitsansprüchen dienen 70 . Aus dem Sachverhalt, dass alle Versprechen unaufrichtig sind, folgt analytisch daher weder, dass es keine Praxis des Versprechens mehr gibt, noch ergibt sich daraus die zwingend notwendige Kon68 Diese Möglichkeit wird von J. Kemp jedoch von vornherein und ohne jede Begründung ausgeschlossen (s. o.). 69 Vgl. Hoerster 1974, S. 464. 70 Vgl. Rapic 2007, S. 417.
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sequenz, dass es begrifflich unmöglich würde, ein Versprechen zu formulieren. Wenden wir uns also dem zweiten, von Kant allem Anschein nach als gleichwertig eingestuften Gesichtspunkt der Zweckverfehlung zu, die sich im Falle des naturgesetzlich lügenhaften Versprechens einstellen soll. b) Die ›praktische‹ Widerspruchsinterpretation Die Auffassung, die das Verallgemeinerungsverfahren des Kategorischen Imperativs generell als eine Probe auf praktische Widersprüche versteht, wird – jedenfalls in der angloamerikanischen Kantliteratur – auch als »the standard view« bezeichnet 71 . Der Kernpunkt der Argumentation besteht nach dieser Deutung immer in dem Aufweis, dass entweder genau die mit der Handlungsmaxime intendierte Zweckverwirklichung (wie die Geldleihe im Beispiel des lügenhaften Versprechens) oder überhaupt die Realisierung fundamentaler und unaufgebbarer Ziele der handelnden Person (wie im 3. und 4. Beispiel, s. u.) praktisch vereitelt würden, wenn jeder nach der (aus diesem Grund) unmoralischen Maxime handelt 72 . Da hier also Widersprüche nur über Handlungszwecke ermittelt werden können, betont dieser Interpretationsansatz die zentrale Bedeutung von Zwecken im Maximenbegriff 73. Und tatsächlich ist der inhaltlich unbestimmte Handlungszweck, die materiale Zielsetzung, für Kant ein notwendiges formales Bestimmungselement einer jeden vernünftigen Handlung, ohne das sie nicht eindeutig beschreibbar ist: »Alle Maximen haben […] eine Materie, nämlich einen Zweck« (Grundlegung, KW IV, 69 f.), denn eine Maxime annehmen heißt, sich selbst zu einer Handlung bestimmen, indem man sich einen Zweck setzt 74 . Gleichwohl verdankt ihr potentieller sittlicher Wert sich – gemäß Kants ethischen Grundlegungsschriften – niemals Vgl. Steinberger 1999, insbes. S. 94. Exponenten dieser Deutungsrichtung sind Hoerster 1974; Nell 1975, S. 59–93; O’Neill 1989b, S. 96–98 u. S. 131–135; Enskat 1990, S. 55–58; Korsgaard 1996, S. 78 u. S. 92–101 und Rawls 2004, S. 22–32. Vgl. zum Folgenden die kritischen Diskussionen dieses Interpretationstyps bei Nisters 1989, S. 25– 31 u. S. 55–68; Herman 1993, S. 136–143; Brinkmann 2003, S. 198 f.; Schönecker/Wood 2004, S. 133 f.; Timmons 2006, S. 182, 196; Rapic 2007, S. 412–428 und Horn/Mieth/ Scarano 2007, S. 233–238. 72 R. Wimmer hat den so verstandenen Universalisierbarkeitstest treffend als »transzendentalpragmatisches Konsistenzkriterium« bezeichnet (vgl. Wimmer 1982, S. 305). 73 Vgl. Hoerster 1974, S. 469; Brinkmann 2003, S. 199. 74 In der Kritik der praktischen Vernunft definiert Kant den Willen auch als »das Vermögen der Zwecke« (KpV, KW IV, 175). 71
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einem materialen Zielbezug, da ja die Gesinnung, d. h. der Beweggrund (die Motivation) des Willens zur Adaption einer sittlich guten Maxime, dieser Zielsetzung nicht entnommen werden darf. »Nun ist freilich unleugbar, daß alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse; aber diese ist darum nicht eben der Bestimmungsgrund und Bedingung der Maxime; denn, ist sie es, so läßt diese sich nicht in allgemein gesetzgebender Form darstellen, weil die Erwartung der Existenz des Gegenstandes alsdenn die bestimmende Ursache der Willkür sein würde, und die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von der Existenz irgend einer Sache dem Wollen zum Grunde gelegt werden müßte, welche immer nur in empirischen Bedingungen gesucht werden, und daher niemals den Grund zu einer notwendigen und allgemeinen Regel abgeben kann« (KpV, KW IV, 145) 75 .
Eine einem guten Willen entspringende Handlung qualifiziert sich weder durch ihre materiale Absicht, noch verdankt sie die Sittlichkeit ihrer effektiven Zweckmäßigkeit, d. h. den ›erfolgreichen‹ Konsequenzen, die durch sie faktisch »bewirkt« werden (vgl. Grundlegung, KW IV, 19): »Daß die Absichten, die wir bei Handlungen haben mögen, und ihre Wirkungen, als Zwecke und Triebfedern des Willens, den Handlungen keinen unbedingten und moralischen Wert erteilen können, ist […] klar« (ebd., 26). Die Relevanz von Zwecken als integralen Bestand75 Vgl. Gemeinspruch, KW VI, 132 Anm.: »ohne allen Zweck kann kein Wille sein; obgleich man, wenn es bloß auf gesetzliche Nötigung der Handlungen ankömmt, von ihm abstrahieren muß und das Gesetz allein den Bestimmungsgrund desselben ausmacht.« Vgl. auch KpV, KW IV, 135: »Die Materie eines praktischen Prinzips ist der Gegenstand des Willens. Dieser ist entweder der Bestimmungsgrund des letzteren, oder nicht. Ist er der Bestimmungsgrund desselben, so würde die Regel des Willens einer empirischen Bedingung (dem Verhältnisse der bestimmenden Vorstellung zum Gefühle der Lust und Unlust) unterworfen, folglich kein praktisches Gesetz sein.« Erst dadurch, dass das materiale Strebensobjekt den Bestimmungsgrund des Willens bildet, kann sich eine unmoralische (nicht-erlaubte) Handlungsmaxime ergeben, die den Status eines praktischen Gesetzes verfehlt. Wird ein materialer Zweck hingegen nach Maßgabe formaler Bestimmungsgründe verfolgt, so gerät sein empirischer Charakter nicht mit der Kantischen Moralitätsidee in Konflikt. Im Sinne Kants trifft Chr. Horn im Hinblick auf das Verhältnis der (in den Grundlegungsschriften enthaltenen) Kantischen Ethik zu materialen Aspekten die zentrale Feststellung: »Halten wir also fest, dass die Antithese formal-material, welche die Zweckunabhängigkeit bzw. Zweckgebundenheit einer Ethik meint, nicht direkt mit der Antithese von objektiven (= adäquaten) bzw. subjektiven (= inadäquaten) Formen von Moralphilosophie korreliert ist« (Horn 2004, S. 201). Vgl. dazu auch Gregor 1990, S. XLIIIf.
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teilen einer jeden Handlungsmaxime bedeutet daher nicht notwendigerweise und keineswegs für Kant, dass die Wünschbarkeit der Folgen einer Handlung zum Kriterium für ihre Moralität wird 76 . Dies schließt Kant auch in der Diskussion des Lügenverbotes nochmals explizit aus: »Nun ist es doch etwas ganz anderes, aus Pflicht wahrhaft zu sein, als aus Besorgnis der nachteiligen Folgen; indem, im ersten Falle, der Begriff der Handlung an sich selbst schon ein Gesetz für mich enthält, im zweiten ich mich allererst anderwärtsher umsehen muß, welche Wirkungen für mich wohl damit verbunden sein möchten« (Grundlegung, KW IV, 29; vgl. auch ebd., 49).
Dennoch ist es fraglos so, dass in den Kantischen Anwendungsbeispielen des Kategorischen Imperativs praktische Folgenüberlegungen eine Rolle spielen, die nur unter Kenntnis empirischer und pragmatischer Sachverhalte angestellt werden können: Zunächst lässt Kant empirischpragmatische Überlegungen bei der Umsetzung moralischer Pflichten in konkreten Situationen zu. Wer beispielsweise den moralischen Grundsatz der Hilfeleistung gegenüber Notleidenden anerkannt hat, muss sich in einer konkreten Situation überlegen, welche Handlungen eine Befreiung des Betreffenden aus seiner Notlage zur Folge hätten. Insofern muss er auch die praktisch notwendigen Bedingungen für eine erfolgreiche Realisierung seiner Maxime erwägen. Allerdings scheinen Handlungsfolgen auch bereits für die Begründung und Rechtfertigung konkreter ethischer Pflichten – wenngleich in einer noch näher zu bestimmenden, eng begrenzten Form – eine konstitutive Funktion zu besitzen. So enthält der für die Begründung des Lügenverbotes (in beiden Widerspruchsinterpretationstypen) grundlegende Gedankengang – wonach die zum allgemeinen Naturgesetz erhobene Maxime, (in finanziellen Notsituationen) lügenhafte Versprechen abzugeben, zu einem generellen Verlust an Vertrauen in die Praxis des Versprechensgebens führt, so dass der erhoffte Zweck des Betreffenden, allein auf ein Rückgabeversprechen hin Geld geliehen zu bekommen, nicht mehr realisiert werden könnte – doch offensichtlich Annahmen über eine in der gesellschaftlichen Wirklichkeit festzustellende Ursache-Folge-Beziehung menschlichen Verhaltens, die nicht ohne Erfahrungswissen auskommt 77 . Dies muss jedoch nicht im Sinne einer heimlichen InkonVgl. Schöndorf 1985, S. 551. Vgl. Schnoor 1989, S. 130 f. Kants Argumentation beruht auf der empirischen Gesetzmäßigkeit, dass über ein Erinnerungsvermögen verfügende Personen nicht in einem
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sequenz Kants als Einwand gegen sein Programm einer rationalen Ethik bzw. gegen das in diesem Sinne von ihm durchgeführte Prüfungsverfahren bewertet werden – denn schließlich kann es gar nicht darum gehen, in der moralischen Beurteilung von Handlungsmaximen jedwede Rücksicht auf Handlungsfolgen auszuschließen. Es ist in der Tat eine zu gravierenden Fehlinterpretationen führende »Illusion […], daß für Kant ein guter Mensch die Folgen seines Handelns nicht in Betracht ziehen darf in einem Sinne, durch den ein guter Mensch zu einem vollkommenen Narren wird« 78 . Denn wenngleich die »verhoffte Wirkung« nicht »der Bestimmungsgrund« einer sittlichen Handlungsmaxime sein kann (vgl. Grundlegung, KW IV, 27) – der sittlich handelnde Mensch wird nach Kant nicht mit den Folgen beginnen und eine Handlung aufgrund ihrer voraussichtlichen, jedoch nie mit absoluter Gewissheit zu bestimmenden Auswirkungen für seine Pflicht halten –, führt die Auffassung, dass man für die unbeabsichtigten, aber gleichwohl absehbaren Folgen einer Handlung nicht verantwortlich gemacht werden darf, zur Aufweichung des Begriffs einer zurechenbaren Tat 79 . Wer eine auf einer bestimmten Maxime beruhende Handlung will, will – ganz im Sinne des strafrechtstheoretischen Verständnisses vorsätzlichen Handelns – gleichermaßen auch diejenigen Wirkungen, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Folge dieser Handlung sein werden 80 . Um den möglichen Einwand zu entkräften, dass die Berücksichtigung von empirischen Handlungsfolgen im moralischen Dijudikationsverfahren des Universalisierungstests einer Grundforderung der Ethikkonzeption Kants zuwider läuft, muss zwischen zwei Arten der Folgen-Abwägung unterschieden werden:
unbegrenzten Maße gutgläubig sind und in der Regel dazu neigen, ihre Erinnerungen an vergangene Erlebnisse bei der Bestimmung ihres zukünftigen Handelns zu verwerten (vgl. dazu Hoerster 1974, S. 460). 78 Paton 1962, S. 80. 79 Vgl. ebd., 80 f. sowie Rapic 2007, S. 447. Vgl. dazu auch RL, KW IV, 329: »Tat heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch, sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Akt als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese, zusamt der Handlung selbst, können ihm zugerechnet werden, wenn man vorher das Gesetz kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit ruhet.« 80 Vgl. Schnoor 1989, S. 119. A
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die hypothetische Ermittlung der kausalen Folgen einer Handlungsweise im Universalisierungsverfahren (hier: die grundsätzliche Wirkung einer allgemeinen Vertrauenszerstörung, die aus einer imaginierten universalen Realisierung meiner lügenhaften Handlungsmaxime resultiert); b) die Abschätzung der kausalen Folgen, die sich faktisch aus der Verwirklichung einer bestimmten, isoliert betrachteten Handlungsmaxime für mich (oder auch für das allgemeine Wohl) ergeben. Mit seiner dezidierten Aussage, dass es »etwas ganz anderes [sei], aus Pflicht wahrhaft zu sein, als aus Besorgnis der nachteiligen Folgen«, da ich mich im zweiten Fall »allererst anderwärtsher umsehen muß, welche Wirkungen für mich wohl damit verbunden sein möchten« (Grundlegung, KW IV, 29), will Kant den unter b) fallenden subjektiven Wert, den die abschätzbaren kausalen Folgen einer isoliert betrachteten Handlungsweise für mich haben, aus der moralischen Beurteilung dieser Handlungsweise ausschließen (vgl. ebd., 49). Während also im vorliegenden Beispielfall die Person, die lediglich vorgibt, ein (Rückzahlungs-)Versprechen abzugeben, lügt, um ihren subjektiven Vorteil zu mehren 81 , stellt Kant bei seiner Anwendung des Kategorischen Imperativs darauf ab, ob die Folgen der allgemeinen Praxis unehrlichen Versprechens zu einem formalen praktischen Widerspruch Anlass geben. Ob die Qualität dieser Folgen darüber hinaus rein für sich als subjektiv wünschenswert bzw. nicht-erstrebenswert beurteilt wird oder ob die Folgen im (regel)utilitaristischen Sinne einen Beitrag zum allgemeinen menschlichen Wohlergehen leisten, hat nach Kant keinerlei Bedeutung für den sittlichen Wert der zu prüfenden Handlungsmaxime. Dieser ist vielmehr ausschließlich anhand des Widerspruchs(freiheits)-Kriteriums zu ermessen (vgl. auch KpV, KW IV, 190). Die in der Welt der verallgemeinerten Maxime auftretenden Handlungsfolgen können deshalb bei der Anwendung des Kategorischen Imperativs auf Maximen berücksichtigt werden, ohne dass dies Kants entschiedener Ablehnung jedweder utilitaristischer Position strukturell widerspricht.82 In diesem Sinne spricht Kant auch davon, dass die Folgen, die »dieses Prinzip der Selbstliebe« zeitigt, dem »künftigen Wohlbefinden« der betreffenden Person durchaus zuträglich sind (Grundlegung, KW IV, 53). 82 Vgl. für die hier vorgetragene Argumentation die Ausführungen bei Hoerster 1974, S. 460 und Brinkmann 2003, S. 170 f. Dass auch die annähernd sicheren Folgen einer Einzelhandlung für ihre sittliche Beurteilung eine Bedeutung haben – wie im Beispiel81
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Wie bereits erwähnt, besteht die Pointe der Interpretation, nach der der Universalisierungstest eine Probe auf praktische Widersprüche ist, darin, dass es aus der Perspektive der reinen praktischen Vernunft unmöglich ist, einen Zweck (Gelddarlehen) zu wollen und zugleich die Anwendung von Mitteln (betrügerisches Versprechen) zu wollen, die im Falle ihrer naturgesetzlichen Geltung die Realisierung dieses Zwecks in aller Regel vereiteln 83 . Den wichtigsten formalen Aspekt für die moralische Beurteilung des lügenhaften Versprechens (bzw. der Lüge im allgemeinen) deutet Kant durch die Bemerkung an, dass es dann, wenn der Grundsatz, unaufrichtige Versprechen abzugeben (bzw. zu lügen) als ein Naturgesetz in Kraft ist, d. h. allgemein befolgt wird, »vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben [d. h. vorzutäuschen; O. L.]« (Grundlegung, KW IV, 30; Hervorheb. v. m.). Jeder unehrliche Promittent muss wollen, dass die Maxime durchgängiger Wahrhaftigkeit, die er selbst nicht anerkennt, von den meisten anderen Personen grundsätzlich befolgt wird, da er nur so eine Erfolg versprechende Aussicht darauf hat, den Zweck seiner Lüge zu verwirklichen. Das entscheidende fall der Rettung des unschuldig Verfolgten in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen gegen Kant zu fordern ist (s. u. S. 118–124) –, wird von Kant meines Wissens in den ethischen Grundlegungsschriften nirgends explizit zugestanden. Ganz im Gegenteil scheint er in einer Reihe von Textstellen die Auffassung zu vertreten, dass die empirischen Wirkungen für die ethische – im Unterschied zur rechtlichen (s. u. Kap. 3.1) – Bewertung einer Handlung irrelevant sind (vgl. Grundlegung, KW IV, 19– 21, 26 f., 45, 71). Allerdings müsste eine adäquate Deutung zunächst den Argumentationszusammenhang der Zitate berücksichtigen: Kant will Gegensätze betonen und nimmt daher möglicherweise Ungenauigkeiten in Kauf (vgl. Nisters 1989, S. 155). Denn dass auch die moralische Berücksichtigung der »normal and predictabel results« von Einzelhandlungen mit Kantischen Argumenten begründbar ist, hat schon O. Nell weitgehend überzeugend herausgestellt (vgl. Nell 1975, insbes. S. 70 f. m. Anm. Vgl. zu Nells Interpretation die ausführlichen und im Detail kritischen Anmerkungen und Erläuterungen bei Timmons 1984, S. 298–304). Die mit dem Wollen der Maxime anerkannte Mittel-Zweck-Relation erfordert es, dass wir die zum Zeitpunkt unserer Willensentschließung abschätzbaren Wirkungen unserer Handlung und die damit in Zusammenhang stehenden praktischen Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen (vgl. dazu auch Schöndorf 1985, S. 551 f.; nur noch in lockerer Anlehnung an Kant argumentiert Herman 1993, S. 94–112). 83 Im Unterschied zum logischen Interpretationstyp wird hier nicht davon ausgegangen, dass in einer fiktiven Welt, in der alle Personen betrügerisch versprechen, der Fortbestand der sprachlichen Institution des Versprechens unmöglich gemacht würde, so dass es uns nach wie vor frei stünde, unaufrichtige Zusagen zu machen (vgl. Brinkmann 2003, S. 199). A
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Kriterium dafür, dass der Lügner unsittlich handelt, besteht gemäß dieser Deutung also darin, dass er mit seiner zum Naturgesetz universalisierten Maxime und dem daraus resultierenden allgemeinen Vertrauensverlust eine Realisationsbedingung für die von ihm beabsichtigte Täuschung anderer Personen verletzt. Wer lügenhaft versprechen will, muss dies immer als Ausnahme von der Regel prinzipieller Ehrlichkeit wollen; denn da der Lügner, um seinen Zweck zu erreichen, will, dass seinem vorgeblichen Versprechen auch geglaubt wird, muss er zugleich wollen, dass nicht alle Versprechen unaufrichtig sind. Sich als Ausnahme zu wollen, bedeutet aber gerade zu wollen, dass die eigene Handlungsmaxime nicht als allgemeines Gesetz gilt. Die ›praktische‹ Widerspruchsinterpretation verfolgt somit im vorliegenden Beispielfall das Ziel, das Ausnutzen einer intakten sozialen Institution als unsittlich zu erweisen: Jede zweckmäßig lügende (bzw. unehrlich versprechende) Person soll als ein unmoralischer ›Trittbrettfahrer‹ an der wahrhaftigen Rede (bzw. Institution des Versprechens) ›entlarvt‹ werden 84 . Kant selbst legt eine solche Deutung des Widerspruchs nahe, wenn er schreibt, dass der pflichtwidrig Handelnde seine Maxime immer als Ausnahme will: »Wenn wir nun auf uns selbst bei jeder Übertretung einer Pflicht Acht haben, so finden wir, daß wir wirklich nicht wollen, es solle unsere Maxime ein allgemeines Gesetz werden, denn das ist uns unmöglich, sondern das Gegenteil derselben soll vielmehr allgemein ein Gesetz bleiben; nur nehmen wir uns die Freiheit, für uns, oder (auch nur für diesesmal) zum Vorteil unserer Neigung, davon eine Ausnahme zu machen« (Grundlegung, KW IV, 55).
Aber inwieweit entsteht durch derartig inkonsistentes Handeln ein Widerspruch, den zu denken unmöglich wäre? Dass der Zweck, den ich mit meiner Maxime verfolge, nicht mehr mit den angewandten Mitteln erreicht werden könnte, wenn die in der Maxime vorgestellte Zweck-Mittel-Relation allgemeine Praxis würde, ist ein Sachverhalt, der dem Denken per se offenkundig keine Schwierigkeiten bereitet 85 . Die Verallgemeinerung lügenhafter Rede würde in derselben Weise einen Glaubwürdigkeitsverlust bewirken wie die universelle Gültigkeit des Grundsatzes, unaufrichtige Versprechen abzugeben, so dass jede Art von Lüge als Naturgesetz unglaubwürdig wäre und ihre intendierte Zielsetzung nicht mehr erreichen könnte. Vgl. dazu die nachstehende Diskussion des speziellen Falls einer Lüge zum Zwecke der Menschenrettung (s. u. S. 118–124). 85 Auch der Gedanke an eine Welt, in der jeder mit naturgesetzlicher Notwendigkeit stets die Unwahrheit sagte, sodass das zwischenmenschliche Vertrauen derart schwin84
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Es ist daher allem Anschein nach so, dass mit dieser Widerspruchs-Prüfung ein Widerspruch im Wollen aufgezeigt wird. Dieser besteht zwischen der Erfolgspräsupposition der Lügenmaxime und einer allgemeinen praktischen Konsequenz aus der zugleich gewollten allgemeingesetzlichen Gültigkeit und Anwendung dieser Maxime: Ein Wille, der in ein und demselben Willensakt eine äußere Handlung und zugleich einen Zustand wollte, im dem die dieser Handlung eigentümliche Zwecksetzung mit praktischer Gewissheit nicht erreicht werden könnte, muss als im Widerspruch mit sich befindlich angesehen werden. Für die Erkenntnis der Inkompatibilität dieser zwei Willensbestimmungen bedarf es keines weiteren subjektiven Erfahrungswissens. Der Lügner würde etwas wollen (die Universalisierung der eigenen Maxime), das dem eigenen Wollen (erfolgreiche Lüge zwecks Geldbeschaffung) zugleich strukturell widerspricht; er verletzte mithin eine Rationalitätsbedingung seines Wollens. Im Sinne dieser Deutung ließe sich auch Kants Bemerkung verstehen, wonach ein Lügner »zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne« (Grundlegung, KW IV, 30; Hervorheb. v. m.) – eben »weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde« (ebd., 55). Nun verbietet es sich nicht, das lügenhafte Versprechen bzw. die Lüge im Allgemeinen als einen Fall der Widerspruchsart des NichtWollen-Könnens zu interpretieren. Denn auch wenn Kant der Auffassung ist, in diesem Beispiel finde sich ein Widerspruch im Denken, so ist doch der Widerspruch im Wollen das weitere Kriterium, das für alle moralischen Pflichtverstöße zutreffen soll. Dies zwänge allerdings zu einer Revision der Einschätzung Kants, dass es sich bei dem Lügenverbot um eine vollkommene Pflicht in dem Sinne handelt, dass gegen sie ein Verstoß als allgemeines (Natur-) Gesetz »nicht einmal […] gedacht werden kann« (ebd., 54 f.). Vielmehr ist, was da nicht konsistent gedacht werden kann, ein durch die lügenhafte Maxime zugleich allgemein gesetzgebender Wille, der diese zum Naturgesetz erhebt 86 . den würde, dass schließlich jeder schwiege oder gar – angenommen der Mensch wäre auf Dauer ohne die wahrhaftige Rede nicht überlebensfähig – kein Mensch mehr existierte, verstößt gegen keine formal- oder begriffslogischen Prinzipien; vgl. Hoerster 1974, S. 459 f. 86 In Anlehnung an Scholz 1972, S. 114. Mit dieser Revision würde auch Kants Abgrenzung vollkommener und unvollkommener Pflichten mittels des Begriffspaares NichtDenken-Können bzw. Nicht-Wollen-Können fragwürdig. Vgl. dazu weiterführend ebd., S. 112–118; Nell 1975, S. 69 und 82. A
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c) Das Rigorismusproblem der Allgemeinen-Gesetzes-Formel Doch auch unabhängig von der Art des erwiesenen Widerspruchs birgt die Anwendung und das Verständnis der Allgemeinen-Gesetzes-Formel als alleinmaßgebliches moralisches Beurteilungskriterium gravierende Probleme: Sie scheint rigoristische Konsequenzen nach sich zu ziehen, die für unser intuitives Moralverständnis nur schwer erträglich sind. Denn auch in extremen Fällen – etwa zum Zwecke der Menschenrettung – wäre es sittlich verboten zu lügen, falls auch die Maxime der Lüge ›aus Menschenliebe‹ sich nicht widerspruchsfrei als allgemeines (Natur-) Gesetz wollen ließe. Tatsächlich postuliert Kant selbst in seiner im 1. Jahrgang der »Berlinischen Blätter« (1797) veröffentlichten Abhandlung mit dem Titel Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen im Zusammenhang mit der so genannten Notlüge eine strenge Pflicht zur Wahrhaftigkeit. In dieser, durch die deutsche Übersetzung des VIII. Stücks von Benjamin Constants Aufsatz Über politische Reaktion 87 provozierten Schrift vertritt Kant den intuitiv inakzeptablen rigoristischen Standpunkt, »daß die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet« habe (vgl. Lüge, KW IV, 637), selbst dann ethisch verboten sei, wenn die wahre Aussage den sicheren Tod des Verfolgten zur Folge hätte 88 . Er kritisiert damit Constants Argument, wonach einer Pflicht notwendigerweise immer auch ein Recht korrespondiere, kein Mensch aber ein Recht auf Wahrhaftigkeit besitze, um damit anderen zu schaden, weswegen eine Pflicht zur Wahrhaftigkeit in einem solchen Fall auch nicht bestehe 89. Für Kant gilt dagegen die Wahrhaftigkeitspflicht kategorisch; ein sie bedingendes ursprüngliches Recht des Menschen auf die Wahrhaftigkeit eines Anderen gibt es nicht (vgl. RL, KW IV, 345 f.), da die Lüge als solche ihrer bloßen Form nach bereits gesetzesuntauglich sei:
Abgedruckt bei Geismann/Oberer 1986, S. 23–35. Da Menschen normalerweise eine derartige Frage beantworten – ein Schweigen würde als merkwürdig oder verdächtig (›vielsagend‹) angesehen –, ist es der Person, die den Verfolgten versteckt, aus sozial-kulturellen, empirischen Gründen unmöglich, keine – implizite oder explizite – Antwort zu geben. Eine Antwortverweigerung durch Schweigen hätte (aufgrund empirischer Sachverhalte) selber Handlungscharakter und würde bei dem potentiellen Mörder den Verdacht erwecken, dass sich die verfolgte Person im Haus befindet. Vgl. Korsgaard 1996, S. 136 m. Anm. 2; Rapic 2007, S. 432, Anm. 48. 89 Vgl. Geismann/Oberer 1986, S. 24. 87 88
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»Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem andern daraus auch noch so großer Nachtheil erwachsen; und ob ich zwar dem, welcher mich ungerechterweise zur Aussage nötigt, nicht Unrecht tue, wenn ich sie verfälsche, so tue ich doch durch eine solche Verfälschung […] überhaupt Unrecht: d. i. ich mache, so viel an mir ist, daß Aussagen (Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden« (Lüge, KW IV, 638; Hervorheb. teilw. v. m.) 90 .
90 Die für den von Kant in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen gewählten rechtsphilosophischen Beweisgang entscheidende Frage, ob »alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen«, falls eine Lüge in bestimmten Situationen – also etwa zur Verhinderung eines Verbrechens und ausschließlich gegenüber dem mutmaßlichen Verbrecher – als legitim erachtet wird, soll unerörtert bleiben (vgl. dazu Geismann 1988, insbes. S. 307–316). Aber wenngleich Kant das Lügenverbot in dem Aufsatz als Rechtsproblem diskutiert, »hier […] von einer Rechtspflicht die Rede ist« (Lüge, KW IV, 638 Anm.), kann der geschilderte Fall der Notlüge nicht völlig isoliert von seinen ethischen Implikationen bewertet werden (eine derartige Betrachtungsweise fordert Geismann, ebd. S. 297, der damit Kants ausdrücklicher Auffassung widerspricht, dass alle Rechtspflichten auch indirekt-ethische Pflichten sind; vgl. RL, KW IV, 325; s. u. S. 171). Ein aus der konsequenten Erfüllung der Wahrhaftigkeitspflicht resultierender, absehbarer empirischer ›Schaden‹ ist in einer Vielzahl von Fällen weder unter strafrechtlichen noch unter ethischen Gesichtspunkten »vollständig irrelevant«, wie Geismann (ebd. S. 300, Anm. 20) meint. Wer ein elementares ethisches und juridisches ›Unrecht‹ wie Mord durch die Erfüllung der Wahrhaftigkeitspflicht zu verhindern unterlässt, begeht aufgrund der dadurch unterlassenen Pflichterfüllung der Hilfeleistung seinerseits ein Unrecht im ethischen und rechtsphilosophischen Sinne. Demnach ist es verfehlt, demjenigen, der im Beispielfall des unschuldig Verfolgten dem Mörder gegenüber wahrhaftig bleibt, jede moralische Verantwortung für den Tod des Verfolgten abzusprechen. Allerdings schließt Kant die Berücksichtigung kausaler Folgen der isoliert betrachteten Einzelhandlung bei der Bestimmung des moralisch Richtigen gerade auch in diesem extremen Beispielfall explizit aus: »Jeder Mensch aber hat nicht allein ein Recht, sondern sogar die strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit in Aussagen, die er nicht umgehen kann: sie mag nun ihm selbst oder andern schaden« (Lüge, KW IV, 641). Kant behauptet sogar, dass es »bloß ein Zufall« gewesen sei, »daß die Wahrhaftigkeit der Aussage dem Einwohner des Hauses [d. i. der unschuldig Verfolgte; O. L.] schadete, nicht eine freie Tat (in juridischer Bedeutung)« (ebd., 640). Kant hat mit seiner Forderung nach einer absoluten Ausnahmslosigkeit der Geltung vollkommener Pflichten die moralphilosophische Bedeutung des Dilemmas einer möglichen Pflichtenkollision (nicht nur in diesem Aufsatz) unterschätzt. In der Einleitung zur Metaphysik der Sitten weist er die Möglichkeit einer Pflichtenkollision sogar dogmatisch ab: »so ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar (obligationes non colliduntur)« (vgl. RL, KW IV, 330). Vgl. dazu Höffe 1990a, S. 190– 197.
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Aber folgt aus dem beschriebenen Anwendungsverständnis der Allgemeinen-Gesetzes-Formel bzw. Naturgesetz-Formel tatsächlich der rigoristische Standpunkt, dass jegliche Ausnahme vom Gebot der Wahrhaftigkeit – selbst die Ausnahme zugunsten einer achtenswerten Neigung oder gar entgegenstehenden moralischen Pflichten – illegitim ist? 91 H. J. Paton – der sich der Auffassung Constants grundsätzlich anschließt und der Meinung ist, dass der Mörder »has forfeited his right […] to be told a truth which he seeks only to abuse« – verneint diese Frage in seinem Aufsatz »An Alleged Right to Lie. A Problem in Kantian Ethics« 92 . Er kritisiert in seiner Argumentation Kants äquivoken Sprachgebrauch des Begriffes ›praktischer Grundsätze‹ (»principles of morality«). Dabei folgt er zunächst Kant, wenn er die absolut ausnahmslose Geltung der »fundamental principles« anerkennt, die in Kants verschiedenen Formeln des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck kommen. Davon unterscheidet er auf zwei Anwendungsstufen »moral laws« – die für alle Menschen als endlichen Vernunftwesen mit bestimmten empirischen Charakteristika (etwa der Fähigkeit zu lügen) gelten – und »moral rules« als »minor applied principles«, die nur für bestimmte Menschengruppen gelten, wie die Pflicht eines Soldaten, im Kriegsfall Menschen zu töten. In diesen zwei Klassen von angewandten Prinzipien sei es verpflichtend, sogenannte notwendige Ausnahmen (»necessary or due exceptions«) zu machen: »they are imposed on us in particular situations by an over-riding principle« 93 . Mit der zuletzt genannten Einteilung orientiert sich Paton an Kants Differenzierung, wonach Maximen »eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat« (KpV, KW IV, 125), in denen ein Subjekt seine Maximen mithilfe praktischer Urteilskraft mit den besonderen Bedingungen der konkreten Handlungssituation vermittelt (s. o. S. 47 und u. S. 155–157, Anm. 167). In diesem Sinne könnte man auch dem Grundsatz, nur zum Zwecke der Menschenrettung in ganz bestimmten Situationstypen zu lügen, den Status einer ›praktischen Regel‹ beilegen. Nach Zum folgenden vgl. Rapic 2007, S. 432–437, dem ich in der Argumentation weitgehend folge. 92 Vgl. Paton 1953/54 (hier verw. Zitat ebd. S. 197; vgl. dazu auch den bei Geismann/ Oberer 1986 abgedruckten Brief H. J. Patons an J. Ebbinghaus vom 17. Mai 1953; ebd. S. 64). 93 Vgl. Paton 1953/54, S. 191. 91
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Patons Auffassung resultiert der von Kant in »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen« vertretene rigoristische Standpunkt daraus, dass Kant bei der Anwendung der Allgemeinen-Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs die für den konkreten Beispielfall entscheidende Frage, »whether the special circumstances justify, or even demand, an act of deception«, unberücksichtigt gelassen, mithin die Prinzipienstufe praktischer Regeln gleichsam übersprungen habe. Durch die Aufnahme von bloß elementar-allgemeinen Gattungsmerkmalen des in Frage stehenden Situationstypus’ in die zu prüfende Handlungsmaxime habe er die spezifischen Umstände des in der beschriebenen Notsituation enthaltenen Pflichtenkonflikts außer Acht gelassen 94 : »A particular moral law has to be adjusted to this situation […]. To deny the need, and indeed the duty, to make such an adjustment seems to me to be rigorism […] which is likely to bring all morality into discredit« 95 . Paton kritisiert indirekt Kants zentrales Argument, dass jede, wie auch immer motivierte Lüge – »bloß als vorsätzlich unwahre Deklaration gegen einen anderen Menschen definiert« – dazu beiträgt, »dass Aussagen […] überhaupt keinen Glauben finden« (Lüge, KW IV, 638): Er hält Kant entgegen, dass zwar die allgemeine Erlaubnis von ›willkürlichen Ausnahmen‹ (»arbitrary exceptions«) – die durch eine bloß subjektive Überzeugung oder Erfahrung, also etwa durch eigennützige Zwecke, gerechtfertigt wären – der Möglichkeit eines allgemeinen moralischen Gesetzes als solchem widerspräche, nicht aber die dem Wahrhaftigkeitsgebot überlegene Pflicht, unter bestimmten Umständen zum Zwecke der Rettung menschlichen Lebens zu lügen 96 . »If we insert the necessary conditions in our maxim itself, there is no reason why we could not will it as a universal law. There is no contradiction in willing that every one should be prepared to tell a lie to a murderer if this is the only way to save his victim’s life. In such a case we have a duty to lie.« 97
Demgegenüber bestreitet J. Ebbinghaus, dass die Maxime, nur im Falle »bestimmte[r] Notstände« zu lügen, widerspruchsfrei zu einem all94 Vgl. ebd., S. 196–198 (hier verw. Zitat ebd. S. 196). Eine ganz ähnliche Auffassung vertritt Forschner 1983, S. 38–44, allerdings ohne sich auf Paton zu berufen. 95 So Paton in einem Brief an J. Ebbinghaus vom 17. Mai 1953, abgedruckt bei Geismann/Oberer 1986, S. 61–65 (hier verw. Zitat ebd. S. 64). 96 Vgl. Paton 1953/54, S. 191 f. und S. 197. 97 Ebd., S. 198.
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gemeinen Gesetz universalisiert werden könne; vielmehr vertritt er die Auffassung, »daß jede Lizenz zu lügen eine allgemeine Zerstörung des […] Vertrauens bewirken kann« 98 . Er begründet seinen Standpunkt damit, dass auch durch eine streng begrenzte Regel der Lügenerlaubnis »die Möglichkeit offen [bleibt], daß […] alles mögliche Vertrauen zerstört wird«, da wir nie wissen können, ob unser jeweiliger Gesprächspartner sich im Augenblick einer Zusage nicht in eben einer solchen (Not-)Situation wähnt, deren Umstände ihm zu lügen gestatten 99 . »Auch glaube man nicht, daß man sich dadurch vor dem allgemeinen Misstrauen retten könnte, daß man die Lizenz zu lügen auf bestimmte Notstände, denen der Mensch nur mittels der Unwahrheit entgehen kann, beschränkte. Denn wenn man nun nicht noch weiter fordert, daß der also Berechtigte jedes Mal dem zu Belügenden erklären muss, daß er sich eben jetzt in dieser Klemme befinde, so wird ja kein Mensch bei irgendeiner Zusicherung wissen können, ob diese nicht eine von den autorisierten Unwahrheiten ist. Und also wird der Anlaß für jeden, jedem zu misstrauen, durch solche Beschränkungen um nichts vermindert sein.« 100
N. Gillespie hat sich Ebbinghaus’ Kritik an Patons Argumentation angeschlossen 101 . Er nimmt allerdings eine entscheidende Akzentverschiebung vor, indem er im Unterschied zu Ebbinghaus nicht behauptet, dass die gesetzmäßige Geltung der Maxime, in ganz bestimmten Fällen die Unwahrheit zu sagen, »alles mögliche Vertrauen« im Bereich sprachlicher Verständigung zerstört. Stattdessen beschränkt er sich auf die Feststellung, dass unwahrhaftige Äußerungen in den extremen Fällen, für die sie gemäß Patons Auffassung gesetzesmäßig erlaubt bzw. geboten sein sollen, ihr Handlungsziel verfehlen müssten. Denn wenn die Maxime, nur in solchen Situationen die Unwahrheit zu sagen, in denen wahrhaftige Äußerungen eine existentielle Bedrohung anderer Personen zur Konsequenz hätten, als allgemeines (und allgemein bekanntes) Naturgesetz gälte, müsse im Kantischen Beispielfall auch der potentielle Mörder davon ausgehen, als Reaktion auf seine Frage belogen zu werden. Da er dementsprechend allen Aussagen Vgl. Ebbinghaus 1986c, S. 411 (Hervorheb. v. m.). Ganz in diesem Sinne heißt es in der Collins-Nachschrift von Kants Ethik-Vorlesung des Wintersemesters 1784–85: »… denn, wird ein Nothfall behauptet, so beruht es auf jedem seinen Urtheil, ob er es für Nothfall hält oder nicht, und […] so sind die moralischen Regeln nicht sicher« (AA XXVII, 448). 100 Vgl. Ebbinghaus 1986c, S. 411; vgl. dazu auch Ebbinghaus 1968c, S. 154–156. 101 Vgl. Gillespie 1974, insbes. S. 526–530. 98 99
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über den Verbleib seines potentiellen Opfers misstrauen würde, wäre der Zweck dessen Rettung nicht mehr über die Lüge erreichbar. Gillespie ist daher der Auffassung, dass Kants rigoristischer Standpunkt in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen aus der Anwendung der Allgemeinen-Gesetzes-Formel bzw. Naturgesetz-Formel des Kategorischen Imperativs zwangsläufig folgt 102 . Chr. M. Korsgaard hat dieser Argumentation zugunsten einer für den Beispielfall gestatteten Lügenerlaubnis widersprochen. Korsgaard entgegnet ihr, dass darin der Beispielfall falsch konstruiert werde. Korsgaards Einwand ist jedoch nicht stichhaltig. Sie geht zu Unrecht davon aus, dass der potentielle Mörder in der Beispielsituation wohl nicht damit rechne, dass der das Opfer durch eine Lüge zu retten Beabsichtigende sich der Tatsache bewusst ist, dass er es mit einem potentiellen Mörder seines Freundes zu tun hat: Die Lüge erreicht ihr Handlungsziel nach Korsgaard deshalb, weil der Mörder vermutlich (»likely«) voraussetze, dass ich (als der Freund des potentiellen Opfers) nicht weiß, in welchen Umständen ich mich befinde, – d. h. dass ich nicht weiß, dass ich mich einem potentiellen Mörder gegenübersehe – und daher nicht aus der Tatsache, dass Menschen in solchen Situationen immer lügen, den Rückschluss ziehe, dass ich lüge 103. Dieser – wie Koorsgard selber zuzugestehen scheint – ziemlich merkwürdigen (»rather odd« 104 ) Argumentation ist entgegen zu halten, dass der Mörder zumindest bei dem begründeten Verdacht, dass sich sein Opfer in der Wohnung der befragten Person aufhält, davon ausgehen muss, dass das Opfer seinen Beschützer über die situativen Umstände informiert hat. Es ist vielleicht nicht ganz auszuschließen, dass die allgemeingesetzlich realisierte Lügenmaxime in sehr spezifischen Varianten der Beispielsituation des unschuldig Verfolgten – etwa wenn dessen Beschützer mit dem potentiellen Mörder selbst befreundet ist – ihre Täuschungsabsicht erfolgreich verwirklicht. Dies bedeutet aber – und darauf kommt es hier allein an –, dass diese Einzel102 103
104
Vgl. ebd., S. 528. Vgl. Korsgaard 1996, S. 136 m. Anm. 2 (Hervorheb. v. m.): »A murderer who expects to conduct his business by asking questions must suppose that you do not know who he is and what he has in mind. If these are the circumstances, and we try to ascertain whether there could be a universal practice of lying in these circumstances, the answer appears to be yes. The lie will be efficacious even if universally practised.« Ebd. A
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fälle empirisch-zufällig wären, während die auf einer allgemeingesetzlichen Praxis beruhende Handlung, unter ganz bestimmten Umständen die Unwahrheit zu sagen, grundsätzlich in einem praktischen Selbstwiderspruch münden würde. Die empirisch-kasuistischen Überlegungen, die zur Stützung von Korsgaards Einwand angestellt werden können, können allenfalls eine gewisse Plausibilität beanspruchen (ob der potentielle Mörder sich durch eine etwaige freundschaftliche Vertrautheit zum Beschützer seines Opfers dazu veranlasst sieht, der Lüge Glauben zu schenken, ist ja keinesfalls sicher); auch sie implizieren daher die Aufhebung der allgemeingesetzlichen Möglichkeit der Maxime, unter spezifizierten Bedingungen eine Ausnahme vom Gebot der Wahrhaftigkeit zu machen. 2.1.1.2 Kants Selbstmord-Beispiel Kant subsumiert die erste in der Grundlegung exemplarisch diskutierte Pflicht des Selbsttötungsverbotes unter den Typus der ›vollkommenen Pflichten gegen sich selbst‹. Er schildert in seinem Beispiel die Lebenssituation eines Menschen, der »durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruß am Leben empfindet« und daher den Entschluss fasst, »sich das Leben zu nehmen« (Grundlegung, KW IV, 52). Die zu prüfende Maxime formuliert er folgendermaßen: »[I]ch mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner langen Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen« (ebd.). Dieses subjektive Handlungsprinzip könne aber – so Kant – »unmöglich als allgemeines Naturgesetz stattfinden« (ebd.). Zur Begründung seines Standpunktes beruft er sich darauf, »daß eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfindung 105 , deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des 105 Wie Schönecker/Wood 2004, S. 131, Anm. 44 zu Recht bemerken, ist es nicht grammatisch zwingend, die Formulierung »dieselbe Empfindung« auf die in der Prämisse als Handlungsmotiv angeführte »Selbstliebe«, d. h. den »natürlichen Zweck« der eigenen Glückseligkeit, zu beziehen. Ich folge in meiner Argumentation der Auffassung J. Ebbinghaus’ und verstehe unter der Empfindung, deren angebliche Bestimmung es ist, das Leben zu befördern und zu erhalten, eine – im Vergleich zum Begriff der Selbstliebe – präzisere, aus dem Lebensüberdruss erwachsende Empfindung von Unlust (vgl. Ebbinghaus 1968c, S. 144). Dass darüber hinaus, wie O. Höffe unterstellt, »sich aus Lebensüberdruß das Leben zu nehmen[,] heißt, es aus Selbstliebe […] zu tun«, kann bezweifelt werden, ändert aber die Argumentation nicht wesentlich (Höffe 1977, S. 374).
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Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde« (ebd.). Es fällt zunächst auf, dass Kants Begründung des vorgeblich aufgedeckten Widerspruchs hier nicht dem Prüfungsverfahren entspricht, das sich im Sinne unserer Interpretation des unehrlichen Versprechens als maßgeblich erwiesen hat. Denn anders als die Maxime des Lügners ist die Maxime des Selbstmörders in der Geltungsform eines Naturgesetzes nicht direkt selbstwidersprüchlich: Die Verwirklichung des Zwecks, ein Dasein zu vermeiden, das auf lange Sicht mehr Qualen als Freuden bereithält, wird nicht dadurch vereitelt, dass alle Menschen, die zukünftig mehr Leid als Lust zu erwarten haben, sich das Leben nehmen 106 . Die den Freitod erwägende Person handelt in dem 106 Vgl. Korsgaard 1996, S. 100 und 158, Anm. 20. Es ist strittig, ob Kant mit seiner Argumentation ein grundsätzlich – also auch bei Vorliegen anderer Beweggründe als dem der Hoffnungslosigkeit bzw. des Lebensüberdrusses – gültiges Verbot des Selbstmordes zum Beweisziel hat. Denn im Unterschied zu den anderen von ihm diskutierten Beispielfällen wird das Handlungsmotiv hier nicht nur ausdrücklich genannt, sondern es geht auch wesentlich in die Begründung des Verbotes ein. Dass aber die Überdrussmotivation keineswegs auf jeden Fall der Selbsttötung zutrifft (und eben nicht – wie Kersting 1983, S. 417 meint – »tautologisch« ist), lässt sich daran ermessen, dass die Realisierung des Entschlusses, sich in einer bestimmten Situation das Leben zu nehmen, gerade durch die wertschätzende Treue zu den gehegten Lebenszielen motiviert sein kann (so etwa im Falle eines Widerstandskämpfers, der sich nach seiner Festnahme dem durch Folter erzwungenen Geheimnisverrat dadurch entzieht, dass er sich aus Solidarität und Liebe zu den zeitlebens verfochtenen Grundsätzen selbst tötet; vgl. Rapic 2007, S. 423 f., Anm. 34). In der Mrongovius-Nachschrift einer seiner Ethik-Vorlesungen vertritt Kant ein rückhaltloses Selbstmord-Verbot: »Es erweckt […] der Selbstmord ein Grausen, indem der Mensch sich dadurch unter das Vieh setzt. Wir sehen einen Selbstmörder als ein Aas an« (vgl. Moral Mrongovius I, AA XXVII, 1503–07; hier: 1505). Auch in der Metaphysik der Sitten hat es zunächst den Anschein, dass Kant jede fremdnützige Opferung von Körperteilen und die Aufopferung des eigenen Lebens prinzipiell für unzulässig hält: »Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord)« (TL, KW IV, 554). Allerdings ist hier nicht evident, dass Kant jede Selbsttötungshandlung ausnahmslos für verboten erklärt. Was im Falle des Selbstmords verboten ist, ist die »willkürliche Entleibung seiner selbst«, »beliebig aus dem Leben […] hinaus zu gehen«, »als ob es zu dieser Handlung gar keiner Befugnis bedürfte« (ebd., 554 f.). In den von Kant im Anschluss aufgeworfenen »Kasuistischen Fragen« ist von einer Selbstaufopferung aus edlen Motiven die Rede (etwa: »ist das vorsätzliche Märtertum, sich für das Heil des Menschengeschlechts überhaupt zum Opfer hinzugeben, […] für Heldentat anzusehen?«; ebd., 555 f.); diese Fragen werden zwar nicht ausdrücklich beantwortet, legen m. E. aber nahe, dass wir uns nach der von Kant hier implizit vertretenen Auffassung in bestimmten Situationen selbst töten dürfen, wenn wir damit verhindern können, dass andere gefährdet werden.
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von Kant gewählten Beispiel aus einem bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsenen Überdruss am Leben, d. h. einer dauerhaften Unlustempfindung, heraus. Das Gefühl der Unlust hat nach Kant die »Bestimmung«, den durch ihn angezeigten Mangelzustand (eines Lustdefizits) zu überwinden und »zur Beförderung des Lebens anzutreiben« 107 . Unklar ist aber zunächst, welches dabei die Wirkungsweise dieses Triebes ist. Denn versteht man Kants These so, dass sie das Verhältnis zwischen Unlustempfindung und Lebenserhaltungstrieb als eine durchgängig kausale Wirkung im Sinne eines ausnahmslos determinierenden Naturgesetzes beschreibt, ist sie nicht nur faktisch unhaltbar 108, sondern widerspricht zudem der im Beispielfall geschilderten Situation. Denn es wird ja gerade vorausgesetzt, dass die Absicht, »einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen« (Grundlegung, KW IV, 61), durch einen Selbstmord auch tatsächlich realisierbar ist. In Kants Selbstdeutung scheint der von ihm konstatierte Widerspruch (sollte es ihn überhaupt geben) vielmehr nur im Verhältnis der zu prüfenden Maxime zu einem teleologischen Naturverständnis aufzutreten. Die Beweisführung ist von der Annahme einer naturgegebenen finalursächlichen Beziehung zwischen der Empfindung der Unlust und der Wahrung bzw. Beförderung animalischen Lebens abhängig: Unlustempfindungen hätten demnach den natürlichen Zweck, »zur Beförderung des Lebens anzutreiben«; diesem widerspricht – so Kant – die nicht in diese Naturbeschreibung integrierbare Maxime des Selbstmörders. Doch selbst wenn man Kant zum Zwecke der Prüfung Unter dem Titel »Kasuistische Fragen« tauchen derartige Problemstellungen in der Tugendlehre mehrfach auf; sie haben in der Regel nicht den Charakter bloß rhetorischer Fragen, sondern können durchaus auch Fälle moralisch legitimen Handelns enthalten (vgl. Steigleder 2002, S. 265–269; Schöndorf 1985, S. 554 f. m. Anm. 22). 107 Vgl. dazu Höffe 1977, S. 374 f.: »Die Unlustempfindung – so muß man sich den übermäßig kurzen Hinweis ergänzen – ist das Gefühl eines Mangels, verbunden mit dem Bedürfnis, den Mangel zu beheben und den Lustzustand zu erreichen. So wäre Hunger das Gefühl eines Nahrungsmangels, verbunden mit dem Bedürfnis, den Mangel zu beheben. Bei animalischen Wesen, deren Mangelzustände nicht ohne eigene Tätigkeiten überwunden werden, ist die Empfindung von Missvergnügen die Anzeige eines Mangelzustandes und zugleich der notwendige Stimulus, der zu jenen Handlungen antreibt, die zur Überwindung des Mangels führen und in diesem Sinne das Leben befördern.« 108 Vgl. Rapic 2007, S. 422, Anm. 31: »Das Streben nach Schmerzvermeidung bzw. Lustgewinn kann unsere vitalen Funktionen auch in anderen Situationen beeinträchtigen – wenn es etwa zu einem Suchtverhalten führt.«
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seines argumentativen Kernpunktes vorbehaltlich zugesteht, vom Gedanken einer Zweckmäßigkeit der Natur und zudem gerade von diesem bestimmten teleologischen Naturverständnis bei der Prüfung von Maximen Gebrauch zu machen – selbst wenn man also die Behauptung akzeptiert, die Empfindung der Unlust habe die natürliche Funktion der Lebenserhaltung –, ist seine Schlussfolgerung fragwürdig. Denn die Behauptung, dass eine natürliche Ordnung sich »selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde« (Grundlegung, KW IV, 52), wenn die von ihr als Beförderungsmittel des Lebens intendierten Unlustempfindungen zu dessen Zerstörung anleiten, ist nicht haltbar. Sie wird faktisch dadurch relativiert, dass bestimmte Umstände in der Realität durchaus Anlass dafür sein können, dass generell lebensdienliche organische Funktionen sich – aufgrund von Naturgesetzen – in ihr Gegenteil verkehren. Beispielsweise können physiologische Prozesse, die in intensiven Belastungssituationen einen positiven, aktivierenden Einfluss auf die körperliche Leistungsfähigkeit besitzen, unter extremen Bedingungen zu pathologischen Symptomen bis hin zum tödlichen Affektschock führen 109 . Aber lässt sich – unabhängig von der Frage nach der Schlüssigkeit der Argumentation – die Annahme eines von außen zu der Maxime hinzukommenden naturteleologischen Prinzips überhaupt mit Kants Absicht vereinbaren, eine empiriefreie, sich auf rationale Mittel beschränkende Verfahrensweise des Kategorischen Imperativs zu demonstrieren? Dies kann bezweifelt werden. Denn gemäß den vorstehenden Überlegungen (s. o. S. 93–104) können natürliche Voraussetzungen – wie die in Kants Augen naturgegebene Teleologie von Unlustempfindungen – ja lediglich als Ausgangsmaterial für die Bildung von Maximen dienen, nicht aber ihren Sittlichkeit signalisierenden Bestimmungsgrund darstellen, der sich als Einsicht in ihre mögliche Allgemeingesetzlichkeit erst über das formale und gemäß Kants Anspruch rein rationale Verallgemeinerungsverfahren ergeben darf. Dazu ist Folgendes anzumerken: Da sich bei Kant der teleologische Charakter der Naturordnung nicht über die Maximenuniversalisierung ergibt, spielt der Verallgemeinerungsgesichtspunkt von vornherein überhaupt keine Rolle für die von ihm diagnostizierte Widersprüchlichkeit der Maxime des Selbstmörders. Bereits ein einzelner isolierter Fall von Suizid aus Un109
Vgl. Wood 1999b, S. 86; Rapic 2007, S. 423. A
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lust widerspräche dem besagten naturalen Zweck der Unlust. Dieser Widerspruch bestünde mithin schon vor und völlig unabhängig von der – von Kant hier ohnehin eher andeutungsweise durchgeführten – Universalisierung der untersuchten Maxime. In diesem Sinne ist M. G. Singer darin zuzustimmen, dass es sich bei diesem Anwendungsbeispiel methodisch gar nicht um eine »echte Anwendung des Kategorischen Imperativs« handelt 110 . 110 Vgl. Singer 1975, S. 281. Im Ergebnis ebenso Schnoor 1989, S. 129; Kersting 1983, S. 418; ähnlich: Harrison 1969a, S. 215 f.; Wimmer 1982, S. 311; Hoerster 1974, S. 470 f.; Korsgaard 1996, S. 158, Anm. 20; Wood 1999b, S. 86; Schönecker/Wood 2004, S. 132; Horn/Mieth/Scarano 2007, S. 234. Was generell den epistemologischen Status naturteleologischer Argumente betrifft, so muss man die von Kant auch in ethischen Begründungszusammenhängen gelegentlich behauptete Finalursächlichkeit natürlicher Gegebenheiten und Anlagen des Menschen (vgl. dazu die ausführliche Diskussion bei Schnoor 1989, S. 72–83) nicht – wie in der vorliegenden Interpretation bisher geschehen – im Sinne objektiver Erkenntnisurteile verstehen. Teleologische Zweckmäßigkeit der Natur im Allgemeinen ist gemäß der Kritik der Urteilskraft kein konstitutives Prinzip der Gegenstände – weder der Erscheinungen noch der sie begründenden übersinnlichen Noumena – in einer für uns objektiv bestehenden Weltordnung,. Sie ist vielmehr eine notwendige Beschreibungsperspektive, eine unentbehrliche heuristische Kategorie für den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess. In diesem Sinne spricht Kant auch von der »Teleologie der Natur, als einer in die Physik gehörigen Methode, die Fragen derselben aufzulösen« (KdU, KW V, 496; es ist unklar, wie diese Notwendigkeitsbehauptung – insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Kritik durch die Evolutionstheorie der modernen Biologie – heute noch nachgewiesen werden könnte; vgl. dazu Freudiger 1996, S. 429 m. Anm. 19). In der naturwissenschaftlichen Erforschung von Organismen sind wir nach Kant genötigt, von teleologischen Prinzipien auszugehen, da derartig »organisierte[.] und sich selbst organisierende[.] Wesen« (KdU, KW V, 486) durch eine rein ›mechanische‹, wirkursächliche Erklärungsart niemals vollständig erfasst werden können. Nach Kants Auffassung darf »keine menschliche Vernunft (auch keine endliche, die der Qualität nach der unsrigen ähnlich wäre, sie aber dem Grade nach noch so sehr überstiege) die Erzeugung auch nur eines Gräschens aus bloß mechanischen Ursachen zu verstehen hoffen« (KdU, KW V, 528; vgl. auch ebd., 490). Dass wir Organismen mechanisch nicht hinreichend erklären können, ist für Kant ein Faktum (vgl. Düsing 1968, S. 89); daher ist es für ihn unvermeidlich »die teleologische Beurteilungsart zum Prinzip der Naturlehre in Ansehung einer eigenen Klasse ihrer Gegenstände zu gebrauchen« (KdU, KW V, 496). Um sich die innere Wirkungsweise und Produktivität von Organismen verständlich zu machen, entwirft die teleologisch reflektierende Urteilskraft mit dem Begriff des ›Naturzwecks‹ eine bestimmte Modellvorstellung – ohne dabei jedoch der Natur selbst solche zweckmäßigen Absichten dogmatisch zuzuschreiben (dies behauptet allerdings, ohne jedwede Begründung, Kersting 1983, S. 418). So heißt es in der Kritik der Urteilskraft: »Die Zweckmäßigkeit der Natur ist also ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat. Denn den Naturpro-
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2.1.1.3 Das Kultivierungsgebot Die letzten beiden Beispiele der Grundlegung betreffen unvollkommene Pflichten. Diese werden nach Kant nicht durch einen Widerspruch im Denken, sondern nur durch einen Widerspruch im Wollen erkannt, der dann auftreten soll, wenn die betreffenden Maximen »zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde[n]« (vgl. Grundlegung, KW IV, 55). Im dritten Beispiel prüft Kant eine Maxime, die folgendermaßen formuliert wird: Solange ich mich »in bequemen Umdukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke, nicht beilegen, sondern diesen Begriff nur brauchen, um über sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflektieren« (KdU, KW V, 253; vgl. auch ebd., 496; vgl. dazu Düsing 1968, S. 86– 89). Die Natur wird durch diesen Begriff mithin lediglich so vorgestellt, »als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte. Nicht, als wenn auf diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müßte (denn es ist nur die reflektierende Urteilskraft, der diese Idee zum Prinzip dient, zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen); sondern dieses Vermögen gibt sich dadurch nur selbst, und nicht der Natur, ein Gesetz« (KdU, KW V, 253; Hervorheb. v. m.). Als ein bloß »regulatives Prinzip des Erkenntnisvermögens« (ebd., 272) erzeugt die Annahme einer teleologischen Zweckmäßigkeit der Natur die Vorstellung, dass der Verbindung und wechselseitigen Funktionalität der Teile und Glieder (als Organe) eines wirklichen natürlichen Wesens als ermöglichendes Organisationsprinzip eine »Idee« dieses (selbst)organisierten Ganzen vorausgeht, die wir nach Kant als dessen »übersinnlichen Bestimmungsgrund, über den blinden Mechanism der Natur hinaus,« ansehen müssen (ebd., 489; vgl. dazu Düsing 1968, S. 116–120). Diese »Einheit der Idee« (KdU, KW V, 489), die nach Kant aufgrund unserer diskursiven Erkenntnisart (vgl. dazu ausführlich Düsing 1968, S. 89–99) als dem organischen Naturprodukt immanente Zweckvorstellung gedacht werden muss, ist ein subjektiv-apriorisches »Prinzip der reflektierenden, nicht der bestimmenden Urteilskraft«, das »also keinen besondern Grund der Kausalität«, sondern lediglich eine ergänzende »Beurteilungsart«, »eine andere Art der Nachforschung, als die nach mechanischen Gesetzen ist«, einführt, »um die Unzulänglichkeit der letzteren« zu überwinden (vgl. KdU, KW V, 496 f.). Die allgemeine Vorstellung einer innerlich und äußerlich – das Verhältnis der organischen Wesen untereinander oder zu anderen Dingen betreffenden (vgl. dazu Düsing 1968, S. 121–127) – zweckmäßigen Verfasstheit der Organismen erscheint also als eine vom Menschen a priori entworfene Hinsicht auf die Struktur der Welt. Um sich (als Mensch) »in […] ihrer übergroßen Mannigfaltigkeit […] orientieren zu können« (KdU, KW V, 268), fasst die reflektierende Urteilskraft die besonderen empirischen Formen und Gesetze der Natur so auf, »als ob« (ebd., 253) sie von einem apriorisch-zwecksetzenden Prinzip eine systematisch-zielgemäße Ordnung erhielten. A
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ständen« befinde, die mir das mühelose Überleben sichern, ziehe ich es vor, »dem Vergnügen nachzuhängen, als [m]ich mit [der] Erweiterung und Verbesserung [m]einer glücklichen Naturanlagen zu bemühen« (ebd., 53). Nach Kant ist nun eine Natur, in der jeder sich dem Genuss (»Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung«; vgl. ebd.) hingibt und seine Talente rosten lässt, durchaus denkbar; sie bliebe »immer noch bestehen« (ebd.), da eine »innere Unmöglichkeit« wie im Falle der ersten beiden Beispiele hier »nicht anzutreffen« sei (ebd., 55). Allerdings könne der Mensch »unmöglich wollen«, dass die Maxime der kulturellen Selbstvernachlässigung »ein allgemeines Naturgesetz werde, oder als ein solches in uns durch Naturinstinkt gelegt sei«. »Denn als ein vernünftiges Wesen« – so Kant – will der Mensch »notwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben sind« (ebd., 53 f.). Diese Begründung kann wiederum naturteleologisch interpretiert werden 111 : Während die Natur in einer zweckursächlichen Betrachtungsweise bei nicht-vernünftigen Lebewesen die Wahl der lebenserhaltenden Zielsetzungen und der zu ihrer Realisierung erforderlichen Mittel festgelegt und »mit weiser Vorsorge lediglich dem Instinkte anvertraut« hat (Grundlegung, KW IV, 20), ist der Mensch aufgrund der Knappheit seiner »tierische[n] Ausstattung« (ebd., 36) darauf angewiesen, seine spezifisch menschlichen geistigen Fähigkeiten selbst zu entwickeln und auszubilden 112 . Daraus folgert Kant in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), nachdem er im 111 Der eine naturteleologische Deutung nahe legende Zusatz »und gegeben« ist von Kant erst in der zweiten Auflage eingefügt worden. Allerdings behauptet Kant in seiner nochmaligen Diskussion des Beispiels anhand der sog. Selbstzweck-Formel bereits in der Erstauflage, dass die menschlichen »Anlagen«, die uns kulturellen Fortschritt ermöglichen, »zum Zwecke der Natur in Ansehung der Menschheit in unserem Subjekt gehören« (Grundlegung, KW IV, 62). Für eine teleologische Interpretation des Beispielfalles vgl. insbesondere Ebbinghaus 1968c, S. 143 f. (die von Ebbinghaus, ebd., S. 156 f., auf der Grundlage der Allgemeinen-Gesetzes-Formel durchgeführte Interpretationsvariante kommt jedoch ohne naturteleologische Zusatzannahmen aus und ist daher zu bevorzugen) sowie Paton 1962, S. 185 f., der hier »beinahe […] die Sprache der Religion« hört (ebd., S. 185). 112 Vgl. auch Kants ausführlichere Darstellung der menschlichen Natur in seiner Anthropologie (KW VI, 672–690): »Es bleibt uns also, um den Menschen im System der lebenden Natur seine Klasse anzuweisen und so ihn zu charakterisieren, nichts übrig als: daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft; indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfektionieren; wodurch er als mit Ver-
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»Ersten Satz« das Prinzip der Zweckmäßigkeit allgemein für organische Wesen aufgestellt hat: »Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft, verschafft hat« (Idee, KW VI, 36).
Indem der Mensch also von seinem Vernunftvermögen und der »darauf sich gründende[n] Freiheit des Willens« Gebrauch macht, realisiert er nach Kant die »Absicht« der Natur »in Ansehung seiner Ausstattung« (ebd.). Inwiefern steht nun die Maxime, die eigenen Anlagen und Fähigkeiten nicht zu kultivieren, im Widerspruch zu diesem Verständnis der menschlichen Natur? Wie Kant an zahlreichen Stellen in seinen Schriften betont, ist es nicht eine Wirkung der Natur, sondern ein Akt der Freiheit des handelnden Vernunftsubjektes, sich einen Zweck der Handlungen zu setzen (vgl. etwa TL, KW IV, 514). Der Wille der praktischen Vernunft ist »das Vermögen der Zwecke« (vgl. KpV, KW IV, 175), und »ohne allen Zweck kann kein Wille sein« (Gemeinspruch, KW VI, 132 Anm.). Allerdings muss der Mensch die geeigneten »Mittel« zur Erreichung seiner selbstgesetzten Zwecke – d. h. die Kenntnisse und Fertigkeiten zur Verwirklichung von Handlungszielen, die den Bereich unserer natürlichen Instinktbestimmung überschreiten – durch die Ausbildung seiner Vermögen allererst erwerben (vgl. TL, KW IV, 580; KdU, KW V, 553 f.). Dementsprechend bestimmt Kant »Kultur« als die »Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt« (ebd., 554). Daraus folgt, dass die Maxime der völligen kulturellen Selbstvernachlässigung nur von einem Subjekt gewollt werden kann, das als vernünftiges Wesen kein vernünftiges Selbstinteresse mehr an der Tauglichkeit seines Willens zur Realisierung irgendwelcher selbstgesetzter Zwecke hat, d. h. das »mit der völligen Unnützlichkeit seines eigenen Willens einverstanden« ist 113 . Würde der Mensch die Kultivierung seinunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile) aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann« (ebd., 673). 113 Vgl. Ebbinghaus 1968c, S. 157. Der gemäß dieser Argumentation zu konstatierende Widerspruch – ein Wille, der die Zerstörung der Voraussetzungen seines eigenen zweckmäßigen Vollzugs zum Zweck hat, widerspricht sich selbst – beruht in erster Linie auf einem Verstoß gegen das Prinzip der Zweckrationalität hypothetischer Imperative A
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ner Talente prinzipiell verweigern, so gäbe er damit seine vernünftige Handlungsfähigkeit 114 auf und verlöre letztlich seinen Status als praktisches Vernunftwesen. Denn nur dort, wo ein echter, über die unmittelbar gegebene Naturausstattung hinaus erweiterter willkürlicher Handlungsspielraum besteht, der ein gewisses Maß an Talententfaltung zu seiner unentbehrlichen Voraussetzung hat, kann es einen vernünftigen und freien Willen geben 115 . Da Kant in seiner Argumentation lediglich jene spezifische Differenz voraussetzt, durch die »das Tier sich allererst zum Menschen erhebt« (TL, KW IV, 522), behält seine Schlussfolgerung auch dann ihre Gültigkeit, wenn man die unterstelle teleologische Betrachtungsweise (Grundlegung, KW IV, 46), mithin gegen ein bloßes Klugheitsgebot. Dieser Verstoß ist aber insofern – indirekt – auch von moralischer Bedeutung, als der Kategorische Imperativ (in der Selbstzweck-Formel; s. u. Kap. 2.1.2) vom vernünftigen Willen fordert, bestimmte kategorisch geforderte Zwecksetzungen zu verwirklichen: »dann nämlich ist auch die Entfaltung der zu ihrer Realisierung erforderlichen Fähigkeiten moralische Pflicht« (vgl. dazu Wimmer 1982, S. 315–317; hier verw. Zitat ebd., S. 317). Ein vernünftiges Wesen, das sich Zwecke setzen will, will notwendig auch das Vermögen, seine Zwecke auszuführen – denn nur so kann der Zweck Gegenstand der Willkür sein. Ohne das »Bewußtsein des Vermögens […] zur Hervorbringung des Objekts« handelte es sich um einen bloßen »Wunsch« (vgl. RL, KW IV, 317; vgl. dazu auch Ricken 2000, S. 243). 114 D. h. die »Tauglichkeit« des Willens, »sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen, und […] die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen, als Mittel, zu gebrauchen (KdU, KW V, 553). 115 Es ist ein analytisches Merkmal des Willensbegriffs, sich nicht bloß Zwecke zu setzen, sondern sie auch mit den erforderlichen und möglichen Mitteln zu verfolgen (vgl. Grundlegung, KW IV, 46 f.). O. Höffe hat darauf hingewiesen, dass das »weite« Kultivierungsgebot (Grundlegung, KW IV, 55) jedoch nicht bedeutet, dass man dazu verpflichtet ist, »seine Talente und Fähigkeiten insgesamt und auf das Höchste zu entfalten« (vgl. Höffe 1977, S. 381). Da das sittliche Verbot der Kulturunwilligkeit ganz allgemein in der Wahrung autonomer Handlungsfähigkeit begründet liegt, bleibt es unbestimmt, in welche Richtung und in welchem Maße eine bestimmte Person ihre Fähigkeiten zu kultivieren hat. Wie Kant in der Metaphysik der Sitten betont, ist die »unvollkommene« sittliche Pflicht, »sich das Vermögen zu[r] Ausführung allerlei mögliche[r] Zwecke […] zu verschaffen oder es zu fördern« »von weiter Verbindlichkeit« (TL, KW IV, 522); hinsichtlich der auszuführenden Handlungen gestattet sie einen »Spielraum«, der es der erfahrungsbezogenen Urteilskraft überantwortet, in welchem Maße und mit welchen Mitteln wir der normativen Vorgabe unter gegebenen Umständen nachkommen (ebd., 520; s. o. S. 86–89): »Wie weit man in Bearbeitung (Erweiterung oder Berichtigung seines Verstandesvermögens, d. i. in Kenntnissen oder in Kunstfähigkeit) gehen solle, schreibt kein Vernunftprinzip bestimmt vor, auch macht die Verschiedenheit der Lagen, worein Menschen kommen können, die Wahl der Art der Beschäftigung, dazu er sein Talent anbauen soll, sehr willkürlich« (TL, KW IV, 522).
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ausklammert, gemäß der es von der Natur vorgesehen ist, dass vernunftbegabte Wesen durch Talentkultur ihre Fähigkeit zur Verwirklichung selbstgesetzter Handlungsziele ausbilden und wahren 116 . Dass der Mensch als praktisches Vernunftwesen um die Entwicklungsfähigkeit seiner ihm »zu allerlei möglichen Absichten dienlich[en]« (Grundlegung, KW IV, 54) – d. h. auf die Aktualisierung seines Willens bezogenen – Naturanlagen weiß, ist ein integraler Bestandteil der zu prüfenden Maxime und keine von außen eingeführte Zusatzannahme 117 . Das entscheidende Argument für die Begründung des Kultivierungsgebotes in der Grundlegung besteht also darin, dass ein Mensch, der die Verwahrlosung seiner Vermögen dem eigenen Handeln als Maxime zugrunde legt, es damit in Kauf nimmt, sich in einem ungewissen (a priori nicht feststellbaren) Umfang der Möglichkeit zu berauben, durch eigene Tätigkeit Zwecke zu realisieren, die er unabhängig von seiner Instinktbestimmung – aber freilich unter den Bedingungen der menschlichen Natur – selbstständig setzen und verfolgen kann 118 . Mit diesem subjektiven Willensprinzip beraubt er sich selber der Handlungsspielräume, die ihm als vernünftigem Naturwesen prinzipiell offen stehen 119 . Daraus folgt unmittelbar, dass ein Mensch die Maxime der kulturellen Selbstvernachlässigung nicht wollen kann. Zur Sicherstellung dieses Resultates bedarf es mithin gar nicht des Verallgemeinerungstests, anhand dessen Maxime und allgemeines Gesetz erst auf ihre geltungstheoretische Widerspruchsfreiheit hin zu überprüfen wären: »das Nichtwollenkönnen meiner Maxime als Gesetz ist gar nicht der logische Grund ihrer Pflichtwidrigkeit, sondern lediglich deren logische Folge« 120 . Wie im Selbstmord-Beispiel bildet Kants – hier allerdings in sich schlüssige – Argumentation keinen Anwendungsfall des Kategorischen Imperativs 121. 116 Vgl. Höffe 1977, S. 380 f.; Wimmer 1982, S. 315–317; Schöndorf 1985, S. 566, Anm. 44 sowie Rapic 2007, S. 425 f. 117 Dieser Sachverhalt ist auf der Grundlage der Argumentation in der ersten Auflage der Grundlegung auch der allein hinreichende Grund dafür, dass der Mensch praktisch»notwendig« seine Begabungen entwickeln »will« (Grundlegung, KW IV, 54). 118 Vgl. Ebbinghaus 1968c, S. 157. 119 Vgl. Rapic 2007, S. 426. 120 Kersting 1983, S. 420. 121 Hierin übereinstimmend Hoerster 1974, S. 473 f.; Wimmer 1982, S. 315–317; Kersting 1983, S. 419 f.; Schnoor 1989, S. 161; Nisters 1989, S. 81; Wood 1999b, S. 90 f.; Schönecker/Wood 2004, S. 135 m. Anm. 50; Rapic 2007, S. 426.
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2.1.1.4 Das Hilfsgebot Ein Beispiel für eine ›unvollkommene Pflicht gegenüber anderen‹ bildet nach Kant die Unterstützung Notleidender. Die in diesem vierten und letzten Beispielfall der Grundlegung zu prüfende Maxime lautet: »[M]ag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden, oder seinem Beistande in der Not, habe ich nicht Lust, etwas beizutragen« (Grundlegung, KW IV, 54). Die den Situationstyp charakterisierenden Umstände werden dahingehend näher bestimmt, dass es dem Handelnden »wohl geht« und er anderen, die »mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen haben«, »auch helfen könnte« (ebd.). Wie in dem vorhergehenden Beispiel behauptet Kant auch hier, dass »es möglich ist, daß nach jener Maxime ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen könnte« (ebd.). Eine Welt mit wenigstens zwei Personen, in der sich jeder mit naturgesetzanaloger Notwendigkeit teilnahmslos verhält, d. h. Hilfeleistungen weder annimmt noch anderen zukommen lässt, um – unbehelligt von den Interessen anderer – eine auf sich selbst gestellte Lebensweise zu verwirklichen, ist durchaus widerspruchsfrei denkbar. Denn eine naturgesetzlich-»allgemeine Teilnahmslosigkeit hat auf die Realisationsbedingungen besonderer Teilnahmslosigkeit keinerlei Einfluß« 122 . Gleichwohl ist es aber – so Kant – »unmöglich, zu wollen«, dass eine solche Maxime der Unterlassung »als Naturgesetz allenthalben gelte«. »Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er, durch ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz, sich selbst alle Hoffnung des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde« (Grundlegung, KW IV, 54).
Die These, dass die Maxime allgemeiner Teilnahmslosigkeit widersprüchlich ist, weil die sie anerkennende Person hilfsbedürftig werden könnte, klingt empirisch-konsequentialistisch und ist leicht dem Missverständnis ausgesetzt, durch das subjektives Interesse dieser Person motiviert zu sein. So könnte man Kants Argumentationsfigur trotz seiner diesbezüglichen Verwahrung 123 in die Nähe der sog. Goldenen Re122 123
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Vgl. Kersting 1983, S. 420. Vgl. auch Brinkmann 2003, S. 223. Vgl. Grundlegung, KW IV, 62 Anm.
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gel rücken 124 und behaupten, die sittliche Forderung, Notleidenden Hilfe zukommen zu lassen, werde von Kant dadurch gerechtfertigt, dass die Aussichten auf einen damit verbundenen Vorteil für den Handelnden – der etwa darin bestünde, dass die durch seine Hilfsbereitschaft erworbenen Sympathien ihn für den Fall einer eigenen Notlage auch Hilfeleistungen von anderen erwarten lassen – die als Nachteil empfundene Last, die ihm durch Hilfeleistungen seinerseits entsteht, überwiegen. Gewiss wird eine Person gemäß dieser empirisch-pragmatischen Gedankenführung die Maxime, Notleidenden jeglichen Beistand zu versagen, – nach der sie ja nicht einmal selber handeln will – auch nicht als allgemeines Naturgesetz wollen können. Aber mit einer solchen Deutung, die in der kalkulierenden Rücksicht auf den eigenen Vorteil des Willensubjektes, d. h. in dem subjektiven Wert der zu erwartenden empirischen Folgen, den Grund für die Pflichtwidrigkeit prinzipieller Teilnahmslosigkeit (bzw. für die Pflichtmäßigkeit prinzipieller Hilfsbereitschaft) sieht, würde Kants Intention grundsätzlich verfehlt (vgl. auch o. S. 111–114) 125 . Denn mit dem Kategorischen ImDies tut Schnoor 1989, S. 163. Kant ist sich möglicher Missverständnisse und Einwände, denen gerade dieses Ableitungsbeispiel schon sehr früh ausgesetzt gewesen ist (vgl. dazu Ebbinghaus 1968a, insbes. S. 90 f.; Kersting 1983, S. 412 f.), selbst durchaus bewusst. So betont er an anderer Stelle auch ausdrücklich, dass eine allgemeine Hilfspflicht mit der sog. Goldenen Regel nicht zu begründen ist, da »mancher […] es gerne eingehen [würde], daß andere ihm nicht wohltun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen« (Grundlegung, KW IV, 62 Anm.). Um Missverständnissen vorzubeugen, erwähnt er auch die gesellschaftlich privilegierte Situation, die Wohlhabenheit, des Maximeninhabers, die es diesem möglicherweise unwahrscheinlich erscheinen lässt, je in eine Notlage zu geraten, in der er der Hilfe anderer bedarf. Insofern hat Kant die fatalen relativistischen Konsequenzen sehr wohl erkannt, die eine von der subjektiven Interessenlage des Handelnden abhängige Begründung des Hilfsgebotes nach sich zöge (vgl. dagegen Hoerster 1974, S. 473): Gesellschaftlich privilegierte Personen, die aufgrund ihrer besonderen empirischen Umstände das Risiko eingehen zu können glauben, auf die Inanspruchnahme fremder Hilfe gänzlich zu verzichten, weil sie die damit verbundenen Nachteile geringer einschätzen als die Belastungen, die ihnen durch Hilfeleistungen ihrerseits entstehen, gerieten bei der Verallgemeinerung der Maxime der Teilnahmslosigkeit in keinen Wollenswiderspruch. Gleichermaßen könnte auch ein Mensch, der aus persönlichem Stolz oder anderen Charaktereigenschaften – etwa weil er mit Geduld und aushaltender Stärke gegen die eigenen Leiden versehen ist (vgl. Grundlegung, KW IV, 24) – jegliche Unterstützung in einer eigenen Notlage ablehnt, nicht zur Hilfeleistung gegenüber anderen verpflichtet werden (vgl. dazu Hoerster 1974, S. 472 f.; Nisters 1989, S. 27–31; Schönecker/Wood 2004, S. 136 f. und Brinkmann 2003, S. 227 f.; Rapic 2007, S. 427). 124 125
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perativ will Kant ja gerade allen Versuchen, ethische Normen in unserem wohlverstandenen Eigennutz zu fundieren und somit die Unterworfenheit unter ein Pflichtgebot von empirisch bedingten Bestimmungsmomenten des Willens abhängig zu machen, eine eindeutige Absage erteilen (vgl. insbes. KpV, KW IV, 146–155). Weshalb aber kann man nach Kant die Maxime der generellen Beistandsverweigerung nicht als ein allgemeines Naturgesetz wollen bzw. weshalb kann man nicht wollen, dass jegliche Unterstützung im Falle einer eigenen Notlage praktisch unmöglich ist? Einen Anhaltspunkt für eine adäquate Interpretation der Überlegungen Kants bieten jene Textstellen, in denen er die prinzipielle Bedürftigkeit und Verletzlichkeit des Menschen, dessen ›Bedürfnis nach anderer Liebe und Teilnehmung‹, offenbar als anthropologische Situationskonstante beurteilt. So begründet er die These, dass die Maxime »des Wohltuns gegen Bedürftige« eine »allgemeine Pflicht der Menschen« ist, in der Metaphysik der Sitten damit, dass wir als »als Mitmenschen, d. i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen anzusehen sind« (TL, KW IV, 589 f.) 126 . Lässt sich bereits anhand dieser – freilich hochgenerellen – empirischen Prämisse das Nicht-Wollen-Können der Maxime, Notleidende sich selbst zu überlassen, als Naturgesetz begründen? Da er nicht weiß, wie es ihm in Zukunft ergehen wird, kann selbst der wohlhabendste, gesündeste und stärkste Mensch a priori niemals ausschließen, im Laufe seines Lebens – etwa aufgrund einer schweren Krankheit, eines Kriminaldeliktes oder einer Naturkatastrophe – in eine lebensbedrohliche Notlage zu geraten, die ihm die Aufbietung seiner ganzen Willenskraft abverlangt, so dass er eigenständige Zweckset-
126 Die durch die Bemerkung »durch die Natur« nahe gelegte teleologische Prämisse, es sei ›von der Natur gewollt‹, dass Menschen auf die Kooperation und Hilfsbereitschaft ihrer Artgenossen angewiesen sind, soll aus den oben genannten Gründen (s. o. S. 127 f.) in den folgenden Überlegungen ausgeklammert werden. In Kants Erörterung des Hilfsgebotes in der Grundlegung spielen naturteleologische Begründungsmomente keine Rolle (vgl. dazu Wimmer 1982, S. 319 f.). Vielmehr setzt Kant hier – ohne dass er es ausdrücklich erwähnt – als selbstverständlich voraus, dass der Handelnde selbst immer schon darum weiß, dass er als endliches Vernunftwesen in Notsituationen, deren Art und Umfang a priori nicht bestimmbar sind, geraten kann, in denen er möglicherweise auf fremde Hilfe angewiesen ist. Bei der Bestimmung des Menschen als ein der Kooperation grundsätzlich bedürftiges vernünftiges Wesen handelt es sich daher nicht um eine von außen an die Maxime herangetragene Zusatzannahme.
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zungs- und Handlungsmöglichkeiten, über die er als praktisches Vernunftwesen prinzipiell verfügt, nicht mehr aus eigener Kraft verwirklichen kann. In einer solchen Situation bestünde das einzige und damit unentbehrliche Mittel zur Wahrung seiner Freiheitsspielräume in der Hilfe anderer. Wer es sich zur Maxime setzt, ein radikal individualistisches Leben zu führen, und – das wollende Subjekt als zugleich gesetzgebend gedacht – dies auch allen anderen Mitmenschen abverlangt, muss eben auch wollen, dass im Falle eigener Not, die er autark zu bewältigen nicht in der Lage ist, die Möglichkeit zerstört wird, selbstgesetzte Handlungszwecke (in einem a priori nicht bestimmbaren Ausmaße) zu verwirklichen. Dies gilt zum einen und gerade für die Realisierung des elementaren Zwecks der Erhaltung der eigenen Existenz, auf den ein autonomes Vernunftwesen – solange es nicht nur noch das eine Ziel verfolgt, sein Leben zu beenden – nicht grundsätzlich verzichten kann, da es somit zugleich die Bedingungen der Möglichkeit zerstören würde, überhaupt etwas zu wollen (d. h. sich Zwecke zu setzen und diese zu verfolgen) 127 . Es gilt zum anderen aber auch für über die konkrete Existenzerhaltung hinausgehende Zielvorstellungen und Lebensentwürfe, zu deren Aufrechterhaltung und Verwirklichung eine Person in Notsituationen Unterstützung benötigt. So müsste eine die Maxime der allgemeinen Teilnahmslosigkeit als Naturgesetz wollende Person – da eine akute Notlage jederzeit eintreten kann – auch das Risiko auf sich nehmen, dass ihre langfristig verfolgten und in die Zukunft sich erstreckenden Lebenspläne von einem Moment zum anderen unwiderruflich zunichte gemacht würden. »Wer sich die Handlungsspielräume bewahren will, die uns die Vernunft eröffnet, kann daher nicht wollen, dass die Maxime, Notleidenden keine Hilfe zukommen zu lassen, zum Gesetz erhoben wird.« 128
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Vgl. Wimmer 1982, S. 318 f. Vgl. dazu auch Korsgaard 1996, S. 96 f.: »Examples of purposes that might be thought to be essential to the will are its general effectiveness in the pursuit of its ends, and its freedom to adopt and pursue new ends. The argument[.] for […] mutual aid will then be that without the […] resources of mutual cooperation, the will’s effectiveness and freedom would be thwarted.« Vgl. Rapic 2007, S. 427. A
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2.1.1.5 Zwischenfazit Überblickt man die vorgetragenen Überlegungen zu den vier Ableitungsbeispielen der Grundlegung, so wird die von Kant behauptete These, »vollkommene« und »unvollkommene« Pflichten ließen sich mittels der Unterscheidung zwischen Maximen, deren universale Gültigkeit sich nicht einmal denken lässt, und Maximen, die als Naturgesetze zwar gedacht, nicht aber gewollt werden können, voneinander abgrenzen, weder durch den Anwendungsfall des falschen Versprechens (bzw. der Lüge im Allgemeinen) noch durch den der Gleichgültigkeit gegenüber Notleidenden bestätigt. Darüber hinaus ist im Beispiel desjenigen, der es bewusst unterlässt, seine artspezifischen Begabungen zu entwickeln, der von Kant aufgezeigte Wollenswiderspruch verallgemeinerungsunabhängig, mithin außerhalb des Anwendungsbereiches des Kategorischen Imperativs rekonstruiert worden; universalisiert man die Maxime der Selbsttötung aus Lebensüberdruss, ist überhaupt kein Selbstwiderspruch konstatierbar. Wenngleich dieses Ergebnis mit Kants ausdrücklichen Erklärungen in der Grundlegung unvereinbar ist, lässt sich den Beispielfällen des betrügerischen Versprechens und der prinzipiellen Hilfsverweigerung ein modifiziertes Abgrenzungskriterium für die Unterscheidung von zwei Widerspruchsarten entnehmen. Da bei der Überprüfung der beiden genannten Handlungsmaximen anhand des Universalisierungstests jeweils unterschiedlich geartete Widerspruchsmomente für die Begründung ihrer Pflichtwidrigkeit maßgeblich sind, ergibt sich der in beiden Fällen diagnostizierte ›Widerspruch in unserem eigenen Willen‹ auch auf unterschiedlichem Wege. Für das Verbot des unaufrichtigen Versprechens ist die Überlegung ausschlaggebend, dass der unehrliche Promittent – vor dem Hintergrund anthropologischer Grundannahmen sowie aufgrund des sozialinstitutionellen Charakters des Versprechensbegriffes (s. o. S. 96) – nur dann eine erfolgversprechende Aussicht darauf hat, die seiner Lüge eigentümliche Zwecksetzung zu verwirklichen, wenn die Maxime durchgängiger Wahrhaftigkeit, die er selbst nicht anerkennt, von den meisten anderen Personen grundsätzlich befolgt wird. Demgegenüber ist es keine notwendige Realisationsbedingung der mit der Maxime der Teilnahmslosigkeit verfolgten Handlungsziele, dass diese Handlungsweise eine Ausnahme bleibt. Das im Hinblick auf das Verständnis der Widerspruchsgenese entscheidend Neue dieses Beispielfalles besteht darin, dass eine in der 138
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zu überprüfenden Maxime selbst unmittelbar gar nicht enthaltene, vielmehr elementare Zielsetzung des Willens – nämlich die Erhaltung der Möglichkeit, in einer spezifisch und numerisch unbestimmbaren Anzahl möglicher Fälle selbstgesetzte Handlungszwecke im Allgemeinen zu verwirklichen – in das Bewertungsverfahren eingeführt wird. Somit spielen zwar auch für die Ableitung des Hilfsgebotes Zwecke eine entscheidende Rolle. Aber die Begründung des aufgezeigten Wollenswiderspruchs stützt sich nicht – wie im Falle des unehrlichen Versprechens – auf eine bestimmte, ›handlungsinterne‹ Zwecksetzung, deren Realisierung von der Annahme faktisch geltender (sprachlicher) Verwendungsregeln einer konventionell akzeptierten sozialen Institution (die gesellschaftliche Praxis des Versprechens) abhängig ist. Die Möglichkeit bzw. Pflicht zur Unterstützung Hilfsbedürftiger ist offenkundig von nicht-institutioneller Natur. Sie hat zu ihrer einzigen empirischen Voraussetzung, dass der Mensch ein der wechselseitigen Hilfe bedürftiges und fähiges praktisches Vernunftwesen ist. Die Unterscheidung zwischen institutionellen und nicht-institutionellen Pflichten könnte sich dazu anbieten, die Differenzierung zweier Widerspruchsarten für eine Klassifizierung von Pflichten nutzbar zu machen. Eine auf dieser Unterscheidung basierende Abgrenzung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten im Sinne Kants wäre allerdings problematisch. Denn auch das generelle moralische Verbot, andere Personen nach Gutdünken (ohne dass diese das eigene Leben bedrohen) zu töten, lässt sich unabhängig von bestehenden sozialen Institutionen mit dem Universalisierbarkeitskriterium des Kategorischen Imperativs begründen: Wer für sich das Recht in Anspruch nimmt, andere Personen zu ermorden, kann nicht wollen, dass seine Maxime wie ein allgemeines Naturgesetz gilt, da er sich dann selber in ständiger Lebensgefahr befände. Gleichwohl handelt es sich bei dem Tötungsverbot prima facie um eine vollkommene Pflicht, die »unnachlasslich«, d. h. ohne Abstriche befolgt werden muss (vgl. Grundlegung, KW IV, 55; s. aber u. S. 159–162) 129 .
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Vgl. dazu Rapic 2007, S. 428; Brinkmann 2003, S. 221–224. A
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2.1.2 Die ›Selbstzweck-Formel‹ und das regulative Ideal eines »Reichs der Zwecke« Im weiteren Textverlauf der Grundlegung zieht Kant eine Zwischenbilanz und leitet damit zu denjenigen Formulierungen des Kategorischen Imperativs über, die explizit auf den Zweckbegriff Bezug nehmen. In ihnen wird die praktische Welt und die Situation des in ihr Handelnden von einem neuen Blickpunkt aus gekennzeichnet, der nicht die Form einer universalen Gesetzlichkeit des Wollens, sondern den inhaltlich-materialen Aufbau der Handlungswelt aus MittelZweck-Relationen in den Vordergrund rückt. Wie wir bereits erörtert haben (s. o. S. 110–112), bedeutet die Tatsache, dass die Absicht zur Hervorbringung bestimmter Zwecke gemäß Kants Auffassung in den ethischen Grundlegungsschriften als Bestimmungsgrund einer sittlich guten Willensverfassung nicht infrage kommt (vgl. Grundlegung, KW IV, 71), keineswegs die generelle Verfehltheit einer Beschreibung und Herleitung ethischer Pflichten anhand materialer Begriffe. Bereits für die Anwendung der Universalgesetz- bzw. Naturgesetz-Formel war die faktische Zweckorientierung des vernünftigen Willens als Interpretationsschema moralischen Handelns unentbehrlich. M. Gregor bemerkt diesbezüglich treffend: »Although the supreme principle of moral philosophy is a formal one, the structure of practical reason is such that we cannot determine ourselves to act on this principle without setting ends for ourselves.« 130 Für Kant nimmt »[d]ie vernünftige Natur […] sich dadurch vor den übrigen aus, daß sie ihr selbst einen Zweck setzt« (Grundlegung, KW IV, 71) 131 . Weil der Wille als rationales Strebevermögen eo ipso einen Zweckbezug enthält, sind auch sämtliche auf einem Willensentschluss basierenden Handlungen zielgerichtet und gehen auf die Verwirklichung von konkreten Zwecksetzungen aus. Handlungsziele, die sich jemand »nach Belieben«, d. h. aus Gründen, die nicht allgemein gelten, zu eigen macht, sind »subjektive Zwecke«. Deren »Wert« lässt sich »nur relativ«, d. h. in Abhängigkeit von der empirisch-kontingenten Voraussetzung bemessen, dass sie von einem sinnlich affizierbaren Willenssubjekt als »der Grund von hypothetischen Imperativen« angestrebt werden – »denn nur bloß ihr Verhältnis Gregor 1993, S. 86. Vgl. auch TL, KW IV, 522: »Das Vermögen, sich überhaupt irgend einen Zweck zu setzen, ist das Charakteristische der Menschheit (zum Unterschiede von der Tierheit).« 130 131
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auf ein besonders geartetes Begehrungsvermögen des Subjekts gibt ihnen den Wert« (ebd., 59). Demgegenüber wäre ein objektiver, unbedingt notwendiger Zweck »von absolutem Werte« für jedes praktischer Vernunft fähige Wesen (ebd., 60). Seine Anerkennung und Verfolgung könnte daher nicht von sinnlichen Bedürfnissen und Neigungen des Handlungssubjektes abhängen 132 . Vielmehr wäre ihm nicht nur fallweise – mit der bedingten praktischen Notwendigkeit hypothetischer Imperative –, sondern in jedem Handeln durchgängig Rechnung zu tragen; er müsste als unbedingter »selbständiger Zweck« »jederzeit […] in jedem Wollen geschätzt werden« (ebd., 71) und »aus reiner Vernunft entspringen« (ebd., 63). Entsprechend handelte es sich bei ihm auch nicht um einen »durch unsere Handlung zu erwerbenden« (ebd., 60), allererst »zu bewirkenden Zweck« (ebd., 71), sondern um ein sich selbst genügendes allgemeinverbindliches Handlungsziel, das unabhängig von subjektiven Mittel-Zweck-Beziehungen für alle vernünftigen Wesen wirklich »existiert« (ebd., 59). In ihm würde »der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen« (ebd.), der relativen Zwecken einen sittlichen Wert gibt, insofern er sie und die zu ihrer Verfolgung eingesetzten Mittel in den durch ihn gebotenen Maximen als gut qualifiziert 133 . Dieser absolute Zweck132 »Alle Gegenstände der Neigungen haben nur einen bedingten Wert; denn, wenn die Neigungen und darauf gegründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegenstand ohne Wert sein. Die Neigungen selber aber, als Quellen der Bedürfnis, haben so wenig einen absoluten Wert, um sie selbst zu wünschen, daß vielmehr, gänzlich davon frei zu sein, der allgemeine Wunsch eines jeden vernünftigen Wesens sein muß« (Grundlegung, KW IV, 60). 133 Da nach Kant »nichts einen Wert [hat], als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt« (Grundlegung, KW IV, 69) und praktische »Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen« (ebd., 66) sind »[g]ute Zwecke […] diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden; und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können« (vgl. Pädagogik, KW VI, 707). Vgl. dazu Paton 1962, S. 227 f.; Kaulbach 1996, S. 75. Chr. Korsgaard spricht in diesem Zusammenhang von einem »Wert übertragenden Status« (»value-conferring status«) von gesetzmäßigen Vernunfthandlungen: »[W]hat makes the object of your rational choice good is that it is the object of your rational choice […]. [I]n our actions we view ourselves as having a valueconferring status in virtue of our rational nature. We act as if our own choice were the sufficient condition of the goodness of its object […]. This in turn means that no choice is rational which violates the status of rational nature as an end« (Korsgaard 1996, S. 122 f.). Vgl. dazu auch ebd., S. 128–131; Horn 2004, S. 207.
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inhalt besäße mithin den gesetzlichen Status einer »oberste[n] einschränkende[n] Bedingung aller subjektiven Zwecke« (Grundlegung, KW IV, 63). Als eine solche Entität kommt nach Kant nur die aus sich heraus zwecksetzende »vernünftige Natur« (ebd., 61) selbst in Betracht. Ihr Wille, d. h. ihr »Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt« (ebd., 41), zeichnet sie als »Zweck an sich selbst« aus, der »einen innern Wert, d. i. Würde« besitzt (ebd., 68) 134 . Als »Subjekt aller möglichen Zwecke« (ebd., 71) ist die vernünftige Natur das erste und letzte Umwillen in den Mittel-Zweckreihen der Handlungswelt. Dass »der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, […] als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen« existiert (ebd., 59 f.), bedeutet mithin, dass er sich sein Dasein notwendig in der Stellung des selbstverpflichtenden, d. h. autonomen Gesetzgebers im hierarchischen Aufbau der nach dem Mittel-Zweck-Verhältnis interpretierten Handlungswelt vorstellt 135 . Die zweite »Formel« des Kategorischen Imperativs, die sog. Selbstzweck-Formel, fordert daher vom Handelnden, sich selbst sowie jede andere Person niemals bloß in der instrumentellen Funktion eines relativen Zwecks mit bloßem Objekt-Charakter, sondern immer auch als selbstzweckhaftes, intrinsisch wertvolles Subjekt zu deuten und zu behandeln. Sie lautet: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (Grundlegung, KW IV, 61) 136 . Orientiert und motiviert 137 sich ein – in der Formel voraus134 Autonomie, d. h. die Fähigkeit, sich selbstbestimmte praktische Gesetze zu geben und diese zu befolgen, ist die Eigenschaft, aufgrund der Vernunftwesen – »die darum auch Personen heißen« (vgl. Grundlegung, KW IV, 72) – Zweck an sich selbst sind und damit Wesen, die Würde besitzen: »Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur« (ebd., 69); »die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein« (ebd., 74). 135 Vgl. u. a. Grundlegung, KW IV, 61: »So stellt sich notwendig der Mensch sein eignes Dasein vor […].« Vgl. dazu Kaulbach 1996, S. 73–78; Steigleder 2002, S. 61–67. 136 Der Ausdruck »Menschheit« ist in diesem Kontext primär kein empirisch-biologischer Gattungsbegriff, sondern bezieht sich auf den intelligiblen oder noumenalen Charakter des Menschen – mithin auf dasjenige Wesensmerkmal, durch das er sich als Selbstzweck auszeichnet: sein praktisches Vernunftvermögen. Vgl. dazu die sich mit der von »Persönlichkeit« und »Person« berührende Unterscheidung zwischen der
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gesetztes – endliches Vernunftwesen (homo phaenomenon) bei der empirischen Setzung und Verfolgung von Handlungszielen durch das Prinzip des Selbstzwecks der Personalität (homo noumenon), d. h. erfolgt die Prüfung und Annahme seiner Maximen aus Achtung vor der Würde der gesetzgebenden vernünftigen Natur in sich und allen anderen Personen (Grundlegung, KW IV, 69), so kann die Verfassung des so bestimmten Willens »schlechterdings gut« genannt werden (ebd., 70 f.). Wenngleich Kant empfiehlt, bei der »sittlichen Beurteilung« von Handlungsmaximen, d. h. der Ableitung und Einteilung konkreter sittlicher Pflichten, die grundlegende Allgemeine-Gesetzes-Formel heranzuziehen (vgl. ebd., 70), so gilt dennoch auch für die SelbstzweckFormel, dass aus ihr »alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können« (ebd., 61). Beide Formeln bringen nach Kants Ansicht letztlich dasselbe Gesetz zum Ausdruck (vgl. ebd., 69) und sind demnach zumindest kriteriologisch-extensional äquivalent, d. h. sie müssen in ihrer Anwendung zu genau denselben Ergebnissen führen. Indem eine Person gemäß der Grundformel des Kategorischen Imperativs die widerspruchsfreie universale Gesetzlichkeit ihrer Maximen zum Bestimmungsgrund des Willens macht, respektiert sie nach Kant zugleich »die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann«, d. h. die in seiner Autonomie begründete »Moralität« (ebd., 68) 138 . »Das Prinzip: handle in Beziehung auf ein jedes vernünftiges Wesen (auf dich selbst und andere) so, daß es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst gelte, ist demnach mit dem Grundsatze: handle nach einer Maxime, die ihre eigene allgemeine Gültigkeit für jedes vernünftige Wesen zugleich in sich enthält, im Grunde einerlei. Denn, daß ich meine Maxime im Gebrauche der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer Allgemeingültigkeit, als eines Gesetzes für jedes Subjekt einschränken soll, sagt eben so viel, als: das Subjekt der Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst, muß niemals bloß als »Menschheit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit (homo noumenon)« und »dem Menschen (homo phaenomenon)« als empirischer Person (RL, KW IV, 347). Vgl. dazu Ricken 2000; Horn 2004, S. 205–207; Schönecker/Wood 2004, S. 149, Anm. 75. 137 Nach Kant stellt der »für jedes vernünftige Wesen gelten[de]« Zweck einen »Bewegungsgrund«, einen »objektiven Grund« der Selbstbestimmung des Willens dar (vgl. Grundlegung, KW IV, 59). 138 Vgl. Grundlegung, KW IV, 73 f.: »Moralität ist […] das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist, zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben.« A
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Mittel, sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Handlungen zum Grunde gelegt werden« (Grundlegung, KW IV, 71 f.).
Kant erläutert die Funktionsweise und Anwendung der SelbstzweckFormel, indem er die vier im Kontext der Naturgesetz-Formel diskutierten Beispielfälle nochmals heranzieht. So müsse derjenige, der »ein lügenhaftes Versprechen gegen andere zu tun im Sinne hat, sofort einsehen, daß er sich eines andern Menschen bloß als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich enthalte« (ebd., 61 f.). Als Begründung für diese These führt Kant an, dass »der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten brauchen will, […] unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen« kann (ebd., 62). In welchem Sinne ist es dem Adressaten meiner Lüge nicht möglich, sich mit dieser einverstanden zu erklären? Man könnte Kants Argumentation so verstehen, dass der Betrogene meiner Handlungsweise aufgrund des ihm durch sie zugefügten Schadens, mithin in einem empirischen, konsensuell-prozeduralistischen Sinne nicht zustimmen kann. Dagegen wäre allerdings einzuwenden, dass er den Schaden möglicherweise als unerheblich einschätzt und selbst meine betrügerische Absicht emotional gleichgültig oder gar wohlwollend toleriert. So ist es in dem konkreten Beispielfall etwa denkbar, dass die Person, von der ich vorgeblich Geld zu ›leihen‹ beabsichtige – obgleich ich mir insgeheim im Klaren darüber bin, es nicht zurückzahlen zu können –, mir diese Geldmenge aufgrund meiner finanziellen Notlage ohnehin schenken will, so dass wir letztlich das gemeinsame Ziel, d. h. den gleichen Zweck, verfolgen, ich solle das Geld besitzen, um meine Notsituation zu überwinden 139 . Gleichwohl würde ich den Betrogenen laut Kant auch in diesem Fall »bloß als Mittel« (Grundlegung, KW IV, 62) für meinen subjektiven Zweck behandeln, ohne ihn zugleich als Selbstzweck zu achten. Eine Person kann einer sie betreffenden Handlung bzw. einem damit verfolgten Zweck nicht in einem freiwilligen Sinne zustimmen, wenn ihr seitens des Akteurs nicht die Möglichkeit dazu eingeräumt wird. Ganz offensichtlich ist diese Unmöglichkeit einer freien Entscheidung bei zu erleidenden Zwangshandlungen der Fall; sie gilt aber auch für eine sol139 Vgl. Korsgaard 1996, S. 137 f.; Rapic 2007, S. 429 f. Es handelte sich deshalb nicht um denselben Zweck, weil die Überlegungen (Maximen), die zu seiner Annahme führten, in der Perspektive der beteiligten Personen jeweils unterschiedlich wären.
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che Handlungsweise, die den von ihr Betroffenen im Unklaren darüber lässt, was ihm eigentlich angeboten wird, d. h. zu welcher Zweckrealisierung er zustimmend beitragen soll. Die mit einer erfolgreichen Lüge verbundene Täuschung impliziert, dass deren Adressat nicht weiß, dass es sich um eine Lüge handelt 140 . Indem der Lügner ihm die Wahrhaftigkeit seiner Behauptung suggeriert, verfälscht er die für dessen Entscheidungsfreiheit relevanten Handlungs- bzw. Situationsinformationen und schränkt damit die selbstständige Handlungsfähigkeit des Belogenen ein. Für den vorliegenden Fall des lügenhaften Versprechens bedeutet dies, dass der Betrogene der »Art, gegen ihn zu verfahren«, deshalb nicht zustimmen kann, weil er der Möglichkeit einer freien Entscheidung über den zweckmäßigen Verbleib seines Geldes beraubt wurde. Der in der Perspektive der Selbstzweck-Formel maßgebliche Grund für die moralische Unzulässigkeit unaufrichtiger Zusagen besteht mithin darin, dass der unehrliche Promittent die Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung der betrogenen Person nicht respektiert. Dadurch dass er ihre Handlungsreaktion vermittels Manipulation der für eine freie Entscheidung erforderlichen Situationskenntnisse in einem deterministischen Sinne zu kontrollieren versucht, instrumentalisiert er die Person als ein bloßes Mittel zur Verwirklichung seiner subjektiven Zwecke 141 . Das daraus ableitbare Prüfkriterium – es handelt sich wie bei der Grundformel des Kategorischen Imperativs genauer um ein Verbotskriterium –, demgemäß eine Handlungsmaxime dann gegen eine moralische Pflicht verstößt, wenn sie die Fähigkeit sinnlicher Vernunftwesen zur Realisierung selbstgesetzter Handlungsziele ungesetzlich einschränkt, bestätigt sich in seiner Anwendung auf Kants Beispielfall 140 Insofern könnte auch die Person, die mir im oben geschilderten Fall selbst dann das Geld zu schenken beabsichtigte, wenn sie davon ausginge, dass mein Versprechen unehrlich ist, diesem nicht im eigentlichen Sinne, sondern allenfalls vorgeblich zustimmen. Dadurch, dass eine Person Kenntnis davon besitzt, was ein Betrüger gegen sie im Schilde führt, verändert sich die Qualität der ursprünglich intendierten Interaktion. Es handelte sich in dem hier diskutierten Beispiel dann nicht um die Zustimmung zu einem lügenhaften Versprechen, sondern um ein Geschenk. Vgl. Korsgaard 1996, S. 138 f. 141 Vgl. dazu Korsgaard 1996, S. 137–143; Horn 2004, S. 209; Rapic 2007, S. 429 f. Darüber hinaus werden im Falle eines unehrlichen Versprechens auch alle anderen selbstzweckhaften Personen, die aufrichtige Versprechen abgeben, in der bloßen Funktion eines Mittels instrumentalisiert, da sie die Voraussetzung für den Erhalt der sozialen Verwendungspraxis des Versprechensbegriffs bilden, die es erst ermöglicht, dass sich jemand auf diese Weise täuschen lässt (s. o. S. 96; vgl. Brinkmann 2003, S. 314).
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einer ›vollkommenen Pflicht gegen sich selbst‹. Wer Suizid begeht, »um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen«, bedient sich nach Kant seiner »Person bloß als eines Mittels zu[r] Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zu[m] Ende des Lebens« (Grundlegung, KW IV, 61). Die Handlungsmaxime des Selbstmords aus Lebensüberdruss missachtet demnach den absoluten Wert der ›Menschheit in der eigenen Person‹, da sie die Fähigkeit zur freien Zwecksetzung sinnlicher Vernunftwesen auf die bereits durch ihre natürliche Instinktbestimmung vorgegebene Zielsetzung des Lustgewinns bzw. der Schmerzvermeidung reduziert. Diese Argumentation schließt es allerdings nicht aus, dass der Entschluss zur Selbsttötung in bestimmten Fällen auch sittlich motiviert sein kann – etwa durch die damit beabsichtigte Erhaltung der Zwecksetzungsfähigkeit anderer Personen (s. o. S. 125, Anm. 106). In Bezug auf die beiden Ableitungsbeispiele für unvollkommene (»verdienstliche«) Pflichten fordert die praktische Vernunft nach Kant hinsichtlich unserer Handlungsmaximen nicht nur die »Erhaltung« (Grundlegung, KW IV, 62) bzw. »negative Übereinstimmung« mit der »Menschheit, als Zweck an sich selbst« (ebd., 63), sondern zudem die »Beförderung dieses Zwecks« (ebd., 62). So kann man demjenigen, der die Kultivierung seiner Anlagen prinzipiell vernachlässigt, vorwerfen, dass er seine selbstzweckhafte Handlungsfähigkeit instrumentalisiert, um die ihm als vernunftbegabtem Wesen grundsätzlich offen stehenden Freiheitsspielräume aufzugeben und für die Befriedigung seiner Bedürfnisse lediglich bei der ihm unmittelbar gegebenen instinktiven Naturausstattung zu verbleiben 142 . Insofern die Aktualisierung und Kultivierung von spezifisch menschlichen Vermögen unsere Handlungsspielräume erweitert, findet auf diese Weise eine »Beförderung« der »Menschheit« als eines »Zwecks an sich selbst« statt (Grundlegung, KW IV, 62). Die Maxime der Gleichgültigkeit gegenüber der Hilfsbedürftigkeit notleidender Personen ist nach Kant mit deren Selbstzweckcharakter nicht in einem positiven Sinne vereinbar, da – »wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung tun soll« – die Zwecke aller anderen Personen »auch, so viel möglich, meine Zwecke sein« müssen (ebd., 63) 143 . Wer in Notsituationen befindliche Personen im 142 Insofern hat eine bewusste Unterlassung der Entwicklung von Begabungen sehr wohl eine Minderung der eigenen Zwecksetzungsfähigkeit zur Konsequenz; vgl. dagegen Horn 2004, S. 209. 143 Kant weist darauf hin, dass jemand, der anderen Personen zwar nicht bewusst Scha-
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Rahmen seiner durch erfahrungsvermittelte praktische Urteilkraft auszulotenden Möglichkeiten grundsätzlich unterstützt – ihnen mithin Handlungsspielräume, über die sie aus eigener Kraft nicht (mehr) verfügen, (rück)erschließen will –, behandelt die Menschheit in jeder Person daher insofern »als Zweck an sich selbst« im Sinne des erweiterten Kriteriums für unvollkommene Pflichten, als er die relativen »Zwecke anderer, so viel an ihm ist, zu befördern trachtet[.]« (Grundlegung, KW IV, 63). Nach Kant handelt es sich bei der Regel, nur nach solchen Maximen zu handeln, die aufgrund ihrer allgemeinen Form »ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu sein fähig« sind (ebd.), der inhaltlichen Charakterisierung »jeder vernünftigen Natur […] als Zwecks an sich selbst« (ebd.) und der selbstverpflichtenden Autonomie »eines durch alle seine Maximen allgemein gesetzgebenden Willens« (ebd., 64 f.) um »drei Arten, das Prinzip der Sittlichkeit vorzustellen«, d. h. um drei unterschiedliche »Formeln eben desselben Gesetzes, deren die eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt« (ebd., 69). Demnach bringt die NaturgesetzFormel den Gesichtspunkt der allgemeinen »Form« und die Selbstzweck-Formel den selbstzweckhaften Inhalt, d. h. die »Materie« ethisch legitimer Maximen, zum Ausdruck. Das Autonomieprinzip stellt den systematischen Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten her. Als das »dritte praktische Prinzip des Willens« macht es die »oberste Bedingung der Zusammenstimmung« des Willens »mit der allgemeinen praktischen Vernunft« aus (ebd., 63), indem es »die Lossagung von allem [empirischen] Interesse 144 beim Wollen aus Pflicht, als das spezifische Unterscheidungszeichen des kategorischen vom hypothetischen Imperativ« verdeutlicht (ebd., 64; Hervorheb. v. m.) 145 . Die Leistung den zufügt, ihnen in Notsituationen aber auch nicht helfen will, dem Selbstzweckcharakter der Persönlichkeit in ihnen nicht vollständig zuwider handelt. Da er sich ihrem Vermögen, selbstgesetzte Handlungswecke zu verwirklichen, nicht aktiv widersetzt, aber auch nicht wohlwollend und fördernd an der Realisierung ihrer Ziele teilnimmt, handelt er jedoch ethisch unzureichend in »negative[r] und nicht positive[r] Übereinstimmung zur Menschheit als Zweck an sich selbst« (vgl. Grundlegung, KW IV, 63). 144 Kant unterscheidet das durch das sinnliche Begehrungsvermögen bestimmte »pathologische« bzw. subjektiv-empirische Interesse von dem »moralischen Interesse«, das durch die Achtung vor dem Sittengesetz hervorgerufen wird (vgl. KpV, KW IV, 200– 202; vgl. auch Grundlegung, KW IV, 42 Anm., 84 f., 97 f. m. Anm.). 145 Kant begründet die erwähnte Lossagung damit, dass »ein Wille, der selbst zu oberst gesetzgebend ist, unmöglich […] von irgend einem [empirischen] Interesse abhängen A
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des Autonomieprinzips besteht in »eine[r] vollständige[n] Bestimmung aller Maximen«, derzufolge sie »aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der Zwecke […] zusammenstimmen sollen« (ebd., 70). Unter einem »Reich der Zwecke« – einer Wortschöpfung Kants 146 – versteht er im moralphilosophischem Zusammenhang die »praktische Idee« (vgl. Grundlegung, KW IV, 70 Anm.) einer »systematische[n]«, unter »gemeinschaftliche[n] objektive[n] Gesetze[n]« stehenden »Verbindung vernünftiger Wesen«, die »sich selbst und alle andere[n] niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln« (ebd., 66) 147 . Diese Idee stellt nach Kant sowohl einen Maßstab praktischer Beurteilung 148 als auch einen moralischen Idealzustand dar, in dem die für sinnliche Vernunftwesen präskriptive Ordnung des Sittengesetzes vollkommen verwirklicht ist, so dass in ihm sowohl die handelnden Personen selbst (als Selbstzwecke) als auch ihre empirisch-bedingten subjektiven Zwecksetzungen – insofern sie mit dem Verbot, erstere bloß als Mittel zu gebrauchen, nicht in Konflikt geraten – zu einer widerspruchsfreien und zudem wechselseitig förderlichen Einheit verbunden werden (Grundlegung, KW IV, 66) 149 . Folgt man Kant in der Annahme, dass wir die Menschheit in jeder Person als Selbstzweck achten, wenn wir die Universalisierbarkeit unserer Maximen zum Bestimmungsgrund unseres Willens machen, so lässt sich für die diesem Gebot folgenden sinnlichen Vernunftwesen die regulative Vorstellung einer gemeinschaftlichen moralischen Handlungswelt ableiten, in der jeder so handelt, »als ob« er »durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied […] wäre« (Grundlegung, KW IV, 72; vgl. auch ebd., 70 Anm.) 150 . Das Ideal eines Reiches der Zwecke, unter das die Realität des [kann]; denn ein solcher abhängender Wille würde selbst noch eines andern Gesetzes bedürfen, welches das Interesse seiner Selbstliebe auf die Bedingung einer Gültigkeit zum allgemeinen Gesetz einschränkte« (Grundlegung, KW IV, 64). 146 Vgl. Horn/Mieth/Scarano 2007, S. 256. 147 Vgl. dazu die ausführliche Erörterung bei Kaulbach 1996, S. 82–94. 148 Allerdings findet sich nur an einer Stelle in der Grundlegung eine Formulierung des Kategorischen Imperativs durch die sog. Reich-der-Zwecke-Formel: »[H]andle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke« (Grundlegung, KW IV, 73). Vgl. auch ebd., 72: »Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.« 149 Vgl. dazu Paton 1962, S. 227 f. 150 »Mitglieder« des »Reiches der Zwecke« sind Vernunftwesen, die auch unmoralisch
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menschlichen Handelns nach Kant im Sinne eines regulativen Prinzips gestellt ist, bestimmt also den Bereich der sittlich erlaubten Zecke, begrenzt zugleich aber auch die Mittel, die in Verfolgung dieser Zwecke verwendet werden dürfen. Denn insofern Handlungen als Mittel anzusehen sind, mit denen eine Person bestimmte Zwecke erreichen will, erübrigt die moralische Beurteilung der Zwecke keinesfalls die Beurteilung der Handlung, mit welcher der Zweck erreicht werden soll 151 . Daher stellt sich im Hinblick auf den von Kant in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen geschilderten Beispielfall die Frage, wie sich der Einwand entkräften lässt, dass die Person, die gegenüber dem potentiellen Mörder ihres unschuldig verfolgten Freundes aus einem subjektiven Pflichtbewusstsein heraus wahrhaftig ist, letzteren gerade nicht als Selbstzweck behandelt 152 . Wie bereits erwähnt, vertritt Kants dort die Auffassung, »[j]eder Mensch [habe] nicht allein ein Recht, sondern sogar die strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit in Aushandeln können. Denn den Mitgliedern dieses Reichs begegnet das moralische Gesetz, wie Kant ausdrücklich betont, als eine »Pflicht«. Vgl. Grundlegung, KW IV, 66 f.: »Es gehört aber ein vernünftiges Wesen als Glied zum Reiche der Zwecke, wenn es darin zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen ist. Es gehört dazu als Oberhaupt, wenn es als gesetzgebend keinem Willen eines andern unterworfen ist. […]. Den Platz des letztern kann es aber nicht bloß durch die Maxime seines Willens, sondern nur alsdann, wenn es ein völlig unabhängiges Wesen, ohne Bedürfnis und Einschränkung seines dem Willen adäquaten Vermögens ist, behaupten.« Kants Rhetorik könnte zu dem Missverständnis verleiten, er habe mit dem »Reich der Zwecke« das politische Ideal eines vollkommenen bürgerlichen Staatswesens vor Augen. Aber zum politischen Staatsbegriff gehört für Kant – wie noch zu erörtern sein wird – unabdingbar der Rechtsbegriff, der wiederum die Befugnis, Andere zum Eintritt in einen staatlichen Zustand bzw. zu rechtskonformem Verhalten zu zwingen, impliziert. Dagegen betont Kant ausdrücklich, dass es nicht ein dem Willen äußerlicher Zwang, sondern »die sittlich gute Gesinnung«, d. h. die selbstverpflichtende Autonomie des Willens ist, die vernünftige Wesen »zum Gliede in einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich macht« (Grundlegung, KW IV, 69). In der Religionsschrift heißt es von dem »Begriff eines ethischen gemeinen Wesens«: »… in einem solchen gemeinen Wesen sind alle Gesetze ganz eigentlich darauf gestellt, die Moralität der Handlungen (welche etwas Innerliches ist, mithin nicht unter öffentlichen menschlichen Gesetzen stehen kann) zu befördern, da im Gegenteil die letzteren, welches ein juridisches gemeines Wesen ausmachen würde, nur auf die Legalität der Handlungen, die in die Augen fällt, gestellt sind, und nicht auf die (innere) Moralität, von der hier allein die Rede ist« (Religion, KW IV, 757 f.). 151 Vgl. Steigleder 2002, S. 127. 152 Vgl. Dietrichson 1964, S. 166. A
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sagen, die er nicht umgehen kann: sie mag nun ihm selbst oder andern schaden« (Lüge, KW IV, 641). Er behauptet sogar, es sei »bloß ein Zufall (casus), daß die Wahrhaftigkeit der Aussage dem Einwohner des Hauses [d. i. der unschuldig Verfolgte; O. L.] schadete, nicht eine freie Tat (in juridischer Bedeutung)« (ebd., 640). Damit knüpft er an die zu Beginn der Grundlegung aufgestellte programmatisch-methodische Grundforderung an, dass sich der »moralische Wert« einer Handlung nicht an der faktischen »Wirkung, die daraus erwartet wird«, bemessen dürfe (Grundlegung, KW IV, 27). Diese Forderung steht im Einklang mit dem vorstehend ermittelten Analyseergebnis der Anwendungsfälle der Allgemeinen-Gesetzes- bzw. Naturgesetz-Formel, wonach im moralischen Dijudikationsverfahren des Universalisierungstests die (tatsächlichen) Folgen der isoliert betrachteten Einzelhandlung unberücksichtigt bleiben (s. o. S. 111–114). Darüber hinaus deckt sie sich in Bezug auf unvorhersehbare, der Verfügungsgewalt des Akteurs sich entziehende Handlungskonsequenzen mit unserem moralischen Alltagsverständnis. Geht man aber von zurechnungsfähigen Handelnden aus (und nur diese kommen als Adressaten moralischer Gesetze überhaupt in Betracht), so führt die Auffassung, dass man auch für die unbeabsichtigten, aber gleichwohl absehbaren Folgen einer Einzelhandlung nicht verantwortlich gemacht werden kann, zur Aufweichung des Begriffs einer zurechenbaren »Tat« 153 . Die mit dem Wollen einer Maxime anerkannte Mittel-Zweck-Relation macht es erforderlich, dass der Maximeninhaber die zum Zeitpunkt seiner Willensentschließung abschätzbaren Wirkungen seines Handelns und die damit in Zusammenhang stehenden empirischen Gesetzmäßigkeiten berücksichtigt 154 . Wer ein bestimmtes Handlungsziel verfolgt, verfügt vielfach über ein Wissen darüber, wie andere Personen aller Voraussicht nach von seinem Verhalten betroffen werden oder betroffen werden können. Er billigt mit seiner Handlung zugleich die Wirkungen, von denen er im Moment seines Willensentschlusses weiß bzw. wissen kann, dass sie die – jedenfalls annähernd sichere – Folge dieser Handlung sein werden. Man kann insofern von einer »Einwirkung des Wissens auf das Wollen« sprechen 155 . So kann ein zurechnungsfähiger Autofahrer beispielsweise wissen – und weiß es in aller Regel auch –, dass er das Le153 154 155
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Vgl. RL, KW IV, 329. Vgl. dazu unten S. 182–185. Vgl. Nell 1975, insbes. S. 70 f. m. Anm. Vgl. Schnoor 1989, S. 119.
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ben seiner Mitmenschen gefährdet, wenn er mit 100 km/h durch eine geschlossene Ortschaft rast. Auch wenn er nicht das Ziel verfolgt, das Leben anderer zu gefährden, geht die Inkaufnahme einer solchen Gefährdung doch in seine Absicht ein und stellt somit einen relevanten Gesichtspunkt nicht bloß für die juridische Bewertung seiner Handlung 156 , sondern auch für die ethische Bewertung der ihr zugrunde liegenden Maxime dar 157. Im Falle einer aus seinem Handeln resultierenden Verletzung anderer Verkehrsteilnehmer oder unbeteiligter Passanten kann er sich seiner Verantwortung daher nicht durch die Beteuerung entledigen, es habe ihm fern gelegen, diese schädigen zu wollen. Ebenso kann er sich für die Rechtfertigung seines Verhaltens nicht (ohne weiteres) auf den Standpunkt zurückziehen, er habe es mit einer akzeptablen Zielsetzung verbunden 158 . Wenngleich nun derjenige, der in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen selbst »gegen einen Mörder« (Lüge, KW IV, 637) die Pflicht zur Wahrheit behauptet, für sein Handeln ein glaubwürdiges moralisches Motiv anführen kann, muss man ihm den Vorwurf machen, dass er im Sinne einer unterlassenen Hilfeleistung nicht bereit ist, dem unschuldig verfolgten Freund die Fähigkeit zur Realisierung selbstgesetzter Handlungsziele zu bewahren (und erst recht nicht, diese »zu befördern«; vgl. Grundlegung, KW IV, 63), dass er dessen Personalität mithin nicht als Selbstzweck respektiert. Da er sich für eine Handlungsalternative entscheidet, von der er weiß, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Schädigung seines verfolgten Freundes nach sich zieht, trägt er gegebenenfalls zumindest eine Mitverantwortung für dessen Tod. Durch die Konfrontation mit der Frage des mutmaßlichen Mörders, ob sich der Verfolgte in sein Haus geflüchtet habe, wird also derjenige, der ihn versteckt, vor die Alternative gestellt, entweder diesen oder den gewaltbereiten Verfolger als Selbstzweck zu behandeln 159 . Welche Konsequenzen für die moralkriteriologische Reichweite 156 Man denke namentlich an die strafrechtliche Relevanz ›fahrlässigen‹ Verhaltens. Zum Verhältnis von Ethik und Recht bei Kant vgl. unten Kap. 3.1. 157 Vgl. dazu Steigleder 2002, S. 127 f. 158 Vgl. ebd., S. 127. Für diesen, seinen Ausführungen entliehenen Beispielfall trifft auch die von Steigleder getroffene Feststellung zu, dass es »bezogen auf die Umstände meist gar nicht möglich [ist], außer im Wahn, mit bestimmten Handlungen bestimmte [moralische; O. L.] Zwecksetzungen zu verbinden« (ebd.). 159 Vgl. Rapic 2007, S. 448 f.
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der Selbstweck-Formel und das handlungsregulative Ideal eines Reichs der Zwecke resultieren aus der Tatsache, dass die kategorische Forderung, nur nach solchen Maximen zu handeln, die die »Menschheit« in jeder Person als Selbstzweck achten, sich im Falle eines solchen Prioritätenkonfliktes als unerfüllbar erweist? Die von O. Höffe vertretene Auffassung, dort wo man aufgrund des unmoralischen Verhaltens anderer Menschen »in das Dilemma« konkurrierender Pflichten »gestoßen« werde, könne die Pflichtenkollision mithilfe einer Prioritätsregel durch eine Güterabwägung aufgelöst werden (so dass sich im vorliegenden Beispielfall eine Lüge, die die Handlungsfreiheit ihres Adressaten vorübergehend einschränkt, zum Zwecke der Rettung menschlichen Lebens als zulässig rechtfertigen ließe) 160 , widerspricht Kants ausdrücklicher Forderung, man dürfe »als ein schickliche[s] Gliede zu einem […] möglichen Reiche der Zwecke« dem über den Kategorischen Imperativ sich hinwegsetzenden Handeln seiner Mitmenschen und den Widrigkeiten der Natur keinerlei Einfluss auf das eigene Handeln einräumen (vgl. Grundlegung, KW IV, 72 f.) 161 . Der Verhaltensstandard, den uns Kant mit dem Kategorischen Imperativ vorschreibt, ist konstitutiv orientiert an einer idealen Ordnung der Handlungswelt: Dem »herrliche[n] Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst« können »wir nur alsdann als Glieder [an]gehören […], wenn wir uns nach Maximen der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig verhalten« (ebd., 101) – ohne Rücksicht auf die Handlungsbedingungen einer moralisch unvollkommenen sozialen Welt. Der kompromisslose Rigorismus, den Kant damit vertritt, hat in seiner praktischen Realisierung freilich einen hohen Preis. Wie J. Ebbinghaus in einem Brief an H. J. Paton vom 4. Mai 1954 formuliert, muss man dabei in Kauf nehmen, dass »die guten Absichten des tugendhaften Willens« durch die »Bosheit« Einzelner jederzeit zu illegitimen Zwecksetzungen instrumentalisiert und dadurch korrumpiert werden können 162 . Wer 160 Vgl. Höffe 1990a, S. 195–197 (hier verw. Zitat ebd., S. 195). In diese Richtung argumentiert andeutungsweise auch Paton 1962, S. 235 f. 161 Kant sieht in den »in der Natur und Sittenwelt […] vorkommende[n] Unregelmäßigkeiten« vielmehr den Grund für einen moralisch motivierten religiösen Glauben an Gott. Vgl. dazu insbesondere § 87 der Kritik der Urteilskraft (KdU, KW V, 573–580; hier verw. Zitat ebd., S. 578) sowie die »Dialektik der reinen praktischen Vernunft« in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV, KW IV, 234–283, insbes. S. 259 f.). Vgl. dazu auch Korsgaard 1996, S. 149. 162 Zitiert nach Geismann/Oberer 1986, S. 73.
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stets so handelt, als ob er »durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre« und diesen Maximen unter allen Umständen – wie Kant sagt – »treu« bleibt, kann seinen Standpunkt zwar mit dem Verweis darauf rechtfertigen, dass dieses Ideal »wirklich zu Stande« käme, »wenn sie [seine Maximen] allgemein befolgt würden« (Grundlegung, KW IV, 72 f.). Mit dem Verzicht auf den aktiven Widerstand gegen die parasitäre ›Bosheit‹ seiner Mitmenschen beeinträchtigt er jedoch zugleich die praktische Funktion, die Kant seiner Idee eines Reichs der Zwecke ausdrücklich zuweist: vermittels gesellschaftlich fortschreitender Annäherung »das, was nicht da ist, aber durch unser Tun und Lassen wirklich werden kann, […] eben dieser Idee gemäß, zu Stande zu bringen« (ebd., 70 Anm.). Ohne dass Ebbinghaus darauf aufmerksam macht, hat Kant diese nur schwer erträglich Kehrseite seines rigoristischen Verständnisses der Idee des Reichs der Zwecke in seinen Ethik-Vorlesungen selbst thematisiert und daraus bemerkenswerte Zugeständnisse an die gesellschaftliche Realität abgeleitet. So vertritt Kant laut der von G. L. Collins (vermutlich unmittelbar vor der Veröffentlichung der Grundlegung) angefertigten Nachschrift seiner Ethik-Vorlesung des Wintersemesters 1784–85 explizit die Auffassung, dass man den Missbrauch des eigenen tugendhaften Willens durch die »Bosheit anderer« nicht ohnmächtig hinnehmen muss: »Wenn wir aber in allen Fällen der Pünktlichkeit der Wahrheit möchten treu bleiben, so möchten wir uns oft der Bosheit anderer Preis geben, die aus unserer Wahrheit einen Mißbrauch machen wollten. Wenn alle gut gesinnt wären, so würde es nicht alleyn Pflicht sein, nicht zu lügen, sondern es möchte auch keiner thun […]. Aber jetzt, da die Menschen boshaft sind, so ist es wahr, dass man oft durch pünktliche Beobachtung der Wahrheit Gefahr läuft, und daher hat man den Begriff der Nothlüge bekommen. […]. So fern […] von meiner Aussage ein unrechtmäßiger Gebrauch gemacht wird, und ich mich durchs Stillschweigen nicht retten kann, so ist die Lüge eine Gegenwehr; die abgenöthigte Declaration, die gemißbraucht wird, erlaubt mir mich zu vertheidigen, denn ob er mir mein Geständniß oder mein Geld ablockt, das ist einerley« (AA XXVII, 448).
Auf der Linie dieser – von seinen Druckschriften abweichenden – Argumentation Kants wäre auch die Lüge gegenüber einem Lügner als eine Form von Selbstverteidigung zu rechtfertigen: Wie man im Falle körperlicher Notwehr zu erleidenden Zwangshandlungen mit physi-
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scher Gewalt Widerstand leisten darf 163, so darf man sich gemäß der zitierten Passage aus Kants Vorlesung auch moralisch gegen eine die personale Handlungsfähigkeit unmittelbar verletzende Lüge mit einer (Not-) Lüge erwehren. Insofern diese Einschätzungen zutreffen, ist dem resümierenden Urteil Chr. M. Korsgaards zuzustimmen: »[T]he vision of a Kingdom of Ends provide[s] an ideal to live up to in daily life as well as a long-term political and moral goal for humanity. But it is not feasible always to live up to this ideal, and where the attempt to live up to it would make you a tool of evil, you should not do so. In evil circumstances, but only then, the Kingdom of Ends can become a goal to seek rather than an ideal to live up to, and this will provide us with some guidance.« 164
Darüber hinaus finden sich in der letzten systematischen Schrift, die Kant zur Moralphilosophie veröffentlicht hat, in der Metaphysik der Sitten, eine Reihe von – allerdings nur beiläufig und nicht grundsätzlich diskutierten – Beispielen dafür, dass Kant die rigoristischen Tendenzen der ethischen Grundlegungsschriften argumentativ abzuschwächen versucht 165 . So erwägt er in einer der »Kasuistischen Fragen« der Tugendlehre das zwischen kontingenter Wirklichkeit und widerspruchsfreiem Vernunftideal vermittelnde Konzept eines »Erlaubnisgesetz[es] der moralisch-praktischen Vernunft«, welches im Falle einer empirisch jederzeit möglichen »Kollision ihrer Bestimmungsgründe etwas, an sich zwar Unerlaubtes, doch zur Verhütung einer noch größeren Übertretung (gleichsam nachsichtlich) erlaubt macht« (TL, KW IV, 559) 166 . Darüber hinaus entwirft Kant bereits seit Mitte der 1780er Jahre in seinen geschichts- und politikphilosophischen Abhandlungen – zu letzteren sind auch Teile seiner Rechtslehre zu zählen – weitere spezielle Argumente für eine vernunftbasierte Gü163 Die moralische Rechtmäßigkeit der Maxime, körperliche Gewalt (nur) zur Selbstverteidigung zu gebrauchen, lässt sich unmittelbar aus der Allgemeinen-Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs ableiten. 164 Korsgaard 1996, S. 153. 165 Vgl. dazu die Verweise bei Paton 1962, S. 236 f. m. Anm. 243; Höffe 1990a. S. 196; Korsgaard 1996, S. 154; Wood 1999b, S. 384 f., Anm. 2. 166 Vgl. auch RL, KW IV, 329. Wenngleich Kant auf seine »Kasuistischen Fragen«, formell gesehen, keine eindeutige Antwort gibt, so scheint er sie zumindest nahe zu legen. Affirmativ befasst sich Kant mit dem Begriff einer lex permissiva erst in seiner Rechtsund Politikphilosophie (vgl. insbesondere Frieden, KW VI, 201 f. u. 234 jeweils m. Anm.). Für eine Erörterung der rechtlich-politischen Anwendungsgebiete von Erlaubnisgesetzen und des systematischen Problems ihrer handlungstheoretischen Verortung vgl. unten Kap. 4.2.2.1.
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terabwägung, um die moralische Rückständigkeit der auf historischtradierten Vorleistungen beruhenden sozialen Realität »durch allmähliche Reform nach festen Grundsätzen« zu überwinden und in einer »kontinuierliche[n] Annäherung« den »Endzweck der Rechtslehre«, das »höchste[.] politische[.] Gut« des »ewigen Frieden[s]« zu verwirklichen (vgl. RL, KW IV, 479). Kant erweist sich dabei keinesfalls – was er gemäß dem rigoristischen Verständnis der Formel des Reichs der Zwecke aber sein müsste – als bedingungsloser ›Pazifist‹. Stattdessen respektiert er die Faktizität historisch gegebener Tatbestände und konzipiert im Rahmen einer »ausübenden Rechtslehre« (Frieden, KW VI, 229) – die im Hinblick auf zukünftig sich eröffnende Handlungsspielräume die Realisierung des friedensstiftenden Vernunftrechts zur Aufgabe hat – praktische Regeln für den Umgang mit den kriegerischen Verhältnissen der Gegenwart (vgl. RL, KW IV, 466–475; Frieden, KW VI, 196–201; vgl. dazu unten Kap. 4.3 u. Kap. 5).
2.2 Das Relativismusproblem der Allgemeinen-Gesetzes-Formel Maximen weisen in Bezug auf die in ihnen enthaltene Spezifikation situativer Bedingungen verschiedene Grade von Allgemeinheit auf und sind daher für unterschiedlich viele Fälle eines bestimmten Situationstypus’ handlungsleitend 167 . Dementsprechend lassen sich auch auf 167 Die problematische Frage, welcher Allgemeinheitsgrad bzw. welcher Grad an Merkmalshaltigkeit die Willensbestimmung einer Maxime im Unterschied zu einer »praktischen Regel« kennzeichnet, die unter einer Maxime steht (vgl. KpV, KW IV, 125; Grundlegung, KW IV, 38 Anm., 51 Anm.; TL, KW IV, 567 Anm., 543; s. auch o. S. 47), hat Kant nicht mit wünschenswerter Klarheit beantwortet. Sie wird unter den Interpreten breit und kontrovers diskutiert (zu Kants äquivoker Verwendung des Terminus »praktische Regel« vgl. Nisters 1989, 94, 185–187). Prinzipiell lassen sich mit W. Brinkmann (vgl. Brinkmann 2003, S. 109–114) drei Antwortmöglichkeiten unterscheiden: 1.) Als sehr weit formulierte, zum Teil für ganze Lebensbereiche handlungsleitende allgemeine Lebensregeln werden Maximen in der dieser Arbeit zugrunde liegenden Literatur interpretiert von Beck 1974, S. 81 f. m. Anm. 6; O. Höffe (vgl. z. B. Höffe 1996, S. 186–189; Höffe 1977, S. 356–370); Bittner 1974, S. 488 und Nisters 1989, S. 94, 159. Für M. Forschner artikuliert sich in Maximen unmittelbar die »philosophy of life« der sie adoptierenden Person (Forschner 1983, S. 30 f., Anm. 16). 2.) Demgegenüber werden unter Maximen mitunter auch sehr eng formulierte Handlungsregeln verstanden, die die situativen Umstände präzise (durch Benennung von konkreten Orts- oder Zeitangaben, Personennamen o. ä.) beschreiben und sich teilweise
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der Ebene der mit Maximen verfolgten Handlungsabsichten Zwecke von unterschiedlicher Allgemeinheit oder Umfassendheit, d. h. mit einem unterschiedlich konkreten Handlungsbezug, unterscheiden. nur geringfügig von singulären Handlungsabsichten unterscheiden; vgl. z. B. das von D. Schönecker und A. W. Wood konstruierte Beispiel, »am 21. August gegenüber Jonathan Maria Saubermann ein falsches Versprechen zu machen, um Geld von ihm zu erhalten« (Schönecker/Wood 2004, S. 139). In der Kantliteratur wird eine Vielzahl von vergleichbaren individuell-konkreten Handlungsregeln diskutiert, deren Beurteilung als Maxime meines Erachtens jedoch verfehlt ist. Derartige Handlungsregeln werden häufig angeführt, um über ihre Universalisierung die mangelnde moralische Bewertungstauglichkeit der Allgemeinen-Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs zu erweisen. Einer solchen Argumentationsstrategie liegt in vielen Fällen eine unzulässige Vermengung des Maximenbegriffs mit dem Begriff untergeordneter »praktischen Regeln« zugrunde, durch die ein Subjekt seine Maximen unter Mitwirkung der Urteilskraft mit den Anforderungen der konkreten Situation vermittelt. Kants Maximenverständnis verlangt die Verallgemeinerung singulärer Willensbestimmungen zu einer Maxime in dem Sinne, dass aus der Beschreibung der Situationsmerkmale, die eine bestimmte »praktische Regel« als Bedingung ihrer Geltung und Anwendung enthält, das Besondere und unwiederholbar Einmalige eliminiert wird (vgl. dazu Forschner 1983, S. 39). 3.) Kants eigene Beispielfälle belegen, dass er in Bezug auf den Allgemeinheitsgrad von Maximen einen großen Spielraum zulässt, Maximen mithin sowohl grundsätzlich als auch relativ spezifisch formuliert sein können. Die von ihm vorgetragenen Beispiele für Maximen enthalten unterschiedlich detaillierte Angaben über die situativen Handlungsbedingungen ihrer Inhaber. So sind z. B. die Maximen, »keine Beleidigung ungerächet zu erdulden« (KpV, KW IV, 125) oder »mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern« (ebd., 136), deutlich allgemeiner als die Maxime des oben diskutierten Beispielfalls: »wenn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen, und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen« (Grundlegung, KW IV, 53). Fassen wir die Untersuchung der von Kant geschilderten Anwendungsbeispiele des Kategorischen Imperativs im Hinblick auf das in ihnen sich dokumentierende Maximenverständnis zusammen, so lässt sich festhalten: Maximen beziehen sich auf Situationsbzw. Handlungstypen und regeln nur mittelbar – über konkrete praktische Regeln – mein tatsächliches Verhalten in einer gegenwärtigen Situation. In einer Maxime bringt ein Subjekt sprachlich zum Ausdruck, was für eine Art von Handlung es in Situationen einer bestimmten Art ausführen will (vgl. Köhl 1990, S. 47–50). In zugespitzten Entscheidungssituationen eines hypothetischen Entweder-Oder kann es hinreichend sein, nach allgemein formulierten elementaren Prinzipien zu handeln; in komplex strukturierten Handlungszusammenhängen hingegen ist für eine subjektiv vernünftige Willensbestimmung oft eine längere Überlegung nötig, die detaillierte Umstände der jeweiligen Situation berücksichtigt und diese in die Handlungsmaxime aufnimmt. Als faktisch wirksame (d. h. von einem Subjekt erwogene bzw. praktizierte), jedoch nicht eo ipso bewusste Grundsätze besitzen Maximen eine sich in die Zukunft streckende zeitliche Allgemeinheit, die unabhängig davon ist, wie viele einzelne Handlungen unter
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Wie die Diskussion der Beispiele Kants gezeigt hat, reicht das Spektrum dabei von der für jedes Willenssubjekt grundlegenden Maxime, überhaupt Zwecke selbstständig setzen und realisieren zu wollen (dem intrinsisch wertvollen Zweck der personalen Handlungsfähigkeit), bis hin zu konkrete Umstände einer Handlungssituation mitformulierenden Maximen (zur Verwirklichung ganz spezifischer subjektiver Zielsetzungen). Wenngleich Maximen mit einem weiten Anwendungsbereich für Kant aus definitorischen und illustrativen Gründen möglicherweise eine gewisse Prominenz besitzen 168 , schließt dies keineswegs aus, dass auch relativ detaillierte, ›eng‹ formulierte praktische Grundsätze in seinem Verständnis Maximen sind, auf die der Universalisierbarkeitstest des Kategorischen Imperativs anwendbar ist 169 . So ist etwa die Tatsache, dass Kant bei der Erörterung des Beispielfalles des unehrlichen Versprechens im Zweiten Abschnitt der Grundlegung die konkreten Situationsbedingungen einer vorgeblichen Darlehensaufnahme in einer finanziellen Notlage in die Formulierung der Prüfmaxime aufnimmt (Grundlegung, KW IV, 52 f.) – während im Ersten Abschnitt lediglich von dem nicht näher bestimmten Grundsatz, unaufrichtige Zusagen zu machen, »wenn ich im Gedränge bin« (ebd., 29), die Rede war –, als ein Indiz dafür zu werten, dass »eine grundsätzliche Beschränkung des Anwendungsbereichs des Universalisierungs-Tests auf unspezifisch formulierte Maximen von ihm nicht intendiert worden ist« 170 . Da Kant in den beiden Varianten des Beispielfalles zu demselben Ergebnis gelangt, behauptet er zudem implizit, dass es für die Begründung des Lügenverbotes letztlich unerheblich ist, ob bzw. in welchem Maße die moralisch zu beurteilende Maxime neben einer Beschreibung der Handlungsart detaillierte situative Angaben enthält. Diese These hat sich – auch in Bezug auf den Gang und das Ergebnis der maßgeblichen Argumentation in Über ein vermeintes sie fallen mögen (vgl. Brinkmann 2003, S. 114, 127). In diesem temporalen Sinne ist eine Maxime dann auch so etwas wie eine Lebensregel (vgl. Enskat 1990, S. 51). 168 Vgl. dazu Steigleder 2002, S. 122 f. 169 Das bedeutet jedoch nicht – wie K. Steigleder (ebd., S. 122) annimmt –, dass für Kant jeder Willensentschluss eine Maxime darstellt, so dass »›Maxime‹ und ›subjektive Willensbestimmung‹ […] in der Handlungstheorie Kants Wechselbegriffe« wären (s. o. Anm. 167). 170 Vgl. Rapic 2007, S. 439. Kant bezieht den Begriff der Maxime ausdrücklich auf die praktischen Grundsätze, nach denen »das Subjekt handelt« (Grundlegung, KW IV, 51 Anm.), an denen es sich also in konkreten Situationen faktisch orientiert. A
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Recht aus Menschenliebe zu lügen – bestätigt. Kants zentrales Argument für eine generelle, »formale« Wahrhaftigkeitspflicht besteht darin, dass jede, wie auch immer geartete und motivierte Lüge dazu beiträgt, »dass Aussagen […] überhaupt keinen Glauben finden« (Lüge, KW IV, 638), so dass bereits die universelle Gültigkeit der konkreten Maxime, nur in ganz bestimmten (Not-) Situationen die Unwahrheit zu sagen, in einen praktischen Selbstwiderspruch führen würde, da dann der mit ihr verfolgte Handlungszweck prinzipiell nicht mehr erreichbar wäre 171. Allerdings lassen bereits in diesem Beispielfall die rigoristischen Implikationen, die sich aus der konsequenten Anwendung der Allgemeinen-Gesetzes-Formel ergeben, den von Kant erhobenen Anspruch zweifelhaft erscheinen, mit dieser Formel des Kategorischen Imperativs das unserem alltäglichen Denken und Handeln zugrunde liegende moralische Vorverständnis der »gemeinen Menschenvernunft« konzeptualisiert zu haben (vgl. Grundlegung, KW IV, 28 f., S. 30 f.; KpV, KW IV, 113 Anm., 188). Darüber hinaus resultieren aus der Tatsache, dass Maximen eines Handlungstyps auf verschiedenen Stufen situativer Allgemeinheit stehen können, weitere, gravierende innersystematische Probleme für die moralische Beurteilungstauglichkeit des Universalisierungstests. Stellte das Maximenprüfverfahren des Kategorischen Imperativs allein auf das formale Moment eines praktischen Selbstwiderspruchs ab, dann scheint Kants Ethik relativistische Konsequenzen zu zeitigen: Während sich für die Begründung der Wahrhaftigkeitspflicht jedwede Maxime der Lüge als nicht widerspruchsfrei universalisierbar erwiesen hat, gelangt man bei der Verallgemeinerung von Maximen anderer Handlungstypen in Abhängigkeit von den in ihnen mitformulierten Situationsmerkmalen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dieses Problem und seine Bedeutung für das Testverfahren der Universalgesetz- bzw. Naturgesetz-Formel hat bereits W. D. Ross treffend zum Ausdruck gebracht: »Kant’s error seems to lie in this: Any individual act is an instance of a class of acts which is a species of a wider class; we can set no limit to the degrees of 171 Dabei konnten wir es im Hinblick auf die unterschiedlichen Interpretationen N. Gillespies und J. Ebbinghaus’ offen lassen, ob die universelle Gütigkeit einer solchen Maxime einen Vertrauensverlust nur in den spezifischen Situationen, auf die sie in ihrer Formulierung Bezug nimmt, oder im Gesamtbereich sprachlicher Kommunikation zur Konsequenz hätte (s. o. S. 121–123; vgl. dazu Rapic 2007, S. 436).
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specification which may intervene between the summum genus ›act‹ and the individual act. […]. The test of universalizability applied at one level of abstractness condemns the act; applied at another level of abstractness it justifies it. And since the principle [d. i. das Beurteilungsprinzip der Allgemeinen-Gesetzes-Formel; O. L.] itself does not indicate at what level of abstractness it is to be applied, it does not furnish us with a criterion of the correctness of maxims, and of the rightness of acts that conform to them.« 172
Die hier angesprochene Problematik soll nun an einem bedeutsamen Beispiel veranschaulicht werden: Wie Kant in einer Bemerkung in der Grundlegung beiläufig erwähnt, ist er der Auffassung, dass die Unsittlichkeit von »Angriffen auf Freiheit und Eigentum anderer« noch augenfälliger sei, als im Falle des lügenhaften Versprechens (Grundlegung, KW IV, 62). Tatsächlich lässt sich das Verbot solcher allgemeinen Übergriffe anhand des Universalisierungstests begründen. So muss derjenige, der die Handlungsregel verfolgt, fremdes Privateigentum nicht zu respektieren, jederzeit damit rechnen, den gestohlenen fremden Besitz wieder zu verlieren, wenn seine Maxime zu einem allgemeinen Gesetz erhoben wird: »Wer da stiehlt, […] beraubt sich also […] der Sicherheit alles möglichen Eigentums« (RL, KW IV, 454). Geht man davon aus, dass ein Dieb seine Beute dauerhaft behalten will 173 , muss er zugleich wollen, dass seine Maxime eine Ausnahme bleibt und in der Regel nicht von allen anderen praktiziert wird. Die Universalisierung des Grundsatzes, die Freiheit anderer Personen durch die Androhung bzw. Ausübung physischer oder psychischer Gewalt einzuschränken, führt insofern in einen praktischen Wollenswiderspruch, als der Inhaber dieser Maxime im Falle Ross 1954, S. 32 f. Wie D. Hörster zurecht bemerkt, kann dieser von Kant implizit unterstellte Zweck eines Diebstahls bezweifelt werden. So ist es vorstellbar, dass eine Person jegliche Privateigentumsordnung als ein Übel betrachtet und einen Diebstahl mit dem Ziel begeht, die soziale Institution des Privateigentums faktisch zu zerstören. Kants These, dass sich ein generelles Diebstahlverbot anhand der Allgemeinen Gesetzes-Formel begründen lässt, setzt daher voraus, dass die Institution des Privateigentums als solche moralisch wertvoll ist. Es stellt sich somit die Frage, wie sich eine Entscheidung darüber, ob Privateigentum überhaupt eine moralisch gute oder ›böse‹ Einrichtung ist, mittels des Kategorischen Imperativs begründen lässt. Ohne sich mit der in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten explizierten Eigentumstheorie Kants näher zu befassen, ja überhaupt ohne jedwede Begründung urteilt Hörster, »daß sich aus dem K[ategorischen] I[mperativ] nichts über den Wert des Privateigentums ableiten lässt« (Hoerster 1974, S. 467 f.). Zu Kants theoretischer Fundierung des Privateigentums vgl. unten Kap. 4.2.2. 172 173
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ihrer allgemeingesetzlichen Geltung ständig damit rechnen muss, selber als Opfer solcher Angriffe seiner Freiheitsspielräume beraubt zu werden. Analog zum Verbot der Freiheitsberaubung lässt sich auch die generelle willkürliche Tötung anderer Personen mit der Allgemeinen-Gesetzes-Formel als sittlich illegitim begründen (s. o. S. 139). Bezieht man im Hinblick auf einen Angriff auf das Leben bzw. die Freiheit anderer Menschen allerdings die detaillierten (nichtsingulären) Umstände der jeweiligen konkreten Handlungssituation in die Formulierung der betreffenden Maxime mit ein, führt deren Universalisierung nicht in jedem Fall in einen praktischen Selbstwiderspruch. Beispielsweise wird die Realisierung der Handlungsabsicht, einen despotischen Diktator zu ermorden (bzw. ihn durch die gewalttätige Einschränkung seiner Handlungsfreiheit zu entmachten), um einer demokratisch legitimierten Regierung in ihr Amt zu verhelfen (oder um ihn daran zu hindern, mit einem Genozid fortzufahren), nicht dadurch unmöglich, dass die Maxime des Tyrannenmordes (bzw. der -entmachtung) den Status eines allgemeinen Gesetzes besitzt 174 . Wie P. Dietrichson – ähnliche Einwände späterer Autoren antizipierend 175 – in Bezug auf den Handlungstyp des Mordes betont hat, lassen sich mit dem Prüfverfahren der Allgemeinen-Gesetzes-Formel jedoch auch spezifizierte Maximen, die wir gemäß unserem allgemein geteilten intuitiven Moralbewusstsein für eindeutig unmoralisch halten, als sittlich legitim charakterisieren, da sie den Universalisierbarkeitstest bestehen. So gibt er zu bedenken, dass bei der Verallgemeinerung der Maxime einer Mutter, ihre mit präzise bestimmten Eigenschaften versehenen Neugeborenen (beispielsweise alle Säuglinge, die weniger als sechs Pfund wiegen) zu töten, sich kein praktischer Widerspruch einstellt 176 . Allerdings wäre eine solche Maxime unvollständig, da ihr der elementare Bestandteil der Zwecksetzung fehlt. Dieser ließe sich jedoch problemlos ergänzen, ohne den (positiven) Ausgang des Testverfahrens zu beeinflussen. So könnte die Mutter mit ihrem Grundsatz etwa die Zielsetzung verfolgen, das im Falle eines geringen Geburtsgewichtes zunehmende Risiko einer Behinderung oder Entwicklungsstörung des 174 Vgl. Rapic 2007, S. 438. Ein praktischer Selbstwiderspruch würde sich in diesem Fall nur dann einstellen, wenn der Inhaber der Maxime selber diktatorische Herrschaftsansprüche erhöbe. 175 Vgl. die Literaturverweise unten in Anm. 179. 176 Vgl. Dietrichson 1964, S. 158.
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heranwachsenden Kindes zu vermeiden. Damit droht jedoch dem von Kant auch in Bezug auf Mord vertretenen Standpunkt eines absoluten Verbotes die Legitimationsgrundlage entzogen zu werden 177 . Wie bereits erläutert, lässt sich dieses Verbot auf der Basis der AllgemeinenGesetzes-Formel nur begründen, wenn man als Mörder davon ausgehen muss, durch die universelle Gültigkeit der allgemeinen Maxime, andere Personen ihres Lebens zu berauben (ohne dass diese das eigene Leben bedrohen), selber in ständiger Lebensgefahr zu schweben – was ein Mensch nicht wollen kann, da eine solche existentielle Bedrohung die ihn als Vernunftwesen auszeichnende Fähigkeit, selbstgesetzte Zwecke zu realisieren, fundamental einschränkt. Dieser Konsequenz kann aber dadurch entgangen werden, dass eine Person die Gruppe der potentiellen Mordopfer mit einer spezifizierten Maxime in der Weise eingrenzt, dass sie selbst dieser Gruppe nicht zugeordnet werden kann 178 . Generell lässt sich festhalten, dass mit zunehmender Präzisierung der in einer Handlungsmaxime mitformulierten (nichtsingulären) Randbedingungen die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass die Maxime den Universalisierungstest der Natur- bzw. Allgemeinen-Gesetzes-Formel nicht besteht. Denn je detaillierter die Angabe situativer Umstände in einer zu verwirklichenden Handlungsmaxime ausfällt, desto geringer sind die möglicherweise widerspruchträchtigen und d. h. für die moralische Bewertung relevanten allgemeinen Konsequenzen, die aus ihrer Universalisierung resultieren 179 . »Kants Anspruch, ein formales Kriterium des moralischen Handelns aufstellen zu können, ist damit in doppelter Hinsicht problematisch. Auf der einen Seite wird durch die Tatsache, dass sich sein absolutes Lügenverbot konsequent aus der ›allgemeinen Gesetzesformel‹ ergibt, seine These in Frage gestellt, dass mit ihr unser natürliches Bewusstsein auf den Begriff gebracht wird […]; auf der anderen steht man in Bezug auf den Mord (oder die Freiheitsberaubung) vor der Alternative, entweder ein rigoroses Verbot zu pos177 Kant spricht in der Rechtslehre jedem Mord den Status einer verwerflichen »Ausnahme« von einer »Regel« zu die uns von der »gesetzgebenden Vernunft« auferlegt werde (RL, KW IV, 441 f. Anm.). 178 Für eine kritische Diskussion von Dietrichsons Interpretationsvorschlag zur Lösung dieses Problems vgl. Rapic 2007, S. 437–446. Dietrichsons Argumentation wird ebenfalls diskutiert von Korsgaard 1996, S. 82–84. 179 Vgl. dazu Schönecker/Wood 2004, S. 139; vgl. auch Harrison 1969a, S. 226; Wood 1999b, S. 99 f.; Brinkmann 2003, S. 114–116; Gellner 1974, S. 187–191; Herman 1990, insbes. S. 60–62; Herman 1993, S. 116–119; Hill 1972, S. 310 f.; Timmons 2006, S. 163, 177–185.
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tulieren – welches sich nur durch eine Restriktion des UniversalisierungsTests auf unspezifische Maximen im Kategorischen Imperativ verankern lässt, wobei unklar bleibt, wie eine solche Restriktion zu begründen ist –, oder aber Ausnahmen vom Verbot von Angriffen auf das Leben (bzw. die Freiheit) anderer zuzulassen, woraus die Verpflichtung entspringt, Legitimitätskriterien für solche Ausnahmen anzugeben; dies führt auf die Frage, ob man hierbei nicht gezwungen ist, über die ›allgemeine Gesetzesformel‹ hinauszugehen.« 180
Diese Frage soll im Zusammenhang mit der im Folgenden zu erörternden Begründung des Rechtsprinzips Kants aufgegriffen werden. Ihre Beantwortung – dies sei schon jetzt im Vorgriff auf die nachstehenden Untersuchungen angemerkt – zwingt mit einer Neubewertung der Selbstzweck-Formel im Kontext der Rechtfertigung der rechtlichen Zwangsbefugnis zur Preisgabe eines strengen Formalismus in der Kantischen Moralphilosophie (s. u. Kap. 3.2.4).
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II. Apriorität und Empirie in Kants Rechtsphilosophie 3. Zur Bestimmung des Verhältnisses von Ethik und Rechtsphilosophie 3.1 Ethische und juridische Gesetzgebung Die beiden moralphilosophischen Grundlegungsschriften wie auch die Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft (vgl. KrV B XLIII f.) bekunden in vereinzelten Hinweisen die Absicht Kants, »dereinst« eine vollständige Metaphysik der Sitten »zu liefern«, in der er »durch Anwendung« des zuvor aufgesuchten und festgesetzten »obersten Prinzips der Moralität« »auf das ganze System« der praktischen Philosophie (Grundlegung, KW IV, 15 f.) eine abschließende Einteilung seiner Pflichtenlehre vornehmen werde (vgl. ebd., 52 Anm.) 1 . Aber wenngleich die Grundlegung mit dem Verbot des unehrlichen Versprechens und die Kritik der praktischen Vernunft mit der Pflicht zur Aufbewahrung eines anvertrauten Guts (Depositum) bereits Beispiele aus dem Bereich der späteren Rechtspflichten enthalten und damit indirekt auf die Rechtsinstitute des Vertrages und des Eigentums vorgreifen (vgl. RL, KW IV, 325, 399), so findet sich doch in keiner der beiden Schriften ein Anhaltspunkt dafür, dass die Gesetzgebung für die »vollkommenen Pflichten gegen andere« in einen separaten ersten Teil der zukünftigen Metaphysik der Sitten (1797), nämlich in die Rechtslehre fallen würde. Kant unterscheidet in den Grundlegungsschriften hinsichtlich des Motivationsgrundes des handelnden Subjekts zwar die »Legalität der Handlungen« von der »Moralität der Gesinnungen« (vgl. z. B. KpV, KW IV, 287), er erwähnt allerdings nirgends die mit dieser – in einer innerethischen Perspektive getroffenen – Unterscheidung nicht gleichzusetzende Unterteilung der moralischen Gesetzgebung in die beiden Arten der ethischen und juridischen. Vielmehr Entsprechend sagt Kant auch in der Vorrede zur Rechtslehre, dass auf »die Kritik der praktischen Vernunft« nun »das System, die Metaphysik der Sitten, folgen« solle (RL, KW IV, 309). 1
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vertritt er ausdrücklich die Position, dass eine Handlung, die »moralisch gut sein soll«, auch pflichtmotiviert, d. h. aufgrund der gesetzgebenden Form der ihr zugrunde liegenden Maxime, ausgeführt werden müsse, wohingegen das bloß legale, »dem sittlichen Gesetze gemäß[e]« Handeln auf einem »unsittliche[n] Grund« beruhe (vgl. Grundlegung, KW IV, 14), zumindest »keinen wahren sittlichen Wert habe (ebd., 24). Dass weder in der Grundlegung noch in der zweiten Kritik vom Rechtsbegriff im Sinne der Rechtslehre – insbesondere von dem für ihn zentralen Bestimmungsmoment eines wechselseitigen Bezugs von Pflichten und diesen korrespondierenden Rechten, die anderen Personen Zwangsbefugnisse zusprechen (vgl. TL, KW IV, 512) – die Rede ist, könnte man allerdings mit ihrer Beschränkung auf die (ethische) Moralität erklären, von welcher der Rechtsbegriff – wie sich zeigen wird – gerade abstrahiert. Wenngleich Kant sich in den ethischen Grundlegungsschriften also lediglich mit der Sittlichkeit einzelner Personen und nicht mit der moralischen Rechtlichkeit eines institutionalisierten Gemeinwesens befasst, ist es nur schwer vorstellbar, dass er im Zeitraum ihrer Abfassung keine systematisch auf den in ihnen erarbeiteten Gedanken aufbauende Begründung einer philosophischen Rechtswissenschaft für möglich hielt 2 . Die beiden Grundlegungsschriften lassen zudem nicht erkennen, dass der zweite, ethische Teil der Metaphysik der Sitten eine Tugendlehre sein würde, die von spezifischen »Tugendpflichten« handelt, welche »außer dem formalen Bestimmungsgrunde« der Allgemeingesetzlichkeit jeweils »noch einen materialen«, nämlich einen objektiv gebotenen Zweck empirisch-anthropologischen Gehalts verbindlich machen, der den »sinnlichen Antrieben entgegengesetzt werden könObwohl Kant auch in der Kritik der reinen Vernunft »Moralität« als »die einzige Gesetzmäßigkeit der Handlungen, die völlig a priori aus Prinzipien abgeleitet werden kann« (vgl. KrV A 841, B 869), bezeichnet, so hält er doch eine »Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann«, für eine »notwendige Idee, die man nicht bloß im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß«, und die nicht durch »die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung« vernachlässigt werden dürfe (vgl. KrV A 316 f., B 373). Zur Entwicklung der Kantischen Rechtsphilosophie vgl. Ritter 1971, der die Kernaussagen der Rechtslehre in die ›vorkritische‹ Phase der 1760er Jahre zurückdatiert und die These vertritt, dass die Entwicklung der Transzendentalphilosophie keinerlei Folgen für die Rechtsphilosophie Kants gehabt habe (vgl. ebd., S. 340 f.); vgl. dazu kritisch Busch 1979; Brandt 1981, S. 235 f.; Kaulbach 1982, S. 75, Anm. 1).
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ne« (vgl. TL, KW IV, 510). Diese »Zwecke, die zugleich Pflichten sind«, werden von Kant – in modifizierender Anknüpfung an eine von ihm vielfach kritisierte moralphilosophische Tradition – als in verschiedenen Handlungen zu verwirklichendes Streben nach eigener (physischer, geistiger und moralischer) Vollkommenheit und fremder Glückseligkeit 3 bestimmt (vgl. ebd., 515–525) und sollen das Kriterium der Einteilung des Systems der »verdienstlichen« Tugendpflichten in »Pflichten gegen sich selbst« und »Pflichten gegen andere« darstellen (vgl. ebd., 549 ff., 584 ff.) 4 . Dieser im Rahmen der ethischen Handlungstheorie der Metaphysik der Sitten entwickelte Begriff eines objektiven Zwecks, »nicht den wir haben, sondern haben sollen« (ebd., 528), entspricht allerdings nicht dem Begriffsverständnis der Grundlegung. Dort ist der »nicht […] zu bewirkende[.], sondern selbständige[.]«, objektiv-notwendige Zweck »nichts anderes als das Subjekt aller möglichen Zwecke selbst« (Grundlegung, KW IV, 71), nämlich das von sinnlichen Bedürfnissen und anthropologischen Bestimmungen unabhängige »vernünftige Wesen«, das »einen innern Wert, d. i. Würde« besitzt (ebd., 68) und »die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke ausmachen soll« (ebd., 63; s. o. S. 141 f.) 5 . 3 Vgl. auch das »Schema der Tugendpflichten« (TL, KW IV, 529), wo Kant den objektiven »Zweck« der »Beförderung« der »Glückseligkeit anderer« als »Triebfeder« kommentarlos zum Maßstab für die »Legalität aller freien Willensbestimmung« erhebt (vgl. dazu Baum 2007, S. 224–226). Im Gegensatz dazu schließt Kant in den Grundlegungsschriften aus mehreren Gründen prinzipiell aus, dass »fremder Wesen Glückseligkeit« überhaupt ein sittlich gebotener »Bestimmungsgrund der Maxime« sein kann (vgl. KpV, KW IV, 145 f.; Grundlegung, KW IV, 47 f.; s. u. Anm. 6). 4 Wenngleich die Ethik der Metaphysik der Sitten als Tugendlehre in dem oben skizzierten Sinne konzipiert ist, unterscheidet Kant noch zwischen ethischen Pflichten und Tugendpflichten: Zwar »korrespondiert aller ethischen Verbindlichkeit der Tugendbegriff, aber nicht alle ethische Pflichten sind darum Tugendpflichten« (TL, KW IV, 512). Denn es gibt nach Kant eine singuläre Pflicht, die sich auf keine der beiden genannten verpflichtenden Zwecke bezieht und die zugleich keine Rechtspflicht ist. Diese »formale« ethische ›Meta‹-Pflicht ist die »tugendhafte Gesinnung« selbst (ebd.), d. i. die Forderung, alle Pflichten aus Pflicht zu erfüllen (ebd., 521). Dieses »allgemeine ethische Gebot« (ebd.) umschließt indirekt auch die Forderung, sich das formale Prinzip der Rechtslehre zur Maxime zu machen, d. h. Rechtspflichten aus Pflicht zu befolgen (vgl. RL, KW IV, 318, 324 f.; s. u. S. 171). 5 Vgl. Grundlegung, KW IV, 71: »Da […] in der Idee eines ohne einschränkende Bedingung (der Erreichung dieses oder jenes Zwecks) schlechterdings guten Willens, durchaus von allem zu bewirkenden Zwecke abstrahiert werden muß (als der jeden Willen nur relativ gut machen würde), so wird der Zweck hier nicht als ein zu bewirkender, sondern
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Kant unterstellt in der Tugendlehre implizit die Möglichkeit, aus dem kriteriologisch zunächst »negativen« und von allen besonderen Zwecken abstrahierenden »formalen Prinzip der Pflicht« – d. h. der Allgemeinen-Gesetzes-Formel des Sittengesetzes (vgl. TL, KW IV, 519) – ein affirmatives und materiales ethisches Prinzip für die menschliche Zwecksetzung selbst (vgl. ebd., 526) sowie eine systematische Einteilung von empirisch gehaltvollen Pflichtzwecken – mithin ein die Vermögen und Neigungen der menschlichen Natur berücksichtigendes ethisches »System der Zwecke« (ebd., 510) – ableiten zu können. Der von Kant dabei weitestgehend stillschweigend vorausgesetzte Ableitungsweg beinhaltet aber schwerwiegende deduktionslogische Probleme und Unstimmigkeiten – nicht zuletzt auch in Bezug auf die in den Grundlegungsschriften entwickelten Maßstäbe ethisch-sittlichen Handelns –, die sich meines Erachtens kaum auflösen lassen 6 . selbständiger Zweck, mithin nur negativ, gedacht werden müssen, d. i. dem niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß.« 6 Diese Schwierigkeiten in aller gebotenen Ausführlichkeit zu erörtern, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Im Folgenden sollen zumindest einige Grundprobleme kursorisch umrissen werden. Für die Ableitbarkeit bestimmter Pflichtzwecke aus dem »obersten Prinzip der Tugendlehre« (»handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann«; TL, KW IV, 526) scheint es nach Kant entscheidend zu sein, dass die Zielsetzungen der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit als allgemeines Gesetz gewollt werden können und deshalb auch als allgemeines Gesetz gewollt werden müssen, denn Kant behauptet: »Was im Verhältnis der Menschen, zu sich selbst und anderen, Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft, denn sie ist ein Vermögen der Zwecke überhaupt; in Ansehung derselben indifferent sein, d. i. kein Interesse daran zu nehmen, ist also ein Widerspruch; weil sie alsdann auch nicht die Maximen zu Handlungen (als welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten) bestimmen, mithin keine praktische Vernunft sein würde« (TL, KW IV, 526). Diese Argumentation widerspricht jedoch insofern den Analyseergebnissen der Grundlegungsschriften und bleibt auch hinter Kants Einsichten in der Metaphysik der Sitten zurück (s. o. S. 56–58), als sie zu unterstellen scheint, dass alle Zwecke, die als Bestandteile einer angenommenen Maxime in der Form eines allgemeinen Gesetzes gewollt werden können, eben daran als Pflichten zu erkennen seien. Da die Annahme von Zwecken bzw. Maximen, die nicht zugleich als allgemeines Gesetz gewollt werden können, allein darum als unmoralisch verworfen werden muss, gäbe es demnach keine Zwecke bzw. Maximen mehr, nach denen zu handeln durch die Vernunft weder verboten noch geboten, sondern bloß erlaubt ist. Im Gegensatz dazu nennt Kant selbst aber gegen Ende der Einleitung zur Tugendlehre denjenigen »phantastisch-tugendhaft […], der keine in Ansehung der Moralität gleichgültigen Dinge (adiaphora) einräumt« (TL, KW IV, 541).
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Entsprechend der Zweiteilung der Metaphysik der Sitten in die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre und die MetaphysiWas Kant mit seiner These, dass sich aus der Prüfung, ob eine Maxime zur allgemeinen Gesetzgebung taugt, obligatorische Zwecke empirischen Gehalts deduzieren lassen, dagegen offenbar meint, ist Folgendes: Wenn ich meine eigene Vollkommenheit sowie fremde Glückseligkeit nicht allgemeingesetzlich-widerspruchsfrei von meinen Zwecken ausschließen kann, dann schreibt mir mein vernünftiger Wille vor, beide eben anzunehmen (so auch Gregor 1990, S. LII). Fraglich ist nun insbesondere, ob die von Kant in der Tugendlehre vorgenommene Einteilung der Zwecke, die zugleich Pflichten sind, unter systematischen Gesichtspunkten befriedigend ist. Denn zumindest was den Pflichtzweck der fremden Glückseligkeit anbelangt, der nach Kant die ›unvollkommenen Tugendpflichten gegen andere‹ umfassend charakterisieren soll, so scheinen mit dieser Etikettierung die durch die unbedingte Selbstzweckhaftigkeit anderer Personen begründeten Pflichten des eigenen Handelns nicht hinreichend abgedeckt werden zu können. Dafür ist schon Kants eigene Systematik der »Tugendpflichten gegen andere« zu komplex (sie werden eingeteilt in Pflichten der Liebe und der Achtung, die Liebespflichten des weiteren in Pflichten der Wohltätigkeit, der Dankbarkeit und der Teilnehmung). Wie Kants Erläuterungen deutlich machen, versteht er unter dem objektiven Zweck fremder Glückseligkeit allerdings nicht – was man zunächst erwarten könnte – das Ziel, die Glückseligkeit des anderen, d. h. dessen dauerhafte »Zufriedenheit mit seinem Zustande« (vgl. TL, KW IV, 517), herbeizuführen. Diese Zielsetzung muss schon deshalb ausscheiden, weil »der Mensch sich […] unter dem Namen der Glückseligkeit keinen bestimmten und sichern Begriff machen kann« (Grundlegung, KW IV, 25). »[D]ie Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Handlung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens befördern werde, [ist] völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in Ansehung derselben möglich, weil Glückseligkeit nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ist, was bloß auf empirischen Gründen beruht, von denen man vergeblich erwartet, daß sie eine Handlung bestimmen sollten« (ebd., 48; vgl. auch KpV, KW IV, 133). Kants Ausführungen zum notwendigen Zweck fremder Glückseligkeit in der Tugendlehre lassen den Rückschluss zu, dass er mit ihm vor allem die »weite« Pflicht allgemeiner Wohltätigkeit gegenüber anderen angesichts eines breiten Spektrums natürlichmenschlicher Hilfsbedürftigkeit im Auge hat (vgl. TL, KW IV, 517 f.; 524 f.): So bin ich zwar verpflichtet, »mit einem Teil meiner Wohlfahrt ein Opfer an andere, ohne Hoffnung der Wiedervergeltung [zu] machen«, dabei ist es aber »unmöglich, bestimmte Grenzen anzugeben: wie weit das gehen könne« (ebd., 524). Auch im Hinblick auf den notwendigen Zweck der »eigenen Vollkommenheit«, der als seine Spezifikationen alle ›vollkommenen und unvollkommenen Tugendpflichten gegen sich selbst‹ umfassen soll, machen Kants Erläuterungen deutlich, dass mit diesem missverständlich betitelten Zweck »nichts anderes [gemeint] sein kann« als die Pflicht des Menschen, der »Kultur seines Vermögens […] ein Gnüge zu tun«. Der Mensch hat demnach allgemein die Pflicht, »sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Tierheit […], immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, empor zu arbeiten«, sowie »[d]ie Kultur seines Willens bis zur reinesten TuA
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schen Anfangsgründe der Tugendlehre ist die »Sittenlehre (philosophia moralis) überhaupt« unterteilt in das Recht (ius) und die Ethik (ethica) (TL, KW IV, 508) 7 . Ihren gemeinsamen verbindlichkeitstheoretischen gendgesinnung, da nämlich das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Handlungen wird, zu erheben und ihm aus Pflicht zu gehorchen, welches innere moralisch-praktische Vollkommenheit ist« (ebd., 516 f.). Es kann an dieser Stelle nicht detailliert untersucht werden, ob und inwiefern Kant seinem in der Einleitung zur Tugendlehre aufgestellten Programm in der Ausarbeitung der sich anschließenden Elementarlehre (vgl. TL, KW IV, 549–614) auch tatsächlich folgt – es ist aber festzustellen, dass die von Kant zuerst behandelten sog. vollkommenen Pflichten gegen sich selbst (also beispielsweise das Selbstmord- oder das hier in der Perspektive dieser Pflichtart diskutierte Lügeverbot) eindeutig aus der Idee der »Persönlichkeit« bzw. »Würde« des Menschen als »Zweck an sich selbst« abgeleitet werden (vgl. ebd., 553–572). Es erscheint daher schon aufgrund der bisher angestellten Überlegungen fraglich, ob Kant in der Tugendlehre überhaupt ein gegenüber dem Allgemeinen Kategorischen Imperativ der ethischen Grundlegungsschriften neues oder gar ›genaueres‹ ethisches Prinzip entwickelt bzw. angewendet hat. Wie Chr. Schnoor hervorhebt, lassen die von Kant vorgetragenen Erläuterungen zum obersten Prinzip der Tugendlehre dieses in »hohem Maße« »als mit der ›Menschheit-als-Zweck-an-sich-selbst‹-Formel des Allgemeinen Kategorischen Imperativs gleichbedeutend erscheinen« (Schnoor 1989, S. 45, Anm. 17). A. Wildt ist der Auffassung, »daß Kant sein ›oberstes Prinzip der Tugendlehre als eine Art positive Wendung oder Verschärfung der [Selbst-] Zweckformel verstanden wissen will« (vgl. Wildt 1997, S. 166). Kant erläutert die Bedeutung des Tugendprinzips im unmittelbaren Anschluss an dessen Einführung folgendermaßen: »Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht« (TL, KW IV, 526; vgl. auch ebd., 542; zur Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs vgl. die vorstehenden Ausführungen in Kap. 2.1.2). Vgl. zur Tugendlehre die ausführlichen Untersuchungen bei Gregor 1963 und Gregor 1990. Gregor ist in ihrer Kritik an Kants Tugendlehre allerdings sehr zurückhaltend und zieht lediglich in Erwägung, dass »vielleicht eine Korrektur der Einteilung der Zwecke, die zugleich Pflicht sind, vonnöten« sei (ebd., S. LIXf.); ihre Ausführungen werden den aus der Tugendlehre sich ergebenden Konsistenzproblemen meines Erachtens nicht hinreichend gerecht. Vgl. dagegen die grundsätzliche Kritik an Kants Ethikkonzeption der Tugendlehre bei Schnoor 1989, S. 44–46 (ebd. auch weiterführende Literaturhinweise). 7 Während die Ethik »in den alten Zeiten«, so Kant, die gesamte Sittenlehre bedeutete, also sämtliche Pflichten umfasste, sei es ratsam, diesen Namen auf einen Teil der Sittenlehre, die Tugendlehre, einzuschränken (vgl. TL, KW IV, 508). Im Einklang mit Kants Sprachgebrauch in der Metaphysik der Sitten wird der Begriff »Moral« daher im Folgenden zur Bezeichnung der gesamten Sittenlehre verwendet; er umfasst mithin die Rechtslehre und die Ethik bzw. Tugendlehre. Da die beiden Teile der Moralphilosophie ihre absolute Verbindlichkeit gemäß Kants Anspruch nur als Derivate des Sittengesetzes besitzen, sind sowohl die ethischen Pflichten als auch die reinen Rechtspflichten »mora-
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Ursprung haben Recht und Ethik gemäß Kants Selbstverständnis in dem aus den Grundlegungsschriften bekannten Sittengesetz der »allgemeine[n] Formel des kategorischen Imperativs« (Grundlegung, KW IV, 70, 51; KpV, KW IV, 140). Kant ruft sie in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« in Erinnerung: »[H]andle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann« (RL, KW IV, 332; vgl. auch TL, KW IV, 519). Dieser »oberste Grundsatz der Sittenlehre« (RL, KW IV, 332) drückt nach Kant ganz allgemein aus, »was Verbindlichkeit sei«, d. h. was überhaupt moralische (ethische und juridische) Pflicht ist (ebd., 331) 8 . Aus diesem formalen Prinzip aller Verbindlichkeit soll durch restriktive Einsetzung der den Begriff des Rechts kennzeichnenden ›materialen‹ Merkmale der Grundsatz aller Rechtspflichten, d. i. das allgemeine Rechtsgesetz gefolgert werden – eine Ableitung, die Kant nicht explizit unternommen hat 9 . Der Unterscheidung von Recht und Ethik bzw. von Rechtslehre und Tugendlehre liegt nach Kant – allerdings nicht im Sinne einer extensionalen Entsprechung – die Differenz zweier Typen der »Gesetzgebung« praktischer Vernunft zugrunde: der »juridischen«, d. h. äußelische« Pflichten. Vgl. auch Frieden, KW VI, 250, wo Kant von »der Moral im ersteren Sinne (als Ethik)« und »in der zweiten Bedeutung (als Rechtslehre)« spricht. 8 Er ist daher nicht zu verwechseln mit dem materialen Tugendprinzip, das nach Kant nicht das Gesetz aller Praxis ist, sondern nur das (ethische) Prinzip der Zwecke, die zugleich Pflichten sind (s. o. Anm. 6). 9 Gemäß der von Kant mehrfach angekündigten und in der Vorrede zur Metaphysik der Sitten bekräftigten (vgl. RL, KW IV, 309) Auffassung, dass die Rechtslehre systematisch in der in den Grundlegungsschriften entwickelten Theorie fundiert ist, lässt sich der im Folgenden nachzuzeichnende Ableitungsweg vom allgemeinen Pflichtprinzip des Sittengesetzes zum Rechtsgesetz mit M. Gregor folgendermaßen skizzieren: »The categorical imperative as a distinctively ethical command is the presupposition of applied moral philosophy as a whole. But from the supreme moral principle Kant must then abstract the criterion of legally right, as distinguished from morally good, action and so develop the first principle of laws which express the conditions of such freedom as can be realized independently of the agent’s motive« (Gregor 1963, S. 19). Allerdings wird sich zeigen, dass die für den Begriff des Rechts charakteristischen Merkmale nicht einfach aus dem allgemeinen Kategorischen Imperativ ›abstrahiert‹ werden können – wie Gregor annimmt –, sondern allererst durch den Bezug dieses Imperativs auf die (empirischen) Bedingungen, unter denen sich Menschen als praktische Vernunftwesen in äußerer Gemeinschaft miteinander befinden, aufgefunden und in die allgemeine Formel des Kategorischen Imperativs implementiert werden müssen. Ein besonderes deduktionslogisches Problem stellt dabei die moralische Legitimation der mit dem allgemeinen Rechtsgesetz laut Kant verknüpften Zwangsbefugnis dar. A
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ren oder rechtlichen Gesetzgebung und der »ethischen« oder inneren Gesetzgebung. »Diejenige [Gesetzgebung], welche eine Handlung zur Pflicht, und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht selbst, zuläßt, ist juridisch« (RL, KW IV, 324).
Während die ethische Gesetzgebung mit der inneren Triebfeder der Pflicht eine bestimmte Ausführungsmotivation für die Befolgung ihrer Gesetze vorschreibt, verzichtet die juridische Gesetzgebung auf jede normative Verknüpfung ihrer spezifischen Gebote oder Verbote mit einem bestimmten Exekutionsprinzip. Die Triebfeder, durch die wir charakteristischerweise im Rahmen der juridischen Gesetzgebung zu einem pflichtgemäßen Verhalten motiviert werden, besteht in der »von den pathologischen Bestimmungsgründen der […] Abneigungen […] hergenommen[en]« (vgl. ebd.) Furcht vor »äußere[m] Zwang« (ebd., 325) 10 . Die rechtliche Gesetzgebungsweise der praktischen Vernunft lässt nach Kant aber nicht nur die möglicherweise folgenlose Androhung, sondern gegebenenfalls auch die tatsächliche Vollstreckung äußeren Zwangs, d. h. eine durch eine fremde Person ausgeübte physische Nötigung, als möglichen Befolgungsmodus für die ihr entspringenden spezifischen Pflichten – die »Rechtspflichten« – zu 11 . Rechtspflichten können sowohl sich selbst 12 als auch einander geschuldete Pflichten zu Die gesellschaftliche Wirksamkeit des in Aussicht gestellten physischen Rechtszwangs gründet in dem rationalen Kalkül des Einzelnen, im Sinne des wohlverstandenen Eigeninteresses »die Selbstliebe vor einer Dummheit zu bewahren«, d. h. zur Vermeidung zu erwartender unangenehmer Sanktionen freiwillig auf die Ausführung einer erwogenen Unrechtshandlung zu verzichten (vgl. Kersting 1990, S. 66, Anm. 14; Kersting 2004b, S. 18). 11 Zum Problem der Legitimität der den Rechtspflichten korrespondierenden Zwangsbefugnis s. u. Kap. 3.2.3 u. 3.2.4). Die Erfüllung einer der ethischen Gesetzgebung entspringenden (Tugend-) Pflicht kann dagegen nicht äußerlich erzwungen werden, sondern beruht allein auf einem inneren »Selbstzwang« (vgl. z. B. TL, KW IV, 508). Aus der Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten leitet Kant die Einteilung der Metaphysik der Sitten in Rechtslehre und Tugendlehre her (vgl. RL, KW IV, 347). 12 Wie Kants »Allgemeine Einteilung der Rechtspflichten« verdeutlicht (RL, KW IV, 344 f.; vgl. auch ebd., 349), kennt er auch eine »innere Rechtspflicht«, die als ein ursprüngliches Verpflichtungsverhältnis zwischen dem noumenalen Menschen (der »Menschheit«) und dem empirischen Menschen zu verstehen ist. Wie noch ausführlich erörtert werden soll, besitzt die ›Rechtspflicht gegen sich selbst‹ eine grundlegende Bedeutung für die Rechtslehre, insbesondere für die Begründung der rechtlichen Zwangs10
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äußerem Handeln sein (vgl. RL, KW IV, 334; TL, KW IV, 521) 13 ; die Befolgung der letzteren darf bei jedem erzwungen werden, der sie nicht selbst (aus welchen inneren Beweggründen auch immer) leistet 14 . Allerdings ist laut Kant jede Pflicht als solche – sei es nun eine Rechtspflicht oder eine direkt-ethische Pflicht – Gegenstand der ethischen Gesetzgebung. Diese erstreckt sich demnach »auf alles, was Pflicht ist, überhaupt« (RL, KW IV, 324). Zwar beruhen äußere Rechtspflichten ursprünglich auf der juridischen Gesetzgebung der Vernunft; sie werden an die Ethik jedoch sozusagen weitergegeben, die sie gemäß dem allgemeinen ethischen Gebot »handle pflichtmäßig, aus Pflicht« (TL, KW IV, 521), »als Pflichten« – d. h. bloß aus dem Grunde, dass sie Pflichten sind – »in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern aufnimmt« (RL, KW IV, 325) 15 : »Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut« (ebd., 338). Wenngleich Kant die aus den Grundlegungsschriften bekannte befugnis. Vgl. dazu unten Kap. 3.2.4. Wenn im Folgenden von »äußeren Rechtspflichten« die Rede ist, so sind damit immer ›Rechtspflichten gegen andere‹ gemeint. 13 Selbstverständlich schließt dieses äußere Handeln ein Unterlassen ein. Ohne einen Handlungsbegriff systematisch auszuarbeiten, unterscheidet Kant in der Metaphysik der Sitten die »äußere Handlung« (vgl. RL, KW IV, 318, 323 f., 347) oder »Tat (factum)« (vgl. ebd., 334) zur Bezeichnung der zurechnungsfähigen, äußerlich wahrnehmbaren Bewegungen des Leibes und Handhabungen äußerer Gegenstände von der »inneren Handlung« (ebd., 323 f.) oder dem »innere[n] Akt des Gemüts« (ebd., 347), der sich auf die ausschließlich privat beurteilbare Annahme von Maximen und Setzung von Zwecken bezieht (vgl. dazu Scholz 1972, S. 31–35; Ludwig 1988, S. 86 f.; Gregor 1990, insbes. S. XLIf., Anm. 6). Daneben gibt es allerdings auch ein inneres Handeln der Zweckverwirklichung, etwa das Lösen eines mathematischen Problems; vgl. Geismann 2006, S. 3, Anm. 2. 14 Vgl. RL, KW IV, 324: »Die Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung können nur äußere Pflichten sein, weil diese Gesetzgebung nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflicht, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund der Willkür des Handelnden sei, und, da sie doch einer für Gesetze schicklichen Triebfeder bedarf, nur äußere mit dem Gesetze verbinden kann.« In einem zumindest problematischen Verhältnis zu diesen Bestimmungen steht allerdings Kants Konzeption einer »inneren Rechtspflicht«. Diese selbstgerichtete moralisch-rechtliche Verbindlichkeit bezieht sich zwar – ebenso wie die einen Alteritätsbezug aufweisenden äußeren Rechtspflichten – auf das äußere Handeln; das Moment der Nötigung kann im Falle der inneren Rechtspflicht jedoch nur als Selbstzwang vorgestellt werden (s. u. S. 225 f.). 15 So ist die Pflicht zur Erfüllung einer vertraglich zugesicherten Leistung eine genuine Rechtspflicht und ihre Erzwingbarkeit ist ausschließlicher Gegenstand der juridischen Gesetzgebung. Es ist allerdings ein Gebot der ethischen Gesetzgebung, Verträge bloß A
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Unterscheidung zwischen der Legalität und der Moralität einer Handlung anhand der Lehre von der doppelten Gesetzgebung der Vernunft verdeutlicht (vgl. ebd., 324), ist sie nicht mit der Unterscheidung zwischen juridischer und ethischer Gesetzgebung gleichzusetzen. Streng genommen ist Legalität ein Handlungsprädikat und bezeichnet die moralische Qualifikation einer äußeren Handlung; Moralität dagegen ist die moralische Qualifikation einer Handlungsmaxime, nach der gehandelt wird (vgl. KpV, KW IV, 203, 287) 16 . Während die an der äußeren Handlung selbst nicht feststellbare Moralität der Gesinnung als subjektiver Motivationsgrund sittlichen Handelns ausschließlich der ethischen Gesetzgebung zuzuordnen ist, können hinsichtlich der Legalität zwei Formen bzw. Perspektiven unterschieden werden: »Die Legalität ist entweder juridisch oder ethisch« (Reflexionen zur Moralphilosophie, AA XIX, 154). Einerseits kommt Legalität einer Handlung zu, die durch ein ethisches Gesetz zwar geboten ist, aber nicht aufgrund der gesetzlichen Form der zugrunde liegenden Maxime – sondern aufgrund eines natürlichen Interesses entweder an der Handlung selbst oder ihren Folgen – ausgeführt wird; alsdann meint Legalität eine defiziente Form der inneren sittlichen Verfassung des handelnden Subjekts 17. Andererseits bezeichnet die Legalität einer Handlung als moralisch hinreichendes Kriterium die durch welche (innere oder äußere) Triebfeder auch immer veranlasste Erfüllung von Rechtspflichten, ohne dass damit eine Verminderung des Anspruchs moralischer Verbindlichkeit verknüpft wäre. In der Metaphysik der Sitten gibt Kant die gemäß den ethischen Grundlegungsschriften eindeutig negative Konnotation von Legalität auf und führt einen positiven Legalitätsbegriff ein, der als Kontrastbegriff – nun nicht mehr zur Moralität, sondern – zur Gesetzwidrigkeit firmiert 18 : darum zu erfüllen, weil es eine Pflicht ist, seine Versprechen zu halten (vgl. RL, KW IV, 325). 16 Vgl. auch RL, KW IV, 332: »Die Übereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetze ist die Gesetzmäßigkeit (legalitas) – die der Maxime der Handlung mit dem Gesetze die Sittlichkeit (moralitas) derselben« (Hervorheb. teilw. v. m.). 17 Diesen ›defizienten‹ Sinn von Legalität hat Kant in den ethischen Grundlegungsschriften im Auge – etwa wenn er das Verhalten eines Kaufmanns veranschaulicht, der aus einem subjektiven Interesse an der eigenen Vorteilsmaximierung heraus seine Kunden »ehrlich bedient« (vgl. Grundlegung, KW IV, 23; vgl. auch ebd., 14; KpV, KW IV, 191, 203). 18 O. Höffes Feststellung, »erst mit der Moralität [werde] die eigentliche Dimension der Moral erreicht« (vgl. Höffe 2004, S. 260), ist daher unangemessen; ihr ist lediglich in
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»[Die] Gesetze der Freiheit heißen, zum Unterschiede von Naturgesetzen, moralisch. Sofern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch, und alsdann sagt man: die Übereinstimmung mit den ersteren ist die Legalität, die mit den zweiten die Moralität der Handlung« (RL, KW IV, 318).
Dass die juridischen Gesetze »nur das zum Objekte [haben], was in Handlungen äußerlich ist« (ebd., 339), ergibt sich daraus, dass sie Pflichten betreffen, denen physisch erzwingbare Rechte korrespondieren (TL, KW IV, 512), die ihrerseits vollständig bestimmt sein müssen. Daher betont Kant, dass »die Rechtslehre das Seine einem jeden (mit mathematischer Genauigkeit) bestimmt wissen will, welches in der Tugendlehre nicht erwartet werden darf« (RL, KW IV, 340; vgl. auch TL, KW IV, 543 Anm.). Die spezifische Differenz der juridischen im Unterschied zur ethischen Gesetzgebung besteht darin, dass die in äußeren Rechtspflichten geforderte Gesetzeskonformität von Handlungen durch die Androhung und Anwendung von physischen Zwangsmitteln sichergestellt werden kann und darf, während dies bei direkt-ethischen Pflichten nicht der Fall ist (vgl. TL, KW IV, 512): »Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedenen Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet« – d. i. im Falle der Rechtslehre: jede beliebige Triebfeder einschließlich der Motivation durch äußeren Zwang oder – im Falle der Tugendlehre bzw. einer innerethischen Perspektive zuzustimmen. Sachlich schlichtweg verfehlt ist seine Auffassung, »die bloße Legalität [sei] für Kant nur [!] ein Gegenbegriff, um durch Kontrast das Wesen der eigentlichen Moral, die Moralität, zu erläutern« (ebd., S. 262). Der moralische Wert der Legalität in juridischer Perspektive ist für Kant keineswegs ein bloßer Gegenbegriff. Jeder moralischen Handlung kommt zunächst einmal notwendig und einer spezifisch rechtlichen Handlung als solcher ausschließlich Legalität zu. Kant selbst hält die Legalität einer Handlung sogar für das ausschlaggebende Kriterium des moralischen Fortschritts innerhalb der raum-zeitlichen Welt: »Nicht ein immer wachsendes Quantum der Moralität in der Gesinnung, sondern Vermehrung der Produkte ihrer Legalität in pflichtmäßigen Handlungen, durch welche Triebfeder sie auch veranlaßt sein mögen; d. i. in den guten Taten der Menschen […], also in den Phänomenen der sittlichen Beschaffenheit des Menschengeschlechts, wird der Ertrag (das Resultat) der Bearbeitung desselben zum Besseren allein [!] gesetzt werden können« (vgl. Fakultäten, KW VI, 365). A
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Ethik: der ›innere‹ Selbstzwang (RL, KW IV, 325) 19 . Wie Kant in der Einleitung zur Tugendlehre resümiert, unterscheiden sich Ethik und Recht ihrer »spezifischen Form nach«, d. h. hinsichtlich der Art ihrer Verpflichtung, mithin in dreifacher Hinsicht: Erstens werden direktethische Pflichten durch Gesetze vorgeschrieben, die nicht einer äußeren Gesetzgebung fähig und damit nicht äußerlich erzwingbar sind (TL, KW IV, 542; vgl. auch ebd., 508 f.). Daraus resultiert zweitens, dass »in der Ethik ein Pflichtgesetz nicht für die Handlungen, sondern bloß für die Maximen der Handlungen gegeben sein kann« (ebd., 542) 20 , was wiederum drittens zur Folge hat, dass die ethischen Pflichten eher von »weiter«, wohingegen die Rechtspflichten von »enger« Verbindlichkeit sind (ebd.; vgl. auch ebd., 520; s. o. S. 86–89) 21 . Das Pflichtmotiv ist notwendiger Bestandteil der alle Pflichten gleichermaßen und ausnahmslos umfassenden ethischen Gesetzgebung; die juridische Gesetzgebung hingegen ist gegenüber dem Handlungsmotiv bzw. Befolgungsmodus indifferent, indem sie »auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht selbst, zulässt« (RL, KW IV, 324). Die juridische Gesetzgebungsweise verknüpft »im Gesetze« (ebd.) selbst überhaupt keine bestimmte Triebfeder mit ihren Geboten oder Verboten; ihr ist jeder Ausführungsgrund in gleicher Weise recht. Es ist daher keinesfalls so, dass ihre Triebfeder-Leerstelle nur durch (die Furcht vor) Zwang besetzt werden kann. Dies würde bedeuten, dass jeder berechtigten Zwangsanwendung der verpflichtende Charakter praktischer Notwendigkeit zukäme – mit der Konsequenz, »daß man von seinem Rechte sogar nichts nachlassen könne«, ein Rechtsverzicht mithin gleichbedeutend wäre mit einer moralischen Verfehlung (vgl. Kants Rezension zu Gottlieb Hufelands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, KW VI, 811). Stattdessen wird der (drohende) Zwang in der juridischen Gesetzgebung als bloß möglicher Bestimmungsgrund des äußeren Willkürgebrauchs betrachtet. Vgl. dazu und zum Konzept der doppelten moralischen Gesetzgebung die ausführliche Interpretation bei Kersting 1993, S. 175–180 sowie Kersting 1990, S. 63–66. 20 »Die Ethik gibt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das tut das Ius) sondern nur für die Maximen der Handlungen« (TL, KW IV, 519). Vgl. auch Kants Bemerkung aus seinem handschriftlichen Nachlass: »Es kommt bey der Ethik nicht auf die Handlungen, die ich thun soll, sondern das principium an, woraus ich sie thun soll. Maxime« (AA XIX, 244). 21 Ohne explizit von engen oder weiten Pflichten zu sprechen, bemerkt Kant in der Einleitung zur Rechtslehre, dass die Ethik bzw. Tugendlehre im Unterschied zum Recht »einen gewissen Raum zu Ausnahmen (latitudinem) nicht verweigern kann« (RL, KW IV, 340). In den pflichtentheoretischen Erörterungen der Tugendlehre, wo er ausdrücklich zwischen Rechtspflichten von »enger« und ethischen (Tugend-) Pflichten von »weiter Verbindlichkeit« unterscheidet (TL, KW IV, 520), sagt Kant mit Bezug auf die o. g. »Ausnahmen«: »Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Eltern19
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Apriorität und Empirie in Kants moralischem Rechtsbegriff
3.2 Apriorität und Empirie in Kants moralischem Rechtsbegriff 3.2.1 Das Metaphysikverständnis der Rechtslehre Abgesehen von der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten«, die sowohl der nachfolgenden Rechts- als auch der Tugendlehre gewidmet 22 ist und neben aus den Grundlegungsschriften übernommenen begrifflichen Bestimmungen das neue Element der doppelten moralischen Gesetzgebung enthält, besteht die Rechtslehre formal aus drei Teilen: 1.) einer »Einleitung in die Rechtslehre«, die in einer inhaltlich sehr dichten Form u. a. das Grundprinzip von Kants Rechtsphilosophie,
liebe) verstanden« (ebd.). Darüber hinaus deutet er an, dass es unterschiedliche Grade von »weit« geben könne: »Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist, je näher er gleichwohl die Maxime der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugendhandlung« (ebd.). Während wir Rechtspflichten als solchen mit dem Vollzug bestimmter Handlungen im Prinzip vollständig nachkommen können, lassen unvollkommene ethische Pflichten hinsichtlich ihrer »Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür« offen, der darin begründet liegt, dass ihre Gesetze für Maximen nicht festlegen können, »wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle« (TL, KW IV, 520). Später betont Kant, dass die Ethik wegen des Spielraums, den die vollkommenen Pflichten erlauben, eine Übung der Urteilskraft hinsichtlich der Frage, wie eine Maxime in einem gegebenen Fall angewendet werden soll, erforderlich macht »und so […] in eine Kasuistik [gerät], von welcher die Rechtslehre nicht weiß« (vgl. ebd., 543 f., 567 Anm.; vgl. auch Kants Vorarbeiten zur Tugendlehre AA XXIII, 380–94). Im Hinblick auf die von W. Kersting aufgestellte These, Kant stehe in der Metaphysik der Sitten auf dem Standpunkt, »vollkommene Pflicht« und »Rechtspflicht« sowie »unvollkommene Pflicht« und »ethische (Tugend-) Pflicht« seien jeweils extensional gleichbedeutend (vgl. Kersting 1983, S. 405; Kersting 1993, S. 192), ist der Textbefund keineswegs eindeutig. Kersting kann sich für seine Auffassung zwar auf die oben auszugsweise zitierte Textstelle stützen (vgl. TL, KW IV, 520); andererseits ist Kant in einer anderen Passage ausdrücklich der Ansicht, dass die ethische Tugendlehre mit den Unterlassungspflichten, die die Selbsterhaltung bzw. das Verbot der vollständigen und partiellen Selbstzerstörung des Menschen als zugleich tierisches und moralisches Wesen betreffen, sehr wohl »vollkommene Pflichten gegen sich selbst« enthält (vgl. TL, KW IV, 553– 580). Vgl. dazu Gregor 1990, S. LX–LXIII; Schnoor 1989, S. 297. 22 Die Einleitung in die Metaphysik der Sitten ist Bestandteil der Rechtslehre, weil die Tugendlehre erst etwa ein halbes Jahr später als eigenständige Schrift veröffentlicht wurde (s. o. S. 21 f., Anm. 16). A
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das moralische Rechtsprinzip 23 , einführt sowie die mit ihm verbundene Befugnis zu rechtlichen Zwangsmaßnahmen ableitet und – allerdings nicht in wünschenswerter Klarheit – moralisch legitimiert; 2.) dem ersten Hauptteil des Privatrechts, das sich in das angeborene Recht vom inneren Mein und Dein 24 sowie das dreigliedrige und mit zusätzlichen Unterabteilungen ausgestattete erworbene Recht vom äußeren Mein und Dein aufspaltet; 3.) dem zweiten Hauptteil des dreiteiligen öffentlichen (Staats-, Völker- und Weltbürger-) Rechts, auf welches das Privatrecht mit der Unterscheidung eines »provisorischen« von einem »peremtorischen« Mein und Dein bereits vorgreift. Der Zusatz Rechtslehre soll den systematischen Anspruch des Rechtsbegriffs betonen: Als »Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist (ius)« (RL, KW IV, 336), hat die Rechtslehre die Aufgabe, die Rechte, welche die Menschen ursprünglich haben oder erwerben können, sowie die Modi einer solchen Erwerbung a priori zu bestimmen, um eine jedermann verpflichtende Ordnung und friedliche Regelung der äußeren Beziehungen im menschlichen Zusammenleben zu ermöglichen. Nur durch die Orientierung an dem Ideal eines »aus der Vernunft hervorgehende[n] System[s]« apriorischer Rechtsprinzi-
Das gesuchte Rechtsprinzip findet sich in der Einleitung zur Rechtslehre in dreierlei Gestalt: zunächst als allgemeiner »Begriff des Rechts« (§ B), ferner als »Allgemeines Prinzip des Rechts« (§ C) und schließlich als im imperativischen Modus formuliertes »allgemeine[s] Rechtsgesetz« (§ C). S. u. Kap. 3.2.3; vgl. dazu Höffe 1990, S. 137–139. 24 Kant hat das im Rechtsprinzip begründete angeborene Privatrecht vom inneren Mein und Dein, dem der Gedanke unveräußerlicher Menschenrechte entspricht, aus dem einzigen Grund seiner unverhältnismäßigen Kürze gegenüber dem zu erwerbenden Privatrecht vom äußeren Mein und Dein in der »Einleitung in die Rechtslehre« positioniert, wo er es äußerst knapp – auf kaum mehr als einer Seite – erörtert (vgl. RL, KW IV, 346; s. u. Kap. 3.2.4). Dass das angeborene, innere Mein und Dein der Sache nach in das Privatrecht gehört, hat grundlegende Bedeutung für Kants (sachenrechtsunabhängige) Begründung des öffentlichen Rechtszustands, denn das unverlierbare Freiheitsrecht ist als privatrechtliche Regelungsmaterie in das öffentliche Staatsrecht zu übernehmen und gegen ungesetzliche Übergriffe zu sichern. Nur durch den – von Kant allerdings nur unzureichend betonten – privatrechtlichen Status des inneren Mein und Dein lässt sich daher auch die staatliche Kompetenz zur strafrechtlichen Verfolgung von Tötungsdelikten, Körperverletzung und Nötigung bei Kant begründen. Vgl. dazu Kühl 1990, S. 80; Oberer 1997, S. 185 f. 23
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pien, »welches man die Metaphysik des Rechts nennen könnte« (ebd., 309), lässt sich nach Kant die subjektive Beliebigkeit eines rein positivistischen Rechtsverständnisses vermeiden, das sich keinem objektiven, übergeschichtlich gültigen und allgemein verbindlichen Geltungsgrund verpflichtet weiß. Während letztgenannte Rechtsauffassung lediglich auf die Frage, was faktisch »[r]echtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben«, antworte, ist es Kant um »das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne«, zu tun (ebd., 336). Diese normative Fragestellung muss sich nicht nur unabhängig von den empirisch-faktisch geltenden positiven Rechtsnormen beantworten lassen, vielmehr hat das in § B der »Einleitung in die Rechtslehre« gesuchte und als juridisches Beurteilungskriterium dienende »Allgemeine Prinzip des Rechts« eine allererst legitimierende Funktion für jede positiv geltende äußere Gesetzgebung und Rechtsprechung: Das apriorische Rechtsprinzip hat die normative »Grundlage« »zu einer möglichen positiven Gesetzgebung […] zu errichten« (ebd.) und – damit implizit verbunden – die verbindlichkeitstheoretischen Voraussetzungen aller staatsfunktionalen (legislativen, judikativen und exekutiven) Bestimmungskompetenzen freizulegen. Gegenüber einer auf diesem Prinzip beruhenden »natürlichen Rechtslehre« (ebd.) sei, so Kants berühmtes Verdikt, eine »bloß empirische Rechtslehre […] (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat« (ebd.). Obwohl das Natur- oder Vernunftrecht in diesem vor- und übergeordneten Sinne also von der äußeren Gesetzgebung handelt, sofern sie bloß moralisch-möglich ist, betont Kant in der Vorrede zur Rechtslehre ausdrücklich, dass »der Begriff des Rechts […] ein reiner, jedoch auf die Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter Begriff ist«, sodass »ein metaphysisches System desselben in seiner Einteilung auch auf die empirische Mannigfaltigkeit jener Fälle Rücksicht nehmen müßte« (ebd., 309). Da das Vernunftrecht mithin auf materiale Vorgaben angewiesen ist, die aus seinem Begriff nicht selber ableitbar sind, eine »Vollständigkeit der Einteilung des Empirischen aber unmöglich ist«, möchte Kant hinsichtlich der Rechtslehre auch nicht von einem metaphysischen System sondern lediglich von »metaphysischen Anfangsgründen« sprechen (ebd.; vgl. auch TL, KW IV, 607 f.). Diese müssen jedoch für alle empirisch-faktischen AnwenA
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dungsfälle – deren typologisch vollständiger Erfassung gemäß dem Anspruch Kants »wenigstens […] nahe zu kommen« ist – gültig sein (RL, KW IV, 309). Die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre enthalten also nicht das vollständige System, sondern gewissermaßen nur den normativen Grundriss zu einer systematischen Entfaltung der Rechte und der ihnen korrespondierenden Rechtspflichten. »Es wird daher hiemit, so wie mit den (früheren) metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, auch hier gehalten werden: nämlich das Recht, was zum a priori entworfenen System gehört, in den Text, die Rechte aber, welche auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden, in zum Teil weitläufige Anmerkungen zu bringen; weil sonst das, was hier Metaphysik ist, von dem, was empirische Rechtspraxis ist, nicht wohl unterschieden werden könnte« (ebd.).
Mit dieser Einschränkung der metaphysischen Rechtslehre auf »metaphysische Anfangsgründe«, die mit der empirischen Realität zu vermitteln sind, ist das Problem einer Verhältnisbestimmung von vernunftrechtlicher Apriorität und rechtsspezifischer Empirie jedoch noch keineswegs hinreichend erfasst. Denn ähnlich wie der metaphysische Physikbegriff in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft – auf deren Analogie Kant ja selber in der oben zitierten Passage und auch sonst mehrfach hinweist 25 – den nicht weiter ableitbaren, gleichwohl empirischen Begriff der beweglichen Materie voraussetzen muss (s. o. S. 33 f.), so fließen auch in den metaphysischen Rechtsbegriff empirische Bestimmungsmomente von sehr hohem Allgemeinheitsgrad ein, die seinen Regelungsbereich überhaupt erst konstituieren und ohne welche er seinen Sinn als ein »auf die Praxis […] gestellter Begriff« verlieren würde. Wie im Folgenden zu zeigen ist, kommen also bereits die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre nicht ohne empirische und anthropologische Elemente aus 26, deren Vorhandensein sich mithin keineswegs – wie die oben zitierte Ankündigung in der Vorrede nahe legt – auf die in den Anmerkungen enthaltenen Beispiele »besondere[r] Erfahrungsfälle« beschränkt. Diese eigentümliche Beziehung von apriorischen Vernunft25 Die Metaphysik der Sitten folge, so Kant, auf die Kritik der praktischen Vernunft und bilde mit ihren »Metaphysischen Anfangsgründen« der Rechts- und Tugendlehre das »Gegenstück der schon gelieferten metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft« (RL, KW IV, 309; vgl. auch ebd., 321). 26 Vgl. Höffe 1999a, S. 10.
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gründen und basalen Erfahrungstatsachen ist jedoch gemäß Kants Selbstverständnis und analog zu dem – gegenüber der Grundlegung erweiterten – Metaphysikbegriff der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft 27 eine innermetaphysische. Sie darf nicht dazu 27 Wie wir oben (vgl. Kap. 1.1) gesehen haben, ist eine »Metaphysik der Sitten« gemäß dem Anspruchsniveau der Grundlegung »eine reine Moralphilosophie […], die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert« sein muss (Grundlegung, KW IV, 13). Demgegenüber unterscheidet Kant in der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft einen »allgemeine[n]« bzw. »transzendentale[n] Teil der Metaphysik der Natur«, der »ohne Beziehung auf irgend ein […] Erfahrungsobjekt« verfährt und nur »von den Gesetzen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen«, handelt, von zwei Disziplinen einer »besonderen« Metaphysik, die »jene transzendentale[n] Prinzipien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne« anwenden und die dazu elementare empirische Begriffe benötigen (vgl. MAN, KW V, 14): In der Metaphysik der körperlichen Natur, d. i. die rationale Physik, handelt es sich um empirische Begriffe wie Materie und Bewegung (ebd., 17); in der Metaphysik der denkenden Natur, d. i. die rationale Psychologie, ist es die empirische Repräsentation »eines denkenden Wesens« (ebd., 14). Durch eine analytische »vollständige Zergliederung« (ebd., 16) dieser Begriffe wird nun in der Durchführung der jeweiligen metaphysischen Disziplin der »Umfang der Erkenntnis« gesucht, »deren die Vernunft über diese [begrifflichen] Gegenstände a priori fähig ist« (ebd., 14). Analog dazu wendet die allgemeine Metaphysik der Sitten von 1797 den »oberste[n] Grundsatz der Sittenlehre« überhaupt – also das von Voraussetzungen über die empirische Natur des Menschen vollständig unabhängige Sittengesetz als das Prinzip aller Moral (vgl. RL, KW IV, 332) – in der metaphysischen Rechtslehre auf eine äußere Gesetzgebung und in der metaphysischen Tugendlehre bzw. Ethik auf eine innere Gesetzgebung an. Dadurch gelangt sie im erstgenannten Fall zur sozialen Moral des äußerlichen Zusammenlebens, im letztgenannten zur personalen Moral der inneren Einstellung (Motivation). Da elementare empirisch-anthropologische Sachverhalte aber sowohl in die innere Gesetzgebung für Willensmaximen als auch in die äußere Gesetzgebung für die unvermeidliche Koexistenz des Menschen mit Seinesgleichen einfließen, sind deren Grundaussagen epistemologisch betrachtet ›nicht-reine synthetische Urteile a priori‹. Die aposteriorischen Elemente der praktischen Metaphysik können näher dahingehend charakterisiert werden, das sie den »Menschen als solche[n]«, d. h. »bloß als Menschen betrachtet« (TL, KW IV, 606 f.), kennzeichnen – im Unterschied zu der »Verschiedenheit der Beschaffenheit der Menschen, oder ihrer zufälligen Verhältnisse, nämlich der des Alters, des Geschlechts, der Abstammung, der Stärke oder Schwäche, oder gar des Standes […], welche zum Teil auf beliebigen Anordnungen beruhen« und in metaphysische Anfangsgründe keine Aufnahme finden dürfen (ebd., 607). Vgl. dazu Höffe 1999b, S. 48 sowie insbes. Gregor 1963, S. 11–17, die – ähnliche Auffassungen späterer Autoren antizipierend – bereits in ihrer vorrangig die Tugendlehre behandelnden Studie darauf hingewiesen hat, dass Kant – wohl auch aufgrund seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen in den zwischenzeitlich veröffentlichten Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft – der Metaphysik der Sitten einen
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führen, den moralischen Anspruch des allgemeinen Rechtsprinzips legitimatorisch aus der partikulären Erfahrung kontingenter Umstände und Bedingungen abzuleiten, unter denen Menschen sich in einem bestimmten Land zu einer bestimmten Zeit befinden. Mit einem dadurch unvermeidlichen – in heutiger Terminologie so genannten – naturalistischen Fehlschluss geriete man, so Kant, »in Gefahr der gröbsten und verderblichsten Irrtümer« (vgl. RL, KW IV, 320). Das Verhältnis von apriorischer Verbindlichkeit und empirischer Anwendbarkeit erweist sich vielmehr als dem moralischen Rechtsbegriff selbst inhärent 28 . Wie O. Höffe zutreffend feststellt, vereinigt das in § C der Einleitung als kategorischer Imperativ bestimmte »Allgemeine Prinzip des Rechts« (RL, KW IV, 337) zweierlei Geltungsaspekte in sich, die Kant nicht explizit voneinander unterscheidet: Neben dem a) metaphysisch-normativen Geltungsanspruch, der nach Kant aus dem »oberste[n] Grundsatz der Sittenlehre« überhaupt – also dem Kategorischen Imperativ als dem Prinzip aller moralischen Verpflichtung (RL, KW IV, 331 f.) – abgeleitet werden soll und in dem es mit dem generellen Moralkriterium formaler Gesetzlichkeit um die jede privat-individuelle Interessenverfolgung transzendierende Fähigkeit gegenüber der Grundlegung abgeschwächten Metaphysikbegriff zugrunde legt. Dieser lokalisiert das Wesensmerkmal einer Metaphysik in dem apriorisch gültigen Charakter ihrer Aussagen und nicht in der Reinheit ihrer Begriffe: »[Kant] recognizes the presence of empirical elements in a metaphysic of morals and that, in his descriptions of this work [d. i. die Metaphysik der Sitten; O. L.] as pure moral philosophy, the term ›pure‹ means only ›a priori‹. The Metaphysik der Sitten […] is a type of metaphysics different from that of the Grundlegung« (Gregor 1963, S. 11). Offenbar unabhängig von Gregor – da ohne Verweis auf ihre Arbeit – haben sich diesem Urteil grundsätzlich Siep 2000, insbes. S. 36 f.; Wood 1999a, insbes. 23–25; Brandt 1990a, insbes. S. 81–85 und – mit Bezugnahme auf Gregor – Friedrich 2004, S. 24 f. angeschlossen. Allerdings lassen sich auch in der Metaphysik der Sitten Textbelege dafür anführen, dass Kant Metaphysik als »reine Vernunfterkenntnis« im strikten Sinne des Begriffs – wie er ihn etwa in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft bestimmt (vgl. z. B. KrV B XIV) – verstanden wissen will. So spricht er beispielsweise gleich zu Beginn der Vorrede zur Tugendlehre von »Metaphysik« als einem »System reiner, von aller Anschauungsbedingung unabhängiger Vernunftbegriffe« und gleich im Anschluss – daher offenkundig auch in demselben Sinne – von »der reinen Rechtslehre« (TL, KW IV, 503). Die von Kant entworfene Metaphysik des Rechts ist aber – ebenso wie seine ethische Tugendlehre – kein apriorisches »System reiner, von aller Anschauungsbedingung unabhängiger Vernunftbegriffe«, denn schon das grundlegende Rechtsprinzip kann – wie sich zeigen wird – nicht von empirischen Geltungsvoraussetzungen abstrahieren. 28 So auch – in anderem Zusammenhang – Kaehler 1993, S. 105 f.
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zur widerspruchsfreien Verallgemeinerung zurechenbarer Taten geht (s. u. Kap. 3.2.3), enthält der Kantische Rechtsbegriff bereits in seiner formalen Grundstruktur b) empirisch-deskriptive Geltungsvoraussetzungen, welche die notwendigen und zureichenden materialen Bedingungen benennen, unter denen es überhaupt Recht bzw. eine äußere Gesetzgebung braucht 29 . Darüber hinaus fließen empirische Prämissen in zunehmend reichhaltigem Maße in die Geltungsbedingungen spezifischer Rechtspflichten und Rechtsinstitute ein, welche die Rechtslehre in ihren verschiedenen Abteilungen zu begründen sucht. Diese, das Auftreten von (spezifischen) rechtserheblichen Sozialverhältnissen allererst ermöglichenden – d. h. die praktische Relevanz und Anwendbarkeit des allgemeinen Rechtsprinzips sowie seiner Derivate sichernden – Bedingungen sind zwar empirischen Ursprungs, aber von gewissermaßen unbeschränkter Dauer und invarianter Beständigkeit; als Naturvorgaben der ›conditio humana‹ bilden sie gleichsam eine unserer Verfügung entzogene »Kontingenz vor aller menschlichen Geschichte« 30 . In theoretischer Zusammenführung kann man sie als eine in sich differenzierte »moralische Rechtsanthropologie« bezeichnen 31 , die ihren systematischen Ort hinter der oben beschriebenen fundamentalethischen Anthropologie hat, diese voraussetzt und um mehr oder weniger elementare Aspekte ergänzt. Ebenso wie die Anthropologie der Fundamentalethik entspricht daher auch die rechtsspezifische Anthropologie inhaltlich nicht dem von Kant als praktische bzw. moralische Anthropologie bezeichneten empirischen Theorieteil der Moralphilosophie, der »nur […] subjektive, hindernde sowohl als begünstigende Bedingungen der Ausführung der [moralischen] Gesetze […] und dergleichen andere sich auf Erfahrung gründende Lehren und Vorschriften enthalten würde« (RL, KW IV, 322; s. o. S. 17–20, 101–106). Auch die für die Rechtslehre unverzichtbaren empirischen Anwendungsbedingungen müssen allererst interpretatorisch zusammengetragen werden. Sie werden von Kant meist nicht mehr als beiläufig, mitunter systematisch ›zu spät‹ in nachgeordneten oder außerhalb der Rechtslehre formulierten Zusammenhängen erwähnt und
29 30 31
Vgl. Höffe 1990, S. 106 f. So Höffe ebd., S. 124. Ebd., S. 106. A
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hinsichtlich ihres begründungstheoretischen Status’ nicht immer ausdrücklich reflektiert 32 .
3.2.2 Die deskriptiven Anwendungsbedingungen und der Zuständigkeitsbereich des Rechts Kant gewinnt das allgemeine Rechtsprinzip in der Einleitung zur Rechtslehre anhand einer dreifachen, sich zunehmend verengenden Zuständigkeitsbestimmung des Rechts (§ B). In diesen thetischen, ohne jede Problematisierung vorgetragenen Bestimmungen sind die empirisch-anthropologischen Voraussetzungen für das Auftreten konfliktträchtiger und damit rechtskonstitutiver Sozialverhältnisse (implizit) enthalten. 1.) Demnach »betrifft« der »moralische Begriff« des Rechts »erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar, oder mittelbar) Einfluß haben können« (RL, KW IV, 337). In der Rechtslehre geht es also ebenso wie in der Ethik bzw. Tugendlehre um Personen, deren »Handlungen einer Zurechnung fähig sind« (ebd., 329), da nur in ihrem Fall von Verbindlichkeit sinnvoll die Rede sein kann: »Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt« (ebd., 334) und »unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht« (ebd., 329), angesehen wird. Bestimmt als »Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft«, ist Verbindlichkeit ein moralischer Begriff, der »der Metaphysik der Sitten in ihren beiden Teilen gemein« ist (ebd., 327) 33 . Anders aber als die Ethik, die verbindliche Gesetze »bloß für die Maxi32 Sie fließen allerdings nicht völlig »unausgewiesen« in die Rechtslehre ein, wie F. Zotta behauptet (vgl. Zotta 2000, S. 41, Anm. 90). 33 Der individuellen ›Zurechnungsfähigkeit‹ einer Handlung liegt nach Kant also bereits die Vorstellung von der Autonomie der »moralische[n] Persönlichkeit« (RL, KW IV, 329) zugrunde. Damit kommt der »Annahme der Willensautonomie […] der Status einer Voraussetzung zu, an der – als höchstem Punkt – die irreduzible normative Bedeutung der gesamten Begrifflichkeit unserer sittlich-rechtlichen Diskurse hängt« (vgl. Kersting 2004a, S. 279). Wie wir noch sehen werden, würde die Rede von der Verbindlichkeit des zwangsbewehrten Rechtsgesetzes, d. h. die moralische Legitimität des Rechtszwangs zur Durchsetzung und Sicherung des subjektiven Freiheitsrechtes eines jeden, ohne die moralphilosophisch konstitutive Vorstellung vom unbedingten Wert der
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men der Handlungen« geben kann (TL, KW IV, 542), geht die Rechtslehre von den empirischen »Facta« vollzogener äußerer Handlungen aus 34, die in ihrem wechselseitigen Einfluss die Regelungsmaterie einer möglichen äußeren Gesetzgebung bilden: »[D]as Recht [hat] überhaupt nur das zum Objekte«, »was in Handlungen äußerlich ist« (RL, KW IV, 339). Ungeachtet des damit verbundenen Perspektivwechsels ist es eine Voraussetzung der Rechtslehre als eines Teils der Moralphilosophie, dass diesen äußerlich wahrnehmbaren Taten jeweils ein subjektiver Grundsatz (Maxime) zugrunde liegt, nach dem sie erfolgen und der ihren Zweck enthält 35 . Wenngleich also Ethik und Recht »dieselben personentheoretischen Grundlagen besitzen« 36 , sind Handlungen im Recht nicht auf ihren Motivationsgrund hin zu betrachten; die ihnen zugrunde liegenden Triebfedern und Absichten haben – sofern sie nicht, wie die Täuschung im Falle der Lüge, konstitutiv in die Art der Handlung einfließen 37 – für Kant grundsätzlich keine rechtserhebliche Relevanz 38 . Von juridischem Interesse sind nach Kant vielmehr nur selbstzweckhaften Existenz des sittlichen Subjekts unverständlich bleiben (s. u. Kap. 3.2.4). 34 Vgl. RL, KW IV, 497: »Ein jedes Faktum (Tatsache) ist Gegenstand in der Erscheinung (der Sinne).« 35 Vgl. Baum 2007, S. 215, 217 f. 36 Kersting 2004a, S. 285. 37 Vgl. Höffe 1990, S. 134. 38 Vgl. dazu die kritischen Ausführungen bei Wildt 1997, der gegen Kant zurecht einwendet, dass »zwar Motive rechtlich relevant sein, dass sie aber nicht rechtlich vorgeschrieben werden können« (ebd., S. 160). Das Recht kann nur dann von den Bestimmungsgründen des Handelnden absehen, wenn dieser sich äußerlich dem Rechtsgesetz entsprechend verhält, d. h. legal handelt. Verstößt der Handelnde jedoch gegen eine rechtliche Vorschrift, so werden Motivationsgründe und Absichten zu einem erheblichen Bestandteil rechtlicher Beurteilung (vgl. Kühl 1984, S. 88; für die Erörterung eines gegenüber Kant erheblich ausgeweiteten Verständnisses des rechtlichen Zuständigkeitsbereiches vgl. Pfordten 2001, S. 355–394). Dass sich infolge der Kantischen Rechtskonzeption die Motivation einer zurechenbaren Handlung der rechtlichen Bewertung prinzipiell entziehen müsste, ist wohl schon für das Privatrecht, zumindest aber für das öffentliche Strafrecht unhaltbar und hat dementsprechend gravierende Konsequenzen für die Anwendbarkeit der in der Rechtslehre erörterten staatlichen Strafrechtstheorie (RL, KW IV, 452–459, 487 f.). So lassen die dort von Kant unter dem Titel »Vom Straf- und Begnadigungsrecht« angestellten, in einem (nicht unbedingt material zu verstehenden) widervergeltungsrechtlichen Ansatz fundierten Überlegungen nicht erkennen, wie der staatliche Richter beispielsweise zwischen dem physisch identischen Verhalten einer fahrlässigen Tötung auf der einen und einem geplanten Mord auf der anderen Seite differenzieren soll, ohne die den Taten A
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»Handlungen, in sofern sie geschehen, […] also […] Erscheinungen sind« (Fakultäten, KW VI, 365) 39 . Diese Taten müssen ihrem personazugrunde liegenden Motive und Absichten zu untersuchen. Da gemäß Kants grundlegendem Rechtsbegriff die Bemessung der Strafe sich nur an der äußeren Handlung und nicht an der Gesinnung des Täters zu orientieren hat (vgl. auch AA XXIX, 638), ist nicht einzusehen, warum nicht prinzipiell der zurechnungsfähige ›Totschläger‹ die gleiche Strafe zu erhalten hat wie der planmäßig vorgehende Mörder. Ein durch Zufall vereiteltes Kapitalverbrechen wäre im Rahmen einer strikt formalrechtlich-tatorientierten Strafbegründung sogar überhaupt nicht strafbar; darüber hinaus müssten ein etwaiges Geständnis oder Reue des Täters strafrechtlich grundsätzlich irrelevant sein. Überraschenderweise fordert Kant im Gegensatz zu einem ausschließlich tatorientierten Strafrecht an einer Stelle in der Rechtslehre, dass der Richter sein Strafurteil »proportionierlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher« zu bemessen habe (RL, KW IV, 455). Eine systematisch befriedigende Begründung für diesen Bruch innerhalb seiner (Straf-) Rechtskonzeption liefert Kant jedoch nicht. Kants Theorie der staatlichen Kriminalstrafe ist nicht nur aufgrund ihrer rechtssystematisch bedingten Gesinnungsneutralität, sondern auch aufgrund einiger Beispiele für die konkrete Strafzumessung und Strafpraxis problematisch. Wenn Kant selbst die vollständige Verknechtung des Verbrechers für zulässig erklärt (RL, KW IV, 451), die kategorische Rechtspflicht zur Verhängung der Todesstrafe gegen Mörder behauptet (ebd., 455) oder fordert, Sexualstraftäter mit Kastration zu bestrafen (ebd., 488), so steht dies in einem geradezu widersprüchlichen Zusammenhang mit seiner Moralphilosophie. Kant lässt offenbar die Eigenschaft des Verbrechers vollkommen unberücksichtigt, nach wie vor Träger eines autonomen und damit zur Umkehr fähigen Willens zu sein, dem er doch an anderer Stelle einen »über allen Preis erhaben[en] […] absoluten innern Wert« attestiert (vgl. TL, KW IV, 569; vgl. dazu Enderlein 1985, S. 316). Die Weigerung des Verbrechers, die Verbindlichkeit der Rechtsgesetze anzuerkennen, ist ja keineswegs unabänderlich. Zweifellos besitzt der Straffällige doch das Vermögen, seinen Willen nach dem von ihm begangenen Verbrechen wieder an der rechtlich-praktischen Vernunft auszurichten. Die Möglichkeit einer Besserung des Täters bezieht Kant in seine Überlegungen jedoch überhaupt nicht ein. Vgl. zu Kants Strafrechtstheorie die Ausführungen bei Schmitz 2001, S. 99–116; Enderlein 1985; Eberle 1985; Brandt 1996 und Steigleder 2002, S. 223–240. 39 In der Perspektive der ethischen Grundlegungsschriften ist es dagegen »bei der Subsumtion einer […] in der Sinnenwelt möglichen Handlung unter einem reinen praktischen Gesetze nicht um die Möglichkeit der Handlung, als einer Begebenheit in der Sinnenwelt, zu tun« (KpV, KW IV, 187). Die konkret ausgeführte, faktisch verwirklichte Einzelhandlung ist kein Konstituens der sittlichen Gesinnung. Ob wir einen guten Willen haben können, darf – wie Kant in der Grundlegung schreibt – nicht von den Zufällen gesellschaftlicher Güterverteilung oder den Launen der Natur abhängen: »Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur, es diesem [guten] Willen gänzlich an Vermögen fehlete, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille […] übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas,
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len »Urheber« als freie, selbstverursachte und daher verantwortbare empirische »Wirkung« seines Willens grundsätzlich »zugerechnet werden« (RL, KW IV, 329), sodass ein erzwungenes Verhalten ebenso wenig wie von mir zwar ursächlich ausgehende, jedoch nicht prognostizier- und kontrollierbare Ereignisfolgen unter den Rechtsbegriff fallen 40 . Allerdings ist schon die zurechenbare Tat als solche in ihrem Vollzug und ihrer empirischen Gestalt von kontingenten Faktoren abhängig und kann aus verschiedenen Gründen unverschuldet (beispielsweise aufgrund physischer, psychischer, wirtschaftlicher oder intellektueller Mängel) von dem Vernunftgewollten abweichen. Menschliches Tun und Unterlassen ist stets in ein weites Feld von »empirischen und daher zufälligen Bedingungen« eingebettet, welche die »Ausführung« einer Handlung mitbestimmen und nicht (immer) unter die Verfügungsgewalt des Willens gebracht werden können (Gemeinspruch, KW IV, 129; vgl. auch KpV, KW IV, 219 f.) 41 . Der durch die »Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind«, zur Tat drängende menschliche Wille (Grundlegung, KW IV, 19) stellt nach Kant zwar einerseits den die Wirklichkeit des Handelns letztlich bestimmenden Grund dar – so dass es definitionsgemäß 42 nicht möglich ist, sich einen Zweck zu setzen, ohne zugleich etwas zu seiner Verwirklichung beitragen zu wollen (sonst wäre es ein bloßer Wunsch, kein Akt der Willkür; s. u. S. 190–193). Andererseits ist die empirisch-sinnliche Artikulation des Willens in einem konkreten äußeren Handlungsablauf aber keine analytisch erschließbare Folge des in der subjektiven Innerlichkeit sich das seinen vollen Wert in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen, noch abnehmen« (Grundlegung, KW IV, 19). Die ethisch-sittliche Qualität des Willens kann »nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet«, bewertet werden; der gute Wille ist nach Kant vielmehr »allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut« (ebd.). Vgl. dazu auch Höffe 2004, S. 261 f.; Bartuschat 1987b, insbes. S. 26–28, 38–41. 40 Nach Kant stellt auch der Umstand, »ob das Subjekt die Tat im Affekt oder mit ruhiger Überlegung verübt« hat, hinsichtlich der Frage »der Zurechnung einen Unterschied [dar]«, der auch strafrechtlich zu berücksichtigen wäre (RL, KW IV, 335). 41 Man denke hier beispielsweise an eine unverschuldet zu späte oder zu schwache Hilfeleistung. 42 »Zweck ist ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung, diesen Gegenstand hervorzubringen, bestimmt wird« (TL, KW IV, 510). A
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vollziehenden Willensentschlusses, denn die Realisierung von Willensentschlüssen kann durch Umstände, die im Verhältnis zum Willen äußerlich sind, vereitelt werden. »Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objekts, als meiner Wirkung, wird schon meine Kausalität, als handelnder Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks heraus (die Mittel selbst zu einer vorgesetzten Absicht zu bestimmen, dazu gehören allerdings synthetische Sätze, die aber nicht den Grund betreffen, den Actus des Willens, sondern das Objekt wirklich zu machen)« (Grundlegung, KW IV, 46 f.) 43 .
Insofern ist W. Bartuschat darin zuzustimmen, dass das Recht als Regulierungsinstanz systematisch nicht deshalb notwendig ist, weil nicht alle Menschen aus ethischen Motiven, d. h. ›aus Pflicht‹, handeln: »Auch wenn alle Menschen [ethisch-]moralisch handelten, also aus einem Bestimmtsein durch das Sittengesetz heraus, wäre nicht ausgemacht, dass die Handlungen sich der guten Intention gemäß ereigneten […]. Handlungsbedingte Kollisionen der Menschen untereinander wären nicht ausgeschlossen. Das Recht, das hier zu regulieren hat, ist deshalb [in seiner grundsätzlichen Notwendigkeit; O. L.] nicht relativ auf eine mehr oder minder ausgebreitete Moralität unter den Menschen. Seine [systematische; O. L.] Erfordernis besteht unabhängig davon. Die Moralität, mag sie noch so vollkommen wirksam sein unter den Menschen, kann das Recht nicht ersetzen, weil ihr Prinzip eine vernünftige Bestimmung der empirischen Bezüge, in denen das Handeln geschieht, nicht zu geben vermag.« 44
Es ist nach Kant also einerseits unmöglich, das sittlich Gute zu wollen, nicht aber die dazu erforderliche äußere Handlung und die zu dieser Handlung gehörigen Mittel. Denn das sittlich Gute zu wollen, bedeutet, auch die zugehörige Tat realisieren und die dazu möglichen Mittel ergreifen zu wollen. Andererseits kommt es bei der Bemessung des ethischen Werts eines Willensentschlusses letztlich nicht darauf an, ob eine intendierte Handlung tatsächlich realisiert wird. Entscheidend ist für Kant, dass wir im Rahmen unserer verantwortbaren Möglichkeiten alles daran gesetzt haben, »eine gewisse Wirkung unsers Willens […] in der Erfahrung (sie mag nun als vollendet, oder der Vollendung sich immer annäherend gedacht werden)« hervorzurufen (Gemeinspruch, KW IV, 129). Vgl. dazu auch Schönecker/Wood 2004, S. 48–52. 44 Bartuschat 1987b, S. 27 f. 43
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Doch auch unabhängig von einer etwaigen Abweichung zwischen Absicht und faktischem Handlungsverlauf handelt es sich bei der Aufnahme einer Maxime bzw. dem Setzen eines Zwecks und der durch diesen inneren Willensakt hervorgebrachten äußeren Tat immer noch um zwei verschiedene, sich wechselseitig bedingende Handlungsereignisse 45. Die Trennung von Moralität und Recht, von ethischer und juridischer Gesetzgebung ist daher grundsätzlich durch den unterschiedlichen Gegenstandsbereich bedingt, auf den sie sich jeweils beziehen und der es unmöglich macht, das eine vom andern her eindeutig zu bestimmen. Die praktische Vernunft erweitert in der Rechtslehre gleichsam ihre in den Grundlegungsschriften auf die sittliche Gesinnung des Einzelnen fokussierte Reichweite und betritt erstmals das soziale Spannungsfeld der »empirische[n] Mannigfaltigkeit« konkreten zwischenmenschlichen Handelns (RL, KW IV, 309). Dabei gelangt sie zu einem neuen Beurteilungsstandpunkt, der einen zweiten, juridischen Gesetzgebungsmodus erforderlich macht. Das Recht kann mit Kant somit weder im Rahmen einer »moralteleologischen Rechtsauffassung« als bloß im Dienste der Ethik stehendes Mittel zur Verwirklichung der für ein sittlich-tugendhaftes Leben des Einzelnen förderlichen Bedingungen aufgefasst werden 46 , noch bildet es eine genetische Vorstufe oder vernunftnotwendige Folge der Sittlichkeit 47 – denn das Auseinanderfallen von Intention und Tat, die Differenz zwischen innerer und äußerer Handlung ist nicht konstitutiv für jedes vorstellbare vernünftige Wesen 48 ; sie erklärt sich mithin nicht aus reiner praktischer Vernunft, sonVgl. Geismann 2006, S. 24. Vgl. dazu Kersting 1993, S. 142–151. Freilich schafft das Recht in seiner Beschränkung auf die gesetzliche Bestimmung der äußeren Willkürfreiheit damit zugleich äußere Bedingungen, die der Entfaltung ethisch-tugendhafter Gesinnung förderlich sind. Gleichwohl ist die Schaffung jener Bedingungen nicht die spezifische Funktion des Rechts. 47 Vgl. Oberer 1997, S. 177 f. Ethik und Recht sind hinsichtlich ihres Entstehungsanlasses und ihrer Verwirklichungspraxis zwei nebeneinander stehende, gleichberechtigte Teile der Moralphilosophie Kants. Ihren gemeinsamen inneren Verbindlichkeitsgrund besitzen sie gemäß Kants Anspruch aber in dem grundlegenden ethischen Prinzip des Sittengesetzes, das sie auf einen unterschiedlichen Gegenstandsbereich beziehen und dadurch mit einer jeweils anderen Triebfeder (dem heteronomen Fremd- und autonomen Selbstzwang) verbinden können. Insofern gilt es darzulegen, ob und inwiefern das Autonomie verbürgende kategorische Sollen des Sittengesetzes Grundlage der geltungstheoretischen Verbindlichkeit des zwangsbewehrten Rechtsprinzips sein kann (s. u. Kap. 3.2.4). 48 Vgl. dazu auch Bartuschat 1987b, S. 27. 45 46
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dern ist – wie Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht für den Handlungsbereich der Sprechakte selbst feststellt – in empirischem Wissen um anthropo-relationale Voraussetzungen fundiert 49 , mithin kontingent 50 . Dass »Facta aufeinander (unmittelbar, oder mittelbar) Einfluß haben können« (RL, KW IV, 337; Hervorheb. v. m.), hängt von weiteren Bedingungen ab, die ebenfalls empirischer Natur sind. So entstehen rechtsrelevante Beziehungen erst, wenn eine Pluralität von handelnden Personen in derselben Außenwelt lebt 51 . Darüber hinaus hat die für die Notwendigkeit der Erstellung von öffentlichen Rechtsverhältnissen in einem (welt)bürgerlichen Zustand (s. u. Kap. 4) konstitutive Tatsache, dass im Prinzip jede Handlung in ihren zurechenbaren Konsequenzen (»mittelbar«) das Handeln der Mitmenschen beeinflusst, zur Voraussetzung, dass Menschen denselben Lebensraum miteinan-
So auch Scholz 1972, S. 35. »Es könnte wohl sein: daß auf irgendeinem anderen Planeten vernünftige Wesen wären, die nicht anders als laut denken könnten, d. i. […] keine Gedanken haben könnten, die sie nicht zugleich aussprächen.« Es ist leicht einzusehen, dass dies »ein von unserer Menschengattung« grundsätzlich »verschiedenes Verhalten gegen einander abgeben würde« (Anthropologie, KW VI, 688 f.). Demgegenüber sind menschliche (Sprech-) Handlungen weder identisch mit intentionalen Denkvollzügen, noch stellen sie in ihrer empirischen Vergegenwärtigung eine aus zugrunde liegenden gedanklichen Intentionen notwendig folgende und mit ihnen in unbeeinflussbarer Übereinstimmung bleibende Konsequenz dar: »Es gehört also schon zur ursprünglichen Zusammensetzung eines menschlichen Geschöpfs und zu seinem Gattungsbegriffe: zwar Anderer Gedanken zu erkunden, die seinigen aber zurückzuhalten« (ebd., 689). 51 Als ein praktisches Verhältnis zwischen Personen setzt das Recht trivialer Weise mehrere zurechnungsfähig handelnde Subjekte in derselben Außenwelt voraus. Da es nach Kant keine direkte rechtliche Beziehung zwischen einer Person und einer Sache gibt (sondern vielmehr nur Rechte in Bezug auf Sachen, d. h. rechtliche Konstellationen, in denen sich Personen untereinander und zusammen der Sache gegenüber in ein Verhältnis setzen), muss auch im Sachenrecht eine Pluralität von in Gemeinschaft miteinander stehenden Personen vorausgesetzt werden. Explizit betont Kant dieses sozialanthropologische Faktum auch erst im Zusammenhang mit seiner Begründung des Besitzrechts: »Es ist aber klar, daß ein Mensch, der auf Erden ganz allein wäre, eigentlich kein äußeres Ding als das Seine haben, oder erwerben könnte; weil zwischen ihm, als Person, und allen anderen äußeren Dingen, als Sachen, es gar kein Verhältnis der Verbindlichkeit gibt. Es gibt also, eigentlich und buchstäblich verstanden, auch kein (direktes) Recht in einer Sache, sondern nur dasjenige wird so genannt, was jemanden gegen eine Person zukommt« (RL, KW IV, 371; vgl. auch Kants Vorarbeiten zur Rechtslehre, insbes. AA XXIII, 319). 49 50
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der teilen müssen, die bewohnbare Außenwelt also einen begrenzten Umfang hat. »[W]eil der Erdboden eine nicht grenzenlose, sondern sich selbst schließende Fläche ist« (RL, KW IV, 429), müssen Menschen in ihrem intersubjektiven »Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins« (ebd., 424; vgl. auch ebd., 430) jederzeit mit der Möglichkeit von praktischen Konflikten rechnen 52 . Erst das sozialanthropologische Faktum »der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche«, führt daher nach Kant zu einer nicht bloß möglichen und zufälligen, sondern unvermeidbaren Sozialbeziehung der praktischen »Wechselwirkung« (ebd., 430), aus der die kategorisch-notwendige Ordnungsaufgabe des Rechts resultiert: »[…] weil, wenn sie [die Wohnfläche; O. L.] eine unendliche Ebene wäre, die Menschen sich darauf so zerstreuen könnten, daß sie in gar keine Gemeinschaft mit einander kämen, diese also nicht eine notwendige Folge von ihrem Dasein auf Erden wäre« (ebd., 373; vgl. auch Frieden, KW VI, 214).
Dass die Menschen in einem praktischen »wechselseitigen Einflusse gegen einander stehen[.]« (RL, KW IV, 429), liegt des Weiteren in ihrem Doppelcharakter als physisch-reale Vernunftwesen begründet, deren Leib durch die Handlungen Anderer affiziert werden kann. Auch für die Begründung konkreter direkt-ethischer Pflichten muss die Leiblichkeit des Menschen vorausgesetzt werden, in der Rechtslehre aber ist die reziproke körperliche Affizierbarkeit ein unmittelbares Implikat des grundlegenden Rechtsbegriffs selbst 53 . Für die Legitimation des Rechts vom äußeren Mein und Dein (s. u. Kap. 4.2.2) nimmt Kant darüber hinaus weitere Bedeutungsmomente der Leiblichkeit des Menschen in Anspruch. So ist die Institution des Privateigentums nach Kant deshalb sinnvoll und notwendig, weil der Mensch schon aufgrund seiner körperlichen Ausdehnung einen Teil des gemeinsamen Lebensraums beansprucht und darüber hinaus auf den Gebrauch äußerer Gegenstände angewiesen ist, um seine natürlichen (und ›künstlich‹ erzeugten) Bedürfnisse und Interessen zu befriedigen. Da viele dieser Güter und ihrer Ressourcen zudem nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, hat schon der bloß physische Besitz (die »Inhabung«, vgl. RL, KW IV, 483) eines Gegenstandes – ohne den dessen empirischer Ge-
Vgl. Höffe 1990, S. 107. Meine Willkürfreiheit kann ja nur dann durch die Taten Anderer ungesetzlich eingeschränkt werden, wenn diese – wie auch immer – auf meinen Körper einwirken. 52 53
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brauch nicht möglich ist (ebd., 353) – rechtsrelevante Qualitäten (vgl. ebd., 360) 54 . 2.) Gemäß der zweiten Bestimmung seines Anwendungsgebietes bezieht sich der Rechtsbegriff nur auf die Auswirkungen von Taten auf den äußeren Bereich der Handlungsfreiheit anderer: Er betrifft »nicht das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfnis) des anderen, wie etwa in den Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des anderen« (RL, KW IV, 337). Willkür und Wunsch gehören beide zum (oberen) »Begehrungsvermögen nach Begriffen« (ebd., 317): Insofern das Begehrungsvermögen durch begriffliche Vorstellungen, d. h. aufgrund beliebiger Zwecksetzungen bestimmt wird – also »der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird«, handelt es sich um das »Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen«, d. h. sich selbstständig beliebige Zwecke zu setzen (ebd., 317) 55 . Falls dieses Begehrungsvermögen darüber hinaus »mit In die privatrechtlichen Verhältnisse des »auf dingliche Art persönlichen Recht[s]« mit seinen drei Unterabteilungen Eherecht, Elternrecht und Hausherrenrecht (vgl. RL, KW IV, 388–397) fließen zahlreiche weitere empirisch-anthropologische Elemente ein, die allerdings – wie sich leicht zeigen ließe – in hohem Maße auf zeitgenössisch verbreiteten sachlichen Fehlannahmen beruhen. Gegenüber dem Ehe- und Hausherrenrecht, die als Abteilungen eines dinglich-persönlichen Rechts zu legitimieren, Kant – so darf man vielleicht vermuten – ohne wirkliche Einsicht in ihre Notwendigkeit und nur zum Zwecke einer rechtsphilosophischen Erläuterung bestehender positiv-rechtlicher Regelungen unternommen hat, scheint das Elternrecht prinzipientheoretisch hinreichend begründet zu sein und damit den Ansatz eines auf dingliche Art persönlichen Rechts rechtfertigen zu können. Das Elternrecht hat u. a. zu seiner systematischen Voraussetzung, dass menschliche Neugeborene als ›Nesthocker‹ von Natur aus durch eine – im Vergleich zur sonstigen Tierwelt – außerordentlich vielfältige und lang andauernde Hilfsbedürftigkeit gekennzeichnet sind. Vgl. Oberer 1997, S. 187–189; Höffe 1990, S. 107 f. Die im persönlichen und dinglich-persönlichen Recht entfalteten erwerbs- und besitzrechtlichen Bestimmungen sollen im Rahmen dieser Arbeit nicht erörtert werden, vgl. dazu die Darstellungen bei Ludwig 1988, S. 134–148; Kersting 1993, S. 293–321; Kühl 1984, S. 300–307 und Brandt 2004. 55 Während die Vorstellung eines Gegenstandes des Begehrungsvermögens bei einem »tierische[n]« Sinnenwesen, das »nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb […]) bestimmbar ist« (RL, KW IV, 318), nach Kant naturgesetzlich ein Gefühl der Lust und Unlust erzeugt, welches es dann zu einer Verhaltensweise veranlasst, ruft dieselbe Vorstellung beim Menschen – als vernünftigem Sinnenwesen – nicht zwangsläufig eine bestimmte (innere oder äußere) Handlung hervor. Die »menschliche Willkür« unterscheidet sich von der »tierischen Willkür« dadurch, dass sie »durch Neigung (sinnlichen 54
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dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist, heißt es Willkür« 56 . Derjenige »Actus« des Antrieb, stimulus)« zwar unausweichlich »affiziert, aber nicht bestimmt wird« (ebd.; vgl. auch AA XXVII, 494). Dem Menschen bleibt also die Entscheidung darüber, ob er einen bestimmten Gegenstand – als »Zweck« – erstrebt oder meidet, als »ein Akt der Freiheit […], nicht eine Wirkung der Natur« selbst überlassen (TL, KW IV, 514; vgl. auch ebd., 511 Anm.; RL, KW IV, 318). In diesem Sinne liegt der »Bestimmungsgrund« des Begehrungsvermögens »zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte« (ebd., 317). Vgl. Rapic 2007, S. 451, Anm. 103. 56 Mit der terminologischen Unterscheidung zwischen »freier Willkür« und »Wille« verbindet Kant in der Metaphysik der Sitten zwei verschiedene Modi oder Instanzen des praktischen Vernunftvermögens, die er in den Grundlegungsschriften terminologisch noch nicht streng unterschieden hatte: Während die Tätigkeit der menschlichen Willkür darin besteht, Zwecke zu setzen bzw. Maximen zu bilden und diese im äußeren Handeln zu verwirklichen, ist es die Aufgabe des Willens, Regeln für die Annahme oder praktische Verwirklichung von Zwecken bzw. Maximen zu geben. Entsprechend kann man hinsichtlich des Willens auch von der legislativen Funktion und hinsichtlich der Willkür von der exekutiven Funktion menschlichen Wollens sprechen (vgl. Beck 1974, S. 191; Allison 1990, S. 129). Diese beiden Tätigkeiten der praktischen Vernunft müssen im Menschen zusammenwirken, damit er einem Moralgesetz unterworfen sein kann (vgl. RL, KW IV, 317, 327). Die menschliche – den Einflüssen der Neigungen ausgesetzte, durch sie aber nicht determinierte – »freie Willkür« (ebd., 318; vgl. auch KrV A 534, B 562) ist allgemein das Vermögen, aufgrund von beliebigen selbstgesetzten Zwecken zu handeln (vgl. TL, KW IV, 510). Von der Willkür gehen daher die (moralisch unbestimmten) Maximen aus (vgl. RL, KW IV, 332), denn eine Maxime anzunehmen, bedeutet, sich freiwillig zur Verfolgung bestimmter Zwecke – und damit zu jenen Handlungen, die man als der Realisierung jener Zwecke dienlich betrachtet – zu bestimmen. Als »Wille« ist die Vernunft nach Kant praktisch, sofern sie das »Begehrungsvermögen überhaupt [d. h. Wunsch und Willkür; O. L.] bestimmen kann« (RL, KW IV, 317): Angewandt auf die freie Willkür und unter Berücksichtigung ihrer Gegenstände erzeugt der Wille die inhaltlichen moralischen Gesetze, indem ihm Maximen zur Prüfung vorgelegt werden (vgl. ebd., 327, 332–334). Ob es sich dabei aber um Gesetze für den inneren Akt der Willkür (die Bildung und Annahme von Maximen) oder um Gesetze für den äußeren Willkürgebrauch in einzelnen Handlungen handelt – d. h. ob es Gesetze für die »innere« oder »äußere« Freiheit sind –, hängt davon ab, welche der beiden Gesetzgebungsweisen der Vernunft vorliegt. In der äußeren, juridischen Gesetzgebung kommt der Wille nur insofern in Betracht, als er das Dijudikationsprinzip, d. h. die objektive Regel des Gesetzes, liefert und nicht auch zugleich den subjektiven Bestimmungsgrund (die Triebfeder) der Handlung (ebd., 319; TL, KW IV, 523). Schlechterdings und unmittelbar vernunftbestimmt ist menschliches Wollen nach Kant aber erst dann, wenn der Willkürgebrauch nicht nur vernunftgemäß (gesetzesmäßig) erfolgt, sondern wenn auch das Exekutionsprinzip desselben vernünftig ist, d. h. wenn »selbst das Belieben in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird« (RL, KW IV, 317). Als »das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein«, wird der reine Wille in der A
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Begehrungsvermögens, der nicht mit jenem Realisierungsbewusstsein verbunden ist, ist ein bloßer »Wunsch« (ebd.). Das Vermögen der Willkür aktualisiert sich in der menschlichen Natur in einem »innern« und einem »äußeren Gebrauche« (vgl. ebd., 318 f.), wodurch sich das Auseinanderfallen von Intention und Tat ergibt. Die Tätigkeit der menschlichen Willkür besteht demnach einerseits in einem (innerlichen) Wollen realisierbarer Handlungsziele und andererseits in einem äußerlichen Handeln der Zweckverwirklichung. Das Freiheitsbewusstsein, das mit der Ausübung der Willkür verbunden ist, enthält zunächst nur die Vorstellung, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe (ebd., 318) wollen (innerer Willkürgebrauch) und handeln (äußerer Willkürgebrauch) zu können. Kant nennt diese Freiheitsvorstellung den »negative[n] Begriff« der Freiheit (ebd.) – »negativ«, weil das Gesetz, welches die freie Willkür normativ bestimmt, nicht benannt wird 57 . Da bei der äußeren Gesetzgebung nicht erwartet (und schon gar nicht erfordert) wird, dass der Handelnde sich selbst durch die Vorstellung der Gesetzmäßigkeit einer Handlung zu derselben bestimmt (ebd., 338 f.), kann die Rechtslehre nicht auf die innere Bestimmung der Willkür zielen. Das Recht bezieht sich Kant zufolge vielmehr ausschließlich auf den äußeren, sozialen Willkürgebrauch der Menschen, d. h. deren wechselseitige Handlungsfreiheit (vgl. ebd., 318 f.; TL, KW IV, 538). Der Wunsch ist als ein »innerer Akt des Gemüts« (vgl. RL, KW IV, 347) nicht in der Außenwelt handlungsmächtig und bleibt daher aus dem Regelungsbereich des Rechts ausgeschlosalle Pflichten umfassenden ethischen Gesetzgebung daher »auf die Willkür, unangesehen dieser ihres Objekts, angewandt«. Da dem reinen Willen als Vernunftidee »die Materie des Gesetzes abgeht« – insofern er von aller Materie des Wollens, die er als vereinzelter Wille notwendig hat, abstrahiert –, kann er »nichts mehr, als die Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetze selbst zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrunde der Willkür machen« (ebd., 318; Hervorheb. v. m.; vgl. auch Grundlegung, KW IV, 15; KpV, KW IV, 141, 237). Die absolute Vernünftigkeit von Handlungen des inneren und äußeren Willkürgebrauchs ist also dadurch definiert, dass sie aus »Achtung« vor dem Vernunftgesetz des Willens geschehen, dass Pflichten mithin nicht nur pflichtgemäß befolgt, sondern dass sie pflichtmotiviert erfüllt werden. Vgl. zur Verhältnisbestimmung von Wille und Willkür Gregor 1990, S. XXXIII– XXXVIII, XLV; Allison 1990, S. 129–136; Oberer 1997, S. 158–169 sowie Köhl 1990, S. 56–58. 57 Vgl. Gregor 1990, S. XXXIV. »Freiheit im positiven Verstande«, die im Bewusstsein der Verpflichtung vorausgesetzt ist, ist »die […] eigene Gesetzgebung […] der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft« (KpV, KW IV, 144), d. h. »das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein« (RL, KW IV, 318; s. o. S. 67–69).
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sen 58 . Das Verhältnis der Willkür zum Wunsch gehört nach Kant in den Bereich der Ethik; die von ihm genannten Handlungen bzw. Maximen »der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit« behandelt er dementsprechend in der Tugendlehre (vgl. insbes. TL, KW IV, 588–591). Ausschließlich in der ethischen Domäne scheint nach Kant auch das Verhältnis der Willkür des Einen auf die Bedürfnisse des Anderen seinen Platz zu haben, denn er sagt an der oben zitierten Stelle ausdrücklich, dass das »bloße Bedürfnis« unter den Begriff des Wunsches subsumiert werden könne, mithin ebenfalls keine rechtsrelevante Bedeutung habe. Diese Auffassung führt allerdings zu der für unsere gegenwärtigen Vorstellungen von politisch-sozialer Gerechtigkeit nur schwer erträglichen Konsequenz, dass individuelle (ökonomisch-materielle, karitative, medizinische, geistige etc.) Bedürftigkeit keinerlei Rechtsansprüche begründen können. Tatsächlich wird die von Kant geäußerte – jedoch im Fortgang der Rechtslehre keineswegs konsequent durchgehaltene – Feststellung, das »bloße Bedürfnis« sei aus der Rechtssphäre auszuschließen, von vielen seiner Interpreten als Plädoyer Kants gegen ein individuell begründbares Recht auf soziale Unterstützung, mithin auch gegen die Möglichkeit einer vernunftrechtlichen Fundierung sozialstaatlicher Prinzipien verstanden. So urteilt etwa W. Kersting: »[N]eben den Gesinnungen und Überzeugungen [sind] auch die Interessen und Bedürfnisse aus der Rechtssphäre ausgeklammert. Das heißt insbesondere, das mir aus meiner Bedürftigkeit keine Rechtsansprüche erwachsen können. Ebensowenig verliert eine rechtmäßige Handlung durch ihre ruinösen Auswirkungen auf die Bedürfnislage anderer ihre Rechtsqualität. […] Eine Rechtsgemeinschaft ist nach Kant daher keine Solidaritätsgemeinschaft der Bedürftigen, sondern eine Selbstschutzgemeinschaft der Handlungsmächtigen.« 59
Für O. Höffe wendet sich Kant mit seiner Ausklammerung der Bedürfnisse aus dem Rechtsbegriff »gegen eine utilitaristische Rechtstheorie«, die mit ihrem Kriterium des »Wohlergehen[s] aller Betroffenen« die begriffliche Differenz zwischen Willkür und Bedürfnis einebne und 58 Vgl. Anthropologie, KW VI, 579: »Das Begehren ohne Kraftanwendung zu Hervorbringung des Objekts ist der Wunsch. Dieser kann auf Gegenstände gerichtet sein, zu deren Herbeischaffung das Subjekt sich selbst unvermögend fühlt, und ist dann ein leerer (müßiger) Wunsch.« 59 Kersting 2004b, S. 14 f.
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dadurch den Unterschied zwischen Rechtsgesetz und den Tugendpflichten der Wohltätigkeit missachte. Indem Kant die »Aufgaben des Sozial- und Wohlfahrtsstaates […] aus dem moralischen Rechtsbegriff« ausschließe, werde er »zu einem Vertreter des politischen Liberalismus« 60 . Allerdings ist die von Kant vorgenommene begriffliche Subsumtion des (natürlichen) Bedürfnisses unter den Wunsch nicht ohne weiteres plausibel. Wohlwollend könnte man Kant unterstellen, er meine: Sofern ein selbstständig erfüllbares Bedürfnis nur in der Form eines Wunsches auftritt, als – so verstandenes – »bloßes« Bedürfnis mithin in der inneren Welt der subjektiven Gemütsverfassung verbleibt, kommt es im Recht nicht in Betracht 61 . Gilt dies aber auch für den Fall einer existenziellen Bedürftigkeit, die – vergleichbar mit der Täuschung im Falle der Lüge – konstitutiv in die Art einer Handlung einfließt? Wie steht es um dessen rechtliche Relevanz, wenn das selbstständig nicht zu befriedigende Grundbedürfnis (etwa nach Nahrung) nicht im Innern verbleibt, sondern handlungsmächtig und zum Bestimmungsgrund eines äußeren Willküraktes wird? Oder wenn umgekehrt die bedrückende Last der natürlichen Bedürfnisse so groß ist, dass sie die Handlungsspielräume der Betroffenen fundamental einschränkt, gar lebensbedrohliche Konsequenzen nach sich zieht? In derartigen Fällen wäre die Bedürfnisbefriedigung ein konstitutives Element der materialen Bestimmung realer Willkürfreiheit und müsste sehr wohl die Bedeutung eines Rechtsproblems im Sinne Kants haben. Denn wie er selbst bei der Begründung seiner sachenrechtlichen Eigentumstheorie voraussetzt, steht ein großer Teil der menschlichen Handlungsfreiheit im Dienst von Bedürfnissen und kann gar nicht unabhängig von der natürlichen menschlichen Bedürftigkeit bestimmt werden. So ist der äußere Gebrauch meiner Willkür ganz wesentlich der bedürfnisbefriedigende Gegenstandsgebrauch »eine[r] (körperliche[n]) Sache außer mir«, mithin gebunden an ein »äußeres Mein und Dein« (vgl. RL, KW IV, 355). Wer aber keinerlei äußeren Besitz hat oder gar wie manche Menschen über keinerlei Aneignungsmöglichkeiten verfügt, ja nicht einmal in der Lage ist, seine Arbeitskraft anzubieten, für den gibt es eine reale äußere Freiheit und Handlungsfähigkeit nur, wenn er Sozialleistungen erhält 62 . 60 61 62
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Vgl. Höffe 1990, S. 132 f. Vgl. die wohl in diesem Sinne zu verstehende Bemerkung bei Friedrich 2004, S. 52. Vgl. Höffe 1990, S. 133.
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Wenngleich diese ergänzenden Überlegungen im freiheitssichernden Rechtsbegriff Kants Berücksichtigung finden könnten (und müssten), scheint es doch Schwierigkeiten zu bereiten, sie als Kantische Thesen auszugeben. Denn eine geltungstheoretisch in der Sicherung und im Schutz des äußeren Willkürgebrauchs fundierte Rechtspflicht zur wechselseitigen Unterstützung und Erhaltung der einzelnen Personen gegeneinander, auf deren Erfüllung ein notfalls erzwingbarer Anspruch gegenüber der Rechtsgemeinschaft besteht, hat Kant weder in der Metaphysik der Sitten noch in seinen sonstigen Druckschriften ausdrücklich vorgenommen. Gleichwohl lassen sich im öffentlichen Recht der Rechtslehre (freilich blasse) Spuren sozialstaatlicher Ideen in einem Passus der »Allgemeinen Anmerkung« zu den »rechtlichen Wirkungen aus der Natur des bürgerlichen Vereins« finden, wo Kant zu der Frage Stellung bezieht, inwiefern die Unterstützung Bedürftiger zu den rechtspolitischen Staatsaufgaben zu rechnen ist (vgl. RL, KW IV, 446–448). Dass die dortigen Ausführungen für die Vielfalt der gegenwärtigen sozioökonomischen Regelungszusammenhänge, insbesondere für die strukturelle Eigendynamik kapitalistisch-industriegesellschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse, unterkomplex sind, versteht sich von selbst; wo praktische Freiheitsräume heutzutage bedroht sind und wie sie rechtlich geschützt werden können, ist nur auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse zu beantworten, die Kant nicht hatte 63. Zweifellos hat Kant daher »eine Reihe der Problemstellungen, die heute den Sozialstaat als dringlich erscheinen lassen, noch nicht oder jedenfalls nicht mit aller Schärfe gesehen« 64 . Die Auffassung aber, dass Armut, insbesondere strukturell bedingte und langfristige Armut menschenunwürdig ist, wird man ihm nicht absprechen können 65 . Fraglich ist allerdings, ob er die freiheitsfunktionalen und Vgl. Kühl 1984, S. 243. Vgl. Steigleder 2002, S. 216. So hat Kant etwa, wie K. Steigleder (ebd., S. 143) zu Recht betont, den für die Rechtslehre zentralen Begriff des ›äußeren Zwangs‹ (vgl. u. Kap. 3.2.3 u. 3.2.4) lediglich in einem »direkten oder gar handfesten Sinne verstanden«, so dass sich für ihn »bestimmte Abgrenzungsprobleme nicht stellen, die sich beispielsweise im Rahmen krasser ökonomisch-struktureller Machtungleichgewichte ergeben und die möglicherweise auch die Unterscheidung zwischen angeborenem und erworbenem Recht als schwieriger erscheinen lassen«. 65 Vgl. Kants Reflexionen zur Rechtsphilosophie (AA XIX, 578 f.): »Hülflose Arme müssen ernährt und, wenn sie Kinder sind, gepflegt werden. Warum? weil wir Menschen und nicht Bestien sind. Dieses fließt nicht aus dem Rechte der Armen als Bürger sondern aus ihren Bedürfnissen [!] als Menschen.« 63 64
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damit rechtsrelevanten Implikationen dieses Sachverhaltes angemessen gewürdigt hat. Vor diesem Hintergrund gilt es daher, den Begründungsmodus seiner Ausführungen näher zu untersuchen. Dass Kant seine Argumentation nicht im Haupttext, sondern in einer Anmerkung vorträgt, stimmt mit seiner in der Vorrede angekündigten Methodik überein, »das Recht, was zum a priori entworfenen System gehört, in den Text, die Rechte aber, welche auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden, in zum Teil weitläuftige Anmerkungen zu bringen« (RL, KW IV, 309). Sozialstaatliche Überlegungen sind aufgrund ihres Gegenstandsbereichs per se auf erfahrungsgeschichtlich vermittelte Anwendungsfälle des Staatsrechts bezogen und können nicht in einer streng apriorischen Rechtsmetaphysik angestellt werden. Wie Kant selbst fordert, müssen die allgemeinen apriorisch-normativen Rechtsgesetze – soll ihnen ihre Praxistauglichkeit nicht entgleiten – aber für geschichtliche Kontingenz grundsätzlich offen sein, d. h. auf diese hin implementiert werden können (vgl. ebd.). Die Erörterung staatlicher Fürsorgemaßnahmen ist daher für Kant eigentlich eine Aufgabe der Politik, die sich als »ausübende[.] Rechtslehre« versteht (vgl. Frieden, KW VI, 229; s. u. Kap. 5). Unter Abschnitt C der »Allgemeinen Anmerkung« zum Staatsrecht heißt es nun: »Dem Oberbefehlshaber steht indirekt, d. i. als Übernehmer der Pflicht des Volks, das Recht zu, dieses mit Abgaben zu seiner (des Volks) eigenen Erhaltung zu belasten, als da sind: das Armenwesen, die Findelhäuser und das Kirchenwesen, sonst milde, oder fromme Stiftungen genannt. Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu dem Ende sich der inneren Staatsgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu erhalten. Von Staatswegen ist also die Regierung berechtigt, die Vermögenden zu nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen [!] nach, nicht sind, herbei zu schaffen; weil ihre Existenz zugleich als Akt der Unterwerfung unter den Schutz und die zu ihrem Dasein nötige Vorsorge des gemeinen Wesens ist, wozu sie sich verbindlich gemacht haben, auf welche der Staat nun sein Recht gründet, zur Erhaltung ihrer Mitbürger das Ihrige beizutragen« (RL, KW IV, 446).
Da die einzelnen Menschen sich in Befolgung des allgemeinen Rechtsgesetzes zur gesicherten Aufrechterhaltung ihrer angeborenen äußeren Freiheit in einem bürgerlichen Zustand vergesellschaften sollen (s. u. Kap. 4.2.1), besteht eine »Pflicht des Volks«, sich selbst zu erhal196
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ten. Kant folgert daraus eine rechtliche Befugnis des »Oberbefehlshabers« (d. h. der staatlichen Regierung), die vermögenden Bürger zu Abgaben für den Unterhalt sozialer Einrichtungen (»milde oder fromme Stiftungen«) »zu nötigen« 66 . Aber obgleich Kant die rechtliche Erfordernis basaler staatlicher Fürsorgemaßnahmen in dem »allgemeine[n] Volkswille[n]«, »der doch das Prinzip aller Rechte ist« (Frieden, KW VI, 205, Anm.) – mithin in einem fiktiven »ursprüngliche[n] Kontrakt«, »wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert« (vgl. RL, KW IV, 434) – verankert sieht, scheut er sich im zitierten Text auffällig, aus dieser ursprünglichen legitimatorischen Fundierung die Konsequenz einer Rechtspflicht des Staates zu ziehen, die ihrerseits in individuellen und notfalls einklagbaren Rechten bedürftiger Staatsbürger auf Unterstützung begründet wäre. Stattdessen vermag die Verortung der subsistenzsichernden Alimentation notleidender Gesellschaftsmitglieder im Kompetenzbereich des Staates für Kant allem Anschein nach lediglich den verbindlichkeitstheoretischen Status einer moralisch erlaubten Befugnis zu besitzen, die er überdies in einem vorwiegend sozialpragmatischen Sinn deutet 67 : Die rechtliche Möglichkeit einer minimalen Armenfürsorge scheint nicht primär der Sorge um die Erhaltung der Willkürfreiheit und grundlegenden Handlungskompetenz der Betroffenen zu entspringen, sondern vor allem in ihrer Funktion als probates Mittel zur Sicherung des kollektiven, staatlichen Rechtszustandes begründet zu liegen 68 . Nach W. Kersting werden die 66 Der Verwendungszweck der finanziellen Mittel derartiger staatlicher Stiftungen muss selbstverständlich nicht auf die aus heutiger Sicht antiquierten Formen wohltätiger »Anstalt[en] für Arme, Invalide und Kranke« beschränkt bleiben, die Kant hier ausweislich des »Anhang[s] erläutender Bemerkungen« – ein Zusatz zur 2. Auflage der Metaphysik der Sitten von 1798 – im Blick hat. Er selbst weist ausdrücklich darauf hin, dass die »Zeitumstände« andere Formen der staatlichen Fürsorge – etwa »Beihülfe[n] in einer gewissen (dem Bedürfnisse der Zeit proportionierten) Geldsumme« als »besser« erscheinen lassen können (vgl. RL, KW IV, 492 f.). Insofern wäre auch ein »unbedingtes allgemeines Grundeinkommen« als Form der Armenalimentierung mit den Kantischen Bestimmungen durchaus vereinbar (vgl. Merle 1999, S. 204 f.). 67 So auch Höffe 1990, S. 133; Deggau 1983, S. 249–251; Kersting 2004b, S. 129 f.; Ludwig 1993, insbes. S. 238 und Zotta 2000, insbes. S. 106 f. 68 Eindeutig und ausschließlich in einem kollektivistischen Sinne erhaltungspolitisch argumentiert Kant im Gemeinspruch: »Wenn die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: so geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern bloß als Mittel, den rechtlichen Zustand vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks
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»Selbsterhaltungsbelange des Einzelnen« bei Kant daher »erst dann rechtsphilosophisch auffällig, wenn ihre Vernachlässigung das Gemeinwesen destabilisieren und zu einem Risiko der Rechtserhaltung werden würde« 69 . Allerdings dürfen die Begriffe »Volk« und »Gesellschaft« in Abschnitt C nicht vorrangig oder gar ausschließlich in einem verselbstständigten kollektivistischen Sinne verstanden werden; die Tatsache, dass Kant von der Legitimationsinstanz des »allgemeine[n] Volkswille[ns]« spricht, der sich »zu einer Gesellschaft vereinigt« hat, legt vielmehr eine ›distributiv-genealogische‹ Interpretation nahe, welche die materielle Subsistenzsicherung der einzelnen »Glieder dieser Gesellschaft« als obersten Zweck der Staatsverwaltung in den Fokus rückt 70 . Gleichwohl können die spärlichen Ausführungen – so muss man feststellen – eine von Kant intendierte Wesensbestimmung des Staates als Sozialstaat im heutigen Verständnis, der durch eine aktive Steuer-, Bildungs- und Sozialpolitik für einen Ausgleich sozialer Gegensätze in der Bevölkerung zu sorgen hat, tatsächlich nicht tragen 71 . Es fragt sich allerdings, ob derartige, zu den Kernaufgaben unserer gegenwärtigen Rechtsinstitutionen gehörende gesellschaftspolitische Maßnahmen nicht systematisch mit Kants Rechts- und Staatsphilosophie zu vereinbaren wären 72 . Schließlich muss unterschieden werden zwischen dem einschlägigen Textbefund und dem von Kant möglicherweise nicht hinreichend realisierten Argumentationspotential seiner philosophischen Position, das seine Begründungsintentionen und sein Problembewusstsein durchaus übersteigen kann 73 . Wie Kant selbst sagt, kann die Nachwelt einen »Verfasser […] so gar besser […] zu sichern. Hierüber muß das Staatsoberhaupt befugt sein, selbst und allein zu urteilen, ob dergleichen zum Flor des gemeinen Wesens gehöre, welcher erforderlich ist, um seine Stärke und Festigkeit so wohl innerlich, als wider äußere Feinde, zu sichern; so aber das Volk nicht gleichsam wider seinen Willen glücklich zu machen, sondern nur zu machen, daß es als gemeines Wesen existiere« (Gemeinspruch, KW VI, 155). 69 Vgl. Kersting 2004b, S. 130. Ganz ähnlich urteilt Ludwig 1993, S. 238. 70 Vgl. Steigleder 2002, S. 220. 71 Vgl. Deggau 1983, S. 250; Zotta 2000, S. 106. 72 Prinzipiell negativ wird diese Frage beantwortet von F. Zotta (ebd., S. 108–117), der in seiner dezidiert antisozialstaatlichen Kantinterpretation allerdings auch nicht um ein ausgewogenes Verständnis der Kantischen Rechtstheorie bemüht zu sein scheint. 73 Vgl. dazu die Ausführungen bei Steigleder 2002, S. 215–222 und Kersting 2004b, S. 130 f., der diesen Sachverhalt als »ein Kriterium großer Philosophie« beurteilt (ebd., S. 128).
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verstehen, als er sich selbst verstand« (KrV A 314, B 370). So lässt sich meines Erachtens unter Verweis auf das – freilich erfahrungsgeschichtlich geschärfte – Wissen über die gesellschaftlich-ökonomische Bedingtheit realer Willkürfreiheit eine intersubjektiv geschuldete Rechtspflicht zur wechselseitigen materiellen Unterstützung der Menschen im (welt)bürgerlichen Zustand sehr wohl rechtfertigen, auch wenn Kant dies nicht ausdrücklich tut 74 . E. W. Böckenförde formuliert treffend: »Wenn die Inswerksetzung der Freiheitsordnung durch die erwerbstätigen Menschen einen strukturellen sozialen Antagonismus hervorbringt, der die tatsächlichen Voraussetzungen rechtlicher Freiheit entfallen läßt, entsteht eine Frage. Die Frage nämlich, wie weit aus dem Kantschen Freiheitsprinzip nicht selbst Aktivitäten zu rechtfertigen, wenn nicht gar zu fordern sind, welche die Freiheit für alle real erhalten.« 75
Da nach Kant die gesamte Rechtslehre in der Freiheit, »von eines anderen nötigender Willkür« unabhängig und damit »sein eigener Herr« sein zu können, als dem einzigen (!) »ursprünglich[.], jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende[n] Recht« (RL, KW IV, 345) ihr Konstitutionsprinzip hat (s. u. Kap. 3.2.4), mithin auch die Theorie des öffentlichen (Staats-, Völker- und Weltbürger-) Rechts in den Dienst von jedermanns äußerer Freiheit gestellt ist, muss man es als eine Inkonsequenz bezeichnen, dass Kant einerseits die dem staatsbürgerlichen Gleichheitsgrundsatz widersprechende Privilegierung eines erblichen Adelsstands für rechtlich illegitim erachtet (vgl. ebd., 449–451; Gemeinspruch, KW VI, 147 f.; 151–153), andererseits jedoch keine verbindliche Rechtspflicht des Staates dazu annimmt, seinen Bürgern die für den Gebrauch ihrer äußeren Willkürfreiheit unverzichtbaren Ver-
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Auch für Kersting ist »eine Argumentation denkbar, die eine […] Sozialstaatsbegründung aus dem Geist der vernunftrechtlichen Freiheit vorträgt, die das Sozialstaatsprinzip nicht als gleichrangiges vernunftrechtliches Prinzip versteht, sondern als vernunftrechtliches Sekundärprinzip, das in den Kontext der geschichtlichen Anwendung der vernunftrechtlichen Freiheitsnormen gehört und hier, erfahrungsbelehrt, den freiheitsfeindlichen Auswirkungen sozialer und ökonomischer Ungleichheit entgegenwirkt, dabei aber nie die grundsätzliche Freiheitsorientierung aus den Augen verliert und fest auf dem Boden vernunftrechtlich begründeter Rechtsstaatlichkeit verbleibt« (Kersting 2004b, S. 130 f.). Vgl. Böckenförde 2004, S. 34. A
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wirklichungsbedingungen zu erhalten 76 . Ob angesichts der freiheitseinschränkenden Auswirkungen hochgradiger sozioökonomischer Ungleichheit darüber hinaus auch eine im Zeichen sozialer Gerechtigkeit stehende staatlich zu gewährleistende Vermögensumverteilungspolitik zur kompensatorischen Förderung aller hinsichtlich ihrer Handlungsmöglichkeiten benachteiligten Bürger im Rahmen der rechtsphilosophischen Argumentation Kants legitimierbar ist 77 , hängt maßgeblich Vgl. dazu Wildt 1997, S. 172 f. J.-C. Merle spricht von einem durch Kant faktisch begründeten ursprünglichen »Recht auf Subsistenz« als »geschuldete[m]«, »einklagbare[m] Grundrecht« (Merle 1999, S. 203). Stärker auf sozialen Ausgleich gerichtet interpretiert K. Kühl, der über ein aus dem Rechtsbegriff abzuleitendes Postulat der Chancengleichheit sozialstaatliche Rechtspflichten zu begründen versucht, die über das von Kant geäußerte Selbstverständnis weit hinausgehen (vgl. Kühl 1984, S. 161, 264– 306). 77 An dem dafür erforderlichen grundsätzlichen Problembewusstsein mangelte es Kant jedenfalls nicht. Er kennt sehr wohl eine »allgemeine Ungerechtigkeit« im Bereich der gesellschaftlichen Verhältnisse, die durchaus als ›soziale Ungerechtigkeit‹ im heutigen Verständnis interpretiert werden muss. In der Nachschrift einer seiner zwischen 1775 und 1780 gehaltenen Ethikvorlesungen heißt es: »Man kann mit Anteil haben an der allgemeinen Ungerechtigkeit, wenn man auch nach den bürgerlichen Gesetzen und Einrichtungen kein Unrecht tut. Wenn man nun einem Elenden [d. h. einem in Not befindlichen Menschen; O. L.] eine Wohltat erzeigt, so hat man ihm nichts umsonst gegeben, sondern man hat ihm das gegeben, was man ihm durch eine allgemeine Ungerechtigkeit hat entziehen helfen. Denn wenn keiner die Güter des Lebens mehr an sich ziehen möchte als der andere, so wären keine Reichen aber auch keine Armen« (AA, XXVII, 432). Wenn alle »das Recht jedes Menschen unverletzt ließen, dann wäre kein Elend in der Welt, außer nur ein solches Elend, was nicht aus der Verletzung des Rechts anderer entspringt, z. E. Krankheit, Unglücksfälle« (ebd.). Auch in der 1764 verfassten Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen appelliert Kant an das soziale Gewissen und kritisiert die zeitgenössischen sozioökonomischen Verhältnisse. Aufgrund der Armut der Bauern und Arbeiter, die der herrschenden Eigentumsordnung entspringe, sei die als »Gütigkeit und Großmut« sich gerierende Versorgung der Bedürftigen nicht mehr als die »Austheilung eines Raubes den man andern entwendet hat« (vgl. AA XX, 41). Der Mensch – so Kant – »muß entweder selbst arbeiten oder andre vor ihn, und diese Arbeit wird andern so viel von ihrer Glückseeligkeit rauben als er seine eigene über das Mittelmaas steigern will« (ebd., 39). Der bürgerliche Zustand der »allgemeinen Üppigkeit« (ebd., 41) sei zugleich ein »Zustand [der] allgemeine[n] Ungerechtigkeit« (ebd., 140). Offensichtlich war Kant in dieser Phase seines Lebens ein dezidierter Vertreter wohlfahrtsstaatlicher Prinzipien: »Wenn ich von einem reichen erbete der sein Vermögen durch Erpressung von seinen Bauren gewonnen hat u. ich schenke dieses an die nämlichen arme so thue ich im bürgerlichen Verstande eine sehr grosmüthige Handlung« (ebd., 40). Zu Kants intensiver Beschäftigung mit der ›Armutsfrage‹ in den 1760er Jahren vgl. Zotta 2000, S. 27–29; Brandt 1974, S. 172 f. sowie Ritter 1971, 76
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von dem systematischen Stellenwert und rechtspolitischen Gestaltungsspielraum ab, den Kant dem ursprünglichen Vertrag bzw. dem daraus hervorgehenden »Gesetz des gemeinsamen Willens« (RL, KW IV, 366) im Hinblick die Begründung peremtorischer Besitzverhältnisse beimisst (s. u. Kap. 4.2.2). 3.) Gemäß der dritten und letzten von Kant genannten Anwendungsbedingung des Rechtsbegriffes scheidet aus dem Bereich moralischrechtlicher Beurteilung neben der einer Handlung zugrunde liegenden Gesinnung und dem praktisch ohnmächtigen Wunsch auch jeder subjektiv-beliebige Handlungszweck der aufeinander einwirkenden Personen aus: »[I]n diesem wechselseitigen Verhältnis der Willkür kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d. i. der Zweck, den ein jeder mit dem Objekt, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung« (RL, KW IV, 337). Anders als in der Ethik 78 kommt es im Recht also nicht darauf an, ob die Zwecksetzungsakte des inneren Willkürgebrauchs der interagierenden Personen miteinander harmonisierbar oder gar wechselseitig förderlich sind – also ob etwa ein Handelsgeschäft in der subjektiven Absicht einer beiderseitigen Vorteilserzielung der Geschäftspartner abgeschlossen wird (vgl. ebd.). Der Rechtsbegriff verhält sich per definitionem indifferent gegenüber jeder ihm äußerlichen Zweckbetrachtung 79 . Er hat demnach für Kant auch »gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicher Weise haben (der Absicht auf Glückseligkeit), und der Vorschrift der Mittel, dazu zu gelangen, zu tun« (Gemeinspruch, KW VI, 144) 80 . Rechtlich von Bedeutung ist vielS. 142–154, der zahlreiche zivilisationskritische Äußerungen Kants aus dieser Phase dokumentiert und ihre Beeinflussung durch Rousseau belegt. 78 Vgl. die vorstehenden Ausführungen zur sog. Reich-der-Zwecke-Formel des Kategorischen Imperativs (Kap. 2.1.2). 79 Gleichwohl besitzt das Recht in der gesetzlichen Freiheit des äußeren Willkürgebrauchs einen unbedingten inneren Zeck, »den ein jeder haben soll« (Gemeinspruch, KW VI, 144). Demzufolge ist auch das Recht bzw. das ›Rechthandeln‹ selbst – wie Kant mehrfach betont – ein unbedingter Zweck, der »an sich selbst Pflicht und […] die oberste formale Bedingung (conditio sine qua non) aller übrigen äußeren Pflicht ist« (ebd.). 80 Daher schließt Kant die Glückseligkeit auch als »als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung« aus, denn »so wohl die Zeitumstände, als auch der sehr einander widerstreitende und dabei immer veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt (worin er sie aber setzen soll, kann ihm niemand vorschreiben), macht alle feste Grundsätze unmöglich, und zum Prinzip der Gesetzgebung für sich allein untauglich« (Gemeinspruch, KW VI, 154 f.). A
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mehr nur die »Form im [äußeren] Verhältnis der beiderseitigen Willkür« (RL, KW IV, 337), d. h. das Recht legt nur die formalen Bedingungen für den äußeren Gebrauch, den eine Person von ihrer Willkür macht, fest, sofern dieser auf die möglichen praktischen Freiheitsspielräume anderer Personen Einfluss hat.
3.2.3 Das allgemeine Rechtsprinzip und das Problem der Begründung moralischer Zwangshandlungen Die erörterten extensionalen Bestimmungen enthalten eine Explikation des fundamentalen Rechtsproblems: Aufgrund der elementaren Naturvorgabe, dass mehrere Menschen als handlungsfähige leibliche Personen sich denselben begrenzten Lebensraum teilen und zur Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse »nicht umhin können, in wechselseitigen Einfluß auf einander zu geraten« (Gemeinspruch, KW VI, 144), befinden sie sich im Verhältnis einer unvermeidlichen reziproken Affektion ihres äußeren Willkürgebrauchs, d. h. in einem unausweichlichen Zustand möglicher äußerer Handlungskonflikte. Das Kantische Vernunftrecht ist nun nichts anderes als die Gesamtheit der apriorischen Bedingungen, unter denen das in seinem Auftreten empirisch bedingte Problem der Koexistenz sich beeinflussender individueller äußerer Handlungssphären in einer widerspruchsfreien gesetzlichen Allgemeinheit (als Strukturprinzip vernünftiger Geltung) gelöst werden kann: »Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (RL, KW IV, 337). Insofern durch das Recht sichergestellt werden soll, dass jeder Mensch von seiner äußeren Handlungsfreiheit nur in dem Maße Gebrauch macht, dass sie mit dem Willkürgebrauch aller Menschen ohne Widerstreit kompatibel ist, kann die rechtliche Freiheit nur eine gesetzlich eingeschränkte gleiche Freiheit sein 81 :
Zugleich ist die rechtliche äußere Freiheit – wie Kant an anderer Stelle ausdrücklich sagt – die unter allgemeingesetzlichen Bedingungen »größte« bzw. »größtmögliche[.]« Freiheit (vgl. Idee, KW VI, 39). Vgl. dazu Oberer 1997, S. 181: »Da die vernünftige Freiheit des äußeren Willkürgebrauchs als Zweck des […] Rechts dem Mittel der Einschränkung vorgeordnet ist«, folgt aus dem Rechtsbegriff zugleich »auch das Prinzip der Minimalität der Einschränkung«. Vgl. dazu auch Steigleder 2002, S. 141 f.
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»Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist; und das öffentliche Recht ist der Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen« (Gemeinspruch, KW VI, 144).
Das so verstandene Recht ist nach Kant ein »praktischer Vernunftbegriff der Willkür unter Freiheitsgesetzen« (RL, KW IV, 358). Ihm korrespondiert ein moralisches Beurteilungsprinzip, das ausschließlich die zwischenmenschlichen Beziehungen in äußeren Handlungen – unabhängig von der ihnen motivationspsychologisch zugrunde liegenden Innenwelt der Gedanken, Absichten, Gesinnungen und Überzeugungen – normiert 82 . Es enthält darüber hinaus einen Prüfmaßstab, der es erlaubt, alle positivrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung auf ihre überpositive Gültigkeit, d. h. auf ihre moralische Legitimität hin zu beurteilen 83 . Dieses »Allgemeine Prinzip des Rechts« 84 bildet in seiner Gestalt eines unbedingt geltenden Imperativs die auf die charakteristischen Merkmale des Rechtsbegriffs »spezialisierte Version des kategorischen Imperativs« 85 : »Handle äußerlich so, daß der freie Ge82 Das Recht ist ein Vernunftgebot für denjenigen Gebrauch der Willkür, für den »eine äußere Gesetzgebung [moralisch und faktisch] möglich ist« (RL, KW IV, 336; vgl. auch ebd., 318 f., 324 f.); es regelt jenen äußeren Bereich der menschlichen Handlungsfreiheit, der einer gesetzlichen Ordnung und ungesetzlichen Verletzung durch andere zugänglich bzw. ausgesetzt ist. Die Rechtslehre kann als solche keinerlei Prinzipien für den inneren Willkürgebrauch enthalten, da dieser jederzeit schon seinem Begriffe nach der normativen Forderung des Rechtsprinzips entspricht, d. h. mit dem inneren Willkürgebrauch eines jeden Anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Was ich denke, welche Zwecke ich mir setze, ob die Freiheit des Anderen »mir gänzlich indifferent« ist oder ob ich ihr »im Herzen […] gerne Abbruch tun möchte«, hat für Kant grundsätzlich keinerlei rechtserhebliche Bedeutung, weil und insoweit ich damit der Willkür des Anderen durch keine »äußere Handlung […] Eintrag tue« (RL, KW IV, 338). Vgl. dazu Oberer 1997, S. 179. 83 In diesem Sinne sagt Kant auch, dass die »Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen kann, […] eine notwendige Idee [ist], die man nicht bloß im ersten Entwurfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muß« (KrV A 316, B 373). 84 Es lautet: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann« (RL, KW IV, 337). 85 Vgl. Kersting 2004a, S. 281. Vgl. auch Kersting 1990, S. 64, Anm. 5 u. S. 67. W. Kersting korrigiert hier seine in Wohlgeordnete Freiheit im Anschluss an G. Scholz (vgl. Scholz 1972, S. 38–45) vertretene und mit Bezugnahme auf RL, KW IV, 338 als Kan-
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brauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne« (RL, KW IV, 338). Vergleicht man die Grundformel des Kategorischen Imperativs mit dem allgemeinen Rechtsprinzip, so wird man insofern von einer »strukturellen Analogie« 86 bzw. »Strukturverwandtschaft« 87 sprechen können, als eine maximenbasierte äußere Handlung, die dem Rechtsprinzip widerstreitet – die also nicht »mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen« kann –, offentisch unterstellte These, wonach das Rechtsgesetz kein (kategorischer) Imperativ sei (vgl. Kersting 1993, S. 103–105). Wie K. Steigleder zurecht bemerkt, ist es allerdings fraglich, ob Kersting auch die »normlogischen Konsequenzen« dieser Selbstkorrektur in seiner Argumentation hinreichend realisiert hat (vgl. Steigleder 2002, S. 151; s. dazu unten S. 271 f.). Zur Begründung ihrer Auffassung, das Rechtsgesetz sei kein kategorischer Imperativ, stützen sich Scholz und Kersting in ihren zuletzt genannten Schriften auf die – anhand des Textbefundes der Metaphysik der Sitten allerdings nicht zu belegende – Prämisse, dass jedes unbedingt gültige moralische Gebot als solches das Bewusstsein der Nötigung der Willkür durch die Idee der Pflicht als Beweggrund zu seiner Befolgung (d. h. den Selbstzwang) enthalten müsse – was für das allein äußere Handlungsverhältnisse normierende allgemeine Rechtsprinzip ausdrücklich nicht gilt. Die Tatsache, dass Kant die »Vorbegriffe« in der allgemeinen »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« – einschließlich der Lehre vom Kategorischen Imperativ – ausdrücklich als Bestimmungen betrachtet, die »der Metaphysik der Sitten in ihren beiden Teilen gemein« sind (RL, KW IV, 327), sowie der Umstand, dass er dem Rechtsgesetz in der »Einleitung in die Rechtslehre« »Verbindlichkeit« zuspricht (ebd., 338 f.) und diese einige Seiten zuvor als »Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft« (ebd., 327) definiert, verdeutlichen jedoch, dass das durch die äußere Gesetzgebungsweise der Vernunft erlassene Rechtsgesetz gemäß Kants Selbstverständnis sehr wohl ein im strengen Sinne kategorischer Imperativ ist, »welcher nicht etwa mittelbar, durch die Vorstellung eines Zwecks, der durch die Handlung erreicht werden könne, sondern der sie durch die bloße Vorstellung dieser Handlung selbst (ihrer Form), also unmittelbar als objektiv-notwendig denkt und notwendig macht« (ebd., 328). Vgl. dazu auch Oberer 1986; Ludwig 1988, S. 96 m. Anm. 26; Steigleder 2002, S. 150–156 sowie Rapic 2008, insbes. S. 453–455. Schreibt man also dem allgemeinen Rechtsgesetz sowie den aus ihm ableitbaren spezifischen Rechtspflichten mit Kant den geltungstheoretischen Status kategorischer Imperative zu (vgl. auch RL, KW IV, 385, 437, 453, 459, 497), stellt sich allerdings das Problem, in welchem Sinne das Rechtsprinzip – welches Kant zufolge von der (ethischen) Forderung der reinen praktischen Vernunft, nicht bloß pflichtgemäß, sondern »aus Pflicht« zu handeln, abgelöst werden kann und die Befugnis zu physischen Zwangshandlungen einschließt – an »den moralischen Imperativ« des Sittengesetzes zurückgebunden ist bzw. aus ihm »entwickelt werden kann« (ebd., 347). Vgl. dazu die nachstehenden Erörterungen sowie das folgende Kapitel. 86 Vgl. Kaulbach 1982, S. 142. 87 Vgl. Rapic 2007, S. 455.
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kundig auch nicht »als allgemeines Gesetz [der äußeren Freiheitsbestimmung] gelten kann« (RL, KW IV, 332). Gemäß dem Bewertungskriterium des Rechtsprinzips begeht derjenige im moralischen Sinne ein Unrecht, der mit seiner äußeren Handlung eine andere Person an der Verwirklichung der ihr allgemeingesetzlich zustehenden Handlungsspielräume hindert. Dies zu unterlassen, d. h. den individuellen Willkürgebrauch auf die Bedingungen allseitiger gleicher Handlungsfreiheit zu beschränken, wird durch das Rechtsgesetz »objektiv als notwendig vor[ge]stellt, d. i. […] zur Pflicht [ge]macht« (RL, KW IV, 323). Aber über die Gültigkeit ihrer Gesetze hinaus bedarf eine Gesetzgebung auch der empirischen Wirksamkeit. Neben dem Gesetz gehört zu aller Gesetzgebung als deren »zweite[s] Stück« daher (irgend)eine »Triebfeder«, durch die das Subjekt der durch das Gesetz vorgestellten und festgestellten Verbindlichkeit tatsächlich nachkommt (ebd.). Es ist diese doppelte moralphilosophische Aufgabenstellung bzw. genauer jenes »zweite Stück« der Gesetzgebung, aus dem sich das für die Rechtslehre konstitutive Problem der Begründung moralischer Zwangshandlungen ergibt. Nach Kant lässt sich aus der Aufgabe des Rechts, die Kompatibilität größtmöglicher individueller äußerer Freiheitssphären nach einem allgemeinen Gesetz zu ermöglichen, eine »Befugnis zu zwingen« ableiten (ebd., 338): Insofern in jeder auf äußerer Vernunftgesetzgebung beruhenden »rechtlichen Verfassung« die Möglichkeit zur Durchsetzung und Sicherung ihrer Normen unter Einsatz physischer Zwangsmittel »erforderlich ist« (ebd., 464), ist »mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft« (ebd., 338 f.) 88 . Zur Rechtfertigung seiner These, dass die Befugnis zur zwangsförmigen Unrechtsabwehr mit 88 Nach Kant kann das Recht gänzlich ohne Bezug auf den Staat als die »Befugnis zu zwingen« charakterisiert werden. Das Recht enthält dann die Maßgabe zu einem äußeren Zwang zwischen Personen, wenn es dazu einen Grund gibt, der für beide Seiten verbindlich ist (s. u. Kap. 3.2.4). Diese legitim erzwungene Rechtsdurchsetzung ist grundsätzlich auch im privatrechtlichen Naturzustand ohne ein staatliches Machtmonopol möglich (vgl. Scholz 1972, S. 63; Gerhardt 1996, S. 475). Der Staat ist aber unverzichtbar, da Rechtsansprüche nicht selten strittig sind und ihre Gewährleistung im Naturzustand prinzipiell gefährdet ist (s. u. Kap. 4.2). Die oberste Bedingung einer tatsächlichen gesetzlichen Übereinstimmung des allseitigen äußeren Willkürgebrauchs ist daher eine nach öffentlichen Gesetzen jedermanns Freiheit sichernde Zwangsgewalt des Staates, die einer neutralen Gerichtsbarkeit eine endgültige Entscheidung über die Grenzen des Mein und Dein eines jeden ermöglicht und sicherstellt, dass die Menschen
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dem Begriff des Rechts analytisch (d. h. »nach dem Satze des Widerspruchs«) verbunden ist, verwendet Kant eine aufgrund ihrer doppelten Negation etwas verklausulierte Formulierung: »Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht« (RL, KW IV, 339 f.; vgl. auch TL, KW IV, 527).
Da die Zwangsbefugnis als Erlaubnis zur physischen Verteidigung des allseitigen gesetzlichen Freiheitsraums also ein zentrales Bestimmungsmoment des moralischen Rechtsbegriffs ist, kann dieser nach Kant auch als »die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechselseitigen Zwanges vorgestellt werden« (ebd., 339) 89 : »Ein striktes (endas tun bzw. unterlassen, von dem sie a priori (d. h. unabhängig von ihren subjektiven Interessen) wissen, dass sie dazu berechtigt oder verpflichtet sind. Innerhalb eines öffentlich-rechtlichen Zustandes ist die mit dem Rechtsprinzip verbundene Zwangsbefugnis zugleich die normlogische Voraussetzung für die staatliche Strafbefugnis, wenngleich jene nicht mit dieser gleichzusetzen ist. Denn eine Bestrafung nach erfolgter Rechtsverletzung zielt nicht immer und ausschließlich – wie der (staatliche) Rechtszwang – auf die Durchsetzung von Rechtsansprüchen (vgl. Steigleder 2002, S. 237–240). Kant zufolge muss aber jedes positive Staatsgesetz mit einer zugleich angedrohten strafrechtlichen Sanktion verbunden sein, denn es ist die Pflicht des Staates als »Zustand […] einer austeilenden Gerechtigkeit« (RL, KW IV, 424), dass er »das Recht der Menschen« mit »öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes anderen Eingriff gesichert werden kann«, schützt (Gemeinspruch, KW VI, 144). Alle Gesetze des Staates sind demnach »natürlicherweise, wenn es Verbrecher im Volk gibt, auch Strafgesetze« (RL, KW IV, 457). Sofern der Rechtsbruch die öffentliche Rechtsordnung verletzt (und nicht im privatrechtlichen Binnenraum einzelner Personen verbleibt), ist der Staat nicht nur befugt, sondern nach Kant dazu verpflichtet, den überführten Rechtsbrecher zu bestrafen, um den durch die Rechtsverletzung hervorgerufenen Zustand der Ungerechtigkeit zu berichtigen und der positiven Gesetzgebung gleichsam ›nachträglich‹ praktische Geltung zu verschaffen. In diesem Sinne sagt Kant: »Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ« (ebd., 453; vgl. Steigleder 2002, S. 230). 89 Das so definierte Recht »in enger Bedeutung (ius strictum)« grenzt Kant im zweiteiligen Anhang von § E der Einleitung zur Rechtslehre gegen den Begriff eines Rechts »im weiteren Sinne (ius latum)« ab. Zu diesem »wahren oder vorgeblichen«, in jedem Fall aber »zweideutigen Recht (ius aequivocum)« zählt Kant die »Billigkeit (Aequitas)« und das »Notrecht (ius necessitatis)«, zu deren Urteil »kein Richter aufgestellt werden kann«. Für beide gilt das analytische Wechselverhältnis von Recht und zwangsförmiger Fremdverpflichtung nicht, weshalb sie aus der Rechtslehre im strengen Sinne aus-
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ges) Recht«, das »mit keinen Tugendvorschriften vermengt« ist, »kann […] nur das völlig äußere« sein; es »fordert« [!] »keine andern Bestimmungsgründe der Willkür als bloß die äußern«, d. i. den Zwang (ebd., 339) 90 . Im unmittelbaren Anschluss an diese Textstelle versichert Kant nun aber, dass auch das so verstandene strikte Recht »auf dem Bewußtsein der Verbindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze« gründet, wenngleich es »dieses Bewußtsein« nicht als Bestimmungsgrund der Willkür – als die in der Ethik geforderte »Triebfeder« – in Anspruch nehmen »darf und kann« (ebd.). Denn »das allgemeine Rechtsgesetz« sei »zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich, ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch tätlich eingeschränkt werden dürfe; und dieses sagt sie als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist« (ebd., 338) 91 . zuschließen sind. Das erste ist »ein Recht ohne Zwang«, das zweite ein »Zwang ohne Recht« (vgl. RL, KW IV, 341). Vgl. dazu Dahlstrom 1997. 90 Die Rechtsgesetzgebung kann jede Triebfeder zulassen, als eine solche ›fordern‹ kann sie jedoch nur die äußere des Zwanges. Denn die ›Forderung‹ bzw. »Nöthigung […], die nicht durch die Idee der Pflicht geschieht, d. i. die nicht eine solche ist, welche die Vernunft des Subjects über sich nach Freyheitsgesetzen ausübt (sich selbst zwingt), kann nur die mit der Freyheit vereinbare Möglichkeit seyn von anderen zu solchen Handlungen gezwungen zu werden und gegenseitig andere zu solchen zu zwingen« (vgl. AA XXIII, 390). Wenn gemäß der von Kant in der Privatrechtslehre erörterten Rechtspflicht »pacta sunt servanda« (vgl. RL, KW IV, 325, 382 ff.) »also gesagt wird: ein Gläubiger hat ein Recht, von dem Schuldner die Bezahlung seiner Schuld zu fordern, so bedeutet das nicht, er kann ihm zu Gemüte führen, daß ihn seine Vernunft selbst zu dieser Leistung verbinde, sondern ein Zwang, der jedermann nötigt, dieses zu tun, kann gar wohl mit jedermanns Freiheit, also auch mit der seinigen, nach einem allgemeinen äußeren Gesetze zusammen bestehen« (ebd., 339 f.). 91 Durch den verpflichtenden Imperativ des Rechtsgesetzes ist meine eigene Freiheit »in ihrer Idee« auf die »Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«, eingeschränkt (RL, KW IV, 337). Durch das aus dem Rechtsgesetz nach Kant unmittelbar folgende »Postulat« bin ich darüber hinaus befugt, die äußere Freiheit anderer auf die Bedingungen ihrer allgemeingesetzlichen Kompatibilität »tätlich« einzuschränken. Mit der Einführung des Rechtspostulats stellt Kant erstmals in der Rechtslehre – und erstmals überhaupt in seinen moralphilosophischen Schriften – den die Rechtssphäre prägenden wechselseitigen Bezug von (Rechts-) Pflichten und Rechten als subjektiven Befugnissen zur Einschränkung fremder Willkür her. Der mit dem Begriff des »moralische[n] Vermögen[s], andere zu verpflichten« (ebd., 345), verknüpfte Gedanke, dass ich eine zwangsbefugte Verpflichtungsinstanz für andere Personen bilde, A
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Fragen wir zunächst, wie diese Aussagen zum Verhältnis von Rechtsgesetz und Verbindlichkeit zu verstehen sind. Nach Kant ist die Faktizität einer in real existierenden Gesellschaften ohnehin »wenig in Anschlag« zu bringenden »moralische[n] Gesinnung« weder Entstehungsvoraussetzung noch Erhaltungsbedingung eines dem Vernunftentwurf entsprechenden »rechtlichen Zustandes« (vgl. Frieden, KW VI, 231). Der mit einer äußeren Zwangsbefugnis verknüpfte Rechtsbegriff und die aus ihm ableitbaren materialen Rechtsgesetze müssen sich vielmehr unabhängig von der Tatsache (nicht aber der personentheoretisch verankerten Möglichkeit; s. u.), dass die »eigene gesetzgebende Vernunft […] sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst konstituiert« (TL, KW IV, 537), verwirklichen lassen. Denn im Hinblick auf die Befolgung äußerer Rechtspflichten kommt der menschliche Wille lediglich als »principium der dijudication der Verbindlichkeit« in Betracht, d. h. er ist hier nur insofern relevant, als er die objektive Regel (»Richtschnur«) des Gesetzes liefert und nicht auch zugleich den subjektiven Bestimmungsgrund (die »Triebfeder«) der Handlung (vgl. AA, XXVII, 1, 274; TL, KW IV, 523; zur »inneren Rechtspflicht« vgl. dagegen unten Kap. 3.2.4). Darüber grundsätzlich hinausgehend scheint Kant an einigen Stellen die Auffassung zu vertreten, dass sich das Rechtsprinzip schon rein »analytisch« aus dem Begriff der ungeregelten äußeren Willkürfreiheit im Verhältnis der Menschen zueinander ergibt; seine diesbezüglichen Äußerungen (vgl. TL, KW IV, 527; Gemeinspruch, KW VI, 144; Anthropologie, KW VI, 606) sind missverständlich. Sieht man einmal davon ab, dass Kant das angeborene Willkürfreiheitsrecht verbindlichkeitstheoretisch in der Würde der Persönlichkeit fundiert (s. u. Kap. 3.2.4), dann wäre eine allein auf der ›rationalen‹ Analyse des Willkürvermögens aufbauende Herleitung des Rechtsprinzips tatsächlich unabhängig vom ›inneren‹ Freiheitsbegriff sittlicher Autonomie und damit auch unabhängig von einer moralischen Begründung der findet sich – wie oben bereits erwähnt wurde (s. o. S. 163 f.) – weder in der Grundlegung noch in der Kritik der praktischen Vernunft (vgl. auch Scholz 1972, S. 58 f.; Rapic 2007, S. 462 f.). Als eine spezielle Form dieses allgemeinen Vernunftpostulats zwangsbewehrter Fremdverpflichtung erörtert Kant in § 2 der Rechtslehre das »rechtliche Postulat der praktischen Vernunft«, das sich auf die rechtlich mögliche Einschränkung fremder Willkür hinsichtlich des äußeren Mein und Dein bezieht (vgl. ebd., 354 f.). Vgl. dazu Friedrich 2004, S. 55; s. u. Kap. 4.2.2.
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Rechtsgeltung im Kategorischen Imperativ des Sittengesetzes. Eine solche Herleitung könnte das Rechtsprinzip jedoch lediglich im Sinne einer praktischen Klugheitsregel für eine verständig organisierte Lebensführung begründen bzw. dessen Geltung nur mit der bedingten Notwendigkeit hypothetischer Imperative erweisen; die Unbedingtheit der Rechtspflichten wäre so nicht zu begreifen 92 . Im Rahmen einer vom unbedingten Verbindlichkeitsanspruch des Rechtsimperativs abstrahierenden ›analytisch-rationalen‹ Beschreibungsperspektive ist angesichts der zu erwartenden subjektiv-negativen Folgen eines ungeregelten äußeren Willkürgebrauchs – so Kant – das koexistenztechnische Organisationsproblem eines rechtmäßigen Verhältnisses allseitiger äußerer Freiheit, d. h. »[d]as Problem der Staatserrichtung […] 93 , so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln […] auflösbar«, sofern diese nur über einen das Eigeninteresse klug-pragmatisch verwaltenden »Verstand«, d. h. instrumentelle Vernunft, verfügen (vgl. Frieden, KW VI, 224) 94 . Im Unterschied zu dieser abstrahierenden Beschreibungsperspektive besitzt der vollständige »Begriff des Rechts«, der »sich auf eine ihm korrespondierende Verbindlichkeit bezieht«, jedoch eine »moralische«, kategorisch verpflichtende Innenseite (RL, KW IV, 337). Es wäre daher begründungslogisch prinzipiell verfehlt, aus der für rechtliche Verhaltensmuster charakteristischen Möglichkeit einer motivationstheoretischen und verwirklichungstechnischen Unabhängigkeit von sittlich-spontaner Vernunftkausalität auf eine verbindlichkeitstheoretische Unabhängigkeit des Rechtsprinzips von der in den Grundlegungsschriften entwickelten Theorie der Selbstgesetzgebung (Autonomie) des vernünftigen Willens zu schließen 95 . Diese erstmals Vgl. dazu auch Kühl 1984, S. 103. Dieses hier nur im Sinne einer empirisch-ordnungspraktischen Selbsterhaltungslogik zu verstehende Problem besteht allgemein gesprochen darin, eine »Menge von vernünftigen Wesen, die insgesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten« (Frieden, KW VI, 224). 94 Vgl. dazu Kersting 2004b, S. 31–36. Wie Kersting zutreffend bemerkt, kann das Rechtsgesetz zwar wie ein hypothetischer Imperativ befolgt werden; daraus ist jedoch »nicht abzuleiten, daß es ein hypothetischer Imperativ ist« (Kersting 1993, S. 104). 95 Vgl. Kersting 2004a, S. 285; Kersting 2004b, S. 35. »Der Staat, den selbsterhaltungs92 93
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explizit von K. Reich vertretene und im Anschluss daran von J. Ebbinghaus in mehreren Veröffentlichungen entfaltete These, wonach »der Rationalismus der Rechtslehre […] gewiss nicht auf das Prinzip der Autonomie des Willens« führt 96 , so dass »[d]as Problem der Freiheit des Willens […] erst jenseits der Rechtslehre« »beginnt« 97 , widerspricht ausdrücklich der von Kant wiederholt vertretenen Behauptung eines gemeinsamen verbindlichkeitstheoretischen Ursprungs von Ethik und Recht im Kategorischen Imperativ des Sittengesetzes als dem Erkenntnisgrund positiver Freiheit. Die Richtigkeit jener sog. Unabhängigkeitsthese hätte somit »den völligen Verzicht auf den systematischen Zusammenhang der praktischen Philosophie Kants im ganzen« zur Folge 98. Schon aufgrund des für die Metaphysik der Sitten einschlägigen Bezugs der Begriffe »Moral« und »moralisch« auf die Rechtslehre sowie angesichts des Beginns von Lehrsatz IV der Kritik interessierte teuflisch-bösartige Amoralisten errichten können, darf daher nicht mit dem rechtlich notwendigen Staat der Kantischen Rechtsmetaphysik verwechselt werden, den zu errichten die Menschen verpflichtet sind« (ebd., S. 32; Hervorheb. v. m.). Vgl. auch Böckerstette 1982, S. 274: »Bei einem ›Volk von Teufeln‹ entfällt […] die Ethik und mit ihr das Naturrecht als Konstitutionsgrund des Rechts.« Es ist eine schwerwiegende – und eine im Hinblick auf sein allgemeines Verständnis der Kantischen (Rechts-)Philosophie völlig unverständliche – Fehlinterpretation, wenn O. Höffe mit Bezug auf die oben zitierte Passage der Friedensschrift annimmt, dass Kant »das Selbstinteresse eines jeden zur Legitimationsgrundlage von Staatsverhältnissen«, ja »für das Recht insgesamt« mache (Höffe 1990a, S. 79 f.; Hervorheb. v. m.). Der legitimationstheoretische Status des Kantischen Rechtsbegriffs wird eben nicht auf dem analytischen Niveau selbstinteressierter pragmatischer Rationalität begründet, sondern ist nach Kant in der reinen praktischen gesetzgebenden Vernunft verankert. 96 Vgl. Reich 1936, S. 17 f. 97 Ebbinghaus 1968b, S. 114. Nach J. Ebbinghaus sind die von Kant »aufgestellten Gesetze des Rechtes in ihrer möglichen objektiven Geltung ganz unabhängig […] von der Zulässigkeit der kantischen Annahme der Möglichkeit eines Handelns des Menschen unter rein intelligiblen Bedingungen. Es heißt m. a. W. diese Geltung würde auch dann noch bestehen, wenn sich die von der Kritik verfochtene Einschränkung der Naturgesetzlichkeit auf Erscheinungen als irrig erweisen sollte« (ebd., S. 111). Kants Rechtslehre sei von der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft »ganz unabhängig«, da sie im Unterschied zur Ethik »den Begriff der inneren Freiheit« nicht voraussetze (vgl. Ebbinghaus 1988a, S. 232; damit übereinstimmend vgl. auch ebd., S. 241–243; Ebbinghaus 1986c, S. 418; Ebbinghaus 1968d, S. 306; Ebbinghaus 1988b, S. 296–299). Für eine gründliche Erörterung und systematische Zurückweisung der Ebbinghaus-These vgl. Scholz 1972, S. XVII–XX, S. 187–200; Kühl 1984, S. 63–110. Zur Kritik an Ebbinghaus vgl. auch Kersting 1993, S. 136–142 sowie Tretter 1997. 98 Vgl. Oberer 1997, S. 178. Vgl. auch Oberer 1986, S. 118 f.; Oberer 1988, S. 370–374.
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der praktischen Vernunft 99 ist die auch in jüngerer Zeit von einigen Kantinterpreten 100 vertretene Auffassung einer geltungstheoretischen Independenz der Rechtslehre von sittlicher Autonomie als »Freiheit im positiven Verstande« (KpV, KW IV, 144) sowohl unter philologischen wie systematischen Gesichtspunkten unhaltbar 101. Denn hinter dem analogisch in einem physikalischen Ordnungsmodell darstellbaren Rechtsverhältnis wechselseitig erzwingbarer Handlungen – d. h. hinter der von Kant vorgetragenen »Analogie zwischen dem rechtlichen Verhältnisse menschlicher Handlungen und dem mechanischen Verhältnisse der bewegenden Kräfte« (Prolegomena, KW III, 233 Anm.) 102 – 99 Vgl. KpV, KW IV, 144: »Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller [!] moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten« – wohlgemerkt – schon der Pflichten und nicht erst ihrer ethischen Erfüllbarkeit (vgl. Kersting 1993, S. 139). Vgl. auch Grundlegung, KW IV, 74 f. 100 Zuletzt hat sich insbesondere G. Geismann um eine Rehabilitierung der von J. Ebbinghaus vertretenen Ansichten zum systematischen Verhältnis zwischen der Ethik und Rechtslehre Kants bemüht (vgl. Geismann 2006, insbes. S. 5, Anm. 9, S. 61–88 u. S. 119–124). 101 So auch Ludwig 1988, S. 85, Anm. 6 u. S. 100 f., Anm. 32; Kersting 2004, S. 35 f. W. Kersting zufolge unterscheiden die Anhänger der Reich-Ebbinghaus-These »nicht hinreichend zwischen der Willensfreiheit als der Seins- und Geltungsgrundlage der Gesetze reiner praktischer Vernunft und der Willensfreiheit als Konstitutionsbedingung von Moralität« (Kersting 1993, S. 141, Anm. 63). F. Kaulbach verweist darauf, dass bereits aus dem Titel »Metaphysik der Sitten« »die Absicht der Einfügung von Rechtsphilosophie und Tugendlehre in ein philosophisches Programm zu erkennen ist, welches auf einen Aufbau dieser Disziplinen auf dem Boden der in den Kritiken gelegten transzendentalphilosophischen Grundlagen ausgeht« (Kaulbach 1982, S. 9; vgl. RL, KW IV, 309). Im weiteren Verlauf seiner Erörterungen versucht Kaulbach, »den unmittelbaren Zusammenhang des in der Rechtslehre aktuellen Freiheitsbegriffs mit dem Freiheitsbegriff der transzendentalen Konstellation« exemplarisch anhand der für Kants Eigentumslehre zentralen Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Besitz zu begründen (vgl. ebd., S. 82–87; vgl. dazu auch Brandt 1974, S. 182, Anm. 8; s. u. Kap. 4.2.2). Eine gegenüber diesem Begründungsweg in systematischer Hinsicht vorrangige geltungstheoretische Abhängigkeit der Rechtslehre vom transzendentalen Freiheitsbegriff lässt sich allerdings – wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll – schon über das für die Rechtslehre insgesamt zentrale Problem der Rechtfertigung einer rechtlichen Zwangsbefugnis nachweisen. 102 Zur Veranschaulichung der vom strikten Rechtsbegriff entworfenen Sozialordnung hat Kant wiederholt darauf verwiesen, dass die rein äußerliche, objektivierbare Seite des Rechtsverhältnisses sich symbolisch als ein physikalisches Bewegungssystem konstruieren lässt, das sich nach Newtons drittem mechanischen »Gesetze der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung« (RL, KW IV, 340) »wie ein Automat […] selbst erhalten kann« (Idee, KW VI, 43). Aufgrund der den strikten Rechtsbegriff bestimmenden Momente der Gesinnungsneutralität und Erzwingbarkeit kann demnach die durch ihn er-
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steht als verbindlichkeitstheoretische Voraussetzung das praktische Verhältnis vernünftiger Willenssubjekte als Personen, denen »Freiheit […] unter moralischen Gesetzen« zukommt (RL, KW IV, 329 f.). Nicht nur in der Ethik, sondern auch im »rechtlichen Verhältnis auf andere« (ebd., 410) ist Kant zufolge jeder Mensch als »Persönlichkeit […], d. i. als mit innerer Freiheit begabtes« und nur insofern überhaupt »der Verpflichtung fähiges« »Wesen (homo noumenon)« zu betrachten (TL, KW IV, 550; vgl. auch ebd., 568 f.; s. u. Kap. 3.2.4). Das moralische Rechtsgesetz ist daher kein »pragmatische[s] Gesetz[.] des freien Verhaltens zu[r] Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke« (vgl. KrV A 800, B 828); Kants Rechtslehre ist keine Klugheitsregeln folgende Sozialphysik 103 . Sofern das Rechtsgesetz gedacht wird als ein praktisches Gesetz im strengen Wortsinne, erfordert sein kategorischer Verbindlichkeitsanspruch die im »Faktum der reinen Vernunft« in praktischer Hinsicht erkannte »Freiheit im strengsten, d. i. transzendentalen Verstande« (KpV, KW IV, 138) als Seins- und Geltungsgrund (»ratio essendi«; vgl. ebd., 108 Anm.; s. o. Kap. 1.3) – und zwar nicht nur insofern, als die Rechtspflichten indirekt ethische Pflichten sind, sondern auch im Hinblick auf das Rechtsgesetz als solches 104. Kant hat dieses Implikationsverhältnis in der Rechtslehre ausmöglichte äußere Freiheitsordnung in Analogie zu den Prinzipien der Naturphilosophie Newtons auch illustrativ als ein sich selbst tragender Wechselwirkungszusammenhang von Körpern beschrieben werden. Mit dieser »Analogie zwischen dem rechtlichen Verhältnisse menschlicher Handlungen, und dem mechanischen Verhältnisse der bewegenden Kräfte« (Prolegomena, KW III, 233 Anm.) ist der »moralische Begriff« des Rechts (RL, KW IV, 337) allerdings keineswegs begründet. Unter »Analogie« versteht Kant in diesem Zusammenhang (vgl. auch RL, KW IV, 340) ausdrücklich keine »unvollkommene Ähnlichkeit zweener Dinge, sondern eine vollkommne Ähnlichkeit zweener Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen« (Prolegomena, KW III, 233). Die mit diesem »Verhältnisbegriff« ausgedrückte strukturelle Vergleichbarkeit zwischen dem physikalischen Wechselwirkungszusammenhang körperlicher Dinge und zwischenmenschlichen Rechtsverhältnissen besteht darin, dass »ich […] gegen einen andern niemals etwas tun [kann], ohne ihm ein Recht zu geben, unter den nämlichen Bedingungen eben dasselbe gegen mich zu tun; eben so wie kein Körper auf einen andern mit seiner bewegenden Kraft wirken kann, ohne dadurch zu verursachen, daß der andre ihm eben so viel entgegen wirke. Hier sind Recht und bewegende Kraft ganz unähnliche Dinge, aber in ihrem Verhältnisse ist doch völlige Ähnlichkeit« (Prolegomena, KW III, 233 Anm). Vgl. dazu Kaulbach 1982, S. 80 f.; Kersting 1993, S. 107–111; Kersting 2004b, S. 18 f.; Schattenmann 2006, S. 67–71. 103 Kersting 1993, S. 108. 104 Vgl. Scholz 1972, S. 197–199.
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drücklich betont. Zur Beantwortung der Frage, warum »die Sittenlehre (Moral)« traditionell – insbesondere im Anschluss an Cicero – als »Lehre von den Pflichten und nicht auch von den Rechten« verstanden wird, obwohl »doch die einen sich auf die andern beziehen«, stellt er fest: »Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann« (RL, KW IV, 347).
Und in aller Deutlichkeit heißt es in der Friedensschrift: »[W]enn es keine Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz gibt, sondern alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanism der Natur ist, so ist […] der Rechtsbegriff ein sachleerer Gedanke« (Frieden, KW VI, 232) 105 .
Kehren wir nun vom Moralitätsverzicht der juridischen Vernunftgesetzgebung zurück zum Problem der Erzwingbarkeit von Rechtspflichten. Kant erhebt den Anspruch, dass das in transzendentaler Freiheit fundierte »moralische Gesetz« als »oberste[r] Grundsatz der Sittenlehre« (RL, KW IV, 332) die verbindlichkeitstheoretische Grundlage einerseits eines inneren Zwanges zur Befolgung der ethischen Pflichten und andererseits eines äußeren Zwanges zur Befolgung der spezifischen Rechtspflichten sei, wodurch jeweils die innere bzw. äußere Willkürfreiheit gesetzlich bestimmt und damit realisiert werden soll: »Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein. Der moralische Imperativ verkündigt durch seinen kategorischen Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang« (TL, KW IV, 508). »Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich 106 ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht« (ebd., 512). Vgl. auch AA XVIII, 689 f.: »Daß das practische Erkentnis aus Vernunft […] nur durch den Pflichtbegriff gebieten könne, welches den Begriff der Freyheit, der nur durch diesen Imperativ erkannt werden kann, begründet. – Mit diesem [Begriff der Freiheit; O. L.] nun wird Rechtslehre (und die darin anzutreffende Staats- und Völkerrechtslehre) […] begründet.« 106 Der Ausdruck »moralisch-möglich« ist gemäß Kants Definition in den »Vorbegriffe[n] zur Metaphysik der Sitten« ein Synonym für »erlaubt« (RL, KW IV, 327). 105
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Wenn demnach der zur Verwirklichung von Rechtsgesetzen eingesetzte bzw. zu erleidende äußere Zwang zugleich als moralisch legitim aufgefasst werden und nicht bloße Gewalt sein soll, müsste die Erlaubnis zu seiner Ausübung aus dem Sittengesetz als dem Verbindlichkeit stiftenden Prinzip des Willens – d. h. »des Willens überhaupt, der auch der Wille anderer sein könnte« 107 – hervorgehen 108 . »Wenn eine Zwangshandlung sittlich zulässig sein soll, muß sie den moralisch Mögliches von moralisch Unmöglichem scheidenden Kriterien des Grundgesetzes der reinen Vernunft entsprechen, muß sie den Universalisierungstest bestehen, also als allgemeines Gesetz gewollt werden können.« 109
Aber in welchem begründungslogischen Verhältnis zur Grundformel des Kategorischen Imperativs steht das mit dem strikten Rechtsbegriff verknüpfte »Prinzip der Möglichkeit eines äußeren Zwanges« (RL, KW Vgl. TL, KW IV, 519: »Der Pflichtbegriff steht unmittelbar in Beziehung auf ein Gesetz […]; wie denn das formale Prinzip der Pflicht im kategorischen Imperativ: ›handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne‹, es schon anzeigt; nur daß in der Ethik dieses als das Gesetz deines eigenen Willens gedacht wird, nicht des Willens überhaupt, der auch der Wille anderer sein könnte: wo es alsdenn eine Rechtspflicht abgeben würde, die nicht in das Feld der Ethik gehört«. Vgl. auch AA XXIII, 344: »Das Recht ist das Vermögen, durch seine Willkühr einen andern zu verpflichten.« Gleichwohl ist nach Kant die ethische Selbstverpflichtung der rechtlichen Fremdverpflichtung logisch vorgeordnet, denn »ich kann mich gegen andere nicht für verbunden erkennen, als nur so fern ich zugleich mich selbst verbinde; weil das Gesetz, kraft dessen ich mich für verbunden achte, in allen Fällen aus meiner eigenen praktischen Vernunft hervorgeht, durch welche ich genötigt werde, indem ich zugleich der Nötigende in Ansehung meiner selbst bin« (TL, KW IV, 549 f.). Im Sinne der geltungstheoretischen Abhängigkeit des Rechts von der Ethik ist die Bedingung der Möglichkeit der Selbstverpflichtung zugleich auch die Bedingung der Möglichkeit der Fremdverpflichtung. Mit anderen Worten: Auch in der Rechtslehre muss an dem Konzept reiner praktischer Vernunft und sittlich-positiver Freiheit festgehalten werden. Vgl. Kersting 1993, S. 185 f.; s. u. Kap. 3.2.4. 108 Vgl. Gregor 1990, S. XXXVII f. Da »Verbindlichkeit« nach Kant »die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft« bezeichnet (RL, KW IV, 327), muss auch die rechtliche Zwangsbefugnis, wenn sie absolute Verbindlichkeit beanspruchen will, »unter« dem kategorischen Imperativ stehen. 109 Kersting 1990, S. 67; vgl. auch Kersting 1993, S. 128 sowie Kersting 2004b, S. 41. Kersting vertritt mit G. Scholz (vgl. Scholz 1972, S. 208 f.) den Standpunkt, dass sich die rechtliche Zwangsbefugnis mit der Allgemeinen-Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs begründen lässt. Diese Auffassung wird sich im Folgenden jedoch als problematisch erweisen. 107
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IV, 339)? Inwieweit kann der nach Kant die Autonomie reiner praktischer Vernunft verbürgende »moralische Imperativ« der AllgemeinenGesetzes-Formel zugleich die geltungstheoretische Grundlage für eine erzwingbare Fremdverpflichtung sein? Wie kann der auf die tätliche Unrechtsabwehr beschränkte Rechtszwang an der nach Kant durch das Sittengesetz begründeten Verbindlichkeit partizipieren? Kant selbst hat sich zu diesen Fragen an keiner Stelle seiner Druckschriften explizit geäußert. Ihre Beantwortung stellt vor schwerwiegende begründungstheoretische Probleme, auf die im Folgenden näher einzugehen ist. Wie die argumentative Rekonstruktion des Beispielkataloges der Grundlegung gezeigt hat, soll durch die Anwendung der »allgemeine[n] Formel des kategorischen Imperativs« (Grundlegung, KW IV, 70) auf eine Handlungsmaxime geprüft werden, ob entweder (wie im Beispiel des lügenhaften Versprechens) genau die mit ihr intendierte Zweckverwirklichung oder (wie im Beispiel der Gleichgültigkeit gegenüber Notleidenden) überhaupt die Realisierung elementarer und unaufgebbarer Zielsetzungen des sich selbst bejahenden Willens vereitelt würden, wenn jeder nach der – aus diesem Grund unsittlichen – Maxime handelt (s. o. Kap. 2). Die Universalisierung des allgemeinen Grundsatzes, die Handlungsfreiheit anderer Personen durch die Androhung bzw. Ausübung physischer Gewalt nach Gutdünken einzuschränken, führt insofern in einen solchen praktischen Wollenswiderspruch, als der Inhaber dieser Maxime im Falle ihrer allgemeingesetzlichen Geltung ständig damit rechnen muss, selber als das Opfer solcher Angriffe seiner Freiheitsspielräume beraubt zu werden. Diese strukturelle Einschränkung seiner Handlungsfreiheit kann der Mensch jedoch nicht widerspruchsfrei wollen, da sie die ihn als Vernunftwesen auszeichnende Fähigkeit, selbstgesetzte Zwecke zu realisieren, fundamental bedroht. Spezifiziert man hingegen eine Maxime, die im wesentlichen einen tätlichen Angriff auf die Freiheit anderer Menschen enthält, in dem Sinne, dass man in ihre Formulierung die detaillierten Umstände der jeweiligen konkreten Handlungssituation einbezieht, führt der Universalisierungstest nicht in jedem Fall in einen praktischen Selbstwiderspruch; vielmehr gelangt man in Abhängigkeit von den in einer solchen Maxime mitformulierten situativen Handlungsbedingungen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Einerseits lässt sich mit der Allgemeinen-Gesetzes-Formel beispielsweise die gemeinhin akzeptierte (oder aus der Perspektive unseres natürlichen Moralbewusstseins zumindest nicht generell zu bestreitende) Legitimität der A
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Maxime begründen, einen ›auf frischer Tat ertappten‹ Rechtsbrecher gewaltsam an der Flucht bzw. Fortsetzung von Unrechtshandlungen zu hindern: Die Realisierung dieser spezifizierten Maxime wird nicht dadurch unmöglich, dass sie den Status eines allgemeinen Gesetzes besitzt 110 . Andererseits lassen sich auch Beispielfälle für relativ ›eng‹ formulierte Maximen körperlicher Zwangshandlungen finden, die wir intuitiv für eindeutig unmoralisch halten, die den Universalisierungstest aber dennoch bestehen – deren Verfolgung im Falle ihrer allgemeingesetzlichen Praxis also nicht in einem praktischen Widerspruch mündet. S. Rapic veranschaulicht diesen, bereits im Zusammenhang mit dem Relativismusproblem der Allgemeinen-GesetzesFormel diskutierten Sachverhalt (s. o. Kap. 2.2) an folgendem (konstruierten) Beispiel: »Es ist vorstellbar, dass in einer archaischen Kultur, in der allgemein erwartet wird, dass die Heranwachsenden zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre eigene Familie gründen, Eltern ihre Kinder einsperren, falls sich diese beharrlich weigern zu heiraten. Die Eltern, die ihre Kinder in dieser Weise unter Druck setzen, können durchaus wollen, dass ihre Maxime den Status eines allgemeinen Gesetzes erlangt; ihren Absichten wäre hiermit sogar gedient, da zu erwarten ist, dass sich durch die universelle Gültigkeit ihrer Maxime die Zahl der heiratsunwilligen Heranwachsenden insgesamt verringert, somit die Auswahl potentieller Heiratskandidaten für ihre eigenen Kinder wächst – und dementsprechend die Chance steigt, dass diese einen Partner kennen lernen, der ihnen gefällt.« 111
Durch die Anwendung der Allgemeinen-Gesetzes-Formel auf Handlungsmaximen, die konkrete Situationsbedingungen in ihre Formulierung aufnehmen, droht daher das generelle Verbot von »Angriffen auf [die] Freiheit […] anderer« (Grundlegung, KW IV, 62) in ähnlicher Weise relativiert zu werden wie das von Kant ebenfalls vertretene absolute Mordverbot (RL, KW IV, 441 f. Anm.; s. o. S. 159–162). Die These Kants, dass die mit dem Rechtsbegriff einhergehende Zwangsbefugnis durch den »moralischen Imperativ« »verkündet« wird bzw. aus ihm »entwickelt werden kann«, führt mithin zu folgender 110 Diese rechtliche Zwangsbefugnis wird beispielsweise auch durch die deutsche Strafprozessordnung (StPO) jedermann zugestanden: »Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen« (§ 127 Abs. 1 StPO). 111 Rapic 2007, S. 458 f.
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Problemstellung: Da die Allgemeine-Gesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs selbst nicht festlegt, auf welchen Allgemeinheitsgrad von mit Maximen verfolgten Handlungsabsichten sie angewendet werden soll 112 , lässt sich durch sie auch nicht die Beschränkung einer moralisch-möglichen Zwangsbefugnis auf die für das Recht charakteristische Teilmenge von Handlungen begründen. Was verbindlichkeitstheoretisch nachgewiesen werden muss, ist aber, warum äußerer Zwang nur zur Verhinderung von Unrechtshandlungen, die andere in ihrer gesetzlichen äußeren Willkürfreiheit einschränken, angewendet werden darf. Dieser Nachweis bleibt offenbar einer ›formalistischen‹ Argumentation verwehrt, die von den Persönlichkeitsrechten der Subjekte legitimen Zwangs absieht 113 . Die entscheidende Frage ist nun, ob und inwiefern im Rahmen der Ethik Kants ein ›materiales‹ Legitimitätskriterium entwickelt werden kann, das es gestattet, ausschließlich für diejenigen Zwangshandlungen eine Ausnahme von dem in der Gesetzesformel verankerten generellen Verbot der Freiheitsberaubung in Anspruch zu nehmen, die zur Abwehr von Rechtsbrüchen eingesetzt werden. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, lässt sich ein solches Kriterium anhand einer – von Kant in der »Einleitung in die Rechtslehre« implizit zugrunde gelegten – Neubestimmung des Verhältnisses von Allgemeiner-Gesetzes-Formel und Selbstzweckformel gewinnen, welche die letztere gegenüber erstgenannter aufwertet. In diesem Zusammenhang ist auch die von W. Kersting vertretene These zurückzuweisen, wonach »ein immanenter Übergang von der Moralphilosophie zur Rechtsphilosophie […] nicht möglich« sei, das Zwangsthema vielmehr »von außen an die Lehre von der gesetzgebenden praktischen Vernunft herangetragen« werde müsse 114. Für Kersting führt der »Gedankenweg […] nicht von der sittlichen Freiheit zum äußeren Zwang, sondern […] vom Zwang zu den allgemeinen Bedingungen seiner legitimen Handhabung« 115 : Angesichts der TatsaVgl. Ross 1954, S. 33. Vgl. Steigleder 2002, S. 154 f. 114 Kersting 2004b, S. 40. Vgl. auch Kersting 1990, S. 67; Kersting 1993, S. 127. Mit dieser Einschätzung stimmt Kersting der sog. Unabhängigkeitsthese unter sachlichen Gesichtspunkten partiell zu. »[D]as Gesetz der Autonomie als ethisches Gesetz der inneren Freiheit« kann auch nach Ebbinghaus »nicht einen Grund für möglichen äußeren Zwang enthalten« (vgl. Ebbinghaus 1988a, S. 241 f.). 115 Kersting 2004b, S. 40. Vgl. auch ebd., S. 37. 112 113
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che, dass äußerer Zwang faktisch zur Abwehr von Rechtsbrüchen eingesetzt wird, stellt sich für Kersting also die Frage nach dessen moralischer Legitimität. Allerdings ist der von Kersting eingeschlagene Weg – entgegen seiner Behauptung – eben nicht der Weg, den Kant geht. Denn es ist nach Kant ausdrücklich die gesetzgebende Vernunft selbst, die »sagt […], daß [die Willkürfreiheit] […] von andern auch tätlich eingeschränkt werden dürfe« (RL, KW IV, 338): Ein »Verhältnis freier Menschen« kann »(unbeschadet ihrer Freiheit im Ganzen ihrer Verbindung mit anderen) doch unter Zwangsgesetzen stehen: weil die Vernunft selbst es so will, und zwar die reine a priori gesetzgebende Vernunft« (Gemeinspruch, KW VI, 144 f.) 116 . Die praktische Vernunft scheint nach Kant mithin sehr wohl eine Veranlassung zu haben, für die Befolgung ihrer juridischen Gesetze die Möglichkeit der Androhung und Anwendung von äußerem Zwang zuzulassen 117 . Sieht man einmal von dem Randproblem ab, dass selbst eine unter den Menschen umfassend ausgebreitete sittliche Gesinnung rechtsrelevante Handlungskonflikte nicht prinzipiell ausschließen könnte (s. o. S. 185 f.), so muss der »Anlass« für die zu erleidende Zwangsausübung aus der Perspektive des zurechnungsfähigen Rechtsbrechers sicherlich »außerhalb der moralischen Vernunft gesucht werden« 118 . Geht man allerdings von den persönlichen Ansprüchen des durch sein angeborenes Recht auf Willkürfreiheit Berechtigten, d. h. vom Standpunkt des Inhabers einer rechtlichen Zwangsbefugnis aus, dann führt von der praktischen Vernunft durchaus – anders als Kersting behauptet – ein »direkter Weg zum äußeren Zwang« 119 .
3.2.4 Die verbindlichkeitstheoretische Fundierung der rechtlichen Zwangsbefugnis in der Würde der Persönlichkeit Unmittelbar vor »Der Rechtslehre Erster Teil« – dem Privatrecht – nimmt Kant eine »Einteilung der Metaphysik der Sitten überhaupt« 116 Vgl. auch Frieden, KW VI, 235: »[D]ie Begriffe der Vernunft [wollen] einen nur nach Freiheitsprinzipien gesetzmäßigen Zwang begründet wissen, durch welchen allererst eine zu Recht beständige Staatsverfassung möglich ist.« 117 Vgl. dagegen Kersting 2004b, S. 37. 118 In dieser Hinsicht ist Kersting 1993, S. 126 zuzustimmen. 119 Vgl. Kersting 2004b, S. 37; Kersting 1993, S. 126 f. Ich folge hier Steigleder 2002, S. 153.
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vor (RL, KW IV, 347 f.). In dem entsprechenden Abschnitt findet sich unter Punkt II eine schematische Einteilung aller Pflichten »nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht«. Die Unterscheidung der Pflichtarten erfolgt dabei durch die Begriffe »Recht« und »Zweck«. Darüber hinaus werden die Pflichtarten in zweierlei Hinsicht auf den Menschen bezogen: einmal auf den Menschen »nach der Eigenschaft seines Freiheitsvermögens«, d. h. nach seiner »Menschheit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit (homo noumenon)«; sodann auf den Menschen »als mit jenen [physischen] Bestimmungen behaftete[s] Subjekt […] (homo phaenomenon)«. Die genannte Einteilung enthält damit vier Positionen (vgl. RL, KW IV, 348): »1. Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person« [homo noumenon; O. L.] »2. Das Recht der Menschen« [homo phaenomenon; O. L.] »3. Der Zweck der Menschheit in unserer Person« [homo noumenon; O. L.] »4. Der Zweck der Menschen« [homo phaenomenon; O. L.]
Die ersten beiden Positionen begründen nach Kant Rechtspflichten, die letzten beiden Tugendpflichten. Erweitert wird das tabellarische Schema durch die bekannten pflichtensystematischen Differenzierungen »vollkommene Pflicht – unvollkommene Pflicht« und »Pflicht gegen sich selbst – Pflicht gegen andere«. Rechtspflichten und vollkommene Pflichten sowie Tugendpflichten und unvollkommene Pflichten werden hier als jeweils extensional gleichbedeutend dargestellt (vgl. dazu aber oben Anm. 21). Ferner begründet das mit dem »homo noumenon« verknüpfte »Recht der Menschheit in unserer eigenen Person« laut dieser Einteilung eine »vollkommene« »Pflicht gegen sich selbst«, die ausdrücklich als »Rechtspflicht« ausgewiesen wird 120 . Diese »innere« »Rechtspflicht […]« (RL, KW IV, 345) stellt Kant im Rahmen seiner
120 Vgl. auch die Vigilantius-Mitschrift von Kants Vorlesung über »Metaphysik der Sitten« von 1793/94, wo das gleiche Einteilungsschema präsentiert wird wie später in der »Einleitung in die Rechtslehre« (AA XXVII, 579–587). Demnach sind Rechtspflichten nicht eo ipso äußerlich erzwingbare Pflichten: »[E]s giebt Rechtspflichten oder officia stricta, zu denen man gezwungen werden kann, ohne dass ein anderer mich zwingen kann« (ebd., 581). Daher gebe es »Rechtspflichten sowohl gegen mich selbst als gegen andere«; erstere heißen »innere« Rechtspflichten (»officia iuris interna«), letztere »äußere« Rechtspflichten (»officia iuris externa«). Nur die äußeren Rechtspflichten – die ich gegenüber anderen habe –, sind »Zwangspflichten oder eigentliche officia juridica« (ebd., 582).
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»Allgemeine[n] Einteilung der Rechtspflichten« näher vor (ebd., 344 f.). Er orientiert sich bei dieser Einteilung an den »drei klassische[n] Formeln« des römischen Juristen Ulpian, denen er »einen Sinn unterlegt, den [Ulpian] sich dabei zwar nicht deutlich gedacht haben mag, den sie aber doch verstatten daraus zu entwickeln oder hinein zu legen« (ebd., 344). Kants Adaption der drei Formeln, die er in der »Einleitung in die Rechtslehre« ohne jede argumentative Hinführung als »Einteilungsprinzipien des Systems der Rechtspflichten« (ebd., 345) präsentiert, lautet folgendermaßen: »1) Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)«; »2) Tue niemandem Unrecht (neminem laede)« und »3) Tritt […] in eine Gesellschaft mit andern, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann (suum cuique tribue)«.
Das »neminem laede« bezeichnet die ursprüngliche Rechtspflicht gegen andere Menschen im Naturzustand 121 ; das »suum cuique tribue« bezieht sich auf den äußeren (bürgerlichen) Zustand, in den alle Menschen miteinander (aufgrund ihres angeborenen Rechts auf allgemeingesetzlichen äußeren Freiheitsgebrauch) eintreten müssen 122 . Während das »neminem laede« und das »suum cuique tribue« also äußere, einander geschuldete Rechtspflichten darstellen, bezeichnet das »honeste vive« ein innersubjektives Recht-Pflicht-Verhältnis. Als Subjekt einer selbstbezogenen Rechtspflicht stellt sich der Mensch zugleich so121 Dass die »äußere Pflichterfüllungsbedingung« – d. h. der äußere Zustand, in dem die Menschen handeln (vgl. Kersting 1993, S. 221 f.) – hier der Naturzustand ist, wird daran deutlich, dass Kant ergänzt: »… und solltest du darüber auch aus aller Verbindung mit andern heraus gehen und alle Gesellschaft meiden müssen« (RL, KW IV, 344). In der Vigilantius-Vorlesungsnachschrift wie auch in den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten heißt es explizit: »In statu naturali ist Jedermann im Zustand seines Privatrechts; er bestimmt sein und die Rechte Anderer Menschen nach eigenem Urtheil […]. Hieher kann man das Princip: neminem laede, ziehen« (AA XXVII, 528; vgl. auch AA XXIII, 386). 122 Auf das Folgende vorausblickend sei schon hier darauf hingewiesen, dass in dieser Einteilung ursprünglicher Verpflichtungsverhältnisse, in denen Personen unter Koexistenzbedingungen praktisch notwendig stehen, der rechtliche Bezug auf Sachen (d. h. das Eigentumsrecht) keinerlei Rolle spielt. Wie in Kapitel 4.2.1 gezeigt werden soll, liegt bereits mit der »Allgemeine[n] Einteilung der Rechtspflichten« eine für sich hinreichende Begründung der Notwendigkeit eines rechtlichen Zustands vor. Da Kant hier aber keinerlei Bezug auf das Prinzip des allgemeinen Willens nimmt, bleibt zunächst noch offen, welche Staatsform bzw. Regierungsart der Zustand, in dem jedem das Seine gesichert werden kann, annehmen soll. Vgl. dazu insbes. Friedrich 2004, S. 68–73, 157–181.
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wohl als Träger des Rechts wie auch als Träger der korrespondierenden Rechtspflicht vor. Die Möglichkeit von Pflichten gegen sich selbst überhaupt (sowohl der rechtlichen wie auch der spezifisch ethischen) liegt nach Kant darin begründet, dass »der Mensch [sich] in zweierlei Bedeutung betrachtet« (vgl. TL, KW IV, 550): Jedes innere Verpflichtungsverhältnis setzt demnach die Hinsichtenunterscheidung von »homo phaenomenon« – d. i. der Mensch als der empirisch-natürlichen Welt verhaftetes Vernunftwesen – und »homo noumenon« – d. i. der Mensch als mit intelligibler Freiheit begabte moralische Persönlichkeit – voraus. Die intelligible Qualität des Menschen wird auch die »Menschheit in seiner Person« genannt: »Der Mensch […], als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon), ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d. i. als mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet, so: daß der Mensch (in zweierlei Bedeutung betrachtet), ohne in Widerspruch mit sich zu geraten (weil der Begriff von Menschen nicht in einem und demselben Sinn gedacht wird), eine Pflicht gegen sich selbst anerkennen kann« (TL, KW IV, 550).
Der noumenale Mensch tritt hier als »der Verbindende (auctor obligationis)« dem phaenomenalen Menschen als dem »Verbundenen (subiectum obligationis)« in ein und derselben Person gegenüber (vgl. ebd., 549). »Das intelligibele Selbst ist nöthigend in Ansehung des Selbst in der Erscheinung« (Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, AA XXIII, 386). Die auch als »lex iusti« bezeichnete innere Rechtspflicht bezieht sich mithin auf ein Verhältnis der Selbstverpflichtung123 . Sie spricht nach Kant die praktische Notwendigkeit des Menschen aus, seine »rechtliche Ehrbarkeit« zu wahren (RL, KW IV, 344). Diese besteht darin,
123 Der »homo noumenon« tritt in dieser Relation an die Stelle des Berechtigten; der »homo phaenomenon« ist der Verpflichtete (vgl. Friedrich 2004, S. 65). Vgl. auch AA XXVII, 603: »Die Pflichten gegen sich selbst beziehen sich nicht auf den Menschen als ein physisches Subjekt, sondern jederzeit auf das Recht der Menschheit in seiner Person, oder das Recht was sie auf ihn und seine Person hat.«
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»im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ›mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck‹« (ebd.).
Kant kündigt an, er werde diese Pflicht »im folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person« erklären (ebd.). Diese Ankündigung bezieht sich auf das jedem Menschen »angeborne Recht«, dessen Bestimmung in der »Einleitung in die Rechtslehre« den drei grundlegenden Rechtspflichten nachgeordnet ist (vgl. ebd., 345 f.). Unsere Rechte teilen sich nach Kant »in das angeborne und erworbene Recht […], deren ersteres dasjenige Recht ist, welches, unabhängig von allem rechtlichen Akt, jedermann von Natur zukommt; das zweite das, wozu ein solcher Akt erfordert wird« (ebd., 345). Das »angeborene Recht« bezeichnet Kant auch als das »innere« bzw. angeborne Mein und Dein«; das »erworbene Recht« erstreckt sich demgegenüber auf das »äußere« Mein und Dein, d. h. auf individuelle äußere Besitzansprüche, die »jederzeit erworben werden« müssen (ebd.) 124 . Nach Kant ist das »angeborne Recht« des Menschen »nur ein einziges«; es besteht in dem jedermann zustehenden und unveräußerlichen Recht auf dasjenige Höchstmaß an Willkürfreiheit, das zugleich mit der Willkürfreiheit jedes anderen nach einem allgemeinen Gesetz vereinbar ist: »Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann« (ebd.) 125 . Diese rechtmäßige »Unabhängig124 Das »erworbene Recht« oder »äußere Mein und Dein« erörtert Kant im Privatrecht, das »angeborene« oder »innere Mein und Dein« in der »Einleitung in die Rechtslehre«. Der Sache nach gehört aber auch das »angeborene Recht« in das Privatrecht. Kant hat die »Obereinteilung« der jedem Subjekt zustehenden Rechte »in das angeborene und erworbene Recht« nur deshalb nicht im Privatrecht der Rechtslehre behandelt, weil das angeborene Recht angesichts seiner Einzigartigkeit nicht in Symmetrie zu den zahlreichen erworbenen Rechten zu bringen gewesen wäre: »Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein keine Rechte, sondern nur ein Recht gibt, so wird diese Obereinteilung als aus zwei dem Inhalte nach äußerst ungleichen Gliedern bestehend in die Prolegomenen geworfen, und die Einteilung der Rechtslehre bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen werden können« (RL, KW IV, 346). Dementsprechend wird auch das »angeborne Recht« selbst »in die Prolegomenen geworfen«, d. h. im Einleitungsteil abgehandelt. 125 Die rechtliche Freiheit des Willkürgebrauchs schließt gemäß der »Einleitung in die Rechtslehre« gleichwohl eine Reihe weiterer unverlierbarer Rechte bzw. »Befugnisse«
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keit« wäre aber sicherlich dann verletzt, wenn ein anderer mich in seinem äußeren Handeln als bloßes Mittel für seine Zwecke gebraucht, d. h. mir seine Willkür durch eine ungesetzliche Handlung äußerlich aufzwingt und mich auf diese Weise gewaltsam in meiner Möglichkeit einschränkt, selbstgesetzte Zwecke bzw. Maximen nach Maßgabe des Rechtsgesetzes zu realisieren. Dementsprechend ist die »Freyheit als Mensch nach dem angebohrnen Recht« gemäß den Vorarbeiten zum Gemeinspruch negativ dadurch definiert, »nicht der Willkühr Anderer blos als Mittel unterworfen zu seyn« (AA XXIII, 136). Und in den Vorein, die nach Kant zwar nicht den Status eines selbstständigen angeborenen Rechts haben, aber in diesem enthalten sind und nicht »als Glieder der Einteilung unter einem höheren Rechtsbegriff« (als dem des angeborenen Rechts) angesehen werden dürfen (vgl. RL, KW IV, 346). Vielmehr liegen »diese Befugnisse […] schon im Prinzip der angebornen Freiheit« begründet und sind von diesem gar nicht »wirklich […] unterschieden« (ebd.). So folgt aus der angeborenen Freiheit nach Kant die »angeborne Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann; mithin die Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein, imgleichen die eines unbescholtenen Menschen (iusti), weil er, vor allem rechtlichen Akt, keinem Unrecht getan hat; endlich auch die Befugnis, das gegen andere zu tun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert, wenn sie sich dessen nur nicht annehmen wollen; dergleichen ist, ihnen bloß seine Gedanken mitzuteilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig (veriloquium aut falsiloquium), weil es bloß auf ihnen beruht, ob sie ihm glauben wollen oder nicht« (ebd., 345 f.). Das Prinzip der »angeborne[n] Gleichheit« resultiert unmittelbar aus der Unterworfenheit aller Menschen unter dasselbe Rechtsgesetz; als wechselseitige Gleichheit vor dem Gesetz – und nicht etwa materiale (religiöse, kulturelle, ethnische etc.) Gleichheit – schließt sie jedwede rechtsbegründende Privilegierung a priori aus: Der Mensch als solcher kann in demselben Maße, in dem er andere dazu verpflichten kann, sein Recht zu respektieren, von diesen dazu verpflichtet werden, ihr Recht zu respektieren. Die Bestimmung, wonach jedem die angeborene »Qualität […] eines unbescholtenen Menschen« zukommt, insofern »er, vor allem rechtlichen Akt, keinem Unrecht getan hat«, besagt, dass der Mensch ausschließlich durch Handlungen Unrecht begehen kann, die ihm zugerechnet werden können (nur diese haben den Charakter »rechtliche[r] Akt[e]«; s. o. S. 182–185). Kants Begründung der These, dass die angeborene Freiheit auch die Befugnis impliziert, jemandem die »Unwahrheit zu sagen« (vgl. RL, KW IV, 346 m. Anm.), soll hier nicht erörtert werden; es ist lediglich festzuhalten, dass das »Prinzip der angeborenen Freiheit« nach Kant keine unbedingte Wahrhaftigkeit verlangt (vgl. dazu Rapic 2007, S. 466; Kersting 1993, S. 218 f., Anm. 226). Zum »angebornen Recht« und den daraus fließenden »Befugnissen« vgl. Ludwig 1988, S. 103 f.; Kersting 1993, S. 198–212; Kersting 2004b, S. 48–54 sowie Friedrich 2004, S. 73–87. A
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arbeiten zur Rechtslehre hebt Kant hervor, dass die »äußere Freyheit« – als »Unabhängigkeit des Menschen von der Willkühr Anderer« – jedes Individuum dazu berechtigt »nach seinen eigenen Zwecken handeln zu dürfen, d. i. nicht blos als Mittel zu irgend einem Zweck des Andern [zu] dienen« oder »genöthigt [zu] werden« (ebd., 341). Das angeborene Freiheitsrecht bildet damit das rechtliche, auf das äußere Handeln bezogene Korrelat der ethischen Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs (s. o. Kap. 2.1.2) 126 . Wie diese ist das angeborene Recht geltungstheoretisch eine direkte Folge der intelligiblen Freiheit: Es kommt laut der »Einleitung in die Rechtslehre« »jedem Menschen, kraft seiner Menschheit« (RL, KW IV, 345) zu, d. h. aufgrund seiner »von physischen Bestimmungen unabhängige[n] Persönlichkeit (homo noumenon)« (ebd., 347; vgl. dazu auch KpV, KW IV, 209–211) 127 . »[D]ie freye Willkühr der Person« steht mithin »selbst unter der Idee ihrer Persönlichkeit« (Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten AA XXIII, 390). Als »Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft […] (homo noumenon)« ist der Mensch »nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt« (TL, KW IV, 568 f.).
Auch und gerade in rechtlicher Hinsicht ist jeder Mensch »verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen« (ebd., 601); »die Bezeigung der Achtung vor dem Menschen als moralischen […] Wesen [ist] selbst eine Pflicht, die andere
126 »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (Grundlegung, KW IV, 61). Vgl. dazu Kersting 1993, S. 204; Brandt 2004, S. 201. 127 Wie B. Ludwig hervorhebt, wird das ursprüngliche und unveräußerliche Recht der Menschheit in der »Einleitung in die Rechtslehre« nicht aus dem allgemeinen Rechtsgesetz, sondern aus dem in intelligibler Freiheit gründenden Vernunftbegriff der »Menschheit« bzw. »Persönlichkeit« abgeleitet. Als dessen subjektiv-rechtliches Pendant steht das angeborene Recht mit dem objektiven Rechtgesetz »systematisch auf derselben Ebene« (vgl. Ludwig 1988, S. 104). Vgl. auch Kersting 1993, S. 201, Anm. 196: »Subjektives Recht und Rechtsgesetz sind gleichberechtigte Verpflichtungsinstanzen; jede Rechtspflicht ist durch das Rechtsgesetz und die subjektive Berechtigung in gleicher Weise begründbar. Recht, entwickelt als äußere Vernunftgesetzgebung, ist notwendige äußere Freiheitsordnung und Menschheitsrecht zugleich.« Vgl. dagegen Friedrich 2004, S. 78 f., für den der »Grund des angeborenen Rechts […] das Rechtsgesetz selbst« ist.
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gegen ihn haben, und ein Recht, worauf er den Anspruch nicht aufgeben kann« (ebd., 602; Hervorheb. v. m.) 128 . Die angeborene Willkürfreiheit bildet damit »als erfahrbare[s] Feld intelligibler Freiheit« die »Nahtstelle« bzw. das Bindeglied zwischen der noumenalen und der phänomenalen Sphäre 129. Indem Kant betont, dass das »angeborne Recht« auf »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür« »jedem Menschen, kraft seiner Menschheit« zukommt (RL, KW IV, 345), setzt er diesen negativen Freiheitsbegriff auf der einen Seite zur intelligiblen Freiheit als »Vermögen des […] bloß als Intelligenz betrachtet[en]« Menschen in Beziehung (ebd., 333). Auf der anderen Seite knüpft er mit der Feststellung, dass die rechtliche Freiheit auf die Bedingung eingeschränkt ist, dass »sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann« (ebd., 345), an das allgemeine Rechtsgesetz an, das den äußeren Willkürgebrauch im empirisch-sinnlichen Bereich regelt 130 . Dem einzigen angeborenen Recht korrespondiert nun mit der inneren Rechtspflicht eine Verbindlichkeit, die der Mensch »als vernünftiges Naturwesen« sich selbst gegenüber »als mit innerer Freiheit begabtes Wesen« hat (s. o.). Wenngleich »das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person« nach Kant »nicht verlangt, daß die Idee der Pflicht gegen sich selbst zugleich die Triebfeder der Handlungen sey« – es dementsprechend auch »nicht in die Tugendlehre« bzw. Ethik »gehört« (Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, AA XXIII, 390), so kann die mit der inneren Rechtspflicht zu verknüpfende Triebfeder doch nur eine der Achtung vor dem Gesetz analoge Achtung vor dem Recht der Menschheit in unserer eigenen Person sein 131 . Diese »Hochachtung« des »Recht[s] der Menschheit in uns selbst« gehört aber »nicht zur Tugendlehre, sondern zur Rechtslehre«, und zwar »als bloße einschränkende Bedingung« (Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, AA XXIII, 128 Menschheit, Würde und Persönlichkeit stehen in einem engen begrifflichen Verweisungszusammenhang und werden von Kant oft synonym gebraucht: »Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann [lies: darf; O. L.] von keinem Menschen (weder von anderen noch so gar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind, und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt« (TL, KW IV, 600 f.; vgl. Kersting 1993, S. 203 f. Anm.). 129 Vgl. Forschner 1974, S. 186. 130 Vgl. Rapic 2007, S. 464. 131 Vgl. Kersting 1993, S. 214; Friedrich 2004, S. 64 f.
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391). Bereits in der Grundlegung hatte Kant mit Bezug auf die Menschheit-als-Selbstzweck-Formel die These vertreten, dass »[d]ieses Prinzip der Menschheit […], als Zwecks an sich selbst […] die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist« (Grundlegung, KW IV, 63; Hervorheb. v. m.). In der Rechtslehre wird das Menschheitsprinzip nun insofern konkretisiert, als die dem Recht der Menschheit in der eigenen Person entspringende Selbstverpflichtung – d. h. die innere Rechtspflicht – der rechtlichen Fremdverpflichtung im Sinne einer Möglichkeitsbedingung geltungslogisch vorgeordnet ist. Ich kann nach Kant nur deshalb eine moralisch-rechtliche Verpflichtungsinstanz für andere bilden, weil ich selber dazu angehalten bin, mich dem Recht der Menschheit in meiner eigenen Person zu unterwerfen: »Rechtspflichten überhaupt […] beruhen […] auf der nothwendigen Übereinstimmung mit dem Gesetz der Freyheit in Beziehung auf seine eigene Person oder auf Andere […], und da sind die Gesetze, die aus der Persönlichkeit des Menschen seine eigene Freyheit einschränken, die Bedingung der Möglichkeit, die Freyheit anderer einzuschränken« (Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, AA XXIII, 392) 132 . 132 Vgl. auch AA XXIII, 383: »[D]ie Integrität der Menschheit in seiner eigenen Person muß zur allgemein einschränkenden Regel der Willkühr dienen weil sonst das Subject sich selbst nach Vernunftideen vernichten würde.« Den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten und der Vigilantius-Vorlesungsmitschrift zufolge kommt der inneren Rechtspflicht sogar eine vorrangige Bedeutung für das gesamte System der Pflichten zu. Kant vertritt dort die Auffassung, dass »das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person […] aller anderen Verbindlichkeit« – d. h. auch den spezifisch ethischen Pflichten – »vorgeht« (ebd.; Hervorheb. v. m.); »die Rechtspflichten gegen sich selbst« seien »die höchsten unter allen« und müssten als »vollkommene Pflichten« auch bei der Ableitung der Pflichten von weiter Verbindlichkeit vorausgesetzt werden (vgl. AA XXVII, 604; vgl. auch AA XXIII, 386). »Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person […] ist […] die oberste Bedingung aller Pflichtgesetze, weil das Subject sonst aufhören würde ein Subject der Pflichten (Person) zu seyn und zu Sachen gezählt werden müßte« (AA XXIII, 390; Hervorheb. v. m.). Wie darüber hinaus aus den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten hervorgeht, wollte Kant zwischenzeitlich den Begriff des »Rechts der Menschheit in unserer Person« der Einteilung von Rechtslehre und Ethik überhaupt zugrunde legen (vgl. AA XXIII, 276 f.). Für die veröffentlichte Fassung scheint er diese Konzeption jedoch verworfen zu haben (vgl. Gregor 1990, S. LXI). Zu Kants Verständnis der inneren Rechtspflicht sowie zu dem Problem ihrer Einordnung in ein allgemeines Einteilungsschema der Rechtspflichten vgl. die systematisch weitreichenden Erörterungen bei Gregor 1963, S. 113–127. W. Kersting zufolge lässt sich »von vornherein nicht hoffen, mehr als plausible Vermutungen hinsichtlich der
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Aus dem Selbstzwang der inneren, selbstgeschuldeten Rechtspflicht leitet Kant also die mit äußeren, fremdgeschuldeten Rechtspflichten verbundene Zwangsbefugnis ab. Explizit bringt er diesen Ableitungszusammenhang aber nur in den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten zum Ausdruck. Die diesbezüglich einschlägige, schon in Auszügen zitierte Textpassage lautet vollständig: »Die Nöthigung aber, die nicht durch die Idee der Pflicht geschieht, d. i. die nicht eine solche ist, welche die Vernunft des Subjects über sich nach Freyheitsgesetzen ausübt (sich selbst zwingt), kann nur die mit der Freyheit vereinbare Möglichkeit seyn, von anderen zu solchen Handlungen gezwungen zu werden und gegenseitig andere zu solchen zu zwingen. Also ist die Sittenlehre entweder die Rechtslehre oder die Tugendlehre. Die Befugnis des Zwanges anderer (sie zu zwingen) gründet sich aber auf die Persönlichkeit des Subjects, und die freye Willkühr der Person steht selbst unter der Idee ihrer Persönlichkeit, wornach sie in Handlungen, die auf sie selbst gehen, durch sich selbst genöthigt wird und moralisch gezwungen nach der Analogie mit dem Zwange eines Anderen, und diese Verbindlichkeit gegen sich selbst kann also auch das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person heißen, welches aller anderen Verbindlichkeit vorgeht« (AA XXIII, 390).
Dieser Argumentationsgang lässt sich im veröffentlichten Text der Metaphysik der Sitten rekonstruieren: Gemäß der »Einleitung in die Rechtslehre« hat jeder Mensch die grundlegende – für das »System der Rechtspflichten« von Kant als erstes Einteilungsprinzip angeführte – innere Rechtspflicht, »im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ›mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck‹« (RL, KW IV, 344). Dieser juridischen Grundpflicht korrespondiert das in intelligibler Freiheit fundierte »Recht«, die »Menschheit in unserer eigenen Person« (ebd.) – d. h. die unserer personalen Selbstzweckhaftigkeit entsprechende Würde (vgl. TL, KW IV, 569) – gegen Verletzungen durch andere notfalls mit Zwangsmitteln zu verteidigen. Mit anderen Worten: Wer mich an der Ausübung der inneren Rechtspflicht hindert – d. h. wer mich »blos als
Bedeutung der inneren Rechtspflicht in Kants Alterswerk zu entwickeln« (vgl. Kersting 1993, S. 213–222; hier verw. Zitat ebd., S. 214, Anm. 218). Ein skeptisches Resümee seiner Untersuchungen zum pflichtensystematischen Status der inneren Rechtspflicht zieht auch Friedrich 2004, S. 66. A
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Mittel zu irgend einem [seiner] Zweck[e] […] nöthigt« – und mir damit das in meiner Persönlichkeit wurzelnde Recht verweigert, innerhalb der durch das allgemeine Rechtsgesetz gesetzten Grenzen »nach […] eigenen Zwecken handeln zu dürfen« (AA XXIII, 341; s.o), den darf ich aus diesem Grunde zur Unterlassung einer solchen fundamentalen Rechtsverletzung zwingen. Da wir im – hypothetisch angenommenen – ungesetzlichen Naturzustand der allseitigen Wahrung unserer personalen Würde nie sicher sein können, bedeutet dies aber nichts anderes als: Ich bin befugt, jede Person, die meine gesetzliche Willkürfreiheit bedroht, notfalls dazu zu zwingen, mit mir in einen gesetzlichen Zustand zu treten, »worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann« (RL, KW IV, 344; s. u. Kap. 4.2). Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf das Verhältnis von äußerlich erzwingbarem Recht und moralischer Verbindlichkeit Folgendes festhalten: Um den verpflichtenden Charakter des zwangsbewehrten Rechtsprinzips einsehen zu können, muss das »rechtliche[.] Verhältnis« als ein »reinmoralische[s]« begriffen werden, worin Menschen »als intelligibele Wesen, stehen, indem man alles Physische (zu ihrer Existenz in Raum und Zeit Gehörende) logisch davon absondert, d. i. davon abstrahiert, nicht aber die Menschen diese ihre Natur ausziehen und sie Geister werden läßt« (RL, KW IV, 411, Anm.).
Die Begründung der rechtlichen Zwangsbefugnis ist geltungstheoretisch also abhängig von jenem intelligiblen Standpunkt, den der leibhaftige Mensch einnimmt, wenn er sich in praktischer Hinsicht als im transzendentalen Sinne frei, d. h. als autonomes Vernunftwesen betrachtet. Dieser Standpunkt ist gemäß der »Einleitung in die Rechtslehre« derjenige des Selbstzwecks; von ihm aus verhält sich der Mensch als Handlungssubjekt in der Weise, dass er das ihm kraft seiner Menschheit zustehende Recht auf allgemeingesetzlichen äußeren Willkürgebrauch verteidigt und so gegenüber allen anderen den unbedingten Wert seiner moralischen Persönlichkeit behauptet. Der Mensch kann die durch andere physisch erzwungene Beschränkung seiner eigenen Willkürfreiheit dann nicht als unmoralisch bewerten kann, wenn er diese Freiheit zu einer Verletzung des ihn absolut verpflichtenden Selbstzwecks anderer Personen verwendet hat. Einsehen kann er die Legitimität dieses Rechtszwanges nach Kant aber nur deshalb, weil er immer schon der inneren Rechtspflicht unterworfen ist, 228
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sich nicht zum bloßen Mittel für die Zwecke Anderer reduzieren zu lassen. Kant kann die Selbstzweck-Formel des Kategorischen Imperativs und die damit verbundene Achtung vor dem Menschen als einer mit Würde ausgestatteten Person insofern zu dem angeborenen Freiheitsrecht in Beziehung setzen, als die Forderung, die Menschheit in der eigenen sowie jeder anderen Person als Selbstzweck zu behandeln (Grundlegung, KW IV, 61), konkret besagt, dass jede Person zur Realisierung selbstgesetzter Handlungsziele (innerhalb der durch die Allgemeine-Gesetzes-Formel gesetzten Grenzen) befähigt sein soll (s. o. Kap. 2.1.2) 133 . Im vorstehend aufgedeckten Argumentationszusammenhang der »Einleitung in die Rechtslehre« wird die SelbstzweckFormel gegenüber der Allgemeinen-Gesetzes-Formel nun aber dadurch aufgewertet, dass ich aufgrund der inneren Rechtspflicht dazu befugt bin, über die körperliche Notwehr hinaus 134 Zwangshandlungen auszuführen, die – als theoretisch klar definierte Ausnahmen von dem in der Allgemeinen-Gesetzes-Formel verankerten generellen Verbot der Freiheitsberaubung – das alleinige Ziel verfolgen, den menschheitsrechtlich angeborenen Spielraum meiner äußeren Handlungsmöglichkeiten gegen Verletzungen durch Andere zu verteidigen. Damit steckt die durch die personale Selbstzweckhaftigkeit gesicherte Sphäre der menschlichen Selbstbestimmung die Grenzen moralisch-legitimer Zwangsausübung ab. Die – anhand der Allgemeinen-GesetzesFormel nicht begründbare – Restriktion legitimer zwischenmenschlicher Zwangsbefugnisse auf die Bedingungen der Unrechtsabwehr liegt in der personalen Würde der Rechtssubjekte begründet. Mit der rechtlichen Zwangsbefugnis stattet sich die praktische Vernunft für ihren Weg aus der Innenseite des Handelns heraus auf das Gebiet der konkreten sozialen Handlungswirklichkeit gleichsam mit der erforderlichen äußeren ›Exekutivgewalt‹ aus, um dem »moralischen Imperativ« in Gestalt der Selbstzweck-Formel gesicherte Wirksamkeit in den unvermeidbaren Rechtsbeziehungen der Menschen zu verschaffen135 . Vgl. Rapic 2007, S. 466. Die Legitimität der Maxime, physische Zwangsmittel zur Selbstverteidigung einzusetzen, lässt sich unmittelbar aus der Allgemeinen-Gesetzes-Formel ableiten. 135 Zum Verhältnis von Selbstzweck-Formel und Rechtszwang vgl. Rapic 2007, S. 461– 469 sowie Gregor 1963, S. 47 f. (insbes. Anm. 33). Auch F. Kaulbach ist der Ansicht, dass sich das allgemeine Rechtsgesetz auf ein praktisches Verhältnis von moralischen Subjekten bezieht, die als Selbstzweck zu betrachten 133 134
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Wie aber ist diese systematische Vorrangstellung der Selbstzweck-Formel im Zusammenhang mit der Begründung des »angebornen Rechts« und der rechtlichen Zwangbefugnis zu erklären? Die Tatsache, dass Kant die Allgemeine-Gesetzes-Formel in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« als den »oberste[n] Grundsatz der Sittenlehre« bezeichnet (RL, KW IV, 332), der »überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei« (ebd., 331), belegt doch hinreichend, dass Recht und Ethik ihren gemeinsamen verbindlichkeitstheoretischen Ursprung gemäß Kants Selbstverständnis in dem aus den Grundlegungsschriften bekannten Sittengesetz haben (Grundlegung, KW IV, 70, 51; KpV, KW IV, 140). Diese Auffassung wird zudem durch die offensichtliche strukturelle Analogie von Sittengesetz und Rechtsgesetz gestützt (vgl. RL, KW IV, 338). Dass Kant nun aber das »angeborene Recht« sowie die mit dem Rechtsgesetz verknüpfte moralische Zwangsbefugnis im Prinzip des Selbstzwecks der autonomen Persönlichkeit fundiert, legt meines Erachtens die Vermutung nahe, dass sich eine von ihm ursprünglich angestrebte Symmetrie der Deduktionsverhältnisse in der tatsächlichen Durchführung der Ableitungen nicht verwirklichen ließ. Das bedeutet allerdings, dass Kants »formalistisches« Selbstverständnis seiner Moralphilosophie in wichtigen Hinsichten unangemessen ist. Im Zentrum der verbindlichkeitstheoretischen Fundierung des »angebornen Rechts« und der rechtlichen Zwangsbefugnis steht die These, dass das »Prinzip der Menschheit […], als Zwecks an sich selbst […] die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist« (Grundlegung, KW IV, 63). Eine nunmehr erforderliche Neubestimmung des Verhältnisses von Selbstzweck-Formel und Allgemeiner-Gesetzes-Formel kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Es ist aber offensichtlich, dass sich seien und deshalb untereinander unter dem Anspruch der Achtung und Anerkennung stünden (vgl. Kaulbach 1974, S. 77 f.). Im Zuge seiner Erörterung der Kantischen Besitzlehre gelangt er zu dem Ergebnis, dass »die rechtliche Freiheit […] eigentlich« den wechselseitig zu respektierenden »Stand […] des Selbstzwecks« der Rechtssubjekte meint (Kaulbach 1982, S. 85). R. Dreier zufolge liegt der gemeinsame Grund von Ethik und Recht in der AllgemeinenGesetzes-Formel des Kategorischen Imperativs, aus dessen »juridische[n] Gebrauch« das Rechtsprinzip abgeleitet werden könne, sofern man die »Mensch/Zweck-Formel sowie [die] Vorstellung einer Mehrheit räumlich und zeitlich interagierender Menschen« hinzunehme (vgl. Dreier 1979, S. 20). Vgl. dazu auch Kühl 1984, S. 103–107; Kühl 1990, S. 78; Ricken 2000, S. 249; Dicke 1986, S. 97; Maiwald 1988, S. 153.
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aus dieser Neubestimmung entscheidende Rückwirkungen für das mit der Allgemeinen-Gesetzes-Formel verbundene Relativismusproblem ableiten lassen (s. o. Kap. 2.2): Dadurch, dass unter Berufung auf die Selbstzweck-Formel Ausnahmen von den in der Gesetzes-Formel fundierten generellen Handlungsregeln in Anspruch genommen werden dürfen, wird das Problem des Allgemeinheitsgrades von Handlungsmaximen in einem bedeutenden Ausmaß entschärft 136 .
136 Vgl. dazu und für weiterführende Überlegungen zum Verhältnis von Selbstzweckund Gesetzesformel Rapic 2007, S. 467–469.
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4. Die Begründung der drei Grundzüge einer Theorie des öffentlichen Rechts
4.1 Privatrecht, öffentliches Recht und Naturrecht Die Haupteinteilung der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre ist diejenige in das Privatrecht und das öffentliche Recht. Das Privatrecht bezeichnet Kant in der »Einleitung in die Rechtslehre« auch als »natürliche[s]« und stellt es dem öffentlichen Recht gegenüber (vgl. RL, KW IV, 350). Dieser Gegenüberstellung korrespondiert die Unterscheidung zwischen »dem Naturzustande« und dem »bürgerliche[n]« Zustand (ebd.) 1 . Wenn die »bürgerliche […] Gesellschaft« nun dadurch charakterisiert wird, dass sie im Unterschied zum Privatrecht des Naturzustandes »durch öffentliche Gesetze das Mein und Dein sicher[t]«, so legt dies das Missverständnis nahe, nur das Privatrecht für Naturrecht zu halten und das öffentliche Recht lediglich dem »positive[n] (statutarische[n]) Recht« (ebd., 345) zuzuordnen. Diese Zuordnung wäre aber schon deshalb falsch, weil bereits der Einleitungssatz dieses Abschnittes, der das natürliche Privatrecht dem öffentlichen Recht gegenüberstellt, explizit »[d]ie oberste Einteilung des Naturrechts« ankündigt (ebd., 350). Als Naturrecht bezeichnet Kant »das a priori durch jedes Menschen Vernunft erkennbare Recht« (ebd., 412). Das »System des Naturrechts« (ebd., 346) oder die »natürliche[.] Rechtslehre« (ebd., 336) umfasst daher sämtliche durch Vernunft vorgegebenen Rechtsprinzipien: das angeborene (innere) Mein und Dein wie das zu erwerbende (äußere) Mein und Dein, das natürliche Privatrecht wie das öffentliche Recht 2 . Vgl. RL, KW IV, 422 f., wo Kant den »natürlichen Zustand« einen »Zustand […] des Privatrechts« nennt und den »bürgerliche[n]« Zustand als »den des öffentlichen Rechts« bezeichnet. Vgl. auch die Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten, AA XXIII, 386: »Die Rechtslehre enthält zwey Theile, die des Privatrechts und des öffentlichen […], also das Recht des Naturzustandes und des bürgerlichen.« 2 Vgl. dazu Kühl 1990, insbes. S. 79–81. 1
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Privatrecht, öffentliches Recht und Naturrecht
Kant zufolge lässt sich das ursprüngliche Zusammenleben der Menschen in einem hypothetischen (nicht geschichtlich-faktischen) Naturzustand als einer vernunftrechtlichen Privatrechtsordnung vorstellen. Für Kant ist der Naturzustand also nicht ein Zustand, in dem der Begriff des natürlichen Vernunftrechts keine objektiv verbindliche Bedeutung hätte. Als logische Voraussetzung des Staates betrachtet, ist der Naturzustand vielmehr die normativ relevante Idee eines »Zustande[s] äußerlich gesetzloser Freiheit«, »in dem niemand des Seinen wider Gewalttätigkeit sicher ist« (RL, KW IV, 425). Er ist kein »Zustand der Ungerechtigkeit (iniustus)«, in dem die Menschen »einander nur nach dem bloßen Maße [ihrer] Gewalt […] begegnen« dürfen, sondern »ein Zustand der Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus), wo, wenn das Recht streitig (ius controversum) [ist], sich kein kompetenter Richter [findet], rechtskräftig den Ausspruch zu tun« (ebd., 430). Im Naturzustand ist das natürliche Privatrecht also prinzipiell strittig und ungesichert. Sowohl das innere (angeborene) als auch das äußere (erwerbbare) Mein und Dein sind daher auf Ausführungsverordnungen und eine eindeutige inhaltliche Bestimmung der Verletzungsgrenzen durch öffentliche Zwangsgesetze angewiesen, um faktisch wirksames Recht zu werden. Das natürliche Privatrecht ist – nicht um seiner Verbindlichkeit, sondern um seiner Wirkung willen – in einem empirischen Sinne positivierungs- und institutionalisierungsbedürftig; seine »Gesetze« müssen »notwendig als öffentliche gedacht werden« (ebd., 424), d. h. in einem Zustand »öffentliche[r] Gerechtigkeit« positiviert und gesichert werden (ebd., 422 f.) 3 . Dementsprechend wird das öffentliche Recht von Kant definiert als »[d]er Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen« (RL, KW IV, 429; Hervorheb. v. m.). »[Das öffentliche Recht] ist also ein System von Gesetzen für ein Volk, d. i. eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen Einflusse gegen einander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden« (ebd., letzte Hervorheb. v. m.; vgl. auch ebd., 422 f.).
Entsprechend der Abfolge in der Rechtslehre sollen im Folgenden nacheinander die Grundzüge einer – gemäß Kants Anspruch – voll3
Vgl. Kersting 2004b, S. 95; Friedrich 2004, S. 157–159. A
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Die Begründung der drei Grundzüge einer Theorie des öffentlichen Rechts
ständigen Theorie des öffentlichen Rechts erörtert werden. Die Grundformen von öffentlichen Rechtsbeziehungen bestehen Kant zufolge entweder zwischen einzelnen Menschen, die sich in Einzelstaaten zusammenschließen (das heißt im »Staatsrecht«; RL §§ 43–49), oder zwischen verschiedenen Einzelstaaten (im »Völkerstaatsrecht«; RL §§ 53– 61), oder aber zwischen einzelnen Staatsbürgern einerseits mit fremden Einzelstaaten, andererseits mit deren Staatsangehörigen (im »Weltbürgerrecht«; RL § 62 4 ). Kant weist in § 83 der Rechtslehre ausdrücklich darauf hin, dass diese drei Teile des öffentlichen Rechts in einem gegenseitigen normativen Bedingungsverhältnis stehen. Sie setzen einander im Hinblick auf eine »kontinuierliche[.] Annäherung zum höchsten politischen Gut« 5 , d. h. zu einem sowohl zeitlich als auch räumlich universalen Friedenszustand, systematisch voraus, Zu Kants Einteilung des öffentlichen Rechts vgl. RL, KW IV, 429, 466; vgl. auch Frieden, KW VI, 203, Anm. 5 So charakterisiert Kant abschließend den »ewigen Frieden« im Beschluss der Rechtslehre (RL, KW IV, 479). Kurz zuvor erklärt er: »Man kann sagen, daß diese allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft ausmache; denn der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge einander benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind […]« (ebd.). Während Kants Schriften bis Anfang der 1790er Jahre keinen Zweifel an seiner ausgeprägten Wertschätzung der kulturstiftenden Leistung des Krieges lassen, dem »mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt[en]« Krieg sogar einen ästhetischen Wert beimessen (vgl. insbes. KdU, KW V, 351), vollzieht Kant um 1795 eine Wende in seinem Urteil über die Bedeutung von Krieg und Frieden für die zivilisatorische Entwicklung der Menschen. So schreibt Kant 1786, dass »auf der Stufe der Kultur, worauf das menschliche Geschlecht noch steht, […] der Krieg ein unentbehrliches Mittel [sei], diese noch weiter zu bringen« (Anfang, KW VI, 99 f.). Und noch in der Kritik der Urteilskraft von 1790 ist Kant der Auffassung, dass »ein langer Friede den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt« (KdU, KW V, 351). Wenngleich Kant auch in der Schrift Zum ewigen Frieden (1795) keinesfalls als ein bedingungsloser Pazifist argumentiert, sondern – auf die Menschheitsgeschichte rückblickend – die kulturhistorische Funktion des Krieges, »dessen sich die Natur bedient, die Erde allerwärts zu bevölkern« (Frieden, KW VI, 222), akzeptiert, so gilt ihm der gegenwärtige und zukünftige Krieg doch nur noch als »das traurige Notmittel im Naturzustande […] durch Gewalt sein Recht zu behaupten« (ebd., 200). Vom »Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab« (ebd., 211) und zudem unter ausdrücklicher Berufung auf den 1790 noch verschmähten »wechselseitigen Eigennutz« und den »Handelsgeist« (ebd., 226) wird der 4
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Privatrecht, öffentliches Recht und Naturrecht
»so, dass, wenn unter diesen drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes es nur einer an dem die äußere Freiheit durch Gesetze einschränkenden Prinzip fehlt, das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden, und endlich einstürzen muss« (RL, KW IV, 429) 6 .
Diese Dreiteilung des öffentlichen Rechtes ist wohl von Kant inauguriert worden; die Idee von einem Weltbürgerrecht ist neuartig. Sie findet sich erstmals in Kants Abhandlung Zum ewigen Frieden (1795), danach in Fichtes Grundlage des Naturrechts von 1796 und im darauf folgenden Jahr in Kants Rechtslehre 7. Krieg – von der bloßen Selbstverteidigung abgesehen – nun »schlechterdings verdammt«, wohingegen die Vernunft »den Friedenszustand […] zur unmittelbaren Pflicht macht« (ebd., 211). Zwei Jahre später in der Rechtslehre heißt es schließlich: »Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen mir und dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten, die, obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (in Verhältnis gegen einander) im gesetzlosen Zustande sind; – denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll« (RL, KW IV, 478). Auf die möglichen Gründe, die Kant zu diesem, hinsichtlich seiner Radikalität umstrittenen, Sinneswandel veranlasst haben könnten, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Alle Deutungsversuche müssten wohl als einen wesentlichen Aspekt das epochale Ereignis der Französischen Revolution und den sich daran anschließenden Republikanisierungsprozess berücksichtigen. Zu Kants »Wende zur Friedenspolitik« vgl. die plausiblen Erwägungen bei Gerhardt 1995b, S. 14–24. 6 Vgl. auch Idee, KW VI, 41: »Das Problem der Errichtung einer vollkommnen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöset werden.« 7 Vgl. Laberge 1995, S. 158 f. Die Erörterung des öffentlichen Rechts in der Rechtslehre fällt deutlich kürzer aus als deren Privatrechtsteil. Das öffentliche Recht umfasst 21 Paragrafen und eine verhältnismäßig umfangreiche »Allgemeine Anmerkung« zum Staatsrecht (RL, KW IV, 437–460). Kant räumt in der Vorrede zur Rechtslehre ein, dass er »[g]egen das Ende des Buchs […] einige Abschnitte mit minderer Ausführlichkeit bearbeitet [habe], als in Vergleichung mit den vorhergehenden erwartet werden konnte« (ebd., 313). Dieser Hinweis betrifft insbesondere das Völker- sowie das Weltbürgerrecht; letzteres handelt Kant in einem einzigen Paragrafen ab. Zur Erläuterung der in der Rechtslehre formulierten Grundgedanken werde ich daher im Folgenden gegebenenfalls auch Abhandlungen Kants heranziehen, die vor – oder wie der Streit der Fakultäten von 1798 noch nach – der Metaphysik der Sitten verfasst wurden und die teilweise (schon) von erheblicher Bedeutung für die Rechtsphilosophie Kants sind. Für das Völker- und Weltbürgerrecht kommt dabei der 1795 veröffentlichten Schrift Zum ewigen Frieden eine besondere Relevanz zu. Die Betonung von gedanklichen Parallelen und Kontinuitäten soll jedoch nicht den Blick für die mitunter signifikanten Differenzen dieser Schriften im Verhältnis zur Rechtslehre verstellen; dies gilt beispielsweise im Hinblick auf die unterschiedliche Bewertung A
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4.2 Staats- und Eigentumsrecht 4.2.1 Die Rechtsnotwendigkeit und die Grundprinzipien des bürgerlichen Zustandes Wie bereits erwähnt, ist der privatrechtliche Naturzustand nach Kant ein hypothetisch angenommener Zustand, in dem die Individuen unkontrolliert und unkoordiniert ihre Interessen verfolgen können. Weil in ihm keine allgemeine Zwangsgewalt existiert, die »jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht […] zu Teil« werden lässt (RL, KW IV, 430), ist die Durchsetzung des – vermeintlichen wie legitimen – Rechts immer auch von der Macht und physischen Stärke des einzelnen Menschen abhängig 8 : »[I]n statu naturali [steht] jeder in der Meinung […], dass er die Gesetzmäßigkeit seiner Handlung verteidige; […] und da bleibt nur die Gewalt des Stärkeren übrig, hier gilt also Gewalt für Recht« (Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA XXVII, 514). Doch auch unabhängig von faktischer Gewaltausübung verletzen die Menschen im Naturzustand einander schon dadurch in ihrem angeborenen Freiheitsrecht, dass ein solcher Zustand zwischen ihnen besteht, »in dem niemand des Seinen wider Gewalttätigkeit sicher ist« (RL, KW IV, 425): »Der Mensch […] im bloßen Naturstande benimmt mir diese Sicherheit, und lädiert mich schon durch eben diesen Zustand, indem er neben mir ist, obgleich nicht tätig (facto), doch durch die Gesetzlosigkeit seines Zustandes (statu iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedroht werde« (Frieden, KW VI, 203, Anm.).
Damit ist nun nicht gemeint, dass es empirisch in der Natur der Menschen liegt, einander fortwährend schaden zu wollen. Wenngleich Kant in § 42 der Rechtslehre auf eine anthropologische Grundbefindlichkeit Bezug nimmt, wonach jeder Mensch »die Neigung […], über andere den Meister zu spielen«, »in sich selbst hinreichend wahrnehmen kann« der kulturgeschichtlichen und rechtsgenetischen Bedeutung des Krieges für die Menschheitsentwicklung (s. o.) sowie hinsichtlich der Frage, mit welchen Handlungsund Regelungskompetenzen die zu errichtende internationale Rechtsgemeinschaft auszustatten sei (vgl. unten Kap. 4.3). 8 Im Naturzustand ist »zurecht jeder sein eigener Richter« (Geismann 1983, S. 366, Anm. 13).
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(RL, KW IV, 424 f.), ist seine Naturzustandskonzeption – in Abgrenzung zu Hobbes und entgegen einer verbreiteten Meinung unter KantKritikern 9 – unabhängig vom negativen Verständnis einer auf subjektives Macht-, Besitz- oder Glücksstreben ausgerichteten menschlichen Natur. Allein die Annahme einer erfahrungsmäßig bewiesenen äußeren Willkürfreiheit des Menschen genügt nach Kant, um zu erkennen, dass im gemeinsamen Lebensraum des Naturzustandes jederzeit ein prinzipiell unlösbarer Konflikt bezüglich der individuellen Freiheitsrechte möglich ist 10 . In § 44 der Rechtslehre heißt es daher: »Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang notwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können« (RL, KW IV, 430).
Da im privatrechtlichen Naturzustand also grundsätzlich keiner dem anderen mit der erforderlichen Sicherheit garantieren kann, dass er dessen gesetzliche Willkürfreiheit respektieren wird, geht aus dieser staatstheoretischen Ausgangsposition das »Postulat des öffentlichen Rechts« hervor: »du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanders mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen« (ebd., 424). Aus diesem Postulat folgt unmittelbar: »Alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören« (Frieden, KW VI, 203, Anm.). Nur in einem »bürgerlichen Zustand«, der »die Sanktion eines öffentlichen Gesetzes für sich hat« (RL, KW IV, 431), ist es möglich, dass jedem Einzelnen das ihm »kraft seiner Menschheit« zukommende Recht auf »Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür« gesichert wird (RL, KW IV, 345). Um der Wirksamkeit ihres angeborenen Freiheitsrechts willen sind die Menschen im Naturzustand daher dazu berechtigt, einander notfalls gewaltsam zum Übertritt in einen gemeinVgl. etwa Degau 1983, S. 239 f.; Zotta 2000, S. 85–93. So auch Höffe 1979b, S. 208–210; Kühl 1984, S. 163; Kersting 1993, S. 330 f.; Kersting 2004b, S. 109; Friedrich 2004, S. 170–172. 9
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samen bürgerlich-gesetzlichen Zustand zu nötigen (vgl. ebd., 430; Frieden, KW VI, 203, Anm.). Der Übergang und Eintritt in einen Rechtssicherungsstaat ist nach Kant mithin kein bloß pragmatisches Klugheitsgebot, sondern eine ursprüngliche Rechtspflicht. Dem »Postulat des öffentlichen Rechts« entspricht die ulpianische »lex iustitiae« in der »Allgemeine[n] Einteilung der Rechtspflichten«: »Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann« (RL, KW IV, 344 f.; s. o. S. 220). In dieser Einteilung ist das Mein und Dein eines jeden noch nicht in ein angeborenes (inneres) und erwerbbares (äußeres) eingeteilt worden (vgl. RL, KW IV, 345); die drei hier vorgestellten systematischen Rechtspflichten würden ihre Verbindlichkeit mithin auch dann behalten, wenn es dem Menschen unmöglich wäre, Rechte zu erwerben bzw. Äußeres als das Seine zu haben. Die vernunftrechtliche Notwendigkeit, einen Staat durch Verlassen des Naturzustandes zu errichten, hängt daher keineswegs – wie etwa B. Ludwig 11 und R. Brandt 12 meinen – davon ab, dass der Mensch aufgrund seiner natürlichen Veranlagung Sachen als sein Privateigentum benötigt oder überhaupt etwas Äußeres besitzen will. Der Staatsimperativ verpflichtet grundsätz-
Vgl. Ludwig 1988, insbes. S. 185 f.: »Der verborgene Leitfaden der Kantischen Rechtsreflexion ist das Eigentum, welches ihm ermöglicht, über alle Fragen nach Macht- oder Interpretationsmonopol hinaus einen festen Punkt für die Vernunft-Begründung des Staats zu liefern, und diesen damit vom Verdacht, bloßes Produkt menschlicher Klugheit […] zu sein, befreien soll« (ebd., S. 186, Anm.). 12 Vgl. das Resümee seiner Position in Brandt 1990b, S. 345: »[D]er Kantische Staat von 1797 [hat] nur das äußere Mein und Dein zu seiner Grundlage […]. Er setzt das Privatrecht mit seinen drei Formen des Besitzes voraus und unternimmt es, das Seine eines jeden – d. h. das äußere zufällige Seine – gesetzlich zu bestimmen […] und zu schützen. Der Staat wird konzipiert als ein Staat des äußeren Besitzes (nicht des Eigentums, das nur den Besitz an Sachen ausmacht) – diese theoretische Entscheidung Kants ist eindeutig.« Vgl. auch Brandt 1974, insbes. S. 187 (die Notwendigkeit des äußeren Mein und Dein sei »das einzig mögliche Fundament einer Rechtslehre«); Brandt 1982, insbes. S. 259 (die Rechtslehre sei »wesentlich eine Lehre des äußeren Mein und Dein«), um nur einige der einschlägigen Arbeiten Brandts zu nennen. Der von Ludwig und Brandt vertretenen These vom begründungstheoretischen Primat des Eigentums vor dem Staat hat sich neben zahlreichen weiteren Kant-Interpreten jüngst Unruh 2005, S. 145 angeschlossen. Für einen kritischen Überblick über die Forschungsliteratur zum Problem des Übergangs vom Privatrecht zum öffentlichen Recht und des Begründungszusammenhangs von Eigentum und Staat bei Kant sei verwiesen auf die klare Darstellung bei Friedrich 2004, S. 1–17. 11
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licher: Er entspringt nicht erst aus dem Besitzrecht und dessen Differenzierung von provisorischen und peremtorischen Besitzverhältnissen, sondern »aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person« (RL, KW IV, 344). Die darin verbindlichkeitstheoretisch fundierte innere Rechtspflicht, »im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten« (ebd.), macht den Übertritt in den bürgerlich rechtlichen Zustand zur physisch erzwingbaren äußeren Rechtspflicht (s. o. Kap. 3.2.4) 13 . Angesichts der geltungstheoretischen Abhängigkeit alles äußeren Mein und Dein vom angeborenen Menschheitsrecht, d. h. aufgrund der Vorrangigkeit der moralischen Persönlichkeit gegenüber ihren rechtlichen Besitzverhältnissen (s. u. Kap. 4.2.2), ist es begründungslogisch sogar unmöglich, den staatlichen Zustand ursprünglich und allein im Recht auf äußeren Besitz begründen zu wollen. Insofern die öffentlich-rechtliche Sicherung des äußeren Mein und Dein nun aber selbst eine vernunftnotwendige Wirklichkeitsbedingung des grundlegenden Freiheitsrechtes ist, muss der Staat auch dafür zuständig sein (s. das nachstehende Kapitel). Wenngleich Kant in § 42 der Rechtslehre betont, dass sich die durch das »Postulat des öffentlichen Rechts« zum Ausdruck gebrachte Staatsgründungspflicht »analytisch aus dem Begriffe des Rechts«, d. h. aus der gesetzlichen Willkürfreiheit »im äußeren Verhältnis […] entwickeln« lässt (RL, KW IV, 424), orientieren sich insbesondere seine Ausführungen zum Übergang vom Privatrecht zum öffentlichen Recht in § 44 einseitig am äußeren Mein und Dein 14 . Die damit verbundene 13 Nach Kant setzt die dritte systematische Rechtspflicht – der Staatsimperativ des »suum cuique tribue« – die beiden ersten systematischen Rechtspflichten – die Gebote des »neminem laede« und »honeste vive« – deduktionslogisch insofern voraus, als die letzten beiden die Ableitung der ersten »durch Subsumtion enthalten« (RL, KW IV, 345). 14 Die in dieser Hinsicht stärkste These lautet: »Wollte man vor Eintretung in den bürgerlichen Zustand gar keine Erwerbung, auch nicht einmal provisorisch, für rechtlich erkennen, so würde jener selbst unmöglich sein. Denn, der Form nach, enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben, so fern dieser bloß nach reinen Vernunftbegriffen gedacht wird: nur daß im letzteren die Bedingungen angegeben werden, unter denen jene zur Ausübung (der distributiven Gerechtigkeit gemäß) gelangen. – Es würde also, wenn es im Naturzustande auch nicht provisorisch ein äußeres Mein und Dein gäbe, auch keine Rechtspflichten in Ansehung desselben, mithin auch kein Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen« (RL, KW IV, 431). Vgl. dazu auch den »Folgesatz« in § 8, ebd., 366.
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Marginalisierung des angeborenen, inneren Mein ist durch das im Einteilungsschema der systematischen Rechtspflichten enthaltene Argument für die Etablierung eines bürgerlichen Rechtszustands zu korrigieren 15 . Weder in der Friedensschrift noch in der Vigilantius-Nachschrift von Kants Vorlesung zur »Metaphysik der Sitten« (1793/94) wird die Begründung des Staates von Prinzipien des äußeren Mein und Dein abhängig gemacht. In letztgenannter Vorlesungsnachschrift ist es explizit das angeborene Freiheitsrecht, das die Staatnotwendigkeit begründet. Im Naturzustand, so heißt es dort, »ist jedes einzelnen Menschen Beurteilung anheim gestellt, was er für Recht und Unrecht anerkennen will, er kann also auch die Freiheit des andern ungehindert verletzen. Dieser Zustand der Läsion würde immerwährend seyn, solange Jeder allein Gesetzgeber und Richter wäre: Dies ist es, was man statum naturalem nennt, ein Zustand aber, der der angeborenen Freiheit ganz entgegen läuft. Es ist daher nothwendig, daß, sobald Menschen sich bis zur Ausübung ihrer wechselseitigen Freiheit nähern, sie den statum naturalem verlassen, um ein nothwendiges Gesetz, einen statum civilem, einzugehen; d. i. es ist eine allgemeine Gesetzgebung, die für Jedermann Recht und Unrecht festsetzt, eine allgemeine Gewalt, die jeden in seinem Recht schützt und eine richterliche Gewalt nöthig, die das gekränkte Recht wiederherstellt« (AA XXVII, 589).
Die einzige empirisch bedingte Voraussetzung, unter die Kant hier und in der Friedensschrift (vgl. Frieden, KW VI, 203, Anm.) die Notwendigkeit eines öffentlich-rechtlichen Zustandes stellt, besteht in dem unvermeidlichen Sozialverhältnis, durch das die denselben Lebensraum miteinander teilenden Menschen jederzeit in einen wechselseitigen Handlungskonflikt geraten können (s. o. S. 188 f.). Der Eintritt in einen bürgerlich-rechtlichen Zustand macht es notwendig, »sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen« (RL, KW IV, 430). Da von dieser staatlichen Zwangsgewalt »alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in 15
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Vgl. Friedrich 2004, S. 73; Kersting 2004b, S. 51 f. Vgl. auch Kühl 1994, S. 162–165: »Die Möglichkeit der Vernichtung der Freiheit durch Gewalt ist ein Widerspruch zur äußeren Freiheit, die als gesetzlich eingeschränkte das allgemeine Rechtsgesetz konstituiert. Zur Vermeidung dieses Widerspruchs fordert deshalb die äußere Freiheit, das einzige angeborene Recht des Menschen, zu ihrer Möglichkeit eine Gewalt, die sie sichert« (ebd., S. 163 f.).
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dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein« (ebd., 432).
Die »Idee eines möglichen vereinigten Willens« (RL, KW IV, 368), eines »a priori als vereinigt gedachten Willens« (ebd., 380) soll als Maßstab für jede positive Gesetzgebung gelten; sie ist das Gerechtigkeitskriterium, der »Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes« (Gemeinspruch, KW VI, 153) 16 . Statt vom allgemeinen Volkswillen spricht Kant – offenkundig unter dem Eindruck der Schriften Rousseaus (vgl. AA XIX, 99) – auch von einem »ursprünglichen Vertrag« (Frieden, KW VI, 205, Anm.). »Der Akt wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert […] ist der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem alle […] im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet […] sofort wieder aufzunehmen« (RL, KW IV, 434; vgl. auch Gemeinspruch, KW VI, 153).
Durch diesen Akt findet ein vernunftgewollter qualitativer Austausch statt zwischen der »wilde[n] gesetzlose[n]« äußeren Freiheit des Naturzustandes und der äußeren »Freiheit […] in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande« (RL, KW IV, 434). Allerdings ist der »vereinigte Volkswille« genauso wenig wie der »ursprüngliche Vertrag« als ein empirisches Faktum anzusehen. Kant versteht den Übergang vom Naturzustand in den Zustand einer staatsbürgerlichen Verfassung nicht im Sinne eines tatsächlich vollzogenen historischen Vorgangs. Die Idee des durch einen ursprünglichen Vertrag vereinigten Volkswillens ist für ihn das Legitimität stiftende Regulativ positiver Gesetzgebung, das »Vernunftprinzip der Beurteilung aller öffentlichen rechtlichen Verfassung überhaupt« (Gemeinspruch, KW VI, 159) 17 . Kant unterscheidet nämlich zwischen dem vereinigten 16 In Übereinstimmung hiermit fordert Kant auch: »[W]as das gesamte Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann [lies: darf; O. L.] auch der Gesetzgeber nicht über das Volk beschließen« (RL, KW IV, 448). 17 Vgl. Gemeinspruch, KW VI, 153): »Allein dieser Vertrag […] ist keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich) […]. Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können […].«
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gesetzgebenden Willen des Volks, als der »ewige[n] Norm für alle bürgerliche Verfassung« (Fakultäten, KW VI, 364), und dem Volk im empirischen Sinne. Da das Volk selbst nach Kant aber der vernunftrechtliche Souverän ist 18 , liegt die gedankliche Voraussetzung für die adäquate Vertretung seines Willens in einer empirischen Staatsverfassung im Begriff der Repräsentation: Zu jeder staatlichen Regierung, »wenn sie dem Rechtsbegriffe gemäß sein soll, gehört das repräsentative System, […] ohne welches sie […] despotisch und gewalttätig ist« (Frieden, KW VI, 208). »Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anderes sein als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen« (RL, KW IV, 464). »Man kann […] sagen: je kleiner das Personale der Staatsgewalt (die Zahl der Herrscher), je größer dagegen die Repräsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism, und sie kann hoffen, durch allmähliche Reformen sich dazu endlich zu erheben« (Frieden, KW VI, 207 f.).
Die repräsentative Staatsverfassung der Republik ist die »einzig rechtmäßige« (RL, KW IV, 464), d. h. die »einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß« (Frieden, KW VI, 204) 19 . Die republikanische Staatsverfassung – wie Kant sie in der Friedensschrift vorstellt – ist wesentlich durch drei Prinzipien bestimmt: Sie ist eine »erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen) 20 ; und Der ursprüngliche Kontrakt ist die »Idee […], nach der die Rechtmäßigkeit« eines Staates »allein gedacht werden kann« (RL, KW IV, 434). Der Vertragsstaat ist dementsprechend »der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient« (ebd., 431; vgl. auch ebd., 462 f.). 18 »[…] das vereinigte Volk [repräsentiert] nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst; denn in ihm […] befindet sich ursprünglich die oberste Gewalt, von der alle Rechte des einzelnen […] abgeleitet werden müssen« (RL, KW IV, 464). 19 Der erste, auf das Staatsrecht bezogene Definitivartikel der Friedensschrift lautet daher: »Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein« (Frieden, KW VI, 204). 20 Kant gibt jedoch in der sich unmittelbar anschließenden Anmerkung zu verstehen,
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drittens, die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung« (Frieden, KW VI, 204) 21 . Aus der »äußere[n] (rechtliche[n]) Freiheit« aller Menschen lässt sich der Grundsatz der »äußere[n] (rechtliche[n]) Gleichheit« aller Staatsbürger ableiten. Damit wird das aus der Unterworfenheit aller Menschen unter dasselbe Rechtsgesetz resultierende privatrechtliche Prinzip der »angeborne[n] Gleichheit« (RL, KW IV, 345; s. o. S. 222 f., Anm. 125) in den Bereich des öffentlichen Rechts übernommen und im Sinne einer reziproken Verpflichtbarkeit aller Bürger durch die gemeinsame Gesetzgebung zum republikanischen Verfassungsprinzip erklärt (vgl. Frieden, KW VI, 204 f., Anm.). Jedwede Form von rechtlicher Ungleichbehandlung würde »der allgemeine Volkswille in einem ursprünglichen Vertrag […] nie beschließen« (ebd., 205) 22 . Zur Sicherung und Kontrolle dieser dass das von ihm angeführte »Prinzip der rechtlichen Abhängigkeit« nicht als Unterscheidungsmerkmal einer republikanischen Verfassung taugt, »da dieses schon in dem Begriffe einer Staatsverfassung überhaupt liegt« (Frieden, KW VI, 204, Anm.). 21 Bemerkenswerterweise verzichtet Kant hier auf das von ihm im Gemeinspruch (KW VI, 150–153) und der Rechtslehre (KW IV, 432–434) als republikanischen Grundsatz angeführte Prinzip der »bürgerlichen Selbständigkeit« mit seiner Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Staatsbürgerstatus. Die von Kant genannten Kriterien für diese Unterscheidung scheinen zeitgenössischen sozialen Vorurteilen geschuldet zu sein. Für den Status eines aktiven Staatsbürgers verlangt Kant, »dass er sein eigener Herr […] sei, mithin irgend ein Eigentum […] habe, welches ihn ernährt« (Gemeinspruch, KW VI, 151). Demgegenüber wäre ein großer Teil der Staatsbürger als bloße »Schutzgenossen« (ebd., 150) nicht gleichberechtigt: »Der Geselle bei einem Kaufmann, oder bei einem Handwerker; der Dienstbote […]; der Unmündige […]; alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung anderer (außer der des Staats), genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit, und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz« (RL, KW IV, 433). Damit argumentiert Kant u. a. gegen ein allgemeines und gleiches Wahlrecht (vgl. ebd., 432 f.). Auf die umfängliche Debatte über das Prinzip der Selbständigkeit kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden (vgl. dazu Kersting 1993, S. 381–392; Kersting 2004b, S. 131–134; zur Abweichung in der Friedensschrift vgl. Hennigfeld 1983, S. 28 f.). Ausgehend von den grundlegenden Anwendungsbedingungen des moralischen Rechtsbegriffs wäre es konsequent, den Status einer vollberechtigten, aktiven Staatsbürgerschaft lediglich an die personale Zurechnungsfähigkeit zu binden (s. o. S. 182– 185). 22 Die staatsrechtliche Gleichheit impliziert die generelle Zugänglichkeit zu allen politischen und gesellschaftlichen Rechtspositionen: »Aus dieser Idee der Gleichheit der Menschen im gemeinen Wesen als Untertanen geht nun auch die Formel hervor: Jedes Glied desselben muß zu jeder Stufe eines A
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republikanischen Grundsätze bedarf es einer verfassungsmäßigen Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative: »Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität), in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz), in der Person des Richters« (RL, KW IV, 431).
Damit der republikanische »Staat […] sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält« (vgl. ebd., 437), teilt sich die vernunftrechtlich im allgemeinen Willen freier und gleicher Bürger fundierte Staatsgewalt in drei voneinander getrennte und zueinander in einem bestimmten Ordnungsverhältnis stehende Kompetenzbereiche auf, denen die drei begrifflich unterscheidbaren Momente jeder Rechtsverwirklichung entsprechen: Als fundamentale, gesetzgebende Gewalt ist der »durch seine Deputierte (im Parlament) repräsentiert[e]« (ebd., 439) vereinigte Wille des Volkes Herrscher oder Souverän des Staates (Rechtsregelsetzung); als auf die geltenden Gesetze und Bestimmungen verpflichtete rechtsprechende oder »richterliche Gewalt« »richtet« »[d]as Volk […] sich selbst durch diejenigen [seiner] Mitbürger, welche durch freie Wahl, als Repräsentanten desselben, […] dazu ernannt werden« (ebd., 436; Rechtsregelanwendung und Urteilsfindung); als vollziehende oder »ausübende Gewalt« sorgt »die Regierung« über »Minister« und deren »Magisträte« für die Umsetzung der Gesetze und organisiert mittels einer »Staatsverwaltung« die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben (ebd., 435; zwangsbewehrte Durchsetzung von Rechtsregel und -urteil) 23 . Von dem institutionalisierten Gemeinwesen der Republik unterscheidet Kant den reformistischen Prozess der Republikanisierung hisStandes in demselben […] gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können; und es dürfen ihm seine Mituntertanen durch ein erbliches Prärogativ (als Privilegiaten für einen gewissen Stand) nicht im Wege stehen, um ihn und seine Nachkommen unter demselben ewig niederzuhalten« (Gemeinspruch, KW VI, 147 f.). In einem republikanisch verfassten Gemeinwesen kann es daher »kein angebornes Vorrecht eines Gliedes […] vor dem anderen geben; und niemand kann das Vorrecht des Standes, den er im gemeinen Wesen inne hat, an seine Nachkommen vererben« (ebd., 148). 23 Vgl. dazu Kersting 1993, S. 393–412; Kersting 2004b, S. 134–136.
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torisch vorgefundener staatlicher Herrschaftsorganisation, d. h. die allmähliche Verwirklichung der vernunftbegrifflichen Staatsverfassung in einer ›vorrepublikanischen‹ Geschichtsphase. »Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Konstitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen, welches, ihr gemäß durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (respublica noumenon), ist nicht ein leeres Hirngespinnst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt […]. Eine dieser gemäß organisierte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (respublica phaenomenon) und kann nur nach mannigfaltigen Befehdungen und Kriegen mühsam erworben werden […]; mithin ist es Pflicht in eine solche einzutreten, vorläufig aber (weil jenes nicht so bald zu Stande kommt) Pflicht der Monarchen, ob sie gleich autokratisch herrschen, dennoch republikanisch […] zu regieren, d. i. das Volk nach Prinzipien zu behandeln, die dem Geist der Freiheitsgesetze […] gemäß sind, wenn gleich dem Buchstaben nach es um seine Einwilligung nicht befragt würde« (Fakultäten, KW VI, 364).
Die Republik ist als die der vernunftrechtlichen »Idee einer Staatsverfassung« (RL, KW IV, 498 f.) einzig angemessene empirische Staatsform zugleich mit einer gewaltenteiligen und repräsentativ verfassten Herrschaftsform verknüpft. Da eine dem legitimatorischen Urmodell der respublica noumenon in der Erscheinungswelt gemäße freiheitsgesetzliche Machtorganisation sich aber aus empirischen, reformpolitischen Gründen der unmittelbaren Verwirklichung entzieht, fallen in dem geschichtlichen Zeitraum vor der Errichtung eines republikanischen Gemeinwesens die institutionelle Verfassungsordnung des Staates, die »Staatsform«, und die Qualität der Herrschaftsausübung, die »Regierungsart«, auseinander: »Die Staatsformen […] mögen […] bleiben, so lange sie […] durch alte und lange Gewohnheit (also nur subjektiv) für notwendig gehalten werden. Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages […] enthält die Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt, die Regierungsart jener Idee angemessen zu machen, und so sie, wenn es nicht auf einmal geschehen kann, allmählich und kontinuierlich dahin zu verändern, daß sie mit der […] reinen Republik ihrer Wirkung nach zusammenstimme« (RL, KW IV, 463 f.).
Die Regierungsart, d. h. die »Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht«, ist für Kant »entweder republikanisch A
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oder despotisch« (Frieden, KW VI, 206). Die »Principien der Republikanischen Regierungsart« zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Machthaber »zu allmäliger Einschränkung ihrer Staatsgewalt durch die Stimme des Volks« veranlassen (Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden, AA XXIII, 166), so dass ihre Herrschaft »wenigstens […] dem Geiste eines repräsentativen Systems gemäß[.]« ist (Frieden, KW VI, 207). Im Falle der despotischen Regierungsart hingegen wird nach Kant »der öffentliche Wille […] von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt« (ebd.). Den Regierungsarten gegenüber sind die – »nach dem Unterschiede der Personen, welche die oberste Staatsgewalt inne haben«, eingeteilten – zwei klassischen Staatsformen der »Autokratie« und »Aristokratie« nach Kant grundsätzlich wertindifferent, so dass beide Regierungsarten mit beiden Staatsformen kompatibel sind (ebd., 206; vgl. auch RL, KW IV, 461 f.). Für eine historische Übergangsphase allmählicher Verfassungsreformen macht Kant damit – in impliziter Anwendung eines Erlaubnisgesetzes (s. u. Kap. 4.2.2.1) – die jede empirische Herschermacht bindende Rechtspflicht zur republikanischen Machtausübung im Sinne des vernunftrechtlichen Souveräns unabhängig von einer bestimmten Staatsform. Allein die »Demokratie«, die Kant in der Friedensschrift allerdings ausschließlich »im eigentlichen Verstande des Worts«, d. h. im Sinne einer nicht-repräsentativen, unmittelbar plebiszitären Herrschaftsform, begreift, ist für ihn »notwendig ein Despotism« (Frieden, KW VI, 207) 24 ; sie verstößt nach Kant gegen das Prinzip der Gewaltenteilung, da in ihr Legislative und Exekutive zusammen fallen 25 . In den Vorarbeiten zur Friedensschrift macht Kant jedoch deutlich, dass die republikanische Regierungsart letztlich »eine demokratische Verfassung in einem repräsentativen System« verlangt (AA XXIII, 166) 26 . Erst in einer gewaltenteiligen Vgl. dazu Gerhardt 1995b, S. 89–91. Vgl. auch die Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden, AA XXIII, 166: Die direkt-demokratische Staatsform ist »an sich gar nicht repräsentativ«; dass hier das Volk »als Souverän zugleich die Regierung« führt, sei »Despotie«. In der gedruckten Fassung heißt es dementsprechend: »Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens […] sein kann […]« (Frieden, KW VI, 207). Vgl. auch RL, KW IV, 435: »Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein«. Vgl. dazu Kersting 1993, S. 418 f., Anm. 146. 26 Für eine ausführliche Erörterung der – auch aufgrund einer uneinheitlichen Terminologie – undeutlichen verfassungstheoretischen Unterscheidung zwischen Staats- oder Herrschaftsform und Regierungsart sei verwiesen auf die Arbeiten von W. Kersting 24 25
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und demokratisch verfassten Republik kann ein »absolut-rechtlicher Zustand[.] der bürgerlichen Gesellschaft« erreicht werden (vgl. RL, KW IV, 464) 27 . Im Unterschied zu Rousseau, für den schon die Etablierung eines Repräsentativsystems gegen die undelegierbare Selbstbestimmungsfreiheit der Menschen verstößt 28 , spricht Kant die Fähigkeit, den vereinigten Volkswillen zu ermitteln, also nicht nur dem gesetzgebenden Verfassungsorgan einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie zu, sondern sie wird darüber hinaus auch einem autokratisch herrschenden Monarchen zugebilligt, sofern dieser nach der Vertragsidee denkt und handelt. Das im ursprünglichen Vertrag begründete Prinzip der Mitgesetzgeberschaft aller Bürger eines Gemeinwesens ist für Kant – unabhängig von der inneren Herrschaftsorganisation eines Staates – durch ein dem Vertragsprinzip analoges Gedankenexperiment simulierbar. Positive Rechtsgesetze sind dann in einem moralischen Sinne gerecht, wenn sich in der Art und Weise ihrer Entstehung ein kontraktualistisches Einigungsverfahren widerspiegelt. Damit wird deutlich, dass Kant einen von heutigen Theoretikern so genannten prozeduralistischen Begriff öffentlicher Gerechtigkeit vertritt. Da die Übereinstimmung von Rechtsgesetzen mit dem allgemeinen Willen aufgrund der prinzipiellen Kontingenz und Irrtumsanfälligkeit empirischer Einigungsprozesse nach Kant aber durch keinen diskursiv ermittelten faktischen Konsens der Gesetzesunterworfenen zweifelsfrei garantiert werden kann, soll ein kognitiv-normativer Beurteilungsprozess die Legitimität von Gesetzen des öffentlichen Rechts gewährleisten, der von einem beliebigen empirischen Gesetzgeber durchführbar ist 29 . (Kersting 1993, S. 413–454; Kersting 1995, S. 99–104; Kersting 2004b, S. 138–141). Vgl. dazu auch Steigleder 2002, S. 206–210, für den »deutlich erkennbar« ist, »dass Kant im Wissen um die staatliche Zensur schreibt«. Die Kantischen Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Staatsform und Regierungsart interpretiert Steigleder als »ein kleines Meisterstück des Versteckspiels« vor dem preußischen Zensor (ebd., S. 206 f.). 27 Vgl. die Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA XXIII, 342: »Alle bürgerliche Systeme (status civilis) sind entweder autocratisch oder repräsentativ. Jene sind despotisch, diese sind Systeme der Freyheit und der Autonomie der Unterthanen (des Volks) […]. Das repräsentative System der Democratie ist das der Gleichheit der Gesellschaft oder die Republik.« 28 Vgl. Rousseau, Du contrat social, 15. Kapitel (Rousseau 1977, S. 158 f.). Vgl. dazu Herb 2000, S. 145–150; Kersting 2004b, S. 104–106, 120–123. 29 Der vernunftbegriffliche gesetzgebende Vertragswille und der faktische gesamtgesellschaftliche Wille fallen bei Kant nicht zusammen (vgl. RL, KW IV, 498 f.), denn A
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Dieser ist dazu angehalten, sich als Repräsentant des vernunftrechtlichen Souveräns zu begreifen, d. h. in Stellvertretung des gesetzgebenden allgemeinen Willens zu handeln, dem in einer dem Vernunftbegriff des Staates (vgl. RL, KW IV, 499) entsprechenden Organisation der öffentlichen Gewalten allein die legislative Befugnis zukommen kann. Das dazu erforderliche Mittel finden die politischen Akteure in der Fähigkeit ihrer Einbildungskraft zur »erweiterten Denkungsart«, durch die sie sich »in den Standpunkt anderer« versetzen es ist aufgrund flüchtiger emotionaler Stimmungen, partikularer Interessenslagen und sonstiger kontingenter Umstände immer möglich, dass ein Volk, »wenn es darum befragt würde«, einem moralisch gerechten Gesetz »seine Beistimmung verweigern würde« (vgl. Gemeinspruch, KW VI, 153 f.). Auch gegenüber den auf der Ebene des positiven Rechts gesetzgebenden empirischen Mehrheitsentscheidungen der »Delegierten als Repräsentanten des Volks« (vgl. Gemeinspruch KW VI, 152 f.) muss die vernunftrechtliche Konstruktion des »a priori als vereinigt gedachten Willens« (RL, KW IV, 380) eine rechtskritische Funktion behalten. »Zu zahlreich sind die historischen Beispiele für die Unterdrückung von Minderheiten, um an den [unfehlbar] weisen Ratschluss der Mehrheit zu glauben« (Schattenmann 2006, S. 183). Angesichts einer nie auszuschließenden subjektiven Befangenheit ihrer Mandats- und Entscheidungsträger wird eine in der Erfahrungswirklichkeit gegebene Republik (»respublica phaenomenon«) daher auch dann hinter der »respublica noumenon« zurückbleiben müssen, wenn ihre institutionelle Verfassung »[d]ie Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Konstitution« auf das Genaueste zu verwirklichen sucht (Fakultäten, KW VI, 364; vgl. RL, KW IV, 497–99). Aufgrund dieser kritischen Distanz lässt sich das Ideal der gesetzgebenden Gewalt als vereinigter Wille des Volkes immer nur näherungsweise durch verfassungsmäßig institutionalisierte Verfahren der Rechtserzeugung verwirklichen. Die praktische Notwendigkeit, im ›nicht-idealen‹ rechtlichen Zustand eines wirklichen Staates zu leben, ist ein elementarer Bestandteil des normativen Gehalts des Staatsbegriffs »als Gegenstand der Erfahrung« (RL, KW IV, 498). Vgl. dazu Kersting 1993, S. 448–454: »Zweifellos bringt der parlamentarisch-demokratische Gesetzgebungsstaat die respublica noumenon am angemessensten zur Darstellung; denn nur in ihm ist das von Kant mit vernunftrechtlicher Dignität ausgestattete Staatsbürgerrecht, d. h. das Recht auf Teilhabe an der politischen Macht durch mittelbare bzw. unmittelbare Mitwirkung an der Gesetzgebung, realisiert. Gleichwohl wird durch ihn notwendig ein Parlamentsabsolutismus erzeugt, der wie sein monarchischer Vorgänger das natürliche Menschenrecht beleidigen kann, im Gegensatz zu diesem aber den Vorzug der vernunftrechtlich geforderten demokratischen Legitimation besitzt. […]. Diese Bedenken verflüchtigen sich allerdings, wenn man unterstellt, dass die Verfahrensbeteiligten selbst vernünftig sind [und vernunftrechtlich handeln, so] daß ihr Konsens den allgemeinen Willen zum Ausdruck bringt« (ebd., S. 451 f.). Vgl. dazu auch Kersting 1995, S. 92–94; Kersting 2004b, S. 115–120, 136 f.; Höffe 1996b, S. 229 f.; Kühl 1990, S. 77.
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und ihr eigenes, subjektives Urteil »gleichsam an die gesamte Menschenvernunft« halten (vgl. KdU, KW V, 389–391 30 ). Die positiven Gesetze des öffentlichen Rechts und die auf sie bezogenen politischen Grundsätze stehen damit unter dem normativ-kritischen Gebot der universalen Konsensmöglichkeit 31 . Die äußere Freiheit der Menschen in einer den vereinigten Volkswillen ausübenden Republik besteht in dem Recht, nur allgemein anerkennungs- und zustimmungsfähigen Gesetzen unterworfen zu sein: »[M]eine äußere (rechtliche) Freiheit […] ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können« (Frieden, KW VI, 204, Anm.) 32 . Es ist bemerkenswert, dass Kant mit dieser Definition eine Verknüpfung herstellt zwischen dem »angebornen, zur MenschKant führt ebd. weiter aus: »Dieses geschieht nun dadurch, dass man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert.« Vgl. dazu Gerhardt 1995b, S. 191–194. 31 Das hier skizzierte öffentlich-rechtliche Beurteilungskriterium der allgemeinen Zustimmungsmöglichkeit wird von Kant in der unten erörterten »transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts« auf den gesamten Bereich (welt)politischen Handelns erweitert (vgl. Frieden, KW VI, 244–251). Kants prozedurale Methode der Bestimmung einer gerechten politischen Praxis erhält damit eine konkretere, als Dijudikationsregel applizierbare begriffliche Gestalt (s. u. Kap. 5.2). 32 Vgl. Gemeinspruch, KW VI, 153 f.: »Ist [ein öffentliches Gesetz] so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte (wie z. B. daß eine gewisse Klasse von Untertanen erblich den Vorzug des Herrenstandes haben sollten), so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, daß ein Volk dazu zusammen stimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten […].« Das im vereinigten Willen begründete Prinzip der allgemeinen Zustimmungsmöglichkeit ist nach Kant auch der Grund dafür, dass die republikanische Verfassung »die einzige ist, die zum ewigen Frieden hinführen kann« (Frieden, KW VI, 204). Das empirische, sich allein auf rationales Selbstinteresse stützende Argument, das Kant für die Friedensfreundlichkeit der republikanischen Regierungsform anführt, spiegelt aus heutiger Sicht der Dinge jedoch eine allzu optimistische Erwartungshaltung wider: »Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ›ob Krieg sein solle, oder nicht‹, so ist nichts natürlicher als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich lässt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schulden30
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heit notwendig gehörenden und unveräußerlichen Rechte« und der staatsrechtlichen »Idee des ursprünglichen Vertrags« (ebd.). Das angeborene Recht auf allgemeingesetzlichen Willkürgebrauch erweist sich damit als von vornherein ausgelegt auf seine Konkretisierung und Sicherung durch den vereinigten Willen in einem republikanisch verfassten Gemeinwesen 33 . Dass das jedermann kraft seiner Menschheit zustehende Freiheitsrecht sich angesichts der institutionellen Voraussetzungen rechtlicher Wirklichkeit als Recht auf eine Republik herausstellt, hat auch Auswirkungen auf die in diesem Menschheitsrecht begründete innere Rechtspflicht. Das »honeste vive«, also die unaufgebbare Selbstverantwortlichkeit eines jeden für seine rechtsmoralische Personalität, drückt im staatspolitischen Bereich zunächst die Pflicht aus, sich soweit wie möglich nicht durch Despoten beherrschen zu lassen, die den Menschen zum bloßen Mittel herabstufen, »indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie [die Menschen] schlachten zu lassen« (Fakultäten, KW VI, 362) 34 . Das molast, selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen« (ebd., 205 f.). In despotisch regierten Staaten hingegen sei – so Kant – der Krieg »die unbedenklichste Sache von der Welt«, da hier das »Oberhaupt« als »Staatseigentümer« mit einer Kriegserklärung kein Risiko eingehe und Kriege »wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden Gründen beschließen« könne (ebd., 206). Bei Beachtung des Prinzips der möglichen Mitgesetzgeberschaft aller Staatsbürger würde mithin – in der Logik der Kantischen Argumentation – kein Machthaber einen Angriffskrieg beschließen, da dies nicht im rationalen Eigeninteresse des die Kriegslasten tragenden Volkes liegt. Diesen Gedanke haben bereits Erasmus von Rotterdam in seiner Klage des Friedens (Querela pacis, 1517) und Montesquieu in De l’esprit des lois (1748) im Grunde vorweggenommen (vgl. Kersting 1995, S. 96 f.). Zur Diskussion über Kants politiksoziologische These, Republiken seien prinzipiell friedensgeneigt, vgl. die kritischen Anmerkungen mit weiterführenden Literaturhinweisen bei Höffe 1995b, S. 125 f.; Höffe 1995c, S. 254–256. Geismann 1983, S. 378, Anm. weist allerdings zurecht darauf hin, dass bei einer Kants Prognose kritisierenden Anführung von historischen oder zeitgenössischen Gegenbeispielen geprüft werden müsse, inwieweit die Verfassungswirklichkeit der beteiligten Staaten den Kantischen Vorstellungen von einer Republik überhaupt entspricht. 33 Vgl. Kersting 1995, S. 94. 34 Vgl. Brandt 2004, S. 201. Auf die Gründe, die Kant veranlasst haben, jeglichen Versuch eines gewaltsamen Widerstandes gegen die Staatsmacht für strikt verboten zu halten (vgl. insbes. RL, KW IV, 437–443, 497–99), soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Kants Beitrag zum Thema des Widerstandsrechts ist Gegenstand einer langen und kontroversen Diskussion, die insbesondere bei Kersting 1993, S. 455–
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ralisch-rechtliche Verbot, sich von despotischen Machthabern instrumentalisieren zu lassen, erweitert sich aber sogleich zu dem anspruchs501 ausführlich referiert und bei Kühl 1990, S. 88–93 zu einem – aus meiner Sicht richtigen – Abschluss gebracht wird (ähnlich Bartuschat 1987a, S. 46–48; Höffe 1996, S. 231–34). Kants Forderung, »der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen; ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle« (RL, KW IV, 438), wird auf der Grundlage seiner eigenen Rechtsphilosophie spätestens dann fragwürdig, wenn positivrechtliche Regelungen vernunftrechtliche Vorgaben nicht nur verfehlen, sondern zu ihnen in krassem Widerspruch stehen. Die im angeborenen Freiheitsrecht fundierte innere Rechtspflicht, sich im äußeren Verhältnis zu anderen Menschen als moralische Persönlichkeit zu behaupten, stellt »eine uneinschränkbare, keinem Staatsvertrag disponible, sondern im Gegenteil ihn überhaupt erst ermöglichende Pflicht« dar (vgl. Oberer 1997, S. 191). Gegenüber einem totalitären Unrechtsstaat, der die Würde seiner ›Bürger‹ systematisch verletzt und damit seine rechtlichen Legitimationsbedingungen vollständig missachtet, wird man daher kaum – zumindest nicht aus Vernunftgründen – eine staatsbürgerliche Pflicht zu Gewaltverzicht und unbedingtem Gehorsam aufrecht erhalten können. Staatliche Gebilde »können selber Gebilde des Naturzustandes sein«, die nicht vor Gewalttätigkeit schützen, sondern diese nur fortsetzen, »wenn auch in anderer Gestalt, jetzt von Obrigkeit und Individuen« (Bartuschat 1987a, S. 46). Kant konnte sich einen solchen systematischen Unrechtszustand, eine ohne jegliches Vernunftrechtsbewusstsein agierende Staatsmacht offenbar nicht vorstellen (vgl. Kühl 1990. S. 92): Gewaltsamer Widerstand gegen die staatliche Obrigkeit ist für ihn strikt verboten, »weil doch irgend eine rechtliche, obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige, Verfassung besser ist als gar keine« (Frieden, KW VI, 234, Anm.). Gleichwohl bleibt es ein ergänzungsbedürftiger Mangel der Rechtslehre, »dass sie keine inhaltlichen Kriterien für die Abgrenzung des Rechtszustandes vom Unrechtszustand benennt« (Kühl 1990. S. 92); insbesondere hat Kant es unterlassen, ein Mindestmaß an konkreten Rechten des Menschen zu benennen und zu erörtern, die in jedem staatlichen Rechtszustand als dessen Möglichkeitsbedingung realisiert sein müssen und daher verfassungsrechtlich anzuerkennen sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass unrechtmäßige Staatsgewalt nach Kant kritiklos hinzunehmen ist, ihr nicht zumindest widersprochen werden darf. Kant fordert ausdrücklich das öffentliche Beschwerderecht der »Freiheit der Feder«: Durch die jedem Menschen als unveräußerliches Grundrecht zustehende »Befugnis […], seine Meinung über das, was von den [obrigkeitlichen] Verfügungen […] ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen«, kann der despotische Herrscher zu Reformen gedrängt werden (Gemeinspruch, KW VI, 161). Darüber hinaus lässt Kant einen »negative[n] Widerstand« zu, der es dem »Volk durch seine Repräsentanten (im Parlament)« gestattet, »Forderungen«, die von der Regierung an die »Staatsverwaltung« erhoben werden, zu verweigern (RL, KW IV, 441). Der Staatsbürger ist nach Kant jedoch verpflichtet, selbst einen »für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt« wehrlos zu erdulden (440). Es stellt sich daher die Frage, welche Oppositionsmöglichkeiten dem Volk noch bleiben, wenn dessen Regierung die zwei genannten Formen von Widerstand nicht zulässt oder missachtet. Meinungsäußerungs- und PubliA
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vollen Gebot, bei der Herbeiführung politischer Verhältnisse mitzuwirken, die meine Persönlichkeitsrechte und die aller Anderen erhalten und sichern. In der inneren Rechtspflicht spricht sich daher auch die Notwendigkeit zu verfassungspolitischem Engagement aus; sie verlangt von jedem einzelnen Staatsbürger, sich für die Verwirklichung und den Fortbestand der Republik einzusetzen 35 . Indem die republikanische Regierungsart einzelner Machthaber »allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht«, indem sie die bloße »Untertänigkeit des Volks« durch stete Reformierung der überkommenen Staatskonstitutionen verschwinden lässt und stattdessen das Prinzip der Staatsbürgerlichkeit – d. h. das Recht der bürgerlichen Teilhabe an der politischen Macht – bei der Ausgestaltung repräsentativer Verfassungsorgane zugrunde legt, verwandeln sich die tradierten persönlichen Herrschaftsformen »endlich« zu einem »auch dem Buchstaben nach« republikanischen Verfassungsstaat (RL, KW IV, 464). Nur die verallgemeinerungs- und konsensfähige Freiheitsordnung in einem »repräsentative[n] System des Volks« (ebd.) kann nach Kant gewährleisten, dass vernunftrechtliche Verhältnisse dauerhaft gesichert werden, dass »nicht [einzelne] Menschen, sondern die Gesetze machthabend sind« (ebd., 479). »Dies ist die einzige bleibende Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist, und an keiner besonderen Person hängt; der letzte Zweck alles öffentlichen Rechts, der Zustand, in welchem allein jedem das Seine peremtorisch zugeteilt werden kann; indessen, daß, so lange jene Staatsformen dem Buchstaben nach eben so viel verschiedene, mit der obersten Gewalt bekleidete, moralische Personen vorstellen sollen, nur ein provisorisches inneres Recht, und kein absolut-rechtlicher Zustand, der bürgerlichen Gesellschaft zugestanden werden kann« (RL, KW IV, 464).
kationsfreiheit sowie die Möglichkeit zum »negativen Widerstand« des Parlaments sind in einem demokratischen Rechtsstaat zwar unentbehrlich, sie bilden jedoch sicherlich keinen wirksamen Schutz vor despotischer Gewaltherrschaft. Darüber hinaus sind sie allein auch im Hinblick auf die Bestimmung von Mindestvoraussetzungen eines Rechtszustandes unzureichend. 35 Vgl. Kersting 2004b, S. 57.
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4.2.2 Apriorität und Empirie in Kants Eigentumslehre Die folgenden Ausführungen beabsichtigen keine umfassende Darstellung der Besitz- und Erwerbslehre Kants; die spezifischen Bestimmungen sowohl des »persönlichen Rechts« als auch des »auf dingliche Art persönlichen Rechts« der »häuslichen Gesellschaft« (RL §§ 18–40) bleiben unberücksichtigt. Im Vordergrund stehen Kants Begründung des Rechts auf Sachbesitz und ursprünglichen Sacherwerb im privatrechtlichen Naturzustand sowie seine Überlegungen zur Sicherung bzw. Bestimmung dieses »provisorischen« Besitztitels im bürgerlichen Rechtszustand. Gegenstand einer ausführlicheren Analyse ist dabei das »rechtliche Postulat der praktischen Vernunft« (RL, KW IV, 354 f.), da es nicht nur Kants gesamte Besitzlehre begründungssystematisch trägt, sondern zudem – wie noch zu zeigen sein wird – von dem Konzept eines empirisch vermittelten Erlaubnisgesetzes Gebrauch macht, das von zentraler Bedeutung für Kants rechtspolitische Überlegungen ist (s. u. Kap. 5). Wie bereits erörtert wurde, unterteilt Kant die privatrechtlichen Rechte und Pflichten des Menschen in das innere Mein und Dein, das angeboren ist, und das äußere Mein und Dein, das »durch einen äußeren rechtlichen Akt« stets erworben werden muss (RL, KW IV, 368). Das Privatrecht vom inneren Mein und Dein besteht in dem ursprünglichen Menschheitsrecht, von der eigenen Willkürfreiheit innerhalb der durch das Rechtsprinzip gesetzten Grenzen Gebrauch zu machen. Das »Privatrecht vom äußeren Mein und Dein« (ebd., 353 ff.) ist demgegenüber komplexer strukturiert. Es gliedert sich nach Kant in Rechte an körperlichen Gegenständen außer mir (»Sachenrecht«; RL §§ 11– 17), Rechte auf Leistungen anderer Rechtssubjekte (»persönliches Recht«; RL §§ 18–21) und Rechte am Zustand anderer Rechtssubjekte, das »auf dingliche Art persönliche Recht« (d. h. Ehe-, Eltern- und Hausherren- bzw. Gesinderecht; RL §§ 22–30) 36 . Anders als beim Sachbesitz besteht der geltungstheoretische Rechtsgrund für das äußere Mein und Dein nicht-sächlicher Art nach Kant in einer vertraglichen Vereinbarung (außer beim Recht an einem Kind; vgl. RL, KW IV, 36 Vgl. die »Exposition des Begriffs vom äußeren Mein und Dein« in § 4 der Rechtslehre: »Der äußeren Gegenstände meiner Willkür können nur drei sein: 1) eine (körperliche) Sache außer mir; 2) die Willkür eines anderen zu einer bestimmten Tat […]; 3) der Zustand eines anderen in Verhältnis auf mich« (RL, KW IV, 355).
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393) 37 . In den ersten 10 Paragrafen – d. h. im »ersten Hauptstück« des dem äußeren Privatrecht sich widmenden ersten Teils – der Rechtslehre wird das Gemeinsame dieser drei Objektklassen eines potentiellen äußeren Mein und Dein abgehandelt (vgl. RL, KW IV, 353–369). Die Paragrafen 11–17 des »zweiten Hauptstücks« beschäftigen sich mit der Herleitung und Begründung eines sachenrechtlichen Privateigentums (vgl. ebd., 370–382) 38 . Kant untersucht hier also die Bedingungen, unter denen äußere Gegenstände der Willkür, die nicht selbst Rechtssubjekte sind, rechtlich besessen und daher auch faktisch in Besitz genommen werden können 39 . Der unmittelbare Gebrauch und der diesen ermöglichende physische Besitz von äußeren Gegenständen 40 gehört zu den VoraussetzunZu den im persönlichen und dinglich-persönlichen Recht entfalteten erwerbs- und besitzrechtlichen Bestimmungen vgl. die Erörterungen bei Ludwig 1988, S. 134–148; Kersting 1993, S. 293–321; Oberer 1997, S. 187–189; Kühl 1984, S. 300–307 und Brandt 2004. 38 Nur Sachen können nach Kant als Eigentum besessen werden: »Der äußere Gegenstand, welcher der Substanz nach das Seine von jemanden ist, ist dessen Eigentum (dominium), welchem alle Rechte in dieser Sache (wie Akzidenzen der Substanz) inhärieren, über welche also der Eigentümer (dominus) nach Belieben verfügen kann (ius disponendi de re sua). Aber hieraus folgt von selbst: daß ein solcher Gegenstand nur eine körperliche Sache (gegen die man keine Verbindlichkeit hat) sein könne, daher ein Mensch sein eigener Herr (sui iuris), aber nicht Eigentümer von sich selbst (sui dominus) (über sich nach Belieben disponieren zu können) geschweige denn von anderen Menschen sein kann, weil er der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich ist […]« (RL, KW IV, 381 f.). 39 Die Frage, ob die von Kant in der Rechtslehre gewählte Komposition der einzelnen Paragrafen einem systematisch in sich stringenten Aufbau folgt, ist in der Kant-Forschung umstritten und muss an dieser Stelle unerörtert bleiben. B. Ludwig hat in mehreren Publikationen die in der Folge intensiv diskutierte These vorgetragen, die in der Akademie-Ausgabe vorliegende Druckschriftversion der Kantischen Rechtslehre bedürfe einer philologisch-argumentativen Textrevision, wonach insbesondere der wichtige § 2 und das in ihm erstmals auftauchende »rechtliche Postulat der praktischen Vernunft« in den Text von § 6 integriert werden müsse (vgl. Ludwig 1988, S. 7–81; Ludwig 1996; Ludwig 1998, S. XXVI–XL). Diese Textverschiebungsthese ist von anderer Seite angezweifelt worden (vgl. insbes. Tuschling 1988; Friedrich 2004, S. 104 f., 119 f.). Einen wichtigen Einwand gegen Ludwigs These stellt Tuschlings Hinweis dar, dass das »rechtliche Postulat der praktischen Vernunft« später in den §§ 7 und 13 der Rechtslehre unter Verweis auf § 2 zitiert wird (vgl. Tuschling 1988, S. 275). Ich bin in meiner Interpretation des Privatrechts von der herkömmlichen Textgestalt ausgegangen. 40 »Die subjektive Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs überhaupt ist der [physische] Besitz« (RL, KW IV, 353). 37
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gen und elementaren Formen der Verwirklichung äußerer Willkürfreiheit. Ohne die rechtliche Möglichkeit des physischen Besitzes äußerer Gegenstände, d. h. durch ein »absolutes Verbot« ihres Gebrauchs, wäre die äußere Freiheit des Menschen radikal eingeschränkt (RL, KW IV, 354) 41 . Kant ist daher der Auffassung, dass es für mich als Mensch »eine Voraussetzung a priori der praktischen Vernunft« darstellt, »einen jeden [äußeren] Gegenstand meiner Willkür als objektiv-mögliches Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln«: »[E]ine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objektiv) herrenlos (res nullius) werden müsste«, ist freiheitswidrig und daher »rechtswidrig«; »die Freiheit [würde] sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Gegenstandes derselben berauben«, wenn sie »brauchbare Gegenstände außer aller Möglichkeit des Gebrauchs setzte«, d. h. »zur res nullius machte« (ebd., 354 f.) 42 . Die Gegenstände selbst können dem menschlichen Willkürgebrauch nach Kant allenfalls physische, nicht aber rechtliche Schranken setzen 43 , denn ein Rechtsverhältnis als solches kann es nur zwischen Personen geben. Der – die Tierwelt mit umfassenden – dinglichen Welt kommen nach Kant keinerlei Rechte zu; Tiere und Sachen »sind keiner
41 Wie bereits erwähnt wurde (s. o. S. 188–190), impliziert bereits die Feststellung dieser Tatsache empirisch-anthropologische Bestimmungen wie die, dass der Mensch aufgrund seiner Leiblichkeit einen gewissen Lebensraum beansprucht, dass körperliche Gegenstände außer ihm existieren, die er in Gebrauch nehmen kann und zur Befriedigung seiner natürlichen (und kulturell erzeugten) Bedürfnisse und Interessen auch in Gebrauch nehmen muss. 42 Dieser Begründungszusammenhang wird in den Vorarbeiten zur Rechtslehre deutlicher herausgestellt als im publizierten Text. Wären Sachen grundsätzlich dem Zugriff der subjektiven Willkür entzogen, dann wäre die äußere Freiheit des Subjekts »zwar Unabhängigkeit aber kein Vermögen« (AA XXIII, 280). Ein gesetzliches Verbot der ursprünglichen Erwerbung des Bodens »würde die [Willkür-] Freyheit als positives Vermögen aufheben« (ebd., 278). Daraus, dass sich unsere angeborene Willkürfreiheit nur in Bezug auf Äußeres entfalten kann, folgert Kant, dass »wir das Recht[,] uns äußerer Gegenstände zu bedienen[,] als Bedingung der Möglichkeit des inneren Gebrauchs unserer Willkühr ansehen und also das Recht in Ansehung äußerer Gegenstände a priori annehmen müssen (ebd., 311). Vgl. u. a. auch ebd., 294, 303, 309 f., 323 f., 326. Vgl. dazu Kersting 2004b, S. 65: »Die Freiheit ist unteilbar; wenn sie nicht als Gebrauchsfreiheit rechtlich gesichert werden kann, dann geht sie auch als Handlungsfreiheit, Unabhängigkeit und Freiheit zur Entwicklung der inneren Bestimmungen zugrunde.« 43 W. Kersting spricht in diesem Zusammenhang zutreffend von einer bei Kant zu konstatierenden »Versachlichung der Schöpfung« durch ihre »Reduktion auf ein Insgesamt von Willkürgegenständen, auf Brauchbares« (Kersting 1991, S. 118).
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Verbindlichkeit fähig« (Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA XXIII, 273; vgl. auch ebd., 319). Auch die rechtliche Institution des Eigentums setzt also das – aufgrund des begrenzten gemeinsamen Lebensraumes unvermeidliche – Sozialverhältnis zwischen mehreren Menschen als empirisches Grundfaktum voraus. Die Rede von Eigentumsrechten ist nach Kant nur dann sinnvoll, wenn es mindestens eine Person gibt, gegen die ich das äußere Mein abgrenze. In diesem Sinne ist auch seine Bemerkung zu verstehen, »daß ein Mensch, der auf Erden ganz allein wäre, eigentlich kein äußeres Ding als das Seine haben, oder erwerben könnte; weil zwischen ihm, als Person, und allen anderen äußeren Dingen, als Sachen, es gar kein Verhältnis der Verbindlichkeit gibt. Es gibt also, eigentlich und buchstäblich verstanden, auch kein (direktes) Recht in einer Sache, sondern nur dasjenige wird so genannt, was jemanden gegen eine Person zukommt« (RL, KW IV, 371).
Als eine zentrale Verwirklichungsform menschlicher Handlungsfreiheit ist auch die Verfügungsgewalt über Sachen dem allgemeinen Rechtsprinzip unterworfen: »Das äußere Meine ist dasjenige außer mir, an dessen mir beliebigen Gebrauch mich zu hindern Läsion (Abbruch an meiner Freiheit, die mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann 44 ) sein würde« (ebd., 357). Der Gebrauch von Gegenständen stellt – sofern sie ohne Verstoß gegen das »Axiom des Rechts« (ebd., 358), d. h. das allgemeine Rechtsprinzip, in Besitz genommen wurden – kein Unrecht dar und darf somit nicht verhindert werden. Schon die bloß empirische »Inhabung« eines Gegenstandes (ebd.) begründet nach Kant einen Rechtsanspruch: Daraus, dass das innere Mein und Dein das Recht auf körperliche Unversehrtheit umfasst, leitet sich die für Kants Eigentumstheorie bedeutsame Konsequenz ab, dass auch der Schutz eines rechtmäßig erworbenen unmittelbar physischen Besitzes zum angeborenen Recht gehört: Jemand, der mir beispielsweise meinen »Apfel aus der Hand winden […] wollte, würde mich […] in Ansehung des inneren Meinen […] lädieren« (ebd., 356), da ein solcher, »wider meine Einwilligung« erfolgender Zugriff meine Willkürfreiheit gewaltsam einschränkt (vgl. ebd., 358). Dass ich in meinem Freiheitsrecht lädiert werde, wenn mir jemand einen Gegenstand entreißt, den ich mein nenne, folgt daher unmittelbar aus dem angeborenen Mein und Dein: »Der Rechtssatz a priori in AnDer Inhalt der Klammer ist ein Zusatz der zweiten Auflage der Metaphysik der Sitten.
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sehung des empirischen Besitzes ist analytisch«; er »geht also nicht über das Recht einer Person in Ansehung ihrer selbst hinaus« (ebd., 358). Kant ist nun aber nicht daran gelegen, allein die Rechtmäßigkeit des bloß physischen Besitzes zu begründen. Das empirische Moment der physischen Innehabung ist nach Kant zwar eine ursprüngliche Voraussetzung, jedoch keinesfalls eine hinreichende Bedingung für rechtlichen Besitz 45 . »Das äußere Meine« ist vielmehr schon gemäß Kants »Sacherklärung« des Begriffs des äußeren Mein und Dein »dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion sein würde, ob ich gleich nicht im [physischen] Besitz desselben (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin« (ebd., 357). Würde sich rechtliches Eigentum auf die empirische »Inhabung« beschränken, so bedürfte es keiner über das Prinzip der gesetzlichen Willkürfreiheit hinausgehenden Rechtfertigung; das unmittelbar physische Verhältnis zu Sachen wäre schon durch das innere Mein und Dein hinreichend geregelt. Aber weder das allgemeine Rechtsprinzip noch das diesem subjektiv korrespondierende angeborene Freiheitsrecht allein begründen nach Kant, dass ich einen Gegenstand »außer mir«, d. h. etwas von mir räumlich und zeitlich Getrenntes, als das Meine ansehen und behaupten kann (RL, KW IV, 358 f.). Es ist laut Kant daher eine unmittelbare »Aufgabe für die Vernunft«, »zu zeigen, wie ein solcher sich über den Begriff des empirischen Besitzes erweiternde Satz a priori möglich sei« (ebd., 359). Um die nunmehr erforderliche begriffliche Differenzierung zwischen einem »physischen« oder »empirischen« Besitz (»possessio phaenomenon«) und einem »bloß-rechtlichen« oder »intelligiblen« Besitz (»possessio noumenon«; vgl. dazu RL, KW IV, 353, 357 f., 363) zu rechtfertigen, verweist Kant darauf, dass »die reine praktische Vernunft keine andere als formale Gesetze des Gebrauchs der Willkür zum Grunde legt« (ebd., 354). Von vernunftrechtlicher Bedeutung ist nur die »Form im [äußeren] Verhältnis der beiderseitigen Willkür« (ebd., 337); d. h. das Recht legt nur die formalen Bedingungen für den äußeren Gebrauch fest, den eine Person von ihrer Willkür macht. Diejenigen Gesetze der praktischen Vernunft, die den rechtlichen Gegenstandsgebrauch regeln, sind nach Kant nun insofern formal, als sie von der konkreten »Beschaffenheit des Objekts, wenn es nur ein Gegenstand der Willkür ist, abstrahier[en]« (ebd., 354). So wenig, wie bei der Beurteilung von rechtlichen 45 »Der bloße physische Besitz (die Inhabung) […] ist schon ein Recht in einer Sache, obzwar freilich noch nicht hinreichend, ihn als das Meine anzusehen« (RL, KW IV, 360).
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Handlungen der empirische »Zweck, den ein jeder mit dem Objekt, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung« kommt (ebd., 337), so wenig darf sich die Beurteilung eines willkürlichen Gegenstandsgebrauchs an der empirischen Relation des Gegenstandes orientieren. Aus der Perspektive der reinen praktischen Vernunft ist es gleichgültig, ob ein Gegenstand meiner allgemeingesetzlichen äußeren Willkürfreiheit faktisch in meiner physischen Macht steht oder nicht. Es ist nach Kant daher ein »Grundsatz[.] a priori« der praktischen Vernunft, dass »alle Bedingungen der Anschauung, welche den empirischen Besitz begründen, […] weggeschafft (von ihnen abgesehen) werden [müssen], um den Begriff des Besitzes über den empirischen hinaus zu erweitern und sagen zu können: ein jeder äußere Gegenstand der Willkür kann zu dem rechtlichMeinen gezählt werden, den ich (und auch nur so fern ich ihn) in meiner Gewalt habe, ohne im [physischen] Besitz desselben zu sein« (ebd., 361).
Daraus, dass aufgrund der Formalität der Vernunftgesetzgebung der empirische Besitz nicht zur Bedingung des rechtlichen Besitzes gemacht werden kann, folgt laut Kant, dass ein Eigentum äußerer Gegenstände möglich sein muss, bloß insofern sie »als in meiner Gewalt« stehend »gedacht werde[n]« können (ebd., 362; Hervorheb. v. m.). Mit der »Deduktion eines nicht-empirischen Besitzes« macht Kant ein »rechtliche[s] Postulat der praktischen Vernunft« geltend, welches verlangt, »daß es Rechtspflicht sei, gegen andere so zu handeln, daß das Äußere (Brauchbare) auch das [intelligible] Seine von irgend jemanden werden könne« (ebd., 361; vgl. auch ebd., 354 f.). Es wäre laut Kant widersprüchlich, die formale Freiheitsregelung des willkürlichen Gegenstandsgebrauchs von der materialen Frage abhängig zu machen, ob ein brauchbarer Gegenstand in der Gegenwart von mir physisch besessen wird oder ob er sich in räumlicher und zeitlicher Ferne zu mir befindet. Deutlicher als in der Druckfassung kommt dieser Gedanke in den Vorarbeiten zur Rechtslehre zum Ausdruck: »Würde nun kein äußeres Mein und Dein möglich seyn[,] so würde die Freyheit sich selbst vom physischen Besitz d. i. von Sachen in Raum und Zeit abhängig machen[,] folglich der Rechtsbegriff selbst von empirischen Bedingungen a priori abhängig[,] mithin selbst empirisch seyn[,] welches dem Begriffe des Rechts widerspricht« (AA XXIII, 336).
Wäre rechtlicher Besitz nur als physische Innehabung möglich, »so würde unsere freye Willkühr in Ansehung des Gebrauchs der Objecte von diesen sich selbst abhängig machen[,] d. i. […] die Freyheit im Ge258
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brauche derselben[,] der sonst in ihrer Gewalt steht[,] würde durch die Objecte eingeschränkt werden; welches unmöglich ist« (ebd., 213). Kant stellt daher fest: »Das Princip der Möglichkeit des Mein und Dein außer uns ist […] das Princip der Idealität des Besitzes […]« (ebd., 235). Folglich gilt die für das erste Hauptstück des Privatrechts zentrale These: »Die Art […], etwas außer mir als das Meine zu haben, ist die bloß-rechtliche Verbindung des Willens des Subjekts mit jenem Gegenstande, unabhängig von dem Verhältnisse zu demselben im Raum und in der Zeit, nach dem Begriff eines intelligibelen Besitzes« (RL, KW IV, 363).
Das zweite Hauptstück des Privatrechts handelt »[v]on der Art, etwas Äußeres zu erwerben« (ebd., 368). Der Aufweis der rechtlichen Notwendigkeit, (alle) äußere(n) Gegenstände der Willkür als potentielles intelligibles Eigentum betrachten zu können, reicht allein nicht aus, um die Rechtmäßigkeit eines bestimmten Eigentumstitels zu begründen. Nicht nur die Frage nach der moralisch-rechtlichen Möglichkeit, sich überhaupt einen Gegenstand der äußeren Willkür anzueignen, sondern auch die Frage, auf welche Weise Gegenstände zum äußeren Mein und Dein von irgend jemandem werden können, muss sich in Übereinstimmung mit dem Begriff des angeborenen Rechts beantworten lassen. Es muss also gezeigt werden, dass auch der konkrete Akt der Erwerbung in vernunftrechtlichen Kategorien denkbar ist. Damit ist das Problem verbunden, wie aus einer zunächst bloß einseitigen empirischen Inbesitznahme nach Kant das Sozialverhältnis eines intelligiblen Besitzrechts entsteht. Kant unterscheidet zwei Arten des Eigentumserwerbs: Die »von dem Seinen eines anderen abgeleitet[e]« Erwerbung (RL, KW IV, 368) erörtert er im Abschnitt über das »persönliche Recht« (vgl. ebd., 382– 388); in ihrem Fall wird das bereits rechtmäßige Eigentum einer Person gemäß einem Vertrag durch »Veräußerung« an eine andere Person übertragen (ebd., 383). Da nach Kant aber nicht jedes Besitzverhältnis abgeleitet sein kann (ebd., 377), geht es ihm zunächst um die Begründung einer ursprünglichen Erwerbung von Sachen, die also (noch) nicht das besondere äußere Meine eines anderen sind. Kant ist der Auffassung, dass die erste ursprüngliche Erwerbung von Gegenständen im Naturzustand 46 – er spricht diesbezüglich von »Bemächtigung (occupa46 Es wurde bereits erläutert, dass das Privatrecht der Rechtslehre, also auch das äußere Privatrecht auf Eigentumserwerb, Recht im Naturzustand ist (s. o. Kap. 4.1).
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tio)« (ebd., 369) – nur die Erwerbung eines konkreten Teils der Erdoberfläche im Sinne »bewohnbare[n] Land[s]« sein kann (ebd., 372). Jede »der Materie nach« »bewegliche Sache« beansprucht einen Platz auf dem Erdboden, der »als Substanz« anzusehen sei. Einen dem Bodenerwerb vorgängigen Erwerb der dieser Substanz akzidentell anhängenden Gegenstände kann es laut Kant nicht geben 47 . Dass »[e]in jeder Boden […] ursprünglich erworben werden« kann, gründet »auf dem Postulat der praktischen Vernunft« (RL, KW IV, 372): Da die ursprüngliche Erwerbung ›beweglicher Gegenstände‹ nach Kant nur über die Erwerbung des sie tragenden Erdbodens möglich ist, jeder äußere Gegenstand der Willkür aber ein mögliches äußeres Mein und Dein sein soll, so folgt unmittelbar, dass »jeder Boden« ursprünglich erworben werden darf. Jede ursprüngliche Erwerbung eines Landstücks und damit auch jedes konkrete Eigentum an Sachen setzt nach Kant zunächst die Idee eines ursprünglichen Gesamtbesitzes aller Menschen am Boden und damit auch an allen darauf befindlichen Sachen voraus. »Diese ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens, und hiemit auch der Sachen auf demselben (communio fundi originaria), ist eine Idee, welche objektive (rechtlichpraktische) Realität hat, und ist ganz und gar von der uranfänglichen (communio primaeva) unterschieden, welche eine Erdichtung ist; weil diese eine gestiftete Gemeinschaft hätte sein und aus einem Vertrage hervorgehen müssen […]« (RL, KW IV, 359 f.).
Ausgehend von einem solchen Vertrag – »durch den alle auf den Privatbesitz Verzicht getan, und ein jeder, durch die Vereinigung seiner Besitzung mit der jedes andern, jenen in einen Gesamtbesitz verwandelt« hätte – wäre aber nur eine abgeleitete und keine ursprüngliche Erwerbung möglich (ebd., 360; vgl. auch ebd., 368). Wenngleich der Begriff eines »vor allem rechtlichem Akt der Willkür« ursprünglichen Gesamtbesitzes des Bodens also »nicht empirisch und von Zeitbedingungen abhängig ist« – wie es beim »nie erweisliche[n]« uranfänglichen Gesamtbesitz der Fall wäre –, so kann dessen Vorstellung doch nur im Rückgriff auf das gleichsam ungeschichtliche empirische Grundfaktum der begrenzten Erdoberfläche als notwendig erwiesen werden (ebd., 373). Kant gründet seinen »Beweis« für die Gemeinsamkeit dieses Besitzes zunächst auf der Prämisse, dass alle Menschen aufVgl. dazu die kritischen Ausführungen bei Kühl 1984, S. 196–200; Zotta 2000, S. 69– 71.
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grund ihres angeborenen Mein ein Recht haben, »da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat« (ebd., 372 f.). Da der Mensch als leibliches Vernunftwesen »vor allem rechtlichen Akt, keinem Unrecht getan hat« (ebd., 345), hat er ein angeborenes Recht auf irgendeinen Platz am Boden. Aufgrund »der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche«, können sich die Menschen aber nicht »so zerstreuen […], daß sie in gar keine Gemeinschaft mit einander kämen«. Es ist also eine »notwendige Folge von ihrem Dasein auf Erden«, dass sie aufeinander treffen (ebd., 372 f.) und »endlich sich doch neben einander dulden […] müssen« (Frieden, KW VI, 214). Aus dieser Naturbedingung eines unvermeidlichen Sozialverhältnisses folgert Kant, dass »ursprünglich […] niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere« (ebd.). Wenn »vor allem rechtlichem Akt der Willkür« aber jeder potentiell jeden Platz einnehmen darf, dann muss der Erdboden als ursprünglich gemeinschaftlicher gedacht werden 48 . Der ursprüngliche Gemeinbesitz ist mithin »von der Natur selbst konstituiert«; gleichwohl ist er nach Kant »ein praktischer Vernunftbegriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können« (RL, KW IV, 373). Die gedankliche Voraussetzung einer ursprünglichen Gemeinschaft des Bodens ist nach Kant also »der Grund der Möglichkeit« der ursprünglichen Erwerbung eines bewohnbaren Landstücks und damit zugleich jedes Privatbesitzes (ebd., 372; vgl. ebd., 360). »Alle Menschen sind durch ihr angebohrnes Recht vor allem äußern Mein und Dein im ursprünglichen Besitz des Bodens[,] auf welchem rechtlichen Besitz die Möglichkeit der Erwerbung desselben zuerst gegründet werden muß« (Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA XXIII, 318).
Die Idee einer ursprünglichen Gemeinschaft des Bodens und der auf ihm befindlichen Sachen hat bedeutsame Konsequenzen für den recht-
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Vgl. die Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA XXIII, 320: »Vermöge der durch die Natur bestimmten Gestalt und Größe der bewohnbaren Erdfläche (als Kugelfläche) hat er [der Mensch] ein angebohrnes Recht[,] zu jedem Platz auf derselben einen oder den andern einzunehmen[,] d. i. er ist in einem potentialen aber nur disjunctiv allgemeinen Besitz aller Plätze des Erdbodens, mithin stehen alle Bewohner der Erde[,] weil sie durch diese Einheit ihres Aufenthalts in ein Verhältnis des durchgängig-wechselseitigen möglichen Einflusses gesetzt sind[,] im angebohrnen potentialen Gesammtbesitz des Erdbodens […].« A
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lichen Charakter der ursprünglichen Erwerbung: Da der Erdboden als im Gemeinbesitz befindlich – und nicht etwa als ursprünglich herrenlos – betrachtet wird, trifft der Ersterwerber beim Akt der »Bemächtigung« nicht auf rechtsfreie Gegenstände, sondern auf die Gemeinschaft der im ursprünglichen Gesamtbesitz vereinigten Mitbesitzer. Bisher ist nur geklärt, dass die ursprüngliche Erwerbung empirisch durch die »Bemächtigung (occupatio)« (RL, KW IV, 369, 373 f.) eines bestimmten Teils des Gemeinbesitzes erfolgt 49 . Die notwendige Vorstellung des ursprünglichen Kollektivbesitzes allein ist aber nicht hinreichend, um den eigenmächtigen Okkupationsakt als rechtmäßig denken zu können, »denn durch einseitigen Willen kann anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden« (ebd., 375). Unter welchen Bedingungen also ist eine ursprüngliche Bemächtigung vernunftrechtlich legitimiert, so dass sie einen intelligiblen Eigentumstitel begründet? Um als Eigentümer anderen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen »wird ein allseitiger nicht zufällig, sondern a priori, mithin notwendig vereinigter und darum allein gesetzgebender Wille erfordert; denn nur nach dieses seinem Prinzip ist Übereinstimmung der freien Willkür eines jeden mit der Freiheit von jedermann, mithin ein Recht überhaupt, und also auch ein äußeres Mein und Dein möglich« (ebd., 374).
Der einseitige Erwerbswille begründet nur dann einen »intelligibele[n] Besitz«, wenn er einem »a priori als vereinigt gedachten Willen gemäß ist« (ebd., 380). »Der Besitzer fundiert sich auf dem angebornen Gemeinbesitze des Erdbodens und dem diesem a priori entsprechenden allgemeinen Willen eines erlaubten Privatbesitzes auf demselben […]« (ebd., 359; vgl. ebd. 374). Da die ursprüngliche Erwerbung unter der »Idee eines möglichen vereinigten Willens« steht (ebd., 368), hat schon die Besitzergreifung im Naturzustand nach Kant einen »Vernunfttitel« (ebd., 375) 50 . Sie ist als »provisorische dennoch eine wahre Erwerbung« (ebd.) 51 . »[D]ie ursprüngliche Erwerbung […] eines abgemessenen Bodens [kann] nur durch Bemächtigung (occupatio) geschehen« (RL, KW IV, 374). 50 Vgl. RL, KW IV, 375: »Der Vernunfttitel der Erwerbung aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten (notwendig zu vereinigenden) Willens aller liegen, welche hier als unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) stillschweigend vorausgesetzt wird; denn durch einseitigen Willen kann anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden.« 49
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Die »Idee eines möglichen vereinigten Willens« ist neben den empirischen Handlungen der Inbesitznahme und Deklaration des Besitzwillens das normative, dritte Moment, das gemäß dem »[a]llgemeine[n] Prinzip der äußeren Erwerbung« einen rechtmäßigen ursprünglichen Eigentumstitel im Naturzustand auszeichnet (vgl. ebd., 368) 52 . Der Ersterwerb eines Landstücks ist demnach zwar »die Folge von einseitiger Willkür«, denn »eine ursprüngliche Erwerbung [kann] nur aus dem einseitigen Willen hervorgehen« (ebd., 369). Da die Idee des allgemein vereinigten Willens nach Kant jedoch der Legitimationsgrund eines jeden ursprünglichen Erwerbsaktes ist, muss dieser vor dem Hintergrund des ursprünglichen Gesamtbesitzes als ein Akt der Zuteilung, der Übereignung durch den vereinigten Willen aller vorgestellt werden. Der ursprüngliche Gesamtbesitz ist bei Kant infolge des »rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft« also von vornherein darauf angelegt, sich in Privateigentum aufzulösen 53 : Die Ersterwerbung eines bestimmten Teils des ursprünglichen Gemeinbesitzes ist für Kant nur als »[A]ustheilung durch den gemeinschaftlichen Willen« an eine einzelne Person denkbar (Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA XXIII, 223; vgl. auch ebd. 237); Kant spricht in diesem Zusammenhang auch von einer notwendigen allseitigen »Verwilligung« (ebd., 286, 309). Mit R. Brandt ist daher anzunehmen: »Der Sachbesitz eines anderen und die mit ihm identisch verbundene Einschränkung meiner äußeren Handlungsfreiheit ist rechtlich möglich, weil ich in der Idee auf meinen Mitbesitz verzichtet habe.« 54 51 Wie wir noch sehen werden, stellt der provisorische Besitz noch keine vollständige Eigentumsposition dar; er wird erst im bürgerlichen Zustand zu einem justitiablen, d. h. peremtorischen Besitz (s. u.). 52 »Die Momente […] der ursprünglichen Erwerbung« oder »Bemächtigung« sind also im Einzelnen: 1.) die physische »Besitznehmung des Gegenstandes der Willkür im Raum und der Zeit« (»Apprehension«); 2.) die öffentliche »Bezeichnung« des Gegenstandes als mein Besitz und die laut Kant damit einhergehende Bekundung, jeden anderen von dessen Gebrauch abhalten zu wollen; 3.) »Die Zueignung (appropriatio) als Akt eines äußerlich allgemein gesetzgebenden Willens (in der Idee), durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden wird« (ebd., 368 f.). 53 Vgl. Unruh 2005, S. 141. 54 Brandt 1974, S. 191. Vgl. dazu auch Kersting 2004b, S. 70. Laut F. Zotta wird Privateigentum von Kant zwar »zur exklusiven Denkmöglichkeit« erklärt, nirgends zeige Kant jedoch, dass dieser »possessive Zugriff auf die Welt der einzig mögliche ist«; dies werde von ihm vielmehr »stillschweigend vorausgesetzt« (Zotta 2000, S. 55). Zottas Kritik bezieht sich zunächst auf Kants Argumentationsführung bei der Begründung
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Aber worin genau besteht die Leistung der vorauszusetzenden vereinigten Willkür im Zusammenhang mit der Erstokkupation? Unter welche Legitimationsbedingungen stellt die in der Idee vereinigte des »rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft«, in der er »gravierende logische Mängel«, d. h. eine letztlich zirkuläre Beweisführung entdeckt: »Kants Grundannahme ist zugleich der Inhalt des Postulats, d. h. es soll möglich sein, jeden äußeren Gegenstand zum meum iuris zu machen. Aus der Unmöglichkeit, das logische Gegenteil (welches besagt, dass es Gegenstände gibt, die an sich res nullius sind) annehmen zu können, folgert er, dass nur die im Postulat transportierte Vorstellung möglich ist. Die Voraussetzung einer korrekten apagogischen Beweisführung ist aber das Vorhandensein einer vollständigen zweigliedrigen Disjunktion bzw. Alternative […]. Insofern kann aus dem Beweis, dass es keine Gegenstände geben kann, die res nullius sind, nicht folgen, dass sie notwendig zum Rechtlich-Meinen gemacht werden können« (Zotta 2000, S. 52 f.). Privateigentum sei daher entgegen Kants Absicht nicht als notwendiges Vernunftpostulat erwiesen (ebd., S. 54). Dass Kants Argumentation das Recht in der Gestalt des Privateigentums vielmehr nur als möglich, nicht aber als notwendig erweist, ist ein meines Erachtens richtiger Interpretationsbefund. Zu diesem Ergebnis kommt auch Deggau 1983, S. 84–91, dessen argumentationslogische Kritik an Kants Begründung des rechtlichen Postulats sich mit Zottas Hinweisen weitgehend deckt (vgl. insbes. ebd., S. 87). B. Ludwig spricht in diesem Zusammenhang von einer »eher missglückten Argumentation« Kants (Ludwig 1993, S. 228). Vgl. dazu auch die mitunter polemische Kritik bei Struck 1987, insbes. S. 473. Folgt man Zottas Argumentation, dann hat die mangelnde Beweiskraft der Kantischen Begründung des Begriffs vom äußeren Mein und Dein entsprechende Konsequenzen für Kants sachenrechtliche Erwerbstheorie, in der ja die praktische Realisierbarkeit des Vernunftpostulats aufgezeigt werden soll: »Wieso die communio originaria nicht die Basis für eine [vom Gemeinwillen getragene; O. L.] kollektive Nutzung des Bodens sein kann, wird von Kant nicht begründet. Stattdessen postuliert er ad hoc die Notwendigkeit des Privateigentums« (Zotta 2000, S. 77). Vgl. dazu auch Tuschling 1978, insbes. S. 304–307. Tuschling verweist auf den zeitgenössischen sozialökonomischen Hintergrund – die sich mit der liberalen Marktwirtschaft ankündigende »kapitalistische Aneignung und Produktion als herrschender Beziehung auf die Gesamtheit der Gegenstände gesellschaftlich möglicher Aneignung« –, der Kant möglicherweise dazu veranlasst habe, »die individuelle Aneignungsbeziehung als einzige einer vernünftig-gesetzmäßigen Formgebung fähige und allein der individuellen Freiheit konforme Aneignungsbeziehung« zu behaupten (ebd., 306). Tatsächlich ist Kant der Frage, warum ein vernunftrechtlich begründetes Eigentum notwendig ein individuelles Privateigentum sein soll, nicht weiter nachgegangen. K. Kühl ist zwar zuzustimmen, wenn er mit Kant »die individuelle Verfügungsgewalt für vorrangig« hält, »weil wir uns als einzelne in unserer freien Willkür vorfinden«. Unklar bleibt aber, warum erst dann, wenn es »beispielsweise im wirtschaftlichen Bereich nicht mehr möglich wäre«, die individuelle »Willkür mit der aller kompatibel« zu machen, »Formen der Sozialisierung von Privateigentum das Recht [hätten], sich als Möglichkeit
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Willkür die ursprüngliche Erwerbung? Kants Antwort ist eindeutig: Der zeitliche Vorrang, das Kriterium der »Priorität der Zeit vor jedem anderen, der sich einer Sache bemächtigen will«, ist der entscheidende und einzige vernunftrechtliche Maßstab jeder ursprünglichen Erwerbung (RL, KW IV, 369). Die ursprüngliche »Besitznehmung […] stimmt unter keiner anderen Bedingung mit dem Gesetz der äußeren Freiheit von jedermann (mithin a priori) zusammen, als unter der der Priorität in Ansehung der Zeit« (ebd., 373). Die alleinmaßgebliche »Priorität der Apprehension« steht – so Kant in den Vorarbeiten zur Rechtslehre – selbst »unter der Idee einer Vereinigten Willkühr« (AA XXIII, 221). Damit ist eine rechtliche Bevorzugung bestimmter Handlungsformen bei der Ersterwerbung für Kant ausgeschlossen 55 : »Die Gültigkeit des Schlusses vom sensiblen auf den intelligiblen Besitz […] achtet allein auf die Erfüllung der Prioritätsbedingung« 56 . Wenngleich die ursprüngliche Erwerbung nach Kant also als Zueignung »eines möglichen vereinigten Willens« vorgestellt werden muss, kann der Gemeinwille seine Zueignung nicht mit inhaltlichen Bestimmungen verknüpfen. Faktisch zur Passivität verurteilt, kann und muss er nach Kant den zeitlich ersten Okkupationsakt für rechtmäßig erklären. W. Kersting ist daher zuzustimmen, wenn er feststellt: »Kants Theorie des ursprünglichen Bodenerwerbs ist der materialen Verteilung gegenüber gleichgültig; wenn sie nur durchgängig die Bedingung der zeitlichen Priorität bei ihrer Konstitution erfüllt hat, kann sich jede denkbare Besitzordnung ohne Widerspruch in die apriorische normative Struktur einlagern. Indem Okkupation zum Verteilungsprinzip erhoben wird, reguliert die Natur die Realisierung des Rechts auf besonderen Besitz, und der Freiheit bleibt nur übrig die Entscheidung ihrer ewigen Widersacherin ohnmächtig abzusegnen.« 57 anzubieten« (Kühl 1984, S. 194, Hervorheb. v. m.). Die universale Gültigkeit der Kantischen Eigentumstheorie endet für Zotta vielmehr schon dort, »wo Menschen übereinkommen, den Zugriff auf die Dingwelt unter Verzicht auf privateigentumstheoretische Vorstellungen zu regeln« (Zotta 2000, S. 119). Aus der Notwendigkeit eines den empirischen Besitz vernunftrechtlich »erweiternden« intelligiblen Eigentumsbegriffs folgt nicht zwangsläufig die bestimmte soziale Eigentumsstruktur des individuellen Privateigentums. Neben dem dauerhaften Privatbesitz an äußeren Gegenständen sind andere Besitzrechtskonzeptionen denkbar, die in Übereinstimmung mit der allgemeingesetzlichen äußeren Willkürfreiheit der Menschen stehen. 55 Vgl. Kühl 1984, S. 201. 56 Kersting 1993, S. 273. 57 Ebd. A
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Aber ist die Legitimität des ursprünglichen Erwerbungsaktes damit nicht abhängig von empirisch-kontingenten »temporale[n] Konstellationen«, denen im Rahmen vernunftrechtlicher Argumentation nach Kant eigentlich keinerlei geltungstheoretische Bedeutung zukommen dürfte, wie F. Zotta meines Erachtens zurecht einwendet? 58 Das von P. Unruh zur Verteidigung Kants angeführte Argument der »Alternativlosigkeit des Prioritätskriteriums für eine freiheitskompatible Eigentumsbegründung« kann jedenfalls nicht überzeugen 59 . Denn – so wäre mit Zotta zu entgegnen – »was hätte Kant daran hindern können«, die Idee der vereinigten Willkür dem Okkupationsakt in einem geltungstheoretisch wirksamen, aktiv gestaltenden Sinne vorzuordnen, so dass »letztlich die vereinigte Willkür Eigentum gemäß allgemeiner Gerechtigkeitsgrundsätze zuteilt«? 60 Abgesehen davon, dass die Vorstellung, eine notwendig eigenmächtige Aneignung begründe als eine durch die Idee der vereinigten Willen aller erfolgte Zueignung eine ursprüngliche Erwerbung, eine »paradoxieverdächtige Konstruktion« ist 61 , hat Kants Theorie der besitzrechtlichen Ersterwerbung für unser natürliches moralisches Bewusstsein nur schwer erträgliche Konsequenzen. Denn der empirischexistenziellen Fragestellung, ob der Boden, den der Erstokkupant erworben hat, ein fruchtbares Stück Land ist, das ihn ernähren kann, oder ein Platz in der Wüste, der seine Selbsterhaltung erschwert oder unmöglich macht, scheint Kant in seiner Argumentation keinerlei Bedeutung beizumessen 62 . »Die Verwandlung der einzigen Wasserstelle in einer Wüste in das Privateigentum eines Erstokkupanten ist gemäß der Kantischen Kategorien als rechtmäßiger Erwerbsakt vorstellbar.« 63 Zotta 2000, S. 101. Kant selbst hatte den Vorzug der Idee eines »vor allem rechtlichem Akt der Willkür« ursprünglichen Gesamtbesitzes des Bodens vor einem »nie erweisliche[n]« uranfänglichen Gesamtbesitz ja gerade damit begründet, dass erstgenannter »Vernunftbegriff« »nicht empirisch und von Zeitbedingungen abhängig ist« (s. o.). 59 Vgl. Unruh 2005, S. 141. 60 Vgl. Zotta 2000, S. 116–122 (hier verw. Zitat ebd., S. 116). 61 Vgl. Kersting 2004b, S. 69. 62 So auch Höffe 1996b, S. 225. 63 Zotta 2000, S. 80. Zotta fährt fort: »Damit aber wird in Kants Modell Leben angesichts der tatsächlichen Beschaffenheit des Erdballs […] zu einem Lotteriespiel und der Zufall des Geburtsortes schließlich zum Rechtsgrund – nämlich zum Recht, in der Wüste leben zu ›dürfen‹ und der Verpflichtung, auf diesem kargen Boden die Subsistenz zu bewerkstel58
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Ursprüngliches Eigentum entsteht nach Kant unabhängig von allen empirischen Bedürfnislagen und Lebenszielen des Menschen ausschließlich aufgrund des zeitlichen Vorrangs der »Bemächtigung«. Dieser systematisch begründete Mangel an Sensibilität für existenzielle anthropologische Grundbedürfnisse ist nicht nur in seinen Konsequenzen äußerst problematisch, sondern schon aufgrund der von Kant selbst im Rahmen seiner Argumentation verwendeten Prämissen nicht nachvollziehbar. F. Zotta kritisiert daher zurecht: »Zwar wird die Erde in ihrer empirischen Gestalt als endliche Fläche in Kants Rechtslehre wahrgenommen, doch lässt er ihrer Beschaffenheit nicht die volle Relevanz zu Teil werden, die ihr eigentlich zukommen müsste. Die Erde ist nicht nur rund, sondern auch unterschiedlich bezüglich ihrer geographischen und klimatischen Bedingungen. Wenn Separatbesitz gedacht wird als freiwilliger Verzicht auf den Mitbesitz, so reflektiert das zuwenig diese empirischen Voraussetzungen. Es ist ja weder einzusehen noch erscheint es vernünftig, dass jemand auf einen Besitzanspruch verzichten sollte, wenn er weiß (oder zumindest damit rechnen muss), dass er auf einem unfruchtbaren kargen Boden sitzen bleibt. Da wird es ihn vermutlich wenig trösten, dass er ihn als sein Eigentum betrachten darf. Nur damit die Institution Eigentum wirklich werden kann, wird niemand in Aussicht solcher Folgen auf den Mitbesitz verzichten wollen. Unter diesen Umständen würde er vernünftigerweise auf der Beibehaltung des Kollektiveigentums beharren.« 64
In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die von Kant selbst aufgeworfene Frage nach den quantitativen Grenzen einer rechtlich möglichen ursprünglichen Erwerbung im Naturzustand. Während die Vorarbeiten zur Rechtslehre noch deutliche Spuren einer grundsätzlichen Eigentumsbegrenzung aufweisen 65 , scheint Kant diese Argumentation in der Druckfassung aufgegeben zu haben. Kants Antwort auf die »Frage: wie weit erstreckt sich die Befugnis der [ersten] Besitznehmung eines Bodens?« lautet hier: »So weit, als das Vermögen, ihn in seiner Gewalt zu haben, d. i. als der, so ihn sich zueignen will, ihn verteidigen ligen, wenn keine Möglichkeit besteht, in einem fruchtbaren Landstrich rechtmäßig Eigentum zu erwerben« (ebd., S. 82). 64 Zotta 2000, S. 76, Anm. 177. 65 »Durch den angebohrnen Besitz des Bodens schließe ich jedermann von demjenigen Gebrauch desselben aus[,] der zur Erhaltung meines Daseyns erforderlich ist« (AA XXIII, 286), »denn wenn ich alles zusammen erwerben könnte würde meine Freyheit anderer ihre nicht einschränken[,] sondern aufheben« (ebd., 278). »[D]en ganzen Boden kann ich nicht ursprünglich erwerben[,] weil ich dadurch alle andere von dem Rechte ausschließen würde irgendwo zu seyn« (ebd., 320). A
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kann, gleich als ob der Boden spräche: wenn ihr mich nicht beschützen könnt, so könnt ihr mir auch nicht gebieten« (RL, KW IV, 375 f.). Im unmittelbaren Anschluss an diese Textpassage bringt Kant seine Antwort vor dem Hintergrund des völkerrechtlichen Problems der Offenheit bzw. Geschlossenheit der Meeresfläche auf die intuitiv inakzeptable Formel, die ursprüngliche Erwerbsbefugnis reiche soweit, »wohin die Kanonen reichen« (ebd., 376). Diese Aussagen Kants können aus mehreren Gründen nicht überzeugen. Dass die Legitimität des ursprünglichen Erwerbsumfanges an die Verteidigungsfähigkeit des Erstokkupanten geknüpft wird, ist zunächst einmal nicht damit vereinbar, dass der rechtmäßige Anspruch einer ursprünglichen Besitznehmung ausschließlich unter der »Bedingung […] der Priorität in Ansehung der Zeit« stehen soll (ebd., 373). Denn – wie W. Kersting zutreffend feststellt – »[n]icht der Stärkere wird durch die Theorie Kants begünstigt, sondern der Erste«66 . Mit einer durch individuelle körperliche Potenz und Waffentechnik bedingten Verteidigungsfähigkeit würde der ursprüngliche Eigentumserwerb darüber hinaus von einer weiteren empirischen und subjektiv-zufälligen Voraussetzung abhängig gemacht, die nach Kants eigener Auffassung keinen vernunftrechtlichen Geltungsanspruch begründen kann 67 . Schließlich blendet die Kantische Argumentation die Möglichkeit aus, »mich der Dienste anderer zu versichern, die an allen Orten der Erdoberfläche in meinem Namen meine Kanonen bedienen und damit den Umfang meiner Besitznehmungen beliebig ausdehnen könnten« 68 . Vor dem Hintergrund, dass das ursprüngliche Eigentum im Naturzustand also faktisch unabhängig von jeder konsensuellen Begrenzung durch die Idee der vereinigten Willkür ist, vielmehr ausschließlich das Ergebnis kontingenter eigenmächtiger Okkupation durch das einzelne Subjekt darstellt, erscheint der diesem provisorisch-rechtlichen Besitz nach Kant zukommende »Vernunfttitel« mehr als fragwürdig (RL, KW IV, 375). Wie bereits angesprochen wurde, werden Sachenrechte in der Kantischen Eigentumstheorie von vornherein als »Recht[e] des Privatgebrauchs einer Sache« entwickelt, d. h. als die einem rechtmäßigen 66 67 68
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Vgl. Kersting 1993, S. 275. Vgl. dazu Deggau 1983, S. 85 f.; Kühl 1984, S. 210 f.; Zotta 2000, S. 97–99. Vgl. Unruh 2005, S. 142 f.
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Besitzer zukommenden Ausschlussbefugnisse bezüglich einer Sache gegenüber allen anderen Personen (vgl. RL, KW IV, 371): »Wenn ich (wörtlich oder durch die Tat) erkläre, ich will, daß etwas Äußeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden anderen für verbindlich, sich des Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten« (ebd., 365). Durch die »Deduktion des Begriffs des bloß-rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes (possessio noumenon)« (RL, KW IV, 358) bin ich nach Kant befugt, alle anderen vom Gebrauch desselben abzuhalten, auch wenn ich den Gegenstand gar nicht physisch besitze 69 . Diese Befugnis, die Gebrauchsfreiheit anderer Personen durch Ausschluss vom äußeren Mein einzuschränken, resultiert nach Kant nicht unmittelbar aus dem angeborenen Freiheitsrecht, sondern ist – ebenso wie die ›transzendentalphilosophische‹ Aufspaltung des Besitzbegriffs – eine Folge des »rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft« (vgl. RL, KW IV, 355). Das Postulat hat damit im wesentlichen zwei Funktionen zu erfüllen, die noch einmal hervorgehoben werden sollen: 1.) Es enthält die den Begriff der angeborenen äußeren Freiheit »erweiternde« Rechtspflicht, gegen andere so zu handeln, dass jeder brauchbare Gegenstand für jede Person das rechtlich Seine im Sinne einer possessio noumenon werden kann (vgl. dazu insbes. RL, KW IV, 358–361). 2.) Es legt nach Kant allen anderen die aus dem inneren Mein und Dein nicht analytisch folgende Verbindlichkeit auf, »sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände […] zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben« (vgl. dazu insbes. ebd., 354 f.; hier verw. Zitat ebd., 355; Hervorheb. v. m.). In welchem Verhältnis steht nun dieses – von Kant als »ein Prinzip des Privatrechts« im Naturzustand entwickelte – Vernunftpostulat (ebd., 375) zum »Postulat des öffentlichen Rechts« (ebd., 424; s. o. S. 237)? Wie die Überlegungen des vorstehenden Kapitels dieser Arbeit gezeigt haben, kann das besitzrechtliche Postulat der praktischen Vernunft nicht die vorrangige oder gar alleinige Legitimationsgrundlage der Kantischen Staatstheorie darstellen. Der »Übergang vom status naturalis in den status civilis« wird – trotz missverständlicher Äußerungen Kants (s. o. S. 238–240) – keineswegs »vom Postulat […] des § 2 69 Diese Ausschlussbefugnis trifft auch für das geltende Recht des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zu: »Der Eigentümer einer Sache kann […] mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen« (BGB § 903).
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getragen«, wie R. Brandt annimmt 70 . Das rechtliche Postulat ist weder »die ratio fiendi des öffentlichen Rechts« 71 noch gar »das einzig mögliche Fundament einer Rechtslehre« überhaupt 72 . Aus den bisherigen Erörterungen sollte klar geworden sein, dass das geltungstheoretische Fundament der Rechtslehre und damit zugleich der Grund für die innere und äußere Rechtspflicht zur Begründung des öffentlichen Rechtszustandes gemäß Kants »Allgemeine[r] Einteilung der Rechtspflichten« eindeutig im »Recht[.] der Menschheit in unserer eigenen Person« besteht, demgemäß jeder Mensch Träger eines angeborenen, inneren Rechts auf allgemeingesetzlichen Willkürgebrauch ist (vgl. RL, KW IV, 344 f.). Auf den Begriff des angeborenen Rechts bezieht sich Kant, wenn er in § 2 der Rechtslehre das rechtliche Postulat mit der bereits zitierten Bemerkung kommentiert, dass wir die dem Ersterwerber zukommende Befugnis, andere am Gebrauch von mit ihm nicht (mehr) physisch verbundenen Gegenständen zu hindern, »aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten« (ebd., 355). In diesem Zusammenhang bezeichnet Kant das Vernunftpostulat nun erstmals als ein »Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft« (ebd.). 4.2.2.1 Die systematische Problematik einer handlungstheoretischen Verortung der Erlaubnisgesetze und deren besitzrechtliche Bedeutung Kant benutzt den Begriff einer lex permissiva an signifikanten Stellen seiner Schriften, die für dessen systematisches Verständnis im Folgenden kurz erörtert werden sollen. Von zentraler Bedeutung sind einige Passagen in Kants Friedensschrift: Die in den dortigen »Präliminarartikeln« 2–4 enthaltenen rechtlichen Bestimmungen 73 betreffen nicht allein künftige Handlungen – hinsichtlich derer sie wie die in den übrigen beiden Präliminarartikeln formulierten strengen Verbotsgesetze unter allen Umständen gelten (vgl. Frieden, KW VI, 201 f., Anm.) –, sondern auch Institutionen (wie das stehende Heer) und Besitzstände (wie illegitim erworbene Staaten und Staatsschulden), deren AbschafVgl. Brandt 1982, S. 234. Ebd. 72 Brandt 1974, S. 187. 73 Sie fordern im Einzelnen: das Verbot, Staaten zum Objekt eines rechtlichen Erwerbungsaktes zu machen; die Pflicht zur Abschaffung stehender Heere und das Verbot staatlicher Kriegs- und Rüstungsanleihen (vgl. Frieden, KW VI, 196–201). 70 71
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fung bzw. Rückgabe empirische Reform- und Wiederherstellungsprobleme aufwirft 74 . Deshalb dürfen die in den drei genannten Präliminarartikeln erhobenen Forderungen nach Kant nicht völlig kontextfrei gelten, sondern es muss bei ihrer Durchsetzung auf äußere Umstände Rücksicht genommen werden. Da die »übereilte Reform« das gegenwärtig bereits erreichte Maß an rechtsstaatlicher Verfasstheit gefährdet, ja durch das »Schicksal der Anarchie« bedroht wäre, ist bei dieser Art von Verbotsgesetzen »die Verzögerung der Ausführung bis zu besserer Zeitgelegenheit erlaubt« (Frieden, KW VI, 234 Anm.). Kant nennt sie deshalb Erlaubnisgesetze, »die zwar nicht als Ausnahmen von der Rechtsregel, aber doch in Rücksicht auf die Ausübung derselben, durch die Umstände, […] Erlaubnisse enthalten, die Vollführung aufzuschieben, ohne doch den Zweck aus den Augen zu verlieren, der diesen Aufschub […] erlaubt« (ebd., 201; vgl. dazu auch Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden, AA XXIII, 157).
Das mit der Handlungsregel eines Erlaubnisgesetzes verbundene, schon von zeitgenössischen Denkern und bis in die heutige Kant-Forschung kontrovers diskutierte Problem besteht in der Frage, ob sie mit dem Anspruch des Kategorischen Imperativs, das alleinmaßgebliche Moralkriterium zu sein, in Einklang zu bringen ist oder ob Kant mit ihr letztlich nicht stillschweigend einen eigenständigen, moralgesetzlich nicht mehr einholbaren Bereich der Erfahrungswirklichkeit anerkennt 75 . Kant hat den grundsätzlichen Problembestand – die Sonderstellung des Erlaubnisgesetzes innerhalb der Systematik von Handlungsregeln – selbst gesehen und sich sowohl vor als auch nach der Friedenschrift damit befasst 76 : »Ob es außer dem Gebot (leges praeceptivae), und Verbot (leges prohibitivae) noch Erlaubnisgesetze (leges permissivae) der reinen Vernunft geben könne, 74 Vgl. dazu Saner 1995, S. 65. So können die auf einem unrechtmäßigen Erwerbungsvertrag basierenden Besitzverhältnisse nicht ohne weiteres von heute auf morgen revidiert werden; auch ein »stehendes Heer« sollte aus guten Gründen nicht ohne vorbereitende Maßnahmen sofort aufgelöst werden; und Staatsschulden werden kaum auf einen Schlag, sondern nur allmählich abzutragen sein. 75 Vgl. dazu mit Bezug auf das Handlungsfeld der Politik Schmitz 1990, insbes. S. 430; zum Konzept eines Erlaubnisgesetzes mit Bezug auf ethische Problemstellungen vgl. Höffe 1990, S. 196 f. 76 Vgl. insbesondere RL, KW IV, 329; TL, KW IV, 559. Zum Folgenden vgl. die Erörterungen der mit Erlaubnisgesetzen verbundenen systematischen Problematik bei Brandt 1982 und Kaufmann 2005.
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ist bisher nicht ohne Grund bezweifelt worden. Denn Gesetze überhaupt enthalten einen Grund objektiver praktischer Notwendigkeit, Erlaubnis aber einen der praktischen Zufälligkeit gewisser Handlungen; mithin würde ein Erlaubnisgesetz Nötigung zu einer Handlung, zu dem, wozu jemand nicht genötigt werden kann, enthalten, welches, wenn das Objekt des Gesetzes in beiderlei Beziehung einerlei Bedeutung hätte, ein Widerspruch sein würde« (Frieden, KW VI, 201, Anm.).
Die entscheidende Frage ist also, wo Erlaubnisgesetze ihren systematischen Platz haben, denn für ihre Gesetzgebung scheint zunächst überhaupt kein handlungstheoretischer Ort mehr übrig zu bleiben. In Anknüpfung an eine seit den Stoikern bestehende Tradition unterscheidet Kant drei Klassen von Handlungen: gebotene, verbotene und sittlich-indifferente Handlungen (adiaphora; vgl. RL, KW IV, 329; vgl. dazu auch TL, KW IV, 541). Nun können 1.) verbotene Handlungen per se nicht erlaubt sein; 2.) gebotene Handlungen sind nicht nur erlaubt, sondern sittliche Pflicht; 3.) moralisch-gleichgültige Handlungen schließlich bedürfen keines besonderen Erlaubnisgesetzes, weil sie »bloß erlaubt« sind – »es in Ansehung ihrer« mithin »gar kein die Freiheit […] einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht gibt« (RL, KW IV, 329). Ein Erlaubnisgesetz als selbstständige Norm kann es für Kant mithin nicht geben; als solche wäre es eine contradictio in adjecto, da es das moralgesetzlich Unbestimmte als Gegenstand einer moralgesetzlichen Bestimmung ausgäbe. Wie aber soll ein Erlaubnisgesetz neben Gebot und Verbot dann noch systematisch möglich sein? Kants Lösung scheint nun darin zu bestehen, dass Erlaubnisgesetze ihre Systemposition nicht in den metaphysischen Teilen von Ethik und Recht (im Sinne des jeder subjektiven Zufälligkeit enthobenen Ideals eines vollkommenen ethischen bzw. rechtlichen Zustandes) haben, sondern durch die Anwendung von praktischen Gesetzen auf moralisch nicht indifferente empirische Sachverhalte erforderlich werden 77 . Kant selbst erwähnt in der Tugendlehre – wenn auch nur in Form einer »Kasuistischen Frage« – das Problem einer empirisch jederzeit möglichen Pflichtenkollision, bei deren Vorliegen »ein Erlaubnisgesetz der moralischpraktischen Vernunft […] etwas an sich zwar Unerlaubtes […] zur Verhütung einer noch größeren Übertretung (gleichsam nachsichtVgl. auch Kersting 1993, S. 249: »Erlaubnisgesetze sind normlogisch sekundär, sie können sinnvoll nur als die Gültigkeit vorausgesetzter Gesetze einschränkende Normen auftreten.«
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lich)« gestatten könnte (vgl. TL, KW IV, 559). Ohne explizit von einem Erlaubnisgesetz zu sprechen, hält Kant in der Rechtslehre darüber hinaus »eine Befugnis« für gegeben, »im Fall der Gefahr des Verlusts meines eigenen Lebens, einem anderen, der mir nichts zu Leide tat, das Leben zu nehmen« (vgl. RL, KW IV, 343). Diese Form von »erlaubte[r] Gewalttätigkeit gegen den, der keine gegen mich ausübte«, veranschaulicht Kant durch das sog. Brett des Karneades: das unter Rechtstheoretikern das gesamte 17. und 18. Jahrhundert hinweg diskutierte Beispiel eines Schiffbrüchigen, der, »mit einem andern in gleicher Lebensgefahr schwebend, diesen von dem Brette, worauf er sich gerettet hat, wegstieße, um sich selbst zu retten« (ebd.) 78 . Für die in der Friedensschrift thematischen politisch-rechtlichen Zusammenhänge (s. u. Kap. 5) bedeutet die Ausnahmeregelung eines Erlaubnisgesetzes, dass ein vernunftrechtlich an sich verbotener Tatbestand für eine a priori unbestimmbare Übergangszeit geduldet werden darf, sofern sich nicht unmittelbar die Möglichkeit seiner Abänderung auf dem Wege der Reform ergibt 79 : »Erlaubnisgesetze der Vernunft« gestatten es dem empirischen Gesetzgeber, »den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange bestehen zu lassen«, bis dieser durch eine »dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen[e]«, »gründliche Reform« überwunden werden kann (Frieden, KW VI, 234, Anm.; Hervorheb. v. m.). Das Konzept einer rechtlichen lex permissiva ermöglicht damit erst die prozessuale Vermittlung der moralisch rückständigen politischen Wirklichkeit mit den Forderungen des Vernunftrechts80. Um nicht »übereilt und so der Absicht selbst zuwider« zu handeln (Frieden, KW VI, 201), gestattet und fordert ein Erlaubnisgesetz der Vernunft, dass der Machthaber auf alte Gewohnheiten und überkommene Rechtszustände Rücksicht nimmt und die für politische Reformen »günstigen Umstände« (ebd., 78 Während Kant diesen Fall in der Rechtslehre im Zusammenhang mit dem »Notrecht (ius necessitatis)« erörtert und ihn aufgrund der hier fehlenden Möglichkeit zu zwangbewehrter Jurisdiktion aus dem »Recht in enger Bedeutung (ius strictum)« ausklammert (vgl. RL, KW IV, 341–44), wird das Rechtsproblem der zwei schiffbrüchigen Menschen auf dem Brett in der Vigilantius-Mitschrift von Kants Vorlesung zur »Metaphysik der Sitten« ausdrücklich dadurch gelöst, dass hier ein Erlaubnisgesetz in Kraft trete (vgl. AA XXVII, 513–515). Vgl. dazu Kaufmann 2005, S. 210 f.; Brandt 1982, S. 244–246. 79 Der mit Erlaubnisgesetzen zum Ausdruck kommende, hier nur angedeutete spezifisch politische Handlungsraum wird erörtert bei Gerhardt 1995b, S. 70–73. 80 Brandt 1994, S. 85.
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240) abwartet. Das Konzept des Erlaubnisgesetzes verknüpft mithin einen normativen mit einem deskriptiven Aspekt. Durch die für juridische Erlaubnisgesetze konstitutive Bedeutung einer historisch-zeitlichen Rechtsentwicklung fließen geschichtsphilosophische Denkmuster in Kants Rechtsphilosophie ein 81 . Der in bestimmten Fällen notwendige Bezug zu situativen Zeitumständen ist gleichsam ein Zugeständnis der praktischen Vernunft an die empirisch-historische Bedingtheit menschlichen Handelns: Geschichtlich vorgefundene positive Rechtsverhältnisse, die als solche moralisch inakzeptabel sind, müssen zunächst akzeptiert werden, um eine kontinuierliche Annäherung an das regulative Vernunftgebot und damit moralisch-rechtlichen Fortschritt zu ermöglichen 82 . Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen: Im besitzrechtlichen Kontext ist in der Rechtslehre zweimal explizit von einem Erlaubnisgesetz die Rede 83 : In der auszugsweise bereits zitierten Vgl. dazu Brandt 1982, S. 268–272. Durch die Spannung zwischen Rechtsprinzipien und geltendem Recht entsteht so ein permanenter politischer Reformdruck: »Der moralische Politiker wird es sich zum Grundsatz machen: wenn einmal Gebrechen in der Staatsverfassung oder im Staatenverhältnis angetroffen werden, die man nicht hat verhüten können, so sei es Pflicht, vornehmlich für Staatsoberhäupter, darin bedacht zu sein, wie sie, sobald wie möglich, gebessert, und dem Naturrecht, so wie es in der Idee der Vernunft uns zum Muster vor Augen steht, angemessen gemacht werden könne […]« (Frieden, KW VI, 233; Hervorheb. v. m.). Im Anschluss an diese Textstelle schreibt Kant, dass die »Staatsklugheit« mit der »Moral« zwar in der Ablehnung einer »mit Ungestüm« durchgeführten Reform übereinstimme, »aber dass wenigstens die Maxime der Notwendigkeit einer solchen Abänderung dem Machthabenden innigst beiwohne, um in beständiger Annäherung zu dem Zwecke (der nach Rechtsgesetzen besten Verfassung) zu bleiben, das kann doch von ihm gefordert werden« (ebd.). Vgl. dazu unten Kap. 5. 83 In § 22 der Rechtslehre – d. h. im Zusammenhang mit dem im Rahmen dieser Arbeit nicht erörterten »auf dingliche Art persönlichen Recht« – greift Kant ein drittes Mal auf ein Erlaubnisgesetz zurück. Der besondere Charakter dieser »häusliche[n]« Rechtsbeziehungen – die nach Kant weder ein »Recht in einer Sache«, noch »ein bloßes Recht gegen eine Person« darstellen, »sondern auch ein[en] Besitz derselben« implizieren – macht es erforderlich, dass sie in einem »über alles Sachen- und persönliche hinausliegende[n] Recht, nämlich [im] Recht der Menschheit in unserer eigenen Person« fundiert werden müssen, »welches ein natürliches Erlaubnisgesetz zur Folge hat, durch dessen Gunst uns eine solche Erwerbung möglich ist« (RL, KW IV, 389). Vgl. dazu Brandt 2004; Kaufmann 2005, S. 209 f. 81 82
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Passage aus § 2 heißt es über das »rechtliche Postulat der praktischen Vernunft«: »Man kann dieses Postulat ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft nennen, was uns die Befugnis gibt, die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten; nämlich allen andern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben« (RL, KW IV, 355).
In § 16 schränkt Kant seine – wie bereits gezeigt wurde – äußerst problematische Ansicht, im Naturzustand sei »eine provisorische Erwerbung des Bodens, mit allen ihren rechtlichen Folgen, möglich«, durch folgende Bemerkung ein: »Eine solche Erwerbung aber bedarf doch und hat auch eine Gunst des Gesetzes (lex permissiva), in Ansehung der Bestimmung der Grenzen des rechtlich-möglichen Besitzes, für sich, weil sie vor dem rechtlichen Zustande vorhergeht und, als bloß dazu einleitend, noch nicht peremtorisch ist, welche Gunst sich aber nicht weiter erstreckt, als bis zur Einwilligung anderer (teilnehmender) zu Errichtung des letzteren […]« (RL, KW IV, 378 f.).
In der Kant-Literatur umstritten ist nun, ob der Begriff des Erlaubnisgesetzes in der Friedensschrift und im Rahmen der hier zitierten Textpassagen in einer einheitlichen, univoken Bedeutung verwendet wird. Insbesondere R. Brandt hat in mehreren Veröffentlichungen die These formuliert und gegen Kritiker verteidigt, dass der Rechtfertigung des privatrechtlichen Sachbesitzes im Naturzustand insofern etwas Vorläufiges anhafte, als sie in Vorwegnahme einer Übereinkunft des allgemeinen Willens und einer diesem gemäßen öffentlichen Rechtsordnung eine Erlaubnis zur freiheitsgesetzlich an sich verbotenen einseitigen Bemächtigung und gewaltsamen Verteidigung enthalte: »Die mangelnde Selbsteinschränkung der äußeren Freiheit« in Bezug auf den Erwerb von Boden und darauf befindlichen Sachen vermittels Erstokkupation im Naturzustand könne und müsse – so Brandt – »durch die Überführung des noch provisorischen äußeren Mein und Dein in das peremtorische im Staat nachgeholt werden« 84 . Zuvor sei 84 Brandt 2004, S. 210 f.; vgl. auch Brandt 1982, insbes. S. 261 f., 268. Im Sinne Brandts hat schon M. Gregor das »rechtliche Postulat der praktischen Vernunft« als Erlaubnisgesetz in der Bedeutung der Friedensschrift verstanden: »A permissive law states the conditions under which a general prohibition does not apply, and the permission to prohibit others from interfering with our exclu-
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jedes provisorische Eigentumsrecht »aufgrund der ungesetzlichen Gewalt, der es seine Entstehung verdankt, an sich nichtig; nur die Beziehung auf die Zukunft rettet den Gegenwartsanspruch« 85 . Diese Interpretation hat eine kontrovers geführte Diskussion unter Kant-Interpreten hervorgerufen, die hier nicht im Detail erörtert werden kann 86 . Zur Prüfung von Brandts These ist zu fragen, ob sich das Postulat als Erlaubnisgesetz gegen ein vernunftrechtliches Verbot richtet und worin genau dieses gegebenenfalls besteht. Denn wenn das Postulat als Erlaubnisgesetz im oben beschriebenen Sinne zu verstehen ist, dann muss es eine Ausnahmeregel darstellen, die den Geltungsbereich bestehender Verbotsgesetze unter bestimmten (empirischen) Bedingungen einschränkt. Im besitzrechtlichen Begründungszusammenhang kann das Rechtspostulat als Erlaubnisgesetz nur die Einschränkung des – äußeres Mein und Dein überhaupt erst ermöglichenden – angeborenen Rechts auf gesetzlichen Willkürgebrauch betreffen. Mit dem inneren Mein und Dein, das einen wechselseitigen Zwang nach allgemeinen Gesetzen zur Sicherung der größtmöglichen und gleichen Willkürfreiheit legitimiert, ist der qualitativ und quantitativ uneingeschränkte ursprüngliche Okkupationserwerb privaten Eigentums im Naturzustand tatsächlich nicht vereinbar, da er alle anderen Menschen einseitig und zudem – wie wir gesehen haben – in Abhängigkeit von subjektiv-kontingenten empirischen Rahmenbedingungen vom »Gebrauch[.] gewisser Gegenstände unserer Willkür« ausschließt (RL, KW IV, 355). Insofern ist R. Brandt unter sachlichen Gesichtspunkten zuzustimmen, wenn er die »auf einseitiger Willkür« beruhende »Freiheitsberaubung« der Erstokkupation als »ungesetzlich« im Hinblick auf »das angeborene Menschenrecht« bezeichnet 87 . Aber dies ist doch nicht die ausdrücklich erklärte Position Kants! Vielmehr handelt es sich nach Kant bei der durch das Rechtspostulat gegebenen »Befugnis«, alle anderen vom »Gebrauch[.] gewisser Gegenstände unserer Willkür« auszuschließen, »weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben« (RL, KW IV, sive use of an object is a limitation upon the prohibition, contained in the inherent right of freedom, against interfering with the freedom of activity of others« (vgl. Gregor 1963, S. 57 f.). 85 Brandt 1982, S. 269. 86 Vgl. dazu u. a. Oberer 1997, S. 197–200; Brandt 2004; Friedrich 2004, S. 110–118; Kaufmann 2005. 87 Brandt 1982, S. 261; vgl. auch ebd., S. 256 f.
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355), um eine durch die Idee der vereinigten Willkür gleichsam abgesegnete, d. h. vernunftrechtliche Erweiterung des möglichen Mein und Dein über das angeborene Freiheitsrecht hinaus – zu diesem steht jene Befugnis mithin keineswegs im Widerspruch: »Die Vernunft will, daß dieses [gemeint ist die zuvor angesprochene Befugnis; O. L.] als Grundsatz gelte, und das zwar als praktische Vernunft, die sich durch dieses ihr Postulat a priori erweitert« (ebd.). Kant zufolge ist der ursprüngliche Erwerb durch Bemächtigung also kein gegen das angeborene Freiheitsrecht verstoßendes Unrecht, schließlich liegt kein generelles Verbot eigenmächtiger Okkupation vor. Allerdings ist Brandt darin Recht zu geben, dass er eine Deutung für den »nun einmal im Text auftauchenden Begriff« des Erlaubnisgesetzes einfordert 88 , den Kant – so muss man annehmen – in Erinnerung an dessen Bedeutung in der zwei Jahre zuvor veröffentlichten Friedensschrift bewusst gewählt hat 89 . Tatsächlich scheint Kant mitunter auch in der Rechtslehre die unter Naturzustandsbedingungen gegebene Befugnis, andere vom eigenmächtig ersterworbenen Gegenstand der Willkür gewaltsam auszuschließen, nicht als ein vernunftrechtlich »bloß erlaubtes« Adiaphoron zu betrachten (in Ansehung dessen ein Erlaubnisgesetz ohnehin schlechterdings überflüssig wäre; s. o.). So spricht er in § 8 der Rechtlehre von einer »Anmaßung«, die in diesem einseitigen »rechtlichen Akt« liege und die jede ursprüngliche Okkupation trotz ihrer privatrechtlichen Legitimität notwendigerweise darstelle: »[D]er einseitige Wille in Ansehung eines äußeren, mithin zufälligen, Besitzes [kann] nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch tun würde« (RL, KW IV, 365). Dementsprechend ergibt sich bezüglich des intelligiblen Besitzes im Naturzustand der ambivalente Befund, dass dessen Erwerb einerseits in diesem schon möglich sein soll, er andererseits aber als eine durch das angeborene Freiheitsrecht normativ geschützte Realität nicht wirklich zustande kommen kann 90 . Das Privatrecht im Naturzustand verknüpft die Okkupationsbefugnis und den »Vernunfttitel« der urVgl. Brandt 2004, S. 211. Dieser Bedeutung entspricht schließlich auch das von Kant in der Tugendlehre problematisch in Ansatz gebrachte »Erlaubnisgesetz der moralisch-praktischen Vernunft«, das »etwas an sich zwar Unerlaubtes […] zur Verhütung einer noch größeren Übertretung (gleichsam nachsichtlich)« gestatten könnte (vgl. TL, KW IV, 559; s. o.). 90 Ähnlich Steigleder 2002, S. 184. 88 89
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sprünglichen Erwerbung daher mit der Rechtspflicht, den »Zustand […] eines zur Gesetzgebung allgemein wirklich vereinigten Willens«, d. h. den »bürgerlichen Zustand«, herbeizuführen (ebd., 375; Hervorheb. v. m.). »Also nur in Konformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes, d. i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung, aber vor der Wirklichkeit desselben (denn sonst wäre die Erwerbung abgeleitet), mithin nur provisorisch kann etwas Äußeres ursprünglich erworben werden. – Die peremtorische Erwerbung findet nur im bürgerlichen Zustande statt« (ebd.).
Der Eigentümer eines provisorisch-rechtlichen Besitzstandes im Naturzustand besitzt mithin die als Privileg 91 zu verstehende »Gunst des Gesetzes«, seinen faktisch einseitig erworbenen Besitzanspruch bis zur Einrichtung eines bürgerlichen Zustandes zu behaupten. Das Erlaubnisgesetz besteht folglich darin, die äußere Freiheit eines anderen über die Sphäre des angeborenen Rechts hinaus und ohne Bezug auf eine aktual vereinigte Willkür, aber nur in Hinsicht auf diese, einschränken zu dürfen 92 . In den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten schreibt Kant mit Bezug auf das provisorische Eigentum im Naturzustand daher: »Lex permissiva ist das Gesetz[,] wodurch etwas nach Naturgesetzen erlaubt ist[,] was nach Civilgesetzen verboten ist« (AA XXIII, 385). Erlaubt ist die ursprüngliche Erwerbung also nur insofern, als sie einen allein im bürgerlichen Zustand möglichen peremtorischen Besitz begründen kann. Damit zusammenhängend darf ich alle anderen nur dann dazu zwingen, sich des Gebrauchs des von mir eigenmächtig erworbenen provisorischen Eigentums zu enthalten, wenn ich mich und alle anderen zugleich zum Eintritt in den bürgerlichen Zustand verpflichte, der das angeborene Freiheitsrecht eines jeden schützt. Das Erlaubnisgesetz wiederholt also gleichsam die bereits aus der Rechtssicherung des »innern Mein und Dein« resultierende Befugnis, »jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches [äußeres] Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten« (RL, KW IV, 366). »Ein Besitz in Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes, der allein auf einem Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann, der also zu der Möglichkeit des letzteren zusammenstimmt, ist ein provisorisch-
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So Kaufmann 2005, S. 212. Vgl. Ludwig 1988, S. 130 f.
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rechtlicher Besitz, wogegen derjenige, der in einem solchen wirklichen Zustande angetroffen wird, ein peremtorischer Besitz sein würde« (RL, KW IV, 366 f.).
Wenn der peremtorische Besitz unter die Bedingung der Gesetzgebung eines »wirklich vereinigten Willens« gestellt wird, so kommt dem Gemeinwillen in Kants Eigentumstheorie offenkundig eine doppelte Funktion zu 93 : Als »stillschweigend vorausgesetzt[e]« Idee soll der a priori vereinigte Wille die Aufteilung des ursprünglichen Gemeinbesitzes nach der Regel der prima occupatio legitimieren (RL, KW IV, 375). In dieser Funktion stellt er das normative, dritte Moment dar, das gemäß dem »[a]llgemeine[n] Prinzip der äußeren Erwerbung« einen rechtmäßigen ursprünglichen Eigentumstitel im Naturzustand auszeichnet (vgl. ebd., 368; s. o. S. 262 f.). Ein zweites Mal kommt der Gemeinwille, nun als »wirklich vereinigter Wille«, ins Spiel, wenn er die vollgültige Eigentumsposition des peremtorischen Besitzes in einem Zustand distributiver Gerechtigkeit begründet. In diesem Sinne heißt es in § 16 des Staatsrechts: »Aber das austeilende Gesetz des Mein und Dein eines jeden am Boden kann, nach dem Axiom der äußeren Freiheit, nicht anders als aus einem ursprünglich und a priori vereinigten Willen (der zu dieser Vereinigung keinen rechtlichen Akt voraussetzt), mithin nur im bürgerlichen Zustande, hervorgehen (lex iustitiae distributivae), der allein, was recht, was rechtlich und was Rechtens ist, bestimmt« (RL, KW IV, 378).
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Aufgabe des Staates nach Kant nur in der sichernden Bestätigung oder auch in der Bestimmung und Neudisposition des provisorischen äußeren Mein und Dein zu sehen ist. Wenngleich die zuletzt zitierte Textpassage eine eindeutige Antwort nahe zu legen scheint, sind Kants diesbezügliche Äußerungen bemerkenswert uneindeutig und schwankend. So schreibt er im Privatrechtsteil der Rechtslehre: Die »bürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird« (RL, KW IV, 366). Anderen Aussagen Kants zufolge scheint der aus dem Naturzustand überkommene privatrechtliche Besitzstand aber in dem radikalen Sinne provisorisch zu sein, dass der zu errichtende republikanische Staat grundsätzlich dazu legitimiert ist, ihn umzuverteilen. 93
Vgl. dazu auch Kaufmann 2005, S. 217. A
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Hinweise darauf finden sich bereits in der oben zitierten Passage aus § 16 der Rechtslehre. Wenn es dort heißt, eine ursprüngliche Erwerbung »aber bedarf doch […] eine[r] Gunst des Gesetzes (lex permissiva) in Ansehung der Bestimmung der Grenzen des rechtlich-möglichen Besitzes […], weil sie vor dem rechtlichen Zustande vorhergeht und, als bloß dazu einleitend, noch nicht peremtorisch ist« (RL, KW IV, 378), dann sind neben der Erlaubnis auch die Grenzen des in einem bürgerlichen Zustand rechtlich-möglichen Besitzstandes angesprochen. Damit übereinstimmend heißt es in § 44 des Staatsrechts ausdrücklich, dass zum Eintritt in den bürgerlichen Rechtszustand »jeder den anderen mit Gewalt antreiben darf; weil, obgleich nach jedes seinen Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden kann, diese Erwerbung doch nur provisorisch ist, so lange sie noch nicht die Sanktion eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt, und durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist« (RL, KW IV, 430 f.; letzte Hervorheb. v. m.) 94 .
Infolge dieses ambivalenten Textbefundes ist es in der Kant-Forschung umstritten, ob das »Gesetz des gemeinsamen Willens« (RL, KW IV, 366) eine Modifikation des aus dem Naturzustand resultierenden provisorischen Besitzstandes in egalisierender Weise zulässt oder suggeriert 95 . Wenngleich sozialstaatliche Überlegungen aufgrund der freiheitssichernden Grundkonzeption der Rechtslehre stärkere Berücksichtigung finden müssten, als Kants spärliche Äußerungen zum Armenund Fürsorgerecht erkennen lassen (s. o. S. 193–201), so fällt es doch »schwer zu glauben, dass Kant stets aufs Neue die Legitimität des Gemeinwillens darin sieht, daß jeder dabei auch über sich selbst entscheidet und ›keiner sich selbst Unrecht tun kann‹, und daß er immer wieder die iustitia Eine ähnliche Auffassung scheint Kant auch im Gemeinspruch zu vertreten, wenn er den Zweck des bürgerlichen Zustands folgendermaßen formuliert: »Der Zweck nun, der in solchem äußern Verhältnis an sich selbst Pflicht und selbst die oberste formale Bedingung (conditio sine qua non) aller übrigen äußeren Pflicht ist, ist das Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes anderen Eingriff gesichert werden kann« (Gemeinspruch, KW VI, 144; letzte Hervorheb. v. m.). 95 Dies bestreiten etwa Zotta 2000, S. 105–117; Unruh 2005, 145 f. sowie Kersting, der lediglich einen »Modalitätssprung von den provisorischen zu den peremtorischen Rechtsverhältnissen« konstatiert (vgl. Kersting 1993, S. 338; vgl. auch ebd., S. 372– 381). 94
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distributiva anspricht, während er gleichzeitig annimmt, man werde zustimmen, ohne den Ausgleich der größeren Ungerechtigkeiten anzustreben« 96 .
Obwohl also die geltungstheoretische Funktion der prima occupatio keinerlei Ausrichtung seiner Eigentumslehre an sozialen Gerechtigkeitskriterien erkennen lässt, und obwohl Kant in seiner Staatslehre keine weitreichenden sozialstaatlichen Regulierungsbefugnisse anerkennt, scheint er es gelegentlich doch auch zu den Aufgaben des Staates zu zählen, vermittels gesetzgeberischer Maßnahmen in die provisorisch-rechtlichen Besitzverhältnisse ausgleichend einzugreifen, so dass es am Ende »bloß von dem Vermögen, dem Fleiß und dem Glück jedes Gliedes des gemeinen Wesens abhängend gelassen werden muß, daß jeder einmal einen Teil davon und alle das Ganze erwerben« (Gemeinspruch, KW VI, 152).
4.3 Das Völkerrecht und das Problem der supranationalen Zwangsgewalt 4.3.1 Der Weltfriede als öffentlich-rechtlicher Stiftungsakt Den zweiten Abschnitt des öffentlichen Rechts der Rechtslehre bildet das Völkerrecht. Kant greift hier Gedanken auf, die er schon zuvor, insbesondere in seiner vorwiegend politiktheoretischen Friedensschrift entwickelt hat – darunter das normative Ideal eines sowohl zeitlich als auch räumlich universalen Friedenszustandes. Charakteristisch für die Friedenskonzeption Kants ist zunächst, dass er – als einer der wenigen neuzeitlichen Friedensdenker – mit seinen Ausführungen weder realpolitische (empirische) Interessen verfolgte, noch durch religiöse Motive angetrieben wurde 97. Der »ewige Friede« wird in der Metaphysik Kaufmann 2005, S. 218. Die Tradition der neuzeitlichen Friedensdebatte war Kant wohlvertraut, so etwa die diesbezüglichen Stellungnahmen der Völkerrechtler Hugo Grotius (vgl. Frieden, KW VI, 210) und Samuel von Pufendorf (vgl. ebd.). Ferner waren ihm die einschlägigen Schriften des Abbé Saint-Pierre und Rousseaus bekannt, und er kannte Leibniz als Kritiker von Saint-Pierre. Insbesondere der Hinweis auf die nur scheinbar praxisfremde Theorie, die »als solche an einem Abbé von St. Pierre oder Rousseau verlacht worden« sei, findet sich an mehreren Stellen in Kants Schriften. Vgl. z. B. Idee, KW VI, 42 (hier auch obiges Zitat); Gemeinspruch, KW VI, 172. Kant verteidigt beide gegen den Vor96 97
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der Sitten als »das letzte Ziel des ganzen Völkerrechtes« (ebd., 474), ja als »Endzweck der Rechtslehre« (ebd., 479) vorgestellt. Kant will den idealen Friedenszustand folglich nicht auf der fragilen Grundlage eines rechtlich ungesicherten ›Gleichgewichtes der Mächte‹ 98 fundieren; vielmehr geht es ihm um die institutionelle Friedenssicherung in einer universalen Rechtsordnung. Der Friedenszustand muss – wie Kant sagt – eigens »gestiftet werden« (Frieden, KW VI, 203). Diese Friedensstiftung hat den Rang einer rechtsmoralischen Pflicht: »Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein; weder der, welcher zwischen mir und dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten, die, obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (in Verhältnis gegen einander) im gesetzlosen Zustande sind; – denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht suchen soll« (RL, KW IV, 478). 99 wurf, die Idee vom ewigen Frieden sei »schwärmerisch«. Ihre Vorschläge sind nach seiner Auffassung nicht an sich unmöglich – er kritisiert an ihnen aber, dass sie sich der Verwirklichung des Friedens »zu nahe glaubten« (Idee, KW VI, 42). Für einen Überblick über die ›Friedensrufe‹ und Friedenspläne seit der Renaissance vgl. Raumer 1953, der die wichtigsten Texte abdruckt und kommentiert. Zur Geschichte des Friedensbegriffs vor Kant vgl. auch den informativen Überblick bei Merle 1995; ferner Höffe 1995a und Gerhardt 1995b, S. 24–32. 98 Das Prinzip des »Gleichgewichts aller einander tätig berührenden Staaten« ist nach Kant ein provisorisches Recht »im Naturzustande« (RL, KW IV, 470). Vgl. auch Gemeinspruch, KW VI, 172: »[E]in dauernder allgemeiner Friede durch die so genannte Balance der Mächte in Europa ist, wie Swifts Haus, welches von einem Baumeister so vollkommen nach allen Gesetzen des Gleichgewichts erbauet war, dass, als sich ein Sperling drauf setzte, es so fort einfiel, ein bloßes Hirngespinst.« Der Gedanke der »Balance der Mächte« beruht ursprünglich auf dem mechanischen Prinzip gleichgewichtiger Kräfte; er besagt, dass kein einzelnes politisches Gemeinwesen eine so große Machtfülle erlangen darf, dass ihm die Vereinigung anderer nicht zu widerstehen vermag. Das Verlangen nach Etablierung und Stabilisierung einer solchen Machtbalance hat die europäischen Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts in eine stete Rüstungsbereitschaft versetzt, so dass sich schließlich eine ›Abschreckungsbalance‹ entwickelte, die wiederum eine Rüstungsspirale aus sich hervorgetrieben hat. Über die Geschichte der seit dem 16. Jahrhundert in Europa geläufigen Gedankenfigur des politischen Machtgleichgewichts informiert knapp Strohmeyer 2006. 99 Vgl. auch Frieden, KW VI, 211, wo Kant mit einem bei ihm seltenen Pathos erklärt, dass »die Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht, welcher doch, ohne einen Vertrag der Völker unter sich, nicht gestiftet oder gesichert werden kann«.
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Die Errichtung eines weltumspannenden Friedenszustandes ist für Kant also nicht primär eine Frage ethischer Gesinnung oder gar abhängig von einem vieldeutigen und unverbindlichen Gutmenschentum der politischen Akteure, sondern ein vernunftrechtliches Problem: Die »Vernunftidee einer friedlichen […], durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa philanthropisch (ethisch), sondern ein rechtliches Prinzip« (RL, KW IV, 475) 100 . Nur durch vernunftrechtlich begründete Verfahren einer gewaltfreien Konfliktregulierung und Ordnungsherstellung gelangen nach Kant Menschen und Staaten zu einem positiven Friedenszustand 101 . Der Friede ist daher auch nicht das direkte Ziel der Menschheitsentwicklung, sondern lediglich die Folge der Verrechtlichung aller denkbaren zwischenmenschlichen Konfliktzonen; das Hauptgewicht der Kantischen Argumentation liegt in dem systematischen Anspruch seiner Rechtsphilosophie. Er entwickelt – so der treffende Titel eines Aufsatzes von G. Geismann 102 – eine »Rechtslehre vom Weltfrieden«. In diesem programmatischen Sinne fordert Kant: »›trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohltat des ewigen Friedens) von selbst zufallen‹« (Frieden, KW VI, 240).
4.3.2 Völkerbund oder Weltrepublik? Im Eingangsparagrafen des Völkerrechts der Rechtslehre (§ 53) stellt Kant im Rückgriff auf ein bereits in früheren Schriften vorausgesetztes staatstheoretisches Autonomiemodell eine Analogie zwischen individuellen Personen und Staaten her: Als »moralische Person«, d. h. als selbstständiges, gleichsam autonomiebegabtes Rechtssubjekt 103 , befin100 Vgl. auch Frieden, KW VI, 213: »Es ist hier […] nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede […]«. 101 Vgl. Kersting 1995, S. 87 f. 102 Vgl. Geismann 1983. Dieser Aufsatz gibt einen äußerst aufschlussreichen Überblick über Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Aufgrund seiner durchgängigen Tendenz zur rechtsphilosophischen Systematisierung leidet er jedoch an einer Unterbelichtung des rechtssystematisch gerade nicht fassbaren, für die Interpretation der Friedensschrift aber gleichwohl zentralen politischen Aspektes der Kantischen Vorstellungen (vgl. dazu unten Kap. 5). 103 Das von Kant vertretene staatstheoretische Autonomiemodell setzt bei der traditi-
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det sich »ein Staat […] gegen einen anderen im Zustande der natürlichen Freiheit« (RL, KW IV, 466). Ausgehend von der empirisch-historischen Prämisse der Existenz einer Vielfalt verschiedener Staatsvölker 104 übernimmt Kant damit den bereits von Hobbes (Leviathan, 13. Kap.) und Wolff (Institutiones iuris naturae et gentium IV, I, § 1088) entwickelten Grundgedanken, dass sich diese Staaten – gleich den Menschen vor dem Eintritt in den bürgerlichen Rechtszustand – untereinander im Naturzustand befinden. Demnach sind die einzelnen Staaten für sich genommen zwar bereits ›Inseln‹ des öffentlichen Rechts, in ihren äußeren Wechselverhältnissen haben sie den Naturzustand aber noch nicht verlassen: »Staaten [sind], im äußeren Verhältnis gegen einander betrachtet, (wie gesetzlose Wilde) von Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande« (RL, KW IV, 467). Dieser Zustand ist »ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren)«. In ihm herrscht zwar nicht immer »wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung (Hostilität)«, ein Kriegsausbruch ist aber jederzeit möglich. Allein eine derartige Gefahr bedeutet, dass dieser Zustand »an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist« (ebd.) 105 . Für den onsreichen, gleichwohl problembehafteten methodologischen Prämisse an, dass der Staat nicht anders als in Analogie zur menschlichen Person begriffen werden kann (das analytische Potenzial moderner systemtheoretischer Erklärungsmodelle würde demnach für ein umfassendes Verständnis der normativen Dimension politischer Organisationen niemals ausreichen). Dementsprechend versteht Kant Staaten als ›Quasi-Individuen‹ oder ›Quasi-Subjekte‹ : »Völker, als Staaten, können wie einzelne Menschen beurteilt werden« (Frieden, KW VI, 208). Wenn Kant nun analogisierend von Staaten als moralischen Personen spricht, dann ist damit in der Juristensprache des 18. Jahrhunderts das gemeint, was man heute als juristische Person bezeichnet. Vgl. dazu Gerhardt 1995b, S. 48 f. 104 »Die Idee des Völkerrechts setzt die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus« (Frieden, KW VI, 225). 105 Die in den §§ 55–58 der Rechtslehre entwickelten, in den Präliminarartikeln der Friedensschrift teilweise ausführlicher erörterten Bestimmungen eines »Recht[s] zum«, »im« und »nach dem Kriege« (RL, KW IV, 467–472) beziehen sich noch auf den zwischenstaatlichen Naturzustand und sind lediglich als Vorstufe zum eigentlichen Völkerrecht zu verstehen (so etwa das schon angesprochene »Recht des Gleichgewichts aller einander tätig berührenden Staaten«, das Verbot des »Ausrottungskrieges« und bestimmter Verteidigungsmittel sowie das Verbot einer Verknechtung des überwundenen Staatsvolkes). Ihre grundsätzliche Bedeutung besteht darin, dass sie durch die Beseitigung von Friedenshindernissen basale Vorleistungen einfordern, die einen späteren, rechtlich gesicherten Friedenszustand überhaupt erst ermöglichen. Sie stellen innerhalb des zwischenstaatlichen Naturzustandes mithin die notwendigen Bedingungen dar, um ihn zu überwinden.
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zwischenstaatlichen Naturzustand gilt daher prinzipiell dasselbe wie für den schon bekannten vorstaatlichen: Die »peremtorische« Wirklichkeit von im Naturzustand bloß »provisorisch« erworbenen Rechten ist davon abhängig, dass die Rechtssubjekte sich in einen Zustand des öffentlichen Rechts begeben. »Da der Naturzustand der Völker, eben so wohl als einzelner Menschen, ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten: so ist, vor dieser Ereignis, alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß provisorisch, und kann nur in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch geltend und ein wahrer Friedenszustand werden« (RL, KW IV, 474).
Nicht nur der vorstaatliche, interindividuelle Naturzustand ist also durch eine öffentliche Rechtsordnung abzulösen, auch der zwischenstaatliche Naturzustand muss um der Rechtsicherheit willen durch eine entsprechende Verfassung überwunden werden. »Völker, als Staaten, können wie einzelne Menschen beurteilt werden, die sich in ihrem Naturzustande (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern Gesetzen) schon durch ihr Nebeneinander lädieren, und deren jeder, um seiner Sicherheit willen, von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine, der bürgerlichen ähnliche, Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann« (Frieden, KW VI, 208 f.).
Das Bedingungsverhältnis von empirischer Veranlassung und apriorischer Freiheitsregelung, das zur Begründung des öffentlichen Staatsrechts führt, findet sich mithin auf völkerrechtlicher Ebene wieder: Wie aus dem empirischen Grundfaktum unvermeidlicher Sozialverhältnisse die rechtsmoralische Pflicht zum Eintritt in eine staatliche Rechtsgemeinschaft resultiert, die die allgemeingesetzliche Willkürfreiheit der Individuen allererst sichert, so sind auch die »vermöge der Kugelgestalt« der Erde »in bestimmte Grenzen eingeschlossenen[en]« Staatsvölker (RL, KW IV, 475) dazu »verbunden« (ebd., 467), »aus jenem Naturzustande der Staaten (im äußeren Verhältnis gegen einan»Das Recht im Kriege ist gerade das im Völkerrecht, wobei die meiste Schwierigkeit ist, […] sich auch nur einen Begriff davon zu machen, und ein Gesetz in diesem gesetzlosen Zustande zu denken (inter arma silent leges), ohne sich selbst zu widersprechen; es müßte denn dasjenige sein: den Krieg nach solchen Grundsätzen zu führen, nach welchen es immer noch möglich bleibt, aus jenem Naturzustande der Staaten (im äußeren Verhältnis gegen einander) herauszugehen, und in einen rechtlichen zu treten« (RL, KW IV, 470). A
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der) herauszugehen und in einen rechtlichen zu treten« (ebd., 470) 106 . Kant ist in der Rechtslehre ausdrücklich der Auffassung, dass die einzelnen Staaten »das Recht« haben, »einander zu nötigen, aus diesem Kriegszustande herauszugehen, mithin eine den beharrlichen Friedenszustand gründende Verfassung« zu etablieren (RL, KW IV, 466; Hervorheb. v. m.). Dies kann jedoch nur durch den Eintritt in jenen höherstufigen rechtsschützenden Ordnungszustand geschehen, auf den Kants Ausdruck der »bürgerlichen […] Verfassung« in der zuletzt zitierten Passage aus der Friedensschrift anspielt. Im 1793 veröffentlichten Gemeinspruch heißt es daher unmissverständlich: »Nun ist hierwider [gemeint ist die permanente Bedrohung der Staaten durch Kriege; O. L.] kein anderes Mittel, als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müsste, gegründetes Völkerrecht (nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen) möglich« (Gemeinspruch, KW VI, 171 f.).
Insofern überrascht es, wenn Kant in § 54 der Rechtslehre als drittes »Element des Völkerrechts« nun wie selbstverständlich einen »Völkerbund« präsentiert, der »doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung), sondern nur eine Genossenschaft (Föderalität) enthalten müsse […], die zu aller Zeit aufgekündigt werden kann« (RL, KW IV, 467) 107 . Da die bürgerliche Verfassung gemäß Kants
106 Unabhängig von der moralischen Verbindlichkeit ist es auch das rationale Selbstinteresse der Menschen und Staaten, auf das Kant bei der Stiftung einer globalen Friedensordnung vertraut. In diesem Sinne schreibt er schon 1784: »[S]o ist es doch der unvermeidliche Ausgang der Not, worein sich Menschen einander versetzen, die die Staaten zu eben der Entschließung (so schwer es ihnen auch eingeht) zwingen muß, wozu der wilde Mensch eben so ungern gezwungen ward, nämlich: seine brutale Freiheit aufzugeben, und in einer gesetzmäßigen Verfassung Ruhe und Sicherheit zu suchen« (Idee, KW VI, 42). Auch in der Friedensschrift sieht Kant in dem »wechselseitigem Eigennutz« der Menschen ein Motiv für die Realisierung eines globalen Friedenszustandes. Er ist der Auffassung, dass durch die wirtschaftliche Konkurrenz – den »lebhaftesten Wetteifer« der vom »Handelsgeist« ergriffenen Nationen – der kriegerische Antagonismus soweit domestiziert werde, dass sich die Völker »freilich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moralität«, sondern aufgrund ökonomischer Effizienzüberlegungen dazu veranlasst sähen, »den edlen Frieden zu befördern« (Frieden, KW VI, 226). 107 Dem Begriff der »Föderalität« einer internationalen Rechtsgemeinschaft begegnet man in Kants Schriften erst verhältnismäßig spät. Meines Wissens erörtert er den Rechtszustand »der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht« in seinen Druckschriften erstmals 1793 im Gemeinspruch, KW VI, 170 (hier verw. Zitat
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staatsrechtlicher Auffassung republikanisch sein soll, müsste diese Bedingung doch auch auf zwischenstaatlicher Ebene gelten. Man erwartet daher die Forderung, die in sich republikanisch verfassten Staaten, sollten auch ihre äußeren Beziehungen zueinander republikanisch gestalten. Statt lediglich auf »eine willkürliche, zu aller Zeit auflösliche Zusammentretung« (RL, KW IV, 475) in einem föderativen Völkerbund müssten die Staaten demnach auf eine mit öffentlichen Zwangsgesetzen ausgestattete »Republik freier verbündeter Völker« hinwirken, »einen Völkerbund als Weltrepublik«, mit dem Kant noch 1793 den »ewigen Frieden« begründen zu können hofft (Religion, KW IV, 682 f.). Um »dem heillosen Kriegführen […] ein Ende zu machen« (RL, KW IV, 478) und der globalen Rechtsicherung wirksam nachkommen zu können, macht die Errichtung einer solchen Staatenrepublik einen partiellen Verzicht der Mitgliedsstaaten auf ihre nationale Souveränität notwendig. Diese minimale supranationale Staatlichkeit in Bezug auf einige, für die Friedenssicherung unverzichtbare Schlüsselkompetenzen fehlt aber Kants Völkerbund – wie er ihn in Friedensschrift und Rechtslehre konzipiert 108 – völlig: Kant schließt in beiden Schriften jeden nationalen Souveränitätsverzicht ausdrücklich aus (vgl. RL, KW IV, 467, 474 f.; Frieden, KW VI, 211, 247). Nicht nur die Logik der Kants Argumentation methodisch leitenden Analogie – die Übertragung des staatsrechtlichen Begründungsmodells zur Überwindung des Naturzustands auf die völkerrechtliche Ebene –, schon der systematische Institutionalisierungsanspruch des jedem Menschen angeborenen Freiheitsrechtes verlangt es, den letzten normativen Schritt hin zu einem »Republikanism aller Staaten samt und sonders« (RL, KW IV, 478) zu vollziehen. Rechtssystematisch zu fordern wäre also die Weltrepublik, denn die gesicherte Wirklichkeit ebd.). Vgl. auch Frieden, KW VI, 208: »Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.« 108 Diese Einschränkung muss insofern betont werden, als Kant schon in der Idee von einem Völkerbund spricht, aber der Sache nach einen Völkerstaat meint, in dem »jeder, auch der kleinste, Staat seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht oder eigener rechtlichen Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde […], von einer vereinigten Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens, erwarten könnte« (Idee, KW VI, 42). Der so verstandene Völkerbund besäße dementsprechend nicht nur eine Vermittlungsfunktion in anstehenden Streitfällen, sondern würde darüber hinaus über die legitimierte Macht verfügen, auch gegen den Willen einzelner Saaten vorzugehen (vgl. dazu Brandt 1995b, S. 138). A
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der gesetzlichen Handlungsfreiheit der Individuen hängt nicht allein von der inneren Verfassung eines Staates ab, sondern auch von der Rechtssicherheit der äußeren Beziehungen eines Staates zu allen anderen Staaten. Kant selbst hat diesen Implikationszusammenhang auch klar zum Ausdruck gebracht: »Das Problem der Errichtung einer vollkommnen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöset werden. Was hilfts, an einer gesetzmäßigen bürgerlichen Verfassung unter einzelnen Menschen, d. i. an der Anordnung eines gemeinen Wesens, zu arbeiten? Dieselbe Ungeselligkeit, welche die Menschen hiezu nöthigte, ist wieder die Ursache, daß ein jedes gemeine Wesen in äußerem Verhältnisse, d. i. als ein Staat in Beziehung auf Staaten, in ungebundener Freiheit steht, und folglich einer von dem andern eben die Übel erwarten muß, die die einzelnen Menschen drückten und sie zwangen in einen gesetzmäßigen bürgerlichen Zustand zu treten« (Idee, KW VI, 41 f.).
Da mit dem strittigen zwischenstaatlichen Mein und Dein auch das innerstaatliche Mein und Dein der Bürger stets provisorisch bleiben muss, wäre in einem herrschaftsfreien und mit keinerlei Zwangskompetenzen ausgestatteten Völkerbund letztlich jegliches Mein und Dein der Menschen jederzeit gefährdet. Als Zwischenfazit lässt sich also feststellen, dass zwischen der im Eingangsparagrafen des Völkerrechts bekräftigten Vernunftforderung, den privatrechtlichen Naturzustand auch im zwischenstaatlichen Bereich zu verlassen, und der jeglicher Staatlichkeitsstruktur entbehrenden Organisationsform des zu errichtenden Staatenbundes eine argumentativ nicht aufzulösende Ambivalenz besteht (die – wie wir noch sehen werden – bei Kant empirisch begründet ist). Kants Völkerbund hat den Naturzustand der Staaten jedenfalls noch nicht verlassen 109 . Die Aktualität des in dieser Ambivalenz liegenden Problems ist noch heute – über zweihundert Jahre nach Veröffentlichung der Rechtslehre – gleichsam mit Händen greifbar: Entweder gehen die Einzelstaaten freie Vereinbarungen ein ohne grundsätzlichen Verzicht auf ihre Handlungsfreiheit; sie gründen – was dem Völkerbund entspricht
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Vgl. Kersting 2004b, S. 161.
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– eine »zu aller Zeit auflösliche« (RL, KW IV, 475) internationale Vertragsgemeinschaft ohne jeden Staatscharakter. Oder aber sie stimmen weiterreichenden wechselseitigen Verpflichtungen zu, nehmen dabei auch einen eng begrenzten Souveränitätsverzicht in Kauf und konstituieren – was einem äußerst restriktiv verfassten »allgemeinen Völkerstaat« (Gemeinspruch, KW VI, 172) entspricht – eine in bestimmten Belangen mit supranationaler Zwangsgewalt ausgestattete Rechtsund Staatengemeinschaft 110 . In der Rechtslehre erwägt Kant die letztgenannte Möglichkeit nicht als Element des Völkerrechts, weil er von einem unnötig strengen, unteilbaren staatstheoretischen Souveränitätsbegriff ausgeht 111 . Dagegen ist allerdings zu fragen, warum die Nationalstaaten nicht in ihrer inneren Eigenständigkeit bestehen bleiben sollen, wenn sie sich zugleich in Bezug auf einige wichtige Einzelfragen der zwischenstaatlichen Konfliktbewältigung einer souveränen gesetzlichen Gewalt unterwerfen? Souveränität und Unterwerfung bzw. Autonomie und partieller Freiheitsverzicht sind in Kants Moralphilosophie ja keineswegs per se einander ausschließende Begriffe 112. Warum also soll der begrenzte Souveränitätsverzicht der Individuen, der die territoriale Staatsgründung begleitet und die Etablierung staatlicher Institutionen ermöglicht, nicht um einen begrenzten Souveränitätsverzicht der Staaten zugunsten einer zwangsbewehrten internationalen Rechtsordnung ergänzt werden können? Schließlich ist es die praktische Vernunft selbst, die Kant zufolge auch für die zwischenstaatliche Ebene das »Ideal einer rechtlichen Verbindung der Menschen unter öffentlichen Gesetzen« vorschreibt und zur politischen Maxime verpflichtet, auf die Begründung eines »unter Gesetzen gesicherte[n] Zustand[s] des Mein und Dein« aller Menschen und Staaten »in kontinuierlicher Annäherung« hinzuwirken (RL, KW IV, 478 f.; vgl. auch ebd., 474). Im Übrigen ist Kant unmissverständlich der Auffassung, dass in der subsidiären Staatsordnung einer derartigen Weltrepublik die Einzelstaaten als mit weitreichenden Hoheitsrechten ausgestattete Pri-
110 Vgl. Höffe 1995b, S. 125. Anknüpfend an die Kantische Problemstellung Völkerbund-Weltrepublik lassen sich in der heutigen theoretischen Debatte zwei Gegenpositionen ausmachen, die als »Globalismus« und als »Kommunitarismus« bezeichnet werden können. Vgl. dazu die Überblicksdarstellung bei Höffe 1995c, S. 261–266. 111 Vgl. Pinzani 1999, S. 253; Kersting 2004b, S. 160–162. 112 Vgl. Ludwig 1988, S. 176.
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märstaaten bestehen bleiben müssten 113 . Während die republikanisch verfassten Nationalstaaten für sämtliche innenpolitischen und die meisten außenpolitischen Staatsaufgaben allein zuständig wären, obläge es dem Völkerstaat lediglich, ein gesetzmäßiges äußeres Staatenverhältnis zu errichten, indem er die rechtliche Unabhängigkeit, d. h. die territoriale Integrität seiner Mitgliedsstaaten notfalls mit militärischen Mitteln vor gegenseitigen gewaltsamen Übergriffen schützt 114 . Eine »Universalmonarchie« im Sinne eines »homogenen Weltstaates« 115 – wie sie der thüringische Nationalökonom Johann Heinrich Gottlieb von Justi im Jahre 1761 tatsächlich propagiert hat 116 –, in dem die Einzelstaaten allenfalls als unselbstständige Provinzen bestehen blieben, ist für Kant aus mehreren Gründen unmöglich (vgl. Frieden, KW VI, 225; Religion, KW IV, 682, Anm.). Welche Argumente führt Kant für den Erhalt der Selbstständigkeit der Staaten an, und in welchem Verhältnis stehen diese Argumente zu dem apriorischen Geltungsanspruch seiner Rechtslehre? 1.) Auf einer ersten Argumentationsebene ist ein Zusammenschluss aller Völker aufgrund der – von Kant in einem fragwürdig starken Sinne verwendeten – Analogie zwischen Individuen und Staaten ausgeschlossen. Wie bereits erwähnt, bezeichnet Kant sowohl in der Friedensschrift (Frieden, KW VI, 197) als auch in der Rechtslehre (RL, KW IV, 466) die rechtliche Korporation des Staates als eine »moralische Person«. Diese ist gemäß der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten« dadurch ausgezeichnet, dass sie »keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst gibt, unterworfen ist« (RL, KW IV, 329 f.). Selbstbestimmung 113 Die treffenden Bezeichnungen der Einzelstaaten als »Primärstaaten« und der Weltrepublik als einer »subsidiären Staatsordnung« übernehme ich von Höffe 1995b, S. 116. 114 Bei der rechtssystematisch zu fordernden Weltrepublik handelt es sich also – im Einklang mit den Kantischen Bestimmungen – um »ein[en] föderative[n] Zustand der Staaten, welcher bloß die Entfernung des Krieges zur Absicht hat« (Frieden, KW VI, 249), d. h. »lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeten Staaten«, geht (ebd., 211). Die Weltrepublik würde die Staaten »nur in der Absicht verbinde[n], unter einander […] sich im Frieden zu erhalten« (ebd., S. 247; vgl. auch RL, KW IV, 467, 473). 115 Vgl. Höffe 1995b, S. 124 f. 116 Vgl. Johann Heinrich Gottlieb von Justi, Beweiss, dass die Universalmonarchie vor die Wohlfahrt von Europa und überhaupt des menschlichen Geschlechts die größte Glückseligkeit wirken würde, in: Ders., Gesammelte politische und Finanzschriften, Bd. 2, Aalen 1970, S. 235–300.
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ist – in einem freilich nur schwachen analogischen Sinne – auch das Kennzeichen des Staates als einer »Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders, als er selbst, zu gebieten und zu disponieren hat« (Frieden, KW VI, 197). Aus dieser Analogie des geltungstheoretisch auf dem Gemeinwillen basierenden Staates zum Begriff der autonomen natürlichen Person und dem darin zum Ausdruck kommenden Gebot, das staatliche Selbstbestimmungsrecht zu respektieren, folgt unmittelbar, dass die juristische Person des Staates weder zum heteronomen Objekt eines rechtlichen Erwerbungsaktes werden kann (vgl. Frieden, KW VI, 197), noch durch die Gründung eines übergeordneten Gemeinwesens ihrer Eigenständigkeit beraubt werden darf. Kant spricht in der Friedensschrift auch von einem »Widerspruch«, der in dem Begriff eines nationalitätslosen Weltstaates liege (ebd., 209) 117 . Dass in einem derartigen Einheitsstaat die Einzelstaaten zu einem einzigen Staat zusammengeschmolzen würden, widerspräche dem begrifflichen Sinn des Völkerrechtes, d. h. der friedlichen Koexistenz verschiedener Republiken 118 . Staatsvölker müssen als Völkerrechtsubjekte demnach ihre allgemeinverträgliche Handlungsfreiheit und Selbstständigkeit innerhalb einer internationalen Rechtsgemeinschaft in einem äquivalenten Maße behalten und zugesichert bekommen, wie die Menschen ihr angeborenes Recht auf äußere Freiheit in einer Republik behalten und zugesichert bekommen. Inwiefern lässt sich den beiden Hauptaspekten dieser Argumentation ein grundsätzlicher moralischer Einwand gegen ein »Zusammenschmelzen« der Staatsvölker entnehmen? Dass das Völkerrecht schon 117 Die hier von mir vorgetragene Interpretation des von Kant diagnostizierten »Widerspruchs« setzt allerdings voraus, dass er den Ausdruck »Völkerstaat« im ersten Absatz des zweiten Definitivartikels der Friedensschrift (Frieden, KW VI, 209) mit dem der »Weltmonarchie« im ersten Zusatz (ebd., 225) identifiziert. Diese Deutung wird dadurch plausibel, dass Kant an beiden Stellen von einem inakzeptablen ›Zusammenschmelzen‹ der Staaten spricht. Dieser Hinweis ist Höffe 1995b, S. 127 zu verdanken. Der Begriff »Völkerstaat« wird von Kant folglich äquivok verwendet. 118 Die entsprechende Textstelle lautet: »Dies wäre ein Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte. Darin wäre aber ein Widerspruch; weil ein jeder Staat das Verhältnis eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staate nur ein Volk ausmachen würden, welches (da wir hier das Recht der Völker gegen einander zu erwägen haben, so fern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen, und nicht in einem Staat zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht« (Frieden, KW VI, 209).
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rein begrifflich verschiedene Staaten voraussetzt, so dass es aus völkerrechtlichen Gründen keinen Zusammenschluss aller Völker zu einem Staatsvolk geben darf, ist zwar ein begriffsanalytisch zwingendes, begründungstheoretisch aber nicht überzeugendes, da zirkuläres Argument. Denn – so wäre dagegen einzuwenden – welche vernunftrechtliche Legitimität käme einem föderalen Völkerrecht noch zu, wenn sich dessen moralisch gebotener Zweck – der globale Rechtsfrieden – durch ein das Völkerrecht ersetzendes ›Weltstaatsrecht‹ wirksamer erreichen ließe? Problematisch ist auch der sich auf die Analogie zwischen Staaten und Individuen stützende zweite Aspekt der Kantischen Argumentation: Mit der These, dass einzelstaatliche Rechtssubjekte wie natürliche Vernunftwesen als moralische Personen aufzufassen sind und ihnen daher ein unbedingtes Existenzrecht zukommt, bürdet sich ihr Verfechter eine kaum zu stemmende begründungstheoretische Beweislast auf. Offenbar berücksichtigt Kant nur unzureichend die Grenzen der Analogie von Staaten und Individuen 119 . Die rechtliche Souveränität des Staates hat im Grunde nur wenig mit der sittlichen Autonomie seiner Bürger gemein. Staaten sind keine natürlichen Personen, sondern künstliche, empirisch-historische Gebilde, denen anzugehören bzw. beizutreten die Menschen laut Kant aufgrund ihrer – von erfahrungsgeschichtlichen Tatsachen unabhängigen – rechtsmoralischen Persönlichkeit verpflichtet sind. Im Rahmen des hier zunächst betrachteten Argumentationszusammenhangs erweisen sich Kants Einwände gegen den globalen Einheitsstaat also letztlich als der empirische Verweis auf eine historisch gewachsene Vielfalt der Staatsvölker und das in ihnen bereits verwirklichte Maß an öffentlichem Vernunftrecht. Schließlich haben die »Staaten innerlich schon eine rechtliche Verfassung« (Frieden, KW VI, 211), deren moralischer Wert nicht ohne weiteres aufzugeben ist. 2.) Auf einer empirisch gehaltvolleren zweiten Argumentationsebene führt Kant neben dem erfahrungsgeschichtlichen Grundfaktum verschiedener Völkerstaaten detaillierte empirisch-pragmatische Überlegungen gegen den globalen Einheitsstaat an, die gerade auch angesichts der Erfahrungen mit totalitären Regimes des vergangenen Jahrhunderts von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind: Zunächst hält Kant einen globalen Einheitsstaat nach freiheitlichen Prinzipien für unregierbar, so dass dessen wesentliche Schutzfunktion nicht gewähr119
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So auch Pinzani 1999, S. 254.
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leistet wäre: »[W]eil die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen« (Frieden, KW VI, 225), wird »bei gar zu großer Ausdehnung eines solchen Völkerstaats über weite Landstriche, die Regierung desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden Gliedes endlich unmöglich« (RL, KW IV, 474). Es steht daher zu befürchten, dass ein Weltstaat nur in einem »seelenlosen Despotismus« – modern gesprochen: in einer totalitären Diktatur – zu beherrschen ist, der einen Frieden nur »auf dem Kirchhofe der Freiheit« stattfinden lassen würde oder »zuletzt doch in Anarchie« verfalle (Frieden, KW VI, 225 f.; vgl. auch Gemeinspruch, KW VI, 169; Religion, KW IV, 682, Anm.) 120 . Schließlich widerstrebe die sich in »der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen« dokumentierende kulturelle Unterschiedlichkeit der Völker ihrer »Vermischung« in einer Weltmonarchie (Frieden, KW VI, 225 f.). Wenngleich auch diese pragmatischen Argumente nicht das Gewicht grundsätzlicher moralischer Einwände haben 121 , so stützen sie sich doch auf empirische Sachverhalte, die sich voraussichtlich nie oder nur sehr langfristig ändern werden – mit denen das Völkerrecht als »auf die Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellte[.]« Theorie also rechnen muss (RL, KW IV, 309). So würde beispielsweise die Erde in der Linie der Kantischen Argumentation immer zu groß sein, um die Etablierung eines nach freiheitsgesetzlichen Prinzipien wirksam regierbaren Einheitsstaates zu ermöglichen 122 . Im Hinblick auf die aktuelle Bedeutung der Position Kants stellt sich die Frage, was ein Völkerrecht ohne eine mit Zwangsbefugnissen ausgestattete Staatengemeinschaft wert ist? Lässt sich dessen »letztes Ziel«, die globale gewaltfreie Konfliktlösung, ohne öffentliche interoder gar supranationale Gewalten – d. h. in einer föderalen und »fortwährend–freien Assoziation« (Frieden, KW VI, 247) vollständig souveräner Staaten – überhaupt erreichen? Im Hinblick auf gerade auch in jüngerer Vergangenheit erfolgte Missachtungen völkerrechtlicher Prinzipien muss diese Frage wohl verneint werden, denn für die Siche120 Kants Furcht vor einer universalen Despotie, die dadurch zustande kommen könnte, dass eine »fürchterlich (durch Ländererwerbung) anwachsende Macht« alle anderen Staaten unterjocht und sich einverleibt, wird in der Rechtslehre nur angedeutet (vgl. RL, KW IV, 469). 121 Vgl. Höffe 1995b, S. 126. 122 Vgl. Pinzani 1999, S. 252.
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rung eines weltumspannenden Friedenszustandes würden schlichtweg die erforderlichen zwangsbewehrten Rechtsinstrumente fehlen. Zum Beitritt in einen lediglich vertraglich vernetzten Völkerbund können und dürfen die Staaten einander nicht zwingen (RL, KW IV, 474) 123 . Sollte es zu zwischenstaatlichen Konflikten kommen, so sieht der Kantische Völkerbund weder gemeinsame öffentliche Zwangsgesetze (Frieden, KW VI, 211) noch einen international autorisierten und unparteiischen Gerichtshof vor, an dem die Rechtsansprüche der Bundesmitglieder einklagbar wären; im Zweifelsfall wäre jeder Staat weiterhin »in seiner eigenen Sache Richter« (ebd.). Darüber hinaus gäbe es ohnehin keine hinreichend mächtige Exekutivgewalt, die internationalen Beschlüssen Geltung verschaffen könnte. Es läge folglich – so O. Höffe – »eine Rechtslösung ohne Sicherung […] vor, also ein Provisorium, das […] nur ein Durchgangsstadium sein kann« 124 . Nach Kants eigenen Begriffen ließe sich auf der Basis seiner Völkerbundskonzeption bestenfalls »ein bloßer Waffenstillstand« zwischen Staaten erreichen, die den Naturzustand noch nicht verlassen haben (Frieden, KW VI, 196). Denn der Naturzustand war nach Kant ja wesentlich dadurch charakterisiert, dass »wo, wenn das Recht streitig […] war, sich kein kompetenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch zu tun« (RL, KW IV, 430). Dem hohen Ideal eines dauerhaften globalen Rechtsfriedens kann die fragile Assoziationsform eines jeglicher Staatlichkeit entbehrenden Völkerbundes daher nicht genügen. Um »dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses« (Idee, KW VI, 41) beizukommen und eine »den beharrlichen Frieden gründende Verfassung« zu etablieren (RL, KW IV, 466), ist ein solches Lösungsmodell als unzureichend und halbherzig abzulehnen 125 . 123 Dieses grundlegende Zwangsrecht bleibt den einzelnen Staaten verwehrt, obwohl sie doch nach Kant ausdrücklich dazu berechtigt sind, »einander zu nötigen, aus [dem zwischenstaatlichen] Kriegszustande herauszugehen« (RL, KW IV, 466). Hierin scheint ein Widerspruch zu liegen: Ein Staat darf den anderen dazu »nötigen«, den zwischenstaatlichen Naturzustand zu verlassen; der Eintritt in den Völkerbund soll aber jederzeit nur freiwillig geschehen. 124 Höffe 1995b, S. 121. vgl. auch Kersting 2004b, S. 161: »Der Völkerbund stellt als fragile und transitorische, aller Staatlichkeit entbehrende Vertragsgemeinschaft eine völlig ungeeignete Organisationsform für die Verwirklichung des globalen Rechtsfriedens dar.« 125 Auch J. Habermas weist auf die »Widersprüchlichkeit« hin, die sich aus Kants Festhalten an einer unteilbaren nationalstaatlichen Souveränität und der Forderung nach einer verfassungsmäßigen Überwindung des zwischenstaatlichen Naturzustandes ergibt
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Überraschenderweise kommt Kant im Schlussabschnitt des 2. Definitivartikels der Friedensschrift zu einem ganz ähnlichen Urteil. Er bezeichnet die föderative Organisationsform eines Völkerbundes als lediglich zweitbeste Lösung; gegenüber diesem »negative[n] Surrogat« müsse der »Völkerstaat« bzw. die »Weltrepublik« als »positive Idee« gelten (Frieden, KW VI, 213). Damit räumt Kant ein, dass die Friedenssicherung durch einen allein auf die moralische Selbstbindung der Regierungen vertrauenden Völkerbund lediglich eine minderwertige Ersatzlösung darstellt, welche – da sie »den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigungen« nur mit »beständiger Gefahr ihres Ausbruchs« aufhalten könne – die volle Rechtssicherheit gerade nicht erbringt (ebd.). Doch da die empirisch-faktischen Umstände nun einmal so seien, dass die Völker gemäß »ihrer«, d. h. der damals vorherrschenden »Idee vom Völkerrecht« die Weltrepublik »durchaus nicht wol(vgl. Habermas 1996, S. 9 f.). Ohne das Moment der »moralischen [Selbst-] Verpflichtung« der Mitgliedstaaten könne sich der Völkerbund Kants nicht zu einem »permanenten« und »fortwährenden verstetigen«, sondern bliebe »unsteten Interessenskonstellationen verhaftet« und würde »– wie später der Genfer Völkerbund – zerfallen«. »Eine rechtliche [Fremd-] Verpflichtung kann Kant nicht im Sinne haben, da sein Völkerbund nicht als eine Organisation gedacht wird, die mit gemeinsamen Organen eine staatliche Qualität und insoweit eine zwingende Autorität gewinnt« (ebd., S. 10). Anders als in Kants Konzeption müsse aber »[d]ie Völkergemeinschaft ihre Mitglieder unter Androhung von Sanktionen zu rechtmäßigem Verhalten mindestens anhalten können. Erst damit wird sich das instabile, auf wechselseitiger Bedrohung beruhende System sich selbst behauptender souveräner Staaten in einer Föderation mit gemeinsamen Institutionen verwandeln, die staatliche Funktionen übernehmen, nämlich den Verkehr ihrer Mitglieder untereinander rechtlich regeln und die Einhaltung dieser Regeln kontrollieren. Das Außenverhältnis der vertraglich geregelten internationalen Beziehungen […] wird dann durch ein auf Satzung oder Verfassung beruhendes Binnenverhältnis zwischen Organisationsmitgliedern modifiziert« (ebd., S. 18 f.). Bemerkenswerterweise erkennt Habermas in der Charta der Vereinten Nationen ein ähnliches Missverhältnis zwischen der Überbetonung einzelstaatlicher Souveränität und einem Defizit suprastaatlicher Institutionalisierung wie in den völkerrechtlichen Bestimmungen Kants. Insofern die UN-Charta in Artikel 2.7 einerseits ein Eingreifen in die inneren Angelegenheiten eines Staates ausdrücklich untersagt, andererseits aber den Sicherheitsrat in Kapitel VII (Artikel 39–51) dazu ermächtigt, notfalls militärische Aktionen durchzuführen, wenn »eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegen« (Artikel 39), trage sie »einer Übergangslage Rechnung« (Habermas 1996, S. 19). Erst die Verfügungsgewalt über eigene Streitkräfte und die Schaffung eines internationalen Gewaltmonopols könnten die Weltorganisation von der Angewiesenheit auf die freiwillige Kooperation ihrer Mitgliedsstaaten befreien und die Durchsetzbarkeit von UN-Beschlüssen gewährleisten (ebd.). A
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len«, werde sie, obgleich »in thesi richtig«, »in hypothesi« verworfen (ebd.). Die in diesem Zusammenhang einschlägige Textstelle der Friedensschrift lautet: »Für Staaten im Verhältnisse unter einander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie, eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden« (Frieden, KW VI, 212) 126 .
Nun ist es fraglos vernünftig, »wenn nicht alles verloren werden soll« (ebd., 213), den Völkerbund aus reformpolitischen Gründen für ein unerlässliches Transitorium zu halten. Solange ein global geteiltes rechtsmoralisches Bewusstsein fehlt (s. u. Kap. 4.4), werden sich die wenigsten Staaten zu den für eine Weltrepublik erforderlichen Souveränitatsverzichten bereit erklären. Kants Ablehnung eines minimalistischen Völkerstaates ist gleichwohl keine vernunftrechtlich-prinzipielle, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Es sind positivrechtliche oder historisch-politische, mithin empirisch-pragmatische Gründe, die ihn als (noch) nicht realisierbar erscheinen lassen. In ihrer rechtssystematischen und begründungslogischen Konsequenz mündet die Idee des Völkerrechts in einem »Völkerbund als Weltrepublik« (Religion, KW IV, 683), »denn« – so Kants abschließendes Urteil im »Beschluss« der Rechtslehre – »der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge einander benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind« (RL, KW IV, 479; erste Hervorheb. v. m.) 127 . 126 In inhaltlicher Entsprechung dazu schreibt Kant in § 44 der Rechtslehre, es liege a priori in der Vernunftidee des Naturzustandes, »daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können« (RL, KW IV, 430; Hervorheb. v. m.). 127 Zu der hier vorgetragenen Interpretation ließen sich viele kritische Stimmen anführen. Neben den Aufsätzen von R. Brandt (Brandt 1995b), G. Geismann (Geismann 1983, insbes. S. 380–384) und F. Cheneval (Cheneval 1997) sei an dieser Stelle noch auf die meines Erachtens allzu glättende Darstellung bei Gerhardt 1995b, S. 93–104 verwiesen, der zweifelsohne vorhandene Ambivalenzen bei Kant zu stark einebnet. Die zahlreichen Textstellen, an denen Kant auch im zwischenstaatlichen Bereich von Gesetzgebung und Zwangsgewalt spricht, sind in der Chronologie der Schriften, in denen sie auftreten, zeitlich zu nah an der Friedenschrift und der Rechtslehre, als dass man daraus bei Kant einen grundsätzlichen »Wandel in der Beurteilung der Chancen eines
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Das Weltbürgerrecht
4.4 Das Weltbürgerrecht Im internationalen öffentlichen Recht kommt »nicht bloß ein Verhältnis eines Staats gegen den anderen im ganzen, sondern auch einzelner Personen des einen gegen einzelne des anderen, imgleichen gegen den ganzen anderen Staat selbst in Betrachtung« (RL, KW IV, 466). Die zwei letztgenannten Formen von internationalen Beziehungen bilden den Gegenstand des rechtsgeschichtlich neuartigen »Weltbürgerrechts«, in dem das traditionelle Völkerrecht für Kant eine systematisch notwendige Ergänzung findet 128 . Während Kant das Weltbürgerrecht in der Rechtslehre in einem einzigen, kaum zwei Seiten umfassenden Paragrafen abhandelt, findet sich in der Friedensschrift (Frieden, KW VI, 213–217) eine vertiefende Erörterung seiner zukunftsweisenden Perspektive. Kant geht in beiden Schriften zunächst von der für die Begründung des öffentlichen Rechts schlechthin elementaren empirischen Prämisse aus, dass die Menschen […] vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts […] in bestimmte Grenzen eingeschlossen« sind (RL, KW IV, 475), sich mithin »nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern […] neben einander dulden müssen« (Frieden, KW VI, 214). Nun haben die Menschen nicht nur ein natürliches Bedürfnis, sondern auch die historisch bedingte Möglichkeit, über die Staatsgrenzen und Kontinente hinweg Beziehungen miteinander aufzunehmen 129 . Weil der ›allgemeinen Völkerstaates‹« ableiten könnte (ebd., S. 104). Diesen föderalistisch zu verstehenden Völkerstaat grenzt Kant im Übrigen – was Gerhardt hier aber unterschlägt – schon im Gemeinspruch, aus dem die Bezeichnung stammt, klar von dem »schrecklichsten Despotismus« ab, der von zentralistisch regierten »übergroßen Staaten« ausginge (Gemeinspruch, KW VI, 169 f. u. 172). Die hier vorgetragene Deutung erfolgte im Anschluss an die Überlegungen bei Höffe 1995b; Habermas 1996; Kersting 2004b, S. 149– 163 und Pinzani 1999. 128 Kants verfolgt mit dem erstmals 1795 in der Friedensschrift eingeführten »Weltbürgerrecht« also das Anliegen, zuletzt auch die wechselseitigen Beziehungen zu verrechtlichen, welche der einzelne Staatsbürger einerseits mit fremden Einzelstaaten, andererseits mit deren Staatsangehörigen unterhält. Die letztgenannte öffentliche Rechtsbeziehung scheint Gerhardt 1995b, S. 106 zu vergessen, wenn er mit Bezug auf das Weltbürgerrecht schreibt: »Es ist ein Recht, das ein Bürger eines Landes gegen die Regierung eines anderen Landes hat.« 129 »Unbewohnbare Teile« der Erdoberfläche, »das Meer und die Sandwüsten«, trennen die Völker voneinander, »doch so, daß das Schiff, oder das Kamel (das Schiff der Wüste) es möglich machen, über diese […] Gegenden sich einander zu nähern, und das Recht der Oberfläche, welches der Menschengattung gemeinschaftlich zukommt, zu einem A
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einzelne Mensch mithin aus empirischen Gründen seine staatsrechtlich befriedete Sphäre verlässt, entsteht ein grundsätzlich neues Konfliktpotential, das nach öffentlich-rechtlicher Beseitigung verlangt. Die Notwendigkeit, dieses noch vorhandene Defizit des öffentlichen Vernunftrechts aufzuheben, manifestiert sich nach Kant auch darin, dass der Mensch den Einfluss der weltweiten Rechtsverhältnisse zu spüren bekommt; er fühlt sie. Im Hinblick auf den ›globalisierten‹ Zustand der gegenwärtigen Weltwirtschaft und die aktuelle Debatte über eine weltweite Verbindlichkeit von Menschenrechtstandards formuliert Kant geradezu visionär: »Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex’ [des Naturrechts; O. L.], sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf« (Frieden, KW VI, 216 f.; vgl. auch RL, KW IV, 476).
Das Weltbürgerrecht vervollständigt das öffentliche Recht, indem es die staatsrechtliche und völkerrechtliche Verfassungsordnung überlagert und durchdringt 130 . In den wechselseitigen Beziehungen, die der einzelne Zivilbürger außerhalb seines Heimatstaates mit fremden Staaten und deren Einwohnern unterhält, tritt das jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht auf allgemeingesetzlichen äußeren Willkürgebrauch zunächst wieder in einer ungeschützten privatrechtlichen Form, d. h. unabhängig von einer aus dem Bürgerstatus fließenden innerstaatlichen Sicherung, in Erscheinung131 . Damit der möglichen Verkehr zu benutzen (vgl. Frieden, KW VI, 214; vgl. auch RL, KW IV, 476). Es braucht nicht erörtert zu werden, dass in der heutigen Wirklichkeit die Mobilität und die Kommunikationsmöglichkeiten der Menschen – in einem aus Kantischer Sicht unvorstellbarem Maße – vielfältiger, schneller und ›dichter‹ geworden sind. Mir geht es hier lediglich darum, den auch erfahrungsgeschichtlich bedingten Anlass für die Notwendigkeit weltbürgerlicher Rechtsbeziehungen hervorzuheben. 130 Vgl. Müller 1999, S. 258, 268. 131 V. Gerhardt begründet seine Auffassung, dass der Kantische Völkerbund »keine Kompromisslösung darstellt« (s. o. Anm. 127), u. a. mit dem Hinweis, dass es »in einer Weltrepublik […] des Weltbürgerrechts nicht« »bedürfte«. Denn – so Gerhardt – in einer Weltrepublik »fiele« das Recht der Menschen »als Weltbürger […] mit ihrem
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Das Weltbürgerrecht
Mensch seines unverlierbaren Freiheitsrechts auf globaler Ebene wirklich »teilhaftig […] werden« kann, muss das öffentliche Recht um ein »ius cosmopoliticum« ergänzt werden (RL, KW IV, 429). Zum angeborenen Menschenrecht gehört nach Kant der mit der Leiblichkeit des Menschen verbundene Umstand, einen Teil des begrenzten gemeinsamen Lebensraums zu beanspruchen. »Alle Menschen« haben daher »ursprünglich (d. i. vor allem rechtlichen Akt der Willkür) […] ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder der Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat« (RL, KW IV, 373) 132 . Darin äußert sich der Anteil eines jeden Menschen an der »ursprüngliche[n] Gemeinschaft des Bodens« (ebd., 372 f.; vgl. auch ebd., 475 f.; Frieden, KW VI, 214). Dieses ursprüngliche – nicht uranfängliche (s. o. S. 260) – Recht der Teilhabe an der Erdoberfläche begleitet den einzelnen Menschen laut Kant aber auch noch, wenn er im bürgerlichen Zustand den geschützten Raum seiner staatlichen Rechtsgemeinschaft willkürlich verlässt. Nach Kants Auffassung kommt daher »allen Menschen« »vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde« ein »Besuchsrecht« zu, das darin besteht, sich wechselseitig »zur Gesellschaft anzubieten« (Frieden, KW VI, 214). Diesem individuellen Recht des Besuchers korrespondiert die Pflicht der Ansässigen, »ihm nicht feindlich [zu] begegnen«, nur weil er ein Fremder ist, und ihn Recht als Staatsbürger zusammen«. Die nur durch den lockeren Zusammenschluss eines Völkerbundes zu gewährleistende »Staatenvielfalt« sei »somit die Sinnbedingung des Weltbürgerrechts« (vgl. Gerhardt 1995b, S. 104). Diese Argumentation verkennt den eigentümlichen verfassungsmäßigen Charakter, den eine Weltrepublik nach Kant haben müsste; zugleich geht sie von der problematischen – und bei Kant aus Gründen innerer argumentativer Konsistenz unhaltbaren (s. o. S. 285–288) – Prämisse einer Unteilbarkeit staatlicher Souveränität aus. Wie ich im vorstehenden Kapitel zu zeigen versucht habe, handelt es sich bei der rein rechtssystematisch zu fordernden minimalstaatlichen Weltrepublik – im Einklang mit den Kantischen Bestimmungen – um »ein[en] föderative[n] Zustand der Staaten, welcher bloß die Entfernung des Krieges zur Absicht hat« (Frieden, KW VI, 249), der also »lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeten Staaten«, geht (ebd., 211). Eine Weltrepublik würde mit ihrer primären Sicherungsfunktion – dem Schutz der territorialen Integrität ihrer Mitgliedsstaaten vor gegenseitigen gewaltsamen Übergriffen – die unter das Weltbürgerrecht fallenden Rechtsbeziehungen also keineswegs selbstverständlich in sich aufnehmen. Es wäre vielmehr Gegenstand einer eigenen Untersuchung, ob auch die (zwangsbewehrte) Sicherung des Weltbürgerrechtes nach Kant unter die Regelungskompetenzen der Weltrepublik fallen könnte oder müsste. 132 »[U]rsprünglich [hat] niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht […], als der Andere« (Frieden, KW VI, 214; ähnlich RL, KW IV, 373, 475). A
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nicht von ihrem Territorium »ab[zu]weisen«, wenn damit sein »Untergang« verbunden ist (ebd., 213). Kant hat mit dem Weltbürgerrecht also insbesondere eine rechtliche Garantie im Sinn, wonach jedermann auf fremdem Staatsgebiet zeitlich befristet geduldet wird, ohne dazu nach heutigen Begriffen eine Aufenthaltsbewilligung zu benötigen. Dieses »Hospitalitätsrecht« gilt auch für den »fremden Ankömmling«, der die Absicht hat, »einen Verkehr mit den alten Einwohnern zu versuchen« – d. h. mit einem fremden Staat und dessen Bürgern Beziehungen, etwa zu Handelszwecken, aufzunehmen –, wenn er sich nur »friedlich verhält« und das jeweils geltende Recht respektiert (Frieden, KW VI, 213 f.; vgl. auch RL, KW IV, 476 f.). Der »mögliche Mißbrauch« kann dieses »Recht des Erdbürgers nicht aufheben, die Gemeinschaft mit allen zu versuchen, und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen« (ebd., 476). Das Weltbürgerrecht formuliert mithin nichts anderes als ein Recht auf allgemeine Reisefreiheit, das jedoch ein Recht auf Ansiedlung ausschließt (vgl. ebd.) 133 : »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein« (Frieden, KW VI, 213). Eine dauerhafte Niederlassung sowie die Möglichkeit eines rechtmäßigen Erwerbs von Land, das durch die prima occupatio bereits in den Besitz anderer Weltbürger übergegangen ist, »erfordert« einen »besondere[n] Vertrag« (ebd.), der ausdrücklich »nicht mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner in Ansehung der Abtretung solcher Ländereien« abgeschlossen werden darf. Dies gilt nach Kant auch für den Lebensraum von »Hirten- oder Jagdvölker[n] […], deren Unterhalt von großen […] Landstrecken abhängt«, die sie durch territoriale Abgrenzung nicht sichern (können) (RL, KW IV, 476 f.). Unter Berücksichtigung des zeithistorischen Kontextes, in dem Kant das Weltbürgerrecht konzipiert, sind seine Äußerungen mithin als eine unbedingte und radikale – in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gleichwohl durchaus verbreitete 134 – Kritik am europäischen Kolonialismus zu verstehen. Unmissverständlich prangert Kant das offensichtliche Unrecht der imperialistischen Staaten in ihrem Verhalten gegenüber den Kolonialgebieten an, deren Einwohner sie »für nichts« rechneten: 133 Vgl. Gerhardt 1995b, S. 105. Wohl nur durch eine rhetorische Ungeschicklichkeit behauptet Gerhardt hier das Gegenteil; der Kontext erhellt, dass er der Auffassung ist, Kants Weltbürgerrecht schließe ein Recht auf dauerhafte Niederlassung aus. 134 Vgl. dazu Brandt 1994b, S. 93, Anm. 56 mit weiterführenden Literaturangaben.
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Das Weltbürgerrecht
»Vergleicht man hiemit [d. h. mit einer weltbürgerlichen Verfassung; O. L.] das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handelstreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit« (Frieden, KW VI, 214 f.).
Kant belegt diese Feststellung in der Friedensschrift mit Beispielen aus der Kolonialgeschichte Amerikas, Afrikas und Indiens und kommt schließlich auf ihre schlimmsten Auswirkungen, die »allergrausamste und ausgedachteste Sklaverei« zu sprechen (ebd., 216). Mit unüberhörbarer Ironie polemisiert Kant gegen die in ihrem Selbstverständnis nur allzu »gesitteten Völker« Europas: »[D]er Unterschied der europäischen Wilden von den amerikanischen besteht hauptsächlich darin, daß, da manche Stämme der letzteren von ihren Feinden gänzlich sind gegessen worden, die ersteren ihre Überwundene besser zu benutzen wissen, als sie zu verspeisen, und lieber die Zahl ihrer Untertanen, mithin auch die Menge der Werkzeuge zu noch ausgebreitetern Kriegen durch sie zu vermehren wissen« (ebd., 209 f.).
Mit dem Weltbürgerrecht eröffnet sich die Perspektive für einen globalen Entwicklungsprozess, in dem »entfernte Weltteile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können« (Frieden, KW VI, 214). In dem entwicklungsgeschichtlich bislang zunehmenden Maße, wie »die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird« (ebd., 216), konstituiert sich – nicht zuletzt auf der Grundlage des mit dem Weltbürgerrecht verbundenen weltweiten Besuchsrechts – in jeder Republik eine kritische und international vernetzte kosmopolitische Öffentlichkeit, die zuletzt die Form einer Weltbürgergesellschaft annehmen würde, welche die Perspektivität ihrer ethnisch und kulturell unterschiedlichen Kommunikationsbedingungen reflektiert. Über die Kritik an bestehenden Gesetzen, Autoritäten und Formen politischer Macht hinaus müssten die miteinander kommunizierenden Weltbürger sich in die Lage versetzen, öffentlich diskursive Übereinstimmungen zu erzielen, die im Sinne des Grundsatzes der »erweiterte[n] Denkungsart« »an der Stelle jedes andern« annehmbar sind (vgl. KdU, KW V, 390 f.) 135 . Mit der Überwindung des in jedem kulturellen Pluralis135 Sich die Maxime der erweiterten Denkungsart zu Eigen zu machen, bedeutet für Kant, dass der Mensch »sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils« hin-
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mus unvermeidlich liegenden Konfliktpotentials wären die Menschen als Weltbürger vernunftrechtlich dazu angehalten, »einen ›pluralistischen Konsens‹ her[zu]stellen oder plurale Übereinstimmungen von der Art, die sich mit der Integrität verschiedener politischer Gemeinschaften, Kulturen und Lebensformen vertragen, welche die Institutionen des Föderalismus nicht nur zulassen, sondern begünstigen« 136 .
weg setzt »und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert« (KdU, KW V, 391). Vgl. dazu auch Arendt 1985, S. 60 f.: »Mit einer ›erweiterten Denkungsart‹ denken heißt, daß man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen.« 136 Bohman 1996, S. 98. Auf diesen Aufsatz sei auch für aktuelle Überlegungen zu einer kosmopolitischen Öffentlichkeit verwiesen, die sich in einem weiten Sinne an Kants Völkerrecht anschließen. Bohman ist der Auffassung, dass »[a]uf der kosmopolitischen Ebene […] die höchste Zwangsgewalt des öffentlichen Rechts durch die […] Macht der öffentlichen Meinung der Weltbürger ersetzt [wird], also durch die Macht einer kritischen Öffentlichkeit« (ebd., S. 89).
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5. Ausblick: Kants Begriff der Politik als »ausübende Rechtslehre«
So unerreichbar der in der Idee eines ewigen Friedens gedachte Rechtszustand auch sein mag, es ist gleichwohl eine »auf dem Recht der Menschen und Staaten gegründete Aufgabe«, auf ihn fortwährend hinzuarbeiten (RL, KW IV, 474). Denn wenngleich der »ewige Friede« nach Kant »eine unausführbare Idee« ist, so sind die »politischen Grundsätze«, auf ihn in einer »kontinuierlichen Annäherung« hinzuwirken, »allerdings ausführbar« (ebd.). Das »Ideal einer rechtlichen Verbindung der Menschen unter öffentlichen Gesetzen« ist eine notwendige und normative Leitidee, welche die politischen Akteure zu einer »allgemeine[n] und fortdauernde[n] Friedensstiftung« verpflichtet (ebd., 479). Dass die praktische Realisierung dieses Ideals nicht zu vollenden ist, ist für Kant daher letztlich von sekundärer Bedeutung: »Also ist nicht mehr die Frage; ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, und ob wir uns nicht in unserem theoretischen Urteile betrügen, wenn wir das erstere annehmen, sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist, auf Begründung desselben, und diejenige Konstitution, die uns dazu die tauglichste scheint (vielleicht den Republikanism aller Staaten samt und sonders) hinwirken, um ihn herbei zu führen« (RL, KW IV, 478).
Die Annäherung an ein empirisch unvollendbares Friedensideal ist als eine unbedingte moralische Vernunftforderung an die Politik aber zugleich auf deren Mittel angewiesen. Das Recht kann und soll nach Kant das normative Ziel der Entwicklung angeben; es kann aber nicht die historischen und politischen Bedingungen bestimmen, unter denen seine Verwirklichung steht. Kant hat die Mittel einer am Vernunftrecht orientierten Politik in der Rechtslehre – wohl wegen deren Grundlegungscharakter 1 – nicht näher untersucht; die übergeordnete Methode politischen Handelns hat er im letzten Satz des »Beschlusses« 1
Vgl. Höffe 1987, S. 475 f. A
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gleichwohl prägnant umrissen: Nicht »revolutionsmäßig, durch einen Sprung, d. i. durch gewaltsame Umstürzung einer bisher bestandenen fehlerhaften« Rechtsordnung – »denn da würde sich zwischeninne ein Augenblick der Vernichtung alles rechtlichen Zustandes ereignen« –, »sondern durch allmähliche Reform nach festen Grundsätzen« soll die »kontinuierliche Annäherung zum höchsten politischen Gut, zum ewigen Frieden«, »versucht und durchgeführt« werden (RL, KW IV, 479). Von der regulativen Vernunftrechtstheorie, die für sich noch keine konkreten politischen Handlungsanweisungen enthält, muss mithin ein Weg zu operationalen Grundsätzen gefunden werden, welche die von den Rechtsprinzipien entworfene Freiheitsordnung ohne das rechtsvernichtende Moment der Revolution ermöglichen 2 . Durch diese Verknüpfung konstituiert sich nach Kant das spezifische Feld der Politik, sie praktisch durchzuführen ist das zentrale Problem und die vornehmliche Aufgabe des Politikers. Er hat in der konkreten sozialen Realität die Bedingungen zu schaffen, unter denen jeder seines unverlierbaren Rechts auf allgemeingesetzliche Willkürfreiheit dauerhaft teilhaftig werden kann. Um dies zu erreichen, muss der Politiker mit Blick auf jeweilig bestehende kulturelle, politische und wirtschaftliche Lebensverhältnisse empirische Prämissen anerkennen, die – wie noch zu zeigen sein wird – weit über die empirisch-anthropologischen Grundannahmen des Moral- bzw. Rechtsphilosophen hinausreichen. Er hat nicht nur das durch empirische Forschung erbrachte Wissen zur Kenntnis zu nehmen 3 , sondern auch historisch-tradierte Vorleistungen zu berücksichtigen, an die eine moralische Politik nach Kant immer erst anknüpfen muss. In der fortwährenden reformerischen Überwindung des darin liegenden Spannungsverhältnisses – der Diskrepanz zwischen positivem Rechtsbestand, der einem steten Wandel in der Geschichte unterworfen ist, und regulativem Vernunftrecht, das in seiner Geltung für Kant gerade nicht auf ein empirisch-historisches Bewusstsein rückführbar ist – liegt der eigentümliche Kern von Kants Politikbegriff 4.
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Vgl. dazu Kühl 1984, S. 237–246. Vgl. dazu Oertzen 1976. Vgl. dazu auch Brandt 1994b, S. 77; Gerhardt 1995b, S. 204.
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Öffentlichkeit und Recht als Prämissen der Politik
5.1 Öffentlichkeit und Recht als Prämissen der Politik Mit der praktischen Vermittlung von Rechtsprinzipien und gesellschaftlicher (innen- wie außenpolitischer) Wirklichkeit rückt der innovative, ja eigenwillige Charakter von Kants programmatischer Friedensschrift in den Vordergrund. Insbesondere deren zweiteiliger Anhang 5 , der inhaltlich dichteste und zugleich längste Teil der ganzen Abhandlung, beschäftigt sich ausführlich mit einer Theorie-PraxisDiskussion über die Möglichkeiten und Bedingungen einer Vereinbarkeit von Moral und Politik. Dabei versucht Kant zu zeigen, dass eine Politik, die sich als »ausübende Rechtslehre« versteht – sich mithin auf dem Wege fortschreitender Reformen die aktive Realisierung dessen, was das Vernunftrecht lehrt, zur Aufgabe macht –, notwendig im Einklang steht mit den Grundsätzen der Moral, die Kant dort auch als »theoretische« Rechtslehre bezeichnet (Frieden, KW VI, 229) 6 . Alle »wahre Politik« (ebd., 243) – so die Grundauffassung Kants – hat ihren Ausgang von moralisch-rechtlichen Grundsätzen 7 zu nehmen und darf sich nicht vornehmlich oder gar ausschließlich an den nie mit zuverlässiger Sicherheit berechenbaren Folgen ihres Handelns, dem »glücklichen oder schlimmen Erfolg aus dem Tun und Lassen der Menschen« orientieren (ebd., 229). Wir können noch so gute Prognoseinstrumente ausbilden, »die Vernunft ist nicht erleuchtet genug, die Reihe der vorherbestimmenden Ursachen zu übersehen« (ebd.). Hätte die Politik das Selbstverständnis einer auf pragmatischer Geschicklichkeit beruhenden »Klugheitheitslehre«, die sich darauf beschränkte, zu den »auf Vorteil berechneten Absichten die tauglichsten Mittel zu wählen«, so wäre dies gleichbedeutend mit der Leugnung, »daß es überhaupt eine Moral gebe« (ebd.) 8 . Kant verlangt daher: »I. Über die Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden« (Frieden, KW VI, 228–244); »II. Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts« (ebd., 244–251). 6 Zu der von Kant beiläufig erwähnten Begriffsbestimmung der Politik als »ausübende Rechtslehre« vgl. Gerhardt 1995b, S. 156–160. 7 Den Grundbestand dieser Rechtsprinzipien formuliert Kant in den drei »Definitivartikeln« der Friedensschrift (ebd., KW VI, 203–217), ihnen entsprechen inhaltlich weitgehend die drei Teile des öffentlichen Rechts in der Rechtslehre. 8 Klugheit ist »die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel« (vgl. Grundlegung, KW IV, 45). Sie wird im politischen Kontext der Friedensschrift meist »Staatsklugheit« genannt und erfährt – trotz aller Vorbehalte – als für den Politiker unerlässliche Kompetenz auch eine positive Bewertung (s. u.). 5
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»[D]ie politische[n] Maximen müssen nicht von der, aus ihrer Befolgung zu erwartenden, Wohlfahrt und Glückseligkeit eines jeden Staats, also nicht vom Zweck, den sich ein jeder derselben zum Gegenstand macht […], sondern von dem reinen Begriff der Rechtspflicht (vom Sollen, dessen Prinzip a priori durch reine Vernunft gegeben ist) ausgehen« (Frieden, KW VI, 242).
Mit einer verpflichtenden Bindung an die »einschränkende Bedingung« (ebd., 232) des Vernunftrechtes ist jedoch nicht einer Politik das Wort geredet, die sich indifferent zu den Konsequenzen ihres Handelns verhält. Der Politik darf das Gemeinwohl der (welt)bürgerlichen Gesellschaft natürlich nicht gleichgültig sein. Kant behauptet an einer Stelle sogar, dass es die »eigentliche Aufgabe der Politik ist«, mit dem »allgemeinen Zweck« des Menschen, »der Glückseligkeit«, »zusammen zu stimmen« und ihn »mit seinem Zustande zufrieden zu machen« (ebd., 250). Diese Aufgabenbestimmung ist jedoch nicht so zu verstehen, als argumentiere Kant für eine politisch zu gewährleistende Glücksfürsorge 9. Die Politik soll die Menschen nicht mit »dem süßen Gefühl des Wohltuns« beschenken (Frieden, KW VI, 250). Stattdessen hat sie »in einer Metaebene so [zu] intervenieren […], dass die Bürger für ihr eigenes Glück sorgen können und deswegen mit den ihnen bekannten politischen Maßnahmen kooperieren« 10 . Die Moral verpflichtet die Politik dazu, das Vernunftrecht – wie es in der legitimationstheoretisch verstandenen Idee des Gemeinwillens zum Ausdruck kommt (Frieden, KW VI, 240 f.) – zu achten, indem sie der politischen Praxis auferlegt, »eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche Verfassung, als die einzige dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen« (ebd., 234, Anm.; vgl. auch ebd., 240) und so auf »den ewigen Frieden, den man nun nicht bloß als physisches Gut, sondern auch als einen aus Pflichtanerkennung hervorgehenden Zustand wünscht,« hinzuwirken (ebd., 239) 11 . Die »VerbindVgl. Gemeinspruch, KW VI, 145 f.: »Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus […].« 10 Brandt 2004, S. 391. 11 In der Formulierung: »nicht bloß als physisches Gut, sondern auch …« liegt eine Bestätigung der Annahme, dass die Politik sich um die Befriedigung der sinnlichen 9
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lichkeit der Machthabenden« besteht nach Kant also »vorzüglich« darin, »eine nach reinen Rechtsprinzipien eingerichtete innere Verfassung des Staats, dann aber auch die der Vereinigung desselben mit andern benachbarten oder auch entfernten Staaten« zum Zwecke »einer (einem allgemeinen Staat analogischen) gesetzlichen Ausgleichung ihrer Streitigkeiten« herbeizuführen (ebd., 241 f.). Um die Freiheitsund Friedenstheorie des Rechts in der sozialen Realität ›auszuüben‹, bedarf es jedoch neben der Vertrautheit mit den elementaren Rechtsprinzipien eines genuin politischen Handlungsspielraumes, der durch die praktische Erfahrung, Urteilskraft 12 und Klugheit 13 der politischen Akteure auszufüllen ist. Kant lässt keinen Zweifel daran, dass die »Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist« (Frieden, KW VI, 243), deren Gelingen stets auch von empirisch-kontingenten Bedingungen abhängig bleibt und auf die Realisierung zweckmäßiger Erfahrungsurteile angewiesen ist. Da sich das politische Handeln grundsätzlich nicht in einem deduktiven Verfahren aus der Rechtstheorie ableiten lässt, ist für seine Begriffsbestimmung neben der Kenntnis des Vernunftrechts und der handlungsregulierenden Zielsetzung seiner Verwirklichung noch ein weiterer, wesentlich pragmatisch ausgerichteter und historischem Wandel unterworfener Kompetenzbereich erforderlich, den man zusammenfassend als »politischen Sachverstand« bezeichnen könnte 14 . Der Politiker muss in seinem Handeln technische Probleme bewältigen; er hat daher immer auch die besonderen Umstände, die konkreten Möglichkeiten und die Einschätzung der physischen Folgen seines Handelns zu berücksichtigen – nicht zuletzt dadurch, dass er das verfügbare empirische Wissen der Natur- und SoBedürfnisse der Menschen, mithin um die empirischen Konsequenzen ihres Handelns zu kümmern hat. 12 Die Urteilskraft ermöglicht es dem Politiker allererst, die Vernunftrechtsforderungen zum Zwecke ihrer Verwirklichung zu den konkreten Lebensbedingungen der jeweiligen Gesellschaft in Beziehung zu setzen. Vgl. dazu Kühl 1984, S. 238; Wieland 1998, insbes. S. 14–22. Die Kultivierung der Urteilskraft erfordert ein hohes Maß an Zeit und Erfahrungswissen. Kant bezeichnet sie auch als einen »Verstand […], der nicht vor Jahren kommt« (Anthropologie, KW VI, 509). 13 Kant ist sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass Klugheit in der Sphäre des Politischen unverzichtbar ist, sofern sie sich in den Dienst einer kosmopolitischen Theorie des Rechts stellt. Die Politik hat in ihren Entscheidungen daher darauf zu achten, dass sie »die Prinzipien der Staatsklugheit so nimmt, dass sie mit der Moral zusammen bestehen können« (Frieden, KW VI, 233). 14 Vgl. dazu Gerhardt 1995b, S. 71 f. A
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zialwissenschaften in seine Entscheidungen einfließen lässt. Durch die Berufung auf dieses probabilistische und faktisch gesicherte Erfahrungswissen darf er sich aber eben nicht den Forderungen des Vernunftrechts entziehen. Für sich kann die empirische Forschung keine Notwendigkeit ihrer Ergebnisse für die politische Gestaltung einer Gesellschaftsordnung beanspruchen, erst in Verbindung mit moralischrechtlichen Grundnormen erhält sie ihre legitime Bedeutung 15 . Wohlverstandene Politik im Kantischen Sinne erweist sich somit als die empirisch-historischen Regeln und Bedingungen unterstehende Kunst, den durch die Rechtsprinzipien begrenzten Handlungsspielraum »zur Regierung der Menschen zu benutzen« (Frieden, KW VI, 232). In diesem Sinne ist Kants Aussage zu verstehen, dass »wahre Politik […] keinen Schritt tun [kann], ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben« (ebd., 243) 16 . Dort, wo die Politik auf ihre Vereinbarkeit mit den moralischrechtlichen Grundsätzen achtet, spricht Kant von einem »moralischen Politiker« Frieden, KW VI, 233). Da dieser seinem zweckmäßigen Handeln das »bloß auf Freiheit im äußern Verhältnis gestellte […] Rechtsprinzip« »vorangehen« lässt, ist für ihn »das Problem« der Verwirklichung »des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts« eine »sittliche Aufgabe (problema morale)« (ebd., 239). Die von ihm beanspruchte Vgl. Kühl 1984, S. 244 f. Moral meint hier vornehmlich die juridischen Pflichten; die Probleme der Politik sind nicht primär Fragen der Ethik, sondern der »Moral (als Rechtslehre)« (ebd., 248). »Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden« (Lüge, KW IV, 642). Mit der Forderung nach (juridischer) Legalität des politischen Handelns ist die ethische Moralität des Politikers keineswegs ausgeschlossen, aber es ist nach Kant keine Voraussetzung moralischer Politik, dass der Politiker sich dem Recht aus reiner Pflichtüberzeugung unterwirft. Kant erwartet von der Politik weder eine in der Realität ohnehin »wenig in Anschlag« zu bringende »moralische Gesinnung« ihrer Akteure (Frieden, KW VI, 231), noch darf sie eine ethische Besserung des Einzelnen als ihre vordringliche Aufgabe ansehen: »Wünschen kann es wohl jedes politische gemeine Wesen, daß in ihm auch eine Herrschaft über die Gemüter nach Tugendgesetzen angetroffen werde; denn, wo jener ihre Zwangsmittel nicht hinlangen, weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann, da würden die Tugendgesinnungen das Verlangte bewirken. Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte!« (Religion, KW IV, 754). Es ist das Charakteristikum »eine[r] gute[n] Organisation des Staats«, dass »der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird« (Frieden, KW VI, 223 f.).
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Staatsklugheit steht auf einer »rechtlichen Basis« (ebd., 249); sie erinnert den moralischen Politiker daran, die Grundsätze des öffentlichen Rechts »nicht übereilterweise mit Gewalt herbei zu ziehen, sondern sich ih[nen], nach Beschaffenheit der günstigen Umstände, unablässig zu nähern (ebd., 240). Dabei kann er sich auf »Erlaubnisgesetze der Vernunft« berufen, die es gestatten, einen »mit Ungerechtigkeit behafteten« Rechtszustand für eine (freilich schwer zu bemessende) Phase des Übergangs »beharren zu lassen«, sofern dieser zukünftig durch »dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen[e]« »Reformen« überwunden wird (ebd., 234, Anm.; s. o. Kap. 4.2.2.1). »Der moralische Politiker wird es sich zum Grundsatz machen: wenn einmal Gebrechen in der Staatsverfassung oder im Staatenverhältnis angetroffen werden, die man nicht hat verhüten können, so sei es Pflicht, […] dahin bedacht zu sein, wie sie, sobald wie möglich, gebessert, und dem Naturrecht, so wie es in der Idee der Vernunft uns zum Muster vor Augen steht, angemessen gemacht werden könne […]. Da nun die Zerreißung eines Bandes der Staats- oder weltbürgerlichen Vereinigung, ehe noch eine bessere Verfassung an die Stelle derselben zu treten in Bereitschaft ist, aller, hierin mit der Moral einhelligen, Staatsklugheit zuwider ist, so wäre es zwar ungereimt, zu fordern, jenes Gebrechen müsse sofort und mit Ungestüm abgeändert werden; aber daß wenigstens die Maxime der Notwendigkeit einer solchen Abänderung dem Machthabenden innigst beiwohne, um in beständiger Annäherung zu dem Zwecke (der nach Rechtsgesetzen besten Verfassung) zu bleiben, das kann doch von ihm gefordert werden« (Frieden, KW VI, 233).
Gewissermaßen als Gegentyp zum »moralischen Politiker« führt Kant den »politischen Moralisten« ins Feld (ebd.) 17 . Dieser machiavellistisch kalkulierende Empiriker ordnet alle moralisch-rechtlichen Prinzipien seinen allein auf machtpolitischen Erfolg gerichteten Zwecken unter und spannt so »die Pferde hinter den Wagen« (Frieden, KW VI, 239). Da für ihn »die Moral bloße Theorie ist« (ebd., 230), verneint der politische Moralist die Möglichkeit, dass moralische Gesetze in der Politik irgendeinen Einfluss ausüben können. Stattdessen beschönigt und verewigt er die »rechtswidrige[n] Staatsprinzipien, unter dem Vorwande 17 Gemeint sind wohl nicht nur die mit Regierungsgewalt ausgestatteten Staatsoberhäupter und Minister, sondern auch die ihnen nahe stehenden Berater, Sozialtheoretiker und namentlich die politisch tätigen Juristen (vgl. Frieden, KW VI, 235). Anstelle der leicht irreführenden Bezeichnung »politischer Moralismus« würden wir heute vielleicht von einem Machiavellismus oder politischem Realismus sprechen (vgl. Castillo 1995, S. 203 f.; Gerhardt 1995b, S. 170).
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einer des Guten […] nicht fähigen menschlichen Natur« (ebd., 234 f.). Der politische Moralist beabsichtigt somit – so die Auffassung Kants –, seine unmoralische, auf »despotisch gegebenen Zwangsgesetzen« (ebd., 235) beruhende Politik dadurch zu legitimieren, dass er die mit ihr verbundene Gewalt mittels einer anthropologischen Konstante als notwendiges Übel zu erweisen sucht. Er gründet seine Handlungen »eigentlich darauf: daß er aus der Natur des Menschen vorher zu sehen vorgibt, er [der Mensch] werde das nie wollen, was erfordert wird, um jenen zum ewigen Frieden hinführenden Zweck [der inner- und zwischenstaatlichen Gerechtigkeit; O. L.] zu Stande zu bringen« (ebd., 230).
Indem der politische Moralist »sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vorteil des Staatsmanns sich zuträglich findet« (ebd., 233), will er das Partikularinteresse (eines Staates) von jeder Bindung an das allgemeingesetzliche Vernunftrecht befreien und die Politik zu einer »bloße[n] Kunstaufgabe« der (Staats-) Klugheit verkürzen (ebd., 239). Die »Auflösung« seiner allein technischen, in richtigen Zweck/Mittel-Kalkulationen bestehenden Probleme erfordert »viel Kenntnis der Natur […], um ihren Mechanism zu dem gedachten Zweck zu benutzen, und doch ist alle diese ungewiß in Ansehung ihres Resultats« (Frieden, KW VI, 239 f.). Der politische Moralist kennt folglich keinen kategorischen, sondern lediglich hypothetische Imperative, so dass sein Handeln nur vorgeblich in vorhersehbaren Gewissheiten begründet liegt. Die pragmatische Weltanschauung des politischen Moralismus suggeriert uns, Gewalt als ein notwendiges Mittel der Politik zu betrachten, das die Kunst der Staatsklugheit zu unserem Vorteil zu gebrauchen weiß. Durch diese realpolitischen »Praktiken« pervertiert der politische Moralist letztlich den moralischen Sinn der politischen »Praxis« im Namen eines nur scheinbar wertneutralen Effizienzstrebens (ebd., 235) 18 . Kants Bestreben läuft nun darauf hinaus, dem politischen Moralismus eine praktische Inkonsistenz, eine Art performativen Widerspruch nachzuweisen, der auf dessen rhetorische Selbstentlarvung zielt 19 . Denn wenngleich der politische Moralist dies glauben machen möchte, beruht seine Überzeugungskraft nicht in der Entschlossenheit, sich den faktisch und – aufgrund der unterstellten Verworfenheit der menschlichen Natur – vermeintlich notwendig unmoralischen VerVgl. dazu Castillo 1995, S. 204–206. Vgl. dazu und zum Folgenden Castillo 1995, S. 207; Gerhardt 1995b, S. 98–101, 157 f., 172 f.
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Publizität als Vermittlungsprinzip von Moral und Politik
hältnissen anzupassen, sondern lediglich in dem oberflächlichen Kunstgriff der »Hinterlist« und »Zweizüngigkeit« seiner »lichtscheuen« Amtsführung (Frieden, KW VI, 250). Der Selbstwiderspruch besteht darin, dass er in der Öffentlichkeit »wenigstens den Worten nach« (ebd., 210) die Rechtsverbindlichkeit seines Handelns in Anspruch nehmen muss, die er im Verborgenen missbilligt. Kant sucht dieses »Blendwerk« des politischen Moralismus »aufzudecken«, deren Vertreter »sich nicht getrauen, die Politik öffentlich bloß auf Handgriffe der Klugheit zu gründen, mithin dem Begriffe eines öffentlichen Rechts allen Gehorsam aufzukündigen […], sondern ihm an sich alle gebührende Ehre widerfahren lassen, wenn sie auch hundert Ausflüchte und Bemäntelungen aussinnen sollten, um ihm in der Praxis auszuweichen, und der verschmitzten Gewalt die Autorität anzudichten, der Ursprung […] alles Rechts zu sein« (ebd., 238 f.).
Da jede Politik auf die Selbstdarstellung im öffentlichen Raum angewiesen ist, die einen Anspruch auf Glaubwürdigkeit und Integrität nicht gänzlich aufgeben kann, ist sie von innen, d. h. von ihrem Selbstverständnis her auf eine Rechtfertigung durch allgemeine Prinzipien angelegt. Auch der politische Moralist sieht sich in seinem öffentlichen Sprachgebrauch dazu genötigt, selbst bei der offenkundigsten Rechtsverletzung den Anschein der Rechtmäßigkeit seines Handelns zu wahren. Da er zumindest rhetorisch so tun muss, als ordne er seine Handlungen einer allgemeinen gesetzlichen Autorität (etwa dem Gemeinwohl) unter, benötigt er öffentlich die moralischen Legitimationsgründe, die er insgeheim missachtet.
5.2 Publizität als Vermittlungsprinzip von Moral und Politik Nun ist mit dem Nachweis einer lediglich rhetorischen Rechtfertigungsnotwendigkeit des sich in der Öffentlichkeit präsentierenden Politikers, mit einem immer wieder erweckten Anschein der rechtlichen Legitimität seines Handelns noch nichts gewonnen für einen überprüfbaren Nachweis moralischer Politik 20 . Daher sucht Kant im 20 Allerdings sieht Kant in der Tatsache, dass selbst despotische Herrscher unter dem Druck stehen, ihr Handeln öffentlich unter rhetorischer Berufung auf das Recht zu legitimieren, einen Beweis für eine zukünftige Besserung der Verhältnisse:
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zweiten Teil des Anhangs zur Absicherung seiner These über die mögliche »Einhelligkeit der Politik mit der Moral« nach einem normativen Kriterium aller öffentlich-rechtlichen Bestimmungen, einem »Experiment der reinen Vernunft«, das »unerweislich-gewiss und überdem leicht anzuwenden« sei (Frieden, KW VI, 244 f.). Er findet es in der »Publizität« als der notwendigen formalen Bedingung jedes moralischen Rechtsanspruchs: »Wenn ich von aller Materie [d. h. allen inhaltlichen Bestimmungen; O. L.] des öffentlichen Rechts (nach den verschiedenen empirisch-gegebenen Verhältnissen der Menschen im Staat oder auch der Staaten untereinander), […] abstrahiere, so bleibt mir noch die Form der Publizität übrig, deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene es keine Gerechtigkeit (die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann), mit hin auch kein Recht, das nur von ihr erteilt wird, geben würde« (ebd., 244).
Es ist unmittelbar einsichtig, dass ein öffentliches Recht nur dann die mit ihm intendierte Funktion wirksam erfüllen kann, wenn es allen, für die es gelten soll, uneingeschränkt zugänglich und gleichermaßen bekannt ist. Öffentliches Recht bedarf schon aufgrund der Kantischen Begriffbestimmung einer »allgemeinen Bekanntmachung« (vgl. RL, KW IV, 429) 21 . Allerdings fordert Kant für die bürgerliche Öffentlichkeit, die von ihm prinzipiell als weltbürgerliche Öffentlichkeit gedacht wird (s. o. Kap. 4.4) 22 , weit mehr als lediglich eine so gut wie selbstverständliche allgemeine Rezipierbarkeit der politisch-rechtlichen Bestimmungen. Wenn »der a priori gegebene allgemeine Wille (in einem Volk, oder im Verhältnis verschiedener Völker unter einander) […] allein, was unter Menschen Rechtens ist, bestimmt« (Frieden, KW VI, 240 f.), dann liegt darin natürlich auch der Anspruch begründet, dass alle konkreten Bestimmungen des jeweils geltenden öffentlichen »Diese Huldigung, die jeder Staat dem Rechtsbegriffe (wenigstens den Worten nach) leistet, beweist doch, daß eine noch größere, ob zwar zur Zeit schlummernde, moralische Anlage im Menschen anzutreffen sei, über das böse Prinzip in ihm (was er nicht ableugnen kann) doch einmal Meister zu werden, und dies auch von andern zu hoffen; denn sonst würde das Wort Recht den Staaten, die sich einander befehden wollen, nie in den Mund kommen« (Frieden, KW VI, 210). 21 Vgl. auch Frieden, KW VI, 246 f.: »[E]in öffentliches Recht [enthält] die Publikation eines, jedem das Seine bestimmenden, allgemeinen Willens schon in seinem Begriffe.« 22 Wie Kant schon 1784 schreibt, hat sich die Politik – wie jeder öffentliche Vernunftgebrauch – vor dem »eigentlichen Publikum, nämlich der Welt« zu rechtfertigen (Aufklärung, KW VI, 57). Vgl. dazu Habermas 1990, insbes. S. 182 f.
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Rechts sowie die darauf bezogenen politischen Handlungen durch jedermann überprüfbar und jederzeit publizierbar sein müssen, »ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand aller […] gereizt werde« (ebd., 245). Die in dem kritischen Urteil der Öffentlichkeit liegende legitimationstheoretische Begründungsleistung für politisches Handeln will Kant in einer »transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts« 23 begrifflich fassen, für die er im Anhang II zwei unterschiedliche Formulierungen anbietet. Die erste, negative Formel lautet: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht« (Frieden, KW VI, 245). Die Publizität dient hier als »ein gutes Kennzeichen der Nichtübereinstimmung der Politik mit der Moral (als Rechtslehre)« (ebd., 248). Die Formel fungiert mithin lediglich als Ausschlussprinzip für alle »auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen«, die das Kriterium der allgemein zustimmungsfähigen Mitteilbarkeit nicht erfüllen. Eine politische Handlungsmaxime, »zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde«, kann zwar unmöglich moralisches Recht sein, denn sie kann »diese notwendige und allgemeine […] Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht« (ebd., 245) – durch die Publizierbarkeit ist gleichwohl noch kein hinreichendes, positives Kriterium für vernunftrechtlichen Ansprüchen genügende politische Handlungsgrundsätze bestimmt: »Denn »es lässt sich nicht umgekehrt schließen: daß, welche Maximen die Publizität vertragen, dieselbe darum auch gerecht sind« (ebd., 249) 24 . Die »bloß negativ[e]«, zur Aufdeckung unrechtmäßiger Handlungen dienende Publizitätsregel ist in ihrer Anwendung auf die faktisch ungerechten politischen Verhältnisse defizitär. Kant hat den Haupteinwand selbst erwähnt: Wer »sich bewußt ist, die unwiderstehliche Obergewalt zu besitzen«, muss sich »nicht sorgen, durch die Bekanntwer23 Zum »transzendentalen« Charakter des Publizitätsprinzips vgl. Brandt 2007, S. 388– 390. 24 Diesen entscheidenden Aspekt hat J. Zens-Kaplan nicht erkannt. Nach der ersten Formulierung des Publizierbarkeitsgebotes gilt eben nicht, dass »jedes politische Vorhaben, das öffentlich gemacht werden kann, ohne dass seine Ausführung dadurch scheitert, […] mit der Gerechtigkeit überein [stimmt]« (Zens-Kaplan 1995, S. 225). Die Formel bestimmt vielmehr nur negativ, dass jede politische Handlung, deren Maxime nicht allgemein konsensfähig ist, notwendig ungerecht ist.
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dung seiner Maxime seine eigene Absicht zu vereiteln« (Frieden, KW VI, 246). Es braucht also nur eine unbezwingbare und gänzlich ohne Rechtsbewusstsein agierende Weltmacht aufzutreten (vgl. ebd., 248 f.), die es sich schlechterdings ›leisten kann‹, auch ihre ungerechten Handlungsabsichten öffentlich kund zu tun, und die Unzulänglichkeit der ersten Formulierung wird offenkundig. Um daher auch die positive »Bedingung« zu benennen, »unter der ihre Maximen [der Politik; O. L.] mit dem Recht der Völker übereinstimmen« (ebd., 249), schlägt Kant gegen Ende der Friedensschrift eine Neuformulierung, ein »transzendentales und bejahendes Prinzip des öffentlichen Rechts« vor. Es lautet: »Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen« (Frieden, KW VI, 250). Das politisch-rechtliche Kriterium der Publizierbarkeit wird hier also von Kant zu einer Publikationsnotwendigkeit aufgewertet. Erst wenn eine politische Handlungsabsicht publikationsbedürftig ist, ihre öffentlich zustimmungsfähige Mitteilbarkeit also die normative Bedingung der Möglichkeit ihrer Verwirklichung darstellt – erst dann ist gewährleistet, dass dieses Vorhaben auch mit den rechtlich-moralischen Prinzipien übereinstimmt 25 : Da der mit politischen Handlungen verfolgte »Zweck nur durch die Publizität, d. i. durch die Entfernung alles Mißtrauens gegen die Maximen [dieser Handlungen], erreichbar sein soll, so müssen diese auch mit dem Recht des Publikums in Eintracht stehen« (Frieden, KW VI, 250). Wenn die Politik durch ihr wirkliches öffentliches Handeln 26 das Misstrauen des Publikums beseitigen soll, dann kann die zweite Formel des Publizitätsprinzips kein bloßes Gedankenexperiment mehr sein 27 ; sie ist vielmehr als die moralisch gebotene Form faktisch angewandter Politik zu verstehen. Der Formel entspricht ein in heutiger Terminologie prozeduralistischer Gerechtigkeitsbegriff, der die Legitimität politisch-rechtlicher Maßnahmen durch die diskursive Methode ihrer Entstehung gewährleisten möchte. Dieses diskursive Verfahren der Bestimmung des Gerechten ist für Kant aber kein bloß empirisch-fakVgl. Schmitz 1990, S. 428. Was dem Urteil der Öffentlichkeit vorgelegt werden soll, sind die konkreten politischen Handlungsmaximen bzw. »[a]lle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen« (Frieden, KW VI, 245) – d. h. also echte politische Maßnahmen, die eine Machtwirkung erzeugen sollen. Vgl. dazu und zum Folgenden Castillo 1995, S. 213; Schattenmann 2006, S. 180–87. 27 Vgl. Brandt 2007, S. 392. 25 26
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tisches, sondern es bleibt an die regulativen Bedingungen des Vernunftrechts gebunden (s. o. S. 247–250). Für die Legitimität politischen Handelns entscheidend ist nicht der empirische Akt der Zustimmung oder Ablehnung der Weltbürger als solcher, sondern dessen Begründung: Die Politik ist dazu verpflichtet, aufkommende Einwände und Widerstände zu berücksichtigen, sofern sie eine »notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende, Gegenbearbeitung aller« (Frieden, KW VI, 245) – d. h. einen in moralischen Vernunftprinzipien fundierten Ausdruck allgemeiner Missbilligung – darstellen. Empirischer Konsens allein kann weder bei der Begründung noch bei der Begrenzung politischer Macht ein zuverlässiger Maßstab sein (s. o. S. 247 f., Anm. 29). Das im vereinigten Vertragswillen begründete apriorische Kriterium der allgemeinen Zustimmungsmöglichkeit verpflichtet die politischen Akteure dazu, ihr Handeln durch substanzielle Gründe zu legitimeren, die nicht vernünftigerweise zurückgewiesen werden können. Diese Gründe – sowohl für als auch gegen politische Maßnahmen – müssen nun gemäß dem Publizitätsprinzip öffentlich ausgewiesen werden. Eine dadurch in Aussicht gestellte, auf (welt)öffentlichem Vertrauen beruhende Politik, die ihre transparenten Ziele auch tatsächlich erreichen und die dazu zur Verfügung stehenden friedlichen Mittel konsequent nutzen will, würde aus eigener Dynamik einen im Kantischen Sinne rechtsförmigen, d. h. freiheitsgesetzlichen Charakter annehmen. Wie Kant selbst einräumt, sind seine Darlegungen zum ›transzendentalen‹ Prinzip der Publizität nicht mehr als ein Gedankenfragment. Er ist bekanntlich nicht dazu gekommen, die »weitere Ausführung und Erörterung dieses Prinzips« bei »eine[r] andere[n] Gelegenheit« wieder aufzunehmen (Frieden, KW VI, 251). In einem Brief, der vermutlich auf das Jahr 1801 zu datieren ist, bedauert der 77jährige Kant, dass es ihm angesichts seines fortgeschrittenen Alters wohl nicht mehr möglich sein werde, seine Überlegungen zur politischen Philosophie in der gebotenen Ausführlichkeit darzustellen und »ein System der Politik herauszugeben« 28 .
28 Vgl. Kants Briefwechsel mit Andreas Richter (Briefe 883 und 884 in AA XII, 330– 334; hier verw. Zitat ebd., 334).
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Register
Allison, Henry E. 191 f., 316 Arendt, Hannah 302, 316 Arnoldt, Emil 21, 23 f., 104, 316 Baron, Marcia 63, 75, 316 Bartuschat, Wolfgang 185–187, 251, 316 Baum, Manfred 83, 165, 183, 316 Beck, Lewis W. 47, 49, 51, 69, 72, 76, 85, 155, 191, 316 Becker, Wolfgang 18, 316 Bittner, Rüdiger 15 f., 20, 30, 35, 37, 48, 93, 155, 316 f. Böckenförde, Ernst-Wolfgang 199, 317 Böckerstette, Heinrich 210, 317 Bohman, James 302, 317 Brandt, Reinhard 18, 21, 30, 61, 69, 164, 180, 184, 190, 200, 211, 224, 238, 250, 254, 263, 270 f., 273–277, 287, 296, 300, 304, 306, 313 f., 317 f. Brinkmann, Walter 57, 72, 74, 83 f., 86, 92, 96, 99, 108, 110, 114 f., 134 f., 139, 145, 155, 157, 161, 318 Busch, Werner 164, 318 Cassirer, Ernst 67, 318 Cheneval, Francis 296, 318 Cohen, Hermann 43, 46, 318 Constant, Benjamin 118–120 Cramer, Konrad 22, 32, 39, 41 f., 45, 55, 71, 76 f., 100, 318 Crowe, Michael J. 76, 318 Dahlstrom, Daniel O. 207, 318 Deggau, Hans-Georg 197 f., 264, 268, 318 Dicke, Klaus 230, 318 Dietrichson, Paul 149, 160 f., 319 Dreier, Ralf 230, 319
Düsing, Klaus 61, 63, 65, 67, 69, 128 f., 319 Ebbinghaus, Julius 85, 120–122, 124, 130 f., 133, 135, 152 f., 158, 210 f., 217, 319 f. Eberle, Hans-Jürgen 184, 320 Ebert, Theodor 57, 320 Enderlein, Wolfgang 184, 320 Enskat, Rainer 82, 110, 157, 320 Firla, Monika 19, 33, 320 Forschner, Maximilian 20, 33, 81, 89, 97 f., 106, 121, 155 f., 225, 320 Freudiger, Jürg 73, 99 f., 128, 320 Friedrich, Rainer 180, 194, 208, 220 f., 223–225, 227, 233, 237 f., 240, 254, 276, 320 Geismann, Georg 43, 61, 63, 85, 119, 171, 187, 211, 236, 250, 283, 296, 320 f. Gerhardt, Volker 205, 235, 246, 249, 273, 282, 284, 296–298, 300, 304 f., 307, 309 f., 321 Gillespie, Norman 122 f., 158, 321 Gregor, Mary J. 33, 50, 82 f., 102–104, 106, 111, 140, 167–169, 171, 175, 179 f., 192, 214, 226, 229, 275 f., 321 Habermas, Jürgen 294 f., 297, 312, 321 f. Harrison, Jonathan 98, 107 f., 128, 161, 322 Hennigfeld, Jochem 243, 322 Henrich, Dieter 56, 63 f., 66, 322 Herb, Karlfriedrich 247, 322 Herman, Barbara 52, 92, 110, 115, 161, 322 A
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Register Hill, Thomas E. 161, 322 Hinske, Norbert 18, 98, 322 Hobbes, Thomas 237, 284 Hoerster, Norbert 91, 107, 109 f., 113 f., 117, 128, 133, 135, 159, 322 Höffe, Otfried 32, 40, 48, 57, 76 f., 80 f., 83, 89, 98–100, 103, 106, 119, 124, 126, 132 f., 152, 154 f., 172, 176, 178–181, 183, 185, 189 f., 193 f., 197, 210, 237, 248, 250 f., 266, 271, 282, 289–291, 293 f., 297, 303, 323 f. Horn, Christoph 57, 63, 75, 89, 92, 110 f., 128, 141, 143, 145 f., 148, 324 Justi, Johann H.G. von 290, 324 Kaehler, Klaus E. 180, 324 Kaufmann, Matthias 271, 274, 276, 278 f., 281, 324 Kaulbach, Friedrich 30, 141 f., 148, 164, 204, 211 f., 229 f., 324 Kemp, John 107–109, 324 Kersting, Wolfgang 61, 83, 85, 87, 89, 125, 128, 133–135, 170, 174 f., 182 f., 187, 190, 193, 197–199, 203 f., 209– 212, 214, 217 f., 220, 223–227, 233, 237, 240, 243 f., 246–248, 250, 252, 254 f., 263, 265 f., 268, 272, 280, 283, 288 f., 294, 297, 318, 325 Köhl, Harald 50, 156, 192, 325 Korsgaard, Christine 92, 110, 118, 123– 125, 128, 137, 141, 144 f., 152, 154, 161, 325 Kühl, Kristian 176, 183, 190, 195, 200, 209 f., 230, 232, 237, 240, 248, 251, 254, 260, 264 f., 268, 304, 307 f., 325 Laberge, Pierre 235, 325 Louden, Robert B. 16 f., 20, 76, 97, 103, 106, 325 Ludwig, Bernd 21 f., 171, 190, 197 f., 204, 211, 223 f., 238, 254, 264, 278, 289, 320, 325 f. Mellin, Georg S.A. 19, 326 Merle, Jean-Christophe 197, 200, 282, 326 Müller, Jörg P. 298, 326
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Nisters, Thomas 63, 89–92, 106, 110, 115, 133, 135, 155, 326 O’Neill, Onora S. 65, 74, 82, 85, 89, 94 f., 110, 115, 117, 150, 326 f. Oberer, Hariolf 65, 73, 176, 187, 190, 192, 202–204, 210, 251, 254, 276, 321, 326 f. Oertzen, Peter von 304, 327 Paton, Herbert J. 21, 45, 59, 63 f., 73 f., 80, 82, 85, 101 f., 104, 106, 113, 120–122, 130, 141, 148, 152, 154, 327 Patzig, Günther 72, 327 Pieper, Annemarie 18, 327 Pinzani, Alessandro 289, 292 f., 297, 327 Pogge, Thomas W. 85, 98–100, 106, 327 Rapic, Smail 51, 99, 108–110, 113, 118, 120, 125–127, 133, 135, 137, 139, 144 f., 151, 157 f., 160–162, 191, 204, 208, 216, 223, 225, 229, 231, 328 Rawls, John 63, 66, 78, 83, 110, 328 Reich, Klaus 84, 210, 328 Ricken, Friedo 32, 100, 132, 143, 230, 328 Ritter, Christian 164, 200, 328 Röd, Wolfgang 36 f., 40, 328 Ross, William D. 158 f., 217, 328 Rousseau, Jean-Jacques 201, 241, 247, 281, 322, 328 Saint-Pierre, Charles J. C. de 281 f. Saner, Hans 271, 328 Scarano, Nico 57, 63, 89, 92, 110, 128, 148, 324, 328 Schattenmann, Marc 212, 248, 314, 329 Schmidt, Carl Christian E. 19, 329 Schmitz, Heinz-Gerd 184, 271, 314, 329 Schnoor, Christian 82, 84 f., 87, 91, 96, 107, 112 f., 128, 133, 135, 150, 168, 175, 329 Scholz, Gertrud 47, 49, 54, 57 f., 61 f., 70, 83–85, 87, 117, 171, 188, 203–205, 208, 210, 212, 214, 329 Schöndorf, Harald 83, 112, 115, 126, 133, 329 Schönecker, Dieter 16, 18, 30, 41, 48, 61,
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Register 87, 104, 107, 110, 124, 128, 133, 135, 143, 156, 161, 186, 324, 329 Sherman, Nancy 76, 329 Siep, Ludwig 17, 39, 63, 75, 180, 329 Singer, Marcus G. 128, 329 Steigleder, Klaus 126, 142, 149, 151, 157, 184, 195, 198, 202, 204, 206, 217 f., 247, 277, 329 Steinberger, Peter J. 110, 329 Struck, Peter 264, 330 Timmons, Mark 92, 98, 110, 115, 161, 330 Tretter, Friedrich 210, 330 Tuschling, Burkhard 254, 264, 322, 330
Unruh, Peter 238, 263, 266, 268, 280, 330 Wieland, Wolfgang 307, 330 Wildt, Andreas 168, 183, 200, 330 Wimmer, Reiner 84, 86, 110, 128, 132 f., 136 f., 330 Wolff, Christian 37, 284 Wolff, Robert P. 73, 330 Wood, Allen W. 16, 18, 30, 33, 41, 48, 61, 75, 87, 103 f., 106 f., 110, 124, 127 f., 133, 135, 143, 154, 156, 161, 180, 186, 329–331 Zotta, Franco 182, 197 f., 200, 237, 260, 263–268, 280, 331
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