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German Pages 732 [769] Year 2004
Norbert Fischer (Hg.) Kants Metaphysik und Religionsphilosophie
KAN T- FO R S CH UN GE N – Band 15 –
F E L IX M EI N E R VERLAG HA M BU RG
N ORBERT FI S CH E R (Hg.)
Kants Metaphysik und Religionsphilosophie
F E L IX ME I NE R V ER LAG H AMB U RG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3918-1 ISBN eBook: 978-3-7873-3922-8
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Inhalt
Vorwort ....................................................................................................
XIII
Einleitung des Herausgebers. Die Fragen nach Metaphysik und Religion als Zentrum der kritischen Philosophie Kants ...........................
XV
besondere aspekte der metaphysik und religionsphilosophie kants Zur theoretischen Philosophie Friedrich-Wilhelm von Herrmann Die »Kritik der reinen Vernunft« als Transzendental-Metaphysik ........
1
1. Die Kritik der reinen Vernunft als Erkenntnistheorie oder als Metaphysik (1) 2. Die Kritik der reinen Vernunft als eine Grundlegung der Metaphysik qua System (2) | 3. Metaphysik als der Name für das System und die Kritik (4) 4. Die Kritik der reinen Vernunft als eine Metaphysik von der Metaphysik (7) 5. Transzendentalphilosophie als kritische Ontologie (10) | 6. Die Kritik der reinen Vernunft als das dritte Stadium im Gang der Geschichte der Metaphysik (14)
Paola-Ludovika Coriando Ich und Seele. Zu Kants »Paralogismen der reinen Vernunft« ..............
21
1. Die Paralogismen der reinen Vernunft und ihre Stellung innerhalb der transzendentalen Dialektik (21) | 2. Von der Seele zum formalen Ich. Kants Destruktion der psychologia rationalis (27) | 3. Vom formalen zum offenen Ich. Die Unsterblichkeit der Seele als Postulat und das Unverhoffte im Wesen des Menschen (36)
Wolfgang Ertl Schöpfung und Freiheit: ein kosmologischer Schlüssel zum Verständnis von Kants Kompatibilismus ................................................ 1. Vorüberlegungen (43) | 2. Das Konsequenzen-Argument für den Inkompatibilismus (46) | 3. Zwei Lesarten des Kantischen Kompatibilismus und ihre Probleme (50) | 4. Providentia universalis und Kompatibilismus (67)
43
VI
Inhalt
Robert Theis Zur Topik der Theologie im Projekt der Kantischen Vernunftkritik .......................................................................
77
1. Metaphysik unter dem Anspruch der Notwendigkeit des Fragens (78) | 2. Die Gewinnung der Perspektive des Unbedingten (82) | 3. Die dritte transzendentale Idee und das Ideal der reinen Vernunft (87) | 4. Die Vollendung des kritischen Geschäfts (96) | 5. Reflektierende Physikotheologie als Ergänzung der Naturforschung (99) | 6. Transzendentale Sinnstiftung und Gottesfrage (105)
Zur praktischen Philosophie Norbert Fischer Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft ..............................
111
1. Kants Bemerkungen zum Titel der Kritik der praktischen Vernunft (115) | 2. Die Differenz des Vernunftgebrauchs in den beiden ersten kritischen Hauptwerken (118) | 3. Das »einzige Factum der reinen Vernunft« als Ursprung der praktischen Metaphysik (120) | 4. Die »Autonomie der Vernunft« und die Gegebenheit des moralischen Gesetzes (124) | 5. Die Unmöglichkeit der Rückkehr zu einer Ontologie des Übersinnlichen (127)
Maximilian Forschner Freiheit als Schlußstein eines Systems der reinen Vernunft. Transzendentale und praktische Freiheit ................................................
131
1. Freiheit als Ausgangs- und Schlußpunkt der kritischen Philosophie (131) 2. Über die verschiedenen Bedeutungen von »Freiheit« (133) | 3. Freiheit als Spontaneität des Denkens (134) | 4. Transzendentale und praktische Freiheit (139) 5. Freiheit als Autonomie des Willens. Der Beweis transzendentaler Freiheit (152)
Friedo Ricken SJ Die Postulate der reinen praktischen Vernunft ...................................... 1. Postulate und reiner praktischer Vernunftglaube (163) | 2. Das Dasein Gottes (167) | 3. Die Unsterblichkeit der Seele (173) | 4. Reiner praktischer Vernunftglaube und theoretische Philosophie (175)
161
Inhalt
Emmanuel Levinas Le primat de la raison pure pratique / Das Primat der reinen praktischen Vernunft. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Jakub Sirovátka ................................................................................
VII
179
i. einleitung (179) | ii. le primat de la raison pure pratique / das primat der reinen praktischen vernunft (191) | 1. Rien que Raison / Nichts als Vernunft (191) | 2. La raison théorétique ou spéculative / Die theoretische oder spekulative Vernunft (192) | 3. La Raison pure pratique / Die reine praktische Vernunft (194) | 4. Le primat de la raison pure pratique / Das Primat der reinen praktischen Vernunft (197) | 5. Le primat de la Raison pure pratique et la Religion / Das Primat der reinen praktischen Vernunft und die Religion (200) | iii. anmerkungen zum text (203)
Zur Religionsphilosophie Bernd Dörflinger Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants .......................................................
207
1. Moral und Zwecke (207) | 2. Notwendige Verbindung von Tugend und Glück (209) | 3. Gott als Element der Idee des höchsten Guts (214) | 4. Moral und Glaube (217) | 5. Glaubensentscheidung (221)
Giovanni B. Sala SJ Das Reich Gottes auf Erden. Kants Lehre von der Kirche als »ethischem gemeinen Wesen« ................................................................
225
1. Zur Religionsphilosophie Kants (225) | 2. Kants Denkweg zum »Reich Gottes auf Erden« (231)
Costantino Esposito Kant: von der Ethik zur Religion (und zurück) ...................................... 1. Vernunft und Religion: vom Konflikt zur Befriedung. Zum systematischen Stellenwert von »Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre« (265) | 2. Kant im Durchgang durch die Schulmetaphysik und jenseits der Schulmetaphysik. Die kritische Aneignung der Transzendentaltheologie (270) | 3. Von der spekulativen Theologie zur Moraltheologie. Die notwendige Religion als Postulat der Moral (280) | 4. Der entscheidende Gegenbeweis: das Problem des Bösen (287)
265
VIII
Inhalt
übergreifende grundfragen der kritischen philosophie kants Aloysius Winter Die ›Endabsicht‹ der Metaphysik vor ›allen ihren Zurüstungen‹ ...........
293
1. Die Fragestellung (293) | 2. Die vorkritische Zeit (300) | 3. Die Kritik (312) 4. Folgerungen (329)
Clemens Schwaiger Denken des ›Übersinnlichen‹ bei Kant. Zu Herkunft und Verwendung einer Schlüsselkategorie seiner praktischen Metaphysik ........................
331
1. Einleitung: Zum Stand der Forschung (331) | 2. Übersinnliche Begriffe als Gegenstand der Metaphysik bei Johann August Eberhard (335) | 3. Die Suche nach Orientierung im Übersinnlichen angesichts der Desorientierung im Pantheismusstreit (338) | 4. Die kritische Selbstbeschränkung menschlicher Vernunft bezüglich übersinnlicher Gegenstände. Kants offene Kontroverse mit Eberhard (341)
Reiner Wimmer Homo noumenon: Kants praktisch-moralische Anthropologie ..............
347
1. Einleitung (347) | 2. Kants Konzeption einer praktisch-moralischen Anthropologie (349) | 3. Handlungsfreiheit (357) | 4. Willens- und Entscheidungsfreiheit (365) | 5. Das noumenale Reich der Zwecke oder das ethische Gemeinwesen (375) | 6. Schluß (389)
Joachim Kopper Die Bedeutung der Methodenlehren .......................................................
391
1. Einführung in das Problem (391) | 2. Zum Verhältnis von Elementarlehre und Methodenlehre in der Kritik der reinen Vernunft (391) | 3. Zu den Methodenlehren der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urtheilskraft (401)
Norbert Fischer Die Zeit als Problem in der Metaphysik Kants ....................................... 1. Das Zeitproblem in den höchsten Punkten der Transzendentalphilosophie (413) | 2. Zum Zeitbezug in Kants Frage: »Was kann ich wissen?« (416) | 3. Zum Zeitbezug in Kants Frage: »Was soll ich tun?« (420) | 4. Zum Zeitbezug in Kants Frage: »Was darf ich hoffen?« (424) | 5. Zum zeitlichen Sinn von Kants Beantwortung der Frage: »Was ist der Mensch?« (427)
409
Inhalt
IX
zum schicksal der metaphysik kants in der unmittelbaren nachfolgephilosophie Edith Düsing Gott als Horizont oder Grund des Ich? Von Kants praktischer Metaphysik zu Fichtes Metaphysik des Einen Seins ....................................................................
433
1. Einleitung (433) | 2. Kants positive Theologie der praktischen Vernunft im Horizont der negativen Theologie (438) | 3. Kants Postulate im Spiegel von Fichtes Denkweg (464)
Robert Jan Berg Das Verhältnis von Glauben und Wissen bei Kant und Hegel ...............
493
1. Zwei systematische Ausgangsfragen: Religion – Wissenschaft – Philosophie (496) | 2. Kant: Der Weg zum Glauben durch das Wissen (498) | 3. Hegel: Die Aufhebung des Glaubens in Wissen (506)
Rudolf Langthaler »Man wird von der Philosophie den wirklichen Gott fordern, nicht die bloße Idee Gottes«. Zur Kritik des späten Schelling an Kants Religionsphilosophie ................................................................
517
1. Vorbemerkung: Zu leitenden Motiven der Kant-Kritik beim späten Schelling (517) | 2. Kants ›Aufhebung‹ der Wissensansprüche im Vorblick auf Schellings Kritik an der Kantischen Religionsphilosophie (521) | 3. Zu Schellings Kritik an Kants Postulatenlehre (529) | 4. Zu Schellings Kritik an dem von Kant geltend gemachten »Bedürfnis der fragenden Vernunft« (545) | 5. Schellings Verkennung wichtiger religionsphilosophischer Motive bei Kant (554)
Margit Ruffing Muß ich wissen wollen? – Schopenhauers Kant-Kritik ......................... 1. Zur Rezeptionsgeschichte der Kant-Kritik Schopenhauers (561) | 2. Schopenhauers Kant-Kritik in systematischer Hinsicht (567) | 3. Der Mensch als mitleidiges Vernunftwesen oder Vernunft als Erscheinung des Willens (573)
561
X
Inhalt
zur wirkung kants im nichtdeutschen sprachraum Jean Greisch »Freiheit im Lichte der Hoffnung«. Zu Paul Ricœurs Kantdeutung ................................................................
583
1. Die Reflexivität des Bewußtseins und die Selbstverständigung als Grundaufgabe der Philosophie (Jean Nabert) (584) | 2. Kants Frage: »Was ist der Mensch?« und die Aufgaben einer »Metaphysik des Daseins« (Martin Heidegger) (588) | 3. Endlichkeit oder Fehlbarkeit? Ricœurs Antwort auf Kants Frage: »Was ist der Mensch?« (592) | 4. Freiheit im Horizont der Hoffnung: ein neuer Zugang zu Kants Religionsphilosophie (605)
Mario Caimi Kants Metaphysik und Religionsphilosophie in spanischen Arbeiten ............................................................................
609
1. Einleitung (609) | 2. Das zu betrachtende Corpus (612) | 3. Darstellung einzelner Werke (615) | 4. Schlußbemerkungen (622) | 5. Übersicht über die Literatur zur Kantforschung in romanischen Ländern (Schwerpunkt auf Arbeiten in spanischer Sprache) (625)
Peter Schulz Gibt es eine kopernikanische Wende im Begriff des ›summum bonum‹? Zur Wirkung von Kants praktischer Metaphysik im angelsächsischen Raum ..............................
631
1. Einführung (631) | 2. Zum Begriff des ›summum bonum‹ bei Kant (635) 3. Kant und die Aristotelische eu2daimoni1a (638) | 4. Selbstliebe und Egoismus (641) 5. Authentische und nichtauthentische Selbstbezogenheit (647)
Jakub Sirovátka Slavica sunt, non leguntur. Kant est, non legitur. Zur Wirkung von Kants Metaphysik und Religionsphilosophie in den slawischen Ländern ...................................................................... 1. Einführung (651) | 2. Zur Rezeption Kants in den slawischen Ländern (653) 3. Wladimir Solowjow als exemplarisches Beispiel einer ambivalenten Rezeption der Metaphysik und Religionsphilosophie Kants (656)
651
Inhalt
Wolfgang Erb Kritische Religionsphilosophie und absolutes Nichts – Kant und die Kyo¯ to-Schule .....................................................................
XI
663
1. Kant, der Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden (663) | 2. Überwindung des moralischen Gottes (671) | 3. Intermezzo giapponese (678) | 4. Vergöttlichung des Nichts (683) | 5. Gott-Denken angesichts Nietzsches Kritik am ›Monotono-Theismus‹ (689)
Siglenverzeichnis .....................................................................................
695
Literaturverzeichnis ................................................................................
697
Personenregister ......................................................................................
727
Vorwort
Metaphysik und Religionsphilosophie sind derzeit nicht Moden des Zeitgeistes. Unter diesen Titeln kommen aber die Fragen zur Sprache, die das Denken früherer Jahrhunderte und Jahrtausende initiiert und befeuert haben. Gelehrte auf dem Gebiet der Philosophie sind heute einer Öffentlichkeit ausgesetzt, die metaphysischem Denken den Atem zu rauben droht. Sofern sie sich mit minutiöser Erforschung überlieferter Texte bescheiden oder auf die Lehre einer Lebenskunst epikureischen Zuschnitts ausweichen, geben sie sich den Einwänden geschlagen, die zum revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts geführt haben. Seit dieser Zeit ist »die Kontinuität der abendländischen Denktradition nur noch in gebrochener Weise wirksam«. Gadamer, der so gesprochen hat, erklärt jedoch, daß »im Verstehen der Texte« der »großen Denker Wahrheit erkannt wird, die auf anderem Wege nicht erreichbar wäre« (vgl. Wahrheit und Methode, XXVIII und XXVI). Einer der großen Denker, Immanuel Kant, dessen 200. Todestag am 12. Februar 2004 zu begehen ist, mag in der erwähnten Situation ein Glücksfall sein. Seine Philosophie, die Nüchternheit des Urteils mit der Frage nach dem Unbedingten vereint, läßt sich nicht mit Recht als Träumerei denunzieren. Laut Kant hat die Natur selbst »unsere Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht«, dem Weg zu einer wissenschaftlichen Metaphysik »als einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten nachzuspüren« (KrV B XV). Und er ist überzeugt, die Spur dieses Wegs mit der kritischen Philosophie auch gefunden zu haben. Aufbauend auf den Fund konnte er den Entschluß fassen, den Weg bis zu einer philosophischen Religionslehre fortzuführen. Die Arbeiten am vorliegenden Buch begannen mit einem Symposion, das in Kooperation der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit der Akademie des Bistums Mainz stattfand (8. – 10. März 2002). Dank gebührt vor allem den Autoren, die das Werk mit Leben erfüllt haben. Für tatkräftigen Beistand sei dem Direktor der Akademie des Bistums Mainz gedankt, Herrn PD Dr. Peter Reifenberg, und dem Herrn Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, der das Vorhaben wohlwollend begleitet hat. Herzlicher Dank gilt der Maximilian Bickhoff-Universitätsstiftung für die großzügige Förderung
XIV
Vorwort
des Symposions und der Publikation; auch der Universitätsgesellschaft der Katholischen Universität und der Diözese Eichstätt ist zu danken. Für besonderes Engagement, für Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt bin ich den Mitarbeitern am Eichstätter Lehrstuhl zu Dank verpflichtet, zunächst meinem Assistenten, Herrn Jakub Sirovátka, und meiner Sekretärin, Frau Anita Wittmann, sodann den studentischen Hilfskräften, Frau Theresia Maier und den Herren Marcel Frölich und Michael Jäger. Ein herzliches Wort des Dankes gilt schließlich dem Felix Meiner Verlag für die angenehme Zusammenarbeit. Kant-Zitate sind nach Text und Orthographie der Akademie-Ausgabe entnommen. Fundstellen sind für die drei Kritiken nur nach der Originalpaginierung nachgewiesen, weil diese in die Akademie-Ausgabe aufgenommen ist. Für andere Werke Kants sind außer der Originalpaginierung auch Bandnummer und Seitenzahl der Akademie-Ausgabe genannt. So können Benutzer der Akademie-Ausgabe wie anderer Ausgaben ohne große Mühe zitierte Stellen nachschlagen. Zu beachten ist das Siglenverzeichnis zu Kant im Anhang des Bandes. Kürzere Zitate (teils mit kleinen Änderungen des Lautstandes) sind in einfache Anführungszeichen gesetzt. Das Vorwort sei abgeschlossen mit dem Hinweis auf ein anderes Gedenken zum 12. Februar. Nikolaus von Kues hat die Niederschrift seines Werkes De docta ignorantia mit einer Epistola auctoris beendet. Deren Schlußsatz lautet: »Complevi in Cusa 1440, XII. Februarii.« Im Hauptgedanken der Epistola sagt Cusanus, er sei dazu geführt worden, das Unbegreifliche auf nichtbegreifende Weise in belehrtem Nichtwissen zu erfassen: nämlich durch das Übersteigen der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten, die der menschlichen Erkenntnis zugänglich sind (»ad hoc ductus sum, ut incomprehensibilia incomprehensibiliter amplecterer in docta ignorantia per transcensum veritatum incorruptibilium humaniter scibilium«). Zum 12. Februar 2004
Norbert Fischer
Einleitung des Herausgebers Die Fragen nach Metaphysik und Religion als Zentrum der kritischen Philosophie Kants
1. Keck hat Friedrich Schlegel einst gesagt (Athenäums-Fragment [151]): »Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte; vorzüglich sich selbst.« Einer der Alten, dessen Schriften heute noch viele studieren, die sich mit philosophischen Fragen befassen und sich im Denken zu orientieren versuchen, ist Kant, dessen 200. Todestag am 12. Februar 2004 Anlaß der vorliegenden Publikation ist. Wenn Interpreten, die bei den Alten und so auch bei Kant Orientierung suchen, einen Weg zur Wahrheit über sich selbst fänden, wäre Wesentliches getan. Daß seit Beginn der Wirksamkeit von Kants Schriften sehr Unterschiedliches aus ihnen herausgelesen wurde, ist nicht verwunderlich und gehört zum Geschäft philosophischer Lektüre.1 Die Unterschiedlichkeit der Interpretationen gründet einerseits im Motivreichtum der Texte Kants, der divergierenden Auslegungen Nahrung gibt, andererseits in der jeweiligen Zugangsweise der Interpreten, deren eigene Gedanken zu philosophischen Fragen in die Interpretation einfließen und einfließen müssen, wenn Interpretation überhaupt stattfinden soll.2 Vgl. Delekat: Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften. Vf. will Kant nicht »zum Ahnherrn heutiger philosophischer Gedankenrichtungen […] machen, sei es des Idealismus oder des Materialismus, der Existenzphilosophie oder modernen Naturphilosophie«, obwohl sich jede »dieser Kantauffassungen […] mit einem gewissen Recht auf ihn berufen« könne (16). Die insinuierte Äquidistanz zu so unterschiedlichen philosophischen Positionen gibt jedoch ein schiefes Bild. Positionen, die Kant ausdrücklich zurückweist – z. B. »Materialism, Fatalism, Atheism« (KrV B XXXIV) – haben gewiß das geringste Recht, sich auf ihn zu berufen. 2 Dazu Heidegger: Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹ (GA 5,213): »Jede Erläuterung muß freilich die Sache nicht nur dem Text entnehmen, sie muß auch, ohne darauf zu pochen, unvermerkt Eigenes aus ihrer Sache dazu geben. Diese Beigabe ist dasjenige, was der Laie […] stets als Hineindeuten empfindet und […] als Willkür bemängelt. Eine rechte Erläuterung versteht jedoch den Text nie besser als dessen Verfasser ihn verstand, wohl aber anders. Allein, dieses Andere muß so sein, daß es das Selbe trifft, dem der erläuterte Text nachdenkt.« 1
XVI
Norbert Fischer
Kant hat auf viele seiner Leser zunächst den Eindruck eines Zerstörers der Metaphysik und des kirchlich verfaßten Glaubens an die geschichtlich ergangene, biblische Offenbarung gemacht. Gegen das Negative, gegen die destruktive Kraft der kritischen Philosophie, die der Metaphysik den Atem zu rauben scheint, mühte sich die Kant folgende Generation philosophischer Autoren, die Kritik dialektisch aufzuheben und sie in neuen metaphysischen Entwürfen zu überwinden. Erst als die absolute Metaphysik der idealistischen Systeme an Anhängerschaft verloren hatte, kam es zu einer Rückbesinnung auf Kants kritische Philosophie. Im Neukantianismus des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts trat die Auslegung Kants als Erkenntnistheoretikers in den Vordergrund, mit der man den um sich greifenden Materialismus abwehren zu können hoffte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese Kantdeutung aber als Engführung erkannt und zunehmend durch metaphysische Kant-Interpretationen ersetzt. Bei den Forschern, die sich der metaphysischen Kant-Interpretation widmen, haben sich zwei Hauptrichtungen herausgebildet: die einen versuchen, den systematischen Ertrag der kritischen Philosophie für die Metaphysik zu vergegenwärtigen, die anderen weisen in historischer Methodik nach, wie Kants Philosophie trotz der MetaphysikKritik doch von metaphysischen Implikaten bestimmt geblieben ist. Heute gibt es keine klar vorherrschende Tendenz der Kantforschung, sondern ein fast unüberschaubares Spektrum von Ansätzen, das von historischphilologischen Arbeiten über sehr unterschiedliche immanente Auslegungen und Versuche zu kritischer Auseinandersetzung bis zu kaltschnäuziger Indienstnahme Kants für eigene Zwecke und Forschungsabsichten reicht. Auch solche Arbeiten sind nicht von vornherein verfehlt, sofern auch sie die Sache der Philosophie befördern können. Zum Beispiel hat ein Autor wie Martin Heidegger die Gewaltsamkeit seiner Kant-Interpretation explizit eingestanden.3 Rechtfertigung kann solcher Umgang mit Texten nur aus dem Ertrag auf dem Gebiet des Denkens erlangen. Kant selbst hatte bekanntlich keine Skrupel, im Blick auf Platon zu sagen, es sei nichts Ungewöhnliches, einen Autor »sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand« (KrV B 370).4 Zur Erläuterung seines hermeneutischen Ansatzes ist hinzuzufügen, daß er Vgl. Kant und das Problem der Metaphysik: Vorwort zu ²1950 (GA 3, XVII): »Unablässig stößt man sich an der Gewaltsamkeit meiner Auslegungen. Der Vorwurf des Gewaltsamen kann an dieser Schrift gut belegt werden.« 4 Zum Echo vgl. Schleiermachers Replik (Einleitung, 7) und Heideggers oben bereits zitierte These (GA 5,213). 3
Einleitung
XVII
sich zu den Denkern zählt, »die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemüht sind«, nicht zu den Gelehrten, »denen die Geschichte der Philosophie (der alten, sowohl als neuen) selbst ihre Philosophie ist« (Prol A 3 = AA 4,255). Wer gewaltsam mit alten Texten verfährt (auch indem er zentrale Themen wortlos übergeht), müßte folglich dem Anspruch gerecht werden, nicht nur Gelehrter, sondern Denker zu sein. Derzeit besteht nicht die Gefahr einer Wiederholung der von Schlegel spöttisch kommentierten und auch gar nicht wünschenswerten Situation, daß »jede Ostermesse einen neuen Schwarm junger Metaphysiker ans Licht« brächte (Fichte-Rezension, 64). Eher ist das Gegenteil der Fall: der Kant, der heutzutage öffentlich als unbestrittene Autorität anerkannt wird, erscheint vielfach gängigen Denkmoden angepaßt, zu denen Metaphysik und Religionsphilosophie nicht gehören. Der Einfluß der eigenen geschichtlichen und denkerischen Situation von Interpreten auf ihr Verständnis von Gedanken aus anderen Kontexten ist also nicht ungewöhnlich und sogar unvermeidlich, wenn es um echte, denkerische Aneignung geht, nicht um museale Präsentation. Die Belegbarkeit der Auslegung in kohärenter Interpretation von Texten und die Erschließungskraft für das Verständnis oder für die Problematisierung von Wirklichkeitsfeldern und Handlungsregeln entscheiden darüber, ob und inwieweit eine Auslegung sinnvoll und gerechtfertigt ist. Interpretation bleibt eine Gratwanderung, die in sklavischem Nachbeten ebenso wie in gewaltsamer Aneignung ihr Ziel verfehlt, das darin besteht, die wesentlichen Aufgaben des Denkens zu vergegenwärtigen, damit sich zeigt, was ein Autor sagt und was von ihm zu lernen bleibt.5 Die im Blick auf Kant leitende Grundeinsicht lautet, daß dessen kritische Philosophie in ihrem Kern selbst metaphysisches Fragen vollzieht. Reduktive Interpretationen erliegen dem Mißverständnis, daß nicht bedenkenswert sei, was nicht objektiv erkennbar ist. Das Wissen um die Grenzen des Gebrauchs unserer Vernunft hat Kant erlangt, indem er die Frage nach der Erkennbarkeit des Unbedingten Vgl. Fulda / Stolzenberg (Hrsg.): Architektonik und System in der Philosophie Kants. Nebenbei kommen dort auch Fragen der Metaphysik zur Sprache, vor allem im zweiten Abschnitt (171–306: Das System der Transzendentalphilosophie und sein Kontext); vgl. die Beiträge von Seebohm, Vossenkuhl, Gerhardt, Siegmann, Cramer und Wood. Kants philosophische Religionslehre spielt kaum eine Rolle; der Artikel von Förster: Das All der Wesen (106 –127) scheint eine Ausnahme zu bilden; Förster jedoch repristiniert nur seine einseitigen und verfehlten Versuche, aus Kants Opus postumum eine Zersetzung von dessen Gottesfrage herauszulesen. 5
XVIII
Norbert Fischer
stellt und die Gründe des Scheiterns dogmatischer Antworten erforscht. Wem die Suche nach Unbedingtem keine Aufgabe ist, dem fehlt der Schlüssel zum Eintritt in das Gebäude der kritischen Philosophie. Die verbreitete Furcht, Fragen der Metaphysik und der Religionsphilosophie ernsthaft zu erörtern, kann sich Kants nicht als eines willigen Kronzeugen bedienen. Die Autoren der Beiträge zu besonderen Aspekten der Metaphysik und Religionsphilosophie Kants und zu übergreifenden Grundfragen der kritischen Philosophie Kants wenden sich aus unterschiedlichen Horizonten in weitgehend immanenter Interpretation den Hauptthemen von Kants Metaphysik und Religionsphilosophie zu. Vollständigkeit war nicht intendiert und wäre nicht erreichbar gewesen. Die kritische Philosophie sollte in klarem Textbezug als Metaphysik und Religionsphilosophie vergegenwärtigt werden. Kant hat die Fragen der Metaphysik, der Moral und der Religion zwar in scholastischer Sprache, aber nicht herzlos der Kritik unterzogen. Jean Pauls Wort scheint heute noch einige »lesende oder gelesene Magister« zu treffen, die »als Baugefangene beim Wasserbau und der Grubenzimmerung der kritischen Philosophie in Tagelohn genommen worden« und »das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre.«6 Wenn sie wirklich Sinn für Kants zentrale Fragen hätten, könnten sie sich mit seiner Hilfe noch heute »in Furcht« setzen lassen, so wie Jean Paul seine Leser mit der Rede des toten Christus in Furcht setzen wollte.7 Kant prüft die Möglichkeit und die Grenzen der theoretischen Erkenntnis kalten Herzens, »wenn es bloß um Beurtheilung zu thun ist«, weiß aber, daß die Situation sich völlig ändert, »wenn von Entschließungen die Rede ist« (KrV B 615). Sofern er die Frage, was ich wissen kann, mit den Fragen verknüpft sieht, was ich tun soll und was ich hoffen darf, geht es ihm um das Sein des Menschen, auf das sich die drei Fragen beziehen, in denen sich alles »Interesse meiner Vernunft (das speculative sowohl als das praktische) vereinigt« (KrV B 833; vgl. Log A 25 = AA 9,25). Damit liegt der oft vernachlässigte existenzielle Hintergrund seiner Philosophie auf der Hand. Eindrucksvolle Vgl. Jean Paul: Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei. In: Sämtliche Werke 2,271. 7 Ebd.; vgl. Heidegger: Kants These über das Sein (in: Wegmarken; GA 9,455): »Nun wird aber und bleibt für Kant die Frage, ob und in welchen Grenzen der Satz ›Gott ist‹ als absolute Position möglich sei, der geheime Stachel, der alles Denken der ›Kritik der reinen Vernunft‹ antreibt und die nachfolgenden Hauptwerke bewegt.« 6
Einleitung
XIX
Worte könnten ihn weiter erhellen. Zum Beispiel sagt Kant in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft im Blick auf unsere Kraft zur Beurteilung der Wahrheit, von der wir uns Glück erhoffen (B 853): »Wenn man sich in Gedanken vorstellt, man solle worauf das Glück des ganzen Lebens verwetten, so schwindet unser triumphirendes Urtheil gar sehr, wir werden überaus schüchtern und entdecken so allererst, daß unser Glaube so weit nicht zulange.« Im Bewußtsein der Grenzen unseres Wissens bleiben wir Menschen auf eine Wirklichkeit bezogen, auf die wir nur »mit Furcht und Zittern« hoffen dürfen (RGV B 87 = AA 6,68).8 Die Wirklichkeit, auf die laut Kant schon innerhalb der theoretischen Philosophie zu hoffen ist, drückt einerseits sein in Ichform gesprochener Satz aus, »daß ich festiglich einen Gott glaube« (KrV B 854), andererseits seine Annahme, daß »genugsamer Grund zu einem doctrinalen Glauben des künftigen Lebens der menschlichen Seele angetroffen« werde (KrV B 855). Die Prüfung des Erkenntnisvermögens beginnt mit den metaphysischen Erörterungen zu Raum und Zeit; es folgen die metaphysische und die transzendentale Deduktion der Kategorien samt der Bestimmung der Möglichkeit und der Grenzen objektiver Erkenntnis, schließlich die Kritik der dogmatischen Metaphysik. Laut der Kritik fehlt den Ideen der reinen Vernunft die objektive Bedeutung, doch haben sie regulative und heuristische Funktion mit problematischer Geltung. Trotz des negativen Resultats sucht Kant weiter den Weg der Wissenschaft für die Metaphysik. Bei dieser Suche geht ihm das Licht auf, daß die Kritik die Lösung der metaphysischen Aufgabe ermöglicht, Unbedingtes widerspruchsfrei zu denken. Erst die Kritik läßt auch »das besondere Schicksal« der Vernunft verstehen, »daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie Die existenzielle Relevanz der Kritik, die als Weg eines ruhelos suchenden Herzens begriffen werden kann (vgl. Augustinus: Confessiones 1,1: »inquietum est cor nostrum«), tritt in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu Tage (B XV): »Woher hat denn die Natur unsere Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht, ihm als einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten nachzuspüren? Noch mehr, wie wenig haben wir Ursache, Vertrauen in unsere Vernunft zu setzen, wenn sie uns in einem der wichtigsten Stücke unserer Wißbegierde nicht bloß verläßt, sondern durch Vorspiegelungen hinhält und am Ende betrügt!« Stellen, in denen die existenzielle Bedeutung der Philosophie Kants hervortritt, sind zahlreich; vgl. z. B. KrV B 650; KpV A 288 ff.; KU B 427– 429. 8
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übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft« (KrV A VII). Die Vernunft lebt als besonderes Vermögen vom Bezug zu Unbedingtem, das sich nicht als objektiv Erkennbares denken läßt (KrV B XXIV), nicht als Produkt, das sie »selbst nach ihrem Entwurfe« hervorbringen könnte (KrV B XIII). Kant mußte also »das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX). Im Stil eines inneren Monologs sagt er (KrV B XIX f.): »Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des nothwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der speculativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten benehme«. Die Kant-Rezeption hat, wie schon erwähnt, einige unterscheidbare Epochen durchlaufen. Zuerst galt Kant als Zerstörer der dogmatischen Metaphysik oder als Vorläufer der absoluten Metaphysik des Deutschen Idealismus, die sich im Gegensatz zum negativen Charakter der Kritik als positive Philosophie präsentierte. Nach dem Zusammenbruch der absoluten Metaphysik wurde die Kritik von den Neukantianern gegen Materialismus und Positivismus zur Rettung eines Minimalbestandes an Geistigem herangezogen; zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es endlich zur vielstimmigen, aber disparaten Wendung zur Metaphysik in der Kant-Interpretation.9 Heute gibt es breite öffentliche Hochschätzung der Philosophie Kants, aber wenig Einmütigkeit in ihrer Deutung. Die Themen und Intentionen seines Denkens, die in die Metaphysik gehören, werden oft vernachlässigt und zuweilen gewaltsam zuZum Beispiel Wundt: Kant als Metaphysiker; Heimsoeth: Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus (beide Arbeiten 1924 zum 200. Geburtstag Kants). Einen Überblick bieten einige Aufsätze von Funke, z.B.: Der Weg zur ontologischen Kantinterpretation; Die Diskussion um die metaphysische Kantinterpretation. 10 Symptomatisch ist Wenzel: Anthroponomie. Kants Archäologie der Autonomie; Vf. zitiert, daß Moral keine Religion voraussetzt, übergeht aber, daß sie unausbleiblich zur Religion führt (1; vgl. 8 f., 29 f.). In anderer Intention, aber eher gegen Interpreten wie Wenzel als gegen Kant (es geht ja nicht um Selbstgesetzgebung des Menschen, sondern der Vernunft!) erklärt Sala im vorliegenden Buch (S. 235): »In der Tat ist die Spannung unlösbar, solange die Autonomie des Menschen gilt. Warum sollte Gott die der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit verwirklichen, wenn die Verbindlichkeit des moralischen Imperativs nicht von ihm abhängt? Wenn der Mensch sich völlig autonom ein Gesetz gibt, so soll er auch dafür sorgen, daß er auf seine Rechnung kommt.« Sala will in seinem Kampf gegen Kant den Offenbarungsglauben retten. Wenzel will mit seiner gleichsinnigen Umdeutung der ›Autonomie‹ die Fragen der Religion ganz ausschalten: offenbar eine seltsame und schlechte Art von ›coincidentia oppositorum‹. 9
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rückgedrängt. Manche der innersten Intentionen Kants werden sogar in die Gegenrichtung verdreht, zum Beispiel in der Deutung von Kants AutonomieGedanken als Anthroponomie.10 Denn was Kant Autonomie nennt, tritt als unbedingte Verpflichtung auf. Dem empirischen Subjekt, das sich in konkreten Situationen zu entscheiden hat, begegnet sie faktisch wie Fremdbestimmung. Das verdeutlicht die Tatsache, daß das Bewußtsein des moralischen Gesetzes die Eigenliebe des Subjekts einschränkt und seinen Eigendünkel sogar niederschlägt (KpV A 131). Was heute öffentlich Autonomie genannt wird, hätte Kant wohl eher als Heteronomie bezeichnet. Vor diesem Hintergrund ließen sich übrigens terminologische Differenzen zwischen Kant und Levinas überwinden.11 Nachdem die Reihe der Beiträge beendet ist, die Kants Weg der Transformation und kritischen Erneuerung der Metaphysik beleuchten, folgen Beiträge, die sich der Religionsphilosophie Kants zuwenden. Die geschichtliche Offenbarungsreligion scheint in der Gefahr zu stehen, in Kants Vernunftreligion zu einem belanglosen adiaphoron zu werden. Immerhin könnte Kants philosophische Religionslehre für Theologen Ansporn sein, ihre besondere Aufgabe zu übernehmen und nach dem Sinn von Geschichtlichem zu fragen, sofern er nicht in Kontingenz und Relativität untergeht.12 Wenn sich die Geschichte als Ort zeigte, an dem Unbedingtes im Bedingten erscheinen kann, hätte sie selbst mit dem Unbedingten zu tun. Dann wäre zu fragen, wie die ›eine göttliche Abkunft verkündigende Anlage‹ des Menschen (RGV B 59 = AA 6,50) denkbar ist, wie das Bewußtsein des unbedingt geltenden moralischen Gesetzes in kontingenten Situationen auftreten kann, wie eine Erscheinung von Unbedingtem zu denken wäre, die im Offenbarungsglauben ja verkündigt wird. Von Kant zugleich unterstützt und herausgefordert könnten Theologen das Ihrige tun, nachdem er das Seinige getan hat, als er seinen Versuch vorlegte, die Wahrheit der Religion »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« zu denken. In einem Hinweis vom Beginn der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Religionsschrift erklärt Kant (RGV B XXI f. = AA 6,12): »Da Offenbarung Chalier: Pour une morale au-delà du savoir. Kant et Levinas, bes. 73–101 (vgl. dazu die Rezension von Fischer); Fischer / Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, 214 –230. 12 Die sich stellende Aufgabe bezeichnet deutlich der Haupttitel von Kasper: Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie in der Spätphilosophie Schellings. Vgl. den Beitrag von Rudolf Langthaler im vorliegenden Buch. 11
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doch auch reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische der ersteren, so werde ich jene als eine weitere Sphäre des Glaubens, welche die letztere als eine engere in sich beschließt, (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als concentrische Kreise) betrachten können, innerhalb deren letzterem der Philosoph sich als reiner Vernunftlehrer (aus bloßen Principien a priori) halten, hiebei also von aller Erfahrung abstrahiren muß.« Im Bild zweier konzentrischer Kreise, deren inneren die philosophische Religionslehre ausfüllt, ist der Theologie eines historischen Offenbarungsglaubens Platz gelassen, der von dessen Theologen jedoch ausgefüllt werden muß, wenn er Überzeugungskraft gewinnen soll. Kant hat – auf Grund seiner Erfahrung mit der Zensur gewiß mißmutig – sogar dem Wort von der Philosophie als ancilla theologiae zugestimmt (SF A 26 = AA 7,28): »Auch kann man allenfalls der theologischen Facultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräumen (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt), wenn man sie nur nicht verjagt, oder ihr den Mund zubindet«. Das Verhältnis von Philosophie und Religion ist eine alte Frage, die schon Kirchenväter bewegt hat. In einer These, die sich gut mit Kants Bild der konzentrischen Kreise verbinden läßt, hat Augustinus es für notwendig gehalten, daß Philosophie und Religion nicht voneinander verschieden seien.13 Die Nichtandersheit von Philosophie und Religion deutet auch er als nur partielle Identität. Nach der manichäischen Phase hat er sich zunächst einer schon christlich eingefärbten Form des Neuplatonismus zugewandt, einer ungeschichtlichen Weisheitslehre, die Erlösung versprach. Wie er berichtet, hat ihn die geschichtliche Offenbarung des biblischen Glaubens lange Zeit wenig beeindruckt (Confessiones 10,6). Erst später hat er gefunden, was ihn zum christlichen Theologen werden ließ. Was Augustinus später gefunden hat, war eine weitere Sphäre, deren Inhalte im Lauf seines Denkwegs größte Tragweite für ihn erlangt haben, aber in der engeren nicht enthalten waren. Die philosophisch faßbaren Einsichten sind für Augustinus dennoch VorDe vera religione 8: »sic enim creditur et docetur, quod est humanae salutis caput, non aliam esse philosophiam, id est sapientiae studium, et aliam religionem«; vgl. 72: »noli foras ire, in te ipsum redi. in interiore homine habitat veritas. et si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et te ipsum.« Der Weg beginnt außen, führt nach innen und weist auf ein Innerstes. Er könnte als Weg von der Physik über die Philosophie zur Theologie gedacht werden. 13
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stufen geblieben, deren Wahrheit er später nicht bestritten hat. Vielmehr betont er, schon bei den Philosophen Wahrheit gefunden zu haben, in den Heiligen Schriften aber eine weitergehende Wahrheit, von der er in den philosophischen Texten nicht gelesen habe: »ibi legi […] non ibi legi«.14 Erst die geschichtlich vorgelebte Wahrheit, die Augustinus in der biblischen Botschaft im Wort und im Leben Jesu Christi fand, habe ihn auf den Weg des Strebens nach Gerechtigkeit und Heiligkeit geführt: »et hoc mihi verbum tuum parum erat si loquendo praeciperet, nisi et faciendo praeiret. et ego id ago factis et dictis«.15 Auf den Weg des Strebens nach selbstloser Güte, nach Tugend und Heiligkeit zu gelangen, ist das, worauf es auch nach Kants Einsicht unbedingt für jeden Einzelnen ankommt. Wo es um den Sinn des Lebens geht, geht es um Leben und Tod. Obwohl das moralische Gesetz unbedingt gebietet, wird auch ein Mensch, der den Anspruch des Gesetzes anerkennt, »vielleicht sich nicht getrauen zu versichern«, daß er ihm entsprechen werde (KpV A 54). Das Verhältnis des Unbedingten zur Geschichte kann insofern als Thema gelten, über das christliche Theologen gründlich nachzudenken haben. 2. Nach diesen knappen Hinweisen, die das systematische und geschichtliche Motiv der hier verfolgten Aufgabe umreißen sollten, seien einige Hinweise zur Konzeption des Gedenkbandes angefügt. Im Anschluß an ein Wort Kants legt friedrich wilhelm von herrmann den Grundstein zu allen weiteren Untersuchungen, indem er die Kritik der reinen Vernunft als metaphysische Selbstkritik der Metaphysik begreift, als die »Metaphysik von
Vgl. Confessiones 7,13–15; vgl. Kants ähnliche Bemerkung zum Titel der Religionsschrift (AA 23,94). Zur Möglichkeit, das Denken Augustins und Kants in paralleler Ausrichtung zu sehen, vgl. Delekat: Immanuel Kant, 21 ff. und passim. 15 Confessiones 10,6; vgl. 10,68. Weiter KU B 139: »Selbst in der Religion […] wird doch nie durch allgemeine Vorschriften […] so viel ausgerichtet werden, als durch ein Beispiel der Tugend oder Heiligkeit, welches, in der Geschichte aufgestellt, die Autonomie der Tugend aus der eigenen und ursprünglichen Idee der Sittlichkeit (a priori) nicht entbehrlich macht«. Vgl. GMS BA 29 = AA 4,408: zum »Heilige[n] des Evangelii«. Dagegen Rickert: Die Heidelberger Tradition, 408 f.: »Auch abgesehen von der einseitig moralistischen Denkweise wird das Unternehmen Kants, die Religion ›innerhalb der bloßen praktischen Vernunft‹ zu behandeln, uns nicht befriedigen. Wir müssen uns bei der philosophischen Behandlung der Religion bewußt an die irrationale und insofern ›unvernünftige‹ Fülle des geschichtlichen Lebens halten.« Rickert usurpiert jedoch die genuine Aufgabe der Theologie für die Philosophie. 14
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der Metaphysik« (AA 10,269).16 Diesem Beitrag zur metaphysica generalis folgen Interpretationen zu den drei Hauptgebieten der metaphysica specialis: paola-ludovika coriando schreibt zur Seelenproblematik im Spannungsfeld zwischen dem Paralogismen-Hauptstück und der Postulatenlehre, wolfgang ertl zur Antinomie der reinen Vernunft, robert theis zur Bedeutung der Gottesbeweiskritik aus dem Kontext der kritischen Philosophie und im Blick auf die Frage transzendentaler Sinnstiftung. In der Kritik der praktischen Vernunft bezeichnet Kant die »Antinomie der reinen Vernunft, die in ihrer Dialektik offenbar wird«, als »die wohlthätigste Verirrung […], in die die menschliche Vernunft je hat gerathen können, indem sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind« (KpV A 193). Aus der so eingeführten These vom »Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen« (KpV A 215) gewinnt Kant die Einsicht, daß der spekulativen Vernunft durch die neue Situation neue Aufgaben zukommen. Die neuen Aufgaben treten überraschend in der Betrachtung der Fragen der praktischen Philosophie auf, weil der Fund sich nicht einer Suche der Vernunft verdankte. Dieser unvorhersehbare Fund führt zur Annahme, daß die Vernunft die Sätze, die sie aus eigener Befugnis nicht rechtfertigen konnte, »sobald sie unabtrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft gehören, zwar als ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf ihrem Boden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt ist, annehmen und sie mit allem, was sie als speculative Vernunft in ihrer Macht hat, zu vergleichen und zu verknüpfen suchen« muß (KpV A 218). Vor diesem Hintergrund führt norbert fischer zum Ansatz von Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft. maximilian forschner folgt mit der Auslegung der transzendentalen und der praktischen Freiheit, die sich als der Schlußstein eines Systems der reinen Vernunft erweist. Mit dem Ansatz der praktischen Philosophie Kants im einzigen Faktum der reinen Vernunft und der Darstellung der Freiheit als Schlußstein des Systems Vgl. Pollok: Einleitung, IX: »Zum ersten Mal propagiert und verteidigt Kant hier den wissenschaftlichen Charakter der Metaphysik.« Die »Logik der Wahrheit« rückt nun in das Zentrum der Betrachtung (IX f.). Das bedeutet (XIII): »Die alte dogmatische Metaphysik […] beschäftigt ihn nun nicht mehr wesentlich.« 16
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ist die Basis für die Postulate der reinen praktischen Vernunft gegeben, die friedo ricken entfaltet. Die Untersuchungen zur praktischen Philosophie Kants schließen mit einem Text von emmanuel levinas, der in der französischen Originalfassung bisher noch nicht veröffentlicht ist. Er zeugt von der Beschäftigung dieses Autors mit Kant, gibt einen Rückblick auf Kants theoretische und praktische Philosophie und räumt einige Mißverständnisse aus, die das Verhältnis von Levinas zu Kant belasten. bernd dörflinger widmet sich in seinem Beitrag der Grundfrage von Kants Religionsphilosophie und untersucht, ob und in welchem Sinne Moral unausbleiblich zur Religion führt. giovanni b. sala zielt – auch mit Erwägungen, die Kants Vorgehen kritisch hinterfragen – auf den Sinn von Kants Religionsphilosophie, sofern sie in engster Beziehung zur Dogmatik des christlichen Glaubens entwickelt worden ist und doch womöglich in Konkurrenz zu ihr steht. costantino esposito verfolgt die Genese von Kants philosophischer Religionslehre, wiederum im Ausgang von der christlichen Offenbarungslehre, und stellt am Ende die Frage nach dem Verhältnis der notwendigen Vernunftreligion zum Christentum als faktischer Religion. Die Reihe der Beiträge, die sich lediglich auf Themen und Probleme der Philosophie Kants beziehen, schließt mit Abhandlungen zu übergreifenden Grundfragen. aloysius winter eröffnet diese Abteilung mit der Bestimmung der Endabsicht der Metaphysik »vor allen ihren Zurüstungen« und belegt die theologischen Hintergründe der kritischen Philosophie. clemens schwaiger untersucht die Herkunft und Verwendung des Begriffs des Übersinnlichen, den er als Schlüsselkategorie von Kants praktischer Metaphysik interpretiert. reiner wimmer wendet sich Kants Konzeption einer moralisch-praktischen Anthropologie zu, die am Ende auf die Pflicht zur Konstitution eines die Menschheit umfassenden ethischen Gemeinwesens zuläuft. joachim kopper stellt die oft übersehene Bedeutung der Methodenlehren der drei Kritiken heraus und entfaltet deren Ergebnis im Blick auf die Gottesfrage. norbert fischer bezieht das Zeitproblem auf die drei Fragen, in denen sich das Interesse der Vernunft vereinigt (zuletzt auch auf die Frage, was der Mensch sei), und findet in Kants Zeituntersuchung ein Bindeglied zwischen den Zeituntersuchungen Augustins und Heideggers. Mit dem Beitrag edith düsings beginnen die Arbeiten zu den Wirkungen der Philosophie Kants, zunächst zu Wirkungen in der unmittelbaren Nachfolgephilosophie, sodann zu Wirkungen in nichtdeutschsprachigen Kulturräumen. Düsings Beitrag, der in zwei Hauptteilen den Weg von Kants
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praktischer Metaphysik zu Fichtes Metaphysik des Einen Seins nachzeichnet, erfüllt eine Brückenfunktion, sofern er Kants Postulatenlehre noch einmal aufgreift, in neuer Perspektive auslegt und Fichtes Weg nach dem Atheismusstreit als Augustinische Wende deutet. robert jan berg stellt in seiner Untersuchung des Verhältnisses von Glauben und Wissen bei Kant und Hegel die Gegenläufigkeit von Ansatz und Ziel dar: Ausgangspunkt bei Kant ist das Wissen, Endpunkt das Glauben; bei Hegel verhält es sich umgekehrt. rudolf langthaler erörtert die Kritik des späten Schelling an Kants Religionsphilosophie, die um die zukunftsweisende Frage der Differenz zwischen dem wirklichen Gott und der bloßen Idee Gottes kreist. margit ruffing betrachtet die Beziehung Schopenhauers zu Kant, die sie eher vermittelnd als trennend zu begreifen trachtet. Die beiden ersten Beiträge zu Kants Wirkung außerhalb des deutschen Sprachraums enthalten Untersuchungen zu Interpretationen aus romanischen Ländern. Indem jean greisch Heideggers Kant-Interpretation einbezieht, bietet er mit seiner Abhandlung zudem ein Bindeglied zwischen dem deutschen und dem französischen Kulturraum. Sein Hauptthema ist jedoch eine Auslegung von Paul Ricœurs Beziehung zu Kant, in der die Freiheit im Lichte der Hoffnung gesehen wird. Der Schwerpunkt des Beitrags von mario caimi liegt in einem Überblick über die spanischsprachigen Forschungen zu Kants Metaphysik und Religionsphilosophie. peter schulz skizziert die Wirkung Kants im angelsächsischen Raum anhand der Diskussion zu Kants praktischer Metaphysik, besonders im Blick auf die Fragen nach dem Verhältnis von höchstem Gut und Glückseligkeit. jakub sirovátka beginnt mit Hinweisen auf die auch durch die politischen Verhältnisse bedingte Vernachlässigung von Metaphysik und Religionsphilosophie Kants in den slawischen Ländern und geht dann auf ein ambivalentes Beispiel ein, auf Wladimir Solowjow. Die Untersuchungen schließen mit dem Beitrag von wolfgang erb, der auf die Kantrezeption der Kyo¯ to-Schule eingeht und angeregt durch Gedanken Nietzsches fragt, wie Metaphysik und Religionsphilosophie beschaffen sein müßten, wenn Denkende sie vortrügen, die im Anschluß an Kant Motive fernöstlichen Denkens aufzunehmen bereit wären. 3. Am Ende der Einleitung sei eine Skizze zu Kants System der reinen Vernunft gewagt, eines Systems der spekulativen wie der praktischen Vernunft. Sie stützt sich auf die beiden ersten kritischen Hauptwerke und vor allem auf Kants Hinweis zum »ganzen Gebäude eines Systems der reinen selbst der
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speculativen Vernunft« in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft (A 4). Gedanken aus anderen Werken werden der Einfachheit halber nur hilfsweise ins Spiel gebracht. Dabei wird nicht einmal gefragt, ob sich deren Inhalt disparat oder negativ zum Inhalt dieser Skizze verhält. Trotz dieser Einschränkungen ist es der Zweck des entwickelten Modells, einen ersten denkerischen Zugang zu Kants kritischer Metaphysik zu erleichtern und die Diskussion zur Systematik der kritischen Philosophie anzuregen. Der zeitliche Ausgangspunkt der Untersuchung zu der Möglichkeit und zu den Grenzen objektiver Erkenntnis ist die wirkliche Gegebenheit objektiver Erkenntnis. Die transzendentale Analytik setzt bei einem Zusammengesetzten an, das als der faktisch gegebene Boden dient, auf dem das Bauwerk der philosophischen Theorie der theoretischen Erkenntnis errichtet werden kann. Ob das Bauwerk der theoretischen Philosophie ein für sich selbst bestehendes Gebäude oder nur ein Gebäudeteil ist, wird im Kontext der theoretischen Untersuchung nicht klar. Den Boden, auf dem es laut Kant Halt findet, bieten ihm die reine Mathematik und die reine Naturwissenschaft. Zur Möglichkeit der Errichtung dieses Bauwerks bemerkt er (KrV B 20): »Von diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl geziemend fragen: wie sie möglich sind; denn daß sie möglich sein müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen.« Unsere Erkenntnis beginnt mit der Erfahrung (KrV B 1): »Daß alle unsre Erkenntniß mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel«. Erfahrung zeigt sich aber als Zusammengesetztes aus dem, »was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnißvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergiebt« (KrV B1). Auf der einen Seite setzt Erfahrung Empfängnis voraus, auf der anderen Seite spontan bewirkte Ordnung des Empfangenen. So gilt (KrV B 74): »Unsre Erkenntniß entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüths, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Receptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältniß auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüths) gedacht«. Die Materie der sinnlichen Erkenntnis muß zwar als gegeben vorausgesetzt werden, ist aber als solche nur denkbar, nicht erkennbar. Kant spricht in ungenauer Diktion davon, daß die Erweckung ›durch Gegenstände‹ geschehe, von denen er erklärt, daß sie »unsere Sinne rühren und theils von selbst
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Vorstellungen bewirken, theils unsere Verstandesthätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntniß der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt« (KrV B 1). Die Frage, was es mit der Herkunft des ›rohen Stoffs‹ sinnlicher Eindrücke auf sich habe, muß gestellt werden, bleibt aber unbeantwortet. Obwohl das Vorauszusetzende nicht erkennbar ist, muß es trotz seiner Unerkennbarkeit doch gedacht werden können (KrV B XXVII f.): »Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint.« Denn bevor der rohe Stoff dazu taugt, die Verstandestätigkeit in Bewegung zu bringen, muß er die Sinne bewegt und die Ausbildung von Vorstellungen erweckt haben, durch die der Stoff der sinnlichen Eindrücke überhaupt erst rezipiert werden kann. Nicht der ungeformte rohe Stoff der Anschauung läßt sich unter die Einheit des Denkens bringen, sondern erst die ›Erscheinungen‹, in denen er, nachdem er durch die den formalen Bedingungen unserer Sinnlichkeit (Raum und Zeit) geordnet ist, dem Verstand in der Einheit der Anschauung dargeboten wird. Sofern »die Vernunft aber nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (KrV B XIII), ist sie prinzipiell unfähig, Gegebenes an sich selbst zu erkennen. Weil alles Gegebene jedoch in der Form des inneren Sinnes gegeben ist (also in der Zeit), die Kant als Funktion des Subjekts erweist, zeigt sich die Zeit als Bindeglied zwischen der Rezeptivität und der Spontaneität der Erkenntnis (KrV B 46 –58; 176 –187). Erkenntnis kann stattfinden, indem der durch Raum und Zeit geformte Stoff sinnlicher Eindrücke unter die Einheit des Denkens gebracht wird. Dazu muß ein denkendes Ich vorausgesetzt werden, das den Akt der Synthesis des gegebenen Mannigfaltigen spontan vollzieht. Der vorläufig höchste Punkt der Transzendentalphilosophie ist folglich das »Ich denke«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muß (KrV B 131). Es muß wie der Ursprung der Erscheinungen gedacht werden, kann aber ebensowenig erkannt werden. Beide Voraussetzungen bleiben trotz ihrer notwendigen transzendentalen Funktion unbekannt: ein x, das in der Erfahrungserkenntnis vorausgesetzt ist, »ein Etwas = x, wovon wir gar nichts wissen« (KrV A 250; vgl. KrV B 13, B 404). Die Differenz von Denken und Erkennen bleibt bestehen, obwohl »der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand« auch ohne Besinnung auf »die Quellen seiner eigenen Erkenntniß […] sehr gut fortkommen« kann (KrV B 297). Die zwei Grundquellen der objektiven Erkenntnis, die als transzendentales Objekt und als transzendentales Subjekt benannt
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werden können, bedürfen weiterhin der zu denkenden (aber auch nur denkbaren) Voraussetzung, in der die oberste Bedingung der Möglichkeit der Synthesis des Mannigfaltigen vorgestellt wird. Diese höchste Voraussetzung bezeichnet Kant als das transzendentale Ideal, das als höchste Bedingung der systematischen Einheit aller Erkenntnisse fungiert, aber gleichfalls wie die vorgenannten Voraussetzungen unerkennbar ist. Als bloße Idee ist das Ideal auf Grund seiner heuristischen und regulativen Funktion für die objektive Erkenntnis zwar nur einer indirekt objektiven transzendentalen Deduktion fähig, behält aber auf diesem Wege doch problematische Geltung, weil ihr absolutes Sein nicht unmöglich ist. Alle drei Voraussetzungen sind also nicht nur denkbar, sondern denknotwendig. Obwohl diese Ideen nicht erkennbar sind, bleiben sie Probleme, die auf Unbedingtes zielen: sie sind notwendige, aber theoretisch unlösbare Aufgaben des Denkens. In einer der drei Ideen wird allerdings ein inhaltliches Moment gedacht, das positiv für die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis vorausgesetzt ist. Es ist die Spontaneität des Denkens, die auf die transzendentale Freiheit verweist. Obwohl weder die Realmöglichkeit, noch die Wirklichkeit der transzendentalen Freiheit erkannt werden kann, ist sie in jedem Vollzug objektiver Erkenntnis faktisch vorausgesetzt. Die Überlegungen zum Gebäude der theoretischen Philosophie hatten mit der Annahme begonnen, daß das Bauwerk der theoretischen Philosophie Halt in der objektiven Erkenntnis findet. Obwohl diese Art von Erkenntnis Allgemeinheit und Notwendigkeit erreicht, erweist sie sich als bedingt. Denn die Vernunft errichtet »zwar sichere Grundsätze, aber gar nicht direct aus Begriffen, sondern immer nur indirect durch Beziehung dieser Begriffe auf etwas ganz Zufälliges, nämlich mögliche Erfahrung« (KrV B 765). Das Bauwerk der theoretischen Philosophie hat folglich nur ein stabiles Element, das gleichsam auf halber Höhe fixiert ist, nämlich: objektive Erkenntnis. In einem bekannten Bildwort nennt Kant diesen Bereich auch das »Land der Wahrheit«, das aber eine »Insel« sei, »durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen« (KrV B 294). Bliebe man bei dem Bild des Bauwerks, dann müßte von einer in sich festgefügten Konstruktion gesprochen werden, die aber weder nach unten (durch Fundierung im sinnlich Gegebenen), noch nach oben (durch Fundierung im gedachten Übersinnlichen) die gesuchte Stabilität besitzt. Der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand bemerkt die beidseits fehlende Fundierung indessen gar nicht als Mangel (KrV B 297). Erst die Vernunft nimmt den
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Mangel an absoluter Begründung wahr und ist dadurch zur Frage nach absolut Unbedingtem getrieben (vgl. KrV B 380).17 Die Frage, was die Vernunft treibt, über den im Bereich des im Immanenten verharrenden Verstandes hinaus zu fragen und Bedingungen bis zum Unbedingten zu suchen, kann zweifach beantwortet werden. Zunächst liegt das Treibende in der immanenten Tendenz der Verständestätigkeit, das Geschäft des Verstandes, Gegebenes unter die Einheit des Denkens zu bringen, so weit zu führen, daß am Ende alles Mannigfaltige schlechthin aus der Einheit des Denkens begriffen ist. Der Verstand, den Kant in formalem, logischem Gebrauch als »Vermögen zu urtheilen« bestimmt (KrV B 94; B 106), bedient sich der Vernunft, die insofern als »Vermögen mittelbar zu schließen« gilt (KrV B 355). Was die Vernunft im Dienst am Einigungswillen des Verstandes leistet, ist ihr selbst durchsichtig. Denn wenn sie »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte« zu finden trachtet, »womit die Einheit desselben vollendet wird« (KrV B 364), tut sie gewiß etwas, »was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (KrV B XIII). Solange sie im Bereich dessen verharrt, was sie einsieht, bleibt sie im ›Land der Wahrheit‹, zwar nicht mit der Erweiterung objektiver Erkenntnis, aber mit der Systematik und der Grenzziehung für diese befaßt. Immerhin ist es denkbar, daß jenseits der Grenzen des Verstandes etwas zu finden sei, das sich der objektiven Erkenntnis entzieht und doch angenommen werden kann. Indem die Vernunft in der von ihr projektierten Einheit das Ideal der theoretischen Erkenntnis findet, besitzt sie in ihm nicht nur das höchste Produkt ihrer spontanen Tätigkeit, sondern stößt auf den problematischen Gedanken des Unbedingten, der ihr Vermögen unendlich übersteigt. Probleme erlauben zwar keine objektive Erkenntnis, können unsere Zustimmung aber negativ absichern, die von anderer Seite bestärkt wird, zum Beispiel dadurch, »daß sich unser Urtheil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muß« (KrV B 650). Das Ergebnis der Kritik ist die Selbstbegrenzung der theoretischen Vernunft ineins mit der Offenheit für die Auslegung ihres Sinns durch die Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft. Kant gliedert den Aufbau der theoretischen Erkenntnis so, daß er sich parallel zur Struktur des Liniengleichnisses in Platons Politeia deuten läßt (vgl. 509d–511e). Zur Auslegung der Struktur als Himmelsleiter vgl. Wyller: Der späte Platon, 16–23. Kant beginnt mit bloßer Empfindung (ei2kasi1a), fährt fort mit der raumzeitlichen Ordnung (pi1stiß); dann käme objektive Erkenntnis (dia1noia), schließlich das Hindenken auf das Unbedingte (e2pisth1mh). 17
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Da die »ganze Zurüstung […] der Vernunft in der Bearbeitung, die man reine Philosophie nennen kann, […] in der That nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet« ist (KrV B 828), da sie also »die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes« zum Inhalt hat (KrV B 826), muß dasjenige als höchstes Ziel des Bestrebens der Vernunft gedacht werden, was in der theoretischen Erkenntnis höchstens als nicht unmöglich eingesehen werden kann. Der »eigenthümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt […], zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden«, ist aber noch in anderer Beleuchtung zu betrachten. Bekanntlich sollte die Kritik der dogmatischen Metaphysik vor allem ihre ebenso dogmatischen Feinde bekämpfen. Kant sagt (Prol A 186 = AA 4,363): »So dienen die transscendentale Ideen, wenn gleich nicht dazu, uns positiv zu belehren, doch die freche und das Feld der Vernunft verengende Behauptungen des Materialismus, Naturalismus, und Fatalismus aufzuheben, und dadurch den moralischen Ideen außer dem Felde der Speculation Raum zu verschaffen«. Die neue Funktion der Vernunft hat in ihrem Ursprung nichts mit dem spontanen Vermögen zu tun, das die Vernunft zwar befähigt, die höchsten Punkte der Einheit der Erkenntnis zu entwerfen, die sie aber in der Frage schwanken läßt, ob sie das Höchste gefunden oder erfunden habe. Die Vernunft präsentiert sich nämlich nicht nur als Vermögen, der Verstandeserkenntnis höchste Einheit zu verschaffen, ist also nicht nur ein Organ der Sicherung und der Steigerung eigener Belange und eigenen Seinswillens, sondern wird auch von anderer Seite so in Dienst genommen, daß sie dem endlichen, vernünftigen Wesen, das der Mensch ist, ein unbedingt geltendes Gesetz vorschreibt, das alle endlichen Vernunftwesen zur Grundlage ihres Handelns machen sollen. Ohne diesen völlig anderen Ursprung der Vernunfttätigkeit gäbe es überhaupt keine Pflichten. Die höchsten Maximen des Handelns wären dann lediglich Anratungen der Klugheit, die zu befolgen oder auch nicht zu befolgen dem Belieben des Einzelnen anheimgestellt wäre. Der Ursprung der anderen Art von Vernunfttätigkeit, in der es auf das verantwortliche Selbstsein des Einzelnen ankommt, die jeweils ›meinem‹ Belieben als endlichen Subjekts entzogen ist, liegt unmittelbar in dem Bewußtsein, daß in konkreten Situationen eine unbedingt geltende Forderung an mich ergehen kann, gegen meine Neigung zu handeln. Zwar kommt den Formen der Einheit des Denkens auch Notwendigkeit zu, aber als Funktionen des Subjekts, das Erkenntnis sucht, das sich durch sie Orientierung verschafft
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und eigenen Belangen dient. Diese Notwendigkeit ist die Grundlage der möglichen Herrschaft des Menschen in der Welt. Der Imperativ aber, dem ich mich im Handeln unterwerfen soll, gebietet in doppelter Weise unbedingt. Erstens gilt die Forderung allgemein, auch wenn der Imperativ nicht dem Vorteil des Subjekts dient und es für das Subjekt verlockend sein kann, ihm nicht zu folgen. Wer dem Imperativ in moralisch relevanten Situationen um eigener Vorteile willen zuwiderhandelt, wird laut Kant unvermeidlich in seinen eigenen Augen nichtswürdig (KpV A 65, 165 f., 270 f.; RGV B V = AA 6,4). Auf Grund des Sturzes in die Nichtswürdigkeit sind Versuche von Subjekten, sich auf Kosten Anderer Glück zu besorgen, letztlich sogar vergeblich, auch wenn sie die Vergeblichkeit ihrer Versuche nicht sofort bemerken.18 Im Unterschied zur Erkenntnis des Naturgesetzes stärkt das Bewußtsein des Sittengesetzes nicht die Machtposition des Menschen in der Welt. Zweitens gilt der Imperativ insofern unbedingt, als er keinen Grund hat, der sich aus immanenten Antrieben des vernünftigen Subjekts ableiten ließe. Obwohl Kant in diesem Kontext vom Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft spricht, kann man das Bewußtsein dieses Gesetzes »nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben) herausvernünfteln« (KpV A 56). Dieses Bewußtsein tritt vielmehr als »gegeben« auf, als »das einzige Factum der reinen Vernunft« (KpV A 56). Es führt zur Annahme der Freiheit: »denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz« (KpV A 5). Der zeitliche Ausgangspunkt der Untersuchung der praktischen Vernunft ist das Auftreten des Bewußtseins des moralischen Gesetzes. Dessen Gegebenheit bedeutet nicht, daß der Imperativ von einer fremden Autorität ausginge. Obwohl sich die praktische Freiheit durchs moralische Gesetz offenbart und das moralische Gesetz selbst unableitbar gegeben ist und durch das Gesetz etwas gefunden wird, »was man nicht suchte und doch bedarf« (KpV A 193), ist die »Autonomie des Willens […] das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten« (KpV A 58). Praktische Freiheit ist nur in Verbindung mit der Autonomie des Willens denkbar, da sie »Unabhängigkeit […] von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem In einer Vorlesung sagt Kant (Metaphysik Pölitz; AA 28.1,318): »Denn die moralischen Gesetze sind apodiktisch und irresistibel; keiner kann durch die Vernunft behaupten, ohne die moralischen Gesetze glückselig seyn zu können; denn sonst macht er sich dadurch, daß er dieses behauptet, selbst nichtswürdig.« 18
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begehrten Objecte)« voraussetzt (KpV A 59). Die Begründung der Geltung von Handlungsregeln durch inhaltlich bestimmte Ziele (begehrte Objekte), die als Folge von Handlungen erstrebt werden, regt nur die Bildung von Maximen der Klugheit an. Obwohl aber die Heteronomie der Willkür ebenso wie die willkürliche Gesetzgebung eines allmächtigen Weltherrschers in der Autonomie des Willens überwunden wird, ermöglicht sie dennoch unerwartet die »Erkenntniß aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote« (MST A109 = AA 6,443; vgl. RGV B 229 = AA 6,153). Schon in der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant (B 847): »Wir werden, so weit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind.« Das unbedingt gebietende moralische Gesetz fordert in moralisch relevanten Situationen die Wahl einer Maxime, die »jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (KpV A 54). Moralische Qualität erhalten Maximen nicht durch bloße Verallgemeinerbarkeit, die auch das Werk einer verfeinerten Klugheit sein könnte (RGV B 244 f. = AA 6,161), sondern durch das Faktum, daß es andere endliche Vernunftwesen gibt, die als Zwecke an sich selbst existieren und als solche geachtet werden sollen (GMS BA 66 = AA 4,429). Das Bewußtsein des moralischen Gesetzes, das sich in Imperativen Gehör verschafft, ist etwas Zusammengesetztes aus den Neigungen (als natürlichen, sinnlich-bedingten Antrieben zur Maximenbildung der Subjekte) und aus der Vernunftforderung, die Maximenbildung nicht einem sinnlich bedingten Kriterium zu unterwerfen. In ihr erweist sich die Gegenwart von Unbedingtem als der feste Boden des Bauwerks der praktischen Philosophie, im Nachweis, »daß es reine praktische Vernunft gebe« (KpV A 3). Auch die praktische Erkenntnis entspringt also aus zwei Grundquellen des Gemüts, wobei die Materie ebenso wie in der theoretischen Erkenntnis sinnlich gegeben ist und als ›Neigung‹ (dem Pendant der ›Erscheinung‹) Einfluß auf die Maximenbildung besitzt. Zur Maximenbildung selbst muß ein frei wollendes Ich vorausgesetzt werden, das Verantwortung für die Wahl trägt. Denn die Freiheit »offenbart sich durchs moralische Gesetz« (KpV A 5). Im Unterschied zur Sachlage in der theoretischen Erkenntnis bleibt es hier nicht beim Problem der Freiheit, nicht bei einer notwendigen, aber unlösbaren Aufgabe, deren Inhalt zwar gedacht, aber nicht erkannt werden kann. Obwohl auch die praktische Philosophie nicht zur Erkenntnis der Freiheit führt, fordert sie doch deren Annahme, weil ohne sie die unbedingte Geltung
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des moralischen Gesetzes nicht denkbar wäre. Die Idee der Freiheit wandelt sich im Übergang von der theoretischen zur praktischen Philosophie: statt bloßes Problem der theoretischen Vernunft zu sein, wird sie nun zu einem Postulat der reinen praktischen Vernunft. Da Freiheit als die in der objektiven Erkenntnis vorausgesetzte Spontaneität des Subjekts notwendig zur in sich festen Konstruktion des transzendentalen Systems von Voraussetzungen der theoretischen Erkenntnis gehört, verschafft der Begriff der Freiheit dem Gesamtgebäude den Halt, der auch der Zufälligkeit und Bedingtheit der theoretischen Erkenntnis aufhilft. Vom Primat der praktischen Vernunft her ist das Wort aus der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft zu verstehen (A 4 f.): »Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft aus, und alle andere Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objective Realität, d.i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist«. Vor diesem Hintergrund läßt sich nebenstehendes Schema zu Kants System des Gebäudes der reinen Vernunft verstehen.
Einleitung
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Unsterblichkeit; an ein Reich Gottes auf Erden reiheit, F , t t (Kir Go nünftigen, aber endlichen r e v r e l l a n z n a e che Wesen Exist r be e ), a d ü u ber a er l u e r n e g d e : r n e o z i w g i a l e d e n i e r t r f d k i n o G u n t e n z r e r e n V Z trisch us. eit Fo a n e i e r h Kre teren Kreis einer Offenb it di öglichen wei arungs ise hke t unm r h e lic c l i igio n n. zum Praktis it: che F Freihe reih tale n e d eit: t I n i m e p e h r l i z h k a at de W ns n a r e t r unb und d T ing es Si ktiven e di bed obje n ng , n r n e e m e s ten i s o d n r h t alisc des t nn sc i e a h k t e r G k n E il k a Ge p rf set e d ze s
freiheit
Bedingung: Erscheinungen als Empfindungen, die vom Subjekt schon raumzeitlich geordnet sind. Gegebenheit von Empfindungen: x = ignotum; transzendentales Objekt; Bedürftigkeit und Empfänglichkeit des Subjekts.
x
x
Anfang des Systems in der Zeit
Selbstgesetzgebung der Vernunft: Das Ich soll seine Maximen im Blick auf Andere so wählen, daß sie verallgemeinerbar sind: Grundgesetz der praktischen Vernunft. Formulierung des Faktums: moralische Gesetze (= Imperative, die der Pflicht entsprechen und Neigungen lenken). Einziges Faktum der reinen Vernunft: Es gibt für den vernünftigen Willen unbedingte Verpflichtung in moralisch relevanten Situationen. Voraussetzung: Neigungen als natürliche, sinnlich bedingte Antriebe der Maximenbildung des Subjekts.
x
Faktum: Es gibt für das denkende Ich objektive Erkenntnis (Mathematik und Naturwissenschaft).
x
Postulate der reinen praktischen Vernunft (theoretische Sätze, die mit dem unbedingt geltenden moralischen Gesetz verbunden sind): Unsterblichkeit, Gott.
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Bedingung des Faktums: Kategorien (= Formen der Einheit des Denkens zum sinnlich gegebenen Mannigfaltigen).
ng
Der höchste Punkt der Transzendentalphilosophie: Das denkende Ich muß alle seine Vorstellungen begleiten können.
tu
Im
el
Ideen (als Entwürfe unbedingter Bedingungen zum gegebenen Bedingten): transzendentales Objekt, Subjekt, Subjekt-Objekt.
Gegebenheit von Wünschenswertem: x = ignotum; Bedürftigkeit und Empfänglichkeit des Subjekts.
Die »Kritik der reinen Vernunft« als Transzendental-Metaphysik von Friedrich-Wilhelm von Herrmann
1. Die Kritik der reinen Vernunft als Erkenntnistheorie oder als Metaphysik Seit der neukantianischen Kant-Interpretation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat man sich weitgehend daran gewöhnt, die Kritik der reinen Vernunft als eine Erkenntnistheorie oder Theorie der Erfahrung zu deuten. Verständlicherweise leitet jeweils das philosophische Grundinteresse des Auslegers auch dessen interpretatorische Zuwendung zu einem überlieferten Werk der Philosophie. Dort, wo die Erste Philosophie nicht in Ontologie und Metaphysik, sondern in der Erkenntnistheorie gesehen wird, gibt sich ein Werk wie die Kritik der reinen Vernunft und die in dieser ausgearbeitete Transzendentalphilosophie (als transzendentale Kritik) als eine kritische bzw. kritizistische Erkenntnistheorie. Wo dagegen die Erste Philosophie und die leitenden Grundfragen der Philosophie in der Metaphysik, in der Ontologie oder gar in der Fundamentalontologie gesehen werden, ist der hermeneutische Zugang zur Kritik der reinen Vernunft ontologisch-metaphysisch bestimmt. Hier stellt sich dieses Werk nicht als eine transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie dar, sondern als eine transzendentalphilosophische Gestalt von Metaphysik und Ontologie, die wir als Transzendental-Metaphysik und Transzendental-Ontologie bezeichnen können.1 Zur Auseinandersetzung mit der erkenntnistheoretischen Deutung der Kritik der reinen Vernunft sowie zu deren Auslegung als eine Metaphysik von der Metaphysik vgl. Heidegger: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. Marburger Vorlesung Wintersemester 1927/28. GA 25, insbes. 57–68. Ders.: Kant und das Problem der Metaphysik (1929). GA 3, insbes. 13–18, 230 f. Han: Transzendentalphilosophie als Ontologie. Kants Selbstinterpretation der Kritik der reinen Vernunft in seiner Schrift: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? 1
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In dieser hermeneutischen Situation entgegengesetzter Auslegungswege kann die Frage aufgeworfen werden, wie denn Kant selbst sein philosophisches Unternehmen in der Kritik der reinen Vernunft verstanden hat. Gibt es den einen oder anderen Text, in dem Kant selbst die transzendentalphilosophische Fragestellung der Kritik der reinen Vernunft entweder als so etwas wie eine Erkenntnistheorie oder aber als eine Metaphysik bzw. Ontologie kennzeichnet? Können die erkenntnistheoretischen oder Metaphysik-orientierten Ausleger sich auf die eine oder andere Selbstinterpretation Kants berufen? Aus den verschiedenen Texten, in denen Kant in der Tat eine Selbstdeutung der Kritik der reinen Vernunft gibt, und zwar in einer unzweideutigen Weise, wählen wir die markantesten aus.
2. Die Kritik der reinen Vernunft als eine Grundlegung der Metaphysik qua System In der Einleitung der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant (KrV B 7 / A 3): »Nun scheint es zwar natürlich, daß, so bald man den Boden der Erfahrung verlassen hat, man doch nicht mit Erkenntnissen, die man besitzt, ohne zu wissen woher, und auf dem Credit der Grundsätze, deren Ursprung man nicht kennt, sofort ein Gebäude errichten werde, ohne der Grundlegung desselben durch sorgfältige Untersuchungen vorher versichert zu sein, daß man also vielmehr die Frage vorlängst werde aufgeworfen haben, wie denn der Verstand zu allen diesen Erkenntnissen a priori kommen könne, und welchen Umfang, Gültigkeit und Werth sie haben mögen.« Hier ist die Rede vom Gebäude und dessen Grundlegung. Mit dem Gebäude ist das vollständige System der Metaphysik gemeint. Die Grundlegung dieses Gebäudes, des Systems der Metaphysik, nennt die Aufgabe, die Kant in der bisherigen Geschichte der Metaphysik vermißt und die er deshalb selbst in der Kritik der reinen Vernunft und als diese zur Ausführung bringen möchte. Die Kritik der reinen Vernunft ist also nach Kants eigenen Worten eine Grundlegung der Metaphysik als System. In der zitierten Textpassage sagt Kant auch, von welcher Grundfrage diese Grundlegung geleitet werden müsse: von der Frage, wie der reine Verstand zu allen seinen Erkenntnissen a priori kommen könne, welchen Umfang diese Erkenntnisse a priori haben, welche Gültigkeit und welchen Wert. In der Kritik der reinen Vernunft geht
Die »KrV« als Transzendental-Metaphysik
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es somit um die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis a priori vom Seienden als den Gegenständen. Möglichkeit nennt hier nicht die Seinsmodalität im Unterschied zur Wirklichkeit, sondern bedeutet soviel wie Ermöglichung, die wir auch innere Möglichkeit nennen können. Die Frage nach der Ermöglichung der Erkenntnisse a priori fragt zum einen nach dem Wesensursprung apriorischer Erkenntnisse und fragt zum anderen darnach, wie Erkenntnisse a priori, d. h. der Empirie vorhergehende Erkenntnisse von Gegenständen möglich sind, bevor diese in der Empirie gegeben sind. Das Apriori aber, die apriorische Erkenntnis, ist für Kant, wie er immer wieder betont, Thema der Ontologie bzw. Metaphysik. Denn die Erkenntnis a priori ist nicht Erkenntnis von den seienden Gegenständen selbst, sondern von deren nicht ontischer und nicht empirischer Gegenstandsstruktur. Diese ist jedoch nichts anderes als die Seinsverfassung der Gegenstände, ihre ontologische Gegenständlichkeit. Während die Erkenntnis a priori eine solche von der nichtempirischen Gegenständlichkeit der empirischen Gegenstände ist, ist die Erkenntnis a posteriori, die empirische Erkenntnis, diejenige von den empirischen Gegenständen oder von den Gegenständen der Erfahrung. Daß für Kant das Apriori Thema der Metaphysik ist, wird bereits dadurch offensichtlich, daß er in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft innerhalb der transzendentalen Ästhetik den Nachweis des apriorischen Anschauungscharakters von Raum und Zeit unter die Überschrift »Metaphysische Erörterung dieses Begriffs« bzw. »Metaphysische Erörterung des Begriffs der Zeit« stellt (KrV B 37 und 46). Gleiches zeigt sich, wenn Kant zu Beginn des § 26 aus der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe rückblickend auf die Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe am transzendentalen Leitfaden der Urteilstafel diesen Nachweis des apriorischen Ursprungs der Kategorien als ›metaphysische Deduktion‹ bezeichnet (KrV B 159). Der Nachweis der Apriorität einerseits von Raum und Zeit, andererseits der Kategorien gehört in die Metaphysik. Blickt man jedoch nur auf die Textstelle aus der Einleitung, in der Kant das philosophische Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft als Grundlegung des von ihm angestrebten Systems der Metaphysik beschreibt, so könnte man unserer metaphysischen bzw. ontologischen Interpretationsthese entgegnen, daß die von Kant geforderte Grundlegung eben doch den Charakter einer Erkenntnistheorie habe. Zwar sei die Kritik der reinen Vernunft eine Grundlegung der Metaphysik, selbst aber keine Metaphysik, sondern als Transzendentalphilosophie eine kritizistische Erkenntnistheorie.
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3. Metaphysik als der Name für das System und die Kritik Die Argumentation dafür, daß die Kritik der reinen Vernunft als Grundlegung der Metaphysik selbst keine Metaphysik, sondern eine neuartige Erkenntnistheorie sei, könnte zutreffen, wenn sich innerhalb der Kritik keine weitere Textstelle fände, in der Kant die Grundlegungsaufgabe der Kritik selbst als Metaphysik kennzeichnet. Auf eine solche Textstelle stoßen wir jedoch in der ›Transscendentalen Methodenlehre‹. Innerhalb des Abschnitts »Die Architektonik der reinen Vernunft« (KrV B 860) gibt Kant eine weitere Selbstinterpretation der Kritik der reinen Vernunft, deren Deutlichkeit und Eindeutigkeit kaum zu überbieten ist. Dort heißt es (KrV B 869): »Die Philosophie der reinen Vernunft ist nun entweder Propädeutik (Vorübung), welche das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkenntniß a priori untersucht, und heißt Kritik, oder zweitens das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntniß aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange, und heißt Metaphysik; wiewohl dieser Name auch der ganzen reinen Philosophie mit Inbegriff der Kritik gegeben werden kann, um sowohl die Untersuchung alles dessen, was jemals a priori erkannt werden kann, als auch die Darstellung desjenigen, was ein System reiner philosophischer Erkenntnisse dieser Art ausmacht, von allem empirischen aber, imgleichen dem mathematischen Vernunftgebrauche unterschieden ist, zusammenzufassen.« Spricht Kant hier von der »Philosophie der reinen Vernunft«, so denkt er sowohl an die reine theoretische wie an die reine praktische Vernunft. Daher erstreckt sich der Unterschied zwischen ›Kritik‹ und ›System‹ der reinen Vernunft sowohl auf die reine theoretische wie auch auf die reine praktische Vernunft. Innerhalb der reinen praktischen Vernunft unterscheidet Kant dann auch zwischen der Kritik der praktischen Vernunft und dem ›System der praktischen Vernunft‹, das in der Metaphysik der Sitten ausgeführt ist. Die gleiche Unterscheidung innerhalb der reinen theoretischen Vernunft ist die zwischen der Kritik der reinen Vernunft und dem System der theoretischen Vernunft, das unter dem Titel einer »Metaphysik der Natur« ausgearbeitet werden sollte, was jedoch unterblieb. Im Anschluß an die oben wiedergegebene Textstelle aus der Architektonik der reinen Vernunft heißt es (KrV B 869): »Die Metaphysik theilt sich in die des speculativen und praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft und ist also entweder Metaphysik der
Die »KrV« als Transzendental-Metaphysik
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Natur, oder Metaphysik der Sitten. Jene enthält alle reinen Vernunftprincipien aus bloßen Begriffen (mithin mit Ausschließung der Mathematik) von dem theoretischen Erkenntnisse aller Dinge; diese die Principien, welche das Tun und Lassen a priori bestimmen und nothwendig machen.« Im folgenden lesen wir den ersten zitierten Abschnitt aus der ›Architektonik‹ nur mit Blick auf die theoretische Vernunft, weil es uns um die Herausstellung des metaphysischen Charakters der Kritik der reinen Vernunft geht. Die Philosophie der reinen theoretischen Vernunft gliedert sich zweifach. Sie ist als erstes Propädeutik, eine notwendige Vorübung zum System der Metaphysik (Metaphysik der Natur). Diese Vorübung ist Kritik der reinen Vernunft, die das Vermögen der reinen theoretischen Vernunft hinsichtlich dessen Möglichkeit von Erkenntnissen a priori untersucht. Eine solche Untersuchung heißt Kritik, weil sie sich als ein Scheiden und Unterscheiden im Felde der reinen theoretischen Vernunft bewegt: als ein Scheiden der apriorischen Elemente der Erkenntnis von den empirischen, als ein Unterscheiden zwischen der reinen philosophischen und der reinen mathematischen Erkenntnis, als ein Scheiden zwischen den Erkenntnisstämmen der reinen Sinnlichkeit und des reinen Denkens von Verstand und Vernunft, zwischen den Gegenständen als Erscheinungen und den Gegenständen als Dingen an sich. Erst nachdem die Vernunftkritik das Vermögen der reinen theoretischen Vernunft daraufhin scheidend, unterscheidend untersucht hat, wie es zu reinen Erkenntnissen a priori gelangt, welches diese Erkenntnisse sind und wieweit bzw. inwiefern sie objektive Gültigkeit haben, kann die Philosophie der reinen theoretischen Vernunft dazu übergehen, das System der reinen theoretischen Vernunft unter dem Namen einer Metaphysik der Natur darzustellen. Auch wenn Kant die Metaphysik der Natur nicht vollständig ausgearbeitet hat, so verfügt er doch über ein klares Wissen von deren innerer Architektonik. Seine diesbezüglichen Ausführungen (KrV B 873 ff.) kommen zu dem Ergebnis (KrV B 874 f.): »Demnach besteht das ganze System der Metaphysik [der Natur] aus vier Haupttheilen: 1. Der Ontologie. 2. Der rationalen Physiologie. 3. Der rationalen Kosmologie. 4. Der rationalen Theologie. Der zweite Theil, nämlich die Naturlehre [Physiologie] der reinen Vernunft, enthält zwei Abtheilungen, die physica rationalis und psychologia rationalis.« Hier sei nur nebenbei und vorwegnehmend angemerkt, daß das von Kant konzipierte System der Metaphysik der Natur an der schulmetaphysischen Einteilung der Metaphysik orientiert bleibt. Zunächst wird also von Kant unterschieden zwischen der Kritik und der Metaphysik (als System). Soweit könnte man sagen, die Kritik bereite erst die
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Metaphysik vor und sei selber keine Metaphysik, sondern eine Theorie von der Erkenntnis a priori in bezug auf die empirischen Gegenstände, also eine Erkenntnistheorie. Doch gleich im Anschluß an diese Unterscheidung zwischen Kritik und Metaphysik als System setzt Kant seinen Überblick über die Architektonik der Philosophie der reinen Vernunft fort, indem er nunmehr die Kritik selbst nicht mehr von der Metaphysik scheidet, sondern in die Metaphysik im weiteren Sinne hineinnimmt. Zwar bleibt die Kritik weiterhin von der Metaphysik in der Bedeutung des Systems geschieden. Doch diese Unterscheidung zwischen Kritik als Vorübung und Metaphysik als System führt nicht dazu, der Kritik einen eigenen metaphysischen Charakter abzusprechen, so, als ob sie etwas wesentlich anderes als Metaphysik ist, eben eine nichtmetaphysische Erkenntnistheorie. Denn Kant sagt unmißverständlich, daß der Name ›Metaphysik‹ nicht nur dem einen Teil der reinen Philosophie, nicht nur dem System gegeben werden dürfe, sondern »der ganzen reinen Philosophie mit Inbegriff der Kritik gegeben werden« könne. Die ganze reine Philosophie der theoretischen Vernunft könne und solle mit dem Namen der Metaphysik belegt werden, um sowohl die kritische Untersuchung alles dessen, was a priori erkannt werden kann, als auch die Darstellung des Systems reiner philosophischer Erkenntnisse zusammenzufassen und so den reinen philosophischen Vernunftgebrauch unter dem Namen der Metaphysik einerseits vom empirischen, andererseits vom mathematischen Vernunftgebrauch streng zu unterscheiden. Aus diesem Textstück der transzendentalen Methodenlehre wird offensichtlich, daß die Kritik der reinen theoretischen Vernunft deshalb auch zur Metaphysik im weiten Sinne gehört, weil sie sich kritisch untersuchend mit den reinen Teilvermögen der theoretischen Vernunft und mit deren konstitutiver Leistung in der Bildung der Erkenntnis a priori befaßt, die Erkenntnis a priori aber als Thema der Kritik und der systematischen Darstellung der thematische Gegenstand der Metaphysik als der Philosophie der reinen Vernunft ist. Die kritische Grundlegung der Metaphysik als System erfolgt nicht durch eine der Metaphysik fremde und ihr vorgeschaltete Disziplin, sondern durch sie selbst, durch eine metaphysische Kritik. Die Kritik der reinen Vernunft erweist sich als eine Selbstkritik der Metaphysik, die als Metaphysik in Kritik und System in sich selbst gegliedert ist.
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4. Die Kritik der reinen Vernunft als eine Metaphysik von der Metaphysik Ganz im Sinne des Textstückes aus der transzendentalen Methodenlehre, worin Kant die Kritik als zur Metaphysik selbst gehörig bestimmt, finden wir in einem Briefe Kants, den er unmittelbar nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft an seinen einstigen Hörer und Freund, Markus Herz, richtet, eine weitere Selbstinterpretation, die den metaphysischen Charakter der Kritik auf eine Formel bringt. Markus Herz war in Berlin als Arzt tätig. Der Brief, der nach dem 11. Mai 1781 aufgesetzt wurde, lautet (AA 10,268 f.): »Hochedelgebohrener Herr, Werthester Freund, Vor die Bemühung die Sie übernommen haben die 4 Exemplare meines Buchs zu vertheilen sage den ergebensten Dank noch mehr aber davor, daß Sie bey Ihrer eigenen Schriftstellerischen Arbeit (denn ich höre daß Sie eine medicinische Encyclopädie ausarbeiten) sich vorgesetzt haben diese Schrift ganz eigentlich zu studieren auf welche Bemühung ich nur bey sehr wenig Lesern gleich anfangs rechnen darf unerachtet ich mich demüthigst überzeugt halte sie werde mit der Zeit allgemeiner werden denn man kan es nicht erwarten, daß die Denkungsart aufeinmal in ein bisher ganz ungewohntes Gleis geleitet werde sondern es gehört Zeit dazu um sie zuvor in ihrem alten Gange nach und nach aufzuhalten und sie endlich durch allmählige Eindrücke in die entgegengesetzte Richtung zu bringen. Von einem Manne aber der unter allen die mir das Glück als Zuhörer zugeführt hat am geschwindesten und genauesten meine Gedanken und Ideen begriff und einsah kan ich allein hoffen daß er in kurzer Zeit zu demienigen Begriffe meines Systems gelangen werde der allein ein entscheidendes Urtheil über dessen Werth möglich macht. Wem aber nur der Zustand darinn Metaphysik nicht allein ietzt liegt, sondern auch darinn sie iederzeit gewesen ist, deutlich einleuchtet der wird nach einer flüchtigen Durchlesung es schon der Mühe werth finden wenigstens in dieser Art der Bearbeitung so lange alles liegen zu lassen bis das wovon hier die Frage ist, völlig ausgemacht worden und da kan meine Schrift sie mag stehen oder fallen nicht anders als eine gänzliche Veränderung der Denkungsart in diesem uns so innigst angelegenen Theile menschlicher Erkenntnisse hervorbringen. Meines Theils habe ich nirgend Blendwerke zu machen gesucht und Scheingründe aufgetrieben um mein System dadurch zu flicken sondern lieber Jahre verstreichen lassen um zu einer vollendeten Einsicht zu gelangen die mir vollig gnug thun könte zu welcher ich auch gelanget bin so daß ich (welches niemals bey ir-
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gend einer andern meiner Schriften der Fall gewesen) auch ietzt nichts in der Hauptsache antreffe was ich zu ändern wünschte ob ich gleich hin und wieder kleine Zusätze und einige Erläuterungen gerne hinzu gefügt haben möchte. Schweer wird diese Art Nachforschung immer bleiben denn sie enthält die Metaphysik von der Metaphysik […].« Deutlicher als die Formel »Metaphysik von der Metaphysik« könnte Kants Selbstdeutung der Kritik der reinen Vernunft nicht ausfallen. Die Kritik der reinen Vernunft löst nicht als Erkenntnistheorie die Metaphysik ab. Sie ist auch nicht eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Metaphysik als solcher und als System. Kants Unzufriedenheit mit der Metaphysik, der gegenwärtigen wie der überlieferten, älteren und ältesten, betrifft nicht die Metaphysik als solche, sondern ihren inneren Zustand, in dem sich die Metaphysik seit ihren griechischen Anfängen befindet. Das Mangelhafte und Unzureichende ihres bisherigen Zustandes sieht Kant darin, daß sie bislang noch nicht »den sichern Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht« hat (KrV B XIV). Ihren gesicherten Wissenschaftscharakter gewinnt die Metaphysik Kant zufolge nur durch eine Selbstkritik der reinen Vernunft. In einer solchen selbstkritischen Untersuchung der reinen theoretischen Vernunft besteht aber die Grundlegung der Metaphysik. Die Grundlegung erfolgt nicht durch eine andere philosophische Disziplin, sondern durch Metaphysik selbst. Zwar nennt Kant in der Einleitung die Kritik der reinen Vernunft eine ›besondere Wissenschaft‹, eine »Wissenschaft der bloßen Beurtheilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen als die Propädeutik zum System der reinen Vernunft« (KrV B 24 f.). Diese ›besondere Wissenschaft‹ ist aber nicht eine der Metaphysik als solcher vorgeschaltete nichtmetaphysische Wissenschaft, sondern selbst Metaphysik, eben die »Metaphysik von der Metaphysik«. Diese Metaphysik ist die Selbstkritik der Metaphysik, die als solche zur Metaphysik im weiten Sinne gehört. Die Grundlegung der Metaphysik als System ist metaphysische Selbstgrundlegung der Metaphysik und in diesem Sinne »Metaphysik von der Metaphysik«. In dieser Formel meint die zuerst genannte ›Metaphysik‹ die selbstkritische Thematisierung der reinen theoretischen Vernunft hinsichtlich ihrer Prinzipien der Erkenntnis a priori. So gesehen ist sie Metaphysik der reinen theoretischen Vernunft, die sich hinsichtlich ihrer Prinzipien a priori selbst durchsichtig macht. Die so verstandene Metaphysik der reinen theoretischen Vernunft ist als Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik ›von der Metaphysik‹. Die in der Formel »Metaphysik von der Metaphysik« an zweiter
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Stelle stehende ›Metaphysik‹ nennt das vollständige System der Metaphysik. Die Metaphysik im ganzen und als System bedarf keiner fremden philosophischen Disziplin für ihre Grundlegung, weil sie ihre Grundlegung als Selbstgrundlegung und Selbstkritik selbst zu übernehmen vermag. Innerhalb der Philosophie bleibt für Kant die Metaphysik – auch dort, wo es um deren Grundlegung geht, die Erste Philosophie. In ihrem Rang, Erste Philosophie zu sein, wird sie nicht etwa durch eine kritizistische Erkenntnistheorie abgelöst. Die metaphysische Selbstgrundlegung der Metaphysik, d. h. hier der Erkenntnis a priori von der Seinsverfassung des Seienden als des Gegenstandes der Erfahrung, führt innerhalb der Metaphysik zu einer ›gänzlichen Veränderung der Denkungsart in diesem uns so innig angelegenen Theile menschlicher Erkenntnisse‹. In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant von der »Revolution« der »Denkart« (KrV B XIII f.), die er »mit den ersten Gedanken des Copernicus« vergleicht (KrV B XVI), mit der Ablösung des geozentrischen Systems des Ptolemäus durch das heliozentrische System des Kopernikus. Im Anschluß an diesen Kantischen Vergleich spricht man von der ›kopernikanischen Wende‹, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft für die Philosophie herbeigeführt habe. Doch diese kopernikanische Wende ist nicht Ergebnis einer Erkenntnistheorie, sondern der selbstkritischen Grundlegung der Metaphysik, der Metaphysik von der Metaphysik. Demzufolge ist die Revolution der Denkungsart oder kopernikanische Wende keine Ablösung der überlieferten Ontologie und Metaphysik durch eine Erkenntnistheorie, sondern eine innermetaphysische Umänderung der Denkungsart. Die metaphysische Selbstgrundlegung der Metaphysik auf dem Wege einer Kritik der reinen Vernunft löst lediglich die dogmatisch verfahrende Metaphysik und deren dogmatische Denkungsart ab und setzt an deren Stelle die kritische Metaphysik, die in sich Kritik und System ist. In seinem Kantbuch von 1929 spricht Heidegger zu dem Satze aus Kants Brief an Marcus Herz: »Schwer wird diese Art Nachforschung immer bleiben. Denn sie enthält die Metaphysik von der Metaphysik …«. Er sagt: »Dieses Wort schlägt jeden Versuch, in der Kritik der reinen Vernunft auch nur teilweise eine ›Erkenntnistheorie‹ zu suchen, endgültig nieder, verpflichtet aber auch jede Wiederholung einer Grundlegung der Metaphysik dazu, über diese ›Metaphysik von der Metaphysik‹ so weit ins klare zu kommen, daß sie sich auf einen konkreten Boden bringen läßt, der dem Geschehen der Grund-
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legung eine mögliche Bahn gewährt.«2 Während für Kant die Grundlegung der Metaphysik sich als Metaphysik der reinen theoretischen Vernunft vollzieht, ergreift Heidegger die Wiederholung einer Grundlegung der Metaphysik als Metaphysik des Daseins. Wenn Kant die Kritik der reinen Vernunft als eine »Metaphysik von der Metaphysik« bestimmt, springt er nicht aus der Geschichte der Metaphysik heraus, um die Erste Philosophie in einer kritizistischen, transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie zu sehen. Vielmehr verbleibt er innerhalb des Geschichtsganges der Metaphysik und gibt dieser eine gegenüber der Überlieferung gewandelte Gestalt.
5. Transzendentalphilosophie als kritische Ontologie Aus den zahlreichen Selbstinterpretationen Kants ragt eine Schrift heraus, die er 1793, zwölf Jahre nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft, verfaßt hat. Veranlassung zu dieser in drei unvollendeten Handschriften vorliegenden Schrift war eine Preisfrage, die die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzt hatte. Deshalb trägt diese Schrift den Titel »Über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?« Zwar hat Kant diese Schrift nicht vollendet und deshalb auch nicht der Akademie eingereicht. Doch was als Kants Lösung dieser Preisfrage vorliegt und im Todesjahr Kants 1804 von Friedrich Theodor Rink herausgegeben wurde, ist von größter Bedeutung für Kants Selbstverständnis und selbstinterpretatorische Einordnung der Kritik der reinen Vernunft in die Geschichte der Metaphysik. In der Vorrede zu dieser Schrift heißt es (FM A 10 f. = AA 20,260): »Die Ontologie ist diejenige Wissenschaft (als Theil der Metaphysik), welche ein System aller Verstandesbegriffe und Grundsätze, aber nur so fern sie auf Gegenstände gehen, welche den Sinnen gegeben, und also durch Erfahrung belegt werden können, ausmacht. Sie berührt nicht das Übersinnliche, welches doch der Endzweck der Metaphysik ist, gehört also zu dieser nur als Propädeutik, als die Halle, oder der Vorhof der eigentlichen Metaphysik, und wird 2
Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, 230 f.
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Transscendental-Philosophie genannt, weil sie die Bedingungen und ersten Elemente aller unserer Erkenntniß a priori enthält.« Kant faßt hier also das »System aller Verstandesbegriffe und Grundsätze« von den Gegenständen der Erfahrung, d. h. aber den positiven Gehalt der Kritik der reinen Vernunft, als Ontologie. Wie wir sehen, spricht er vom System nicht nur in bezug auf das System der Metaphysik, sondern hier in bezug auf die Kritik. Diese ist selbst System, zwar nicht im Sinne der vollständigen Darstellung aller wahren und scheinbaren philosophischen Erkenntnisse aus reiner Vernunft, wohl aber System in der Bedeutung der systematischen Vollständigkeit und Ordnung aller reinen Verstandesbegriffe und Grundsätze des reinen Verstandes, die aus den reinen Verstandesbegriffen herfließen. Das System der reinen Verstandesbegriffe und Grundsätze des reinen Verstandes ist der Gehalt jenes ersten Teiles der Kritik der reinen Vernunft, der die transzendentale Ästhetik und transzendentale Analytik umschließt. Gerade in diesem ersten Teil vollzieht sich Kants kritisch-metaphysische Grundlegung der auf ihn aus der Leibniz-Wolffschen Schulmetaphysik überkommenen Metaphysica generalis (bzw. universalis) sive Ontologia. Für A. G. Baumgarten ist die Ontologie scientia praedicatorum entis generaliorum,3 die Wissenschaft von den allgemeinen Prädikaten des Seienden, d. h. von der Seinsverfassung eines jeden Seienden. Die Ontologie ist die Metaphysica generalis sive universalis, die allgemeine Metaphysik, im Unterschied zur speziellen Metaphysik, der Metaphysica specialis als der Metaphysik von der Welt, der Seele und von Gott. Von der Ontologie war schon einmal die Rede, und zwar im Zusammenhang der inneren Einteilung des Systems der Metaphysik der Natur. In diesem bildet die Ontologie den ersten Teil des Systems. In der Architektonik der reinen Vernunft sagt Kant von dieser Ontologie: sie »betrachtet nur den Verstand und Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objecte anzunehmen, die gegeben wären«.4 Demgegenüber heißt es in dem oben gegebenen Zitat aus der Vorrede zu den Fortschritten der Metaphysik, die Ontologie sei diejenige Wissenschaft, die ein System aller Verstandesbegriffe und Grundsätze ausmacht, die auf den Sinnen gegebene Gegenstände gehen. Hier also faßt Kant die Ontologie innerhalb der Kritik als die kritische Grundlegung der Ontologie qua Metaphysica generalis. Die durch Kant in 3 4
Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica. Hildesheim 1963, 2 (§ 4). KrV B 873.
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der transzendentalen Ästhetik und Analytik kritisch-metaphysisch durchgeführte Ontologie führt innerhalb der Kritik der reinen Vernunft zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Metaphysica specialis und deren drei Disziplinen. Die kritische Auseinandersetzung mit der Metaphysik der Seele, der Welt und von Gott erfolgt im zweiten Teil der Kritik der reinen Vernunft, in der transzendentalen Dialektik. Somit ergibt sich, daß der Gliederung der Kritik der reinen Vernunft außer dem formalen Gliederungsprinzip aus der formalen Logik in Elementar- und Methodenlehre das inhaltliche Gliederungsprinzip der LeibnizWolffschen Schulmetaphysik in Metaphysica generalis und Metaphysica specialis zugrundeliegt. Dieses Gliederungsprinzip bildet auch noch, wie wir gesehen haben, für das System der Metaphysik der Natur die Orientierung. Transzendentale Ästhetik und Analytik ergeben zusammen Kants kritischmetaphysische Umgestaltung der Metaphysica generalis bzw. Ontologie. Die transzendentale Dialektik aber ist Kants kritisch-metaphysische Auseinandersetzung mit der überkommenen Metaphysica specialis, die zu dem Ergebnis führt, daß Seele, Welt und Gott zwar keine Erkenntnisgegenstände der theoretischen Vernunft, keine Themen der Metaphysik der theoretischen Vernunft sind, wohl aber Themen der praktischen Vernunft. Das bedeutet, daß Kant die Themen der überkommenen Metaphysica specialis zu solchen der reinen praktischen Vernunft erklärt, während die reine theoretische Vernunft nur auf Gegenstände der Erfahrung geht. Welt, Seele und Gott als Erkenntnisgegenstände der dogmatisch verfahrenden Metaphysica specialis werden innerhalb der kritisch-metaphysisch grundgelegten und so kritisch verfahrenden Metaphysik, in der Metaphysik der reinen praktischen Vernunft, zu den drei großen Fragen nach Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott. Kant gründet die Metaphysica generalis oder Ontologie neu durch die kritisch-metaphysische Untersuchung, wie der reinen theoretischen Vernunft Erkenntnisse a priori von der Seinsverfassung der Gegenstände der Erfahrung möglich sind. Diese kritisch-metaphysische Untersuchungsart und Wissenschaft nennt er »Transscendental-Philosophie«, die so heißt, »weil sie die Bedingungen und ersten Elemente aller unserer Erkenntniß a priori enthält« (FM A 11 = AA 20,260). Die Ontologie ist zugleich Transzendental-Philosophie. Die Gleichsetzung von Ontologie und Transzendental-Philosophie findet sich bereits in der Architektonik der reinen Vernunft. Dort heißt es: »Die im engeren Verstande so genannte Metaphysik [Metaphysik der Natur] besteht
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aus der Transscendentalphilosophie und der Physiologie der reinen Vernunft. Die erstere betrachtet nur den Verstand und Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objecte anzunehmen, die gegeben wären (Ontologia)« (KrV B 873). Hier sind Ontologie und Transzendental-Philosophie in ihrer vollständigen Darstellung innerhalb des Systems der Metaphysik der Natur gemeint. In gleicher Weise spricht Kant in der Einleitung der Kritik von der Transzendental-Philosophie (KrV B 25 und 27). Darnach ist die Kritik zwar transzendentale Erkenntnis, aber selbst noch nicht Transzendental-Philosophie, wenn mit dieser das vollständige System aller Begriffe a priori von Gegenständen überhaupt gemeint ist, das auch die Analysis der ganzen menschlichen Erkenntnis a priori enthält, die außerhalb der Kritik bleibt. In den Fortschritten der Metaphysik aber bezieht Kant Ontologie und Transzendental-Philosophie auf die Kritik. Zwar ist die Kritik der reinen Vernunft nicht Transzendentalphilosophie im Sinne des vollständigen Systems der reinen theoretischen Vernunft (weil sie nicht wie jenes die vollständige Analysis der Erkenntnis a priori enthält), wohl aber als transzendentale Kritik, zu der die vollständige Synthesis der Erkenntnis a priori gehört. Die Kritik der reinen Vernunft ist nun aber transzendentale Erkenntnis, sofern sie sich »mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt« (KrV B 25). In der ersten Auflage heißt es statt »mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll«: »mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt« (KrV A 11 f.). Zur transzendentalen Erkenntnis der Kritik gehören zwei deutlich voneinander abgehobene Schritte. Der erste Schritt besteht im sicheren Nachweis, daß Raum und Zeit und die Kategorien apriorischen Wesens sind. Der zweite Schritt zeigt auf, wie die apriorischen Anschauungsformen und Kategorien, die in ihrer Apriorität subjektiven Ursprungs sind, vor dem jeweiligen empirischen Gegebensein der Gegenstände diese a priori hinsichtlich ihrer nichtempirischen Gegenständlichkeit (Seinsverfassung) bestimmen. Der erste Schritt wird in der Kritik der reinen Vernunft unter der Bezeichnung einer metaphysischen Erörterung und metaphysischen Deduktion, der zweite Schritt unter dem Namen einer transzendentalen Erörterung und transzendentalen Deduktion ausgeführt. Wenn die Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik von der Metaphysik ist (und als Metaphysik transzendentale Kritik), dann können wir diese Metaphysik der reinen theoretischen Vernunft als eine Transzendental-Metaphysik kennzeichnen.
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Wie wir aus den Fortschritten der Metaphysik erfahren, versteht Kant seine Transzendental-Philosophie als Ontologie und diese als Teil der Metaphysik im ganzen. Die Transzendental-Philosophie der Kritik der reinen Vernunft ist kritisch verwandelte Ontologie oder allgemeine Metaphysik und als solche die metaphysische Grundlegung der Metaphysik der Natur als System. Die Transzendental-Philosophie löst nicht Ontologie und Metaphysik ab, sondern ist die aus der metaphysischen Selbstkritik der reinen Vernunft hervorgehende neue Ontologie. Kant selbst ist es, der in der von ihm entworfenen Transzendental-Philosophie nicht etwa eine Erkenntnistheorie sieht, sondern die vernunftkritische Gestalt der Ontologie oder allgemeinen Metaphysik. Diese ist freilich Ontologie nur vom Seienden als den Gegenständen der Erfahrung. Die großen Themen der Metaphysica specialis werden innerhalb der metaphysischen Vernunftkritik zu Themen der praktischen Vernunft und praktischen Erkenntnis erhoben. Sie werden als Themen der Metaphysica specialis nicht verworfen, sondern lediglich der theoretischen Vernunft entzogen, um sie als Themen der praktischen Vernunft zu gründen.
6. Die Kritik der reinen Vernunft als das dritte Stadium im Gang der Geschichte der Metaphysik Kant bestimmt die Kritik der reinen Vernunft nicht nur als einen Teil der Metaphysik im ganzen und nicht nur als kritisch geläuterte Ontologie, sondern er ordnet darüber hinaus in den Fortschritten der Metaphysik die Kritik der reinen Vernunft und die Transzendental-Philosophie in den Gang der Geschichte der Metaphysik ein. In der Vorrede zu dieser Schrift heißt es (FM A 20 = AA 20,263 f.): »Der dritte und neueste Schritt, den die Metaphysik gethan hat, und der über ihr Schicksal entscheiden muß, ist die Kritik der reinen Vernunft selbst, in Ansehung ihres Vermögens, das menschliche Erkenntniß überhaupt, es sey in Ansehung des Sinnlichen oder Übersinnlichen, a priori zu erweitern.« Thema der Metaphysik ist Kant zufolge die Erkenntnis a priori durch reine Vernunft. Die reine Vernunft ist jenes Erkenntnisvermögen, das sich aufgrund seiner reinen Erkenntnisprinzipien auf seinen Gegenstand bezieht. Rein sind diese Prinzipien, weil sie frei sind von allem, was aus der sinnlichen Erfahrung stammt. Die reine Vernunft verfügt über die reinen Prinzipien vor ihrer wahrnehmenden Begegnung mit den Gegenständen. Die reinen
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Erkenntnisprinzipien sind deshalb Erkenntnisprinzipien a priori. Die Gegenstandserkenntnis selbst ist ein Ganzes aus apriorischen und aposteriorischen, empirischen Elementen. Die Metaphysik hat es nur mit der apriorischen Erkenntnis und deren Elementen zu tun. Deshalb stellt Kant an den Anfang seiner Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft den Abschnitt »Von dem Unterschiede der reinen und empirischen Erkenntniß« (KrV B 1). Der dritte Schritt im Geschichtsgang der Metaphysik als der Wissenschaft von der Erkenntnis a priori besteht nun nicht nur überhaupt in einer wissenschaftlichen Behandlung der Erkenntnis a priori aus reiner Vernunft, sondern in jener Behandlungs- und Untersuchungsart, die den Charakter der Selbstkritik der reinen theoretischen Vernunft hat. Kritik aber heißt dann: unterscheidende Untersuchung des reinen Vernunftvermögens selbst im Hinblick darauf, wie überhaupt und aus welchen Vernunftquellen eine Erkenntnis a priori möglich ist. Wie benennt Kant die Gegenstände, in bezug auf welche die reine theoretische Vernunft Erkenntnisse a priori beansprucht? Kant sagt: »in Ansehung des Sinnlichen oder Übersinnlichen«. Das Sinnliche ist das, was uns in der sinnlichen Erkenntnis gegeben ist, die Gegenstände der Wahrnehmung. Aber die Wahrnehmungsgegenstände sind selbst nicht nur das, als was sie uns über die Sinne gegeben werden, sondern davon unabhängig auch das, was wir von ihnen vor ihrem empirischen Gegebenwerden und somit a priori erkennen. Die Kritik der reinen Vernunft ist die Untersuchung, wie Erkenntnis a priori in bezug auf jene Gegenstände, die uns in der Wahrnehmung gegeben werden, möglich ist. Das aber ist die Frage, in der die allgemeine und eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft liegt (KrV B 19): »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« Die Metaphysik hat aber seit ihrem Beginn Erkenntnisse a priori aus reiner Vernunft auch von solchen Gegenständen behauptet, die ihrem Wesen nach niemals in der Wahrnehmung und Erfahrung gegeben werden können. Diese nichtsinnlichen Gegenstände bilden den Bereich des Übersinnlichen. Die drei Hauptgegenstände des Übersinnlichen sind: die Welt als das vollständige Ganze der Natur, die Unsterblichkeit der Seele und Gott als die Ganzheit aller Realität (omnitudo realitatis). Hinsichtlich dieser übersinnlichen Gegenstände muß die Kritik der reinen Vernunft untersuchen, ob sie als Erkenntnisse a priori der reinen theoretischen Vernunft möglich sind. Diese kritisch-metaphysische Untersuchung erfolgt als transzendentale Dialektik.
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Auch diese ist als der zweite Teil der Kritik der reinen theoretischen Vernunft Metaphysik, weil auch sie die Erkenntnisse a priori der reinen theoretischen Vernunft im engeren Sinne, des Vermögens der Ideen, untersucht. Bevor Kant in seiner Vorrede zu den Fortschritten der Metaphysik die Kritik der reinen Vernunft bzw. den Kritizismus als den dritten und neuesten Schritt der Metaphysik kennzeichnet, blickt er auf die beiden vorangehenden Stadien der Metaphysik, auf den Dogmatismus und den Skeptizismus zurück. Ihm zufolge hat damit die Metaphysik insgesamt drei Stadien vollzogen. Kants Kennzeichnung des ersten Stadiums im Geschichtsgang der Metaphysik beginnt so (FM A 15 = AA 20,261 f.): »Die ersten und ältesten Schritte der Metaphysik wurden nicht etwa als bedenkliche Versuche blos gewagt, sondern geschahen mit völliger Zuversicht, ohne vorher über die Möglichkeit der Erkenntnisse a priori sorgsame Untersuchungen anzustellen.« Die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnisse a priori ist die Fragestellung des Kritizismus. Das gegenteilige Verfahren der Metaphysik nennt Kant den Dogmatismus, der soviel besagt wie: geradehin Erkenntnisse a priori vollziehen sowohl in bezug auf sinnliche wie in bezug auf übersinnliche Gegenstände. In einer solchen Geradehineinstellung der Metaphysik und ihres Verfahrens bleibt die kritische Frage aus, ob überhaupt und wie theoretische Erkenntnisse a priori möglich sind, ob sie sowohl von sinnlichen wie von übersinnlichen Gegenständen oder vielleicht nur von sinnlichen Gegenständen möglich sind. Die Ursache für das Vertrauen der theoretischen Vernunft zu sich selbst, geradehin ohne Selbstkritik Erkenntnisse a priori in bezug auf sinnliche wie übersinnliche Gegenstände zu beanspruchen, sieht Kant im unangefochtenen Gelingen der mathematischen Erkenntnis, die auch eine Erkenntnis a priori der reinen theoretischen Vernunft ist. Weil es der Vernunft in der Mathematik gelang, die Beschaffenheit der mathematischen Gegenstände a priori zu erkennen, meint sie, daß es ihr ebenso gut auch in der Philosophie als der Metaphysik gelingen müsse. In dieser Meinung übersah jedoch die Vernunft den Wesensunterschied zwischen Philosophie (Metaphysik) und Mathematik, zwischen ihrem philosophischen bzw. spekulativen und ihrem mathematischen Gebrauch. Diesen Wesensunterschied übersah die reine Vernunft, weil sie dogmatisch und nicht kritizistisch verfuhr. Kants Wesensverständnis der Mathematik zufolge bewegt sich diese auf dem Boden der reinen Sinnlichkeit von Raum und Zeit als den reinen Anschauungsformen. Auf diesem Boden der reinen Sinnlichkeit konstruiert die reine mathematische Vernunft die
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mathematischen Begriffe, so, daß sie diese in der reinen Anschauung darstellt und so die mathematischen Gegenstände a priori erkennt. Demgegenüber ist für Kant die Philosophie als Metaphysik eine synthetische Erweiterung der Erkenntnis der reinen theoretischen Vernunft durch »bloße Begriffe« (FM A 15 = A 20,262). Der Kritizismus der reinen Vernunft scheidet zwischen reiner Mathematik und reiner Philosophie als Metaphysik. Dieser Unterscheidung gemäß ist reine Mathematik Vernunfterkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe in der reinen Anschauung, Philosophie als Metaphysik dagegen Vernunfterkenntnis aus bloßen Begriffen. Ist die Einsicht in diesen Wesensunterschied einmal gewonnen, kann die Mathematik nicht mehr die Metaphysik dazu verleiten, Erkenntnisse a priori in einfacher Analogie zur Mathematik zu beanspruchen. Den Unterschied zwischen den mathematischen und den philosophisch-metaphysischen Begriffen nennt Kant einen »himmelweiten Unterschied« (FM A 16 = AA 20,262). Aus dem Standpunkt des Kritizismus ist eine Erweiterung der Erkenntnis a priori durch bloße Begriffe nur soweit möglich, wie die philosophisch-metaphysischen Begriffe und die aus ihnen gebildeten Grundsätze mit der Erfahrung übereinstimmen. Die metaphysischen Begriffe, die Kategorien des reinen Verstandes, führen nur insoweit zu wahrer Erkenntnis a priori, als sie Begriffe a priori nur von sinnlichen Gegenständen sind. Obwohl das Übersinnliche als der Endzweck der reinen Vernunft in der Metaphysik kein Erkenntnisgegenstand der theoretischen Vernunft (wohl aber der praktischen Vernunft) sein kann, »wanderten die Metaphysiker doch an dem Leitfaden ihrer ontologischen Prinzipien«, die nur für Gegenstände der Erfahrung Gültigkeit haben, »getrost fort« zu vermeintlichen Erkenntnissen a priori (FM A 16 = AA 20,262), die durch keine Erfahrung bestätigt, aber auch durch keine Erfahrung widerlegt werden konnten. Denn sie betrafen nicht sinnliche, sondern übersinnliche Gegenstände. Das einzige, worauf die dogmatisch verfahrenden Metaphysiker achteten, war die Vermeidung eines Widerspruchs. Die Beachtung des Grundsatzes vom zu vermeidenden Widerspruch schien ihnen schon die Wahrheit ihrer Erkenntnisse a priori vom Sinnlichen wie vom Übersinnlichen zu verbürgen. Von dieser dogmatischen Verfahrensweise der Metaphysik in deren erstem Stadium sagt Kant (FM A 17 = AA 20,262): »Dieser Gang der Dogmatiker von noch älterer Zeit, als der des Plato und Aristoteles, selbst die eines Leibnitz und Wolf mit eingeschlossen, ist, wenn gleich nicht der rechte, doch der natürlichste nach dem Zweck der Vernunft und der scheinbaren Überredung,
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daß Alles, was die Vernunft nach der Analogie ihres Verfahrens, womit es ihr gelang, vornimmt, ihr eben so wohl gelingen müsse.« Weil sich aber die dogmatisch verfahrende Metaphysik von ihrem Anfang an in gegensätzliche Behauptungen verstrickt habe, entstand schon in der Antike eine zweite Verfahrensweise der Vernunft, der Skeptizismus. Hierzu heißt es (FM A 17 f. = AA 20,262 f.): »Der zweyte, beynahe ebenso alte, Schritt der Metaphysik war dagegen ein Rückgang, welcher weise und der Metaphysik vortheilhaft gewesen seyn würde, wenn er nur bis zum Anfangspunkte des Ausganges gereicht wäre, aber nicht um dabey stehen zu bleiben mit der Entschließung, keinen Fortgang ferner zu versuchen, sondern ihn vielmehr in einer neuen Richtung vorzunehmen.« Die skeptizistische Verfahrensweise begrüßt Kant insoweit, als sie die Vernunft aus der unkritischen Geradehineinstellung zurückholt. Weil jedoch der Skeptizismus nicht wie der Kritizismus zu einer Selbstkritik der reinen Vernunft findet, sondern jegliche Erkenntnis a priori leugnet, nicht nur in bezug auf das Übersinnliche, sondern auch in bezug auf die sinnlichen Gegenstände, unterzieht Kant auch den Skeptizismus einer Kritik. Vom zweiten Stadium der Metaphysik, vom Skeptizismus, heißt es (FM A 19 = AA 20,263): »Dieser Gang der Sceptiker ist natürlicher Weise etwas spätern Ursprungs, aber doch alt genug, zugleich aber dauert er noch immer in sehr guten Köpfen allenthalben fort, obwohl ein anderes Interesse, als das der reinen Vernunft, Viele nöthiget, das Unvermögen der Vernunft hierin zu verhehlen.« Ihrer Leugnung der Erkenntnis a priori in der Metaphysik hält Kant entgegen, daß ihre »Ausdehnung der Zweifellehre, sogar auf die Prinzipien der Erkenntnis des Sinnlichen, und auf die Erfahrung selbst« nicht für eine ernstliche Meinung gehalten werden könne (FM A 20 = AA 20,263). Die Zweifellehre der Skeptiker sei aber vielleicht eine Aufforderung an die Dogmatiker gewesen, »diejenigen Principien a priori, auf welchen selbst die Möglichkeit der Erfahrung beruht, zu beweisen, und da sie dieses nicht vermochten, die letztere ihnen auch als zweifelhaft vorzustellen« (FM A 20 = AA 20,263). Unmittelbar anschließend charakterisiert Kant das dritte, durch ihn selbst, insbesondere durch die Kritik der reinen Vernunft begründete Stadium der Metaphysik (FM A 20 = AA 20,263 f.): »Der dritte und neueste Schritt, den die Metaphysik gethan hat, und der über ihr Schicksal entscheiden muß, ist die Kritik der reinen Vernunft selbst, in Ansehung ihres Vermögens, die menschliche Erkenntniß überhaupt, es sey in Ansehung des Sinnlichen oder Übersinnlichen, a priori zu erweitern.« Mit diesem Satz stehen wir nun vor
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einem hoch bedeutsamen selbstinterpretatorischen Beleg dafür, daß Kant seinen Schritt einer Selbstkritik der reinen Vernunft als einen Schritt der Metaphysik versteht, durch den die Metaphysik allererst zu ihrer Selbstdurchsichtigkeit gelangt. Die Schrift Über die Fortschritte der Metaphysik ist deshalb von so herausragender Bedeutung, weil Kant in ihr die Kritik der reinen Vernunft und die Transzendentalphilosophie in den Geschichtsgang der Metaphysik als deren drittes Stadium einordnet. Wenn die Kritik der reinen Vernunft das, was sie verheißt, geleistet habe, »nämlich den Umfang, den Inhalt und die Grenzen desselben«, d. h. des reinen theoretischen Vernunftvermögens, »zu bestimmen, – wenn sie dieses in Deutschland und zwar seit Leibnitzens und Wolfs Zeit geleistet hat, so würde die Aufgabe der Königlichen Akademie der Wissenschaften aufgelöset seyn« (FM A 20 f. = AA 20,264). Die Selbstkritik der reinen Vernunft hinsichtlich ihres Umfanges, ihres Inhaltes und ihrer Grenzen, die Entscheidung darüber, wie weit die Erkenntnisse a priori der reinen theoretischen Vernunft in gesicherter Weise reichen, diese Selbstkritik der reinen theoretischen Vernunft versteht Kant als eine Metaphysik von der Metaphysik, als die metaphysische Grundlegung der Metaphysik als System. Seinen Überblick über den Geschichtsgang der Metaphysik abschließend sagt Kant (FM A 21 = AA 20,264): »Es sind also drey Stadien, welche die Philosophie zum Behuf der Metaphysik durchzugehen hatte. Das erste war das Stadium des Dogmatism; das zweyte das des Sceptizism; das dritte das des Kriticism der reinen Vernunft.« Nach der Einordnung der Kritik der reinen Vernunft in den Geschichtsgang der Metaphysik als deren drittes Stadium, in welchem sie »in einen beharrlichen Zustand, nicht allein des Äußern, sondern auch des Innern« versetzt wird (FM A 12 = AA 20,264), stellt Kant zu Beginn des in zwei Abteilungen gegliederten Hauptteils der Abhandlung, also zu Beginn der ersten Abteilung unter dem Titel »Geschichte der Transscendentalphilosophie unter uns in neuerer Zeit« drei Hauptschritte heraus, in denen sich die Transzendentalphilosophie in der Kritik der reinen Vernunft herausgebildet hat. Der erste Schritt der Transzendentalphilosophie ist »die Unterscheidung der analytischen von den synthetischen Urtheilen überhaupt« (FM A 23 = AA 20,265). Der zweite Schritt der Transzendentalphilosophie in der Kritik der reinen Vernunft ist die Frage (FM A 24 = AA 20,266): »Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?«
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Als dritten Schritt der Transzendentalphilosophie nennt Kant die Lösung der Aufgabe (FM A 24 = AA 20,266): »Wie ist aus synthetischen Urtheilen ein Erkenntniß a priori möglich?« Wir sind gewohnt, gerade diese drei Grundfragen der Kritik der reinen Vernunft als Grundfragen der Kantischen, d. h. der kritizistischen Erkenntnistheorie aufzunehmen. Auf dem zurückgelegten Gang unserer Ausführungen haben wir jedoch eine Reihe von gewichtigen selbstinterpretatorischen Textstellen Kants heranziehen können, in denen Kant die in diesen drei Grundfragen zentrierende Transzendentalphilosophie der Kritik der reinen Vernunft als Selbstgrundlegung der Metaphysik, als Metaphysik von der Metaphysik, als das dritte Stadium im Geschichtsgang der Metaphysik bestimmt. Kant selbst versteht seinen Kritizismus nicht als eine den Systemen der Metaphysik der Natur und der Sitten vorgeschaltete Erkenntnistheorie, sondern als die metaphysische Selbstkritik der Metaphysik. Für Kant gibt die Metaphysik die Aufgabe einer Kritik der reinen theoretischen Vernunft nicht an eine andere Disziplin ab, um sich von dieser kritisch grundlegen zu lassen, sondern führt die von ihr selbst gestellte Aufgabe einer vorangehenden Kritik als die metaphysische Aufgabe einer Selbstkritik der reinen Vernunft durch. Die Selbstkritik der reinen theoretischen Vernunft vollbringt sich als die Metaphysik von der Metaphysik. Für ein wissenschaftlich-philosophisches Unternehmen, Kants Metaphysik und Religionsphilosophie in ihren Grundzügen zu bearbeiten, ist es von entscheidender Bedeutung, darum zu wissen, daß Metaphysik und Religionsphilosophie nicht erst auf eine vormetaphysische Erkenntnistheorie folgen, sondern daß der Eingang in die kritische Philosophie Kants, die »Kritik der reinen theoretischen Vernunft«, von vornherein Metaphysik ist, Metaphysik von der Metaphysik und Religionsphilosophie.
Ich und Seele. Zu Kants »Paralogismen der reinen Vernunft« von Paola-Ludovika Coriando
»Auch hat er die Ewigkeit in das Herz des Menschen gelegt; nur daß dieser nicht ergründen kann das Werk Gottes, weder Anfang noch Ende.« Kohelet 3,11
1. Die Paralogismen der reinen Vernunft und ihre Stellung innerhalb der transzendentalen Dialektik a) Die transzendentale Dialektik zwischen Destruktion und Neugrundlegung der Metaphysik Die Kluft zwischen Denken und Erkennen, zwischen theoretisch begründeter Einsicht und moralischem Postulat war dem vorkritischen Denken nicht völlig unbekannt. So unterscheidet Leibniz – am Cartesischen Leitfaden der clara et distincta perceptio – einen nur als Grenzfall denkbaren, die Totalität des Universums einschließenden vollständigen Begriff der monadischen Substanz und das konkrete Sein der jeweiligen endlichen Monade, die die Gesamtheit des Universums in zum größten Teil nur verworrenen und dunklen Perzeptionszuständen widerspiegelt. Auch für die Leibnizsche Metaphysik ist die Totalität des Universums – das Absolute und Ewige – letztlich kein möglicher Gegenstand einer (erschöpfenden) theoretischen Betrachtung, sondern eine in der Lehre der universellen Harmonie postulierte moralische Instanz. Indes wird diese Spannung im Wesen der menschlichen Vernunft erst mit Kant ausdrücklich zum Gegenstand einer philosophischen Reflexion. Die kritische Philosophie ist das Dokument einer radikalen Erschütterung im Wesen des Denkens, an deren Enden zwei grundsätzlich unvereinbare Möglichkeiten des Selbst-, Welt- und Gottesverständnisses des Menschen stehen.
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Freilich erwächst diese Krisis selbst aus einem metaphysisch geleiteten Anliegen und führt nicht zu einer totalen Infragestellung der abendländischen Überlieferung. Wie transzendentale Ästhetik und transzendentale Analytik die metaphysica generalis (Ontologie der Natur) nicht für ungültig erklären, sondern mit der Antwort auf die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori in ihrem (restringierten) Eigenbereich neu fundamentieren möchten, so bezweckt auch die kritische Destruktion der metaphysica specialis mit ihren drei Hauptthemen Seele, Welt und Gott keineswegs die endgültige Beseitigung der metaphysischen Ausrichtung der Philosophie. Am Grat zwischen der sichtbar gewordenen Fragwürdigkeit der überlieferten (spekulativen) und der für Kant noch maßgeblichen Notwendigkeit einer neu (im regulativ-praktischen Gebrauch) zu fundamentierenden Metaphysik verlaufend, steht die transzendentale Dialektik vor der doppelten Aufgabe, einerseits (in der pars destruens) aufzuzeigen, daß die vermeintlichen Erkenntnisse der rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie jeglicher Objektivität und damit jeglichen spekulativen Wahrheitsanspruchs entbehren – so, daß mit der Einschränkung der theoretischen Erkenntnis auf die Gegenstände möglicher Erfahrung der erkennende (ontologische) Zugang zum Transzendenten endgültig abgeschnitten ist –, andererseits aber auch, in der so gestifteten Distanz zwischen der menschlichen Natur und dem Übersinnlichen den Raum zu eröffnen für die Neugrundlegung der metaphysica specialis auf ethisch-praktischem Wege (in der pars construens). Mit der berühmten Wendung aus der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (B XXX): »ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«. Sichtbarstes Kennzeichen dieser Selbstpositionierung der kritischen Philosophie zwischen Destruktion der dogmatisch-spekulativen und Neugrundlegung einer in ihrer Valenz verwandelten Metaphysik ist die Wesensbestimmung der transzendentalen Ideen. Die Rückführung der obersten Erkenntnisse der metaphysica specialis auf »notwendige Vernunftbegriffe«, denen »kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann« (KrV A 327 / B 383), besiegelt die endgültige Unüberwindbarkeit der Kluft zwischen der Notwendigkeit und der gleichzeitigen prinzipiellen NichtEinlösbarkeit des theoretisch-metaphysischen Anspruchs im Wesen des Menschen. Die Ideen sind nicht »willkürlich erdichtet«, sondern »durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben« (KrV A 327 / B 383), durch die menschliche Natur, die den Menschen die Schranken der Endlichkeit in Richtung auf
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das Absolute, Ganze und Unbedingte nicht nur faktisch überschreiten läßt, sondern »zu überschreiten gebietet« (KrV B 353). Der in der klassischen Metaphysik für einen objektiven Erkenntnisgewinn gehaltene »Schein« eines Überstiegs des menschlichen Geistes zum Übersinnlichen ist daher eine »natürliche und unvermeidliche« Illusion (KrV A 298 / B 354), die nicht so sehr das Beschränkende der Endlichkeit anzeigt als vielmehr die eigentliche Würde der menschlichen Natur offenbart, deren eigenster Selbstvollzug (nicht erst und nicht nur der philosophisch Ausgebildete) in eben dieser über sich selbst hinausgehenden Ausrichtung besteht. So erweisen sich die transzendentalen Ideen zwar hinsichtlich der metaphysisch-theoretischen Erkenntnisse, die die vorkritische Philosophie, auf ihnen aufbauend, zu gewinnen vermeinte, als bloß »vernünftelnde« Schlüsse, von der reinen Vernunft hervorgebrachte »Sophisticationen« ohne Anspruch auf theoretische Konsistenz (KrV A 339 / B 397). Dennoch ist die kritische Destruktion des metaphysischen Gebrauchs der Ideen von vornherein vom Gedanken einer Neugrundlegung des eigentlichen Gehalts der Ideen getragen und geleitet, so daß die »Endabsicht der natürlichen Dialektik der reinen Vernunft« erst mit dem Aufweis des Primats der praktischen vor der theoretischen Philosophie, der die Orientierung an den Ideen zu einer »Maxime der reinen Vernunft« werden läßt, als erfüllt erachtet werden kann (vgl. KrV A 671 / B 699). Entsprechend dieser Positionierung der transzendentalen Dialektik zwischen Destruktion und Neugrundlegung der Metaphysik gipfelt der Paralogismen-Abschnitt aus der Kritik der reinen Vernunft, dem nachfolgende Überlegungen gewidmet sind, in einer vierfachen Destruktion des metaphysisch-dogmatischen Selbstverständnisses des Menschen, welche Destruktion aber zugleich die Neugewinnung dieses Selbstverständnisses auf ethischpraktischem Wege vorbereitet. Bevor diese doppelte Eigenvalenz in Kants Kritik der rationalen Seelenlehre nach einigen Hinsichten erörtert werden kann, soll noch kurz auf die Stellung der Paralogismen im System der transzendentalen Ideen eingegangen werden.
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b) Die Stellung der Paralogismen im System der transzendentalen Ideen und das Ich-denke als der »alleinige Text der rationalen Psychologie« Mit der Rückführung der transzendentalen Ideen auf die Relationsformen der Urteile verleiht Kant der dreifachen Ausrichtung der metaphysica specialis – über die Auseinandersetzung mit der Wolffschen-Baumgartschen Systematik hinaus – eine ontologische Legitimierung in der Wesensverfassung des menschlichen Selbstbewußtseins.1 In der Urteilstafel hatte Kant unter der Relationsgruppe drei »Verhältnisse des Denkens« unterschieden. Im ersten Modus (kategorisch) werden zwei Begriffe, im zweiten (hypothetisch) zwei Urteile, im dritten Modus (disjunktiv) mehrere Urteile »im Verhältnis gegeneinander betrachtet«.2 Während freilich im Urteil der Verstand erscheinende Verhältnisse gegeneinander in Verbindung bringt, die als so und so seiende erkannt werden, vollziehen die Vernunftideen einen ontologischen Sprung vom Bereich der Erscheinungen in das metaphysische Feld des Übersinnlichen und setzen so ihre jeweils bestimmte Ausrichtung auf das Absolute als eine metaphysische Realität. Das kategorische Verhältnis drückt das Verhältnis »des Prädicats zum Subject« aus oder – ontologisch gefaßt – das Verhältnis von Substanz und Akzidenzien, die Inhärenz (KrV A 73 / B 98). Diesem Modus korrespondiert im Vernunftvermögen die Idee der menschlichen Seele als einer einfachen, mit sich selbst identischen und immateriellen Substanz. Am Leitfaden der notwendigen Vorstellung eines letzten Subjektes geht das Denken in den Paralogismen aus vom transzendentalen Begriff des Subjektes und schließt auf die absolute Existenz dieses Subjektes als einer von allem Körperhaften unabhängigen Wirklichkeit. Die innerzeitlich gegebene Erfahrung der Einfachheit, Identität, Personalität und Immaterialität des Selbstbewußtseins wird als eine unabhängig von aller Erfahrung – unabhängig vom Leben – geltende metaphysische Realität gesetzt. Im hypothetischen Verhältnis kommt die Relation »des Grundes zur Folge« bzw. hier umgekehrt: der Folge zum Grund (Dependenz) zum AusZiel und systematische Bedeutung dieser Aufteilung bedürften – zumal in ihrer Verbindung mit der parallel verlaufenden Zuordnung der Ideen zu jeweils einer Urteilsmodalität (problematisch, assertorisch, apodiktisch) – einer eigenen Untersuchung. Wir beschränken uns hier auf eine gezielte Vergegenwärtigung der Grundthesen. 2 KrV A 73 / B 98. In dieser Aufstufung ist bereits der »natürliche Fortschritt« »von der Erkenntnis seiner selbst (der Seele) zur Welterkenntnis, und, vermittelst dieser, zum Urwesen« vorgezeichnet (KrV A 337 / B 394). 1
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druck (KrV A 73 / B 98). In diesem Verhältnis gründet die Frage nach der möglichen letzten Verfassung des Kosmos (nach den Welt-Gesetzen). So wie die Paralogismen sich auf das denkende Subjekt selbst zurückbeziehen, schließen die Antinomien (rationale Kosmologie) von der Reihe der Bedingungen einer gegebenen Erscheinung auf die mögliche (in sich widersprüchliche) Totalität dieser Bedingungen. Die Antinomien setzen jeweils den Grund aller Wirklichkeit (Hypo-thesis) als eine alles bedingende letzte Objektivität. Das disjunktive Verhältnis schließlich – das Verhältnis »der eingetheilten Erkenntniß und der gesammleten Glieder der Eintheilung unter einander« – gibt die Koordinaten vor für die Frage nach der möglichen Einheit aller Bedingungen (Konkurrenz).3 So schreitet das Ideal der reinen Vernunft (rationale Theologie), ausgehend von den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstandserfahrung, fort auf die »absolute synthetische Einheit aller Bedingungen der Möglichkeit der Dinge überhaupt« und somit auf das »Wesen aller Wesen« als Existenzgrund aller Seinsmöglichkeiten überhaupt, auf die omnitudo realitatis (vgl. KrV A 340 / B 398). Während die kosmologische und die theologische Idee somit erst in der Zuwendung des Geistes zum Anderen seiner selbst erwachsen – in der Hinwendung zur Welt als der Totalität des vor uns stehenden Seienden und durch diese hindurch zum höchsten Wesen als dem letzten Grund der Wirklichkeit überhaupt – und diese Hinwendung auf ontologischer Basis fundamentieren, verbleibt das Denken der Paralogismen bei sich selbst und der mit der Ansetzung des Ich als Selbstbewußtsein bereits abgegrenzten Eigensphäre des Subjekts.4 Das »Ich-denke« ist »der alleinige Text der rationalen Psychologie«5 – ein Text freilich, der durch das kritische Verfahren hindurch Ebd. Auf die nicht unproblematische Zuordnung der Frage nach einem höchsten Wesen, das auch noch die immanente Totalität der Welt-Ursachen transzendiert, zu dieser bestimmten Urteilsrelation, richtet Kant ein besonderes Augenmerk. Vgl. Heimsoeth: Transzendentale Dialektik, 65 f. und 76 f. 4 Vgl. KrV A 333 / B 390. Dort werden Kosmologie und Theologie zusammen unter der Vorstellung der »Beziehung auf Objecte« gedacht und von der Psychologie und ihrer »Beziehung zum Subject« unterschieden. 5 KrV A 343 / B 401. Die Paralogismen nehmen daher eine besondere Stellung innerhalb des Systems der transzendentalen Ideen ein, eine Eigenstellung, die sich besonders auch darin zeigt, daß die Grundaussagen der »Paralogismen« nicht nur das philosophisch ausgebildete, sondern, in die Sprache der vortheoretischen Lebenserfahrung übersetzt, gleichermaßen auch das alltägliche Selbstverständnis des Menschen betreffen. Das Selbstbewußtsein als Ausgangsboden der Philosophie, zugleich aber auch als im3
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sich als weitgehend unentzifferbar erweist und sich somit zum ersten Mal seit dessen Entdeckung jeglicher inhaltlichen (essentialen) Ausdeutung entzieht. Das scheinbar unvermittelte, von Ganzheit und Selbstbesitz geprägte Selbstverhältnis des Menschen im Selbstbewußtsein (das Cartesische cogito ergo sum) verliert den Status einer absoluten und unbedingten Sachgegebenheit und wird zum bloßen Formprinzip, das allem Verstandesgebrauch als formale Bedingung der Möglichkeit voraufgeht, ohne jedoch von den konkreten Ich-Vollzügen inhaltlich – als substanzielle Wesenheit – abgetrennt werden zu können. Der untilgbare Rückbezug des Subjektes auf sich selbst erweist sich hinsichtlich seines erkennbaren Sachgehaltes als der bloße Begriff (»oder, wenn man lieber will, das Urtheil«)6 meiner Gegebenheit als logisches Subjekt, die »alle meine Vorstellungen« muß »begleiten können«, in sich selber aber »nichts« ist als eben das Bewußtsein des Vorhandenseins dieser Vorstellungen (KrV B 131 f.). Die zwar unaufhebbare, aber völlig gehaltlose Gegebenheit eines Subjektes der Erfahrungen wird so nur noch »problematisch genommen« und kann nicht mehr als unbezweifelbare Drehangel einer inhaltlichen Unterscheidung zwischen Körper und Seele fungieren (KrV A 347 / B 405). Das Ich-denke ist nichts anderes und nichts mehr als die formale Anzeige für einen im Selbst des Menschen irgendwie – als Anspruch und notwendige Vorstellung – gegebenen, dem Menschen selbst jedoch auf theoretischem Wege unzugänglich bleibenden Sachverhalt (die Seele). Kannte die vorkritische Metaphysik nur zwei Möglichkeiten, der Selbstbegegnung des Menschen im Selbstbewußtsein philosophisch Rechnung zu tragen: entweder in der Ansetzung des Ich als Ding an sich mit der konsequenten Ausbildung einer rationalen Psychologie oder aber, auf der Ebene des Erfahrungsbedingten verbleibend und ohne Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeinheit der Erkenntnisse, in der empirischen Psychologie, so steht das Ich mit Kant erstmals vor der Kluft, die das Subjekt einerseits sich selbst als absolute Gegebenheit begegnen läßt und andererseits von einer realen plizit mitlaufende Selbstauslegung des einzelnen Menschen, hält damit über sich selbst Gericht. Nicht nur und nicht erst um Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Beweises der Unsterblichkeit der Seele geht es in den Paralogismen und deren kritischer Destruktion, sondern – durch diese Frage hindurch – um zwei antithetische Gestalten der Selbstbegegnung des Menschen als Subjekt und Selbstbewußtsein. 6 KrV A 341 / B 399.
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Inbesitznahme seiner selbst trennt.7 Die Paralogismen der reinen Vernunft bringen – unter Ausblendung des bloß empirischen Selbstbezuges – die zwei Seiten dieser Kluft ins Gespräch.8 Formales Ich und Seele als metaphysische Anzeige einer möglichen Selbstaneignung des Menschen stehen sich als die zwei Gegenpole jenes ungelösten Zwiespaltes gegenüber, für den die kritische Philosophie gleichermaßen als Auslöser und als Schlichter auftritt.
2. Von der Seele zum formalen Ich. Kants Destruktion der psychologia rationalis Die vier von Kant erörterten Paralogismen betreffen, in Anknüpfung an die Leibniz-Wolffsche Tradition und in systematischer Zuordnung zu den vier Gruppen der Kategorien, die Substanzialität, die Einfachheit, die Identität In scheinbarem Widerspruch dazu steht folgende Anmerkung in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: »Das: Ich denke ist […] ein empirischer Satz, und enthält den Satz: Ich existiere, in sich« (B 422, Anm.). Doch »empirisch« ist das Ich denke nur insofern, als es empirische Anschauungen formal begleitet und somit mit jeder möglichen Erfahrung stattfindet. Vgl. dazu Choi: Die Paralogismen der Seelenlehre in der ersten und der zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft«, 75 ff. 8 Dem Paralogismen-Stück hat Kant in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich eine Neufassung gegeben, die – ähnlich wie die Neubearbeitung der transzendentalen Deduktion der Kategorien in der Analytik – vor allem der besseren Verständlichkeit dieser schwierigen Passagen dienen sollte. Indes sind es, wie in der transzendentalen Deduktion, auch sachliche Entscheidungen, die Kant zu dieser Umformulierung veranlaßt haben, nicht zuletzt der neu hinzugefügte, für das ParalogismenStück nicht weniger als für die transzendentale Deduktion zentrale Begriff der »transscendentalen Apperception«. Ferner wurde in der zweiten Auflage der mißverständliche Terminus »transscendentaler Gegenstand« beseitigt (vgl. Heimsoeth: Transzendentale Dialektik, 164 ff.). Weil die Darstellung der Paralogismen in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft mit ihrer Einzelbehandlung der vier Vernunftschlüsse übersichtlicher ist, werde ich mich im folgenden darauf beziehen. – Rezeption und Wirkungsgeschichte der Kantischen Paralogismen-Lehre sind, gemessen an der Nachwirkung des Kantischen Denkens überhaupt, eher gering. Entsprechend übersichtlich ist die spezifische Literatur zum Thema. Als grundlegender Kommentar zu den Paralogismen sei auf das bereits erwähnte Werk hingewiesen: Heimsoeth: Transzendentale Dialektik, Erster Teil, 71–198. Vgl. ferner (als Auswahl aus den monographischen Beiträgen zu den Paralogismen): Ameriks: Kants Theory of mind; Winter: Seele als Problem in der Transzendentalphilosophie Kants unter besonderer Berücksichtigung des Paralogismen-Kapitels; Sellars: ›This I or He or It (the thing) wich thinks‹. I. Kant, Critique of 7
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(Personsein) sowie die Unbezweifelbarkeit und Apriorität der Seele.9 Formal gesehen handelt es sich Kant zufolge in allen vier Fällen um einen ähnlichen dialektischen Trugschluß: der Obersatz denkt das Ich als bloßen Begriff (transzendentaler Gebrauch der Kategorie), der Untersatz und der Schluß nehmen den Begriff dagegen als Anzeige einer Gegenstandserfahrung (empirischer Gebrauch) und meinen, diesen »Gegenstand« in der Gegebenheit des Selbstbewußtseins anzutreffen (vgl. KrV A 402 f.). So werden am Wesen des Menschen »erschlichene« »Sophisticationen der Vernunft« unzulässigerweise in den Rang objektiv gültiger Erkenntnisse über die menschliche Seele gehoben.10
a) Von der ontologischen Substanzialität zum formalen Subjekt Der erste Paralogismus (der Substanzialität),11 in der Topik der rationalen Seelenlehre der ersten Relationskategorie zugeordnet, folgert aus der Tatsache, daß wir uns selbst als »absolute Subjecte« unserer Urteile und Gedanken Pure Reason (A 346; B 404); Gäbe: Die Paralogismen der reinen Vernunft in der ersten und in der zweiten Auflage von Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Choi: Paralogismen der Seelenlehre; Heckmann: Kant und die Ich-Metaphysik. Metakritische Überlegungen zum Paralogismen-Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft«. 9 Zur Aufteilung der Unsterblichkeitsbeweise auf die vier Paralogismen vgl. Heimsoeth: Transzendentale Dialektik, 86 ff. und 89, Anm. 123. Heimsoeth weist darauf hin, daß Kant in seinen vorkritischen Vorlesungen über die rationale Psychologie anstatt des vierten Paralogismus die Ansetzung der Seele als »simpliciter spontanea agens« behandelt, mit welcher Argumentation das später in die Kosmologie verlagerte Freiheits-Problem angesprochen ist. 10 Mit dem Terminus »Paralogismus« knüpft Kant an die aristotelisch-scholastische Tradition an und schränkt die Bedeutung des dort allgemein einen Fehlschluß bezeichnenden Begriffs, als transzendentaler Paralogismus gefaßt, auf die Seelenlehre ein. »Der logische Paralogismus besteht in der Falschheit eines Vernunftschlusses der Form nach, sein Inhalt mag übrigens sein, welcher er wolle. Ein transscendentaler Paralogismus aber hat einen transscendentalen Grund [scil. die ›metaphysische‹ Ausrichtung der Vernunft] der Form nach falsch zu schließen.« (KrV A 341 / B 399; vgl. auch KrV B 411 / A 379 f.) – Im folgenden werde ich allerdings weniger auf die formale Seite der Argumentationsführung als vielmehr auf die jeweilige Gestalt der Selbstbegegnung des Menschen abzielen, die sich durch die Argumentation hindurch – und über die Widerlegung der Unsterblichkeitsbeweise hinaus – abzeichnet. 11 Vgl. KrV A 348–351.
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vorfinden, die Gegebenheit eines von aller Erfahrung unabhängigen Ichs als beharrlicher (immaterieller) Substanz. Der formale Fehlschluß besteht darin, daß der Mittelbegriff »absolutes Subject« im Ober- und im Untersatz logisch (und damit rechtmäßig), in der conclusio aber ontologisch (und so ohne Rückgriff auf mögliche Erfahrung) verwendet wird. Denn die nur logische und zu Recht bestehende Feststellung der Notwendigkeit, daß alle meine Urteile vom Selbstbewußtsein begleitet werden müssen, und daß dieses Selbstbewußtsein selbst immer »Subject« der Erfahrungen sein muß und niemals von einem anderen prädiziert werden kann, die zutreffende Feststellung der logischen Sonderstellung des Selbstbewußtseins gegenüber seinen jeweiligen Vollzügen und gegenüber den intendierten Vorstellungen schließt keine Erkenntnis des Ichs als eines für sich bestehenden und unabhängig von allen Ich-Vollzügen existierenden Dings an sich ein. Das Ich-denke ist zwar Bedingung der Möglichkeit meiner Denk- und Ich-Vollzüge, ist aber dennoch kein Unbedingtes und keine letzte für sich bestehende Realität, sondern ein bedingtes, relatives, endliches Subjekt, das Subjekt bleibt nur, »solange« ich lebe und Bewußtseinsvollzüge »erlebe« (solange ich ein beseelter Körper bin).12 Die Beharrlichkeit meiner selbst als Subjekt meiner Denkvollzüge ist eine solche mit Bezug auf mich selbst als einen in Raum und Zeit erscheinenden, die Gemeinschaft von »Körper« und »Seele« voraussetzenden Gegenstand (duratio phaenomenon), niemals aber die Beharrlichkeit eines an sich existierenden Wesens (duratio noumenon). Substanzsein heißt in sich Stehen (subsistere), sich selbst Begründen und Unbedürftigsein – nach der Cartesischen Definition: »re[s] quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum« –,13 und heißt zugleich Fundamentsein für Anderes (substare). Wird die Seele als Substanz im ontologischen Sinne gedacht, dann beinhaltet dieser Gedanke erstens die Vorstellung, daß die Seele in sich selbst den Grund ihrer Existenz trägt und unabhängig von den Veränderungen existiert (daß sie sich im Fluß des Sichverändernden behält), und zweitens, daß sie das Fundament für den Körper und die in der psychophysischen Gemeinschaft vor sich gehenden Veränderungen ist (daß die Seele das Sichverändern ermöglicht, indem sie diesem gegenüber different bleibt). Die Seele ist in der Tradition der »dogIn den Prolegomena heißt es (Prol A 138 = AA 4,335): »Nun ist die subjective Bedingung aller unserer möglichen Erfahrung das Leben: folglich kann nur auf die Beharrlichkeit der Seele im Leben geschlossen werden, denn der Tod des Menschen ist das Ende aller Erfahrung, was die Seele als einen Gegenstand derselben betrifft […]«. 13 Descartes: Principia Philosophiae I,51. 12
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matischen« Metaphysik als Substanz »das beharrliche und modifizierbare Subjekt«.14 Mit der Reduktion des erkennbaren Wesenskerns des Ich auf die logische Funktion des Subjektes werden beide Momente untergraben. Zwar bleibt die Wesensverfassung des Selbstbewußtseins (cogito) als Differenz zum Vielfältigen und Akzidentiellen seiner Vollzüge (der einzelnen cogitationes) erhalten. Doch der Unterschied zwischen dem eigentlichen Wesenskern meiner selbst und dem an mir sich Verändernden und Zufälligen schwindet als Wesensbestandteil meines (von mir erkennbaren) Selbst und wird zu einer bloß funktionellen Differenz. Der Wesenskern meines Selbst unterscheidet sich, sofern ich davon wissen kann, nicht mehr wesensmäßig vom Hinfälligen und Zufälligen meiner jeweiligen Zustände und Eigenschaften. Selbstbewußtsein ist in seiner theoretisch erkennbaren Gestalt nichts anderes und nichts mehr als der notwendige Relationspol für die verschiedenen Zustände und Akzidentien, die ich in Verbindung mit mir selbst bringen kann. Ich bin kein sich vom Akzidentiellen gehaltlich unterscheidendes substanzielles Zentrum, sondern – das Bewußtsein des Akzidentiellen.
b) Von der ontologischen Einfachheit zur Funktion der Synthesis Der zweite Paralogismus (»der Achilles aller dialektischen Schlüsse«)15 baut – wie alle weiteren – auf dem ersten auf. Zielte der erste ›Beweis‹ auf die Beharrlichkeit der menschlichen Seele in ihrem Sich-Unterscheiden von allen zeit-räumlich bestimmten Eigenschaften und Selbstvollzügen, so nimmt der zweite, am Leitfaden der entsprechenden Qualitäts-Kategorie durchgeführte Paralogismus die Einfachheit (Simplizität) dieses substanziellen Wesens in den Blick. Die Problematik blickt auf eine lange Tradition innerhalb der Wolffschen-Baumgartschen Metaphysik zurück, rührt sie doch unmittelbar her aus dem monadologischen Grundsatz der Einfachheit alles substanziellen Seins. Es geht in diesem Paralogismus also um die realitas (essentia) des denkenden Ich und um den Beweis von dessen Inkorruptibilität als der Nicht-AuflösbarChristian Wolff: Psychologia rationalis, § 48: »Enim vero subjectum perdurabile et modificabile substantia est.« 15 KrV A 351. Kant spielt auf die Achilles-Argumentation des Zeno von Elea an; vgl. Aristoteles: Physik, 239b5 ff. 14
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keit in Teile. In der Darstellung des Paralogismus nimmt Kant jedoch nicht den Ausgang vom zusammengesetzten Seienden, sondern vom Begriff der Handlung. Weil eine jeweilige »Handlung« des Ich »niemals als die Concurrenz vieler handelnden Dinge angesehen werden kann«, schließt die rationale Psychologie auf die notwendige Einfachheit der Seele (KrV A 351). Wäre nämlich das denkende Ich eine zusammengesetzte Substanz, so müßte sich ein Gedanke auf verschiedene Teile des Ich verteilen, was unter der Voraussetzung des ontologischen Unterschieds zwischen dem Ganzen und der Summe seiner Teile zur Folge hätte, daß ein solches Wesen nie den ganzen Gedanken (und das heißt hier: den faktischen, jeweiligen Ich-Vollzug) hervorbringen könnte. Kants Widerlegung destruiert die implizite Prämisse (den nervus probandi) dieses Argumentes, den Gedanken nämlich, »daß viele Vorstellungen in der absoluten Einheit des denkenden Subjects enthalten sein müssen, um einen Gedanken auszumachen« (KrV A 352). Denn dieser Satz ist weder ein analytischer, noch ein synthetischer, am wenigsten aber ein in der Erfahrung gegebener Satz. Zwar ist die Einfachheit des Subjektes eine notwendige Bedingung der Möglichkeit meiner Denkvollzüge. Die hier gemeinte Einfachheit ist aber eine bloß logische Einfachheit, die nichts über die konkrete Beschaffenheit eines denkenden Wesens überhaupt aussagt und vielmehr nur die absolute Gehaltlosigkeit der bloßen Funktion der Synthesis anzeigt. Nur als gehaltliche Aussage hat aber die Behauptung der Einfachheit der Seele, die spätestens seit Leibniz eine absolute ontologische Priorität erlangt, eine metaphysische Bedeutung, zielt sie doch immer mehr oder weniger ausdrücklich darauf, die apriorische Differenz des Ich vom Zusammengesetzten (von der Materie) zu beweisen. So wie sich im ersten Paralogismus aus der Substanzialität der Seele das bloß logische Subjekt der Denkvollzüge herausschält, so erweist sich im zweiten die Einfachheit des Ich als eine bloße Funktion der Synthesis des Mannigfaltigen, die zwar gegenüber dem Mannigfaltigen selbst different bleibt und diesem als apriorische Bedingung der Möglichkeit voraufgeht, zugleich aber zu ihrer Gegebenheit gerade auf das Mannigfaltige angewiesen bleibt, dessen Einheit sie ist. Einfachsein heißt Nicht-Zusammengesetztsein, heißt Unteilbarkeit und Unreduzierbarkeit. Was einfach und unteilbar ist und nicht auf Anderes, als es selbst ist, reduziert werden kann, ist immer und durchgängig, ist überall es selbst. Als einfache Substanz finde ich mich vor als ein reines überall esselbst-seiendes Beharren, das wesensmäßig nie seiner selbst verlustig gehen
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und sich auflösen kann in das Unselbst. Die Nicht-Erfahrbarkeit der Seele als Ding schließt zwar so wenig eine Stellungnahme für die ›materialistische‹ Gegenthese ein, daß Kant vielmehr der durch das kritische Verfahren »gereinigten« rationalen Seelenlehre den »negativen Nutzen« einer Selbstsicherung des denkenden Selbst gegen den Materialismus zusprechen kann und muß (vgl. u. a. KrV A 382 f.). Dessen ungeachtet steht sich das Ich mit Kant sich selbst gegenüber als eine Einfachheit, die nur stattfindet als Einigung des Mannigfaltigen und somit vom Nicht-Mannigfaltigen abhängig, wenn auch nicht von diesem erzeugt ist oder darauf zurückgeführt werden kann. Zwischen dem Ich als Funktion der Synthesis und dem synthetisierten Mannigfaltigen besteht kein absoluter ontologischer (gehaltlicher) Unterschied, sondern ein wechselseitiges Verhältnis. Das Ich ist eine formale Gehaltlosigkeit, die sich nur im Mannigfaltigen und durch das Mannigfaltige hindurch als ein »einfaches« Ich-Zentrum gewinnt.
c) Von der (überzeitlichen) Personalität zur logischen (innerzeitlichen) Identität Während der erste und der zweite Paralogismus auf eine gleichsam noch unpersönliche Unsterblichkeit der Seele abzielen, präzisiert der dritte – abgeleitet von der Quantitäts-Kategorie der Einheit – den Unsterblichkeitsbeweis mit Blick auf die numerische (im rein spekulativen, nicht praktischen Sinne: persönliche) Identität der menschlichen Seele. Das Bewußtsein der Identität des eigenen Selbst in verschiedenen Zeiten macht zwar das Wesen der »Person« aus. Doch auch hier erweist sich der Schluß – auf dem Wege über die Einbeziehung der »intersubjektiv« gelebten Zeitlichkeit – nur in bezug auf die logische, nicht aber auf die eigentlich anvisierte ontologische Identität als stringent. Denn logisch betrachtet müßte zwar »die Persönlichkeit der Seele nicht einmal als geschlossen, sondern als ein völlig identischer Satz des Selbstbewußtseins in der Zeit angesehen werden« (KrV A 362). Solange ich lebe und in der Zeit bin (oder: die Zeit in mir), bin ich mit mir selbst identisch (vgl. KrV A 362). Ohne diese logische Identität wäre keine Synthesis des Mannigfaltigen – keine Verzeitlichung der Kategorien – möglich. Selbstbewußtsein schließt Identität eines Selbst in der Zeit ein. Doch der Paralogismus zielt gerade darauf ab, die Identität des Bewußtseins außerhalb der Zeitdimension und somit das Identischbleiben der Seele mit sich selbst auch
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nach dem Zeitpunkt des Todes zu beweisen. Die formale Bedingung meines Selbstbewußtseins, in verschiedenen Zeiten des Lebens mit sich selbst identisch zu sein, sagt aber nichts aus über ein mögliches Ansichsein des Ich als eines das Zeitliche überdauernden Wesens. Mit der Einbeziehung der Dimension der Dauer und der Zeit bietet der dritte Paralogismus eine wesentliche Erweiterung in der Destruktion des metaphysisch-dogmatischen Selbstverständnisses des Menschen. Was mit sich selbst ontologisch identisch ist, steht über der Zeit, behält sich in der verstreichenden Dauer der Zeit und geht nicht unter im Fluß der Vergänglichkeit. Im Strom des Sichverändernden bleibt es unberührt von der Veränderung. In der Ansetzung des Ich als eine dem Gesetz der Zeit entbundene Person begegnet der Mensch sich selbst in seiner Differenz zur vorwärts fließenden Zeit. Es ist der metaphysische Versuch, im Fluß des Vergänglichen das Selbst des Menschen als einen festen Punkt zu setzen, der in einer absoluten Differenz zu allem Zeitlichen steht und somit von der Vergänglichkeit und Hinfälligkeit der Dinge unangetastet bleibt. Das Personsein des Menschen wird so zum Zeichen von dessen Zwischenstellung zwischen dem Zeitlichen und dem (theologisch bestimmten) Ewigen. Die Unmöglichkeit einer ontologischen Festlegung dieser Identität bedeutet zwar nicht, daß der Mensch sich umgekehrt als ein in absolutem Sinne vergängliches und dem Fluß der Zeit unterstehendes Wesen erfahren könnte. Sie entscheidet aber darüber, daß ich, sofern ich mich selbst nur als Erscheinung erfahren und erkennen kann, dem Gesetz der Zeit unterworfen bin, daß ich nur solange mit mir selbst identisch bin, wie »meine Zeit« dauert, daß ich eine Person bin – nur solange ich lebe. Die Verzeitlichung des Ich, die mit dem Verlust einer im vorhinein abgesicherten überzeitlichen Identität einhergeht, liefert den Menschen dem Fluß der Vergänglichkeit aus.
d) Von der Unbezweifelbarkeit der Seele zur Idealität aller Erscheinungen (Widerlegung des empirischen Idealismus) In der ausführlichen Besprechung des vierten Paralogismus, der die Seele – entsprechend der Modalitätskategorie der Möglichkeit – in ihrem Verhältnis zum Anderen ihrer selbst (»zu möglichen Gegenständen im Raume«: zum körperlichen Seienden und seiner vermeintlichen grundsätzlichen Bezweifelbarkeit) in den Blick nimmt (KrV A 344 / B 402), entfernt sich Kant nur scheinbar von der Leitthematik einer Widerlegung der Unsterblichkeits-
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Argumente. Im Mittelpunkt der Argumentation steht zwar – zum ersten Mal in der Kritik der reinen Vernunft – die Klärung der eigenen transzendentalphilosophischen Position. Die Auseinandersetzung einerseits mit dem empirischen Idealismus (als dem Zweifel an der Existenz der Dinge außer mir) und andererseits mit dem Dualismus Cartesischer Prägung dient hier vor allem dazu, den transzendentalen Idealismus (Nicht-Erkennbarkeit der Dinge an sich) gleichzeitig als einen empirischen Realismus (Existenz der Materie außerhalb unserer Vorstellungen) zu konturieren. Doch der im Paralogismus ex negativo erbrachte und von Kant destruierte Beweis ist für die rationale Seelenlehre von fundamentaler Tragweite. Der Paralogismus argumentiert folgendermaßen: Was, wie alle äußeren Erscheinungen, nicht unmittelbar, sondern nur als Ursache meiner Wahrnehmungen gegeben ist, hat eine nur zweifelhafte Existenz (KrV A 367). Implizit lautet somit der Schluß: weil die Seele unmittelbar gegeben ist, ist ihre Existenz unbezweifelbar und von den körperlichen Seienden in absoluter Bestimmtheit unterschieden. Die Seele ist das erste certum und als solches »das Principium des Lebens in der Materie« (KrV A 345 / B 403). Werden aber mit Kant alle Gegenstände möglicher Erfahrung nicht mehr als Dinge an sich, sondern nur als Erscheinungen eines uns unbekannten Grundes betrachtet (KrV A 380), so verliert die Unterscheidung zwischen der angeblichen unmittelbaren Gegebenheit der Seele und der nur erschlossenen der Körperwelt ihr Fundament. Sowohl in innerem wie auch in äußerem Sinne sind uns Gegenstände – Ich als empirisches Selbstbewußtsein, die materielle Körperwelt – gegeben, niemals aber kann der unbekannte Grund der Erscheinungen selbst – das Ding an sich – in einer Wahrnehmung vorgestellt werden. Die ›Unmittelbarkeit‹ des Selbstbezuges erweist sich wieder als die nur formale Bedingung der Erfahrung überhaupt, die für den ontologischen Vorrang der Seele vor dem Körper keine Gewähr bieten kann. Denn die Existenz eines uns unbekannten, als ›Seele‹ (›in uns‹, in der Zeit) erscheinenden Dings an sich ist uns nicht mehr und nicht weniger gewiß als die Existenz eines uns unbekannten Grundes für das Erscheinen der Körper ›außer uns‹ (im Raum). Doch beide, die ›Seele‹ wie der ›Körper‹, entziehen sich, sofern sie als an sich seiende betrachtet werden, jeglichem erkennenden Zugang.16 In den Prolegomena faßt Kant diesen Zusammenhang wie folgt (Prol A 141 = AA 4,337): »es ist eine eben so sichere Erfahrung, daß Körper außer uns (im Raume) existiren, als daß ich selbst nach der Vorstellung des innern Sinnes (in der Zeit) da bin. 16
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Indem dem Selbstbewußtsein zwar nicht die logische, wohl aber die ontologische Apriorität und somit seine absolute Sonderstellung gegenüber dem Gesamt des Seienden genommen wird, ist der prioritäre Selbstbezug des Ich als des zuerst gegebenen certum ontologisch abgeschnitten, die Valenz des cogito sum mithin einmal mehr auf den Bereich des Phänomenalen eingeschränkt und ihm damit jeder Anspruch auf ontologische Selbstbegründung entzogen. Das Sichvorfinden des Menschen als unbezweifelbares, von allem Materiellen sich unterscheidendes Fundament der Realität erweist sich wieder als eine nur formale Apriorität und als formale Bedingung für das Erscheinen des ›Körperlichen‹ sowie des ›Seelischen‹.
e) Das Ergebnis der vierfachen Destruktion des metaphysischen Ich-Verständnisses Kants Paralogismen leisten nicht nur die Widerlegung vier fundamentaler Beweise für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, sondern destruieren damit zugleich vier Grundpfeiler des in der frühen Neuzeit maßgeblichen philosophischen Selbstverständnisses des Menschen. Gemeinsamer Nenner dieser vier metaphysischen Wesensaussagen ist die Differenz der menschlichen Seele gegenüber dem Gesamt des Seienden. Weil der Mensch in vierfacher Hinsicht different ist: different als die unreduzierbare Beharrlichkeit gegenüber dem Wechsel der Akzidenzien und Zustände, different als durchgängig in sich gesammelte Einfachheit gegenüber der Zerstreuung des Mannigfaltigen, different als das Werden überdauernde Identität gegenüber dem Fluß des Sichverändernden und schließlich different als die erste Evidenz gegenüber der prinzipiellen Bezweifelbarkeit der materiellen Körperwelt, weil das Ich als diese absolute Differenz der stetige Vollzug dieses Sich-Unterscheidens ist Denn der Begriff: außer uns, bedeutet nur die Existenz im Raume. Da aber das Ich in dem Satze: Ich bin, nicht blos den Gegenstand der inneren Anschauung (in der Zeit), sondern das Subject des Bewußtseins, so wie Körper nicht blos die äußere Anschauung (im Raume), sondern auch das Ding an sich selbst bedeutet, was dieser Erscheinung zu Grunde liegt: so kann die Frage, ob die Körper (als Erscheinungen des äußern Sinnes) außer meinen Gedanken als Körper existiren, ohne alles Bedenken in der Natur verneint werden; aber darin verhält es sich gar nicht anders mit der Frage, ob ich selbst als Erscheinung des inneren Sinnes (Seele nach der empirischen Psychologie) außer meiner Vorstellungskraft in der Zeit existire, denn diese muß eben so wohl verneint werden.«
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(›Seele‹), ist es un-sterblich – das auch im Tod anders Bleibende, das selbst der (nur scheinbare) Einbruch des Nichts in das Sein nicht in seinem Wesenskern anzutasten vermag. Am Ende der kritischen Infragestellung dieses Selbstverständnisses des Menschen steht das Ich nicht mehr sich selbst gegenüber als reine (absolute) Differenz, wird andererseits aber auch nicht in die Indifferenz des nur Materiellen zurückgenommen. Das Ich-denke bleibt das Andere der Materie, es bleibt Differenz. Aus der Seele wird für Kant keine körperliche Funktion, die statt substanziell akzidentiell, statt einfach mannigfaltig, statt identisch in sich gespalten, statt absolut gegeben prinzipiell bezweifelbar wäre. Gegenüber der dogmatisch-metaphysischen und der empiristisch-materialistischen Möglichkeit der philosophischen Selbstbegegnung des Menschen zeichnet sich bei Kant, gemäß dem kritischen Ansatz, auch hier eine dritte Möglichkeit ab: das Differentsein des Ich ist kein gehaltliches, sondern ein bloß formales Sich-Abheben vom Gesamt des Seienden, eine Differenz, die anders als in der empiristischen Auffassung eine unreduzierbare Differenz bleibt, im Gegensatz zur metaphysisch gedachten Seele aber sich selber nicht besitzt und keine inhaltliche Aussagen über ihr »Wesen« erlaubt. Das menschliche Ich steht so sich selbst gegenüber als der Widerspruch eines unauslöschbaren reinen Verweises, dem jede Erfüllung und jeder Selbstbesitz versagt bleibt. Das als vierfache Differenz gegenüber dem Veränderlichen, Mannigfaltigen, Hinfälligen und Materiellen bestimmte Ich trägt in sich den unlösbaren Anspruch eines absoluten Sich-Unterscheidens. Es ist der Anspruch der Sinngebung, der der Vernunft die Forderung auferlegt, daß ihrer eigenen Sinnrichtung eine objektive, gehaltliche Erfüllung entspräche.
3. Vom formalen zum offenen Ich – Die Unsterblichkeit der Seele als Postulat und das Unverhoffte im Wesen des Menschen Diesem Anspruch hat bekanntlich die Kritik der praktischen Vernunft Folge geleistet. In den Postulaten der reinen Vernunft wird das in der Ausrichtung der Vernunftideen Intendierte wieder in den Horizont des objektivierenden, wenn auch nicht theoretisch-bestimmenden Denkens eingeholt. Postulate sind »nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in nothwendig praktischer Rücksicht«, die zwar nicht »das speculative Erkenntniß« erweitern, jedoch »den Ideen der speculativen Vernunft im Allgemeinen
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(vermittelst ihrer Beziehung aufs Praktische) objective Realität« verleihen (KpV A 238). Damit legt Kant die Legitimität und schließlich den Primat eines Denkens fest, das einerseits keine theoretischen Erkenntnisse erzielen, andererseits aber an der ›objectiven Realität‹ seines Gedachten festhalten und diese ›Objectivität‹ als eine gegen die Einwürfe des Skeptizismus gesicherte und abgesicherte ansetzen kann. Zwar ist die durch die Postulate zurückgewonnene Objektivität keine solche, die erlauben würde, das Postulierte als einen gegenständlichen Sachverhalt vorzustellen oder gar theoretisch zu bestimmen. Die praktisch fundierte Objektivität ist kein erkennender Zugriff auf eine dinghafte Wirklichkeit. Dennoch holt die praktische Vernunft die jeweilige Ausrichtung der Ideen nicht nur als Möglichkeit und als unverfügbare Hoffnung ein. Die praktische Vernunft macht das in den Ideen Intendierte – das Ding an sich – »in praktischer Absicht« »immanent« (KpV A 240) und setzt das tatsächliche Ankommen der Ideen bei ihrem gemeinten Gegenstand als eine absolut gegebene, wenn auch nicht erkennbare Wirklichkeit an. Als Setzungen der praktischen Vernunft ergänzen (KpV A 239) – die Wendung ist mit Bezug auf die Entschränkung zur Totalität der Erfahrungen wörtlich zu nehmen – die Postulate die theoretische Erkenntnis durch eine das Absolute erfassende Wahrheit, deren im Moralitätsgesetz verbürgte Eigenvalenz diejenige der theoretischen Wahrheit noch übertrifft.17 So ergänzt das Unsterblichkeitspostulat den formalen Ich-Begriff mit der praktisch-moralischen Setzung der »realen Vorstellung einer Substanz«, die auf Grund der vorausgesetzten »Angemessenheit mit dem moralischen Gesetze im höchsten Gute« als eine ins Unendliche fortdauernde und sich vervollkommnende Beharrlichkeit angesetzt werden muß (vgl. KpV A 239). Eine Verfolgung des Eigencharakters dieser Setzung und damit von Kants praktischer Philosophie kann nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Beitrages sein. Weil die Postulate der praktischen Vernunft den Glauben an eine sinnvolle und geregelte Ausrichtung des Universums und damit jene letzte metaphysische Zuversicht voraussetzen, die die Einwürfe des postrationalen Denkens seit dem letzten Jahrhundert unsicher und fraglich gemacht haben,
Mit der Gabelung des Wißbaren in theoretische und praktische Vernunft übernimmt Kant die Leibnizsche Unterscheidung von metaphysischen Vernunft- und faktischen Tatsachenwahrheiten, verlegt aber zugleich – gemäß der kopernikanischen Wende – den eigentlichen Unterschied in die innere Valenz des philosophierenden Blicks auf die Wirklichkeit. 17
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müßte eine des geschichtlich-gegenwärtigen Denkhorizontes eingedenk bleibende Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie die grundsätzliche Frage einschließen, ob die Kantische Lösung ins Gespräch mit diesem Denkhorizont und dessen verschärfter ›postmetaphysischer‹ Skepsis gebracht werden kann, und, wenn ja, unter welchen Bedingungen und – vor allem – in welcher Absicht. Statt hier jedoch auf diesen weitläufigen Fragenkomplex einzugehen, möchte ich im folgenden versuchen, gegenüber den metaphysischen Entscheidungen der ›praktischen Vernunft‹ gleichsam einen Schritt zurück zu bleiben und Kants Destruktion des dogmatisch-metaphysischen Selbstverständnisses des Menschen mit Rücksicht auf die Hinweise verfolgen, die diese Destruktion von sich aus – ohne Rekurs auf weitergehende metaphysische Voraussetzungen – für eine Wiedereinholung des Unsterblichkeitsgedankens in den Horizont des Denkens bietet. Dazu ist es erforderlich, eine Tendenz in Kants Metaphysik-Verständnis in den Blick zu nehmen und ihre Ausrichtung in einer gegenüber der Kantischen Intention bewußt abgewandelten Richtung zu verfolgen. Während die Metaphysik in ihrem traditionellen Selbstverständnis den Komplex bzw. – neuzeitlich – das System der das Übersinnliche betreffenden Erkenntnisse konstituiert, eröffnet Kants metaphysische Metaphysik-Kritik ein neues und in sich differenzierteres Selbstverständnis der Metaphysik. In ihrem positiven und erfüllten Sinne ist Metaphysik für Kant Transzendental-Metaphysik als Selbstgrundlegung der Metaphysik in ihrer kritischen Gestalt.18 Die transzendentale Dialektik selbst mit ihrer Zwischenstellung zwischen Destruktion und Neugrundlegung der Metaphysik stellt damit die eigentliche Urgestalt der Metaphysik dar. Metaphysik ist nicht erst ein System wahrer oder für wahr gehaltener Sätze. Metaphysik ist die der Vernunft innewohnende Ausrichtung zum Überstieg über das Gegebene hinaus zum Unbedingten und Absoluten und in einem zumal die kritische Selbstüberprüfung dieser Ausrichtung, ist das ausdrücklich vollzogene und erörterndaufschließende Sich-Aufhalten des Menschen in der Kluft zwischen Denken und Erkennen. Versuchen wir, diese Tendenz im Denken Kants rein von sich aus zu Ende zu denken, dann könnte Metaphysik der Name und die Anzeige für eine BeVgl. den vorstehenden Beitrag von v. Herrmann: Die Kritik der reinen Vernunft als Transzendental-Metaphysik. 18
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wegung heißen, über deren tatsächliches Ankommen und Sich-Einlösen wir nichts wissen und wissen können, für eine Bewegung, die dennoch kein bloß formales Über-sich-Hinaus-Weisen bleiben muß, sondern – philosophisch wie auch praktisch-existenziell – sehr wohl den Raum für eine bestimmte Ausbildung bietet, für eine Ausbildung, die keine theoretischen Erkenntnisse im Sinne der dogmatischen Metaphysik erzielen kann und auch nicht eo ipso zur Ansetzung von praktischen Postulaten im Sinne Kants führen muß, sondern bei der Kluft selbst verbleibt und sie als den eigentlichen Standort des Menschen erörtert. Eine solche bei der Kluft selbst verbleibende Ausbildung des ungelösten Anspruchs der Sinngebung hätte die Aufgabe, den transzendentalen Widerspruch im Wesen des Menschen (die Kluft zwischen Notwendigkeit des Anspruchs und Unmöglichkeit einer erkennenden Erfüllung) als solchen wach zu halten, zu erörtern und in seinen Auswirkungen auf die praktische Existenz des Menschen zu bedenken, ohne diesen Widerspruch mit Blick auf eine Selbstversicherung der Vernunft im vorhinein aufheben oder auch nur wieder abdecken zu wollen. Der Bereich der metaphysica specialis mit ihrer dreifachen Ausrichtung auf das Übersinnliche wäre damit weder ein spekulativer Vorgriff in das Nicht-Erkennbare, noch bedürfte er – beim Verbleiben in dieser Urgestalt – der metaphysischen Voraussetzungen der praktischen Vernunft. Die metaphysica specialis wäre viel eher eine Situationserörterung der menschlichen Existenz zwischen faktischer Endlichkeit und verlangter, aber sich versagender Unendlichkeit, eine Situationserörterung freilich eigentümlicher Art: ein Denken, das – anders als jeglicher Materialismus und als jede bloße Immanenzbeschreibung – erkannt hat, daß die eigentliche Würde und das eigenste Wesen des Menschen in eben jener metaphysischen Öffnung für das NichtGegebene liegt, ein Denken, das aber zugleich – anders als jegliche Objektivitätssetzung – dem Urgesetz der Endlichkeit Rechnung trägt, welches besagt, daß das Eigenste im Menschen in der Erstarrung auf die Einseitigkeit eines (vermeintlich) Gehabten (sei es eines Gewußten oder eines absolut Geglaubten) seine eigentliche Größe und seine Würde einbüßen muß. Eine Metaphysik aber, die bei der Offenheit, bei der Tendenz und bei der Richtung verbleibt, hätte das Größte und Fragwürdigste zu bedenken, daß der Mensch unauflösbar dieses Zweifache ist: Ausrichtung auf das Unendliche und auf sich selbst zurückgebeugte Endlichkeit, deren Endlichkeitscharakter sich ihm selber als unausdenkbar entzieht (unvorstellbar bleibt) und einzig und allein als diese notwendige Unausdenkbarkeit in das Unendliche und Unbedingte verweist.
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Bedenkt die Metaphysik ausdrücklich diesen wesentlichen Widerspruch, dann gelangt sie freilich weder zu neuen Sacherkenntnissen noch vermag sie, dem Glauben eine philosophische Absicherung zu bieten. Viel eher käme ihr – in die entgegengesetzte Richtung verlaufend denn alle Selbstversicherung – die Aufgabe zu, den reinen, unauslöschbaren und nicht einzulösenden Anspruch der Sinngebung als solchen auszuhalten, um so einem ›Glauben‹ Raum zu geben, das nie in der Fixierung auf einen sich entziehenden Selbstbesitz und in der Konzentration auf das eigene Selbst, sondern nur im Absehen vom eigenen Selbst und in der Öffnung für das Unverhoffte gedeiht und wirksam werden kann. Ein aus diesem Selbstverständnis der Metaphysik heraus theoretisch gedachtes und praktisch gelebtes Postulat wäre (noch) nicht eine auf der Voraussetzung einer letzten metaphysischen Ordnung basierende Setzung, sondern ein ontologisch-ethischer Entwurf, der sich dem in der Natur des Menschen eingeschriebenen Anspruch der Sinngebung zu öffnen weiß, ohne diesen Anspruch endgültig einlösen und einfrieden zu wollen in einer absoluten Setzung. Freilich vermöchte ein solcher Entwurf es niemals, dem von ihm Eröffneten und Postulierten den Status einer wie auch immer verstandenen absoluten Realität zu verleihen. Dementsprechend wären Hoffnung und Glauben keine absolute Forderung, sondern eine existenzielle (Grenz)Erfahrung (und deren philosophische Ausbildung und Erörterung), die den Menschen – für Augenblicke – aus der Immanenz seiner Endlichkeit entreißt und vor das Unendliche und Sinnvolle bringt. Das Eigenste im Menschen – der Anspruch der Sinngebung – ruhte dann nicht in einem absolut geforderten Selbstbesitz, sondern im Unverfügbaren einer Hoffnung, die dem Menschen das Nicht-Ausdenkbare der Endlichkeit – die Unvorstellbarkeit des Todes – zuweilen anders begegnen läßt, als die Schranken der Gegenstandserfahrung ihm vorschreiben und nahelegen. Dieses anders begegnen Lassen als … wäre nichts anderes als ein gewandeltes, ein ergänzendes (als-ob), hoffendes und glaubendes Sehen und ein ethischer19 Blick auf die Wirklichkeit, der keinerlei letzte Gewißheit bietet, sondern ein Wagnis bleiben muß und die Versuchung eines Glaubens, das sich nur unversehens (ohne damit und mit seiner Notwendigkeit zu rechnen) dem Menschen zum Geschenk macht. Ethisch: die Selbstpositionierung des Menschen im Gesamt des Seienden, sein letztes, ›transzendentes‹ Selbstverständnis und seine Haltung vor sich selbst und dem Universum betreffend. Jede Metaphysik ist in sich, sei es ausdrücklich sei es implizit, ontologisch (feststellend) und ethisch (hinweisend und transfigurierend) in einem. 19
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Inwiefern bietet nun Kants Destruktion des metaphysischen Selbstverständnisses des Menschen in den Paralogismen, konkreter gefaßt, die Grundlage für die Ausbildung einer so verstandenen, problematischen Metaphysik? Schließt sich die vierfache Differenz des Ich gegenüber dem Hinfälligen des nicht-menschlichen Seienden nicht in sich selbst zurück, bleibt sie nicht ein bloß negativer Verweis? Verschließt sich mit der Reduktion der Seele auf das bloße Ich-denke nicht endgültig der Raum für ein positives Weiterfragen? Bleibt nicht der »Nutzen« der transzendentalen Psychologie (vgl. KrV A 382 ff.), ohne die Ergänzung durch die praktische Vernunft, nur negativ und eine bloße Abwehr? Freilich. Doch die scheinbar totale Ausweglosigkeit, die mit der Reduktion des Ich auf die logische Form des Selbstbewußtseins eintritt, kehrt sich in ihr Gegenteil, sobald wir bedenken, daß die mit dieser Reduktion in ihr Äußerstes vorgebrachte Kluft nicht nur der Abgrund der Endlichkeit ist, der den Menschen von der erstrebten vollständigen Selbstaneignung trennt, sondern zugleich die Brücke, die, anders als jede Festsetzung und als jede Selbstgewißheit, den Menschen ausdrücklich vor das Geheimnis des Todes bringt und ihn in der Unauflösbarkeit dieses Geheimnisses zugleich die unwegdenkbare Möglichkeit einer letztlichen Einlösung des Anspruchs der Sinngebung vorhält. Während das durch die Vorstellung eines absoluten und unwiderruflichen Sich-Behaltens geprägte dogmatische Ich-Verständnis sich in sich selbst zurückschließt und unempfänglich bleibt für das eigentliche Wesen der Hoffnung, das keinerlei setzenden Vorgriff auf das Gehoffte duldet, ist das als reine Differenz gefaßte Ich ein offenes Ich, das sich nicht im vorhinein hat und besitzt, sondern sich verlieren lernt und so gerade aufgrund seiner ontologischen Armut sich unversehens vor das Geschenk der wesensechten Hoffnung gestellt sehen kann. Doch vielleicht und recht gesehen ist dieses Geschenk nichts, was ich jemals an mir selbst und meiner Eigensphäre, vor allem aber: für mich selbst und meine eigene Person, erfahren könnte. Vielleicht kann ich, wesentlich verstanden, niemals für mich selber, sondern immer nur für ein Du hoffen und glauben.20 Das Unsterblichkeitspostulat bedarf eines Du. Denn die rätselhafte Unausdenkbarkeit des Todes, die sich immer wieder meldende Unvorstellbarkeit eines absoluten zu-Ende-Gehens und die Hoffnung, die in dieser Zum Horizont dieser Fragen vgl. Fischer / Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas. 20
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Unmöglichkeit sich uns für Augenblicke entgegenhält, das Unverhoffte dieses Glaubens ist stets und wesensmäßig einem Anderen zugedacht, für ihn vorgelebt, ihm anheimgegeben. Im Angesicht der Sterblichkeit eines anderen Menschen spricht der Anspruch der absoluten Differenz anders, er spricht, so will es manchmal scheinen, reiner und vernehmlicher. So kann es zuweilen geschehen, daß dem Ich, das für dich glaubt, die Seele als bleibender Besitz begegnet.
Schöpfung und Freiheit. Ein kosmologischer Schlüssel zu Kants Kompatibilismus von Wolfgang Ertl
1. Vorüberlegungen Die überragende Bedeutung, die den Bemühungen Kants für das Gesamtgefüge der kritischen Philosophie zukommt, im Rahmen der Auflösung der dritten Antinomie eine kompatibilistische Position zu etablieren, kontrastiert scharf mit der Bewertung ihres Erfolgs durch weite Teile der Kant-Forschung ebenso wie durch Kants Nachfolger auf dem Höhenkamm der Philosophiegeschichte. Trägt man die verschiedenen Stimmen zusammen, so ergibt sich ein vergleichsweise düsteres Bild, und es stellt sich einmal mehr die Frage, wie viele Fehler man einem großen Philosophen, zumal an einer derart exponierten Schlüsselstelle seines Œuvres, unterstellen will. Kants Versuch einer Versöhnung von Freiheit und Determinismus scheitere kläglich, hätte er doch, so wird hier gesagt, schlicht die Position der Antithese als die des transzendentalen Idealismus auszeichnen sollen, denn sie sei es, die durch die Vorgaben der zweiten Analogie gedeckt werde. Doch just im Argument für die zweite Analogie unterlaufe ihm allerdings ein kolossales non-sequitur, und zu allem Überfluß habe er sein terminologisches Korsett so eng geschnürt, daß unmoralische Handlungen, Kants eigenen Überzeugungen zum Trotz, gar nicht als freie klassifiziert werden können.1 Im folgenden soll gezeigt werden, daß die Beantwortung der genannten Frage getrost zurückgestellt werden darf, denn nimmt man ein oftmals als Kuriosität abgetanes Faktum und seine Funktion
Vgl. für die ersten beiden Punkte Strawson: The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, 207 ff., 137 f.; der dritte Punkt wird unter dem Stichwort ›Reinhold’s dilemma‹ in der Literatur diskutiert, z. B. bei Allison: Morality and Freedom: Kant’s Reciprocity Thesis, 295. Allison selbst hält Kants Terminologie in dieser Hinsicht allerdings sehr wohl für konsistent und das Dilemma von daher für behebbar. 1
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für die Architektonik von Kants Argument für den Kompatibilismus ernst, so erscheint mindestens eine neuerliche Prüfung seiner Schlagkraft angezeigt, denn womöglich erweist es sich als genau der Meilenstein der Freiheitsphilosophie, den gesetzt zu haben man von Kant auch erwarten kann. Dies gilt in ähnlicher Form auch für die restlichen zwei der erhobenen Bedenken und Verbesserungsvorschläge, die aus Platzgründen allerdings nicht mehr als gestreift werden können. Dieses Faktum ist die Engführung des Schöpfungs- und des Freiheitsproblems innerhalb der dritten Antinomie und ihrer Auflösung.2 Es wird von Kant selbst in seiner Brisanz schon dadurch heruntergespielt, daß er ein praktisches Interesse auf der Seite des »Dogmatism der reinen Vernunft« (KrV A 466 / B 494) ausmacht und von daher zu insinuieren scheint, daß die Freiheit des Menschen mit der Existenz Gottes und seinen verschiedenen Aktivitäten in bezug auf die Welt quasi selbstverständlich vereinbar sei. Doch in Wirklichkeit handelt es sich hierbei spätestens seit der Marionettenmetapher im platonischen Spätdialog Nomoi (644 d) um ein Grundproblem der Philosophie, das das Ingenium etwa eines Augustinus, Boethius, Wilhelm von Ockham oder Luis de Molina auf eine harte Bewährungsprobe gestellt hat.3 Ich werde versuchen, diese Engführung in der Auseinandersetzung mit zwei früheren Vorschlägen zum Verständnis von Kants Kompatibilismus in ihrer Funktion in den Überlegungen Kants zu durchleuchten und zu zeigen, daß in dieser Kopplung in der Tat der Schlüssel für den Kantischen Kompatibilismus zu sehen ist. Diese früheren Beiträge, die generell als exemplarisch für zwei entgegengesetzte Ansätze im Umgang mit den Texten Kants gelten können, sind (i) der Versuch, Kants Position als die eines anomischen Monisten im Sinne Donald Davidsons zu rekonstruieren, und (ii) die gewissermaßen in die
Heimsoeths und Schmuckers Kontroverse betrifft nicht die Frage, welche Funktion die Schöpfungsidee für den Kompatibilismus hat, sondern lediglich ob beide zusammen in der Auflösung der dritten Antinomie behandelt werden oder nicht. Heimsoeth geht allenfalls von einer Parallele zwischen der kritischen Schöpfungsidee und der kritischen Freiheitstheorie aus; vgl. Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Zweiter Teil, 334 –387; Schmucker: Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft. Kommentar und Strukturanalyse des ersten Buches und des ersten Hauptstücks des zweiten Buches der transzendentalen Dialektik, 332–340. 3 Vgl. Craig: The Problem of Divine Foreknowledge and Future Contingents from Aristotle to Suarez; Zagzebski: The Dilemma of Freedom and Foreknowledge; Hasker: God, Time, Knowledge and Freedom: The Historical Matrix. 2
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entgegengesetzte philosophiehistorische Richtung weisende Interpretation Allen W. Woods, die Kant hier im Kontext der Theorie der Ewigkeit sieht, wie sie von dem gerade genannten spätantiken Philosophen Boethius entwickelt wurde und die in der Tat bis weit in die Neuzeit hinein nachgewirkt hat. Wie gezeigt werden soll, sind beide Ansätze zwar nicht erfolgreich, sie zeigen aber den Weg für eine Interpretation auf, die die entscheidenden Hindernisse überwinden kann. Was (i) anbelangt, so soll erläutert werden, daß diese Rekonstruktion letztendlich Kants Konzept einer Kausalität aus Freiheit nicht gerecht werden kann, und in puncto (ii) scheint das gewünschte Ergebnis nur um den Preis einer ontologisch verstandenen Zwei-Welten-Lehre sowie, paradoxerweise, einer massiven Überdehnung des Begriffs der Verantwortung zu bekommen zu sein. Im einzelnen soll in diesem Beitrag wie folgt vorgegangen werden: Zunächst wird im zweiten Abschnitt das sogenannte ›Konsequenzenargument‹ Peter van Inwagens diskutiert, das jede kompatibilistische Theorie zu unterminieren in der Lage sein muß. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Stellenwert, der dem heftig umstrittenen Prinzip alternativer Möglichkeiten in diesem Argument zukommt. Van Inwagens Vorgaben liefern uns die entscheidenden Orientierungspunkte für die Suche nach den relevanten Theoriestücken in Kants Œuvre. Der erste Teil des dritten Abschnitts präsentiert Hudsons rationale Rekonstruktion Kants als anomischen Monisten, die er zudem mit David Lewis’ Ansatz eines ›altered law compatibilism‹ kombiniert. Wiewohl letztendlich nicht erfolgreich, so statten uns Hudsons Überlegungen zumindest mit einem leistungsfähigen Analysewerkzeug aus, paßt Lewis’ Etikett doch im Gegensatz zu Davidsons genau auf die Überlegungen Kants. Erforderlich ist allerdings eine leistungsfähigere Begründung des Kernprinzips dieser Variante des Kompatibilismus. Auf der Suche nach einer solchen Begründung wird im zweiten Teil des dritten Abschnitts Woods Rekurs auf Boethius’ Überlegungen zur Ewigkeit diskutiert. Der vierte Abschnitt präsentiert schließlich die neue Interpretation, die die ›Ewigkeitslösung‹, wie sie mitunter in der Literatur zum Freiheitproblem genannt wird, als integralen Bestandteil des Kantischen ›altered-law‹-Kompatibilismus begreift. Zur Stützung dieser These wird auf Material aus Kants rationaltheologischen Kollegien, einer der wichtigsten Quellen für Kants Konzeption des Gottesbegriffs zurückgegriffen werden. Der im folgenden zu entwickelnde Ansatz modifiziert Woods Vorgaben dabei in zweifacher Hinsicht: Zum einen soll gezeigt werden, daß es sich
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beim Träger dieser Eigenschaft nicht um das transzendentale Subjekt handelt, sondern, wie traditionellerweise üblich, um Gott. Zum anderen wird verdeutlicht, daß die ›Ewigkeitslösung‹ nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Etablierung des Kantischen ›altered-law‹-Kompatibilismus sein kann, zu deren Komplettierung zwei weitere erforderlich sind: nämlich zum einen eine primär moralische Konzeption des mundus-optimus-Theorems, zum anderen die in die Lehre vom regulativen Vernunftgebrauch eingebettete These, wonach es für die Gesamtheit der speziellen Naturgesetze im Geist Gottes kein extra-mentales Pendant gebe. Bei alldem muß natürlich eingeräumt werden, daß es sich hierbei selbst um eine Art Rekonstruktion handelt, da Kant selbst die Elemente seiner Strategie nirgends explizit zusammenfügt.4
2. Das Konsequenzen-Argument für den Inkompatibilismus Kommen wir damit zum sogenannten ›Konsequenzen-Argument‹ Peter van Inwagens.5 Vorauszuschicken ist dabei der Hinweis, daß im folgenden nicht etwa behauptet werden soll, daß es Kant in irgendeinem Sinn selbst verwendet habe; vielmehr stellt sich die Frage, ob Kant über die nötigen Mittel verfügt, diese in der Literatur nahezu einhellig als stärkste Waffe im Arsenal der Inkompatibilisten betrachtete Überlegung aushebeln zu können. Grundlegend für dieses Argument ist ein Prinzip, das eine zentrale Stellung in der Auseinandersetzung zwischen Kompatibilisten und Inkompatibilisten eingenommen hat, nämlich das von Harry Frankfurt sogenannte Prinzip alternativer Möglichkeiten (im folgenden abgekürzt durch ›PAM‹): »A person is morally responsible for what he has done only if he could have done otherwise.«6 Um dieses PAM ist im Anschluß an Frankfurts wegweisenden Artikel eine extensive und intensive Diskussion7 entbrannt, die uns an dieser Stelle allerAnstelle einer eigentlich vorgesehenen, detaillierten Übersicht über die dritte Antinomie, ihre Auflösung sowie deren jeweilige Kontexte und Parallelstellen verweise ich auf Allison: The Antinomy of Pure Reason, Section 9. 5 Vgl. van Inwagen: An Essay on Free Will, 55–105. 6 Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility, 829. Ich werde aus Platzgründen nicht zwischen ›moralisch verantwortlich‹ und ›frei‹ unterscheiden, da Frankfurt selbst sich in seinen Überlegungen auf die Freiheit konzentriert, die er als notwendige Bedingung der Verantwortung bezeichnet. 7 Vgl. John Martin Fischer: Frankfurt-type Examples and Semi-Compatibilism. 4
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dings nicht weiter zu beunruhigen braucht. Für unsere Zwecke entscheidend ist dagegen die Frage, ob Kant von der Geltung dieses Prinzips ausgeht. Wie nun ein Blick auf das von Kant bemühte Beispiel der boshaften Lüge aus dem Auflösungsabschnitt der dritten Antinomie verdeutlicht, will Kant tatsächlich von der Geltung dieses Grundsatzes ausgehen; es ist allerdings zunächst einmal zu untersuchen, in welchem Umfang das PAM Kant zufolge gelten soll. Das Beispiel der boshaften Lüge (KrV A 555 / B 583) kann ja nur insofern als Beleg für Kants Festhalten am PAM gelten, als es unmoralische Handlungen anbelangt. Doch dies ist für unsere Zwecke schon ausreichend, sollen doch diese Art von Handlungen für Kant zweifellos als freie gelten, auch wenn in bezug auf sie das eingangs angesprochene terminologische Dilemma nicht auflösbar wäre. Ob nun Kant am PAM auch in bezug auf Handlungen festhalten möchte, die in die Rubrik ›moralisch‹ gehören, ist eine Frage, deren Beantwortung hier aus Platzgründen nicht in Angriff genommen werden kann. Hierzu bedürfte es einer genauen Untersuchung des Konzepts eines heiligen Willens, wobei etwa zu fragen wäre, ob für einen derartigen Willen unter denselben Antezendensbedingungen wenigstens verschiedene Handlungsoptionen im Exemplar-Sinn möglich sein müssen, die aber allesamt unter den Begriff ›moralisch‹ einzuordnen sind. Neben dem PAM ist der Begriff des Naturgesetzes integraler Bestandteil der Argumentation van Inwagens. Ohne eine explizite Definition anzubieten, formuliert er lediglich ein von ihm sogenanntes ›de-re-Prinzip‹ für Naturgesetze, das folgendermaßen lautet: »It is necessary that, for every person x and every proposition y, if y is a law of nature, then x cannot render y false«.8 Van Inwagen argumentiert deshalb expressis verbis mit physikalischen Naturgesetzen, was uns bei der Übertragung seiner Überlegungen auf die Kantische Argumentationsstrategie vor der Beantwortung der schwierigen Frage bewahrt, ob und inwiefern es für den Bereich der empirischen Psychologie spezielle Kausalgesetze gibt. Doch wenn es sie gibt, genügen sie sicher auch dem van Inwagenschen de-re-Prinzip, so daß die Argumentation entsprechend gilt. Nach diesen Vorüberlegungen können wir uns nun dem KonsequenzenArgument selbst zuwenden: Van Inwagen unterscheidet eine Grundformulierung und drei verschiedene Feindarstellungen des Arguments, die jeweils ein Strukturmoment besonders hervorzuheben in der Lage sind. Die Grundfor8
Van Inwagen: An Essay on free Will, 63.
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mulierung lautet: »If determinism is true, then our acts are the consequences of the laws of nature and events in the remote past. But it is not up to us what went on before we were born, and neither is it up to us what the laws of nature are. Therefore, the consequences of these things (including our present acts) are not up to us.«9 Von den drei detaillierteren Darstellungen wähle ich diejenige aus, die bereits mehrfach im Kontext der Kantischen Überlegungen diskutiert wurde.10 Wie wir gesehen haben, operiert van Inwagen mit physikalischen Gesetzen, auf deren Grundlage er zu einer Definition von ›Determinismus‹ gelangt, die wiederum aus zwei Teilsätzen besteht: (i) Für jeden Zeitpunkt gibt es eine Proposition, die den Zustand der Welt zu diesem Zeitpunkt beschreibt. (ii) Wenn P und Q Propositionen sind, die den Zustand der Welt zu verschiedenen Zeiten beschreiben, so folgt P aus der Konjunktion von Q und L, und dies im Sinne der materialen Implikation, wobei L selbst die Konjunktion aller aktual gültigen (physikalischen) Naturgesetze ist. Da der ›Determinismus‹ es van Inwagen zufolge primär mit Aussagen und deren logischen Beziehungen zu tun hat, muß das PAM ebenfalls auf die Ebene der Propositionen transformiert werden, um in das Argument für den Inkompatibilismus einzugehen. Van Inwagen verwendet zu diesem Zweck das Konzept des »rendering a proposition false«, also des ›eine (wahre) Aussage in eine falsche Verwandelns‹. Dies, genauer eine Person »s can render (t) false« wiederum versteht van Inwagen folgendermaßen: »It is within s’s power to arrange or modify the concrete objects that constitute his environment in some way such that it is not possible in the broadly logical sense that he arrange or modify those objects in that way and the past have been exactly as it in fact was and (t) be true«.11 Als letzter Vorbemerkung bedarf es schließlich noch des Hinweises, daß van Inwagens Argument mit einem exemplarischen Fall arbeitet, der sich entsprechend verallgemeinern läßt, nämlich mit den Annahmen, daß mit der Proposition P auch eine Tatsache in bezug auf eine Person J erfaßt werde, nämlich das Nicht-Heben ihres Armes, und daß sich die Proposition Q auf einen Zeitpunkt beziehe, der vor der Geburt dieser Person liegt. Somit können wir die Schritte im einzelnen darstellen:
9 10 11
Ebd. 56. Ebd. 68 –78. Ebd. 68.
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(i) Wenn der Determinismus wahr ist, so folgt P aus der Konjunktion von Q und L. (ii) Es ist nicht möglich, daß J zum Zeitpunkt p die Hand gehoben hat und P wahr ist. (iii) Wenn (ii) wahr ist und J die Hand zum Zeitpunkt p heben konnte, dann konnte er P in eine falsche Aussage verwandeln. (iv) Wenn J die Aussage P in eine falsche Aussage verwandeln konnte, dann konnte er auch die Konjunktion L und Q in eine falsche Aussage verwandeln, da L und Q die Aussage P material impliziert. (v) Wenn J die Konjunktion L und Q in eine falsche Aussage verwandeln konnte, dann konnte er L in eine falsche Aussage verwandeln. (vi) J konnte L nicht in eine falsche Aussage verwandeln. (vii) Wenn die Determinismusthese wahr ist, konnte J zum Zeitpunkt p seinen Arm nicht heben. (i) bis (iii) scheinen unproblematisch zu sein; in bezug auf (iv) kann man den ›Verstandesschluß‹ der Kontraposition beziehungsweise den ›Vernunftschluß‹ des modus tollens zu Hilfe nehmen, wobei allerdings noch die Verknüpfung zwischen der Ebene der Propositionen und die der Sachverhalte herzustellen ist, was auf folgende Weise geschehen kann: Alles was im breiten logischen Sinn hinreichend für die Falschheit des Sukzedens ist, ist im selben Sinne hinreichend für die Falschheit des Antezedens. (vi) operiert mit dem oben angesprochenden de-re-Prinzip für Naturgesetze, so daß die Frage übrig bleibt, wie in (v) die Aussage Q eliminiert werden kann. Dies ist nach van Inwagens Ansicht deshalb der Fall, weil es sich bei (v) um eine Instantiierung des allgemeinen Prinzips handle, wonach gilt: »If q is a true proposition that concerns only states of affairs that obtained before s’s birth, and if s can render the conjunction of q and r false, then s can render r false.«12 Van Inwagens Argument ist vom Streit zwischen den Inkompatibilisten und Kompatibilisten selbstverständlich nicht verschont geblieben; es ist dennoch das prominenteste und am ausführlichsten diskutierte. Die Anhänger Frankfurts unter den Kompatibilisten glauben auf das PAM ganz verzichten zu können und brechen dem Konsequenzenargument dadurch von vornherein die Spitze; andere, wie etwa Lewis, dessen Position weiter unten detailliert behandelt wird, wollen zwar am PAM festhalten, es allerdings weitaus schwä12
Ebd. 72.
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cher lesen als die Inkompatibilisten und so die Grundlage der entscheidenden Argumentationsschritte untergraben. Wie weiter unten deutlich werden wird, hängt diese Strategie wiederum auf das engste mit dem genauen Verständnis des van Inwagenschen de-re-Prinzips zusammen: Van Inwagen interpretiert seine Formulierung aus der Grundversion, wonach es nicht ›up to us‹ sei, was die Naturgesetze seien, eo ipso als Unvermögen, die aktual gültigen Naturgesetze zu brechen. Daß dies nicht die einzig mögliche Lesart ist, wird sich als entscheidend erweisen. Innerhalb der genannten Koordinaten wird sich zudem auch die Bewertung der Lesarten des Kantischen Kompatibilismus zu positionieren haben. Die Komplikation besteht dabei darin, daß Kant das PAM im starken Sinn der Inkompatibilisten zu verstehen scheint, dabei aber ganz offensichtlich zugleich eine kompatibilistische Position einnehmen will.
3. Zwei Lesarten des Kantischen Kompatibilismus und ihre Probleme a) Anomischer Monismus avant la lettre Ich beginne mit einer Lesart, die sich dezidiert nicht als Interpretation oder historische Rekonstruktion, sondern als rationale Rekonstruktion versteht, nämlich mit dem Versuch Hud Hudsons, Kants Position als eine Art Vorwegnahme von Donald Davidsons anomischem Monismus sehen zu wollen.13 Davidson entwickelt seinen Ansatz14 selbst in der Auseinandersetzung mit Kantischen Positionen, ohne allerdings selbst eine Identifikation zu insinuieren: »But the broader issue can remain alive even for someone who believes a correct analysis of free action reveals no conflict with determinism. Autonomy (freedom, self-rule) may or may not clash with determinism; anomaly (failure to fall under a law) is, it would seem, another matter. […] And of course the connection is closer, since Kant believed freedom entails anomaly.«15 Er geht aus von drei Thesen, die gleichermaßen plausibel, dennoch aber eine inkonsistente Menge von Aussagen zu ergeben scheinen. Dies ist einmal Vgl. Hudson: Kant’s Compatibilism; Hudson: Kant’s Third Antinomy and anomalous monism, 234–267. Weitaus detailliertere Auseinandersetzungen mit Hudsons These finden sich in Ertl: Hud Hudson. Kant’s Compatibilism; Ertl: Davidson or Kant on Freedom and Determinism: Transcendental Idealism as Anomalous Monism? 14 Vgl. Davidson: Mental Events. 15 Ebd. 207. 13
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das Prinzip der Interaktion, zweitens das nomologische Prinzip der Kausalität und drittens das Prinzip der Anomalie des Geistigen. Das Prinzip der Interaktion besagt, daß einige geistige Ereignisse in kausaler Wechselwirkung mit physischen Ereignissen stehen. Das nomologische Prinzip der Kausalität besagt, daß eine kausale Beziehung, als deren Relata nur Ereignisindividuen in Frage kommen, die sich raum-zeitlich lokalisieren lassen, von einem ›covering law‹ abgedeckt sein muß, das strikt deterministisch ist. Das Prinzip der Anomalie des Geistigen schließlich besagt, daß es keine Gesetze gibt, auf deren Grundlage sich geistige Ereignisse vorhersagen oder erklären lassen. Was die Begründungen der einzelnen Prinzipien anbelangt, so interessiert uns primär natürlich die Argumentation zugunsten des Prinzips der Anomalie des Geistigen. Zunächst fällt auf, daß Davidson für die These argumentiert, wonach es keinerlei Brückengesetze zwischen dem Geistigen und dem Physischen geben könne, eine These, die allerdings unter vernünftigen Annahmen das besagte Prinzip impliziere. Was diese vernünftigen Annahmen sind, läßt Davidson offen; es ist allerdings davon auszugehen, daß aufgrund des Prinzips der Interaktion zumindest manche geistige Ereignisse mittels physikalischer Ereignisse erklärbar sein müßten. Wie versucht Davidson nun, die Unmöglichkeit solcher Brückenprinzipien zu etablieren? Er tut dies, indem er zu zeigen versucht, daß mentalistisches und physikalistisches Vokabular quasi nicht zueinander ›passen‹, wie es Beckermann plastisch formuliert.16 Und sie passen laut Davidson deshalb nicht zueinander, weil sich die ceteris-paribusKlauseln, die schon dafür erforderlich sind, um die durchaus vorhandenen, nicht-strikten gesetzesartigen Aussagen über Korrelationen von Geistigem und Physischen zu formulieren, nicht homonom, d. h. in einem einheitlichen Vokabular, präzisieren lassen. Und dies liege wiederum daran, daß sich Aussagen mit geistigen Prädikaten aufgrund der Prinzipien der Rationalität in bezug auf Revidierbarkeit ganz anders verhalten als Aussagen, die in physikalischem Vokabular formuliert sind. Der Ausweg, den Davidson wählt, um den Schein des Widerspruchs zwischen seinen Ausgangsthesen zu beseitigen, ist eine Identitätstheorie, eine Identitätstheorie, die sich allerdings wesentlich von ihren Vorgängertheorien unterscheidet. Semantische Physikalisten vom Schlage der logischen Behaviouristen etwa, vertraten die Ansicht, daß mentale Prädikate synonym mit physikalischen Prädikaten seien. Andere Identitätstheoretiker glaubten zwar 16
Beckermann: Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes, 193.
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nicht an diese Synonymie, meinten aber doch, mentale Phänomene ließen sich auf dieselbe Weise gesetzesartig mit physischen Phänomenen identifizieren, wie etwa Temperatur als mittlere kinetische Energie von Molekülen bestimmt werden könne beziehungsweise gar nichts anderes sei als diese. Die genannten Identitätstheorien sind von daher allesamt sogenannte Typenidentitätstheorien. Mentale Phänomene eines bestimmten Typs M sind identisch mit physikalischen Phänomenen eines Typs P, also z. B. Schmerz, genauer jedes einzelne Schmerzphänomen, identisch mit einem physikalischen Ereignis des Typs P, in unserem Fall dem Feuern der C-Fasern im Gehirn. Dieser Schachzug steht Davidson aufgrund des Anomalie-Prinzips nicht offen. Für ihn sind ja mentale Ereignisse weder definitorisch noch nomologisch auf physikalische reduzierbar. Seine Version der Identitätstheorie ist deshalb die einer sogenannten Exemplaridentität, d. h. jedes individuelle Exemplar eines geistigen Ereignisses ist mit einem Exemplar eines physikalischen Ereignisses identisch, aber es lassen sich gerade keine Typen-Korrelationen herstellen, ein Ansatz, der zweifellos mit Erkenntnissen der Neurophysiologie korrespondiert, die von so etwas wie Multirealisierbarkeit ausgehen. Davidsons Strategie zur Auflösung des scheinbaren Widerspruchs verdeutlicht zugleich die Attraktivität der Idee, diese Position mit der Kantischen zu identifizieren. Extensional aufgefaßte, d. h. unabhängig von ihrer jeweiligen Beschreibung betrachtete, als solche raum-zeitlich lokalisierbare Ereignisexemplare sind die Relata der Kausalbeziehung. Die große Stärke dieses Ansatzes besteht darin, eine plausible Theorie anzubieten, wie geistige Ereignisse kausal wirksam sein können. Damit scheinen eine Reihe von andernfalls hochproblematisch erscheinenden Thesen Kants erheblich an Plausibilität zu gewinnen. Es sind dies im einzelnen die folgenden Behauptungen Kants, die Hudson so zusammenfaßt: (i) Auf der einen Seite gehe Kant von der Unabhängigkeit des Menschen von pathologischer Nezessitation aus, auf der anderen Seite aber auch von der kausalen Determination aller Handlungen. (ii) Auf der einen Seite behaupte Kant, daß bei Handlungen – der Kausalität nach – absolute Anfänge von Kausalreihen vorlägen, die aus den Bedingungen der Zeitbestimmung herausfielen, auf der anderen Seite behaupte er aber auch, daß alle Handlungen in einen lückenlosen Kausalzusammenhang eingepaßt seien. (iii) Während Kant auf der einen Seite die These vertrete, daß Handlungen aus nicht erkennbaren und nicht verstehbaren Gründen entsprängen, gehe er auf der anderen Seite allerdings auch von der Erklärbarkeit und Prognostizierbarkeit einer Handlung als Naturereignis aus. Hudsons
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Strategie besteht nun klarerweise darin, die linke Seite der genannten Gegenüberstellung der Beschreibung des Ereignisindividuums in mentalistischem Vokabular zuzuordnen, die rechte Seite dagegen seiner Beschreibung in physikalistischem Vokabular. Generell weist die Idee der zweifachen, nicht-reduzierbaren Beschreibbarkeit bei Exemplaridentität natürlich Ähnlichkeit mit der sogenannten Zwei-Aspekte-Deutung des transzendentalen Idealismus überhaupt auf, wobei allerdings nicht gesagt sein soll, daß die Dinge an sich per se geistiger Natur sein sollen.17 Aber wie ist es um die Möglichkeit eines PAM-Kompatibilismus bestellt? Hudson ist der Ansicht, der anomische Monismus, und damit nach seinem Verständnis auch der Ansatz Kants, lasse sich mit einer Theorie verknüpfen, durch die genau dies gewährleistet werden kann. Um zu sehen wie, rufen wir uns zur Beantwortung dieser Frage noch einmal die entscheidenden Schritte aus van Inwagens Konsequenzenargument ins Gedächtnis. Es sind dies die Schritte (v) und (vi) aus dem obigen Argument. Die Kernüberlegung können wir unter Anwendung eines der de Morganschen Gesetze folgendermaßen zusammenfassen. Wenn die Person J die Aussage P in eine falsche Aussage verwandeln konnte, so konnte sie auch Q oder L in eine falsche Aussage verwandeln. Doch sie konnte weder (laut (v)) Q noch (laut (vi)) L in eine falsche Aussage verwandeln, und deshalb konnte sie auch P nicht in eine falsche Aussage verwandeln. Hudson zufolge speist sich die Plausibilität dieser beiden Argumentationsschritte aus der Annahme, die Fähigkeit des ›rendering false‹ müsse selbst in kausalistischen Termini konzipiert werden, wie es van Inwagens oben zitierte Überlegung auch in der Tat nahelegt. Da wir selbstverständlich nicht die Vergangenheit kausal verändern noch – im Horizont des de-re-Prinzips – die Naturgesetze ändern bzw. brechen können, scheint das Argument schlüssig zu sein. Doch ist es Hudson zufolge gerade kontrovers, daß das ›rendering false‹ in kausalistischen Termini konzipiert werden müsse. Der sogenannte ›alteredpast‹- und der ›altered-law‹-Kompatibilismus offerierten gerade eine nichtkausalistische Lesart und unterminierten dadurch die entscheidenden Argumentationsschritte (v) und (vi): »The reason for the denial is straightforward: when the compatibilist says that Kant could have done otherwise; she simply means that Kant had an ability that is such that, if he had exercised it, then Hudson: Kant’s Compatibilism, 49–56; Hudson: Kant’s Third Antinomy and anomalous monism, 252–257. 17
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either the past or the laws of nature would have been different than they in fact are.«18 Und wenn dem so ist, wird van Inwagens Argument klarerweise ungültig. Betrachten wir zunächst den ›altered-past‹-Kompatibilismus, wie er etwa von Robert Foley vertreten wurde: Foley macht sich in seinen Überlegungen das logische Gesetz der Kontraposition sowie das Konzept einer hinreichenden Bedingung zunutze. Wenn eine Menge M von Bedingungen B hinreichend für das Eintreten eines Ereignisses E oder eines Sachverhaltes S sind, so ist das Nicht-Eintreten des Ereignisses E oder das Nicht-Bestehen des Sachverhalts S selbst hinreichend für das Nicht-Vorliegen mindestens einer der Bedingungen B aus M, ohne daß im letzteren Fall Kausalbeziehungen im Spiel sein müssen.19 Der etwa von David Lewis vertretene ›altered-law‹-Kompatibilismus stützt sich auf eine ähnliche Überlegung. Wenn die Naturgesetze in der aktualen Welt sowie ihr aktualer Ereignisverlauf das Eintreten eines bestimmten Ereignisses, z. B. das Heben meiner Hand, unmöglich machen, so heiße dies nur, daß das Heben meiner Hand auf eine ganz spezifische Form des ›Brechens‹ mindestens eines Naturgesetzes hinauslaufe. Doch sei dieses ›Hinauslaufen‹ gerade nicht eo ipso kausalistisch zu lesen, besage dies ja nicht, daß das Heben meiner Hand den ›Bruch‹ des Kausalgesetzes bewirke. Vielmehr sei das Heben meiner Hand hinreichend für das Vorliegen irgendeines ›divergence-miracle‹, kraft dessen ein Gesetz der aktualen Welt kein wirkliches, sondern allenfalls ein ›almost law‹ wäre. Dabei ist zu beachten, daß das Heben meiner Hand das ›divergence miracle‹ ebenfalls nicht bewirke, sondern lediglich hinreichend für das Vorliegen irgend eines ›divergence miracle‹ sei.20 Es ist korrekt, daß zwischen den Inkompatibilisten und Kompatibilisten die Frage gerade umstritten ist, ob das ›rendering false‹-Prinzip (und damit das PAM) so konstruiert werden muß, daß (i) die Vergangenheit und (ii) die Naturgesetze gleichsam festgehalten werden, ›hold fixed‹ wie Hudson sagt.21 Ich denke allerdings, es kann wenigstens in bezug auf (i) nicht umstritten sein, daß dies bei Kant der Fall ist. Dies verdeutlicht einmal mehr ein Blick in das oben skizzierte Beispiel der ›boshaften Lüge‹. Es ist klar, daß nach Kants Meinung die Vergangenheit ›festgehalten‹ wird, so daß wir den ›altered past‹-Ansatz
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Hudson: Kant’s Compatibilism, 97. Foley: Compatibilism and Control over the Past, 72 f. Lewis: Are we free to break the laws? Hudson: Kant’s Compatibilism, 96.
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tatsächlich ad acta legen dürfen. In welchem Sinn dieses Festhalten auch für die Naturgesetze gelten soll, werden wir noch genauer zu untersuchen haben. Jedenfalls scheint der Eindruck der Konfusion, die eine ganze Reihe von Kommentatoren in bezug auf die Kantische Vorgehensweise vermuten, in der Tat dadurch entstanden zu sein, daß man meint, Kant wolle eben genau die Menge der aktualen Naturgesetze ›festhalten‹ und zugleich vom PAM ausgehen. Von daher liefert das van Inwagensche Argument und die sich daran anschließende Diskussion ein ausgesprochen brauchbares Instrumentarium zum Verständnis des sachlichen Problems, mit dem sich Kant hier auseinandersetzt. Werfen wir von daher also einen genaueren Blick auf den ›altered law‹Kompatibilismus! Folgende Punkte sind für sein Gelingen konstitutiv: a) Die Naturgesetze dürfen nicht notwendig in dem Sinne sein, daß sie in allen möglichen Welten gelten. In diesem Fall gäbe es nämlich trivialerweise keine mögliche Welt, in der andere Naturgesetze Gültigkeit besitzen. b) Das PAM verknüpft naturgemäß mögliche Welten miteinander, denn hätte eine Person anders gehandelt, als es tatsächlich der Fall war, so wäre eine andere mögliche Welt die aktuale. Im Rahmen des ›altered law‹-Kompatibilismus unterscheiden sich diese möglichen Welten zudem hinsichtlich der in ihnen gültigen speziellen Naturgesetze. Genau dies konfligiert allerdings mit der Intuition, das PAM müsse doch in einem stärkeren Sinn möglich sein, nämlich relativ zu denjenigen möglichen Welten, in denen dieselben Naturgesetze gelten wie in der aktualen. Diese Intuition führt bei den metaphysischen Libertarianern dazu, aufgrund des PAM die Geltung eines lückenlosen Netzes von speziellen Kausalgesetzen zu leugnen, während die harten Deterministen aufgrund des Vorhandenseins dieser Gesetze das PAM aufgeben wollen. Doch möglicherweise ist der Verzicht auf diese Intuition genau der Preis, den wir für die philosophische Klärung unseres Alltagsverständnisses bezahlen müssen c) Wir benötigen eine plausible These in bezug auf den ›truth maker‹ oder Wahrheitsgrund der irrealen Konditionalaussage in der oben zitierten Passage bei Hudson. Betrachten wir also noch einmal diesen ( jetzt geringfügig modifizierten und im folgenden als Kernprinzip K des ›altered past‹-Kompatibilismus bezeichneten) entscheidenden Satz: The agent had an ability that is such that, if he had exercised it, then the laws of nature would have been different than they in fact are.22 Hudson: Kant’s Compatibilism, 97. Diese Überlegungen Hudsons gehen zurück auf Lewis: Are we free to break the laws?, 114–117. Vgl. ebd. 115 die Unterscheidung 22
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Wie kann nun die Wahrheit des ›counterfactuals‹, also der irrealen Konditionalaussage, die das fragliche Vermögen erläutern soll, begründet werden? Lewis’s Ansatz liefert, wie wir gesehen haben, als Wahrheitsgrund für diese irreale Konditionalaussage seinerseits ein ›counterfactual‹, das mit der Idee eines ›divergence miracle‹ operiert, dessen Wahrheit sich aber unschwer über seinen mögliche-Welten-Ansatz abstützen läßt. Diese irreale Konditionalaussage ist nach Lewis’ eigener Theorie wahr, wenn es eine Welt gibt, in der das Antezedens und das Sukzedens wahr sind und die der aktualen Welt ähnlicher ist als eine Welt, in der das Antezedens wahr ist, das Sukzedens dagegen falsch. Dies heißt in unserem Fall, es muß eine mögliche Welt geben, in der ich meine Hand hebe (um das obige Beispiel Lewis’ aufzugreifen) und in der das ›divergence miracle‹ eintritt. Und dabei handelt es sich wiederum um ein Ereignis, das mit den Gesetzen der aktualen Welt unvereinbar, mit denen der fraglichen möglichen Welt allerdings sehr wohl vereinbar ist. Diese mögliche Welt unterscheidet sich von der aktualen damit also um das Heben meiner Hand zum fraglichen Zeitpunkt, dem ›divergence miracle‹ und der minimal verschiedenen Menge von speziellen Naturgesetzen. Wir müssen somit allerdings auch eine minimale Differenz innerhalb der Geschichte in den möglichen Welten zugestehen. Wenn nicht, muß das Heben des Armes auf andere Weise als zumindest partiell hinreichend für das Bestehen einer anderen Menge von speziellen Kausalgesetzen erwiesen werden. Wie sieht nun Davidson diese Problemlage, und wie steht er zum PAM? Davidson lehnt die von G. E. Moore entwickelte, konditionalistische Analyse von ›können‹ ab, die im Zentrum des ›altered past‹-Ansatzes steht, weil sie just die Brückenprinzipien präsupponiere, deren Vorhandensein er gerade leugnet.23 Wenn wir sagen, jemand habe anders handeln können, so äußern wir Moore zufolge nämlich zunächst einmal einen unvollständigen Satz, der durch einen Bedingungssatz ergänzt werden müsse: die Person habe anders handeln können, wenn sie sich dafür entschieden hätte. Dies sei allerdings äquivalent mit der Aussage ›sie hätte anders gehandelt, wenn sie sich dafür entschieden hätte‹. Die zugrundeliegende Idee dieser konditionalistischen Analyse von ›können‹ ist damit folgende: wir schalten vor die fragliche Handeiner starken und einer schwachen These in bezug auf die Fähigkeit, die Naturgesetze zu brechen: die schwache These lautet: »I am able to do something such that, if I did it, a law would be broken«; die starke These dagegen lautet: »I am able to break a law«. 23 Vgl. für das Folgende auch Davidson: Freedom to Act, insbesondere 73, Fn. 9.
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lung eine hinreichende Bedingung oder wenigstens einen Aspekt einer hinreichenden Bedingung, die in unserer Kontrolle, und nicht zugleich notwendige Bedingung ist; in letzterem Fall hätte nämlich bei ihrem Nichteintreten die Handlung nicht erfolgen können.24 Davidson diskutiert allerdings einen Rettungsversuch und schneidet den in bezug auf diese konditionalistische Analyse oftmals erhobenen Regreßvorwurf dadurch ab, daß er im Gegensatz zu den Mooreschen Vorgaben nicht etwa eine Handlung, sondern einen Zustand, genauer ein Paar, bestehend aus einer ›pro-attitude‹ und einem ›belief‹, als hinreichende Bedingung für eine intentionale Handlung vorschaltet. Davidson zufolge scheitert allerdings auch diese Strategie letztlich daran, daß sich die genauen kausalen Bedingungen, unter denen eine Handlung intentional ist, nicht in mentalistischen (und natürlich auch nicht in physikalistischen) Termini formulieren lassen. In diesem Zusammenhang stellt Davidson klar, daß er sich Frankfurts Position anschließt. Um frei zu sein, muß eine Handlung intentional sein, und die Freiheit selbst ist eine kausale Kraft (›power‹), insofern freie Handlungen von mentalen Zuständen bzw. Ereignissen, da diese mit physikalischen identisch sind, verursacht werden. Das PAM benötigen wir Davidson zufolge dazu nicht. Doch genau dies bleibt kontrovers, denn ebenso wie in bezug auf Moores Strategie zurückgefragt werden kann, ob sich der Handelnde hatte anders entscheiden können, ergibt sich – und zwar völlig unabhängig von der Möglichkeit von Brückengesetzen – nunmehr das Problem, ob der Handelnde in einem anderen geistigen Zustand sein konnte. Wenn der vorhergehende neuronale Zustand den darauf folgenden kausal bewirkt, dann mußte, da dieses Exemplar mit dem fraglichen Exemplar des geistigen Zustands identisch ist, der Handelnde in diesem geistigen Zustand sein und über die fragliche Intention verfügen. An dieser entscheidenden Stelle geht Hudson über Davidsons Ideen hinaus, indem er sie mit Lewis’ Ansatz anreichert. Damit kann unter den Vorzeichen eines anomischen Monismus zwar die Position eines PAM-Kompatibilismus Ich orientiere mich hier an der Darstellung von Berofsky: Ifs, Cans, and Free Will: the Issues, hier 180–188. Die Struktur der Mooreschen Analyse, so Berofsky, könne bewahrt werden, obwohl Austin gezeigt habe, daß die von Moore selbst untersuchten if-Sätze keine Bedingungssätze und insbesondere keine kausalen Bedingungssätze sind. Austin habe demnach nicht etwa die konditionalistische Analyse per se widerlegt, sondern lediglich deren konkrete Ausgestaltung durch Moore. 24
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etabliert werden; es stellt sich spätestens jetzt allerdings die Frage, ob die Etikette (i) ›anomischer Monismus‹ und (ii) ›altered law-Kompatibilismus‹ Kant zu Recht angeheftet werden können? ad (i) Der anomische Monismus leidet an einer systematischen Schwäche, und diese systematische Schwäche koinzidiert mit einer interpretatorischen, wenn man Kant als Vertreter dieser Position verstehen will. In systematischer Hinsicht ist dies das Problem, daß – zumindest laut einer einflußreichen Theorie25 – mit dem Zugeständnis der Kontingenz der Identitätsthese zugleich deren Falschheit behauptet werde. In interpretatorischer Hinsicht erweist sich die Kopplung der Kausalrelation an ein physikalistisches Vokabular, was viele gerade als Stärke des anomischen Monismus betrachten, insofern als Schwäche, als ›Kausalität aus Freiheit‹ (KrV A 532 / B 560) – entgegen Kants eigenen Aussagen – nicht wirklich als eigene Art von Kausalität aufgefaßt werden kann, sondern auf so etwas »telling himself the approppriate internal story« reduziert werden muß, um diese Formulierung Meerbotes aufzugreifen.26 Kausalität aus Freiheit wird in diesem Ansatz nämlich de facto gleichgesetzt mit Deliberation. ad (ii) Man ist hier zweifellos auf einem vielversprechenden Weg, jedoch ergibt sich eine Schwierigkeit in bezug auf das oben angesprochene Kernprinzip dieser Variante des Kompatibilismus, insbesondere aber in bezug auf seinen Wahrheitsgrund. Die Relation zwischen der alternativen Handlung zu dem ›divergence miracle‹ ist, wie wir oben gesehen haben, die einer hinreichenden Bedingung, und dies wird wiederum im Rekurs auf die Semantik der möglichen Welten erläutert. Aber können wir uns mit dieser Erläuterung bereits zufrieden geben? Wäre es nicht Aufgabe einer solchen Lösungsstrategie, uns näheren Aufschluß über den ›Mechanismus‹ zu geben, der die alternative Handlung über das ›divergence miracle‹ mit der dieser zugeordneten Menge an speziellen Kausalgesetzen verknüpft? Eine solche Erläuterung des fraglichen Zusammenhangs ergibt sich indirekt aus einer Interpretation Allen Woods. Greift man einen Einwand Ralph Walkers auf, so zeigt sich, daß Wood einen Keil zwischen van Inwagens Grundformulierung und seiner Selbstinterpration treibt, wonach die These, 25 26
Kripke: Naming and Necessity, 140 –155. Meerbote: Kant on the Nondeterminate Character of Human Actions, 150.
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daß die Naturgesetze nicht ›up to us‹ seien, zwangsläufig im Sinne der Unfähigkeit, die Naturgesetze der aktualen Welt zu brechen, interpretiert werden müsse. Mit der These, Kant rekurriere zur Lösung des Freiheitsproblems auf das antike Lebenswahlmotiv muß Wood nämlich zugleich behaupten, daß der Inhalt der Gesetze in der aktualen Welt von dieser Wahl abhängt. Da es ihm damit gelingt, Kausalität aus Freiheit als eigene und genuine Form von Kausalität zu retten, soll diese Überlegung näher expliziert werden.
b) Charakterwahl und Ewigkeit des transzendentalen Ich Wood greift hier auf Überlegungen Schopenhauers zum Verhältnis von empirischem und intelligiblen Charakter zurück.27 Der empirische Charakter ist für Schopenhauer die Beschaffenheit eines jeden Dinges in der Welt, nach der es wirke, und in dieser Beschaffenheit seien alle ›Äußerungen‹ dieses Dinges bereits »potentia« vorhanden, die »actu aber eintreten, wann äußere Ursachen sie hervorrufen«. Der durch Erfahrung unzugängliche innere Grund sei bei jedem Ding dessen intelligibler Charakter, nämlich »das Wesen an sich dieses Dinges«.28 Schopenhauer bedient sich hier zur Verdeutlichung des Verhältnisses von intelligiblem und empirischen Charakter der aus dem Druckereihandwerk entlehnten Metaphorik von Prägestempel und Siegel. Im Unterschied zu nicht-menschlichen Dingen bzw. zu solchen Dingen, die nicht Personen sind, verfüge der Mensch allerdings über die Freiheit, daß er ein anderer hätte sein, d. h. einen anderen intelligiblen Charakter hätte wählen können. Durch diesen Schachzug würden wir zudem von dem Grundirrtum zurückgebracht, der die »Notwendigkeit ins ›esse‹ und die Freiheit ins ›operari‹ verlegte«, wiewohl es sich genau umgekehrt verhalte. Die moralische Verantwortlichkeit des Menschen beziehe sich nämlich im Grunde auf das, was er sei. Schopenhauer sieht damit das PAM lediglich in bezug auf diese Wahl des intelligiblen Charakters gewahrt. Im Hinblick auf einzelnen Handlungen, die notwendige Folgen der inneren Beschaffenheit und der äußeren Ursachen seien, könne nur im abgeleiteten Sinn davon gesprochen werden, daß alternative Ereignisketten initiiert werden könnten, nämlich insofern die innere Beschaffenheit eine andere 27 28
Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral, 704 –710. Ebd. 706 f.
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hätte sein können. Relativ zum gegebenen empirischen Charakter könne es dagegen bei einer bestimmten Motivlage nur einen möglichen Ereignisverlauf geben. Hier schließt sich Schopenhauer einer generellen Tendenz der Rezeptionsgeschichte an und amalgamiert den platonischen Mythos des Er aus dem Schluß der Politeia,29 den er der Vorstellung der Charakterwahl zugrundeliegen sieht, mit der stoischen Unterscheidung von causa principalis und causa auxiliaris, wie sie uns in Ciceros de fato anhand des sogenannten Walzengleichnisses verdeutlicht wird.30 Schopenhauer scheint nun allerdings Kants Lehre in einer wichtigen Hinsicht umzudeuten, indem er sie der eigenen annähert: »Hiedurch war nun auch jene Unveränderlichkeit, jene unbiegsame Starrheit des empirischen Charakters jedes Menschen, welche denkende Köpfe von jeher wahrgenommen hatten (während die übrigen meinten, durch vernünftige Vorstellungen und moralische Vormahnungen sei der Charakter eines Menschen umzugestalten), auf einen rationellen Grund zurückgeführt, mithin auch für die Philosophie festgestellt und diese dadurch mit der Erfahrung in Einklang gebracht«.31 Jene Vorstellung der ›unbiegsamen Starrheit‹ ist nun zweifellos genuin Schopenhauersche Lehre; sie ist allerdings ebenso klarerweise nicht die Kantische. Während Schelling laut Schopenhauer die Kantische Lösung als die seine ausgibt, weist Schopenhauer sein eigenes Theoriestück als Gedanken Kants aus. Was er damit unberücksichtigt läßt, ist zum einen dasjenige, was man den oder vielmehr einen Paulinischen Zug der Moralphilosophie Kants nennen könnte. Für Kant ist es ausgemacht, daß moralische Konversionen jederzeit möglich sein müssen. Die Vorstellung einer Starrheit des intelligiblen wie des empirischen Charakters ist damit aber zweifellos inkompatibel. Zum zweiten ist es die von Kant konzedierte Möglichkeit des moralischen Fortschritts, die sich mit dem Schopenhauerschen Attribut der Unbiegsamkeit kaum in Einklang bringen lassen dürfte.
Platon: Politeia 614b – 621d. Vgl. hierzu die Ausführungen Amands: Fatalisme et liberté dans l’antiquité grecque. Recherches sur la survivance de l’argumentation morale antifataliste de Carnéade chez les philosophes grecs et les théologiens chrétiens des quatres premiers siècles. Amand liefert ein konzises Referat sowohl des Mythos selbst (31–33) als auch seiner Auslegung durch Porphyrios (164 f.). 30 Schopenhauer: Preisschrift über die Grundlage der Moral, 706 f. 31 Ebd. 705 f. 29
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An genau dieser Stelle setzt der Versuch Allen W. Woods an, eine ausgefeiltere Lesart der Wahl des intelligiblen Charakters zu entwickeln, die eben jenen beiden Erfordernissen gerecht werden kann.32 Er tut dies, indem er ein traditionellerweise Gott vorbehaltenes Prädikat, nämlich das Prädikat der Ewigkeit, auf das transzendentale Ich überträgt. Daß Wood Kants transzendentalphilosophischen Ansatz damit notwendigerweise als Zwei-WeltenLehre liest, ist ein Punkt, auf den weiter unten noch detailliert einzugehen sein wird. Was ist nun unter Ewigkeit zu verstehen und inwiefern kann mithilfe dieses Prädikats Konversion wie moralischer Fortschritt zugelassen werden? Zunächst einmal müssen wir unterscheiden zwischen der Funktion, die dieses Prädikat in den Überlegungen bei Boethius hat, und der Funktion, an der Wood wenigstens primär interessiert ist. Boethius bestimmt ›Ewigkeit‹ als »interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio«.33 Es geht ihm darum, das göttliche Wissen um Taten, die vom Standpunkt des Menschen aus in der Zukunft liegen, mit der Vorstellung zu versöhnen, daß diese Taten nichtsdestoweniger aus Freiheit erfolgen. Ein Kontext dieser Überlegungen ist dabei das Aristotelische Problem der sogenannten contingentia futura aus de interpretatione 9, denen Boethius zwei wichtige Kommentare gewidmet hat. Der Kern der Überlegungen des Boethius besteht darin, daß das ewige Wesen selbst außerhalb der Zeit ist, dennoch aber in einer Art Simultaneitätsrelation zu allen Zeitpunkten selbst steht. Diese Simultaneitätsrelation, die wir im Einklang mit dem Sprachgebrauch in der einschlägigen Literatur e-Simultaneität nennen können, zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus. Sie ist symmetrisch, nicht-reflexiv, und ebenfalls nicht-transitiv. Kraft dieser e-Simultaneität bedarf das göttliche Wissen nicht etwa der Hilfe von Kausalgesetzen, um das, was aus der menschlichen Perspektive Gegenwart ist, in das für Menschen Zukünftige zu verlängern. Gott kann auch um solche zukünftige Ereignisse wissen, die auch anders verlaufen können, genau wie wir um gegenwärtige Ereignisse wissen können, die auch nicht hätten stattfinden können. Es gibt eine Reihe von Versuchen, diese eigenartige Beziehung zwischen dem Ewigem und dem Zeitlichen mittels geometrischer Modelle zu veranschaulichen, so etwa bei Thomas von Aquin, der mit einem schlichten Ver32 33
Wood: Kant’s Compatibilism. Boethius: De consolatione philosophiae, v, pr 6, 10 sq.
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gleich operiert: »Zum dritten ist zu sagen, daß das, was darauf beschränkt ist, zeitlich im Akt zu sein, von uns nacheinander in der Zeit erfaßt wird, dagegen von Gott in Ewigkeit, die über der Zeit ist. Von daher können contingentia futura für uns, weil wir sie als solche erfassen, nicht sicher sein, sondern nur für Gott, dessen Verstehen in Ewigkeit über der Zeit ist. So wie derjenige, der auf einem Weg geht, diejenigen, die hinter ihm gehen, nicht sieht, während derjenige, der von einer gewissen Höhe aus den gesamten Weg erfaßt, alle zugleich sieht, die den Weg entlang gehen. Das, was von uns gewußt wird, muß in der Tat notwendig in dem Sinne sein, wie es in sich selbst ist. Doch dasjenige, was von Gott gewußt wird, muß notwendig im Sinne des Modus sein, in dem es unter dem göttlichen Wissen steht, wie gesagt wurde; also nicht im absoluten Sinn, im Hinblick auf seine eigenen Ursachen erwogen«.34 Die thomanische Überlegung verdeutlicht zudem die Beziehung zwischen dem Wissen um Ereignisse, die aus der Perspektive des Menschen zukünftig sind, mit dem kausalen Determinismus auf der einen, dem logischen Determinismus auf der anderen Seite. Folgende Punkte sind hierbei zu beachten: (i) Das göttliche Wissen um (aus der Perspektive des Menschen) zukünftige Ereignisse impliziert bei Thomas, und hier folgt er den Überlegungen des Boethius auf das genaueste, weder die Geltung eines logischen noch die eines kausalen Determinismus. Dies hieße nämlich, ein Defizit der menschlichen Erkenntniskräfte als systematische Wahrheit auszeichnen. Denn für Menschen ist die (kausale oder essentielle) Notwendigkeit eines Ereignisses notwendige Bedingung für dessen Vorhersagbarkeit. Aufgrund der notwendigen kausalen Bedingungen läßt sich so mit Sicherheit bestimmen, welcher Sachverhalt zu einem bestimmten Zeitpunkt der Fall sein wird, auch wenn dieser
S.th. I 14,13 ad 3: »Ad tertium dicendum quod ea quae temporaliter in actum reducuntur, a nobis succesive cognoscuntur in tempore, sed a Deo in aeternitate, quae est supra tempus. Unde nobis, quia cognoscimus futura contingentia inquantum talia sunt, certa esse non possunt: sed soli Deo, cuius intelligere est in aeternitate supra tempus. Sicut ille qui vadit per viam, non videt illos qui post eum veniunt: sed ille qui ab aliqua altitudine totam viam intuetur, simul videt omnes transeuntes per viam. Et ideo illud quod scitur a nobis, oportet esse necessarium etiam secundum quod in se est: quia ea quae in se sunt contingentia futura, a nobis sciri non possunt. Sed ea quae sunt scita a Deo, oportet esse necessaria secundum modum quo subsunt divinae scientiae, ut dictum est: non autem absolute, secundum quod in propriis causis considerantur.« Zu Thomas’ Freiheitslehre allgemein vgl. Goris: Free Creatures of an Eternal God. Thomas Aquinas on God›s infallible foreknowledge and irrestibile will. 34
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Sachverhalt zum Zeitpunkt der Beobachtung eben noch nicht besteht. Für ein Wesen mit anders gearteten Erkenntniskräften ist die kausale Determination dagegen keine notwendige Bedingung, nämlich für solche, die kraft ihrer Ewigkeit in einer Beziehung der e-Simultaneität zu jedem beliebigen Zeitpunkt stehen. Wie sieht es aber mit dem logischen Determinismus aus? Ist es nicht so, daß Wissen der-Fall-sein impliziert, so daß der angeblich zukünftige Sachverhalt in irgend einer Weise doch schon besteht, so daß wir zwar dem kausalen Determinismus vielleicht entrinnen mögen, allerdings nur um in den Klauen des logischen Determinismus zu enden. Auch das ist bei Thomas nicht der Fall; der Wahrheitsgrund des entsprechenden Satzes ist nämlich der Archetyp des contingens futurum, das aus der Perspektive des Menschen noch nicht besteht, im Wesen Gottes.35 Somit kann Gott wissen, was seine freien Geschöpfe tun, ohne selbst gewissermaßen in der Welt ›nachsehen‹ zu müssen. Anders formuliert: was das contingens futurum wahr macht, ist, wie wir uns frei verhalten werden. Aus der Perspektive des Menschen ergibt sich so eine unbestimmte Wahrheitswertverteilung in bezug auf kontradiktorische contingentia futura.36 Wood ist nun am Prädikat der Ewigkeit nicht in Hinblick auf dessen Funktion zur Etablierung eines theologischen Kompatibilismus, sondern in einer wichtigen anderen Hinsicht interessiert. Mithilfe der besagten Simultaneitätsbeziehung, die auf das Verhältnis zwischen dem transzendentalen Ich und der Zeit übertragen wird, soll dagegen bei Wood zum einen Schopenhauers Vorstellung einer nichtzeitlichen Wahl des intelligiblen Charakters bewahrt werden, die die naturkausale Erklärung von Handlungen im Rekurs auf den empirischen Charakter ermöglicht, zum anderen aber deren Kompatibilität mit Konversionen und moralischem Fortschritt gesichert werden. Diese nichtzeitliche Wahl ist damit e-simultan mit jeder unserer Handlungen und damit ein entscheidender kausaler Faktor für ihr Zustandekommen. Vgl. hierzu Gilson: Le Thomisme. Introduction à la Philosophie de Saint Thomas d’Aquin, 132 –134. Robinsons Problem (vgl. Fn. 46) eines angeblichen Widerspruches in bezug auf das Konzept der ›scientia visionis‹ läßt sich auflösen, wenn man zwischen primärer und sekundärer Ursache unterscheidet. Thomas’ Behauptung, scientia visionis beziehe sich nicht auf die Ursachen eines contingens futurum muß klarerweise so verstanden werden, als seien damit die sekundären Ursachen gemeint. Vgl. hierzu auch: Kretzmann und Stump: God’s Knowledge and its Causal Efficacy. 36 Vgl. hierzu Seel: Introduction. Future Contingencies: The problem and its possible solutions, 34 –38. 35
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Beschränken wir uns hier auf das Problem von Konversionen, zumal dies – wie wir gleich sehen werden – für die Bewertung, wie leistungsfähig Woods Ansatz letztendlich ist, entscheidend sein wird. Betrachten wir zu diesem Zweck, und zwar unter Rückgriff auf und Weiterführung von Kants entsprechendem Beispiel, den Fall eines notorischen Lügners, der sich plötzlich eines Besseren besinnt und in einem entscheidenden Moment die Wahrheit sagt. Insofern muß die Maxime, aufgrund der der ehemalige Lügner nach seiner Konversion handelt, eine andere sein als die, auf deren Grundlage er der Lügner war, der er war. Maximen, d. h. selbstgewählte Handlungsgrundätze, wiederum zeichnen sich strukturell dadurch aus, daß sie Situationstypen mit Handlungstypen verknüpfen. Kommt es zu einer Konversion, muß die entprechende Maxime so ersetzt werden, daß ihr Situationstyp mit einem anderen, dem vorherigen quasi entgegegengesetzten Handlungstyp verknüpft wird. Dies verdeutlicht, wie Wood im übrigen selbst hervorhebt,37 daß die Charakterwahl als Wahl der Maximen insgesamt nicht als einmaliger, allen konkreten Handlungen vorausliegender Akt in der Zeit begriffen werden kann, denn in diesem Fall ist nicht zu sehen, wie es in einer Situation, die genau dem in der bis zum Zeitpunkt der Konversion relevanten Maxime spezifierten Typ entspricht, auf einmal zu Handlungen des ›entgegengesetzten‹ Typs kommen kann. Die Maximenwahl muß e-simultan zum Zeitpunkt der Konversion sein. Doch damit nicht genug, denn damit es zum fraglichen Zeitpunkt zur Konversion kommen kann, muß das transzendentale Ich wissen, in der entsprechenden Situation, obwohl sie genau dem in der bislang geltenden Maxime spezifizierten Typus entspricht, diese Maxime aufzugeben. Das heißt wiederum, daß die Konversion nicht so in die Charakterwahl integriert werden kann, daß gewissermaßen eine übergeordnete Maxime vorgeschaltet wird, die besagt, in der fraglichen Situation die bisher gültige, untergeordnete Maxime aufzugeben. Dies deshalb, weil der Situationstyp für beide Maximen derselbe sein müßte, wodurch es zu inkompatiblen Handlungsanweisungen käme. Es könnte gar nicht auf Grundlage der untergeordneten Maxime gehandelt werden. Um eine Konversion zu sein, dürfen sich die jeweiligen Situationen im Typen-Sinn eben nicht unterscheiden. Damit steht uns der Weg, die betreffende Situation durch Beschreibungen zu spezifizieren, nicht offen. Mit anderen Worten muß nicht nur davon ausgegangen werden, daß die zeitlose Wahl e-simultan mit den konkreten Handlungen ist, vielmehr 37
Vgl. Wood: Kant’s Compatibilism, 90 f. und 95 ff.
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ist dem transzendentalen Ich darüber hinaus auch so etwas wie ›knowledge by acquaintance‹ der konkreten Situation zuzuprechen, in der der Wechsel der Maximen erfolgt. Dies entspricht zwar durchaus der Logik der e-Simultaneität, es entspricht ihr allerdings auch, daß sie sich zudem auf zukünftige Ereignisse bezieht, wiewohl deren ontologischer Status selbst – wie wir gesehen haben – am besten als der einer Art Präfiguration zu verstehen ist. Von der Schwierigkeit einmal abgesehen, dieses Konzept der Präfiguration auf das transzendentale Ich zu übertragen, wird damit zumindest bestätigt, daß mit Woods Lesart transzendentales und empirisches Ich de facto als numerisch distinkte Entitäten aufgefaßt werden müssen, denn ein solches Wissen um die Zukunft kann, anders als im Fall des Wissens um die Aktivitäten der einzelnen Gemütsvermögen innerhalb des Erkenntnisprozesses, diesem empirischen Ich nicht einmal in einem impliziten Modus zugeschrieben werden. Für Woods Ansatz ergibt sich mindestens eine weitere Schwierigkeit. Wir sehen dies, wenn wir einen von Ralph Walker gegen die Vorstellung der Charakterwahl und der damit verknüpften Idee betrachten, der einzelne sei für diesen Charakter verantwortlich.38 Der empirische Charakter ist kausale Folge und Zeichen des intelligiblen in einem, eine Doppelbeziehung, die, wie wir oben sahen, in Schopenhauers Bild vom Petschaft und Siegel geradezu handgreiflich veranschaulicht ist. Er muß andererseits, als empirische Größe, selbst naturkausal erklärbar sein. Insofern der empirische Charakter nun seinerseits einer naturkausalen Erklärung unterworfen ist, muß mit der Wahl des intelligiblen Charakters durch das transzendentale Ich auch ein Weltverlauf gewählt werden, der – im Verein mit den entsprechenden Naturgesetzen – die gewünschte Erklärung des empirischen Charakters liefert. Dies, so Walker hat zur Folge, daß das transzendentale Ich für einen weitaus größeren Bereich von Ereignissen und Sachverhalten verantwortlich zu machen ist, als der lebensweltliche Begriff der Verantwortung nahezulegen scheint und uns lieb sein kann.39 Da die Gegebenheiten, die den empirischen Charakter erklären, wiederum selbst einer naturkausalen Erklärung zugänglich sein müssen und zudem von einer durchgängigen kausalen Interaktion in der Erscheinungswelt auszugehen sei, heiße dies, daß letztlich der gesamte Ereignisverlauf der Erscheinungswelt von dem je einzelnen oder aber von der Gesamtheit der transzendentalen Subjekte verantwortet werden müsse. 38 39
Walker: Kant, 149. Ebd.
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Wood antwortet auf die Bedenken Walkers wie folgt: Es erscheine doch vernünftig anzunehmen, daß ich nur für diejenigen Ereignisse verantwortlich sei, die eintreten, weil ich den empirischen Charakter habe, den ich habe. Dies möge sich in der Tat auf Ereignisse und Sachverhalte beziehen, die sich in einiger Entfernung zu meinem Leben in der zeitlichen Welt befänden. Doch da wir nicht wissen könnten, wie unsere zeitlose Wahl in der zeitlichen Welt wirke, bleibe der Ausweg offen, zu behaupten, sie können zumindest mit denjenigen Ereignissen und Sachverhalten korrespondieren, für die wir uns normalerweise für verantwortlich halten.40 Es scheint allerdings, daß diese Strategie das Gewünschte nicht zu leisten im Stande ist, und dies aus folgendem Grund. Einmal gehört es gerade zu den Bedingungen von zu verantwortendem Handeln, die näheren Umstände, vor deren Hintergrund dieses Handeln erfolgt, zu kennen, zum anderen – und hier können wir diesen Einwand mit dem vorher erhobenen verknüpfen – macht es Woods Strategie der – um das Schopenhauersche Bild aufzugreifen – ›biegsamen‹ Charakterwahl gerade erforderlich, das transzendentale Subjekt mit ›knowledge by acquaintance‹ sogar in bezug auf zukünftige Zeitpunkte auszustatten, so daß man sich nicht zugleich hinter den Schild des ignoramus zurückziehen kann. Die einmal gerufenen Geister der Ewigkeit lassen sich nicht ohne weiteres wieder in die Schranken weisen. Bevor wir uns nach diesen langen Ausflügen in die zeitgenössische sowie in die antike und mittelalterliche Philosophie wieder Kant selbst zuwenden, können wir die Ergebnisse dieses Abschnittes noch einmal zusammenfassen. Gegen Woods These, Kant rekurriere auf das Motiv der Lebenswahl und übertrage dabei das Prädikat Ewigkeit auf das transzendentale Ich ließen sich zwei miteinander verknüpfte Einwände erheben: (i) Wood mußte unplausiblerweise ein Wissen des transzendentalen Ich um die Zukunft veranschlagen; (ii) zudem ergab sich das Problem der Überdehnung des lebensweltlichen Verantwortungsbegriffs durch eine Theorie, die doch die ›gemeine sittliche Venunfterkenntnis‹ durch Klärung (und Rekonstruktion) vindizieren soll. Wood verfügt damit zwar über eine Rechtfertigung der Wahrheit des Kernprinzips des ›altered law‹-Kompatibilismus, sie erweist sich allerdings als zu stark.
40
Wood: Kant’s Compatibilism, 92 f.
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4. Providentia universalis und Kompatibilismus Daß das Ewigkeitsprädikat in der Tat ein zentrales Element bei der Etablierung des Kantischen Kompatibilismus darstellt, zeigt eine Passage aus dem ›Kanon der reinen Vernunft‹ der ersten Kritik, in der es heißt, daß uns die Moraltheologie »unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens führet«, dessen Wille über folgende Eigenschaften verfügt: »Dieser Wille muß allgewaltig sein, damit die ganze Natur und deren Beziehung auf Sittlichkeit in der Welt ihm unterworfen sei; allwissend, damit er das Innerste der Gesinnungen und deren moralischen Wert erkenne; allgegenwärtig, damit er unmittelbar allem Bedürfnisse, welches das höchste Weltbeste erfordert, nahe sei; ewig, damit in keiner Zeit diese Übereinstimmung der Natur und Freiheit ermangle, usw.« (KrV A 815 / B 843; Hvh. vom Vf.). Zunächst einmal wird aus diesem Abschnitt klar, daß das Prädikat der Ewigkeit auf Gott, nicht auf das transzendentale Subjekt zu beziehen ist. Es stellt sich allerdings die Frage, wie diese ›Übereinstimmung‹ zu verstehen sei, die durch die Ewigkeit gesichert werden soll? Hervorzuheben ist, daß Kant hier nicht von der Übereinstimmung von Sittlichkeit und Natur spricht, wie man es im Kontext von Überlegungen erwarten könnte, die später in die Auflösung der ›Antinomie der praktischen Vernunft‹ einmünden, sondern von Freiheit und Natur. Darüber hinaus verdeutlicht uns ein Blick in Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, wie sie von Pölitz genannt wurden,41 daß das Prädikat der Ewigkeit, ganz wie in seiner ursprünglichen Religion Pölitz; AA 28.2.2, 989 –1126. Von besonderem Wert sind Woods Anmerkungen im Rahmen der von ihm besorgten englischen Übersetzung (Immanuel Kant: Religion and Natural Theology, 474 – 483). Der deutsche Text basiert auf der Abschrift einer von einem oder mehreren Hörern angefertigten Nachschrift der Vorlesung über natürliche Theologie, die Kant wahrscheinlich 1783/84 gehalten hat. Sie gelangte über Friedrich Theodor Rink, der noch zu Lebzeiten Kants einige seiner Texte ediert hatte, in den Besitz Pölitz’, der sie 1817 in erster Auflage veröffentlichte. Über die Zuverlässigkeit der Pölitzschen Herausgebertätigkeit, insbesondere im Hinblick auf mögliche Eingriffe und Kontaminationen, wurden immer wieder Zweifel laut. Dies und der Umstand, daß wir das, was Kant in dieser Vorlesung sagte, nur über mehrere Vermittlungsinstanzen greifbar haben, ändert nichts an der Tatsache, daß, wie Allen Wood im Vorwort seiner englischen Übersetzung (338) feststellt, dieser Text eine der wichtigsten Quellen zu Kants Ansichten über den Gottesbegriff und traditionell scholastischen Fragen nach der göttlichen Natur und den göttlichen Attributen darstelle; vgl. hierzu auch Gerhard 41
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Funktion bei Boethius, zum Nachweis der Vereinbarkeit des göttlichen Wissens um die freien Taten des Menschen mit deren Freiheit verwendet wird (Religion Pölitz; AA 28.2.2, 1054 f.): »Allein diese Eintheilung ist wieder nach menschlichen Vorstellungen abgefaßt, und läßt sich in der göttlichen Erkenntniß selbst nicht denken. Für ihn, den Unveränderlichen, ist nichts vergangen, oder zukünftig; denn er ist gar nicht in er Zeit. Er kennet alles auf einmal anschauend, es mag nach unserer Vorstellung gegenwärtig, oder nicht gegenwärtig seyn. Wenn Gott alles erkennet; so erkennet er auch unsere freien Handlungen, ja auch die, welche wir erst in der Zukunft vollbringen werden. Die Freiheit unserer Handlungen wird aber dadurch, daß Gott sie vorher siehet, nicht aufgehoben noch eingeschränkt; denn er siehet zugleich den ganzen Nexus, im welchem jene Handlungen mit begriffen sind, vorher; die Bewegungsgründe, welche uns dazu vermögen, die Absichten, welche wir dadurch zu erreichen uns bestreben werden. Indem nun Gott alles dieses vorher siehet; so bestimmt er dadurch ganz und gar nicht, daß es geschehen muß. Er macht also durch sein Vorhersehen gar nicht unsere künftigen Handlungen nothwendig, wie einige fälschlich geglaubet haben, sondern er sieht nur, Lehmann in AA 28.2.2,1360–1364. Wie allerdings bereits von Erich Adickes gefordert und uns unlängst wieder von Norbert Hinske und Steve Naragon in Erinnerung gerufen wurde, müssen die uns zur Verfügung stehenden Vorlesungstexte mindestens anhand der Reflexionen Kants überprüft werden, die wir ja überwiegend in den Kompendien finden, die Kant diesen Vorlesungen zugrundelegt hat. Vgl. Hinske: Die Kantausgabe der preußischen Akademie der Wissenschaften und ihre Probleme, 247–252; Naragon: The Metaphysics Lectures in the Academy Edition of Kant›s Gesammelte Schriften, 190 f. Ohne dies hier im einzelnen durchführen zu können, sei beispielsweise auf die aus der nach Adickes wahrscheinlich zeitlich in Teilen parallelen Phase q sowie den vorangehenden Phasen c und u stammenden Reflexionen 5551b (AA 18,216 f.), 5632 (AA 18,263 f.), 6167 (AA 18,473 f.), 6170 (AA 18,475), 6172 (AA 18,476), 6173 (AA 18, 476 ff.), 6175 (AA 18,479), 6178 (AA 18,481) zur Providenz verwiesen, die die oben referierten Aussagen aus der Religionslehre Pölitz weitestgehend bestätigen. Dies gilt ebenfalls für die Parallelstellen zur Providenz in der ›Danziger Rationaltheologie‹ (hier AA 28,2.2,1307– 1316) und in der ›Natürlichen Theologie Volckmann‹ (hier AA 28.2.2,1206–1221), die auf (Abschriften bzw. Bearbeitungen von) Nachschriften desselben Kollegs zurückgehen, auf die sich auch die Religionslehre Pölitz bezieht (vgl. Lehmann in AA 28.2.2, 1361, Adickes in AA 18,489 Fn.). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Reflexionen, auch und gerade im Hinblick auf die hier zutage tretenden Unterschiede zur Baumgartenschen und Eberhardschen Vorlage, und zwar insbesondere was die Begriffe des concursus und der scientia visionis anbelangt, muß einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben.
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daß diese oder jene Handlungen geschehen werden. Überdem ist der Begriff vom Vorhersehen anthropomorphistisch, und kann daher in Gott selbst nicht gedacht werden. Vielmehr macht es nicht die geringste Schwierigkeit mehr, sich vorzustellen, wie Gott die künftigen freien Handlungen der Menschen erkennet. Eines ist für unsere Verrnunft ebenso nothwendig einzusehen, wie das andere.« Die Passage findet sich im Abschnitt ›Cosmotheologie‹, und zwar im Kontext des Bemühens, den Begriff Gottes zu explizieren und darzulegen, in welchem Sinn Gott ein Erkenntnisvermögen, ein Vermögen des Wohlgefallens und Mißfallens sowie ein Begehrungsvermögen zuzusprechen ist (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1059). Das göttliche Erkenntnisvermögen verfügt Kant zufolge über folgende drei Eigenschaften: (i) Es ist reiner Verstand; weder Sinnlichkeit noch Vernunft kommen Gott zu. (ii) Dieser Verstand ist intuitiv und operiert nicht mit Begriffen. (iii) Gott erkennt alles a priori (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1052): »Gott erkennet alle Dinge, indem er sich selbst, den Grund aller Möglichkeit, erkennet.« Daß wir hier tatsächlich die Stimme Kants vernehmen,42 und zwar jenseits dessen, was ihm das Baumgartensche Kompendium hier in den §§ 800 –1000 vorgibt, das neben Eberhards Vorbereitung zur natürlichen Theologie und Daß es sich bei den Ausführungen aus dem Kanon der ersten Kritik sowie aus der Pölitzschen Vorlesung nicht etwa um anachronistische oder gewissermaßen nicht authentische Aussagen des kritischen Philosophen Kant handelt, zeigt sich zudem bezeichnenderweise an einem Zusatz zur Argumentation der transzendentalen Ästhetik in der Auflage B, in dem expressis verbis auf Überlegungen zur natürlichen Theologie zurückgegriffen wird, um zu zeigen, daß es sich bei Raum und Zeit lediglich um Anschauungsformen des Menschen handelt (KrV B 71 f.): »In der natürlichen Theologie, da man sich einen Gegenstand denkt, der nicht allein für uns gar kein Gegenstand der Anschauung, sondern der ihm selbst durchaus kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung sein kann, ist man sorgfältig darauf bedacht, von aller seiner Anschauung (denn dergleichen muß alles sein Erkenntnis sein und nicht Denken, welches jederzeit Schranken beweiset) die Bedingungen der Zeit und des Raumes wegzuschaffen. Aber mit welchem Rechte kann man dies tun, wenn man beide vorher zu Formen der Dinge an sich selbst gemacht hat, und zwar solchen, die, als Bedingungen der Existenz der Dinge a priori, übrig bleiben, wenn man gleich die Dinge selbst aufgehoben hätte: denn, als Bedingungen alles Daseins überhaupt, müßten sie es auch vom Dasein Gottes sein. Es bleibt nichts übrig, wenn man sie nicht zu objektiven Formen aller Dinge machen will, als daß man sie zu subjektiven Formen unserer äußeren sowohl als inneren Anschauungsart macht«. Somit deutet sich auch an, wie gezeigt werden kann, daß die sogenannte ›Trendelenburg-Alternative‹ für Kant nicht akzeptabel ist. 42
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Christoph Meiners’ Historia doctrinae de vero deo omnium rerum auctore atque rectore der Vorlesung insgesamt zugrunde liegt, zeigt sich in folgendem wichtigen Umstand: Kant wendet sich hier nämlich expressis verbis gegen Baumgarten und dessen exzessiv anthropomorphisierende Darstellung, sowie – noch wichtiger für unseren Zusammenhang – gegen die auf Molina43 zurückgehenden Distinktion von ›scientia simplicis intelligentiae‹, ›scientia libera‹ und ›scientia media‹ in den §§ 874 – 876. Scientia simplicis intelligentiae bezieht sich auf alle möglichen Welten, scientia libera auf die von Gott durch seinen freien Willen hervorgebrachte. Diese Distinktion sei deshalb unnötig, weil das Aktuale selbst möglich und daher von Gott eo ipso mitgedacht werde. Scientia media, die ›Erkenntniß‹ dessen was in möglichen Welten außerhalb der unsrigen vor sich gehe, sei ebenfalls unnütz, denn das Mögliche werde von Gott ›in nexu‹ erkannt (Religion Pölitz; AA 28.2.2, 1053 ff.). Wie wir also gesehen haben, behauptet Kant hier ganz im Sinne der im letzten Abschnitt zitierten Thomas-Passage, daß das göttliche ›Vorher‹wissen der zukünftigen Handlungen nicht deren (kausale) Notwendigkeit impliziere. Andererseits, wenn wir an die Wiederaufnahme des Schöpfungsgedankens im Kontext des regulativen Gebrauchs der Vernunft denken (z. B. KrV A 772– 775 / B 800–803), wird klar, daß die These vom Ursprung der Welt in Gottes kreativem Verstand als Garant für den systematischen Charakter der Gesamtheit der speziellen Naturgesetze fungiert, den man für die Erklärungen und Vorhersagen benötigt, von denen im Auflösungsabschnitt die Rede war. Es ist eine der am heftigsten umstrittenen Fragen innerhalb der Kantforschung, ob die Geltung spezieller Kausalgesetze überhaupt ebenfalls erst im Horizont dieser sogenannten ›Vernunfteinheit‹ (KrV A 326 / B 383) behauptet werden oder ob dies bereits durch das Argument für die zweite Analogie geschehen soll.44 Wie bereits in der Vorbemerkung angesprochen wurde, hat man in bezug auf eben dieses Argument mitunter den Vorwurf erhoben, daß es genau dies nicht leiste und von daher scheitere. Die vielleicht eleganteste, in jedem Fall aber schlagendste Erwiderung besteht natürlich darin zu entgegnen, daß hierin gerade nicht das Beweisziel des Arguments für die zweite Analogie bestand. Vgl. hierzu Molina: On Divine Foreknowledge (Concordia IV). In Eberhards Kompendium, abgedruckt in AA 18,513–606, findet sich der explizite Hinweis auf ›Ludewig Molina‹ (ebd. 596) und die dritte Auflage der Concordia, Antwerpen 1609. 44 Vgl. etwa Geiger: Is the Assumption of a Systematic Whole of Empirical Concepts a Necessary Condition of Knowledge? 43
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Die Stellen in der ersten und dritten Kritik – und dies müßte eine Untersuchung selbstverständlich am Detail aufzeigen45 – scheinen in der Tat beide mögliche Interpretationen zuzulassen, letztendlich aber die Variante zu favorisieren, die auch die Geltung der speziellen Naturgesetze an die Schöpfungsidee bindet. Dies würde bedeuten, daß sich eine deterministische Position selbst erst im Kontext des regulativen Vernunftgebrauchs ergibt. Jedenfalls läßt sich hier festhalten, daß sich eine deterministische Position nicht kraft des göttlichen ›Vorher‹wissens ergibt, daß aber andererseits die Schöpfungsidee zumindest für a) den systematischen Charakter der Gesamtheit der speziellen Naturgesetze, wenn nicht b) deren Geltung verantwortlich zeichnet. Wie nun das Verhältnis zwischen göttlichem ›Vorher‹wissen und a) beziehungsweise b) zu denken ist, darüber erhalten wir Auskunft, wenn wir einen erneuten Blick in die Vorlesungen über die philosophische Religionslehre werfen: Wir finden die entsprechenden Abschnitte im zweiten Teil der Vorlesung, überschrieben mit ›Die Moraltheologie‹. Hier geht es unter anderem um die nähere Explizierung des Verhältnisses zwischen Welt und Gott, der »durch Verstand und Freiheit der Urheber aller Dinge ist« (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1047). Schöpfung und Erhaltung, so erfahren wir nun, »gehet nur auf die Substanzen« (ebd.,1104), nicht auf die Akzidentien. Dabei ist die Actuation des Anfangs der Welt […] die Schöpfung«, die »Actuation ihrer Fortdauer […] die Erhaltung« (ebd.). Von daher stellt sich die Frage nach dem Verhältnis Gottes zu den Ereignissen in der Welt, die ja als Wechsel von Akzidentien an Substanzen analysiert werden können. Der entsprechende Schlüsselbegriff ist dabei der des ›concursus‹. »Concursus«, so Kant, heißt »die Causalität der causarum. Es können nämlich mehrere Ursachen sich vereinigen, um eine Wirkung hervorzubringen. Geschiehet das; so concurriren in solchem Falle mehrere concausae« (ebd., 1105). In bezug auf die Schöpfung und Erhaltung der Substanzen gibt es keinen concursus zur Kausalität Gottes, er ist die alleinige ›causa prima‹ (ebd.,1106). Ebenso gibt es keinen concursus Gottes in bezug auf die ›Naturbegebenheiten‹ (ebd.), denn hier sei die »erste nächste Ursache in der Natur« hinreichend, ganz im Sinne der Lehre, wonach es in der geschaffenen Welt Vgl. für einen entsprechenden Versuch Ertl: Kants Auflösung der ›dritten Antinomie‹. Zur Bedeutung des Schöpfungskonzepts für die Freiheitslehre, 63–78. 45
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wirklich Kausalität gebe und nicht etwa wie im Okkasionalismus von der alleinigen Kausalität Gottes auszugehen sei. Dennoch sei ein solcher concursus in bezug auf Naturursachen nicht unmöglich. Gibt es Wunder, dann gibt es auch einen solchen concursus in bezug auf die Naturursachen. Sodann stellt Kant die Frage nach dem ›concursus divinus‹ in bezug auf die freien Handlungen (ebd.,1106): »Wie ein Geschöpf überhaupt frei seyn kann, ist weder die speculative Vernunft im Stande zu begreifen, noch die Erfahrung zu beweisen; aber unser praktisches Interesse erfordert es, daß wir voraussetzen, wir können nach der Idee der Freiheit handeln. Ist das aber so, daß sich unser Wille unabhängig von allen Naturursachen zu Etwas entschließen kann; so läßt sich gar nicht absehen, wie Gott, unbeschadet unserer Freiheit, zu unsern Handlungen concurrire und in uns selbst als eine Mitursache unsers Willens concurriren könne; dann würden wir ja eo ipso nicht selbst, wenigstens nicht ganz die Urheber unserer Handlungen seyn.« Die Wirkungen eines solchen concursus wären jedenfalls nichts anderes als »Wunder in der moralischen Welt« (ebd.). Weitere Auskunft über die Beziehung Gottes zu den freien Taten des Menschen erhalten wir nun unter dem Stichwort der Vorsehung. Die Vorsehung Gottes wird eingeteilt in ›Providenz‹, ›Gubernation‹ und ›Direction‹. Sie ist zwar ein einziger ›Actus‹, es lassen sich aber dennoch diese drei ›Functionen denken‹ (ebd.,1110). Die Providenz »bestehet in der Stiftung gewisser Gesetze, nach welchen der Weltlauf fortgehen soll. Die Regierung ist die Erhaltung des Weltlaufs nach diesen Gesetzen, und die göttliche Direction oder Lenkung ist die Bestimmung der einzelnen Begebenheiten in der Welt seinem Rathschlusse gemäß. In sofern die Vorsehung Gottes gütig ist, heißt sie Vorsorge« (ebd.; Hvh. vom Vf.). Sodann kritisiert Kant die Praxis, die Vorsehung »gewöhnlich« in »providentiam generalem und specialem« einzuteilen (ebd.). Erstere beziehe sich auf die Erhaltung der Geschlechter und Arten, letztere – hier der juristischen Begriffsverwendung folgend – auf die einzelnen Individuen. Der Stein des Anstoßes ist hier einmal mehr ein dieser Einteilung zugrundeliegender, überzogener Anthropomorphismus, wie sich anhand des Vergleichs aufzeigen läßt, mit dem die Vorstellung einer allgemeinen Vorsehung mitunter erläutert wird. Der Vergleich bezieht sich auf einen irdischen Monarchen, der – insofern er generaliter für seine Untertanen sorge – die Erfahrung benötige, um sich Kenntnis über die bestehenden Bedürfnisse zu verschaffen. Dabei liefere Erfahrung allerdings immer nur ›abstrahirte Regeln‹, die von daher »nie
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allgemeine seyn« können, so daß die entsprechenden Gesetze unmöglich auf alle Individuen passen könnten (ebd.,1111). Die Allgemeinheit der göttlichen Vorsehung dagegen ist Kant zufolge von vorneherein nicht ›logisch‹, d. h. gewonnen durch eine Klassifikation von Merkmalen, sondern ›real‹, und zwar aufgrund des intuitiven Charakters seines Verstandes, der jedes einzelne Individuum in toto erfaßt. Seine Vorsehung ist deshalb ›allgemein‹ im Sinne von ›universalis‹, »und dann fällt der Unterschied von einer providentia speciali von selbst weg« (ebd.). Insbesondere aber bedarf er nicht der Erfahrung, denn wie wir gesehen haben, erkennt er alles a priori. Und nun folgt der entscheidende Satz: »Die Gesetze, nach welchen der Weltlauf gehen sollte, hat er demnach mit einer durchgängigen Kenntniß aller einzelnen Begebenheiten in demselben abgefaßt, und gewiß auch ihre größtmögliche Vollkommenheit bei ihrer Stiftung zum Augenmerk gehabt, weil er selbst der Allweiseste, und Alles in Allem ist« (ebd.; Hvh. vom Vf.). Bevor diese Aussagen Kants auf unsere Ausgangsfrage zurückbezogen werden können, sind noch zwei Anmerkungen vonnöten, und zwar zum einen zum Kriterium, nach dem sich die Vollkommenheit der Welt bemessen soll. Unter der Überschrift ›Vom Zwecke der Schöpfung‹ lesen wir dazu (ebd.,1099): »Die wahre Vollkommenheit des Weltganzen wird in dem Gebrauche liegen, den die vernünftigen Geschöpfe von ihrer Vernunft und Freiheit machen.« Dies verlangt zum anderen, nach dem Umfang der Lizenz zum Gebrauch der Freiheit zu fragen, und zwar im Kontext der Überlegungen zur ›Direction‹ Gottes gemäß dem ›göttlichen Rathschlusse‹ (ebd.,1113; Hvh. vom Vf.): »Sollte nun der Mensch ein freies Geschöpf seyn, und sich selbst die Entwickelung und Ausbildung seiner Fähigkeiten und Anlagen zu verdanken haben; so mußte es auch in seiner Gewalt stehen, ob er den Gesetzen der Moralität folgen, oder sie fliehen sollte. Der Gebrauch seiner Freiheit mußte von ihm abhängen, selbst wenn solcher ganz wider den Plan, den Gott von der moralischen Welt entwarf, streiten sollte«. Anders als bei Leibniz wird Vollkommenheit damit primär in moralischen Termini verstanden, was zugleich bedeutet, daß Gott auch die Autonomie endlicher Vernunftwesen respektiert und sie nicht als Mittel für irgendwelche höhere Zwecke instrumentalisiert. Wir können nunmehr diese Überlegungen Kants mithilfe des AnalyseInstrumentariums beschreiben, das wir im Zusammenhang mit Hudsons Kopplung von Davidsons und Lewis’ Ansatz herauspräpariert haben. Im Unterschied zum Etikett ›anomischer Monismus‹, das die Kausalität aus Freiheit
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als eine eigenständige Form der Kausalität unterschlägt, ist die Bezeichnung ›altered law‹-Kompatibilismus, wie sich jetzt zeigt, zur Klassifizierung von Kants Position durchaus zutreffend. Die Gesetze, kraft deren eine deterministische Position besteht, sind eine Funktion der freien Taten des Menschen, was zugleich nahelegt, daß von der Pölitzschen Vorlesung her die Schlüsselpassagen zur Vernunfteinheit so zu lesen sind, als solle tatsächlich auch die Geltung spezieller Kausalgesetze über die regulativ verstandene Schöpfungsvorstellung abgesichert werden. Damit wäre der non-sequitur-Vorwurf in bezug auf die zweite Analogie in der Tat pariert. Dabei setzt Kant allerdings weitaus tiefer an, um den Wahrheitsgrund des Kernprinzips des ›altered law‹-Kompatibilismus zu sichern. Eine alternative Handlung ist zusammen mit Gottes Vorsehung hinreichend für eine von der aktualen verschiedenen Menge spezieller Kausalgesetze, weil sie Gott in diesem Fall aktualisiert hätte. Anders als bei Lewis braucht damit nicht einmal das Konstrukt eines ›divergence miracle‹ bemüht zu werden, so daß quasi bis zum Erfolgen der alternativen Handlung sich die möglichen Welten hinsichtlich deren Vorgeschichte gleichen. Weil sich aber der Mechanismus, der die alternative Handlung mit der veränderten Menge spezieller Kausalgesetze verknüpft, laut der soeben entwickelten Interpretation insofern von dem Woods unterscheidet, als quasi zwischen meine Handlung und den geltenden Kausalgesetzen Gott ›geschaltet‹ wird, kann eine Überdehnung des Verantwortungsbegriffs verhindert werden. Allerdings kommt noch eine weitere Pointe hinzu, wenn wir die Frage zu beantworten suchen, was genau wir annehmen, wenn wir von der regulativen Idee einer Weltschöpfung ausgehen. Extrapoliert aus Kants oben zitierten Aussagen zum Erkenntnisvermögen Gottes scheint sich folgendes zu ergeben. 1) Die Gesetze der Welt weiß Gott a priori, und zwar sub specie aeternitatis. 2) Wie es für die contingentia futura vor dem Eintreten des zugehörigen Ereignisses kein extramentales ontologisches Korrelat gibt, das sie wahr macht, so existiert für die Gesetze im Geist Gottes deshalb ebenfalls kein derartiges Korrelat, weil die Erscheinungswelt nicht als Ganzes existiert, und zwar weder formaliter noch materialiter. Die Wichtigkeit dieser Extrapolation wird dann deutlich, wenn wir sie auf die verschiedenen Intuitionen beziehen, die oben in Abschnitt 3a) bezüglich des PAM diskutiert wurden und die sich aus der Frage ergeben, inwieweit die speziellen Kausalgesetze selbst zu den Antezedensbedingungen gezählt
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werden müssen, unter denen das PAM gilt: i) Die libertarianische Intuition besteht darauf, daß das PAM nur unter der Voraussetzung gelten kann, daß es kein lückenloses Netz spezieller Kausalgesetze gibt, weil sie zu diesen Antezedensbedingungen zählen müßten. ii) Die hart deterministische Intuition will dagegen nur mit denjenigen möglichen Welten operieren, in denen dieselben Gesetze gelten wie in der aktualen, und zwar weil diese Gesetze zu den Antezedensbedingungen des PAM zählen. Daß damit auf eine Weise ›Druck‹ auf das PAM ausgeübt wird, der seine Geltung letztlich sprengt, zeigt die Struktur des van Inwagenschen Arguments für den Inkompatibilismus. iii) Die Lewis-Lösung selbst umfaßt mögliche Welten mit unterschiedlichen Mengen von speziellen Kausalgesetzen und nimmt diese von daher in toto aus den Antezedensbedingungen für das PAM heraus. Wie oben bereits angedeutet, kann diese Ausblendung genau der Preis der Klärung eines möglicherweise unscharfen Vorverständnisses sein, aus dem i) und ii) ihre Plausibilität beziehen. Der Rekurs auf die Ewigkeitslösung in Verbindung mit der Funktion Gottes als Garant der Vernunfteinheit kann nun in einem bestimmten Sinn allen Vorgaben aus i) bis iii) gerecht zu werden. ad i) In bezug auf das indefinit ausdehnbare Etwas der Erscheinungswelt, die aber nicht als Ganze gegeben ist, läßt sich in der Tat behaupten, daß insofern keine speziellen Naturgesetze vorliegen, als es für sie kein extramentales Korrelat gibt. ad ii) Die Gesetze der aktualen Welt wurden ausgewählt, weil die einzelnen Handelnden zu den einzelnen Zeitpunkten so oder anders haben handeln können und dann in der Tat auf eine bestimmte Weise handeln. Aufgrund seiner Ewigkeit kann Gott erkennen, auf welche Weise die Handelnden von ihrer Freiheit Gebrauch machen. ad iii) Die unterschiedlichen Mengen spezieller Naturgesetze beziehen sich ebenfalls auf die Perspektive sub ratione aeternitatis. Hätten die einzelnen Handelnden auf andere Weise von ihrer Freiheit Gebrauch gemacht, so wären im göttlichen Erkenntnisvermögen andere spezielle Kausalgesetze für die aktuale Welt. Die in diesem Beitrag entwickelte Interpretation Kants mag überraschend ›metaphysisch‹ oder gar ›theologisch‹ sein, präsentiert sie doch Kant als ›altered law‹-Kompatibilist im Rekurs auf die Schöpfungsidee. Daß dies tief verwurzelten Rezeptionsmustern zuwiderläuft, bedarf kaum der Erwähnung, was angesichts der Berufung auf eine Vorlesungsnachschrift zur Stützung dieser These Bedenken nie ganz ausräumen können wird, hier doch nicht den
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›eigentlichen Kant‹ vor uns zu haben. Es scheint allerdings keineswegs ein geringer Vorzug dieser Interpretation zu sein, eine Antwort auf die Frage nach dem Grund der eigentümlichen Engführung des Freiheits- und Schöpfungsproblems in der dritten Antinomie zu liefern, die uns darüber hinaus vor der Notwendigkeit bewahrt, Kant just in bezug auf eines der Herzstücke seiner Philosophie beinahe triviale Fehler unterstellen zu müssen. Damit soll indessen nicht schon behauptet werden, daß Kant’s ›altered past‹-Kompatibilismus in vollem Umfang systematisch überzeugen kann. Dazu bedürfte es einer eingehenden Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ewigkeit im Hinblick auf die Frage nach seiner Kohärenz, und zwar insbesondere was die Möglichkeit göttlichen Wissens zeitlicher und kontingenter Ereignisse anbelangt.46 In diesem Beitrag ging es einzig um den Versuch nachzuweisen, daß Kant auf diese Weise das Problem menschlicher Freiheit gelöst zu haben glaubt. Eine nicht weniger provozierende Pointe dieser Lösung besteht in der Behauptung, daß der physikalische Determinist von denselben starken ›theologischen‹ Voraussetzungen abhängig ist wie der Kantische Kompatibilist. Wenn es zudem gelungen ist zu zeigen, daß Kants Stategie eine eingehende Überprüfung verdient, so haben diese Ausführungen ihr Ziel erreicht.
Eine detallierte Studie zu diesem Thema, die zudem zu einem positiven Ergebnis kommt, wurde vorgelegt von Robinson: Eternity and Freedom: A Critical Analysis of Divine Timelessness as a Solution to the Foreknowledge/Free Will Debate. Robinson beschäftigt sich allerdings nicht mit Kant, sondern mit den klassischen Vertretern dieses Ansatzes, nämlich Boethius, Anselm und Thomas sowie mit deren modernen Kritikern wie Stump/Kretzmann, John Yates und Brian Leftow. 46
Zur Topik der Theologie im Projekt der Kantischen Vernunftkritik von Robert Theis
Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, eine Topik 1 des theologischen Diskurses im Ausgang von der in der Kritik der reinen Vernunft entworfenen »Idee der Transscendental-Philosophie« zu rekonstruieren (KrV B 28). Deren Ziel ist es, diesen Diskurs unter dem Blickwinkel seiner notwendigen Abschlußfunktion zu begreifen. Ohne auf die entwicklungsgeschichtlichen Hintergründe dieser These einzugehen, die einen solchen Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Abschluß in einem unhintergehbaren Grund, genauer in einer theologischen Instanziierung, ohnehin nahelegen,2 soll diese Notwendigkeit hier aus der Dynamik selber der sich hervorbringenden Vernunft rekonstruiert werden. Zu diesem Zweck wollen wir in sechs Schritten vorgehen: In einem ersten Schritt wird das Geschehen der Vernunft im Ausgang von dem im Fragen erfolgenden transcensus her erörtert. In einem zweiten Schritt soll das Problem der Gewinnung unbedingter Setzungen der Vernunft behandelt werden. In einem dritten Schritt wird der transzendentale Begriff der theologischen Instanziierung unter dem Titel eines transzendentalen Ideals betrachtet werden. In einem vierten Schritt geht es darum, die transzendentalen Ideen als Vollendung des Vernunftprojekts sichtbar zu machen. In einem fünften Schritt soll, im Ausgang von den so gewonnenen Intentionen, der genauere Sinn dieser Vollendung in der Form einer reflektierenden Physikotheologie präzisiert werden. In einem sechsten und abschließenden Schritt soll die Topik des theologischen Diskurses vom Gesichtspunkt einer transzendentalen Sinnstiftung aus skizziert werden. Unter Topik verstehen wir Lehre sowie Deutung der Stelle und der Funktion eines Diskurses bzw. eines Begriffs im Ganzen der menschlichen Erkenntnis (vgl. KrV B 324). 2 Vgl. Theis: Gott. Untersuchungen zur Entwicklung des theologischen Diskurses in Kants Schriften zur theoretischen Philosophie bis hin zum Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft. 1
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1. Metaphysik unter dem Anspruch der Notwendigkeitdes Fragens Für Kant hat die Metaphysik, bevor sie etwas anderes ist, als Ausdruck der menschlichen Vernunft als fragender zu geschehen. Nur als solche vermag sich die Vernunft in ihrer eigensten Möglichkeit zu ergreifen und insofern dies der Fall ist, ist Metaphysik immer bereits – wenngleich nicht schon notwendig als Diskurs konstituiert – Wirklichkeit. Kant hat diesen Aspekt in der These, Metaphysik sei als Naturanlage wirklich, zum Ausdruck gebracht (vgl. KrV B 21). Was aber kennzeichnet das Geschehen des Fragens? Dieses entspringt einem Bedürfnis der Vernunft, das Kant auch als Bedürfnis nach Orientierung deutet (WDO A 311 = AA 8,137). Soll aber Orientierung erfolgen, so kann dies nicht wiederum im Modus des Fragens geschehen, sondern nur im Modus der Affirmation, des Urteils. In Was heißt: Sich im Denken orientiren? schreibt Kant von einem »Bedürfniß, […] das Urtheilen nothwendig macht« (WDO A 310 = AA 8,136). Das aber bedeutet, daß das sich Ereignen des Fragens immer bereits als solches über sich hinaus ist: Fragen ist transzendierendes Geschehen der Vernunft. Würde Vernunft nur im Fragen verharren bzw. sich dem Transzendieren dezisionistisch verschließen, so würde sie sich letztlich erschöpfen und sich, in sich kollabierend, in skeptischem Stillstand aufheben. Sie würde in Zweifel umschlagen, der zur Verzweiflung als der Leere schlechthin führen würde. Es liegt somit im Fragen selber ein Vorgriff beschlossen, durch den die Vernunft als fragende überhaupt erst mit sich in Einstimmung gelangt und der in seiner Durchführung in Begründung umschlägt: »denn die Vernunft will einmal befriedigt sein« (WDO A310 = AA 8,136). Wenn wir nun von der Ebene dieser naturalen metaphysischen Kernstruktur, wie sie in der eben beschriebenen Spannung von Frage und transzendierender Setzung thematisch wird, zu deren Artikulation im Modus des Diskurses übergehen, so zeigt sich freilich, daß die Frage – wenngleich nicht ihre Intention – im metaphysischen Diskurs gegenüber der systematisch-thetischen Exposition zurücktritt. In der Durchführung der Frageintention tritt die Frage selber höchstens als methodisches Mittel im Hinblick auf die Durchführung des Diskurses auf. Das heißt: Metaphysik als Naturanlage ist immer auch schon Diskurs und das besagt: Erkenntnis im Modus des Urteilens und der Vernunftschlüsse, wenigstens da, wo sie in ihren klassischen Versionen Gestalt angenommen hat.
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Nach Kant kennzeichnet sich die Metaphysik als Naturanlage im Modus des Diskurses dadurch, daß sie von Grundsätzen anfängt, »deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist« und mit diesen »immer höher, zu entfernteren Bedingungen« steigt (KrV A VII). Kant stellt also die Entfaltung des metaphysischen Diskurses vom Gesichtspunkt des Bedingungen suchenden Geschehens der Vernunft dar. Damit gelangt a limine ein Aspekt in den Vordergrund, der für die weitere Auslegung von zentraler Bedeutung ist. Man weiß in der Tat, daß sich die Metaphysik als Disziplin im Laufe des 17. und des 18. Jahrhunderts in Ontologie, Kosmologie, Psychologie und Theologie ausdifferenziert hat.3 Diese Gliederung ist primär gegenstandsorientiert. So schreibt etwa Christian Wolff im Discursus praeliminaris lapidar: »Entia, quae cognoscimus, sunt Deus, animae humanae ac corpora, seu res materiales«.4 Diese gegenstandsorientierte Konstitution der Metaphysik hat eine wissenschaftstheoretische Seite, insofern sich die Beziehung der einzelnen Teile aus der Ordnung, die sich aufgrund der demonstrativen Methode, die in der Philosophie anzuwenden ist, ergibt: »Ordo partium philosophiae is est, ut praecedant, ex quibus aliae principia mutuantur«.5 Nach Wolff bilden die Ontologie und die Psychologie die grundlegenden Disziplinen (ebd. § 89), auf die die Kosmologie und die natürliche Theologie zurückgreifen (ebd. § 96 f.). Wenngleich bei Wolff der systematische Zusammenhang der einzelnen Teile der Philosophie – nicht nur der Metaphysik – von prinzipieller Bedeutung ist, weil Philosophie als Wissenschaft des Möglichen, insofern es möglich ist, nur möglich ist, wenn und in dem Maße wie sie Rechenschaft davon ablegen kann, warum etwas sein kann bzw. ist,6 wird dieser Aspekt bei Wolffs Schülern, wie dies bereits aus der unterschiedlichen Anordnung der einzelnen Teile der Metaphysik hervorgeht,7 nicht mehr in dieser seiner Tragweite wahrgenommen.
Zum historischen Prozeß dieser Ausdifferenzierung vgl. Vollrath: Die Gliederung der Metaphysik in eine metaphysica generalis und eine metaphysica specialis, 258 ff. 4 Wolff: Philosophia rationalis sive Logica, Pars I, § 55. 5 Ebd. § 87. Von dieser »methodus demonstrativa« ist die »methodus studendi« zu unterscheiden (vgl. ebd. § 91). 6 Vgl. Wolff: Ratio praelectionum, 107 f. 7 Vgl. etwa Baumgarten: Ontologia, Cosmologia, Psychologia, Theologia naturalis (Metaphysica § 2). 3
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Kants Ansatz, Metaphysik zu denken – selbst bzw. auch im Modus der Naturanlage – zielt zwar, ähnlich wie bei Wolff, darauf hin, deren Einheit zu begreifen, aber im Unterschied zu Wolff soll diese als Geschehen der Vernunft selber, die sie aus sich hervortreibt, verstanden werden, damit aber auch in ihrer inneren Notwendigkeit und nicht, wie bei Wolff, im Ausgang von vorgefundenen Gegenständen bzw. Gegenstandsbereichen. In der Notwendigkeit des Geschehens der Vernunft, die der Grund der Einheit der Metaphysik als Diskurs ist, liegt zugleich deren Tendenz zum System und zur Wissenschaft beschlossen. Die Metaphysik ist »das System aller Principien der reinen theoretischen Vernunfterkenntniß durch Begriffe« (FM A 13 = AA 20,261). Nun ist gerade diesbezüglich zu beachten, daß nach der Ansicht der Kritik der reinen Vernunft die bisherige Metaphysik zwar durchaus systematisch verfahren ist – man denke etwa an Kants Beschreibung der Wolffschen Philosophie (vgl. KrV B XXXVI) –, ohne daß sie aber deshalb bereits im Kantischen Sinne Wissenschaft gewesen sei. Das ist deshalb nicht der Fall gewesen, weil die Vernunft es unterlassen hat, das Schwierigste all ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis auf sich zu nehmen (vgl. KrV A X). Indem sie dieses Geschäft unternimmt, verwandelt sich aber gerade der Sinn der Metaphysik: Als Metaphysik »in transzendentaler Reflexion«8 wird das Vernunftgeschehen sich selber zum Gegenstand und, indem es sich in sich erfaßt, im apriorischen Aufweis (wenigstens nach der Lesart der Kritik) der es konstituierenden Strukturen und Leistungen (Umfang, Inhalt und Grenzen der Vernunft; vgl. FM A 20 = AA 20,264), wird das Vernunftgeschehen neu bestimmen, nicht nur unter welchen Bedingungen Metaphysik als Wissenschaft möglich sein soll, sondern mehr noch, wie Metaphysik neu zu denken ist. In einem Brief an seinen Schüler und Freund Marcus Herz kann Kant demzufolge durchaus zutreffend von der Kritik als der »Metaphysik von der Metaphysik« sprechen,9 eine Bemerkung, die in einem späteren Brief an Christian Garve dahingehend präzisiert wird, »daß es gar nicht Methaphysik ist, was ich in der Critik bearbeite, sondern eine ganz neue und bisher unversuchte Wissenschaft, nämlich die Critik einer a priori urtheilenden Vernunft«.10 Fortan muß »der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von 8 9 10
Kopper: Einführung in die Philosophie der Aufklärung, 101. An Marcus Herz vom 11. Mai 1781 (AA 10,269). An Christian Garve vom 7. August 1783 (AA 10,340).
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Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben […] dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen« (KrV B 304). In dieser Neubestimmung wird die Vernunft sich selber insofern zum Problem, wie sie sich in ihrem Geschehen aus sich heraus als endliche begreift. Der Name für diese Endlichkeit der menschlichen Vernunft heißt Sinnlichkeit. Es ist nicht ohne programmatische Bedeutung, daß die Kritik, die sich von ihrem Aufbau her als »Tractat von der Methode« (KrV B XXII) am Schema der Logikhandbücher orientiert,11 in der Elementarlehre gerade dieses Schema sprengt und mit einem Abschnitt über die Sinnlichkeit anhebt. Und genau in den ersten Zeilen ist der Richtungssinn in aller Deutlichkeit angezeigt, in einem Hinweis, der übrigens erst in der zweiten Auflage hinzugefügt worden ist (KrV B 33): »Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntniß auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüth auf gewisse Weise afficire« (»uns Menschen wenigstens« ist Zusatz von B).12 Der richtungweisende Sinn der Sinnlichkeit gipfelt im Begriff der Erscheinung als dem Gesichtspunkt des endlichen Wesens (im Gegensatz zum Gesichtspunkt Gottes [intuitus originarius], der die Dinge an sich selbst betrachtet).13 Aber gerade dadurch, d. h. durch die damit einhergehende Reduktion apriorischer Leistungen, wird der transcensus als ureigene Dynamik der Vernunft zum Problem. Denn wenn Erscheinung der alleinige Gesichtspunkt endlicher Vernunftwesen ist, dann ist auf neue Weise zu verhandeln, was es mit dem auf sich hat, was im ersten Satz der Vorrede zur ersten Auflage behauptet wird, nämlich, daß die Vernunft mit ihren Grundsätzen das Feld der Erfahrung verläßt. Genau hier hat nun unser zweiter Gedankengang anzusetzen.
Tonelli: Kant’s Critique of Pure Reason within the Tradition of Modern Logic. A Commentary on its History. 12 Vgl. auch KrV B 31, wo zum ersten Mal die Rede von den zwei Stämmen der menschlichen Erkenntnis ist. 13 Vgl. OP (AA 22,26) : »Das Ding an sich (ens per se) ist nicht ein Anderes Object sondern eine andere Beziehung (respectus) der Vorstellung auf dasselbe Object«. 11
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2. Die Gewinnung der Perspektive des Unbedingten Es ist merkwürdig, in welchem Maße der Anfang der transzendentalen Dialektik, d. h. die Einleitung (mit ihren zwei Teilen) und das erste Buch in der Kantforschung vernachlässigt worden ist. Das hängt nicht zuletzt mit perspektivischen Verzerrungen zusammen, die sich aufgrund der Ergebnisse der transzendentalen Analytik einstellen mögen und zu der Deutung der negativ-destruktiven Partien, also den sogenannten dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft, mit deren Erörterung das zweite Buch der transzendentalen Dialektik anhebt, eine direkte Verbindung ermöglichen. Daß die ersten Leser der Kritik dies auch so empfunden haben, zeigt nicht zuletzt die bekannte Bemerkung von Moses Mendelssohn, der, mit Blick auf die rationale Theologie, vom alleszermalmenden Kant spricht, von dem es dann bei demselben Mendelssohn auch heißt, er hoffe, daß jener »mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat«.14 Als habe Kant selber diese Einschätzung korrigieren wollen, schreibt er in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: »es ergiebt sich aus dieser Deduction unseres Vermögens a priori zu erkennen im ersten Theile der Metaphysik ein befremdliches und dem ganzen Zwecke derselben, der den zweiten Theil beschäftigt, dem Anscheine nach sehr nachtheiliges Resultat, nämlich, daß wir mit ihm nie über die Grenze möglicher Erfahrung hinauskommen können, welches doch gerade die wesentlichste Angelegenheit dieser Wissenschaft ist« (KrV B XIX). Die wichtige Wendung in dem eben angeführten Zitat, scheint uns der Ausdruck »dem Anscheine nach« zu sein. Hiermit will Kant doch offensichtlich der von ihm selber suggerierten Konzentration auf den Aspekt der Grenzbestimmung der Vernunft entgegenwirken (KrV B 823; vgl. Prol A 163 = AA 4,350 f.), nämlich der These, daß »der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu anticipiren, und da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten könne« (KrV B 303). Das Faktum, daß der Verstand die Grenzen der Sinnlichkeit nicht überschreiten darf, daß er also in erkenntniskonstitutiver Hinsicht auf das bloße Feld der Erscheinungen eingeschränkt bleibt, ist 14
Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, 3.
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nur dem Anscheine nach negativ. Das heißt doch wohl: es ist nur auf den ersten Blick, bei oberflächlicher Betrachtung, negativ. Es läßt sich demnach, Kant zufolge, hinsichtlich des zweiten Teils der Metaphysik, also hinsichtlich derjenigen Gebiete, die traditionellerweise in den Kapiteln der sogenannten metaphysica specialis abgehandelt werden, auch ein positives Resultat ermitteln. Nun sollte man diesen Hinweis nicht vorschnell – wozu Kants Text dann allerdings, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, Anlaß gibt – als Öffnung auf das Praktische hin interpretieren, etwa dahingehend, daß die Kritik dadurch, daß sie die Wissenserweiterung jenseits der Grenzen der Erfahrung als prinzipiell aporetisch erweist, für eine andere Art von Erkenntnissen Raum verschafft, nämlich für die praktischen (Prol A 186 = AA 4,363). Kant sagt (KrV B XXX): »Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«. Im Bereich des Praktischen sollen diejenigen Modalitäten aufgezeigt werden, unter denen den Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit objektive Realität zugesprochen werden kann (vgl. KpV A 3 f.). Wenngleich es letztlich diese Perspektive ist, auf die alles hinausläuft – »die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft [ist] eigentlich nur aufs Moralische gestellt« (KrV B 829) –, so bliebe sie dennoch unvollständig und damit auch unbegriffen, wenn sie gerade das Geschehen der Vernunft in theoretischer Hinsicht vor dem Hintergrund der Läuterung durch die transzendentale Analytik in seinem abschließenden Sich-Ereignen nicht zur Sprache kommen ließe. Denn, obzwar stimmt, daß die Ergebnisse der Analytik für die dogmatische Metaphysik, den »Dogmatism der Metaphysik« (KrV B XXX) negativ sind, so darf dennoch nicht übersehen werden, daß dies für den Kritizismus in theoretischer Hinsicht nur dem Anschein nach so ist, weil nämlich durch die Beschränkung der Erkenntnisleistungen auf immanente Welterkenntnis der Raum für eine der Vernunft eigentümliche Diskursivität überhaupt erst eröffnet werden kann, eine Diskursivität, von der zu zeigen sein wird, daß sie keine der bloßen Privatmeinungen ist, sondern durchaus eine solche assertorischer Urteile – und demnach mit dem Siegel der Notwendigkeit versehen: »Was reine Vernunft assertorisch urtheilt, muß (wie alles, was Vernunft erkennt) nothwendig sein, oder es ist gar nichts. Demnach enthält sie in der That gar keine Meinungen« (KrV B 809). Infolgedessen ist die Frage zu stellen, einmal nach der Notwendigkeit, die das Vernunftgeschehen auf dieser höchsten Ebene seiner Leistungen beherrscht, sodann nach dem Status der
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aufgrund dieser Leistungen erfolgenden Setzungen. Beide Fragen sind freilich, wie sich zeigen wird, aufs engste miteinander verwoben. Das Thema, das uns zunächst in diesem Zusammenhang beschäftigen muß, betrifft den Sinn der Notwendigkeit des Vernunftgeschehens. Im zweiten Punkt der Einleitung in die transzendentale Dialektik spricht Kant davon, daß die Erkenntnis als ein Ganzes anzusehen sei, das seinen Ausgang bei den Sinnen nimmt, von da zum Verstande übergeht und bei der Vernunft endigt, »über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen« (KrV B 355). Damit ist die Funktion der Vernunft im Gesamt des menschlichen Erkenntnisgeschehens genannt; sie besteht darin, höchste Einheit hervorzubringen. Die Vernunftleistung ist insofern die Vollendung des Verstandes als des Vermögens der Einheit der Erscheinungen vermittelst von Regeln (vgl. KrV B 359).15 Einheit vermag die Vernunft indes nur aufgrund von einheitsstiftenden Prinzipien hervorzubringen und zwar deshalb, weil nur auf solche Weise Begründung von Einheit denkbar ist. Wenn die Vernunft aber die höchste einheitsstiftende Instanz ist, dann kann sie die Prinzipien selber nicht von anderswoher nehmen, sondern muß sie aus sich selber hervorbringen. Sie ist, als »Vermögen der Principien« (KrV B 355) zugleich auch, wie es in der Grundlegung heißt, »Urheberin ihrer Principien« (GMS BA 101 = AA 4,448). Die Hervorbringung der Prinzipien durch die Vernunft muß ihrerseits wiederum nach Prinzipien erfolgen, und zwar nicht nach höheren, weil dies zu einem unendlichen Regreß führen würde, sondern nach denen, die überhaupt erst durch sie hervorgebracht werden.16 Dies zieht indes keine zirkuläre Struktur nach sich, insofern das Hervorbringen der Prinzipien im Sinne einer Exposition zu verstehen ist, d. h. eines sich Zur-Vorstellung-Bringens der Vernunft selber im Modus ihrer Funktion als begründender Instanz. Was die Vernunft auf solche Weise vor sich stellt, ist nichts anderes als die ihr eigene Notwendigkeit, das Ganze zu begreifen. Wenn Kant am Leitfaden der logischen Funktion der Vernunft als dem »Vermögen mittelbar zu schlie-
Zum Thema der Vernunft als der Vollendung des Verstandes vgl. Schneiders: Vernunft im Zeitalter der Vernunft. 16 Reflexion 1562 (AA 16,3): »Alles, was aus einem gewißen Vermögen herfließt, entsteht gewißen Regeln gemäß. Denn es geschieht immer einem Grund gemäß. Folglich wird auch die Vernunft nach gewißen Regeln handeln«. 15
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ßen« (KrV B 355) diese Notwendigkeit rekonstruiert, so gilt es vor allem, das in ihr waltende Geschehen des Denkens zu begreifen. Was in der Definition des Vernunftschlusses als »Erkenntniß der Nothwendigkeit eines Satzes durch die Subsumtion seiner Bedingung unter eine gegebene allgemeine Regel« zum Ausdruck kommt (Log A 187 = AA 9,120), das ist das Geschehen des In-Beziehung-Setzens. Von daher gewinnt die Rede von der höchsten Einheit ihre Konturen: Einheit ist dann als höchste gemeint, wenn das Setzen von Beziehung in seiner höchsten Form Gestalt angenommen hat. Es wird später zu zeigen sein, daß dies der Fall sein wird in einer zweckmäßig gedachten Einheit. Dieser einheitsstiftende Actus der Vernunft ist aber nur dann dem Begriff der Vernunft als reinem Vermögen adäquat, wenn und insofern diese einen letzten oder unbedingten Grund setzt. Dies aber ist eine synthetische Leistung der Vernunft (die notwendig das Vernunftvermögen als reines ausmacht), in der aber auch der Grund für das liegt, was Kant als transzendentalen Schein bezeichnet.17 Die zentrale Lehre vom transzendentalen Schein, mit der – wohl kaum zufällig – der Anfang der transzendentalen Dialektik gemacht wird, besagt, daß die Vernunft bei solchen unbedingten Setzungen einer unvermeidlichen natürlichen Illusion unterliegt, indem sie diese Setzungen als im Objekt gegeben annimmt. Es gelingt zwar sehr wohl, auf der Grundlage der Ergebnisse der transzendentalen Analytik, die den Bezirk des objektiv legitim Erkennbaren abgesteckt hat (vgl. KrV B 294 ff.), diesen Schein als Schein zu durchschauen, d. h. »zu verhüten, daß er nicht betrüge«, daß er aber verschwinde »und ein Schein zu sein aufhöre, das kann sie [die transzendentale Dialektik] niemals bewerkstelligen« (KrV B 354). Die Ausdifferenzierung des Begriffs des Unbedingten entwickelt Kant am Leitfaden der logischen Funktion der Vernunft. Gemäß dem dreifach möglichen In-Beziehung-Setzen, das sich aus den logischen Arten des Verhältnisses überhaupt ergibt, läßt sich eine dreifache Artikulation des Unbedingten eruieren: ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis, der hypothetischen Synthesis sowie der disjunktiven Synthesis (vgl. KrV B 379), denen, in Übereinstimmung mit den traditionellen Disziplinen der metaphysica specialis – der Metaphysik in ihrem zweiten Teil (vgl. KrV B XIX) – die ›Gegenstände‹ der rationalen Psychologie, der allgemeinen Kosmologie und der natürlichen 17
Vgl. Theis: De l’illusion transcendantale.
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Theologie (um Wolffs Terminologie zu verwenden) entsprechen. Gerade diese Rückbindung soll, in einer philosophiegeschichtsphilosophischen Konstruktion, sichtbar machen, inwiefern Metaphysik einer Notwendigkeit oder einem Bedürfnis der Vernunft, selbst noch in ihrer ›Unwahrheit‹ entspricht (FM A 21 = AA 10,264). Um den kognitiven Status der Rede von den unbedingten Bedingungen aus kritizistischer Perspektive zu erfassen, muß man auf die Grundthese von der Begrenztheit der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis rekurrieren, die in einer der vielen Formulierungen besagt, daß der Gegenstand einem Begriff nicht anders als in der Anschauung gegeben werden kann (vgl. KrV B 298 f.). Demzufolge sind die Begriffe der reinen Vernunft als Begriffe der absoluten Totalität in gegenstandskonstitutiver Hinsicht »ohne Sinn« (KrV B 299). Mit dieser pointierten Behauptung stehen wir nun vor einem paradoxen Sachverhalt, insofern sich einerseits die Notwendigkeit des Gründens aus dem Bedürfnis der Vernunft selber ergibt, was, wie oben gezeigt, in spezifischen synthetischen Leistungen seinen Ausdruck findet, andererseits dieselben Leistungen gleichzeitig mit Notwendigkeit ohne Synthesis sind (im Sinne einer Beziehung aufs Objekt). Solche paradoxen Begriffe der Vernunft bezeichnet Kant als Ideen (KrV B 383 f.): »Ich verstehe unter der Idee einen nothwendigen Vernunftbegriff, dem kein congruirender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Also sind unsere jetzt erwogene reine Vernunftbegriffe transscendentale Ideen. Sie sind Begriffe der reinen Vernunft; denn sie betrachten alles Erfahrungserkenntniß als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen. Sie sind nicht willkürlich erdichtet, sondern durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben und beziehen sich daher nothwendiger Weise auf den ganzen Verstandesgebrauch. Sie sind endlich transscendent und übersteigen die Grenze aller Erfahrung, in welcher also niemals ein Gegenstand vorkommen kann, der der transscendentalen Idee adäquat wäre«.18 Bevor wir der weiteren Frage nachgehen, in welcher Weise die transzendentalen Ideen – und unter ihnen insbesondere die theologische Idee – transzendentalphilosophisch fruchtbar zu machen sind, wollen wir uns der näheren Ausdifferenzierung der theologischen Idee zuwenden.
Über die neue Bedeutung des Begriffs ›Idee‹ bei Kant vgl. Hinske: Kants Anverwandlung des ursprünglichen Sinnes von Idee. 18
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3. Die dritte transzendentale Idee und das Ideal der reinen Vernunft Wir wissen bereits, daß Kant die transzendentalen Ideen als die eigentlichen Begriffe der reinen Vernunft am Leitfaden der Formen der Vernunftschlüsse gewinnt (die sogenannte metaphysische Deduktion der Ideen). Dem dritten – disjunktiven – Vernunftschluß entspricht die Idee von der absoluten Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt, welche mit dem Gegenstand der Theologie gleichgestellt wird (vgl. KrV B 391). Untersuchen wir genauer, wie sich diese Idee aufgrund des dritten Vernunftschlusses ergibt, um auf diese Weise einen ersten Zugang zu ihrem Inhalt zu gewinnen. Die Definition des disjunktiven Vernunftschlusses entnehmen wir Kants Logik. Kant lehnt sich hier an George Friedrich Meiers Auszug aus der Vernunftlehre an,19 ein Handbuch, das er mehr als vierzig Jahre in seinen Logikvorlesungen benutzte (Log A 202 f. = AA 9,129 f.): »In den disjunctiven Schlüssen ist der Major ein disjunctiver Satz und muß daher, als solcher, Glieder der Eintheilung oder Disjunction haben. / Es wird hier entweder 1) von der Wahrheit Eines Gliedes der Disjunction auf die Falschheit der übrigen geschlossen, oder 2) von der Falschheit aller Glieder, außer Einem, auf die Wahrheit dieses Einen«. Inwiefern ergibt sich die oben genannte dritte transzendentale Idee aus dem Gedanken des disjunktiven Vernunftschlusses? In diesem Schluß wird einem Begriff ein Prädikat zu- oder abgesprochen durch Ausgrenzung aus einem Inbegriff von Prädikaten. Damit ein solcher Schluß aber überhaupt denkbar ist, muß man einen Obersatz denken, der alle möglichen Prädikate aller möglichen Dinge umfaßt, also den Inbegriff aller möglichen positiven Prädikate oder Realitäten. Anders ausgedrückt: Der Begriff, dem im Schlußsatz ein Prädikat zu- bzw. abgesprochen wird, steht unter dem Prinzip der Bestimmbarkeit. Wenn ich aber einem Begriff eine Bestimmung zu- oder abspreche, dann liegt darin, daß meine Urteilskraft die gesamte Sphäre der möglichen Prädikate durchläuft und bezüglich eines jeden dieser Prädikate entschieden hat, ob die mit ihm vermeinte Bestimmung dem Subjektbegriff zukommt oder nicht. Jedesmal also, wenn ich ein Ding denke, habe ich implizit, indem ich das Ding als dieses Etwas denke, die Gesamtheit der möglichen Prädikate, also den Inbegriff, als die schlechthinnige Bedingung der MöglichMeier: Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752, § 396 (wiederabgedruckt in AA 16). 19
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keit des Denkens dieses Dinges, also seiner sachhaltigen Bestimmung selber vorausgesetzt. Die Frage, die sich nun stellt, ist, inwiefern diese Totalität mit der theologischen Idee kongruent ist. Diese Gleichsetzung wird verständlich, wenn man einen Blick auf Kants Konzeption von Gott wirft, wie er sie in seinen frühen Texten formuliert hat. Wir können das hier nur andeutungsweise tun.20 In Kants Schriften aus den 50er und 60er Jahren, vornehmlich in der 1755 entstandenen Habilitationsschrift Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio und in Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1762/63) entwickelt Kant, im Gegenzug zum traditionellen ontologischen oder sogenannten cartesianischen Argument, einen eigenen apriorischen Gottesbeweis, der seinen Ausgangspunkt im Begriff des Möglichen nimmt. Der Kern dieses Beweises lautet: Das Mögliche oder Denkliche setzt, um als ein solches zu sein, ein wirkliches Existierendes voraus, worin (und wodurch) alles Mögliche gegeben ist, und dessen Aufhebung alle Möglichkeit zerstören würde. Dieses Wirkliche existiert notwendigerweise (BDG A 29 = AA 2,83). In diesem Beweis, dessen Grundstruktur bereits seit 1755 feststeht, ist ein Gottesbegriff wirksam, der sich anhand des Begriffs des notwendigen Wesens sowie der Allheit bzw. des Inbegriffs der Realität bestimmen läßt. Es ist insbesondere dieser letztere Begriff, der in unserem Kontext von Bedeutung ist. Alles, was in unseren Begriffen an Realität (sprich: Sachhaltigkeit) da ist, ist es aufgrund eines notwendig existierenden Wesens, das den »letzten Realgrund aller anderen Möglichkeit« enthält (BDG A 30 = AA 2,83 f.). Dieser Begriff der Allheit der Realität hält sich in Kants Entwicklung während der 60er und 70er Jahre durch (wenngleich gelegentlich Interpretationsschwankungen auftreten), und das mit ihm verbundene Bedeutungspotential bildet den Kern der späteren dritten transzendentalen Idee, bzw. den aus reinem Denken erreichbaren Grundbegriff der philosophischen Theologie. Genau dieser Begriff der Allheit als der Totalität der Realitäten im Sinne ihrer kollektiven Einheit (also als ein Ding) kommt im Begriff der »absoluten Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt« (KrV B 391) zum Ausdruck. Es ist auch dieser Begriff, der mit dem Titelbegriff des 3. Hauptstücks des 2. Buches der transzendentalen Dialektik vermeint ist, welches mit dem Titel überschrieben ist: Das Ideal der reinen Vernunft 20
Vgl. Theis: Gott, 35–84.
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(vgl. KrV B 595). Wo Kant den Plan seiner Dekonstruktion der dialektischen Vernunftschlüsse skizziert, beschreibt er das Thema, das unter diesem Titelbegriff verhandelt werden soll, folgendermaßen (KrV B 398): »Endlich schließe ich, nach der dritten Art [nach dem Paralogismus und der Antinomie] vernünftelnder Schlüsse, von der Totalität der Bedingungen, Gegenstände überhaupt, so fern sie mir gegeben werden können, zu denken, auf die absolute synthetische Einheit aller Bedingungen der Möglichkeit der Dinge überhaupt, d. i. von Dingen, die ich nach ihrem bloßen transscendentalen Begriff nicht kenne, auf ein Wesen aller Wesen, welches ich durch einen transscendenten Begriff noch weniger kenne, und von dessen unbedingter Nothwendigkeit ich mir keinen Begriff machen kann. Diesen dialektischen Vernunftschluß werde ich das Ideal der reinen Vernunft nennen.« Ist das Ideal also nicht nur gleichbedeutend mit der dritten Idee, sondern selber dialektischer Vernunftschluß? Dem Hinweis muß später nachgegangen werden. Immerhin enthält diese Anzeige die entscheidenden Hinweise für das Verständnis des oben genannten Abschnitts. Dieser komplexe Abschnitt, der in seiner Struktur bisweilen verwirrend ist, zerfällt in zwei große Gedankenschritte.21 Der erste entwickelt den Begriff des transzendentalen Ideals auf mehreren, ineinander greifenden Ebenen. Dieser Begriff steht aber nicht von Anfang an fest, sondern wird erst progressiv konstruiert. Dabei ist das zugrundeliegende Argumentationsmuster demjenigen verwandt, das Kant in den frühen Schriften für seinen eigenen ontotheologischen Beweis entwickelt hatte. Der allerdings zentrale Unterschied liegt in der Einsicht in die Möglichkeit und den Umfang der objektiven Erkenntnis, die aufgrund der transzendentalen Analytik gewonnen wurde und der die Transformation der Abschlußaussage selber notwendig gemacht hat: Nicht mehr gelangt das Denken (in einer ersten Phase) zur Affirmation eines schlechthin notwendig existierenden Wesens, das alle Realitäten in sich enthält, sondern eben (nur) zum Begriff des Inbegriffs aller Möglichkeit als einer notwendigen VorausZu diesem Abschnitt vgl. Andersen: Ideal und Singularität. Über die Funktion des Gottesbegriffes in Kants theoretischer Philosophie, 190 ff.; Fischer / Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, 103 ff.; Heimsoeth: Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 409 ff.; Marty: La naissance de la métaphysique chez Kant, 159 ff.; Piché: Das Ideal. Ein Problem der Kantschen Ideenlehre, 13 ff.; Sala: Kant und die Frage nach Gott. Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants, 229 ff. 21
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setzung des Denkens; diese Idee ist demnach insofern ein notwendiger Begriff.22 Skizzieren wir in aller Kürze die Hauptschritte dieses Gedankengangs. Den Ausgang nimmt Kant beim Grundsatz der durchgängigen Bestimmung. Dieser Grundsatz besagt, in der Formulierung der Kritik, daß einem jeden Ding, seiner Möglichkeit nach, »von allen möglichen Prädicaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegentheilen verglichen werden, eines zukommen muß« (KrV B 599 f.).23 Diesem Grundsatz zufolge wird jedes Ding, um als ein solches denkbar zu sein, auf den Horizont aller möglichen Prädikate, also auf die Gesamtheit des Möglichen, bezogen werden müssen. Das besagt, daß die Vernunft den Inbegriff aller Möglichkeit (oder Realität), der zur vollständigen Erkenntnis eines Dinges notwendig ist, als Idee voraussetzen muß, diese Idee demnach insofern notwendig ist.24 In einer nächsten Phase wird dieser Begriff auf den des Ideals zugespitzt und zwar aufgrund einer Unterscheidung zwischen ursprünglichen und abgeleiteten Prädikaten. Bei näherer Untersuchung finden wir, so Kant, »daß diese Idee, als Urbegriff, eine Menge von Prädicaten ausstoße, die als abgeleitet durch andere schon gegeben sind, oder neben einander nicht stehen können, und daß sie sich bis zu einem durchgängig a priori bestimmten Begriffe läutere und dadurch der Begriff von einem einzelnen Gegenstande werde, der durch die bloße Idee durchgängig bestimmt ist, mithin ein Ideal der reinen Vernunft genannt werden muß« (KrV B 601 f.). In einer dritten Phase wird der Begriff des Ideals im Sinne eines Dinges an sich selbst vorgestellt, dieses verstanden als ens realissimum (vgl. KrV B 603 f.).25 Dieser zunächst neutrale Begriff (neutral in dem Sinne, daß Vgl. Reflexion 5785 (AA 18,355); vgl. auch Reflexion 6214 (AA 18,503). Vgl. Theis: Kants Transformation der Ontotheologie. Über die Möglichkeit einer philosophischen Theologie im Schatten des Kritizismus. 23 In Reflexion 6209, die übrigens eine klare Zusammenfassung des hier anstehenden Problems enthält, unterscheidet Kant zwischen einer logischen und einer metaphysischen Form des Prinzips. In logischer Hinsicht entspricht ihm das principium exclusi medii; das Prinzip der durchgängigen Bestimmung hingegen ist die metaphysische Version (AA 18,495). 24 Vgl. Reflexion 5775 (AA 18,351); vgl. auch Reflexion 6282 (AA 18,549). 25 Die Rückkoppelung des Begriffs des transzendentalen Ideals an die Argumentation bezüglich der dritten transzendentalen Idee, die sich im 2. Abschnitt des ersten Buches der transzendentalen Dialektik befindet, kann hier unberücksichtigt bleiben (vgl. KrV B 604 f.). 22
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er auf dieser Ebene noch nicht theologisch interpretiert wird) dient nun Kant wiederum als Ausgangspunkt einer neuen Reflexion über das Verhältnis des Ideals zu den möglichen Dingen. War dieses Verhältnis im vorigen Schritt (Phase 1) dahingehend bestimmt worden, daß die durchgängige Bestimmung alles Existierenden den Inbegriff der Realität voraussetze, so wird jetzt dieses Verhältnis im Sinne einer Ableitung der möglichen Dinge von der »unbedingten Totalität der durchgängigen Bestimmung« (KrV B 606) gedeutet, diese wiederum als Einschränkung verstanden. Demzufolge kommt dem realissimum gegenüber den Möglichkeiten die Ursprünglichkeit zu. Genau dieser Aspekt nun führt dazu, das realissimum auf dieser noch neutralen Stufe im Sinne eines Urwesens (insofern es unabhängig ist), höchsten Wesens (insofern es vollkommen ist) oder Wesens aller Wesen (insofern es allgenugsam ist) zu bestimmen (vgl. KrV B 606 f. und Reflexion 6251; AA 18,531). Die zweite Ebene, auf welcher der Begriff des transzendentalen Ideals zur Sprache kommt, betrifft dessen theologische Deutung im engeren Sinne. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Reflexion über die oben dargestellte Deutung des Verhältnisses des realissimum zu den möglichen Dingen. Hier rückt jetzt der Gedanke des Grundes in den Vordergrund. Dieser Gedanke verweist auf eine alte Schicht in Kants Entwicklung. Bereits in den Frühschriften hatte er, im Rahmen seines eigenen ontotheologischen Argumentes, die Frage gestellt, wie das Verhältnis der Möglichkeiten zum notwendigen Wesen zu denken sei. Grundsätzlich gilt diesbezüglich die Alternative: Entweder sind die Weltdinge Teil des notwendigen Wesens oder aber das notwendige Wesen ist Quellgrund der Realitäten. Kants Lösung in der Nova dilucidatio und im Beweisgrund geht eindeutig in die Richtung des zweiten Teils der Alternative (vgl. PND Prop. VII Scholion = AA 1,395 f.; BGD A 34 f. = AA 2, 85 ff.). In der Folge seiner Entwicklung dann, als sich der Begriff des transzendentalen Ideals zu präzisieren beginnt, findet sich in einigen Reflexionen aus dem handschriftlichen Nachlaß eine Deutung, in der die Beziehung zwischen dem Ideal und den möglichen Dingen im Sinne einer Abhängigkeit verstanden wird (vgl. Reflexion 4245; AA 17,479). Diese Deutung scheint uns daher zu stammen, daß Kant zu diesem Zeitpunkt den Idealgedanken von seinem eigenen ontotheologischen Argument und dessen Grundbegriff, dem des notwendigen Wesens als dem Grund des Möglichen, her versteht. In der Kritik ist die Lage genau umgekehrt: Hier ist es der Idealbegriff, der den Ausgangspunkt bildet, und nun wird, gewissermaßen im Hinblick auf dessen theologische Zuordnung, das Verhältnis des Ideals zum Möglichen zunächst im Sinne
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einer Ableitung (vgl. Reflexion 6034; AA 18,428 f.), sodann das Ideal, sofern es realissimum ist, als Grund bestimmt. Aber schon an dieser Stelle zeigt sich, daß diese Zuspitzung auf den Aspekt des Grundes hin letzten Endes von der Sache her nicht zwingend ist. Die Zuspitzung des realissimum als Grund impliziert ihrerseits eine Reihe von Bestimmungen, die es als theologischen Grundbegriff aufscheinen lassen. Kant schreibt (KrV B 608): »Wenn wir nun dieser unserer Idee, indem wir sie hypostasiren, so ferner nachgehen, so werden wir das Urwesen durch den bloßen Begriff der höchsten Realität als ein einiges, einfaches, allgenugsames, ewiges, etc., mit einem Worte, es in seiner unbedingten Vollständigkeit durch alle Prädicamente bestimmen können.« Die Hypostasierung, von der hier die Rede ist, besagt nicht die Position (im Sinne der objektiven Wirklichkeit) des realissimum, sondern dessen Bestimmung als Wesenheit.26 Kant zählt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Prädikamenten auf: Einigkeit, Einfachheit, Allgenugsamkeit, Ewigkeit usw. (vgl. KrV B 608).27 Der so zugrundegelegte Begriff des realissimum ist nun der von Gott »im transscendentalen Verstande gedacht, und so ist das Ideal der reinen Vernunft der Gegenstand einer transscendentalen Theologie […]« (KrV B 608). Mit dieser Zuspitzung auf den theologischen Grundbegriff haben wir die Darlegungen des ersten Gedankenschritts in diesem Abschnitt der Kritik abgeschlossen. Dabei ging es Kant offenbar darum, die innere Notwendigkeit dieser Zuspitzung darzutun, d. h. die Tatsache, daß die Vernunft aus sich heraus auf die Bildung des Begriffs von Gott hindrängt. Dabei sollten die Übergänge zur jeweils neuen Stufe durch progressive Klärung und Läuterung des im ursprünglichen Idealbegriff Enthaltenen (etwa die Deutung des Inbegriffs Daß die Hypostasierung von der Realisierung zu unterscheiden sei, zeigt sich ganz deutlich in der Anmerkung B 612, wo es heißt: »Dieses Ideal des allerrealsten Wesens wird also, ob es zwar eine bloße Vorstellung ist, zuerst realisirt d. i. zum Object gemacht, darauf hypostasirt, endlich durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft zur Vollendung der Einheit, so gar personificirt«. Die Gleichsetzung von Hypostasierung und gegenständlicher Realität, wie etwa der gleichnamige Artikel in HWP 3,1259 suggeriert, entspricht nicht der Textlage. 27 Diese Aufzählung entspricht z. T. derjenigen, die man bereits im Beweisgrund antrifft. Dort hatte Kant geschrieben: »Es existirt etwas schlechterdings nothwendig. Dieses ist einig in seinem Wesen, einfach in seiner Substanz, ein Geist nach seiner Natur, ewig in seiner Dauer, unveränderlich in seiner Beschaffenheit, allgenugsam in Ansehung alles Möglichen und Wirklichen. Es ist ein Gott« (BDG A 42 = AA 2,89). 26
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der Möglichkeit im Sinne eines Urbegriffs, also eines einzelnen Gegenstandes, oder die Deutung der Ableitung nicht im Sinne einer Einschränkung, sondern eines Grund-Folge-Verhältnisses) deutlich gemacht werden. Im zweiten Gedankenschritt dieses Abschnitts wird Kant nun diesen transzendentalen Begriff von Gott dekonstruieren, indem er die ihm innewohnende notwendige Dialektik aufzeigt. Bei dieser Dekonstruktion kommt es darauf an, sich nicht von den bisweilen unscharfen Formulierungen in die Irre führen zu lassen. Die eigentliche Schwierigkeit diesbezüglich findet sich gleich in den ersten Sätzen des 15. Absatzes. Dort heißt es (KrV B 608): »Indessen würde dieser Gebrauch der transscendentalen Idee doch schon die Grenzen ihrer Bestimmung und Zulässigkeit überschreiten. Denn die Vernunft legte sie nur als den Begriff von aller Realität der durchgängigen Bestimmung der Dinge überhaupt zum Grunde, ohne zu verlangen, daß all diese Realität objectiv gegeben sei und selbst ein Ding ausmache. Dieses letztere ist eine bloße Erdichtung, durch welche wir das Mannigfaltige unserer Idee in einem Ideale, als einem besonderen Wesen, zusammenfassen und realisiren, wozu wir keine Befugnis haben«. In diesem Text geht es um das Überschreiten bestimmter Grenzen. Dieser Überschritt betrifft zwei Aspekte: Einerseits wird aus dem Begriff zur Realisierung fortgeschritten, also zur Behauptung der objektiven Realität; andererseits wird zur Behauptung übergegangen, daß der transzendentalen Idee ein einiges Ding entspreche. Dies sind zwei voneinander zu unterscheidende Aspekte, wenngleich hinzugefügt werden muß, daß die objektive Realisierung nur unter der Voraussetzung eines einigen Dinges denkbar ist. Hinsichtlich des ersten Aspekts ist aufgrund der Analyse des ersten Gedankenschritts zu fragen, ob denn in der Dynamik der Vernunft, die sich angesichts des transzendentalen Ideals entwickelt, überhaupt dieser Überschritt zur Realisierung vollzogen worden ist. Darauf ist zu antworten, daß dies nicht der Fall ist. Der einzige Überschritt, der geschieht, ist eben der von dem unbestimmten Inbegriff aller Realität hin zum bestimmten Begriff des ens realissimum. Dabei aber verläßt die Vernunft in keinem Augenblick den Raum des Ideellen. Wenn Kant dennoch in dem angeführten Zitat behauptet, es vollziehe sich ein transgressus hin auf die Realisierung, dann hat er ein anderes Argument vor Augen als das von ihm selbst in den vorangehenden Absätzen entwikkelte. Dabei kann es sich eigentlich nur um den von ihm selbst entwickelten
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ontotheologischen Beweis handeln, der im Beweisgrund als einzig mögliches Argument für das Dasein Gottes angesehen worden ist (BDG A 203 ff. = AA 2,162). In diesem war, wie wir bereits gesehen haben, von der Tatsache, daß es Mögliches gibt, darauf geschlossen worden, daß etwas notwendigerweise existieren muß, das die Data zu aller Möglichkeit enthält. Die Argumentation des 15. Absatzes in der Kritik betrifft somit nur zum Teil die Beweislage der vorigen Abschnitte, nämlich durch den zweiten Aspekt: »[…] und selbst ein Ding ausmache«. In diesem Punkt liegt der eigentliche Kern des Problems und dies wird auch ganz deutlich, wenn man sich die weiteren Darlegungen in dem hier zur Diskussion stehenden Abschnitt vor Augen führt. Denn in ihnen wird Kant bezeichnenderweise nicht mehr auf die Frage der Realisierung zurückkommen, sondern eben gerade den Prozeß der Läuterung des Inbegriffs aller Möglichkeit hin zum transzendentalen Ideal (Individuum) und zum theologischen Grundbegriff (Gott im transzendentalen Verstande), also die Bestimmung im Sinne eines einigen Daseins, einer kritischen Dekonstruktion unterziehen, indem er dessen Dialektik aufdeckt. Dieses Programm entspricht dann auch genau dem, was am Ende des ersten Buches der transzendentalen Dialektik angekündigt worden war (vgl. KrV B 398). Damit ergibt sich nun folgender Sachverhalt: Die theologische Idee als die dritte transzendentale Idee enthält das Besondere, daß sie als Idee sich notwendig aus der der Vernunft innewohnenden Logik ergibt, aber diese Logik ist an sich bereits dialektisch. Daraus folgt, daß die sich aus dieser Dialektik heraus ergebende Idee ebenfalls an sich dialektisch ist, und zwar aufgrund der oben genannten Verwandlung des bloßen Inbegriffs in den Begriff eines einigen Wesens bzw. in die Bestimmung dieses Wesens im Sinne des transzendentalen Begriffs von Gott. Daß sich bei dieser Idee eine besondere Art von Schein einschleicht, hatte Kant in der Reflexion 5553, die von Adickes in die Entstehungszeit der Kritik datiert wird, gesehen bzw. angedeutet. Dort schreibt er bezüglich des Ideals: »Der dritte [Schein]: da die Allgemeinheit des Denkens durch die Vernunft vor einen Gedanken von einem All der Moglichkeiten der Dinge genommen wird« (Reflexion 5553; AA 18,224). Der Schein besteht demnach in der Tatsache, daß der Inbegriff der Möglichkeiten in ein ens realissimum als ein Ding verwandelt wird.28 Damit haben wir nun einen merkwürdigen Sachverhalt vor Andersen scheint mir den hier infragestehenden Sachverhalt nicht korrekt zu interpretieren, wenn er schreibt (Ideal und Singularität, 218): »Wir können diesen Schein 28
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uns: Wenn einerseits gilt, daß die dritte transzendentale Idee als eine notwendige Idee der Vernunft die eines Wesens aller Wesen ist (die absolute Einheit der Bedingungen aller Gegenstände des Denkens überhaupt [vgl. KrV B 391] oder: die absolute synthetische Einheit aller Bedingungen der Möglichkeit der Dinge überhaupt [vgl. KrV B 398]), wenn andererseits das Zustandekommen dieser Idee in der Form des transzendentalen Ideals dialektisch ist, dann haben wir es im Falle der theologischen Idee mit einem Dialektischwerden der Vernunft zu tun, das sich auf einer anderen Ebene ansiedelt als der Schein hinsichtlich der beiden anderen transzendentalen Ideen. Denn hier geht es offenbar nicht um die Umkippung einer subjektiven Notwendigkeit in eine objektive, also so, daß subjektive Grundsätze für objektive genommen werden (vgl. KrV B 353 f.), sondern die Vernunft ist hier noch auf eine andere Art dialektisch, indem sie die Idee als ein einiges Ding denkt. Sieht man sich nun die Begründung an, die Kant diesbezüglich anführt, so wird noch ein ganz anderer Aspekt der hier in Frage stehenden Problematik sichtbar: Diese Begründung betrifft in der Tat nicht diesen Punkt, sondern viel ursprünglicher bereits die Idee des Inbegriffs aller Möglichkeit selber. Zwar behauptet er, das Ideal sei auf einer »natürlichen und nicht bloß willkürlichen Idee gegründet« (KrV B 609), aber die Dekonstruktion dieses Scheins zeigt dann, daß nicht erst das Ideal, sondern bereits der Gedanke des Inbegriffs selber aufgrund einer natürlichen Illusion zustandekommt. Denn die Vernunft stützt sich hier, so Kant, auf einen Grundsatz, der für den Bereich der Erfahrung gilt, daß nämlich das, »worin das Reale aller Erscheinungen gegeben ist, die einige allbefassende Erfahrung ist«, so daß »die Materie zur Möglichkeit aller Gegenstände der Sinne als in einem Inbegriffe gegeben vorausgesetzt« wird (KrV B 609 f.). »Nach einer natürlichen Illusion sehen wir nun das für einen Grundsatz an, der von allen Dingen überhaupt gelten müsse […]. Folglich werden wir das empirische Princip unserer Begriffe der Möglichkeit der Dinge als Erscheinungen durch Weglassung dieser Einschränkung für ein transscendentales Princip der Möglichkeit der Dinge überhaupt halten« (KrV B 610). Dieses Zitat macht deutlich, daß Kant hier nicht die Konstitution des Idealbegriffs im Auge hat, sondern schon dessen Vorgänger, nämlich den Inbegriff zusammenfassend als die Objektivierung des transzendentalen Ideals charakterisieren«. Es ist wahr, daß Kants Text auf den ersten Blick zu dieser Interpretation Anlaß geben kann, aber eben nur auf den ersten Blick.
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aller Möglichkeit, also die primäre Idee der Vernunft. Das aber scheint zu besagen, daß bereits diese Idee als Idee aufgrund einer Illusion zustandekommt; die Transformation in ein Ideal wäre demzufolge eine illusio consequens, die darin besteht, daß die distributive Einheit des bloßen Inbegriffs in eine kollektive verwandelt wird (vgl. KrV B 610). Damit stellt sich aber nun das Problem der dritten transzendentalen Idee am Ende dieses Abschnitts in aller Härte: Ist diese Idee als Idee der Vernunft überhaupt legitim, da sich bereits bei ihrer ursprünglichen Konstitution eine Illusion einschleicht? Und, wenn dies letztere der Fall ist, wie ist es möglich, daß Kant dann doch noch am Ende des Theologiekapitels behaupten kann, das höchste Wesen bleibe »für den bloß speculativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntniß schließt und krönt« (KrV B 669)? Wir wollen an dieser Stelle bloß auf diesen Widerstreit hinweisen, ohne indes allzusehr interpretierend einzugreifen. Er scheint aber ganz offensichtlich auf eine Schwierigkeit in der Sache selbst hinzuweisen, nämlich, wie es möglich (also denkbar) ist, daß das Denken aus sich selber zum Gottesbegriff als dem absoluten Vollendungsbegriff gelangt. Vielleicht ist dies die Grundfrage des Denkens überhaupt, sofern es diesem um Abschluß geht. Auf jeden Fall gilt aufgrund dieser Perspektive, daß Theologie mit den Mitteln der reinen Vernunft ein Problem ist, weil ihre Möglichkeit bzw. tiefer noch: weil die Begründung ihrer Möglichkeit unmöglich zu sein scheint, obwohl – und hier liegt das Paradoxon, das vielleicht in der Rede vom fehlerfreien Ideal, das die Erkenntnis abschließt und krönt, zum Ausdruck kommt – der transgressus in der Form der Realisierung des theologischen Grundbegriffs im Modus des Gedankens immer schon geschehen ist (vgl. KrV B 364).
4. Die Vollendung des kritischen Geschäfts Nach dieser Ausdifferenzierung der theologischen Idee gilt es nun, den Sachverhalt, der mit dem Begriff der Idee überhaupt angezeigt ist, transzendentalphilosophisch fruchtbar zu machen, um von daher den Boden vorzubereiten, der es uns erlaubt, die Topik des theologischen Diskurses genauer zu bestimmen. Zu diesem Zweck wollen wir uns – immanent – einem Textteil der Kritik zuwenden, der sich dem Sinn nach unmittelbar an das erste Buch der transzendentalen Dialektik anschließen müßte, aus programmatischen Grün-
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den indes den Abschluß dieses Teils der Kritik bildet: Wir sprechen von dem vielfach in der Forschung vernachlässigten Anhang zur transzendentalen Dialektik (vgl. KrV B 670 ff.).29 Den Ausgang unserer Überlegungen wollen wir bei folgendem Gedanken nehmen: »Alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muß zweckmäßig […] sein« (KrV B 670). Mit Bezug auf die transzendentalen Ideen heißt dies, daß sie »ihre gute und zweckmäßige Bestimmung in der Naturanlage unserer Vernunft haben« (KrV B 697). Diese sucht Kant zu erweisen, indem er die Gültigkeit der Ideen über den Weg einer Deduktion zu begründen sucht. Grundsätzlich gilt zwar, daß von den Ideen keine »objektive Deduktion« (KrV B 393) möglich ist, weil es keinen ihnen kongruierenden Gegenstand in einer möglichen Erfahrung geben kann. Sollen die Ideen indes nicht gänzlich zwecklos sein, »so muß durchaus eine Deduction derselben möglich sein« (KrV B 698). Und dann folgt der bedeutsame Satz: »Das ist die Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft, und dieses wollen wir jetzt übernehmen« (ebd.). Das deduktionsanaloge Verfahren der Ideen also als die eigentliche Vollendung des kritischen Geschäfts! Auf den ersten Blick ergibt sich eine derartige Perspektive nicht aus den Lehren der transzendentalen Analytik, in deren Mittelpunkt die Grenzziehung der konstitutiven Leistungen des Verstandes steht (vgl. KrV B 294 ff.). Wie konzipiert Kant diese Deduktion? Die Antwort auf diese Frage erfolgt über den Weg einer Unterscheidung zwischen dem, was er eine suppositio absoluta und eine suppositio relativa nennt, also einem »Gegenstand schlechthin« und einem »Gegenstand in der Idee« (KrV B 698), von der es heißt, sie sei »ziemlich subtil, aber gleichwohl in der Transscendentalphilosophie von großer Wichtigkeit« (KrV B 704; vgl. auch B 705; 707; 713). Die quasi-transzendentale Deduktion der Ideen besteht nicht darin, die Idee auf einen möglichen kongruierenden absoluten Gegenstand zu beziehen, um auf diese Weise ihre objektive Gültigkeit zu erweisen, sondern, ausgehend von der Annahme dieser den Ideen entsprechenden Gegenstände (als gedachter Existenzen) die Erfahrungswelt so zu deuten, als ob sie von diesen her ihre Einheit hätte (vgl. KrV B 707). Vgl. jedoch Malter: Der Ursprung der Metaphysik in der reinen Vernunft. Systematische Überlegungen zu Kants Ideenlehre, 129 ff.; Horstmann: Die Idee der systematischen Einheit. Der Anhang zur transzendentalen Dialektik in Kants Kritik der reinen Vernunft, 109 ff. Horstmann tut sich indes äußerst schwer mit diesem programmatischen Text. 29
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Dieser Gedanke ist nun in einer doppelten Perspektive zu sehen. Die erste ist systemtheoretischer Natur im Sinne einer Aufgabe für die Vernunft, in der Suche nach Einheit unter den Erkenntnissen (vgl. KrV B 355) am Leitfaden der Ideen zu verfahren und sie demzufolge als Regeln zugrundezulegen. Diesem Aspekt entspricht der Gedanke des Systems der Erkenntnisse, in dem die höchste Einheit Gestalt annimmt: »Die Vernunfteinheit ist die Einheit des Systems« (KrV B 708). Das systematische Ganze, als Vollendung ihres Kreises, ist dasjenige, worin die Vernunft Ruhe findet (vgl. KrV B 824). Ein solches Ganzes konzipiert Kant aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Einmal in theoretischer Hinsicht als System der Metaphysik (vgl. KrV B 874), freilich einer Metaphysik unter den Voraussetzungen der Lehren der Analytik, dann aber auch von dem Gesichtspunkt her, den er als die Endabsicht der Spekulation der Vernunft bezeichnet, die sich unter den Titeln Freiheit, Unsterblichkeit und Dasein Gottes zusammenfassen läßt, eine Endabsicht, von der es freilich auch heißt, ihr Interesse in spekulativer Hinsicht sei nur sehr gering (vgl. KrV B 825). Die zweite Perspektive bildet ganz eigentlich die Voraussetzung der ersteren, wenngleich der Zusammenhang mit der inhaltlichen Ausdifferenzierung des Systems, so wie er eben angedeutet worden ist, nicht direkt hergestellt werden kann.30 Sie besagt, daß die Weltwirklichkeit so vorzustellen sei, als ob sie als Ganze – in ihrem Wesenskern (vgl. KrV B 722) aus der Idee (B 843) oder Absicht (B 714) einer allerhöchsten Vernunft entsprungen sei: »alle Verknüpfung der Dinge [ist] so anzusehen, als ob sie in diesem Vernunftwesen ihren Grund hätten« (KrV B 709).31 Gemäß dieser Perspektive läßt sich die Weltwirklichkeit als ein nach teleologischen Gesetzen verknüpftes und verfaßtes Ganzes denken. Die Einführung eines teleologischen Gesichtspunktes steht – dies dürfte wohl ersichtlich sein – unter dem oben angeführten Gedanken der suppositio relativa, d. h. der Annahme eines Gegenstandes in der Idee. Das ist für die epistemische Verortung dieses Gesichtspunktes von Bedeutung. Es besagt nämlich, daß die Idee eines solchen Zusammenhangs die Welterkenntnis nach mechanischen Gesetzen – die »Erforschung der Ursachen« nach »allgemeinen
Es wird sich zeigen, daß Kant den Systemgedanken auf verschiedenen Ebenen konzipiert. 31 Dieser Gedanke steht durchaus in Kontinuität mit den ersten theologischen Entwürfen von Kant (vgl. Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels A 144 ff. = AA 1,331 ff.; BDG A 117 ff. = AA 2,123 ff.). 30
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Gesetzen des Mechanismus der Materie« (KrV B 719) – nicht zu ersetzen vermag, sondern daß der Vernunft auf diese Weise ganz neue Aussichten auf dem Felde der Erfahrung eröffnet werden (vgl. KrV B 715). Kant spricht davon, daß die teleologische Betrachtung die Natureinheit nach allgemeinen Gesetzen zu ergänzen vermag (vgl. KrV B 720).32 Die von Kant gemachten Bemerkungen sind, in erster Annäherung, einigermaßen unpräzise. Welches der genauere Sinn dieser Ergänzung ist, das ist die Frage, die uns nun zu beschäftigen hat.
5. Reflektierende Physikotheologie als Ergänzung der Naturforschung Die These lautet, daß die Freisetzung eines Diskursraumes unter dem Stichwort der suppositio relativa die Möglichkeit eines Sprechens von Gott unter den Voraussetzungen und Bedingungen transzendentalen Denkens in einer neuen Weise eröffnet. Zwischen der Idee eines Systems und der eines nach Zwecken verfaßten Ganzen besteht für Kant kein äußerlicher Zusammenhang. Vielmehr ist das System, wie formal auch immer man seine Definition konzipiert (vgl. etwa KrV B 860; vgl. auch Prol A 162 = AA 4,349), die Artikulation in der Form des Diskurses einer Zweckmäßigkeit, die als den Objekten selbst anhängend gedacht wird (vgl. KrV B 678). Anders gewendet: Einheit in der Form des Systems ist die Aufgabe, deren Leitfaden die vorausgesetzte Zweckmäßigkeit der Natur ist, die sich selber nur so denken läßt, als ob sie in einem Verstand ihren Grund hätte. Das aber bedeutet, daß die Konstitution des Systems die Idee selber, die der Grund der Zweckmäßigkeit ist, nämlich die eines verständigen Urhebers, zum Erscheinen bringen muß. Anders gewendet: Das gesuchte System ist seiner Richtung nach – wenigstens für den Bereich der theoretischen Philosophie – in seiner »höchsten Ausbreitung« Physikotheologie (vgl. KrV B 844).33
Über die Fehler der faulen bzw. der verkehrten Vernunft im Rahmen teleologischer Betrachtungen braucht hier nicht berichtet zu werden (vgl. KrV B 717 ff.). 33 Wir wollen in diesem Zusammenhang den Aspekt der systematischen Einheit der Zwecke nicht von der Seite des Systems der Freiheit her erörtern (vgl. Kopper). Die physikotheologische ›Ausbreitung‹ des Systems der Zwecke gilt aber auch hinsichtlich der moralischen Welt (des regnum gratiae) (vgl. KrV B 844). 32
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Freilich führt Kant in der Kritik diese Physikotheologie nur in Umrissen durch. Dabei ist der Topos einer Physikotheologie überhaupt fragwürdig, nicht allein vor dem Hintergrund der Kritik, die Kant am physikotheologischen Beweis ausübt (vgl. B 648 ff.), sondern auch auf der Folie der Anmerkungen der Kritik der Urtheilskraft zum Thema Physikotheologie (KU B 400 ff.). Die Grundrichtung dieser Kritik ist wohl zu berücksichtigen, um den genauen Status einer Physikotheologie in transzendentaler Absicht richtig zu verorten. Man weiß, daß die Kritik an der Physikotheologie ihre erste Formulierung in der 1762 erschienenen Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes findet. Das dort entwickelte Argument, das sich fast wortwörtlich an David Humes Ausführungen in der ersten Enquiry anlehnt,34 gipfelt in der Aussage, daß der physikotheologische Gottesbeweis letztlich nicht zur bewiesenen Behauptung des »Daseins des vollkommensten unter allen möglichen Wesen« gelangt (BDG A 200 = AA 2,160). Anders gewendet: Im Ausgang von der beobachteten Ordnung, Harmonie und Schönheit der Weltwirklichkeit, die als Wirkung gedeutet wird, läßt sich letztlich nur mit Gewißheit auf eine dieser proportionierten Ursache schließen. Wir erkennen »viel Vollkommenheit, Größe und Ordnung in der Welt, und können daraus nichts mehr mit logischer Schärfe schließen, als daß die Ursache derselben viel Verstand, Macht und Güte besitzen müsse, keineswegs aber, daß sie alles wisse, vermöge etc. etc. Es ist ein unermeßliches Ganze, in welchem wir Einheit und durchgängige Verknüpfung wahrnehmen, und wir können mit großem Grunde daraus ermessen, daß ein einiger Urheber desselben sei. Allein wir müssen uns bescheiden, daß wir nicht alles Erschaffene kennen, und daher urtheilen, daß, was uns bekannt ist, nur einen Urheber blicken lasse, woraus wir vermuthen, was uns auch nicht bekannt ist, werde eben so bewandt sein; welches zwar sehr vernünftig gedacht ist, aber nicht strenge schließt« (BDG A 200 = AA 2,160 f.). Die Grundrichtung dieser Kritik bleibt auch in der Dekonstruktion des physikotheologischen Beweises in der Kritik präsent. Gleich im zweiten Absatz des Über die Unmöglichkeit eines physikotheologischen Beweises überschriebenen Abschnittes stellt Kant die Frage (KrV B 649): »wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte?« Das aber bedeutet, daß der physikotheologische Beweis von sich aus niemals zu einem 34
Vgl. Hume: An Enquiry Concerning Human Understanding, XI.
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bestimmten Begriff eines höchsten Wesens gelangen kann (vgl. KrV B 656; KU B 404). Wird dennoch in der traditionellen Physikotheologie ein solcher behauptet, so ist dies nur möglich durch eine Ergänzung, die nicht mehr mit den Mitteln dieses Diskurses begründet zu werden vermag, sondern nur, über den Umweg des kosmologischen Beweises, durch Rekurs auf den ontologischen. Von dort her wird dann, gleichsam in einer argumentativen Gegenbewegung, dieser nun bestimmte Begriff des Urwesens, »über das ganze Feld der Schöpfung« verbreitet (KrV B 658). Die Kritik der Urtheilskraft ihrerseits zieht den Schluß aus diesem Sachverhalt, daß die Teleologie, die wir in die Natur bzw. in organisierte Wesen hineindeuten, uns zwar antreibt, eine Theologie zu suchen (KU B 407), daß sie eine Propädeutik zur Theologie ist (KU B 410), aber selber keine hervorbringen kann. Wie ist dann aber, vor diesem gesamten dekonstruktiven Hintergrund, die Behauptung der Kritik zu verstehen, die Naturforschung, gemäß ihrer Richtung nach der Form eines Systems der Zwecke werde in ihrer höchsten Ausbreitung Physikotheologie? Diese These läßt sich nur dann mit der skizzierten Kritik in Einklang bringen, wenn man den Begriff der Physikotheologie in einer zweifachen Weise ausdifferenziert, nämlich im Sinne einer bestimmenden und einer reflektierenden Physikotheologie. Diese doppelte Perspektive – bzw. genauer die Einführung einer zweiten Perspektive – geschieht in der Kritik ohne ausdrücklichen Rekurs auf deren transzendentale Voraussetzung, nämlich die reflektierende Urteilskraft, und zwar deshalb nicht, weil das hier zur Diskussion stehende Problem in der Kritik überhaupt nicht an dieses Vermögen rückgekoppelt wird. Wir müssen demnach den Begriff einer reflektierenden Physikotheologie zunächst in der reflektierenden Urteilskraft verankern. Diesen letzteren Begriff gewinnen wir zunächst am Leitfaden der Ausführungen der Kritik der Urtheilskraft. Die Urteilskraft überhaupt läßt sich nach Kant als bestimmende und reflektierende denken. Als bestimmende subsumiert sie das Besondere unter einem gegebenen allgemeinen Prinzip; als reflektierende sucht sie zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden (KU B XXVI). Dies aber kann sie nur unter einem Prinzip, das sie sich selbst gibt. Dieses nennt Kant das Prinzip der »Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit« (KU B XXVIII). Warum ist dies so? Weil es nur aufgrund eines solchen Prinzips möglich ist, die Natur in dem, was für uns an ihr unbestimmt bleibt, als von einer Einheit durchherrscht zu denken und dement-
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sprechend diese zu suchen. Dieses Prinzip bestimmt somit nichts an der Natur selber, sondern dient lediglich als subjektives Prinzip dazu, der »Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung« als Leitfaden zu dienen (KU B XXXIV). In diesem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft liegt nun eine theologische Tendenz. Das wird deutlich, wenn man sich folgende Bemerkung Kants vor Augen hält (KU B XXVII; Hvh. vom Vf.): »Nun kann dieses Princip kein anderes sein als: daß, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur […] vorschreibt, die besondern empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnißvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte.« Mit dem Hinweis auf einen anderen Verstand ist nun in der Tat der göttliche gemeint, der somit in der Maxime der Urteilskraft als Grund der Zweckmäßigkeit gedacht wird. Insofern also kraft der Setzung dieses Verstandes die Einheit des Mannigfaltigen, die Ordnung usf. gedacht werden kann, läßt sich dieser Argumentationstypus als physikotheologischer kennzeichnen; insofern der so gesetzte Verstand lediglich zum Zweck des notwendigen Geschäfts der Suche nach dem Allgemeinen dient, kann von reflektierender Physikotheologie gesprochen werden. Mit dem Grundkonzept der bestimmenden Physikotheologie stimmt diese darin überein, daß sie in der Idee des Zusammenhangs zwischen zweckmäßiger Anordnung und verständiger Ursache wurzelt. Als reflektierende jedoch geht sie nicht zu einer die Ursache betreffenden Existenzaussage über. Gerade darin aber zeigt sich ihre Überlegenheit gegenüber der bestimmenden Physikotheologie, weil sie nämlich deren Unzulänglichkeit vermeidet und die verständige Ursache als Urwesen oder Urgrund zu denken vermag, dem unendliche Vollkommenheiten zugeschrieben werden (vgl. KrV B 728). Dies ist deshalb möglich, weil ihr Ausgangspunkt nicht, wie in der bestimmenden Physikotheologie, in der empirischen Weltordnung angesiedelt ist, sondern in der Forderung der Vernunft selber, nach systematischer Ordnung zu suchen, die als höchste Einheit ein Maximum bedeutet, von dem aus die in der Idee gesetzte Ursache nicht anders als unter dem bestimmten Begriff der absoluten Vollkommenheit zu denken ist, die allein Grund von höchster Einheit zu sein vermag. In dem auf diese Weise eruierten Begriff des Urwesens als einem abso-
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lut vollkommenen stößt die Argumentation dann gleichzeitig auch auf den Grundbegriff der transzendentalen Theologie, nämlich den des Ideals. Daß Kant diese Verbindung zwischen dem Idealbegriff und dessen physikotheologischer Instanziierung hergestellt hat, ergibt sich aus der folgenden Bemerkung (KrV B 647): »Das Ideal des höchsten Wesens ist […] nichts anders, als ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen nothwendigen Ursache entspränge, um darauf die Regel einer systematischen und nach allgemeinen Gesetzen nothwendigen Einheit in der Erklärung derselben zu gründen«. In der Kritik und in den Prolegomena unternimmt es Kant, über den Weg der Analogie35 der so gedachten Weltursache anthropomorphistische Prädikate zuzuschreiben, von denen es freilich heißt, daß sie ein symbolischer Anthropomorphismus seien36 und den Begriff des Urgrundes theistisch zuspitzen. Es ist »auch dieser Begriff allein [,der] uns interessirt« (KrV B 661). Bereits in der Metaphysik Pölitz hatte Kant diese Problematik angeschnitten (AA 28.1,329 f.): »Ein Geschöpf erkennt Gott per analogiam, nach den Vorstellungen, die ihm durch die Natur gegeben sind, und die davon abstrahirt werden. Diese Begriffe, die von den Sinnen abstrahirt sind, drücken nichts aus, als Erscheinung. Gott ist aber ein Gegenstand des Verstandes; also kann kein Geschöpf die Eigenschaften Gottes nach den Begriffen, die von den Sinnen abgezogen sind, absolut erkennen, sondern nur das Verhältniß, das Gott als eine Ursache zur Welt hat […]. Hieraus können wir aber Gott nicht erkennen, wie er ist, sondern wie er sich als ein Grund zur Welt bezieht; und das nennt man Gott per analogiam erkennen.« Dieser Text, der zwar nur eine Vorlesungsnachschrift ist, enthält dennoch die Kerngedanken von Kants Analogieauffassung. In der Kritik wie in den Prolegomena lautet Kants Grundthese: Dem höchsten Wesen werden keine Eigenschaften an sich selbst zugesprochen (KrV B 726). Mit diesem Standpunkt ist der sogenannte dogmatische Anthropomorphismus vermieden Zum Problem der Analogie im Rahmen der Kantischen Theologie, vgl. Marty: La naissance de la métaphysique chez Kant; ders.: Symbole et discours théologique chez Kant. Le travail d’une pensée; Winter: Transzendentale Theologie der Erkenntnis, 407 ff. Vgl. auch Pieper: Kant und die Methode der Analogie, bes. 100–103. 36 Vgl. Prol A 175 = AA 4,357. In Reflexion 6056 spricht Kant von einem regulativ gedachten Anthropomorphismus, der die Bedingungen der Sinnlichkeit auf göttliche Handlungen als ein Schema der Anwendung derselben im Erfahrungsgebrauch anwendet, im Gegensatz zum konstitutiven Anthropomorphismus (AA 18,439). 35
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(Prol A 175 = AA 4,357), aber »wir legen sie […] dennoch dem Verhältnisse desselben zur Welt bei, und erlauben uns einen symbolischen Anthropomorphismus, der in der That nur die Sprache und nicht das Object selbst angeht« (ebd.). Dementsprechend ist diese Art von Erkenntnis analoger Natur, eine Erkenntnis nach der Analogie, deren Begriff, in Übereinstimmung mit den Bemerkungen in der Metaphysik Pölitz dahingehend bestimmt wird, daß sie »nicht etwa, wie man das Wort gemeiniglich nimmnt, eine unvollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge, sondern eine vollkommne Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen bedeutet« (Prol A 176 = AA 4,357). In den Fortschritten wird derselbe Gedanke noch einmal verdeutlicht. Hier führt Kant den Ausdruck »Symbolisirung des Begriffs« ein (FM A 62 = AA 20,279), den er folgendermaßen definiert (FM A 64 = AA 20,280): »Das Symbol einer Idee (oder eines Vernunftbegriffes) ist eine Vorstellung des Gegenstandes nach der Analogie, d. i. dem gleichen Verhältnisse zu gewissen Folgen, als dasjenige ist, welches dem Gegenstande an sich selbst, zu seinen Folgen beygelegt wird, obgleich die Gegenstände selbst von ganz verschiedener Art sind […]. Auf diese Art kann ich vom Übersinnlichen, z. B. von Gott, zwar eigentlich kein theoretisches Erkenntniß, aber doch ein Erkenntniß nach der Analogie, und zwar die der Vernunft zu denken nothwendig ist, haben; wobey die Kategorien zum Grunde liegen, weil sie zur Form des Denkens nothwendig gehören, dieses mag auf das Sinnliche oder Übersinnliche gerichtet seyn, ob sie gleich, und gerade eben darum, weil sie für sich noch keinen Gegenstand bestimmen, kein Erkenntniß ausmachen.« Es ist insbesondere dieser Gedanke der Proportionalität, welcher der Argumentation in der Kritik zugrundeliegt. Das X ist »ein uns unbekanntes Substratum«, das in Beziehung auf die Zweckmäßigkeit und Ordnung gesetzt wird. Wie wird dieses X nun näherhin bestimmt? Kant spricht von »gewisse[n] Anthropomorphismen« (KrV B 725), die diesbezüglich erlaubt sind. Der im Vordergrund stehende Begriff ist der der Intelligenz. In Beziehung auf die »zweckmäßige Ordnung des Weltbaues« (KrV B 726) denken wir uns das X »nach der Analogie mit einer Intelligenz« (ebd.). Dies besagt nicht, das oberste Wesen sei Intelligenz, sondern die zweckmäßige und systematische Einheit der Welt sei so, als ob es eine höchste Intelligenz gebe. Dieses Prädikat ist demnach »respectiv auf den Weltgebrauch unserer Vernunft ganz gegründet« (ebd.; vgl. Reflexion 6286; AA 18,554 f.). In der Reflexion 6056 spricht Kant diesbezüglich vom Anthropomorphismus »regulativ gedacht« (AA 18,439).
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Kant hält es aber auch aufgrund eines vollständigeren Verstehens der systematischen Ordnung für geboten, die analoge Bestimmung des höchsten Wesens »nach einem subtileren Anthropomorphism« weiterzuführen, so daß demselben »unendliche Vollkommenheiten« zukommen (KrV B 728). Der wichtige Gedanke in Kants Analogiekonzeption – und in diesem Punkt unterscheidet er sich von der klassischen Analogielehre, die von dem Gedanken getragen ist, daß die analoge Erkenntnis »affirmative Erkenntnis [ist], die die lauteren Vollkommenheiten Gott positiv zuspricht«37 – ist allerdings der, daß alle Bestimmungen des höchsten Wesens, wie vorhin bereits hervorgehoben, nicht das Objekt, sondern die Sprache betreffen. Dies heißt aber: die Ordnung des Diskurses. Hier kommt das Spezifische der Theologie zum Vorschein: Vor dem Hintergrund der prinzipiellen Unerkennbarkeit Gottes besteht die höchste Leistung der Vernunft darin, den theologischen Gedanken als Horizont aufzuzeigen, innerhalb dessen sich die Naturbetrachtung in ihren letzten Motiven entfaltet. Die Rede von Gott, der theologische Diskurs, ist somit die andere Rede von der Welt und vom Menschen in der Welt in dem Maße wie die Artikulation des theologischen Gedankens die Naturbetrachtung um eine umfassende Verstehensperspektive ergänzt. Diese ist nicht Erkenntnis, aber dennoch der Erkenntnisordnung nicht fremd. Es ist nun dieser Gedanke, der in einem letzten Schritt artikuliert werden soll.
6. Transzendentale Sinnstiftung und Gottesfrage Die Überlegungen der vorigen Punkte erfolgten am Leitfaden der Kantischen Texte mit dem Ziel, eine Topik des theologischen Diskurses herauszuarbeiten. Dabei zeigte sich, daß das theologische Moment die notwendige Instanz der sich zum System hervortreibenden Vernunft ist, wobei die Idee einer reflektierenden Physikotheologie und der sich in dieser artikulierende Begriff des Urwesens, der letztlich als mit dem des transzendentalen Ideals übereinstimmend angesehen werden muß – ein Ideal, von dem es heißt, daß es »die ganze menschliche Erkenntniß schließt und krönt« (KrV B 669; vgl. auch B 642) –, gleichsam als der Sinn selber des Systems zu gelten haben. Im folgenden soll das sich in dieser beschriebenen Struktur ereignende Geschehen der Vernunft auf den Begriff transzendentaler Sinnstiftung hin 37
Nink: Philosophische Gotteslehre, 196.
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gedacht werden. Zur Freilegung der Bedeutung dieses Begriffs wollen wir zunächst noch einmal auf die Ergebnisse der transzendentalen Analytik zurückkommen. »Die transscendentale Analytik hat demnach dieses wichtige Resultat: daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu anticipiren, und da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten könne. Seine Grundsätze sind bloß Principien der Exposition der Erscheinungen« (KrV B 303). Das sich in diesen Zeilen artikulierende Fazit einer Unterscheidung, die zur Einsicht in eine grundsätzliche Begrenzung der kognitiv signifikanten Leistungen des menschlichen Verstandes gelangt, enthält gleichzeitig eine Aussage über einen damit einhergehenden unaufhebbaren Rest – Grenze ist nicht Schranke –, nämlich das, was nicht Erscheinung ist. Ob man dieses nun im »negativen Verstande« begreift, das heißt, »so fern es nicht Object unserer sinnlichen Anschauung ist«, oder »in positiver Bedeutung«, das heißt als »Object einer nichtsinnlichen Anschauung«, die allerdings dann »nicht die unsrige« ist (KrV B 307), in beiden Fällen gilt es, die in dieser Behauptung enthaltene Bedeutung einer Hinsichtnahme auf einen diskursiven Raum zu bedenken, der sich durch das Paradox der Notwendigkeit des Sagens bei dessen gleichzeitiger Unmöglichkeit kennzeichnet. Unsere These diesbezüglich lautet, daß unter den Voraussetzungen dessen, was im Diskurs der transzendentalen Analytik über die Bedingungen der Erkenntnis über die Endlichkeit des Menschen gesagt wird (und damit auch über die endlichen Möglichkeiten seines Sprechens) das genannte Paradox nur im Modus eines sich im Sagen selber entsagenden Diskurses aufgelöst werden kann. Um dessen Modalitäten zu umreißen, müssen wir zunächst versuchen, die Notwendigkeit des Sagens (über die Grenze der Erfahrung hinaus) zu thematisieren. Wir hatten bereits zu Beginn dieser Untersuchung auf den Begriff der Vernunft als fragender hingewiesen, der im Bedürfnis nach Orientierung begründet worden war. Nun ist dieser Hinweis zu unscharf, insofern die Zuschreibung, die darin besteht, einem Bedürfnis, das ja gemeinhin etwas Natürliches sein soll, eine Notwendigkeit zuzugestehen, diese Notwendigkeit naturalisiert. Damit aber begibt sich die Argumentation auf ein Terrain, auf dem der Vorwurf eines ›naturalistischen Fehlschlusses‹ naheliegt. Es gilt demnach, noch einmal anzusetzen in der Absicht, ein Apriori der Notwendigkeit des Sagens auszumachen, das sich dadurch auszeichnet, daß es
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unaufhebbar in jedem diskursiven Akt anwesend ist. Kant hat u. E. ein solches Apriori festgemacht. In der zweiten Einleitung zur transzendentalen Dialektik untersucht er das, was er den »reinen Gebrauch der Vernunft« nennt. Das logische Prinzip der Vernunft, das fordert, zur bedingten Erkenntnis des Verstandes das Unbedingte zu suchen, besagt als transzendentales oder reines Prinzip, daß, »wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten)« (KrV B 364). Kant will mit dieser Bemerkung zum Ausdruck bringen, daß in jeder, durch den Verstand vollzogenen Gegenstandserkenntnis ein Überschuß mitgesetzt wird, nämlich die ganze Reihe der Bedingungen bis hin zum Unbedingten. Diese Reihe ist nicht gegeben, sondern – husserlsch gesprochen – mitgegeben und zwar notwendig. Umgekehrt läßt sich sagen: Erkenntnis, im Sinne von Gegenstandskonstitution, ist nicht möglich ohne diesen Horizont des Unbedingten.38 Wenn wir von hier aus die vorige Rede vom Bedürfnis der Vernunft erneut aufgreifen, dann ließe sie sich in ein nicht-naturalistisches Verständnis überführen und im Sinne eines durch transzendentale Forderung bedingten Bedürfnisses begreifen, als Bedürfnis, »alle synthetische Einheit zu vollenden« (KrV B 642). Es gilt nun, die zweite Dimension in der oben aufgestellten Paradoxie zu beleuchten, nämlich die der Unmöglichkeit des Sagens. Es ist zunächst hier ein Mißverständnis auszuräumen: Wenn von Unmöglichkeit des Sagens die Rede ist, dann bedeutet dies nicht, daß der Diskurs unter den transzendentalen Bedingungen gegenständlicher Erkenntnis vollends neutralisiert würde und zum Stillstand verurteilt sei. Ebensowenig wie Wittgensteins Rede vom Schweigen39 nicht in die Geste des stummen Zeigens umschlägt, ebensowenig ist hier gemeint, daß überhaupt kein Diskurs mehr stattfindet bzw. sinnvoll stattfinden könnte. Wenn wir davon ausgehen, daß die Verstandesbegriffe und die von ihnen ableitbaren Prädikabilien die Matrix dessen vermeinen, was unser Denken überhaupt ausmacht, d. h. ohne die überhaupt kein Denken als intentional
Eine ähnliche Überlegung ist bereits bei Platon anzutreffen, wenn davon die Rede ist, daß die Seele im dialektischen Geschehen hin zum An-hypothetischen fortschreitet (vgl. Politeia 510b). 39 Tractatus logico-philosophicus (Satz 7): »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« 38
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sachhaltiges möglich wäre, wenn wir zudem voraussetzen, daß das Denken nur gehaltvoll ist im Blick auf Erfahrung, dann entsteht das Problem, welche Bedeutung einem nicht anders könnenden Denken in der Modalität eines nicht gehaltvoll sein könnenden Diskurses zukommt, wenn anders ebenfalls stimmt, daß der transcensus selber in diese Modalität des Diskurses hinein notwendig ist. Wir haben vorhin bereits die Formel gebraucht, daß dieser Diskurs ein sich im Sagen ent-sagender ist. Der Kantische Begriff der Idee scheint uns diesen Sachverhalt anzuzeigen. In diesem Begriff ist sowohl die notwendige Setzung als auch deren Aufhebung als Gegenstand vermeint. Die Idee steht unter dem transzendentalen Vorbehalt, etwas anderes zu meinen als das, als was sie als unbedingte Bedingung zunächst ausgesagt wird. Wenn Kant vom ›Schein‹ spricht, dann ist (nicht nur, aber auch) dieser Sachverhalt gemeint: daß das Aussagen nicht das Vermeinen ist. Die Schwierigkeit, die dem im Ausgang von der Idee sich artikulierenden Diskurs innewohnt, besteht darin, daß jede Bestimmung der Idee unter diesem Vorbehalt steht, anders gewendet, daß der Diskurs selber, indem er sich (notwendig) kategorial bezüglich der Ideen entfaltet, zu sich selber in Distanz treten muß, um das Vermeinen jeweils neu adäquat aussprechen zu können. Wenn man Kants Darlegungen in der transzendentalen Dialektik – insbesondere im Anhang – liest, ist man erstaunt, ja bisweilen befremdet von dem Repetitiven, was man dann redaktionellen Umständen o. ä. zuschreibt.40 Nach unserer Auffassung scheint sich dies vielmehr aus der Notwendigkeit der Sache selber zu ergeben. Der notwendige und gleichzeitig unmögliche Diskurs muß sozusagen aus sich selber heraustreten, im Diskurs sich gleichsam von außen betrachten – Diskurs und Metadiskurs ineins sein –, um auf diese Weise die in ihm waltende Differenz von Aussagen und Vermeinen in Erinnerung zu rufen. Was wird in diesem Diskurs letztlich vermeint? Darauf ließe sich antworten: Das Andere des Gegenständlichen, d. h. dasjenige, was die Gegenstandskonstitution selber nicht aus sich hergibt, aber doch immer schon in ihr enthalten ist. Dieses läßt sich unter dem Stichwort ›Sinn‹ anzeigen. Der notwendige, im Sagen sich ent-sagende Diskurs ist Sinndiskurs. Ideen sind demzufolge letztlich als sinnstiftende Instanzen zu deuten.
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Vgl. etwa Horstmann: Die Idee der systematischen Einheit, 126.
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Das besagt zunächst negativ: Ideen sind nicht der Sinn, sondern ermöglichen Sinnstiftung. Diese ist, von daher gesehen, zunächst eine Aufgabe; aber, wie wir gesehen haben, eine für die Vernunft notwendige. Im Kantischen Begriff der Idee liegt zudem der Aspekt des Regulativen beschlossen. Dieser ergibt sich aus der ganz bestimmten Weise, in der Kant das Vernunftvermögen analysiert. Der Grundgedanke dabei ist der, daß Sinn nichts Willkürliches ist und daß er offensichtlich auch intersubjektiver Nachprüfung standhalten muß. Sinn steht insofern prinzipiell unter der Forderung des lo1gon dido1nai. Dem entsagenden Sagen wohnt Rationalität inne. Dies wird vollends sichtbar, wenn man das System der transzendentalen Ideen in seinem inneren Aufbau betrachtet, so wie es sich im Horizont der Begriffe Seele-Welt-Gott (vgl. KrV B 391) bzw. Gott-Freiheit-Unsterblichkeit (vgl. KrV B 395 Anm.) bewegt.41 Mit diesen Ideen sind in Kants Auffassung die sinnstiftenden Instanzen abschließend vermeint, wenngleich damit nicht schon der sinnstiftende Diskurs als solcher abgeschlossen ist. Dieser ist in der Tat durch Unabgeschlossenheit gekennzeichnet. Das besagt, daß die sinnstiftenden Instanzen nur insofern sinnstiftend zu sein vermögen, wie sie sich im Stiften selber gleichzeitig entziehen, ähnlich einem Fluchtpunkt, der sich ständig entzieht und damit gleichzeitig immer wieder Perspektivität möglich macht. Wir sagten vorhin, die sinnstiftenden Instanzen bewegten sich im Horizont der Begriffe Welt-Seele-Gott. Diese sind indes nicht in ihrer Vereinzelung zu betrachten, sondern als ebensoviele Perspektiven, durch die die Sinnstiftung integral werden kann. Kant selber weist darauf hin, daß man die Ideen in ihre Einheit hinein denken muß und zwar im Modus eines Schlusses: »Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so daß der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlußsatz führen soll« (KrV B 395 Anm.). Ohne auf die hier implizierte Systemkonzeption von Kant einzugehen, soll lediglich der Gedanke der Einheit der sinnstiftenden Instanzen herausgehoben werden. In derselben Anmerkung schreibt Kant weiter, alles, womit sich die Metaphysik beschäftige, diene ihr bloß zum Mittel, »um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen. Sie bedarf sie nicht zum Behuf der Naturwissenschaft, sondern um über die Natur hinaus zu kommen. Die Zum Verständnis der ausgetauschten Begriffe »Welt« und »Freiheit« sei vermerkt, daß diese für zwei bestimmte Weisen der Kausalität stehen (vgl. Reflexion 5608; AA 18,249 f.). 41
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Einsicht in dieselben würde Theologie, Moral und durch beider Verbindung, Religion, mithin die höchsten Zwecke unseres Daseins bloß vom speculativen Vernunftvermögen und sonst von nichts anderem abhängig machen« (ebd.). Die hier angezeigte Richtung der Fragestellung, die in dem Zusammenhang der Begriffe Gott, Welt und Seele bzw. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Ausdruck kommt, verdeutlicht jene Dimension der Problematik der Sinnstiftung, die wir vorhin bereits haben anklingen lassen: Wenn Kant die Zwecklosigkeit der mit diesen Ideen angezeigten Fragen bezüglich der Naturwissenschaft behauptet, dann muß darin der Hinweis auf eine andere Ordnung als die des Gegenständlichen gelesen werden. Die sinnstiftenden Instanzen ermöglichen, im vorlaufenden Entwerfen (suppositio relativa) das spekulative Sich-selbst-Begreifen und das praktische Sich-selbst-Ergreifen des Menschen in der Unverfügbarkeit jener nicht zu vergegenständlichenden Dimension. Die Modalität dieses Diskurses bezeichnet Kant dann, im Unterschied zum Wissen, als (Vernunft)glaube (vgl. KrV B 857). Von hier aus ist dann auch der spezifisch theologischen Idee ihre Funktion zuzuordnen. Aus dem, was ihren Begriff transzendentalphilosophisch ausmacht (absolute Einheit der Bedingungen aller Gegenstände des Denkens überhaupt; vgl. KrV B 391), nämlich die Vollendung der Einheit, ergibt sich der Gedanke eines absoluten Sinnhorizontes für das endliche Wesen, das wir je sind. Als solcher ist Gott Urgrund unserer Daseins- und Weltdeutung und Möglichkeitsbedingung von deren Einheit. Als solcher Urgrund ist er zugleich auch Ungrund,42 insofern das Gründen selber des Grundes für uns unausdenkbar ist. Im vorlaufenden Denken – denn das Ideal muß, als Aufgabe der Vernunft, erforscht werden können (vgl. KrV B 642) – auf diesen schlechthinnigen Ermöglichungsgrund hin gerät das Denken freilich in den Raum des Unvordenklichen, in einen wahren Abgrund für die menschliche Vernunft (vgl. KrV B 641) – finitum non capax infiniti. Gott läßt sich nicht erkennen, aber wir selber vermögen uns und die Welt ohne diesen Ur- und Ungrund nicht zu verstehen.
In einer bemerkenswerten »Fehlleistung« finden sich die Begriffe »Urgrund« und »Ungrund« in KrV B 725: »Ungrund«; A 697: »Urgrund«. 42
Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft von Norbert Fischer
Kant spricht von ›Metaphysik‹ bis zur Kritik der reinen Vernunft und zu den Prolegomena nur im Blick auf theoretische Vernunfterkenntnis. Ein Wandel tritt 1785 mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ein.1 In der Kritik der reinen Vernunft, die alle Arten von Dogmatismus destruiert, legt Kant Metaphysik als Transzendentalphilosophie aus, als System apriorischer Voraussetzungen, die als Möglichkeitsbedingungen objektiver Erkenntnis fungieren. Raum und Zeit bestehen demnach nicht für sich selbst, sondern als reine Formen der sinnlichen Anschauung zur Konstitution der Erscheinungen, die ihr Material aus Empfindungen beziehen.2 Die spontan gedachten Kategorien ermöglichen objektive Erkenntnis durch Synthesis des mannigfaltig Gegebenen. Die Ideen werden von der prosyllogistisch verfahrenden Vernunft gedacht, die sich mit der verstreuten und bedingten Erkenntnis des Verstandes nicht zufrieden gibt: einerseits werden sie entworfen, um die absolute Einheit der mannigfaltigen Verstandeserkenntnisse, andererseits, um die absolute Einheit der Verstandeserkenntnis überhaupt zu denken.3 Metaphysische Erkenntnis zeichnet sich durch strenge Apriorität aus, gleich ob es sich um eine Metaphysik der Natur oder eine Metaphysik der Sitten handelt, vgl. GMS BA V = AA 4,388; weiterhin GMS BA 35 = AA 4,412. 2 Vgl. KrV B 42: »Der Raum ist nichts anders, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjective Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist.« B 51: »Die Zeit ist also lediglich eine subjective Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung (welche jederzeit sinnlich ist, d. i. sofern wir von Gegenständen afficirt werden) und an sich, außer dem Subjecte, nichts.« Der vorliegende Beitrag knüpft an vorausgegangene Arbeiten an, bes. Fischer: Die Transzendenz in der Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zu Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ (Kurztitel: Transzendenz); Fischer / Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas (Kant-Teil von Fischer; Kurztitel: Metaphysik); Fischer: Kants These vom Primat der praktischen Vernunft. Zu ihrer Interpretation im Anschluß an Gedanken von Emmanuel Levinas. 3 Einerseits wären die Ideen in immanenter Bedeutung als »die Principien der Homo1
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Die Ideen zielen auf den Hauptzweck der Metaphysik aus theoretischer Vernunft und böten absolute Erkenntnis aller Gegenstände und der Erkenntnis selbst, wenn ihre direkt objektive transzendentale Deduktion möglich wäre.4 Ihr Entwurf setzt aber faktische Erkenntnisvollzüge und mannigfaltiges Erkanntes voraus. Sofern es der »eigentümliche Grundsatz der Vernunft (im logischen Gebrauche)« ist, »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird«, zeigt sich das Unbedingte auf diesem Weg nicht von sich her, sondern wird in probierendem Entwerfen erdacht oder erfunden (KrV B 364). Prosyllogismen führen die Vernunft nie zu absolut Unbedingtem, obwohl sie es in der Totalität der Bedingungen sucht, die in der Gottesidee der theoretischen Vernunft gipfeln (KrV B 380 ff.). Die Idee des ens realissimum ist ein »Ideal der reinen Vernunft«, ein »transzendentales Ideal«, ein »Ideal ohne Gleichen«.5 Da die Vernunft in ihrem Ideal höchste Einheit entwirft, um sich den höchsten Blickpunkt anzueignen, ist dessen Sein für sie zwar ein Problem, aber zunächst doch »bloße Idee«, »projectirte Einheit«, »eine Idee (focus imaginarius)«, nur »ein Punkt.«6 Theoretische Metaphysik ist als metaphysica genegenität, der Specification und der Continuität der Formen« zu benennen (KrV B 686). Andererseits sucht die Vernunft »erstlich ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einen Subject, zweitens der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe, drittens der disjunctiven Synthesis der Theile in einem System« (KrV B 379). Auf diesem Weg entdeckt die Vernunft »transscendentale Ideen«, die »sich unter drei Classen bringen lassen, davon die erste die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjects, die zweite die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, die dritte die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt enthält« (KrV B 391). In transzendenter Bedeutung sind damit die Gegenstände der Psychologie, der Kosmologie und der Theologie gedacht (vgl. auch KrV B 392 f.). Zum prosyllogistischen Verfahren vgl. bes. KrV B 387 f. 4 Vgl. Zocher: Zu Kants transzendentaler Deduktion der Ideen der reinen Vernunft. Ders.: Der Doppelsinn der kantischen Ideenlehre; weiterhin Fischer: Transzendenz, bes. 99–109. 5 KrV B 602, 604 und 640. Zum Gottesbegriff der theoretischen Vernunft vgl. Edith und Klaus Düsing: Negative und positive Theologie bei Kant, 87–91. Im weiteren untersuchen die Autoren, innerhalb welcher Ontologie Kants Kritik des ontologischen Beweises gilt; vgl. dazu bes. 95–100. 6 Vgl. KrV B 672: »Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich nothwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt, ist,
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ralis ein System transzendentaler Voraussetzungen; als metaphysica specialis ist sie zudem der Inbegriff von Problemen, also notwendiger, aber unlösbarer Aufgaben.7 Prosyllogistisch entworfene Ideen sind Produkte der Vernunft, für die nur eine indirekt objektive transzendentale Deduktion möglich ist, eine Deduktion, die nur ihre regulative und heuristische Funktion mit problematischer Geltung zu sichern vermag. Das transzendentalphilosophische System apriorischer Voraussetzungen objektiver Erkenntnis hängt von der Wirklichkeit von Wissenschaften ab und enthält die Bedingungen der Möglichkeit dieses Gegebenen, die durch transzendentale Analytik entfaltet werden.8 Transzendentalphilosophie ist dem Inhalt nach Metaphysik, da die menschliche Vernunft in ihr »durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.«9
aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.« Vgl. auch Vorarbeiten zur Kritik der praktischen Vernunft (Phase q3 : ca. 1787) ; AA 23,69: »So ist der Begrif von Gott eine Idee der Vernunft die uns schlechterdings nothwendig ist weil sie allein das Unbedingte zu allem Bedingten aus Erfahrungsbegriffen an die Hand giebt.« 7 Diese Probleme treten in verschiedenen Fassungen auf: in der Erörterung der »transscendentalen Ideen« wird das im Vernunftbegriff gedachte Unbedingte prosyllogistisch als »Subject«, als »Reihe« und als »System« gesucht (KrV B 379); im »System der transscendentalen Ideen« tritt es als »Einheit des denkenden Subjects«, als »Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung« und als »Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt« auf (KrV B 391). Im zweiten Buch der transzendentalen Dialektik erscheint es als Seele, als Welt und als Gott. Als Bezeichnung des integralen Hauptzwecks der Metaphysik stellt Kant es unter die Titel »Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« (KrV B XXX; 7; 395 Anm.; B 778). 8 Als wirkliche Wissenschaften nennt Kant »reine Mathematik« und »reine Naturwissenschaft« (KrV B 20). Er schwankt zwischen Bewunderung und einer gewissen Geringschätzung dieser Wissenschaften (z. B. KrV B 297). 9 Vgl. KrV A VII; vgl. auch KrV B 294 f.: »das Land der Wahrheit« ist laut Kant »eine Insel«, »umgeben von einem weiten und stürmischen Oceane«; zwar wird der Ozean im Bild vom »eigentlichen Sitze des Scheins« vergegenwärtigt: das Bild verdeutlicht einerseits die relative Sicherheit des Bodens und die Möglichkeit einer Binnen-Orientierung, andererseits die Ausschnitthaftigkeit und Dürftigkeit der menschlichen Erkenntnis. Vgl. Teichner: Das Land der Wahrheit ist eine Insel. Die Neubegründung der Metaphysik durch Kant, 290. Fischer: Metaphysik, 68 f.
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Sie sichert die Annehmbarkeit der Gegenstände der Metaphysik, indem sie deren Nicht-Unmöglichkeit sehen läßt, die Denkbarkeit des Transzendenten, die vom Dogmatismus verdorben wird, weil in ihm »das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden« kann.10 Kant spricht von dieser Art von Metaphysik als »Naturanlage (metaphysica naturalis)«, deren Wirklichkeit die Frage nach ihrer Möglichkeit erlaubt (KrV B 21 f.). Entscheidend ist also die Frage (KrV B 21 f.): »Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich? d. i. wie entspringen die Fragen, welche reine Vernunft sich aufwirft, und die sie, so gut als sie kann, zu beantworten durch ihr eignes Bedürfniß getrieben wird, aus der Natur der allgemeinen Menschenvernunft?« Zu fragen ist dabei, wodurch aus dem Verstand nach Unbedingtem fragende Vernunft wird. Sobald der Verstand, der gegebenes Mannigfaltiges unter die Einheit des Denkens bringt, auf seinem angestammten Gebiet Erfolge errungen hat, kann ihm auch das Mannigfaltige seiner Erkenntnisse und seine eigene Möglichkeit Ziel der Einigungstätigkeit werden.11 Seine Absicht kann er mit Hilfe der Vernunft bis zur Idee Gottes verfolgen, die dem Ganzen der objektiven Erkenntnis höchste Einheit verliehe, aber doch bloße Fiktion bliebe, die Rechtfertigung nur aus ihrer regulativen und heuristischen Funktion zöge. Immerhin käme ihr problematische Geltung zu, weil sie die Ideen so denkt, ›als ob‹ sie die Prinzipien des Ganzen seien.12 Trotz ihrer problematischen Geltung werden sie jedoch nie als absolut Unbedingtes faßbar. KrV B XX; vgl. KrV B XXIX f. Weil die Vernunft sich nur mit dem Unbedingten zufrieden gibt, mußte Kant »das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX). Er kommt damit zu einer ähnlichen Einsicht wie Augustinus, der sagt (sermo 117,5): »de deo loquimur, quid mirum si non comprehendis? si enim comprehendis, non est deus.« Zu den religiösen und theologischen Motiven von Kants Philosophie vgl. insgesamt Winter: Der andere Kant, darin bes. Theologische Hintergründe der Philosophie Kants (49–113) und Theologiegeschichtliche und literarische Hintergründe der Religionsphilosophie Kants (425–476). 11 Sofern es auf dem Weg zu dieser Einheit der Vernunft bedarf und Vernunft als »Vermögen mittelbar zu schließen« begriffen wird (KrV B 355), »d. i. mittelbar (durch die Subsumtion der Bedingung eines möglichen Urtheils unter die Bedingung eines gegebenen) zu urtheilen« (KrV B 386), steht sie im Dienste des Verstandes, der seine eigene Mannigfaltigkeit erfährt und unter die Einheit des Denkens zu bringen sucht. 12 Vgl. KrV B 644–647; bes. den Abschnitt: Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft (KrV B 697–732; darin 699–701; 706; 709; 712–714; 716; 718; 728). 10
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Weil die Ideen im Rahmen der theoretischen Erkenntnis nicht als absolut Unbedingtes auftreten, sondern als erweiterte Funktionen der Einigungstätigkeit des Verstandes, ist zu untersuchen, wie die Frage nach absolut Unbedingtem zu der notwendigen Aufgabe der Vernunft werden konnte, als die sie sich innerhalb der Kritik der reinen Vernunft zeigt. Sollte sich herausstellen, daß sich die Notwendigkeit dieser Aufgabe aus Motiven der reinen praktischen Vernunft ergibt, so wäre Kants Metaphysik wesentlich eine Metaphysik der reinen praktischen Vernunft.
1. Kants Bemerkungen zum Titel der Kritik der praktischen Vernunft Kant spricht auf der ersten Seite der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft vom scheinbaren Parallelismus des Titels dieses Werkes zum Titel der Kritik der reinen Vernunft (KpV A 3). Schon im ersten Satz geht er auf die Frage ein, warum »diese Kritik nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern schlechthin der praktischen Vernunft überhaupt betitelt wird, obgleich der Parallelism derselben mit der speculativen das erstere zu erfordern scheint«. Zur Begründung weist er auf die Abhandlung insgesamt und erklärt vorläufig, die Kritik der praktischen Vernunft solle bloß dartun, »daß es reine praktische Vernunft gebe«. In dieser Absicht kritisiere sie »ihr ganzes praktisches Vermögen.« Sie habe »das reine Vermögen selbst nicht zu kritisiren«, anders als die Kritik der reinen Vernunft, in der die Möglichkeit objektiver Erkenntnisse aus reiner Vernunft bestritten wird. Kant schließt seine Bemerkungen zum Titel mit dem Hinweis: »Denn wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich.« Dieser Hinweis läßt die Frage offen, welche Art von Vernunft jeweils Subjekt und Ziel der Kritik ist. In der Kritik der reinen Vernunft destruiert die Kritik das reine Vermögen der Vernunft, die sich anmaßt, ohne Bezug auf Sinnlichkeit und Empirie objektiv erkennen zu können. Ihr Vermögen, mannigfaltiges Gegebenes unter die Einheit des Denkens zu bringen, wird nicht bestritten, sondern vielmehr als Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis gerechtfertigt. Auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, auf dem über Grundsätze des Handelns zu urteilen ist, steht die Vernunft unter der Direktion der Klugheit, solange sie praktisch Gegebenes unter die Einheit des
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Denkens bringen will, also versucht, das Aggregat mannigfaltiger Neigungen, die einander widerstreiten können, einstimmig zu machen. Wie die Vernunft in theoretischer Erkenntnis Wahrheit erlangt, indem sie sinnlich Gegebenes den Formen der Anschauung und des Denkens anpaßt (KrV B 82), so kann sie in der praktischen Erkenntnis versuchen, sinnlich Gegebenes der Selbstliebe und dem Streben nach Glückseligkeit anzupassen (KpV A 40).13 Von Unbedingtem ist, wo praktische Vernunft analog zur theoretischen fungiert, keine Rede.14 Maximen der Klugheit, die zu konkreten Handlungen raten, unterscheiden sich ihrem Inhalt nach nicht notwendig von Maximen der Sittlichkeit: sie können nämlich Legalität und äußere Wohlanständigkeit anzielen, ohne auch nur einen Hauch von moralischer Qualität zu besitzen. Das System der praktischen Erkenntnis kann analog zum Verfahren der theoretischen Vernunft als System von Maximen aus Klugheit erdacht werden, das vom menschlichen Glücksstreben abhängt, das also nur hypothetische Imperative enthält und doch sehr weitgehend mit dem Inhalt der Maximen übereinstimmt, die das moralische Gesetz kategorisch und unbedingt gebietet. Die naheliegende Analogie zwischen theoretischer und praktischer Vernunft findet indessen im »Bewußtsein der unmittelbaren Nöthigung des Willens durch Gesetz« ihre Grenze, »indem es im Verhältnisse zum Begehrungsvermögen gerade eben dasselbe, aber aus andern Quellen thut« (KpV A 211). Aus der Quelle des kategorisch gebietenden moralischen Gesetzes fließt die
KpV A 46: »Principien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden), alsdann sind es aber blos theoretische Principien«. Zu Vorgeschichte, systematischer Verortung und Weiterentwicklung des Klugheitsbegriffs bei Kant vgl. Schwaiger: Klugheit bei Kant. Außerdem Cramer: Metaphysik und Erfahrung, 303. 14 In diesem Beitrag wird die begriffliche Unterscheidung zwischen ›praktisch‹ und ›pragmatisch‹ ignoriert, zumal sie in KpV fehlt; vgl. aber KrV B 851 f. Eine Deduktion der Moralität aus dem Kontext der theoretischen Vernunft versucht Prauss: Für sich selber praktische Vernunft. Die Frage nach Unbedingtem, die für Kant in allen drei kritischen Hauptwerken großes Gewicht hat, bleibt ungeklärt, wird nicht einmal berührt. Prauss gibt keine Auslegung des Faktums der Vernunft, sondern spricht keck vom »Unding eines Faktums ›a priori‹« (279); so verfehlt er Kants Ansatz im Hauptpunkt. Er sucht eine theoretische Deduktion von Freiheit und Autonomie, obwohl diese sich doch nur »durchs moralische Gesetz« offenbart (KpV A 5). Er meint, diese Deduktion könne »nicht aus selbst bereits moralischer Autonomie, sondern allein aus selbst noch ganz moralneutraler, eben ursprünglich, erfolgen: nur aus für sich selber zwar schon praktischer, doch damit gerade nicht auch schon moralischer Vernunft« (279). 13
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Einsicht, »daß reine Vernunft praktisch sein« kann, »daß sie allein und nicht die empirisch-beschränkte unbedingterweise praktisch sei« (KpV A 30). Ein praktisches Regelsystem kann es auch unter der Maßgabe der Selbstliebe geben: denn das »Ich denke«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muß (KrV B 131), »der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transscendental-Philosophie heften muß« (KrV B 133 Anm.), kann auch auf die Maximen des Handelns angewandt werden. Dann wäre das Maximensystem auf dem Fundament folgenden Satzes zu errichten (KpV A 45): »Glücklich zu sein ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens.« Ein Wille, der unter der Maßgabe eines Satzes stünde, der ihn durch seine Natur bestimmt, wäre nicht als frei zu denken. Zudem können Maximen eines Systems, das auf dem »Princip der Selbstliebe« fußt, nicht als »praktisches Gesetz«, nicht als unbedingt ausgegeben werden, sondern höchstens als »Anrathungen zum Behuf unserer Begierden« (KpV A 47).15 An diesem Anratungssystem könnte das denkende Ich mit einiger Aussicht auf Erfolg arbeiten, auch wenn es dabei niemals die vollendete Einheit seiner eigenen vielfältigen Bestrebungen erreichen kann – und noch weniger einen harmonischen und gerechten Ausgleich der Bestrebungen aller Subjekte.16 Unbedingt geltende Gesetze erreicht die Vernunft auf diesem Weg ebensowenig wie objektive Erkenntnis unbedingter Ideen. Freiheit des Willens und moralische Qualität von Handlungen bleiben in diesem Kontext Phantome. Das Täuschende im Parallelismus der Titel der beiden ersten kritischen Hauptwerke hat offenbar weitere Facetten und tiefer reichende Gründe. Die Leistung der Vernunft, die nur einsieht, was sie nach ihrem Entwurfe hervorbringt, wird einerseits gegen den Empirismus in der transzendentalen Deduktion kritisch gerechtfertigt, andererseits in der Kritik der spekulativen Metaphysik aber in die Schranken gewiesen. Vernunft ist in der theoretischen Philosophie subsidiär tätig, indem sie als Verstand fungiert und das Gegebene unter die Einheit des Denkens bringt, selbst aber zu keiner Gegenstandserkenntnis fähig ist. Vernunft gilt hier als Name für das gesamte obere Erkenntnisvermögen, das sich durch Spontaneität auszeichnet (im Gegensatz zu der Rezeptivität der Sinnlichkeit als des unteren Erkenntnisvermögens). 16 Aber das Ziel des gerechten Ausgleichs der Bestrebungen aller Subjekte bleibt Utopie; kein Subjekt, auch wenn es selbst das unbedingt geltende moralische Gesetz streng befolgen könnte, kann es allein durch sich selbst erreichen. Vgl. auch Schiller: Wilhelm Tell (Vierter Akt, 3. Auftritt, Vers 2682 f.): »Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, / Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.« Vgl. RGV B 135 f. = AA 6,97 f. 15
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2. Die Differenz des Vernunftgebrauchs in den beiden ersten kritischen Hauptwerken Der Parallelismus in den Titeln der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft veranlaßt Täuschung, wenn der Genitiv in beiden Titeln gleichsinnig ausgelegt wird. Der Genitiv im Titel der ersten Kritik ist zunächst als genitivus obiectivus aufzufassen, da Kant hier die Vernunft kritisiert, die Anmaßung der spekulativen Vernunft der Kritik unterzieht. Er ist aber auch als genitivus subiectivus zu verstehen, da keine höhere Instanz in Anspruch genommen wird, um die Kritik auszuüben. Denn als höchstes Erkenntnisvermögen denkt Kant die »Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen« (KrV B 355). Sofern er die Vernunft mit Hilfe der Vernunft kritisiert, scheint er als Sachwalter der Vernunft mit eigenen Händen den Ast abzusägen, »auf dem er bei seiner kritischen Arbeit hätte sitzen müssen«.17 So ist zu fragen, was die Vernunft zur Kritik ihres eigenen Vermögens befähigt. Vernunft, die als höchstes der drei oberen Erkenntnisvermögen fungiert (KrV B 169) und als verlängerter Arm des Verstandes höchste Einheit der Erkenntnis sucht, kann laut Kant für den Verstand eines gar nicht leisten: »nämlich sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen und zu wissen, was innerhalb oder außerhalb seiner ganzen Sphäre liegen mag« (KrV B 297). Einige Antworten auf die Frage, wie sie die Grenzen des Verstandesgebrauchs bestimmen und sich selbst als reines Vermögen untersuchen kann, liegen nach der Kritik der reinen Vernunft auf der Hand. Erstens zeigt die Antinomie der reinen Vernunft, daß die Vernunft scheitert, wenn sie die Tätigkeit des Verstandes bis zum Unbedingten treibt und die Grenzen der Erfahrung überschreitet (KrV B 435 f.). Zweitens kann die Vernunft den Grund des Scheiterns entdecken und sehen, daß sie das Unbedingte, das sie »in den Dingen an sich selbst nothwendig und mit allem Recht […] verlangt« (KrV B XX), nicht objektiv erkennen kann, weil Erkenntnisgegenstände immer etwas »Zusammengesetztes« aus dem sind, »was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnißvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergiebt« (KrV B 1). Drittens bleibt der Vernunft 17
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Vgl. Lehmen: Lehrbuch der Philosophie. Erster Band: Logik, Kritik und Ontologie,
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die Möglichkeit »zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkenntniß Data finden, jenen transscendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen und auf solche Weise dem Wunsche der Metaphysik gemäß über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus […] zu gelangen« (KrV B XXI). Innerhalb der Kritik der reinen Vernunft bleibt der Ursprung der Vernunftidee des Unbedingten ungeklärt, obwohl Kant sie notwendig nennt (KrV B XXI Anm.). Die Metaphysik bleibt also im Rahmen der theoretischen Philosophie ein »Schicksal«, das die Vernunft auch dann nicht von sich abschütteln kann, wenn die übrigen Wissenschaften »insgesammt in dem Schlunde einer alles vertilgenden Barbarei gänzlich verschlungen werden sollten« (KrV B XIV).18 Der Genitiv im Titel der zweiten Kritik ist ebenso doppelsinnig. In erster Linie ist er allerdings genitivus subiectivus, da die Vernunft hier vor allem dartun soll, »daß es reine praktische Vernunft gebe«; in zweiter Linie erst tritt er auch als genitivus obiectivus auf, sofern Vernunft »ihr ganzes praktisches Vermögen« kritisiert, abgerechnet »das reine Vermögen«, das der Kritik nicht bedarf (KpV A 3). Die Kritik der praktischen Vernunft gründet auf einer neuen Gegebenheit, die als Schicksal der Vernunft zwar schon in die Problematik der Kritik der reinen Vernunft hineinspielte, in ihr aber nicht sachgemäß erfaßt werden konnte. Daß das Unbedingte und die Gegenstände der Metaphysik, nämlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, in der Kritik der reinen Vernunft – jenseits aller Polemik – eine zentrale Rolle spielen, obwohl die Spekulation nicht einmal »hinreichende Gewährleistung ihrer Möglichkeit findet« (KpV A 8), rührt folglich von der vorgängigen Wirklichkeit des reinen praktischen Vernunftgebrauchs her. Das klärt Kant zunächst im Blick auf die Freiheit, deren »Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen« sei (KpV A 4). Danach überträgt er es auf Gott »Glück, Schicksal« nennt Kant »usurpirte Begriffe, die zwar mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen, aber doch bisweilen durch die Frage: quid iuris, in Anspruch genommen werden; da man alsdann wegen der Deduction derselben in nicht geringe Verlegenheit geräth, indem man keinen deutlichen Rechtsgrund weder aus der Erfahrung, noch der Vernunft anführen kann, dadurch die Befugniß ihres Gebrauchs deutlich würde« (KrV B 117). Kant selbst schwankt zwischen der Bedeutung »blinde Nothwendigkeit« (Metaphysik Pölitz, 88) und der Identifizierung mit Gott (MST A 124 = AA 6,452); zu unserem »Schicksal in der künftigen Welt« vgl. TG A 128 = AA 2,373; zum Schicksal der Metaphysik vgl. KrV A VII; B XIV; B 9; B 778 f.; weiter Prol A 10 = AA 4,258; A 211 = AA 4,377. 18
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und Unsterblichkeit, deren »Möglichkeit […] dadurch bewiesen« werde, »daß Freiheit wirklich ist«; Freiheit ist wirklich, weil diese Idee »sich durchs moralische Gesetz« offenbart (KpV A 4 f.). Was die Vernunft befähigt, ihr eigenes praktisches Vermögen zu kritisieren, ist das moralische Gesetz, das plötzlich auftritt,19 das unbedingt gebietet und so die natürlichen Antriebskräfte des Handelns eines Subjekts außer Kraft setzen kann, obwohl diese Kräfte als »subjectiv nothwendiges Gesetz (als Naturgesetz)« auftreten (KpV A 46). Unbedingtes, das der Vernunft die Probleme der Metaphysik auferlegt, zeigt sich stets offenbarend. Die Vernunft verfängt sich unvermeidlich in der Dialektik, sobald sie das Unbedingte objektiv zu erkennen trachtet. Trotz ihrer Ausweglosigkeit treibt die Dialektik sie an, »den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukommen«. Das wirkliche Finden des Schlüssels verdankt sie freilich nicht sich selbst. Der Inhalt des Fundes geht zudem nicht auf ein Projekt zurück, das sie hätte entwerfen können, sondern entdeckt das, »was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind« (KpV A 193).
3. Das »einzige Factum der reinen Vernunft« als Ursprung der praktischen Metaphysik Kant hat das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft so formuliert, daß es manche Täuschung und Verwirrung über den Grund der unbedingten Geltung des moralischen Gesetzes veranlassen konnte,20 sofern die Anklänge an das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch geeignet sind, die Differenz zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis zu überdecken.21 Die ForPlötzlichkeit zeigt eine Inversion der Aktivität an; vgl. Platon: Politeia 515c; 516a; 516e; Siebenter Brief 341e ( e2 xa i1fnhß); dazu Wyller: Der späte Platon, 26 f. Weiterhin Fischer: Metaphysik, bes. 119, 147, 159, 203–205. 20 Vgl. vor allem Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, z. B. 138–151. Scheler betont, daß »das Wollen des Sachverhalts […] der primäre Inhalt des Wollens« sei (142). 21 Aristoteles: Metaphysik G, 1005b19 f.: to! ga!r au2to! ¤ ma Øpa1rcein te kai! mh! Øpa1rcein a2du1naton t95 au2t95 kata! to! au2to1. Kants »jederzeit« spielt auf das ¤ ma, das »zugleich« spielt auf das kata! to! au2to1 an; das Objekt der Gesetzgebung findet sich im to! ga!r au2to1 - t95 au2t95. 19
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mulierung dieses Grundgesetzes lautet (KpV A 54): »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Kant betont, daß »reine, an sich praktische Vernunft […] hier unmittelbar gesetzgebend« sei, daß der Wille »unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen« werde (KpV A 55). Zur Begründung führt er zunächst an (KpV A 55): »Denn der Gedanke a priori von einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung, der also blos problematisch ist, wird, ohne von der Erfahrung oder irgend einem äußeren Willen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt geboten.« Zur Interpretation dieses Satzes, der über den Sinn der praktischen Philosophie entscheidet, sind drei Vorschläge in Erwägung zu ziehen. Wer an seiner Oberfläche haftet, könnte meinen, schon die bloße Verallgemeinerbarkeit einer Maxime weise sie als unbedingt gebotenes Gesetz aus.22 Kant scheint diese weit verbreitete Interpretation zu stützen, indem er am Beispiel der Aneignung eines Depositums zeigt, daß eine Regel, die solche Aneignung gestattet, »sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe« (KpV A 49). Diese Begründung des Verbots, sich ein Depositum anzueignen, läßt sich aber auf einen hypothetischen Imperativ zurückführen: wer will, daß es die Möglichkeit eines Depositums gibt, muß anerkennen, daß niemand es sich aneignen darf. Kants Beispiel taugt nicht zur Interpretation des zitierten Satzes, sondern bietet nur ein negatives Kriterium zur Ausscheidung von Prinzipien, die eben nicht unbedingt gebieten. Indem Kant im zitierten Satz betont, daß das Gesetz unbedingt gebietet, »ohne von der Erfahrung oder irgend einem äußeren Willen etwas zu entlehnen«, könnte der Anschein auftreten, das Gesetz sei ein ursprüngliches Produkt des nur mit sich selbst befaßten, vernünftigen Willens, der als vernünftiger Wille mit sich selbst identisch sein will. Dann wäre tatsächlich zu sagen: »Die bloße Gedachtheit des Willens ist das Faktum des praktischen Bewußtseins, das Gewissen, dieses ist die seinsollende Wirklichkeit des Menschen. Seine Wirklichkeit ist als seinsollende aus dem Gewissen unmittelbar An dieser Interpretation ist dennoch auch Richtiges; vgl. Cramer: Metaphysik und Erfahrung, 303. Das Gesetz, das vorschreibt, nach verallgemeinerbaren Maximen zu handeln, wird allerdings erst unbedingt geboten, sobald der Wille sich in die Beziehung zu anderen vernünftigen Subjekten gestellt sieht, aus der erst Pflichten erwachsen. 22
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evident.«23 Aber auch diese Interpretation führt noch nicht zu einem unbedingt gebietenden Gesetz. Mit dem Ausschluß der Erfahrung oder eines äußeren Willens hat Kant nicht jeden Bezug auf Anderes, sondern nur die empirischen Prinzipien im Auge, die als empirische Regeln eben keine praktischen Gesetze abgeben können (KpV A 38).24 Nicht gemeint ist also die Reduktion auf die Gesetzgebung des eigenen, nur auf sich selbst bezogenen Willens eines vernünftigen Subjekts. Denn obwohl ein Subjekt, sofern es »vernünftige Natur« ist, »als Zweck an sich selbst« existiert, resultiert aus seiner Natur allein zunächst doch nur »ein subjectives Princip menschlicher Handlungen«. Das Prinzip, das als Gesetz unbedingt gebietet, wird erst objektiv, weil sich »auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein, zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt,« ebenso vorstellt.25 Für den Willen eines vernünftigen Subjekts, das unabhängig von seiner Beziehung zu anderen vernünftigen Subjekten gedacht würde, gäbe es keinen unbedingt verpflichtenden Imperativ.26 Achtung fürs moralische Gesetz ist Pflicht; sie richtet sich aber nicht auf eine allgemeine Regel, die in Analogie zur Gewißheit von Sätzen der Mathematik oder der Naturwissenschaft stünde. Denn Kant sagt: »Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen« (KpV A 135). Und noch weniger geht sie auf erdachte Regeln, die Vgl. Teichner: Über einen Satz der Kritik der praktischen Vernunft, 268. Zu den »Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Princips der Moral« vgl. KpV A 113: »Nun mochten sie diesen Gegenstand der Lust, der den obersten Begriff des Guten abgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der Vollkommenheit, im moralischen Gefühle, oder im Willen Gottes setzen, so war ihr Grundsatz allemal Heteronomie«. 25 GMS BA 66 = AA 4,429; vgl. Fischer: Metaphysik, 158–179 (§ 9: Das ›Princip der Selbstliebe‹ und die Beziehung zum ›Princip anderer Menschen‹); weiterhin Cramer: Metaphysik und Erfahrung, 296–299, bes. 297: »Ein praktisches Gesetz gilt vielmehr deswegen, weil der Grund dafür die in ihm – wie in jedem praktischen Grundsatz – enthaltene allgemeine Bestimmung des Willens in den eigenen Willen aufzunehmen, als Grund der Bestimmbarkeit des Willens eines jeden vernünftigen Wesens und daher als ein nicht bloß subjektiv, sondern objektiv gültiger Grund der Willensbestimmung erkannt wird.« Vgl. auch 310. 26 Cramer: Metaphysik und Erfahrung, 288: »Der Begriff der Pflicht enthält den der Nötigung eines Willens zu dem, was das sittlich Gute ist.« Folglich sei er »ohne Rekurs auf die empirischen Begriffe der Lust und Unlust, der Begierde und Neigungen nicht exponibel.« Zur Frage, unter welchen Bedingungen das Sittengesetz als Imperativ auftritt vgl. 312–315. 23 24
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nichts wären als spontan gedachte Produkte einer endlichen Vernunft.27 Nur weil die Achtung fürs moralische Gesetz stets auf Personen geht und weil sie ihren Grund in der möglichen Moralität anderer vernünftiger Subjekte hat, die gleichfalls als Zwecke an sich selbst existieren, vermag das Gesetz den Willen anzutreiben, die naturbedingten Neigungen wirklich zu überwinden, besitzt es die Kraft, der natürlichen Eigenliebe Abbruch zu tun und den Eigendünkel sogar niederzuschlagen (KpV A 131). In der Achtung, die auf Personen geht, beugt sich das vernünftige Subjekt nicht »der Erfahrung oder irgend einem äußeren Willen«.28 Der Grund der Achtung liegt nicht in der »Vollkommenheit anderer Menschen«, nicht in der »Liebe des Wohlgefallens« (MST A 118 = AA 6,449), sondern in ihrer möglichen Moralität. Solange dieser Bezug auf die Existenz anderer vernünftiger Subjekte fehlt, bleibt der »Gedanke a priori von einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung […] blos problematisch«. Laut Kant wird der Gedanke, trotz seines zunächst bloß problematischen Auftretens, aber faktisch unbedingt geboten. Daß es eine Regel geben könne, die »den Willen in Ansehung der Diesem Satz widerspricht nicht die große Anmerkung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zu »dem Worte Achtung«. Zwar heißt es dort (GMS BA 17 Anm. = AA 4,401 Anm.): »Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel giebt.« Rechtschaffen kann aber nicht das Gesetz, sondern nur eine Person sein, die der Forderung des Gesetzes nach Rechtschaffenheit entspricht. Die Person gilt als »Beispiel eines Gesetzes« und fordert von uns, »ihr [der Person des Anderen] durch Übung hierin ähnlich zu werden« (ebd.). Kant tritt mit dieser Festlegung nur dem Vorwurf entgegen, er nehme mit der Rede von Achtung »Zuflucht in einem dunkelen Gefühle« (GMS BA 16 Anm. = AA 4,401 Anm.). Laut der Metaphysik der Sitten ist die »Maxime des Wohlwollens« gegen Andere gefordert (MST A,118 = AA 6,449): »Eben dasselbe muß von der gegen Andere zu beweisenden Achtung gesagt werden: daß nämlich nicht blos das Gefühl aus der Vergleichung unseres eigenen Werths mit dem des Anderen (dergleichen ein Kind gegen seine Ältern, ein Schüler gegen seinen Lehrer, ein Niedriger überhaupt gegen seinen Oberen aus bloßer Gewohnheit fühlt), sondern nur eine Maxime der Einschränkung unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in eines Anderen Person, mithin die Achtung im praktischen Sinne (observantia aliis praestanda) verstanden wird.« 28 Vgl. KpV A 136: »Fontenelle sagt: Vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber mein Geist bückt sich nicht. Ich kann hinzu setzen: Vor einem niedrigen, bürgerlich gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem gewissen Maße, als ich mir von mir selbst nicht bewußt bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht und den Kopf noch so hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu lassen.« 27
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Form seiner Maximen a priori bestimmt«, ist laut Kant »nicht unmöglich« (KpV A 55). Daß es eine solche Regel wirklich gibt, die als Gesetz unbedingt gebietet, ist jedoch eine unableitbare Tatsache. Kant erklärt (KpV A 55 f.): »Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit […] herausvernünfteln kann«.
4. Die »Autonomie der Vernunft« und die Gegebenheit des moralischen Gesetzes Sofern das Bewußtsein des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft als Faktum der Vernunft zu bezeichnen ist, ist es als »gegeben anzusehen«, nicht als »empirisches« Faktum, sondern als »das einzige Factum der reinen Vernunft […], die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt« (KpV A 56). Zu bedenken ist also die Verbindung zwischen der Gegebenheit des Bewußtseins des moralischen Gesetzes und der ursprünglichen Gesetzgebung der Vernunft, der Autonomie des Willens. Was Kant mit Autonomie meint, hat zwei Seiten: erstens negativ die »Unabhängigkeit […] von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objecte)«, zweitens positiv die »Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß« (KpV A 58).29 Die Unabhängigkeit von der Materie ist als Unabhängigkeit des Subjekts von seinen natürlichen Neigungen und Begierden zu denken, als Freiheit vom eigenen natürlichen Glücksstreben. Eine positiv bestimmende Rolle spielt aber weiterhin das Glücksstreben der anderen vernünftigen, aber endlichen Wesen, »so fern sie überhaupt einen Willen, d. i. ein Vermögen haben ihre Causalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen«, sofern sie also ebenfalls Maximen bilden, unter dem Sittengesetz stehen und frei sind (KpV A 57). Die weiterwirkende Rolle des Glücksstrebens tritt in den von Kant genannten Tugendpflichten deutlich hervor, in den zwei Zwecken, von Radikal verfälschend ist die Umdeutung von ›Autonomie‹ in ›Anthroponomie‹, die Umdeutung der Selbstgesetzgebung der Vernunft in die Gesetzgebung des Menschen; vgl. dazu Wenzel: Anthroponomie. Kants Archäologie der Autonomie; zur Kritik vgl. Fischer: Metaphysik, bes. 19–25. Wenzel bringt es zudem fertig, Kants theologische Motive mit Fleiß durch unvollständige Zitation zu eliminieren; vgl. z. B. 72, bes. Anm. 111. 29
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denen er sagt, daß sie zugleich Pflichten seien (MST A 13 = AA 6,385): »Eigene Vollkommenheit – fremde Glückseligkeit«.30 Die Bestimmung durch die allgemeine gesetzgebende Form der Maximen verbietet dem vernünftigen Willen, sich gegenüber anderen Vernunftwesen Sonderrechte herauszunehmen; sie fordert, nur Maximen in den Willen aufzunehmen, die von allen Subjekten gewollt werden können, ohne daß sie sich gegenseitig ihre Existenz als Zweck an sich selbst streitig machen.31 Angesichts der von Kant für unzweifelhaft gehaltenen Existenz anderer endlicher Vernunftwesen, die bei der Maximenbildung ebenso unter dem moralischen Gesetz stehen, ist der vernünftige Wille »unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen« zu halten (KpV A 56). Der Zwang, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen zu halten, tritt nur bei einem Wesen auf, das zur Maximenbildung fähig ist und faktisch schon Maximen zur Beförderung seiner naturhaft wirksamen Neigungen gebildet hat.32 Zur unbestechlichen Prüfung seiner Maximen wird jedes vernünftige, endliche Vernunftwesen gezwungen, sobald es in eine moralisch relevante Situation gerät, also in eine Situation, in der seine Existenz als Zweck an sich selbst (als Vernunftwesen) und seine natürliche Neigung, sein eigenes Glück zu besorgen, auf die als Zweck an sich selbst zu achtende Existenz Anderer trifft und in der sein eigenes natürliches Glücksstreben deren natürliches Glücksstreben tangiert. Sollte es Situationen geben, in denen der Selbstzweckcharakter vernünftiger Wesen nicht in Rede steht und das Glücksstreben Anderer nicht bedroht ist, dürften alle ihre Maximen ungehindert nach Regeln der Klugheit ausbilden.33
Vgl. Fischer: Metaphysik, 191–196. Diese Möglichkeit bleibt gleichwohl eine Versuchung; vgl. RGV B 26 = AA 6,32: »Der Satz: der Mensch ist böse, kann nach dem obigen nichts anders sagen wollen als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt und hat doch die (gelegentliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen.« Vgl. dazu Fischer: Der formale Grund der bösen Tat. Das Problem der moralischen Zurechnung in der praktischen Philosophie Kants. 32 Vgl. Cramer: Metaphysik und Erfahrung, 301 f. 33 Hier wäre zu fragen, ob es adiaphora gibt. Gäbe es welche, so wäre anzunehmen, daß nicht jede Handlung es erfordert, die Maxime des Willens ausdrücklich an den reinen Willen zu halten; oder es wäre anzunehmen, daß in manchen Fällen die Maxime in das Belieben des Einzelnen gestellt ist (vgl. Kants Beispiel KpV A 37 f.). 30
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Die Begegnung mit anderen vernünftigen Wesen, die sich als Zwecke an sich selbst vorstellen und die in moralisch relevanten Situationen ebenfalls unter dem unbedingt gebietenden Vernunftgesetz stehen, läßt sich nur als unableitbares Faktum denken. Die Begegnung mit solchen Anderen ist als unmittelbares Faktum zu denken, durch das der Vernunft der Grund zur Ausbildung des moralischen Gesetzes zwar gegeben wird, aber doch so, daß die Vernunft sich das unbedingte Gesetz auf der gegebenen Grundlage doch ursprünglich selbst gibt und vorschreibt.34 Die scheinbare Widersprüchlichkeit von Kants Bemerkungen zum Auftreten des moralischen Gesetzes läßt sich folglich auflösen: denn die Empfänglichkeit der Vernunft, ihre Rezeptivität für das moralische Gesetz, die in seiner Gegebenheit zutage tritt, und die Spontaneität der Gesetzgebung der Vernunft, die sich in der Autonomie des Willens ausdrückt, sind einleuchtend in der unableitbaren und die Vernunft herausfordernden, faktischen Gegenwart anderer vernünftiger Wesen miteinander verbunden.35 Durchs moralische Gesetz, das in dieser Gegenwart hervortritt, ›offenbart‹ sich die Freiheit (KpV A 5), durch dieses Gesetz wird der Schlüssel gefunden, der etwas entdeckt, »was man nicht suchte und doch bedarf« (KpV A 193). Sartre und Levinas scheinen mit der Phänomenologie der Gegebenheit des Anderen im Blick auf dem Weg zur phänomenologischen Lösung des Problems zu sein, das seit Kant virulent ist, wenn immer das Unbedingte, das Bewußtsein des moralischen Gesetzes, mit der Existenz des Anderen zusammenhängt, den man nicht suchte, aber dessen man doch bedarf. Zwischenstationen mögen Fichte und Husserl sein: Fichte mit der Postulierung der Existenz der Anderen,36 Husserl mit dem Versuch der phänomenologischen Konstitution der Existenz der Anderen.37 Zur unmittelbaren Gegebenheit der Anderen im Blick vgl. Sartre: L’être et le néant 292–341. In den posthumen Cahiers pour une morale spricht Sartre positiv zum moralischen Anspruch, der vom Anderen ausgeht (z. B. 294). 35 An der Autonomie als Selbstgesetzgebung der Vernunft hat sich manches Mißverständnis zum Verhältnis des Denkens von Levinas zum Denken Kants entzündet; vgl. z. B. Chalier: Pour une morale au-delà du savoir. Kant et Levinas, bes. im Abschnitt Autonomie et Hétéronomie (73–101); zu Chalier vgl. die Rezension von Fischer. Levinas bestreitet nicht Autonomie und Freiheit, wenn er von Heteronomie spricht; vgl. Totalité et Infini 60: »La présence d’Autrui – hétéronomie privilégiée – ne heurte pas la liberté, mais l’investit.« Ohne die Gegenwart des Anderen, ohne Achtung, die auf Personen geht, wäre das moralische Gesetz aber auch laut Kant kein objektives Prinzip des Willens. 36 Fichte: Grundlage des Naturrechts (Werke 3,122): »Jeder, so gewiss er sich dem Rechtsgesetze unterwirft, muss seine Freiheit durch die Freiheit des Anderen beschrän34
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Das moralische Gesetz hebt die Wahrheit des Satzes dialektisch auf, daß »die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (KrV B XIII). Diese Wahrheit wird vernichtet, weil das moralische Gesetz, sofern es als Unbedingtes auftritt, nicht als Entwurf der spontanen Vernunft zu denken ist, sondern als etwas, das in reinem Finden begegnet, als etwas, das man nicht suchte und doch bedarf. Sie wird aber auch gerettet, weil das Gesetz die absolute Spontaneität des Subjekts voraussetzt und rechtfertigt, es »in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge« versetzt, »in der wir schon jetzt sind« (KpV A 193). Die Beantwortung der Frage, was ich tun soll, erlaubt zwar nicht, die Grenzen der kritischen Beantwortung der Frage zu übersteigen, was ich wissen kann (KrV B 833). Gleichwohl weckt und fordert sie aus praktischer Vernunft Hoffnung auf die Bejahung der zwei Fragen (KrV B 831), »die das praktische Interesse der einen Vernunft angehen […], nämlich: ist ein Gott? Ist ein künftiges Leben?«
5. Die Unmöglichkeit der Rückkehr zu einer Ontologie des Übersinnlichen Obwohl das einzige Faktum der reinen Vernunft uns Suchenden »eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge« bietet, »in der wir schon jetzt sind« (KpV A 193), läßt sich durch dieses Faktum keine dogmatische Metaphysik, ebenso keine Ontologie des Übersinnlichen begründen. Die unbedingte Geltung des moralischen Gesetzes bedarf aber auch gar nicht einer solchen Ontologie.38 Als die ontologischen Annahmen, die geeignet scheinen, ken: sobald er einen Freien ausser sich erkennt.« Im dritten Lehrsatz hieß es (Werke 3,52): »Ich muss das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken.« Vgl. dazu Duesberg: Person und Gemeinschaft, 23–77, bes. 57. Jean Paul hatte in seiner Clavis Fichtiana ironisch erklärt (Sämtliche Werke 3,1039): »Gerade wie der Kantianer Gott und Unsterblichkeit so postuliert, so postuliert Fichtes Ich Ichs.« 37 Vgl. Husserl: Cartesianische Meditationen, 138–143 (§ 50). 38 Vgl. Heidegger: Die Grundprobleme der Ontologie (= GA 24), 199–218. Für »unbestreitbar« hält Heidegger die Bestimmung der Person, »Zweck seiner selbst zu sein« (199). Legitim ist sein Versuch zu zeigen, »wie sich die Seinsart des Daseins mit Rücksicht auf seine Konstituierung durch die Zweckhaftigkeit bestimmt« (199). Problembeladen ist die Feststellung (200): »Seiendes, das als Zweck seiner selbst existiert, hat sich selbst in der Weise der Achtung.« Denn Achtung ist Achtung fürs moralische Gesetz, die sich auf
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die Geltung des moralischen Gesetzes zu begründen, kommen das Dasein Gottes, die Freiheit des Willens und die Unsterblichkeit der Seele in Frage. Da sich diese Annahmen nicht als objektive theoretische Erkenntnisse rechtfertigen lassen, bietet theoretische Erkenntnis keinen Weg zu Unbedingtem. Zudem wären die höchsten möglichen Handlungsregeln der Vernunft, die auf Entwürfen der Vernunft beruhen, nur Maximen der Klugheit. Die unbedingte Geltung des moralischen Gesetzes bedarf nicht der Voraussetzung ontologischer Annahmen, sondern des Faktums der Vernunft, nämlich moralisch relevanter Situationen, in denen andere Vernunftwesen als Zwecke an sich selbst begegnen. Die Anderen sind keine Voraussetzung des moralischen Gesetzes, sondern treten selbst als Unbedingtes auf, das unbedingt geachtet werden soll. Obwohl das moralische Gesetz seine unbedingte Forderung ohne ontologische Voraussetzungen erhebt, führt es unausbleiblich zur Anerkennung der Annahmen, mit denen die spekulative Vernunft die Unbedingtheit der Geltung des moralischen Gesetzes hatte begründen wollen: denn die Freiheit des Willens offenbart sich unmittelbar in der Forderung des moralischen Gesetzes, die Fortdauer der Existenz der Vernunftwesen und das Dasein Gottes werden als Postulate der reinen praktischen Vernunft gesichert. Sofern Postulate theoretische Sätze sind, die als theoretische Sätze nicht erweislich sind, aber gelten, weil sie »einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich« anhängen (KpV A 220), zeigen sie sich der spekulativen Vernunft »zwar als ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf ihrem Boden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt ist« (KpV A 218). Kant betont zudem, daß in der Verbindung der »reinen speculativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse […] die letztere das Primat« führt (KpV A 218). Sofern die Vernunft versuchen muß, das ihr fremde Angebot, »mit allem, was sie als speculative Vernunft in ihrer Macht hat, zu vergleichen und zu verknüpfen« (KpV A 218), scheint sie das Versagen der theoretischen Vernunft im Blick auf die Gegenstände der Metaphysik mit einer praktisch fundierten Ontologie des Übersinnlichen wettzumachen. Personen richtet. Solange die Person nur bei sich selbst ist, ist es sinnlos, vom moralischen Gesetz als objektivem Prinzip zu sprechen (besonders deutlich: GMS BA 66 = AA 4,429). Gleichwohl kann Heidegger mit Recht sagen (200 f.): »So ist zwar das Sein der intelligiblen Substanzen im Sinne der moralischen Personen charakterisiert, aber nicht ontologisch begriffen und eigens zum Problem gemacht.« Heideggers existenzialanalytische Ontologie führt aber selbst nicht zu einer Ontologie des Übersinnlichen, was vielleicht Thema des dritten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit hätte sein können.
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In der Tat setzt »der subjective Effect dieses Gesetzes, nämlich die ihm angemessene und durch dasselbe auch nothwendige Gesinnung, das praktisch mögliche höchste Gut zu befördern, […] doch wenigstens voraus, daß das letztere möglich sei«, allerdings »nicht zum Behuf einer beliebigen speculativen Absicht, sondern eines praktisch nothwendigen Zwecks des reinen Vernunftwillens, der hier nicht wählt, sondern einem unnachlaßlichen Vernunftgebote gehorcht« (KpV A 257). Die Erweiterung durch die praktische Vernunft verdirbt also nicht die Einsicht der theoretischen, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden kann, wenn es als Objekt der theoretischen Erkenntnis vorgestellt wird. Die »Postulate sind nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in nothwendiger praktischer Rücksicht, erweitern also […] nicht das speculative Erkenntniß« (KpV A 238). Wir erkennen durch sie »weder unserer Seele Natur, noch die intelligibele Welt, noch das höchste Wesen nach dem, was sie an sich selbst sind« (KpV A 240). Durch die Postulate sehen wir zum Beispiel im Blick auf die Freiheit nicht ein, »wie man sich diese Art von Causalität theoretisch und positiv vorzustellen habe«; einsichtig wird nur, »daß eine solche sei, durchs moralische Gesetz und zu dessen Behuf postulirt« (KpV A 241). Da die Vernunft durch sie nur genötigt wird, einzuräumen, »daß es solche Gegenstände gebe […], ohne sie doch näher zu bestimmen« (KpV A 244), können »sie niemals zu einer Theorie von übersinnlichen Wesen gebraucht werden« (KpV A 248).39 Da die theoretische Vernunft in den Ideen zu Aufgaben gelangt war, die »sie aber nicht auflösen konnte« (KpV A 239), mußten ihr die Gegenstände Vgl. FM A 133 f. = AA 20,305: »Die erste Stufe des Überschrittes der Metaphysik zum Übersinnlichen, das der Natur, als die oberste Bedingung zu allem Bedingten derselben zum Grunde liegt, also in der Theorie zum Grunde gelegt wird, ist die zur Theologie, d. i. zur Erkenntniß Gottes, obzwar nur nach der Analogie des Begriffes von demselben, mit dem eines verständigen Wesens, als eines von der Welt wesentlich unterschiedenen Urgrundes aller Dinge, welche Theorie selber nicht in theoretisch- sondern blos praktischdogmatischer, mithin subjectiv-moralischer Absicht aus der Vernunft hervorgeht, d. i. nicht um die Sittlichkeit ihren Gesetzen, und selbst ihrem Endzwecke nach zu begründen, denn diese wird hier vielmehr, als für sich selbst bestehend, zum Grunde gelegt, sondern um dieser Idee vom höchsten in einer Welt möglichen Gut, welches, objectiv und theoretisch betrachtet, über unser Vermögen hinausliegt, in Beziehung auf dasselbe, mithin in praktischer Absicht, Realität zu verschaffen, wozu die bloße Möglichkeit, sich ein solches Wesen zu denken, hinreichend, und zugleich ein Überschritt zu diesem Übersinnlichen, ein Erkenntniß desselben, aber nur in praktisch-dogmatischer Rücksicht, möglich wird.« Vgl. weiterhin Edith und Klaus Düsing: Negative und positive Theologie bei Kant, 111 f. 39
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der Metaphysik für nicht unmöglich gelten. Der praktischen Vernunft erwiesen sich diese Gegenstände als wirklich ; für sie ist »die Realität der Begriffe, die zum Behuf der Möglichkeit des höchsten Gutes gehören, hinreichend gesichert, ohne gleichwohl durch diesen Zuwachs die mindeste Erweiterung des Erkenntnisses nach theoretischen Grundsätzen zu bewirken« (KpV A 246). Obwohl Kants Metaphysik der reinen praktischen Vernunft eine Metaphysik der Postulate ist, keine sich der Moral verdankende neue Ontologie des Übersinnlichen, ermöglicht sie nicht nur den Übergang zur philosophischen Religionslehre, sondern fordert ihn sogar (RGV B X f. = AA 6,6): »Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.«40 Die praktisch begründete Annahme von Übersinnlichem stützt sich in Kants Denkweg zunächst auf die erwiesene Nichtunmöglichkeit seiner Existenz. Nachträglich zeigt sich allerdings, daß schon die Frage nach Unbedingtem, die es der Vernunft ermöglichte, zum gegebenen Bedingten das Unbedingte zu suchen und ihr spekulatives Vermögen einer Kritik zu unterziehen, von der Beziehung zu wirklichem Unbedingtem im einzigen Faktum der reinen Vernunft getragen war. Denn eine Vernunft, »die nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (KrV B XIII), ist nicht in der Lage, nach Unbedingtem auch nur zu fragen. Bevor sie also die Frage nach Unbedingtem zu stellen vermochte, mußte ihr ein anderes Licht aufgegangen sein, als es Naturforschern wie Galilei, Torricelli und Stahl aufgegangen ist (KrV B XIII). Gerade weil dem menschlichen Geist jede Stützung durch eine dogmatische Metaphysik, durch eine Ontologie des Übersinnlichen fehlt, sind Menschen aufgefordert, dem moralischen Gesetz als Glieder »einer intelligiblen Welt (dem Reiche Gottes)« aus Freiheit zu entsprechen (KpV A 246). Als Hintergrund vgl. RGV B III f. = AA 6,3: »Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. Wenigstens ist es seine eigene Schuld, wenn sich ein solches Bedürfniß an ihm vorfindet, dem aber alsdann auch durch nichts anders abgeholfen werden kann: weil, was nicht aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt, keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität abgiebt. – Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug.« 40
Freiheit als Schlußtein eines Systems der reinen Vernunft Transzendentale und praktische Freiheit1 von Maximilian Forschner
1. Freiheit als Ausgangs- und Schlußpunkt der kritischen Philosophie »[…] wie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmenden Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegentheil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjects sein muß, zusammen bestehen könne: das ists, was man einsehen will und nie einsehen wird« (RGV B 58 f. Anm. = AA 6,49 f. Anm.). Freiheit und Determinismus schließen sich aus; das scheint eine triviale Wahrheit zu sein. Wo etwas offenkundig schon aus begrifflichen Gründen nicht zusammen bestehen kann, wo klar ist, daß etwas miteinander unvereinbar ist, muß der Wunsch verwundern, einzusehen, wie etwas zusammen bestehen könne. Die Prognose hingegen, daß dieser Wunsch sich nicht erfüllen, daß diese Einsicht niemals gelingen wird, dürfte niemand als gewagt empfinden. Gleichwohl sieht Kant hier ein ernsthaftes philosophisches Problem. Und das Problem scheint in der Tat nicht idiosynkratischer Natur und keine Erfindung verstiegener Philosophie zu sein. Es stellt sich dadurch, daß es in verschiedenen Kontexten menschlicher Praxis durchaus als vernünftig gilt, ein und denselben Gegenstand, nämlich »willkürliche Handlungen« als prädeterminiert und als frei anzusehen. Und die Frage, ob wir in unserem willkürlichen Handeln determiniert oder frei sind, hat offensichtlich nicht geringes Gewicht. 1
Ich danke Herrn Wolfgang Ertl für Diskussion und Kritik.
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Der scheinbare Widerspruch menschlicher Vernunft in der Beantwortung dieser Frage bildet nach eigenem Bekunden2 den Ausgangspunkt, seine Auflösung den Schlußpunkt der kritischen Philosophie überhaupt. In einem Brief an Christian Garve vom 21. September 1798 sieht Kant sich veranlaßt, falschen Darstellungen seines philosophischen Weges entgegenzutreten (AA 12,257): »Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, die Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r.V.: ›Die Welt hat einen Anfang – : sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freyheit im Menschen, – gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in ihm Naturnothwendigkeit‹ ; diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.« Was zu Recht als vernünftig gilt, darf sich nicht widersprechen. Wenn ähnlich starke Vernunftargumente zu widersprüchlichen Auffassungen führen, so ist dies, jedenfalls in Fragen, die den Kern unseres Selbstverständnisses betreffen, ein Skandal. Der Skandal betrifft Ansehen und Stellung der Vernunft gegenüber Tendenzen der Skepsis und des Irrationalismus. Ihre leitende Rolle im menschlichen Leben kann nur durch eine schonungslose Selbst-Kritik, d. h. durch eine sorgfältige Überprüfung der Leistungsfähigkeit, der Möglichkeiten, der Versuchungen und Grenzen unserer Vernunft gerettet werden. Der alte Kant schreibt an Garve im Bewußtsein, das menschliche Vernunftvermögen überhaupt kritisch geprüft, die Freiheits-Antinomie definitiv gelöst und den Skandal, den eine unkritische Vernunft sich selbst bereitet, beseitigt zu haben. Noch nicht in der Kritik der reinen Vernunft, wohl aber bereits in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant vom glücklichen Abschluß dieses seines Kritik-Unternehmens: »Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft aus, und alle andere Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser ohne Haftung bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objective Realität, d. i. die Möglichkeit derselben Über den eigenen philosophischen Entwicklungsgang gibt es allerdings auch anderslautende Selbstauskünfte. 2
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wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese offenbart sich durchs moralische Gesetz« (KpV A 4 f.). Die Antinomie von Freiheit und Determinismus bildet den Anfang, der Beweis unserer (transzendentalen) Freiheit den Abschluß der kritischen Philosophie.3 Die Frage nach Kants Freiheitsverständnis führt in den Kernbereich seines philosophischen Interesses. Doch wer da glaubt und erwartet, auf diesem Weg in übersichtliches Gelände zu gelangen, dürfte sich, zunächst jedenfalls, enttäuscht sehen und eher ein Labyrinth betreten zu haben meinen.
2. Über die verschiedenen Bedeutungen von »Freiheit« Kant spricht von ›Freiheit‹ in unterschiedlicher und wechselnder Bedeutung. Und er spricht gelegentlich davon, daß die eine Freiheit die andere voraussetzt und mit ihr steht und fällt, während er andernorts behauptet, daß sie mit der anderen rein »gar nichts zu thun« habe.4 Blickt man auf eine größere Menge einschlägiger Texte aus verschiedenen Zeiten, dann glaubt man folgende Unterscheidungen als wesentlich festhalten zu können: Da ist einmal die Spontaneität des Verstandes gegenüber der Rezeptivität der Sinnlichkeit bzw. die »Freiheit zu denken […], ohne welche es keine Vernunft giebt«.5 In bezug auf die für Erfahrungserkenntnis konstitutiven Gesetze ist, wenngleich selten, von einer Autonomie des Verstandes die Rede.6 Da ist zum anderen die Freiheit des Willens, ein »Vermögen des denkenden Wesens, seiner jedesmaligen Ideenlage gemäß zu handeln«.7 In bezug auf sie ist von Autonomie als einer Eigenschaft des Willens die Rede. Quer zu dieser einigermaßen leicht verständlichen Unterscheidung steht eine andere, schwerer verständliche, aber nicht minder wichtige. Kant spricht von transzendentaler, kosmologischer oder spekulativer Freiheit und meint Sc. einen ersten Abschluß. Inwieweit erst die Kritik der Urtheilskraft den eigentlichen Abschluß bildet, soll hier nicht diskutiert werden. 4 Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen; AA 8,13. 5 Recension von Schulz’s Versuch; AA 8,14. 6 Reflexion 5608; AA 18,250: »Alle durch Erfahrung erkannte Gesetze gehoren zur Heteronomie, die aber, durch welche Erfahrung überhaupt möglich ist, zur Autonomie«. 7 Recension von Schulz’s Versuch; AA 8,13. 3
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damit ein Vermögen, »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen (KrV A 534 / B 562). Und er kontrastiert diese transzendentale Freiheit der psychologischen Freiheit bzw. der »Freiheit im praktischen Verstande«, worunter er »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« verstanden wissen möchte (ebd.). Über die Beziehung von transzendentaler zu praktischer Freiheit scheint Kant sich nun merkwürdig inkonsistent zu äußern. Die »Aufhebung der transscendentalen Freiheit [würde] zugleich alle praktische Freiheit vertilgen«, so heißt es im Kapitel über die Auflösung der kosmologischen Ideen der Kritik der reinen Vernunft (KrV A 534 / B 562). »Die Frage wegen der transscendentalen Freiheit betrifft bloß das speculative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig beiseite setzen können, wenn es um das Praktische zu thun ist«, heißt es in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft (KrV A 803 f. / B 831 f.). Und in der Rezension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre von 1783 lautet der entsprechende Satz: »Der praktische Begriff der Freiheit hat in der That mit dem speculativen, der den Metaphysikern gänzlich überlassen bleibt, gar nichts zu thun.«8 Wie diese Äußerungen zusammenstimmen, diese Frage zu beantworten überläßt Kant in nicht geringem Ausmaß der Schar seiner Interpreten.
3. Freiheit als Spontaneität des Denkens Im weitesten Sinn bedeutet für Kant Freiheit das Vermögen eines Subjekts zu selbstbewußter rationaler Aktivität. Dieser Begriff von Freiheit umfaßt die Tätigkeit des Erkennens und Handelns und läßt Kant von Spontaneität und Autonomie im Unterschied zu Rezeptivität und Heteronomie sprechen. Den ideologischen Hintergrund seines Ringens um ein adäquates Verständnis menschlicher Freiheit bildet die Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, der ihm in Gestalt des zeitgenössischen englischen Empirismus und französischen Materialismus begegnet, und den er, als metaphysisches Konzept, in Analogie zu einer nationalökonomischen Theorie der Zeit, mit dem Ausdruck »transscendentale Physiokratie« belegt (KrV A 449 / B 477). Der Leitgedanke des Naturalismus besagt damals wie heute, daß das materielle Substrat der Wirklichkeit aus seiner eigenen Gesetzlichkeit heraus 8
Recension von Schulz’s Versuch; AA 8,13.
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alle Dinge hervorbringt, und daß die Prozesse der Welt sämtlich der Naturkausalität unterworfen sind und nach der Gesetzlichkeit eines geschlossenen Ursachen-Netzes verlaufen.9 Kant war zeitlebens zutiefst davon überzeugt, daß die Weltsicht des Naturalismus letztlich darauf hinausläuft, »den Menschen abzulegen«.10 Nicht nur die Ethik, seine gesamte kritische Prüfung der Grenzen und Möglichkeiten menschlicher Vernunft sind der Zurückweisung des Naturalismus als einer die »Menschheit in uns« destruierenden Sicht der Dinge gewidmet. Die transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft geht von der Unterscheidung einer naturkausalen von einer geltungs- und begründungstheoretischen Interpetation menschlichen Erkennens aus.11 Eines ihrer leitenden Ziele ist der Nachweis, daß es grundsätzlich verfehlt ist, die Sinn- und Geltungsaspekte menschlichen Erkennens mit Mitteln der Physiologie und Assoziationspsychologie verständlich zu machen. Menschliches Erkennen ist für uns in der Tat ein janusköpfiges Phänomen. Es zeigt sich einerseits als ein psychisches Vorkommnis bei bestimmten Wesen mit bestimmten Vermögen, das eine naturkausale Geschichte hat und wie alle Vorkommnisse in der Welt nach einer naturkausalen Erklärung verlangt. Es zeigt sich andererseits als ein Akt des Subjekts, der auf ein Sinngebilde bezogen ist, das wahr oder falsch und darin auf eine normative Ordnung von Begriffsverhältnissen, von Sätzen und Satzzusammenhängen verpflichtet ist. Menschliches Erkennen gehört der natürlichen Sphäre bloßen Seins und Geschehens an und ist als solches eine der »Begebenheiten[, die] ihre bestimmende[n] Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (RGV B 58 Anm. = AA 6,49 Anm.). Menschliches Erkennen ist zum anderen ein Akt des Subjekts, in dem die kausale Geschichte seines subjektiven Auftretens als irrelevant betrachtet wird, in dem vielmehr für einen Gedanken bzw. Zum gegenwärtigen Verständnis des Naturalismus vgl. Kanitscheider: Naturalismus, metaphysische Illusionen und der Ort der Seele. Grundzüge einer naturalistischen Philosophie und Ethik, 33–34; Goebel: Probleme eines philosophischen Naturalismus, 23–37. 10 Recension von Schulz’s Versuch; AA 8,13. 11 Vgl. Reflexion 5441; AA 13,182: »der Verstand […] ist frey und eine reine Selbstthatigkeit, die durch nichts anderes als sich selbst bestimmt ist. Ohne diese ursprüngliche und unwandelbare spontaneitaet würden wir nichts a priori erkennen; denn wir wären zu allem bestimt, und unsere Gedanken selbst ständen unter empirischen Gesetzen«. 9
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einen Sachverhalt ein Geltungsanspruch erhoben wird, der als zeitlos gültig betrachteten objektiven Kriterien genügen muß, um berechtigt zu sein. In unseren Erkenntnisakten, in denen wir Geltungsansprüche erheben, setzen wir deshalb als selbstverständlich voraus, »daß der Verstand nach objectiven Gründen, die jederzeit gültig sind, sein Urtheil zu bestimmen das Vermögen habe und nicht unter dem Mechanism der blos subjectiv bestimmenden Ursachen, die sich in der Folge ändern können, stehe; mithin [nimmt] er immer Freiheit zu denken an, ohne welche es keine Vernunft giebt.«12 Kants transzendentale Erkenntnistheorie zielt nicht auf eine naturkausale Erklärung menschlichen Erkennens, sondern auf eine Analyse der wesentlichen Elemente und Faktoren gültiger menschlicher Erkenntnis. Sie möchte das vorgängige normative Bedingungsgefüge klären, das erfüllt sein muß, wenn immer legitimerweise ein bestimmter epistemischer Anspruch erhoben wird. So kann etwa das Dasein eines Gegenstandes in der Welt von uns nur dann vernünftigerweise behauptet werden, wenn er sich in unserem RaumZeit-Horizont fixieren läßt und in irgendeiner Form über unsere Sinne faßbar ist. Und von einer Begebenheit in der Welt kann nur dann gesprochen werden, wenn wir zugleich annehmen, daß sie sich über Verlaufsgesetze kausal als Resultat aus Vorgängigem ableiten läßt. Die Bedingungen legitimer Erkenntnisansprüche sind Bedingungen der Vernunft bezüglich Gegenständen, die als Inhalt von Sätzen bzw. Urteilen nur ein vernunft- bzw. sprachfähiges Wesen zu bilden und zu fassen vermag. Doch diese Erkenntnisse sind Leistungen empirischer Wesen. Ihre Gegenstände und Geltungsansprüche haben Naturdinge mit natürlichen Kräften und Vermögen zu Trägern und Adressaten. Wie ein Mensch generell seiner Natur nach als erkennendes Wesen beschaffen ist, was ein Mensch erfahrungsgemäß diesbezüglich kann und nicht kann, findet deshalb in einer transzendentalen Analyse der Bedingungen möglicher Erkenntnis seine Berücksichtigung und Würdigung. Aber es findet sie aus der Perspektive von Teilnehmern einer gemeinsamen Sprache, in und mit der Gegebenes verstanden, geprüft und beurteilt wird. Kant appelliert an jedermann zugängliche Erfahrungen, die wir mit uns als erkennende Wesen machen und benützt diese Erfahrungen zur Formulierung des transzendentalen Verständnisses des Bedingungsgefüges menschlicher Erkenntnis. Wir sind uns im begrifflichen Denken, wir sind uns im Urteilen über etwas als fundamentalem Akt begrifflichen Denkens dessen implizit oder 12
Recension von Schulz’s Versuch; AA 8,14.
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explizit bewußt, daß dieser Akt nicht etwas uns Widerfahrendes und mit uns Geschehendes ist, sondern daß es sich um etwas handelt, was wir selbst vollziehen: Wir können Dinge nach selbst gewählten generellen Gesichtspunkten klassifizieren; wir können hypothetisch denken, d. h. Sachverhalte uns vorstellen, ohne ihr Bestehen zu behaupten etc. So beweist für Kant das »willkürliche Bewußtsein unserer Vorstellungen«, das sich im Akt des Aufmerkens (attentio), vor allem aber in Akten des Absehens (abstractio) bekundet, »eine Freiheit des Denkungsvermögens und die Eigenmacht des Gemüths, den Zustand seiner Vorstellungen in seiner Gewalt zu haben (animus sui compos)« (Anth A 10 = AA 7,131). Begriffliches Denken ist nicht etwas, was sich »dem Menschen durch den Sinn aufdringt« (ebd.); es handelt sich vielmehr um Vorstellungen von Vorstellungen, die er selbst bildet und vollzieht. Im Ausgang von der grundlegenden Erfahrung der Eigenmacht des Denkens gegenüber unwillkürlichen sinnlichen Eindrücken rekonstruiert Kant in transzendentaler Reflexion die elementare Verstandeshandlung in aller begrifflichen Gegenstandserkenntnis, das Urteil, »als Verbindung (conjunctio) eines Mannigfaltigen überhaupt«, die »niemals durch Sinne in uns kommen« kann. Und er belegt die verschiedenen Einigungsleistungen des Verstandes im Urteilen über Gegebenes mit dem Ausdruck »Synthesis«, »um dadurch zugleich bemerklich zu machen, daß wir uns nichts, als im Object verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objecte gegeben, sondern nur vom Subjecte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbstthätigkeit ist« (KrV B 129 f.). Kant kennzeichnet diesen Akt der Selbsttätigkeit in einer bestimmten Phase seines Denkens gelegentlich mit dem Ausdruck »logische Freiheit« und meint damit die Spontaneität begrifflichen Denkens im Unterschied zur »transscendentalen Freiheit«, der Spontaneität praktischen Tuns.13 Gelegentlich indessen zieht er die Selbsttätigkeit des Subjekts im Denken und Handeln im Begriff einer »Spontaneität im transscendentalen Sinne« zusammen, einer Spontaneität des Selbst, die wir meinen und uns zusprechen, sowohl, wenn wir sagen »Ich denke«, als auch, wenn wir sagen »Ich handle«.14 Reflexion 5442; AA 13,183; vgl. die Reflexionen 4218–4229; AA 17,462–467; vgl. Allison: Kant’s Theory of Freedom, 60. 14 Metaphysik L1 Heinze; AA 28.1,268 f. : »Das Ich beweiset aber, daß ich selbst handele; ich bin ein Princip und kein principiatum; ich bin mir bewußt der Bestimmungen 13
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Was hat es mit dem Spontaneitätsbewußtsein, das unser Denken begleitet, näherhin auf sich? Kant kennzeichnet es15 als »eine bloß intellectuelle Vorstellung der Selbstthätigkeit des denkenden Subjects« (KrV B 278). ›Bloß intellectuell‹ besagt, daß in dieser Vorstellung lediglich das Denken als mittelbares, nicht auch die Anschauung als unmittelbares Erfassen von Gegebenem im Spiel ist. Und es besagt deshalb, daß wir dem Spontaneitätsbewußtsein über das Erfassen der selbsttätigen Einigungsfunktion unseres Denken hinaus bezüglich der Beschaffenheit unserer selbst nichts weiter entnehmen können. »Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Function, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung« (KrV B 428). Gleichwohl spricht Kant in einem gewichtigen Passus des Antinomienkapitels der Kritik der reinen Vernunft von einer (nicht-sinnlichen) Erkenntnis unserer selbst als eines spontanen, weil denkenden Wesens.16 »Bei der leblosen oder bloß thierisch-belebten Natur finden wir keinen Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich-bedingt zu denken. Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperception, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich eines Theils Phänomen, anderen Theils aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibeler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft« (KrV A 546 / B 574, Hvh. v.Vf.).
und Handlungen; und ein solches Subject, das sich seiner Bestimmungen und Handlungen bewußt ist, das hat libertatem absolutam. Dadurch, daß das Subject libertatem absolutam hat, weil es sich bewußt ist, beweiset es, daß es nicht subjectum patiens, sondern agens sey. […] Wenn ich sage: ich denke, ich handele usw.; dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin frei. Wäre ich nicht frei; so könnte ich nicht sagen: Ich thue es; sondern müßte ich sagen: Ich fühle in mir eine Lust zu thun, die jemand in mir erregt hat. Wenn ich aber sage: Ich thue es; so bedeutet das eine Spontaneität in sensu transscendentali. Nun bin ich aber bewußt, daß ich sagen kann: Ich thue; folglich bin ich mir keiner Determination bewußt, und also handele ich absolut frei.« 15 Sc. in kritischer Auseinandersetzung mit Descartes und Berkeley. 16 Der Status dieser ohne Anschauung, allein durch das Selbstbewußtsein des Denkens erzielten Erkenntnis ist unklar. Jedenfalls läßt sie sich, wie noch zu zeigen ist, in Kants Augen spekulativ überholen.
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Wir sind uns in sinnlicher Wahrnehmung als erfahrbare und erklärbare Naturwesen vorgegeben. Wir wissen uns im Selbstbewußtsein des Denkens als spontane, selbsttätige, nicht durch Vorgängiges und Gegebenes bestimmte, sondern uns Vorgängiges und Gegebenes verständlich machende Wesen; nicht mehr und nicht weniger (KrV B 429): »wie mein eigenes Selbst in der Anschauung gegeben sei, das setze ich bei Seite, und da könnte es mir, der ich denke, aber nicht so fern ich denke, bloß Erscheinung sein; im Bewußtsein meiner Selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist.«
4. Transzendentale und praktische Freiheit a) Transzendentale Freiheit als mögliche Antwort auf ein zweifaches Problem Freiheit im weitesten Sinn ist für Kant das Vermögen einer Substanz, näherhin eines Subjekts, zu selbstbewußter rationaler Aktivität; sie umfaßt die Tätigkeiten des Erkennens und Handelns. Mit »Freiheit« im engeren Sinn bezieht Kant sich auf eine mögliche Ursache von etwas, »was geschieht«, »was in der Zeit entspringt«, was zuvor nicht war, auf eine mögliche Ursache von »Weltbegebenheiten«. Freiheit im engeren Sinn meint also eine Form, zeitlich faßbare Wirkungen hervorzubringen (vgl. KrV A 532 / B 560). Kant hat ein eigenartiges Verständnis von Kausalität,17 das einerseits der am handelnden Subjekt orientierten Tradition der Substanzmetaphysik verpflichtet ist, das sich andererseits von David Humes Regularitätsmodell einer bloßen Ereignis- bzw. Zustandsabfolge inspirieren läßt, und das beide Ansätze zu vermitteln trachtet. Ganz im Sinne Humes formuliert Kant, Kausalität nach der Natur sei »die Verknüpfung eines Zustandes mit einem vorigen in der Sinnenwelt, worauf jener nach einer Regel folgt« (KrV A 532 / B 560), und interpretiert sie als zeitliches Bedingungsverhältnis von Zuständen nach Gesetzen. Ganz im Sinne der Tradition lautet dagegen der systematisch bedeutsame Satz: »Diese Causalität führt auf den Begriff der Handlung, Vgl. dazu Willaschek: Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, 34 – 40; ferner Forschner: Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei I. Kant, 163–179. 17
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diese auf den Begriff der Kraft und dadurch auf den Begriff der Substanz« (KrV A 204 B / 249). Substanz ist für Kant das »Beharrliche in der Erscheinung«, sei es die Materie überhaupt als konstanter Träger verschiedener und wechselnder Attribute, sei es ein materieller Gegenstand, den wir auf Zeit als ein und denselben betrachten mit Attributen, die teils bleiben, teils sich in der Zeit verändern (vgl. KrV B 227–229; A 277 f. / B 333 f.). Kant denkt Substanz als Träger eines Kräftepotentials, das sich in den verschiedenen Attributen äußert. Das Wirken einer in äußerer Erfahrung gegebenen Substanz denken wir nach Kant in Analogie zu uns selbst und unseren eigenen Handlungen, mit denen wir in der Welt etwas bewirken.18 Erfahrbar sind für uns immer nur ›Äußerungen‹ und ›Wirkungen‹ einer inneren ›Potenz‹ der Substanz im Beharren, der Abfolge und den Wirkungen der Akzidentien. »Was ihr innerlich zukomme, suche ich in allen Theilen des Raumes, den sie einnimmt, und in allen Wirkungen, die sie ausübt, und die freilich immer nur Erscheinungen äußerer Sinne sein können« (KrV A 277 / B 333). Kraft ist »die Causalität einer Substanz« (KrV A 648 / B 676), die ›sich als Wirkung hervortut‹ (ebd.). Von Wirkungen sprechen wir in Bezug auf Veränderungen. Der Wechsel von Attributen sind Wirkungen, die von Kräften von Substanzen hervorgebracht werden; näherhin so, daß die Kraft einer Substanz auf eine andere Substanz einwirkt und dadurch eine Änderung ihrer Eigenschaften und Relationen hervorruft. Mit ›Handlung‹ bezeichnet Kant ganz generell nichts anderes als dies, daß eine Substanz eine Wirkung hervorbringt, also »das Verhältniß des Subjects der Causalität zur Wirkung« (KrV A 205 / B 250). Und die Handlung einer Substanz erfolgt auf der Basis eines Vermögens, das durch einen ›Bestimmungsgrund‹ zum Wirken gebracht wird. Kant bezeichnet sowohl die Substanz, die etwas bewirkt als auch den Bestimmungsgrund, der das Vermögen einer Substanz zum Wirken bringt, als Ursache. In Bezug auf Wirkungen als »Weltbegebenheiten« hält Kant nun, im Sinne einer vollständigen Disjunktion, »zweierlei Causalität« für denkbar, »entweder nach der Natur, oder aus Freiheit« (KrV A 532 / B 560). Kausalität nach der Natur »ist die Verknüpfung eines Zustands mit einem vorigen in der Sinnenwelt, worauf jener nach einer Regel folgt« (ebd.). Vgl. Reflexion 4412; AA 17,537: »Dies Verhältnis der Ursache ziehen wir aus unseren eignen Handlungen und appliciren es auf das, was beständig in den Erscheinungen äußerer Dinge ist«. 18
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Gemeint ist eine als gesetzlich unterstellte Abfolge von Erscheinungen. Ursache und Wirkung spielen hier auf derselben Ebene: der Welt, die uns über die Sinne zugänglich ist. Die Regel, die eine bestimmte Ursache mit einer bestimmten Wirkung verbindet, und die uns davon sprechen läßt, nicht nur, daß das eine auf das andere folgt, sondern daß es sich aus ihm ergibt, ist ein Gesetz, das uns durch Erfahrung der Wirksamkeit von Substanzen bekannt wird, eine Erfahrung, die uns sagt, welche Wirkungen ein Gegenstand einer bestimmten Art unter äusseren Umständen einer bestimmten Art zeitigt. »Wie nun überhaupt etwas verändert werden könne; wie es möglich sei, daß auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein entgegengesetzter im andern folgen könne: davon haben wir a priori nicht den mindesten Begriff. Hierzu wird die Kenntnis wirklicher Kräfte erfordert, welche nur empirisch gegeben werden kann, z. B. der bewegenden Kräfte, oder, welches einerlei ist, gewisser successiven Erscheinungen (als Bewegungen), welche solche Kräfte anzeigen« (KrV A 206 f. / B 252). Auf dieser Ebene und in diesem Verständnis von Kausalität ist jede ›Weltbegebenheit‹ Ergebnis und Konsequenz von Vorausgehendem nach vorgegebenen und von uns empirisch zu erkennenden Gesetzen der Natur. Und eine ›Weltbegebenheit‹ zu erkennen heißt, sie aus den relevanten Gesetzen und Randbedingungen abzuleiten. Es bleibt zu betonen, daß wir uns selbst als substantia phaenomenon, als Gegenstand des äußeren und inneren Sinnes gegeben sind; was die Kräfte unserer Seele betrifft, so gilt wie bei Gegenständen bloß des äußeren Sinnes, daß der Verstand auch hier, ehe er sie näher erforscht und systematisierend zusammenfaßt, »anfänglich beinahe so vielerlei Kräfte derselben annehmen muß, als Wirkungen sich hervorthun, wie in dem menschlichen Gemüthe die Empfindung, Bewußtsein, Einbildung, Erinnerung, Witz, Unterscheidungskraft, Lust, Begierde u.s.w.« (KrV A 648 f. / B 676 f.). Wie das Zitat zeigt, umfaßt Kants Konzept der Kausalität nach der Natur den physischen ebenso wie den psychischen Bereich. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das, was Kant das Begehrungsvermögen nennt. »Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein« (KpV A 15 Anm.). Und eine aktuelle Begierde ist »die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjects durch die Vorstellung von etwas Künftigem als einer Wirkung derselben«
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(Anth B 202 = AA 7,73). Vorstellungen sind Äußerungen von Kräften bestimmter natürlicher Substanzen und spielen die Rolle von Bestimmungsgründen des Wirkens bestimmter natürlicher Substanzen. Gäbe es keine andere Kausalität als »nach Gesetzen der Natur«, und bildeten diese Gesetze, wie die Naturforschung sie sich als Leitidee vorgibt, ein geschlossenes System, »so setzt alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt« (KrV A 444 / B 472; Hvh. v. Vf.).19 Kants Begriff der Natur als eines Systems von Kausalgesetzen ist im regulativen Sinn theoretischer Forschungsorientierung zu lesen. Dies übersieht, wer Kants pointierte Äusserungen über den empirischen Charakter eines Menschen im Rahmen seiner Freiheitsdiskussion objektiv-deterministisch liest (KrV B 577 f.): »so sind alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt; und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als nothwendig erkennen könnten«. Kant spricht hier aus theoretisch-szientistischer Perspektive, so allerdings in einem Abschnitt mit dem Titel: Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft, in Ansehung aller kosmologischen Ideen. Kant weiß um die Herkunft der Determinismus-Problematik aus metaphysischen Prämissen. Der Begriff der Natur als eines Systems von Kausalgesetzen setzt nach Kant den Gedanken der Natur als Werk einer höchsten Vernunft voraus. Dieser Gedanke läßt sich in transzendentaler Reflexion nur als apriorischer Fluchtpunkt einer Maxime systematisierender empirischer Forschung rechtfertigen. Vgl. KU B XXVII f. (Hvh. v. Vf.): »Nun kann dieses Princip (sc. systematischer Naturforschung M. F.) kein anderes sein als: daß, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur (obzwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur) vorschreibt, die besondern empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnißvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte. Nicht als wenn auf diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müßte (denn es ist nur die reflectirende Urtheilskraft, der diese Idee zum Princip dient, zum Reflectiren, nicht zum Bestimmen), sondern dieses Vermögen giebt sich dadurch nur selbst und nicht der Natur ein Gesetz.« Das Zitat macht deutlich, daß Kants Zweite Analogie (der Erfahrung) und seine Rede vom »allgemeinen Gesetze der Naturnothwendigkeit« in der Kritik der reinen Vernunft nicht im Sinne des Gedankens eines objektiven Determinismus im Bereich der Erscheinungen zu verstehen ist; vgl. KrV A 674 / B 675; A 675 / B 703. Zum Determinismus-Problem bei Kant und zur Diskussion des Themas in der Kant-Literatur vgl. Ertl: Das Freiheitsproblem bei Kant. Zwischen Tradition und Innovation, bes. 86–91. 19
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Zwei Dinge sind es, die Kant diesen Gedanken anstößig erscheinen lassen und unsere Vernunft zum Ansatz einer zweiten Form von Kausalität motivieren, ein epistemisches und ein moralisches Skandalon: das epistemische Skandalon, daß »auf solche Weise keine absolute Totalität der Bedingungen im Causalverhältnisse herauszubekommen ist« (KrV A 533 / B 561); das moralische Skandalon, daß eine solche Sicht und Lage der Dinge »alle praktische Freiheit vertilgen« würde (KrV A 534 / B 562). Jede ›Weltbegebenheit‹ als Vorkommnis in der Zeit hat eine Ursache, die in der Zeit begonnen hat zu wirken, die somit selber eine Weltbegebenheit darstellt, die verursacht ist und so ins End- bzw. Anfangslose. Dies besagt, daß über diese Form der Kausalität keine vollständige Erklärung einer Weltbegebenheit möglich ist, obgleich wir, nach dem Vernunftprinzip des zureichenden Grundes, im Verständnis einer Weltbegebenheit als etwas Bedingtem und Gegebenem die Vollständigkeit der Reihe seiner Bedingungen als gegeben bzw. erfüllt voraussetzen müssen (vgl. KrV A 446 / B 474). Eine solche Vollständigkeit läßt sich nur denken über den Gedanken eines ›unbewegten Bewegers‹, der die Reihe der Bedingungen abschließt. Aus ihrem Verlangen also nach vollständiger Erkenntnis von Bedingtem »schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Causalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen« (KrV A 533 / B 561). Diese Idee eines seinerseits unbedingt wirkenden Bewegers ist von der Vernunft in Betrachtung der Weltbegebenheiten gefordert und gleichwohl über einer in der Zeit erfolgenden Betrachtung der Weltbegebenheiten nicht als Erkenntnis einlösbar. Kant hält es für »überaus merkwürdig«, daß auf diesen Begriff der »Freiheit im kosmologischen Verstande« bzw. auf diese »transscendentale Idee der Freiheit« sich der psychologische bzw. praktische Freiheitsbegriff gründet (KrV A 533 / B 561). Dabei scheint ihm auf den ersten Blick die Erläuterung des Zusammenhangs der beiden Freiheitsbegriffe nicht allzu schwer zu fallen: Wir verstehen uns selbst und andere in dem, was wir sind und wirken, auch, aber nicht nur als natürliche ›Weltbegebenheit‹, die jeweils einen vorigen Zustand voraussetzt, auf den sie nach Regeln der Natur folgt, und die selbst wiederum nach Regeln der Natur Wirkungen zeitigt. Wir fordern uns selbst und andere zu einem Verhalten auf, das zwar »unter Naturbedingungen möglich sein« muß (KrV A 548 / B 576), das aber nicht durch diese prädeterminiert ist. Und wir unterstellen, in unserer rückwärtsgewandten Praxis von Lob und Tadel, daß
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der Gelobte und Getadelte in seiner Situation auch anders hätte handeln können als er tatsächlich gehandelt hat. Wir gehen, im Sinne einer regulativen Idee, wenn wir eine Weltbegebenheit erklären wollen, von einem lückenlosen Gesetzessystem aus, das die Abfolge der Phänomene in objektiver Weise bestimmt, und nach dem die Vorgänge in der Welt unausweichlich geschehen. Wir unterstellen, wenn wir uns selbst nicht bloß beobachten, sondern als in der Welt klug und verantwortlich handelnde Subjekte verstehen, daß weder der künftige Weltverlauf noch wir selbst als in ihm situierte und wirkende Wesen aufgrund von Vorgängigem durch ein lückenloses Gesetzessystem determiniert sind. Gerade in unserer Praxis des Vorwurfs und des Tadels setzen wir nach Kant20 voraus, »daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen, und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Causalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen« (KrV A 534 / B 562). »Transscendentale Freiheit« wäre das Prädikat eines Wesens, das negativ gesehen wirken könnte in »Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen«, und das positiv gesehen ein Vermögen hätte, eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen (vgl. KrV A 553 f. / B 581). Und genau dies scheint auf die Willkür des Menschen zuzutreffen, deren Form von Kausalität sich in willkürlichen Handlungen manifestiert, die nach richtigen oder falschen Vernunftgründen erfolgen, unabhängig von »der Zeit nach vorhergehenden Bedingungen« (ebd.). Praktische menschliche Freiheit scheint so gesehen ein Fall transzendentaler Freiheit zu sein; und transzendentale Freiheit der eigentliche (theoretische) Grund, warum wir mündigen Menschen im Unterschied zu Tieren, Kleinkindern und geistig Kranken ihre Handlungen zurechnen (vgl. KrV A 448 / B 476).
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Vgl. dazu v. a. KrV A 554 f. / B 582 f.
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b) Transzendentale Freiheit, praktische Freiheit und transzendentaler Idealismus Was in uns Natur21 und als Natur am Werk ist, nennt Kant im anthropologisch-praktischen Kontext Sinnlichkeit. Und »Freiheit im praktischen Verstande« meint »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist sinnlich, sofern sie pathologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) afficirt ist; sie heißt thierisch (arbitrium brutum), wenn sie pathologisch […] necessitirt werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil die Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen« (KrV A 534 / B 562; vgl. KrV A 801 f. / B 829 f.). Was also soll merkwürdig sein am Zusammenhang von transzendentaler und praktischer Freiheit? Ist es dies, daß der Gedanke transzendentaler Freiheit zunächst »nur eigentlich insofern dargetan [wird], als zur Begreiflichkeit eines Ursprungs der Welt erforderlich ist«, und jetzt auch theoretisch erlauben soll, »mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen, und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln« (KrV B 476 und 478)? Merkwürdig scheint in der Tat, daß praktische Freiheit, wie wir sie beim Menschen zu kennen glauben, eine Form von Kausalität sein soll, deren Wirkungen im Rahmen der Weltbegebenheiten der Kausalität nach einen veritablen Anfang darstellen und gleichwohl (auch) an Vorgängiges kausal anschließen, d. h. »in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt« sein sollen (vgl. KrV B 562). Lösbar erscheint Kant dieses Problem nur durch die Figur des transzendentalen Idealismus, der einunddenselben Gegenstand als sinnlich zugängliches und verständliches Phänomen in Raum und Zeit und als »Ding an sich selbst betrachtet«, d. h. unabhängig von den gegenstandskonstitutiven Bedingungen unserer sinnlich-geistigen Erkenntnisweise von Gegebenem, zu denken erlaubt. Nur so wird es möglich, sich von der Kausalität dieses Gegenstandes einen empirischen und einen bloß gedachten Begriff zu machen, ihm eine bedingte und eine unbedingte Form von Kausalität zuzusprechen. Nur so wird es möglich, einundderselben Weltbegebenheit 21
»Natur« im Sinne der transzendentalen Analytik verstanden.
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als Bedingtem Bedingungen zuzuordnen, die epistemisch und ontologisch auf unterschiedlichen Ebenen spielen. »Wenn Erscheinungen Dinge an sich selbst wären, mithin Raum und Zeit Formen des Daseins der Dinge an sich selbst: so würden die Bedingungen mit dem Bedingten jederzeit als Glieder zu einer und derselben Reihe gehören« (KrV B 563). Alsdann ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit, und die Bedingung derselben ist jederzeit nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten (KrV A 536 / B 564). »Ließe sich aber eine intelligibele Bedingung, die also nicht in die Reihe der Erscheinungen als ein Glied mit gehörte, zu einem Bedingten (in der Erscheinung) gedenken, ohne doch dadurch die Reihe empirischer Bedingungen im mindesten zu unterbrechen: so könnte eine solche als empirisch unbedingt zugelassen werden, so daß dadurch dem empirischen continuirlichen Regressus nirgend Abbruch geschähe« (KrV B 559 Anm.).22
c) Praktische Freiheit als Tatsache Diese antinaturalistische Figur des transzendentalen Idealismus und mit ihr die Möglichkeit einer natural unbedingten Form von Kausalität im Weltgeschehen ins Spiel zu bringen gibt nur der Mensch Anlaß. Denn nur er ist sich Dabei muß die Möglichkeit des »empirischen continuirlichen Regressus« mit der Indeterminiertheit der Kausalität menschlicher Willkür zusammen bestehen können. Kants indeterministisches Konzept menschlicher Willkür ist zweifelsfrei belegbar (Reflexion 4226; AA 17,465 f.): »Deswegen ist der Menschliche Wille zu keiner Art Handlungen aus sich selbst determinirt. Seine willkühr ist also eine zwar freye, aber unbestimmte Willkühr (die göttliche ist bestimmt). Das arbitrium brutum ist determinirt secundum rationes [intellectuales] sensitivas, das göttliche secundum intellectuales, das menschliche durch keines. Seine Handlungen hätten alle können nach der Vernunft geschehen. Daher ist er frey. Ist denn aber nicht ein determinirender Grund, wohl zwar nicht in der Willkühr des Menschen überhaupt, aber doch in den Umständen und Bedingungen? und wenn dieses nicht ist, woher geschehen denn die handlungen wirklich. Antwort: Alle stimuli der Sinnlichen Willkühr können das active des Menschen doch nicht zum passiven Machen. Die obere Willkühr entscheidet doch selbst; warum sie aber bisweilen auf die Seite der Sinnlichkeit entscheidet, bisweilen auf die der Vernunft, davon kan kein Gesetz gegeben werden, weil kein bestandig Gesetz beyder Krafte da ist.«Vgl. auch Reflexion 4227 (AA 17,466) mit dem Gedanken, daß die Menschen (wie Gott) »thatig determinirt« wären, wenn sie »völlig intellectual« wären, und (wie die Tiere) »passiv determinirt«, wenn sie »vollig sinnlich« wären. Doch sie sind als sinnliche Vernunftwesen weder das eine noch das andere. 22
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einesteils ein durch die Sinne zugängliches Naturphänomen, andererseits aber, als Wesen mit Verstandes- und Vernunftleistungen, ein bloß gedanklich faßbarer Gegenstand. Für Kant ist es vor allem das Vernunftvermögen, das von allen empirisch-bedingten, d. h. in ihrer Wirksamkeit von sinnlichen Eindrücken abhängigen Kräften des Menschen verschieden ist. Denn Vernunft »folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt, und nach denen sie sogar Handlungen für nothwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden, von allen aber gleichwohl voraussetzt, daß die Vernunft in Beziehung auf sie Causalität haben könne; denn ohne das würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten« (KrV A 548 / B 576). Ähnlich der Freiheit des Denkvermögens ist für Kant auch die Freiheit des Handelns in gewisser Weise ›durch Erfahrung‹ beweisbar (vgl. KrV A 802 / B 830).23 Wir wissen im Rahmen eines sprachlichen Selbstverständnisses, was es heißt, etwas bewußt willkürlich, gewissermaßen ohne Anlaß und Grund zu tun und können uns das Gemeinte problemlos durch eigenes Tun demonstrieren. »Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei, und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen, von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit sammt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin an« (KrV A 450 / B 478). Und wir wissen ferner, was es heißt, aufgrund einer praktischen Überlegung, nach Gesichtspunkten der Klugheit, der Moral, des Rechts oder auch der Ästhetik zu handeln; nicht dem Reiz einer Wahrnehmung zu erliegen und dem Druck einer Empfindung zu entsprechen, sondern unser Verhalten »durch Bewegursachen [zu bestimmen], welche nur von der Vernunft vorgestellt werden« (KrV A 802 / B 830). Solche Freiheit eignet uns nicht von Natur; wir müssen sie im Rahmen sprachlicher Kommunikation schrittweise erwerben und besitzen sie im Status der Mündigkeit, wenn wir in gewissem Maße zu Herren und Gestaltern unseres sinnlichen Begehrens geworden sind. Ob jemand unmittelbaren sinnlichen Antrieben ausgeliefert ist oder sein Verhalten nach Gesichtspunkten der Vernunft ausrichten kann, läßt sich, aus der Perspektive des sprachfähigen Teilnehmers und Betrachters des sprachlich vermittelten menschKant rechnet diesen Beweis der empirischen Psychologie zu vgl. AA 28.1,269: »Da wir aber in der empirischen Psychologie die practische Freiheit erwiesen haben […]«. 23
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lichen Lebens und Zusammenlebens empirisch feststellen und überprüfen. »Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung als eine von den Naturursachen, nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens« (KrV A 803 / B 831).
d) Transzendentale Freiheit als offenes theoretisches Problem Wenn wir praktische Freiheit durch Erfahrung erkennen und wenn, wie Kant erklärt und wir zu erläutern versuchten, praktische Freiheit transzendentale Freiheit ›voraussetzt‹ (vgl. KrV A 534 / B 562) bzw. nur ein Fall transzendentaler Freiheit ist, was hindert dann noch, als gesichert zu behaupten, daß wir auch in transzendentalem Sinne frei sind? Die Freiheit unserer sinnlich zwar affizierten, aber nicht necessitierten Willkür, die Möglichkeit, unser Wollen nach zielsetzenden und mittelberücksichtigenden Gesichtspunkten der Vernunft zum Handeln zu bestimmen, zeigt doch, daß wir in der Lage sind, »unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe« in der Erfahrungswelt »eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen« (vgl. KrV A 534 / B 562). Nun, sie zeigt das erste, aber nicht auch epistemisch gesichert das zweite. Sie beweist jedenfalls, daß wir mit Hilfe der Vernunft in der Lage sind, »durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden« (KrV B 830). Daß wir eine Wirksamkeit der Vernunft in der Bestimmung unseres Wollens und Handelns beanspruchen, bekundet sich am klarsten in den Imperativen, »welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben« (KrV A 547 / B 575). Doch diese kausale Funktion der Vernunft in der Vorgabe und Befolgung der Imperative und der Regulierung der Ausbildung und des Einsatzes unserer empirischen Kräfte beweist noch nicht unsere transzendentale Freiheit. »Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge« (KrV A 803 / B 831), das ist mit der durch besagte Erfahrung erkennbaren kausalen Funktion der Vernunft in der Natur nicht entschieden. Es ist dies einer der systematisch gewichtigsten Hinweise im Zusammenhang der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft. Was hat Kant mit ihm genau gemeint?
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Der Gedanke transzendentaler Freiheit fordert nach Kant »eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Causalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt« (KrV A 803 / B 831). Unsere Frage ist beantwortet, wenn wir diese Formel verstanden haben. Die »objective[n] Gesetze der Freiheit«, die unsere Vernunft uns für unser Handeln in der Welt vorgibt, und »welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht« (KrV A 802 / B 830), sind nach eigener Auskunft teils »pragmatische Gesetze des freien Verhaltens, zur Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke«, teils »reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten« (KrV A 800 / B 828). Wie uns dieser Passus eindeutig zu verstehen gibt, schließt die Möglichkeit beider Arten von Vernunftgesetzen unsere Fähigkeit ein, »eine Reihe von Erscheinungen anzufangen«. Doch im Blick auf die pragmatischen Gesetze der auf die eigene Glückseligkeit zielenden Klugheit kann von einer »Unabhängigkeit der Vernunft von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt« nicht uneingeschränkt die Rede sein. Zwar ist Glückseligkeit des Menschen ihrer Form nach eine Vernunftvorstellung. Doch als endliche und bedürftige sinnliche Vernunftwesen können wir gar nicht anders als auf unser Glück auszusein. Darin, daß wir uns unser Glück zum Lebensziel setzen, sind wir nicht souverän. Und die Inhalte der menschlichen Glücksidee sind wesentlich geprägt durch die Erfahrungen, die wir mit unserem Lebenstrieb und den Möglichkeiten des sinnlich Angenehmen und Unangenehmen machen. Das ist anders bei moralischen Gesetzen. Sie sind in Kants Verständnis nach Form und Inhalt »Producte der reinen Vernunft« (KrV A 800 / B 828). In ihrer Funktion der moralischen Gesetzgebung handelt menschliche Vernunft völlig unabhängig von den Ansprüchen der Sinnlichkeit. Gleichwohl könnte sie als moralisch-praktische Vernunft in anderer Weise empirisch bedingt sein. Es könnte sein, daß »die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung«, aber nicht »Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung« für uns sind und sein können (KrV A 813 / B 841). Es könnte sein, daß das moralische Gesetz in seiner Reinheit uns Menschen praktisch überfordert und von uns einen Heroismus verlangt, den wir nicht leisten können. Es könnte sein, daß Vernunft im Menschen ihre moralische Gesetzgebung mit einer Perspektive der Belohnung und Bestrafung (auch und gerade in Begriffen der Sinnlichkeit), also mit der Aussicht auf eigenes Glück
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oder Leid verbinden muß, um praktisch werden, um die sinnlich affizierte aber freie Willkür des Menschen zum entsprechenden moralischen Entschluß und Handeln bestimmen zu können. Genau dies könnte noch Kants Überzeugung in der Kritik der reinen Vernunft gewesen sein (vgl. KrV A 813 / B 841); jedenfalls ist es hier ein ernsthafter theoretischer Gedanke, im Unterschied zu den späteren moralphilosophischen Schriften, in denen der reinen Vernunft sowohl die Funktion der moralisch gesetzgebenden, als auch, in Verbindung mit dem durch sie gewirkten moralischen Gefühl der Achtung, die Rolle der das moralische Wollen und Handeln des Menschen notwendig und zureichend motivierenden Kraft zugewiesen wird.24 Die pragmatisch gebietende Vernunft ist in ihren »objektiven Gesetzen der Freiheit« nicht völlig unabhängig »von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt«. Und auch die kategorisch gebietende Vernunft könnte zur Möglichkeit der Befolgung ihrer objektiven Gesetze im Menschen einer von sinnlicher Erfahrung abhängigen subjektiven Belohnungs- und Bestrafungsperspektive bedürfen. Doch Kant hatte wohl noch einen anderen, einen tieferen Grund im Auge für seine These, daß transzendentale Freiheit im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft »ein Problem bleibt« und nicht als bewiesen gelten kann (KrV A 803 / B 831). Er besteht darin, daß die durch Erfahrung in Teilnehmerund Beobachterperspektive beweisbare praktische Freiheit, d. h. die Möglichkeit des Menschen, in der Welt nach Gesichtspunkten seiner Vernunft zu wirken, und mit ihr ihre theoretische Voraussetzung, transzendentale Freiheit, grundsätzlich im Zuge einer unwiderlegbaren metaphysischen Spekulation theoretisch überholt und in Frage gestellt werden kann, sei es in Richtung eines theologischen Fatalismus, sei es in Richtung eines verabsolutierten Naturalismus.25 Die Gedanken, nach denen wir unser Verhalten ausrichten, Es bleibt eine Crux der Interpretation, warum Kant in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die ursprüngliche Darstellung des Verhältnisses von gesetzgebender und die Gesetzesbefolgung sanktionierender Vernunft belassen und nicht der in der Grundlegungsschrift erreichten Position angeglichen hat. 25 Kant spricht davon, das fatum stoicum (in dem er die theologische und die naturalistische Seite des Determinismusgedankens verbunden weiß) sei weder beweisbar noch widerlegbar; wir können es nur im Praktischen nicht zugestehen. Das empirische Bewußtsein, »daß wir durch keine Ursache zu unseren Handlungen determinirt werden«, sei praktisch hinreichend, aber nicht spekulativ (Metaphysik L1 Heinze; AA 28.1,270). Weder christlicher Prädestinationslehre (die Kant nicht explizit benennt), noch stoischer 24
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einschließlich des Spontaneitätsbewußtseins in der Bildung der Gedanken und in der Bestimmung unseres Verhaltens nach Gedanken, könnten sich, wie Kant sich in der Kritik der praktischen Vernunft ausdrückt, dem Plan und der Einrichtung eines »obersten Meister[s] aller Kunstwerke« verdanken (KpV A 181), oder, wie Kant gelegentlich in Erwägung zieht, einem geheimen Mechanismus der Natur. Sehen wir von dem seit Platons Nomoi, aber auch zu Kants Zeit noch ernsthaft erwogenen Konzept des theologischen Fatalismus ab. Der zu Kants Zeit wie heute vertretene Naturalismus sucht nach empirischen Ursachen der Entwicklung und des Gebrauchs unserer Vernunft. Er unterstellt dabei, daß »das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen« wiederum Natur ist (KrV A 803 / B 831). Was sich aus der Teilnehmer- und Beobachterperspektive praktischer Freiheit als spontane Gestaltung von Natur nach Ideen und ihrer eigenständigen logisch-semantischen Ordnung darstellt, könnte aus einer sich darüber erhebenden externen Perspektive betrachtet sich als Ergebnis der Wirksamkeit von Kräften nach Gesetzen der Natur erweisen. Und die Teilnehmer- und Beobachterperspektive praktischer Freiheit theoretisch zu verlassen zugunsten einer externen, naturalistischen bzw. szientistischen Perspektive scheint keineswegs absurd zu sein, und zwar deshalb, weil praktische Freiheit im adäquaten Selbstverständnis transzendentale Freiheit voraussetzt, die »dem Naturgesetze, mithin aller Erfahrung, zuwider zu sein scheint« (KrV A 803 / B 831). Der erfolgreiche Versuch, die kausale Funktion unserer Vernunft in der Gestaltung der Natur seinerseits als Geschehen nach Gesetzen der Natur zu erweisen, würde praktische Freiheit in gewisser Weise aufheben: Sie würde ihrem internen Selbstverständnis aus der externen Perspektive den Charakter der Projektion und der Illusion verleihen: »weil wir, was geschieht, nur erklären können, indem wir es von einer Ursache nach Gesetzen der Natur ableiten; wobei wir jedoch die Willkür nicht als frei denken würden« (MST A 3 Anm. = AA 6,380 Anm. Hvh. v. Vf.).
Pronoia- und Heimarmenelehre, die beide der Spekulation zuzurechnen sind, können wir sinnvollerweise Einfluß auf unser praktisches Selbstverständnis gewähren (Reflexion 4223; AA 17,463): »Werde ich wohl um dieser vorherbestimung willen in ansehung der absichten des Lebens gleichgiltig seyn oder anders verfahren. Es ist ein anderes zu speculiren und practisch zu denken; ienes zum erklären, dieses zum handeln.«
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Das von Kant Gemeinte läßt sich am Beispiel eines heute verbreiteten philosophischen Verständnisses von Moralität illustrieren. Der australische Philosoph John Leslie Mackie skizziert und vertritt in seinem höchst einflußreichen Buch Ethics. Inventing Right and Wrong 26 den Gedanken einer evolutionistischen Erklärung der inzwischen verbreiteten Einstellung der Moralität mit den entsprechenden Vorstellungen von Tugend und Recht. Menschliche Gruppen, in denen diese Einstellungen mit ihren objektivistischen Projektionen von Werten und praktischen Gesetzen Wurzel faßten und sich über vererbte psychologische Neigungen oder gesellschaftlich vermittelte Traditionen verfestigten, setzen sich über die Jahrtausende im biologisch-sozialen Kampf ums Dasein durch.27 Das biologische Naturgesetz der Selektion wirkt hinter dem Rücken der sich moralisch verstehenden Akteure. Kant hält den metaphysischen Streit zwischen Vertretern transzendentaler Freiheit und konsequentem Naturalismus einerseits für »eine bloß speculative Frage, die wir, solange als unsere Absicht aufs Tun oder Lassen gerichtet ist, bei Seite setzen können« (KrV A 803 / B 831). Wir können und müssen im praktischen Alltag nach Gesichtspunkten der Klugheit, der Moralität und des Rechts handeln, als ob wir frei seien. Andererseits kann das offene spekulative Problem im Blick auf ein adäquates Selbstverständnis natürlicher Vernunftwesen auf Dauer nicht ungelöst bleiben. Solange der Naturalismus eine ernsthafte theoretische Option darstellt, leben wir in der Gefahr einer Schizophrenie der Vernunft, bleibt das adäquate praktische Selbstverständnis gefährdet.
5. Freiheit als Autonomie des Willens. Der Beweis transzendentaler Freiheit Kant äußert in der Vorrede seiner Kritik der praktischen Vernunft ganz unmißverständlich seinen Anspruch, mit diesem Werk das noch offene metaphysische Problem gelöst zu haben: Nunmehr stehe die objektive Realität unserer transzendentalen Freiheit fest und könne als bewiesen gelten; die Kritik der praktischen Vernunft unterziehe unser gesamtes praktisches Vermögen einer genauen Prüfung und ›tue dar‹, »daß es reine praktische Vernunft gebe« 26 27
Vgl. die Übersetzung: Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen. Vgl. a. a. O. engl. 11–115; dt. 139–144.
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(vgl. KpV A 3). Was da genau geleistet sein soll, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich und bereitet der Interpretation auch einige Schwierigkeit. Die selbstgestellte Aufgabe jedenfalls besteht in dem Nachweis, daß wir Menschen grundsätzlich in der Lage sind, allein nach Gesichtspunkten der Vernunft unser Wollen und Verhalten zu bestimmen.28 Sowohl hinsichtlich der (jenseits der Situationserfassung gelegenen) epistemischen Vorgabe und Begründung dessen, was wir tun sollen, als auch hinsichtlich der motivationalen Möglichkeit, unser tatsächliches Wollen und Handeln danach auszurichten, soll unsere Vernunft souverän und autonom sein, unabhängig von Bedingungen unserer Sinnlichkeit, von kognitiven und motivierenden Kräften, die in uns ›nach Gesetzen der Natur‹ wirken. Daß jemand tatsächlich etwas kann, beweist er nicht dadurch, daß er sagt, was er kann, sondern dadurch, daß er es, für sich selbst und für andere ersichtlich, tut. Das gilt auch für unsere Vernunft. »Denn wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich« (KpV A 3). Nur: Unserem Tun in der Welt sehen wir nicht zuverlässig an, ob in ihm reine Vernunft wirklich praktisch ist. Daß wir selbst oder andere in unserer Erfahrungswelt etwas nicht nur dem Urteil der Vernunft gemäß, sondern auch aus purer Vernunft, völlig unabhängig von empirisch gegebenen Motiven tun, das läßt sich nach Kant niemals mit hinreichender Bestimmtheit sagen. Die letzten Facetten der tatsächlichen Motivation, die »Tiefe seines eigenen Herzens« bleiben dem Menschen als einem sinnlichen Vernunftwesen verborgen.29 Der Beweis der objektiven Realität transzendentaler Freiheit durch die Tat kann also nicht, jedenfalls nicht in vollgültiger Weise in Form einer beispielhaften Handlung aus reiner Vernunft in der Erfahrungswelt erbracht werden. Die Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft macht denn auch klar, daß der eigentliche Beweis nicht über Beispiele zu erbringen, sondern daß die Vgl. KpV A 30: »Hier ist also die erste Frage: ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willens für sich allein zulange, oder ob sie nur als empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund desselben sein könne.« 29 Vgl. KpV A 81 f.; MST A,25 = AA 6,392: »Denn es ist dem Menschen nicht möglich so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzuschauen, daß er jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung völlig gewiß sein könnte; wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist.« 28
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Realität des Begriffs der Freiheit »durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist« (KpV V, 3). Mit dem apodiktischen Gesetz der praktischen Vernunft meint Kant ›den‹ kategorischen Imperativ, das Prinzip moralischer Gesetze und Weisungen, das die Maximen, unsere subjektiven Grundsätze des Handelns, der Bedingung unterwirft, ohne Selbstwiderspruch von allen vernünftigen Wesen bejaht und befolgt werden zu können. Von moralischen Gesetzen erklärt schon die Kritik der reinen Vernunft, sie wären »Producte der reinen Vernunft« (KrV A 800 / B 828). Gleichwohl bleibt die objektive Realität transzendentaler Freiheit dort noch ein offenes Problem, weil Kant (jedenfalls die Möglichkeit) in Rechnung stellte, daß dem Menschen »die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung« sein könnten (KrV A 813 / B 841). Kants Beweis, der das in der Kritik der reinen Vernunft noch offene Problem löst, kann nur in dem Nachweis zu suchen und zu finden sein, daß das allgemein bei mündigen Menschen unterstellte sittliche Bewußtsein nicht nur das moralische Gesetz als ein »Produkt reiner Vernunft« enthält, sondern daß es auch die Kraft reiner Vernunft belegt, im Menschen die ausschlaggebende Triebfeder des Vorsatzes und der Ausübung entsprechender Handlungen zu liefern. Nun betonen systematisch zentrale Stellen der Kritik der praktischen Vernunft, daß praktische Vernunft der theoretisch bloß denkbaren und empirisch nicht faßbaren transzendentalen Freiheit objektive Realität verschafft, indem sie sie »durch ein Factum bestätigt« (vgl. KpV A 9). Die Bedeutung, in der Kant hier von einem Faktum der Vernunft spricht, beschäftigt die Interpreten. Bezeichnet wird mit dieser Wendung eindeutig das Bewußtsein des moralischen Gesetzes. Das moralische Gesetz fordert von uns, alle subjektiven Handlungsgrundsätze auf die Bedingung einer möglichen allgemeinen Vernunftgesetzgebung einzuschränken. Was und wie es gebietet, hat nicht die Form der Zweckrationalität, entspricht nicht einer »Vorschrift, nach welcher eine Handlung geschehen soll, dadurch eine begehrte Wirkung möglich ist«, sondern ist »eine Regel, die blos den Willen in Ansehung der Form seiner Maximen« bestimmt; und es gebietet »als Gesetz unbedingt«, ohne »irgend einem äußeren Willen etwas zu entlehnen« (KpV A 55). Kant spricht von diesem Bewußtsein des moralischen Gesetzes als einem Faktum der Vernunft, weil es sich weder »aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs« erklären (KpV A 74), noch sich »aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem
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Bewußtsein der Freiheit […] herausvernünfteln« läßt, »sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt« (KpV A 56). Es ist also ein empirisch unerklärbares und theoretisch unableitbares Faktum. Doch nicht nur dies motiviert seine Rede von einem Faktum. Kant hat auch die ursprüngliche Bedeutung von ›Factum‹ im Sinne von Tat bzw. Ergebnis einer Handlung im Auge: Das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ist Ergebnis bzw. Ausdruck unserer praktisch werdenden, d. h. gesetzgebenden und das Wollen bestimmenden reinen Vernunft.30 Kant will demnach klargestellt wissen: Daß wir moralisch verpflichtet sind und daß das Grundgesetz unseres moralischen Verpflichtetseins die Gestalt des kategorischen Imperativs hat, kann durch keinerlei »Anstrengung der theoretischen, speculativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen […] werden« (KpV A 81). Vielmehr »ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, gesetzt daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben könnte« (ebd.). Das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ist der Anker, ist das fundamentum inconcussum der Kritik unseres gesamten praktischen Vernunftvermögens und aller mit ihm zusammenhängenden theoretischen Probleme. Eine Begründung der objektiven Realität des moralischen Gesetzes ist weder möglich noch nötig; daß wir moralisch verpflichtet sind und daß diese Verpflichtung die genannte Form hat, ist ›apodiktisch gewiß‹. Umgekehrt dienen Sinn und Geltung des moralischen Gesetzes zum Prinzip der Deduktion, d. h. zur Begründung der objektiven Realität transzendentaler Freiheit, da es nicht bloß deren Möglichkeit, »sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen« (ebd.). Das moralische Gesetz gebietet uns eine Distanzierung und Relativierung aller natural bedingten Neigungen; es verlangt ein Handeln in der Erfahrungswelt nach Maximen, die der Bedingung des Gesetzes des Wirkens vernünftiger Wesen überhaupt genügen. So gesehen ist das moralische Gesetz »in der That ein Gesetz der Causalität durch Freiheit und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur, so wie das metaphysische Gesetz der Begebenheiten in der Sinnenwelt ein Gesetz der Causalität der sinnlichen Natur war« (KpV A 82).
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Vgl. Willaschek: Praktische Vernunft, 177–183.
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Nun stellt das Bewußtsein des moralischen Gesetzes keine bloß theoretische, sondern auch und vor allem eine praktische Gewißheit dar. Es schließt seine praktische Anerkennung ein dahingehend, daß wir hier nicht nur um etwas objektiv Gültiges wissen, sondern daß wir dieses auch wollen, 31 daß wir jedenfalls wissen, daß der Vollzug des Gesetzes, durch das es das objektiv Gute gibt und wir selbst unbedingten Wert haben, der Letztgrund all unseres vernünftigen Wollens ist. Im Bewußtsein des moralischen Gesetzes erweist sich reine Vernunft demnach bereits in zweifacher Hinsicht als praktisch: Sie gibt unserem Begehren nicht nur ein Gesetz vor; sie bestimmt auch bereits durch die Anerkennung des Gesetzes in gewisser Weise unser Wollen. Nur weil letzteres der Fall ist, kann Kant in der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft davon sprechen, daß durch dieses Bewußtsein die objektive Realität der transzendentalen Freiheit (»durch die That«) bewiesen ist. Wir erweisen uns selbst als transzendental freie Subjekte im Bewußtsein der »Pflicht: welche eine moralische Nöthigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt constituirt« (MST A,46 = AA 6,405). Was Kant das Bewußtsein des moralischen Gesetzes nennt, ist nur dadurch möglich, daß man die Position der Moralität bereits inne hat, daß man, grundsätzlich jedenfalls, moralisch sein, sich als moralisches Subjekt verstehen und behandelt sehen und von allen Naturgegenständen und ihrer Form von Kausalität unterschieden wissen will. Die Frage ist, wie reine Vernunft sich im Bewußtsein des moralischen Gesetzes ›als ausübende Gewalt konstituiert‹. Wir Menschen sind sinnliche Vernunftwesen, die nicht schon dadurch, daß sie das moralische Gesetz anerkennen, als sinnliche Vernunftwesen auch diesem Gesetz entsprechend handeln. Was wir von Natur, nach Gesetzen der Natur, und nach Regeln der von Verstand und Vernunft überformten Natur Diese Anerkennung und dieses Wollen ist in dem, was Kant das »gemeine sittliche Bewußtsein« nennt, nicht total, sondern, wie die Religionsschrift erläutern wird, eingeschränkt, weil mit einem (erfahrungsgemäß und plausiblerweise bei allen Menschen als sinnlichen Vernunftwesen vorauszusetzenden) »Hang zum Bösen« verbunden. Wir sind, als Menschen, weder völlig gleichgültig gegenüber dem moralischen Gesetz, noch rebellieren wir auf satanische Weise gegen es; wir erkennen es an, aber nicht auf ungeteilte und durchdringende Weise; wir neigen zu einem Vorbehalt für Fälle ernsthafter Konflikte mit den Ansprüchen der Sinnlichkeit. Gegen diese (unausrottbare) Prädisposition hilft für die Praxis nur eine kontinuierliche Stärkung des moralischen Gefühls der Achtung vor dem Gesetz. 31
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faktisch sind (Kant spricht von der ›subjektiven‹ Seite unseres Wesens), stellt für die Wirksamkeit reiner praktischer Vernunft in der Welt hinsichtlich seiner natural bedingten Seite eine Einschränkung und ein Hindernis dar. Unsere sinnlich bedingte und kulturell überformte Natur hat ihre eigenen Ansprüche und Interessen; jedenfalls stimmt beim Menschen »die subjective Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objectiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst« überein (KpV A 141). Das Bewußtsein der Position der Moralität ist zwar Ausdruck eines Aktes reiner praktischer Vernunft, aber nicht eo ipso mit moralischem Handeln des vernünftigen Sinnenwesens in der Welt verbunden. »Die Anerkennung des moralischen Gesetzes […] ist das Bewußtsein einer Thätigkeit der praktischen Vernunft aus objectiven Gründen, die blos darum nicht ihre Wirkung in Handlungen äußert, weil subjective Ursachen (pathologische) sie hindern« (ebd.). Nun enthält das moralische Gesetz die Forderung, daß »der objective Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjectiv hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse« (KpV A 127). Das objektive moralische Gesetz muß also auch zum subjektiven Motiv, zur faktischen Triebfeder unseres Wirkens in der Welt werden, wenn sich in unserem Bewußtsein des moralischen Gesetzes reine Vernunft als ›ausübende Gewalt konstituiert‹. Nur wenn dies möglich ist, handelt es sich beim moralischen Gesetz um eine sinnvolle Vorstellung und bei seiner Anerkennung um einen sinnvollen Akt. Kants abschließende Aufgabe im Rahmen seines Beweises, daß ›reine Vernunft praktisch sei‹, besteht also darin, »sorgfältig zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe« (KpV A 128). Dabei ist selbstverständlich »die Verwahrung vor dem Empirism der praktischen Vernunft«, der »die Sittlichkeit in Gesinnungen […] mit der Wurzel ausrottet« (KpV A 126) sein zentrales Anliegen. Es geht um den Status und den Inhalt moralischer Gefühle, die das moralische Handeln sinnlicher Vernunftwesen motivieren. Der Empirismus sieht in ihnen die Aktualisierung natürlicher und kultivierbarer ›Gemüthsanlagen‹ und in ihnen als solchen auch die objektiven Bedingungen der Moralität (vgl. MST A 35 = AA 6,399). Für Kant dagegen erfüllen moralische Gefühle die Funktion einer subjektiven Triebfeder genuin moralischen Handelns nur, wenn sie »nicht empirischen Ursprungs«, sondern »durch einen intellectuellen Grund gewirkt« sind (KpV A 130).
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Moralisch sind wir und moralisch handeln wir nur, wenn wir nicht aus letztlich von der Natur vorgegebenen Motiven, sondern wenn wir um der Vernunft willen handeln. Andererseits wird menschliche Willkür auch und notwendigerweise durch lust-/unlustbesetzte Gefühle, die mit der Vorstellung der möglichen Handlung verbunden sind, zum Tun bestimmt (vgl. MST A 35 f. = AA 6,399). Kant findet nun im Gefühl der Achtung, der Achtung vor dem moralischen Gesetz und in ihm der Achtung vor Personen und ihrer Würde das Gefühl, über das reine Vernunft im Menschen als Sinnenwesen praktisch wird und werden kann. Die Vernunftposition der Moralität hat im Menschen als Sinnenwesen einen Gefühlsaspekt zur Folge, der sich als Gefühl der Achtung bekundet und als Kausalfaktor im empirischen Motivationsgeschehen sichtbar und wirksam wird. Zwar bedarf es einer naturalen Prädisposition, um Achtung empfinden zu können (vgl. MST A 35 = AA 6,399); Tiere besitzen sie erfahrungsgemäß nicht. Doch das Gefühl selbst, so wie Kant es in bemerkenswerter phänomenologischer Prägnanz analysiert, ist nicht ein naturales und kulturell überformtes, ein sinnlich bedingtes, ein pathologisches Phänomen, sondern »lediglich durch Vernunft bewirkt« (KpV A 135). Man muß schon die Position der Moralität innehaben, sich als moralisches Subjekt im Miteinander vernunftfähiger Wesen verstehen, um Achtung vor dem Gesetz als genuin moralisches Gefühl mit den entsprechenden emotiven Aspekten der moralischen Selbst- und Fremdschätzung, des Gewissens und der Nächstenliebe zu empfinden. Dieses Gefühl dient denn auch nicht, wie ›Empiristen der praktischen Vernunft‹ meinen, »zur Beurtheilung der Handlungen, oder wohl gar zur Gründung des objectiven Sittengesetzes selbst, sondern blos zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen« (ebd.). Das durch die Position der Moralität gegebene, mehr oder weniger ausgeprägte Gefühl der Achtung motiviert uns zur Kultur der moralischen Gefühle. Und diese Kultur vernunftbedingter emotiver Kräfte ist nötig, wenn sich das moralitätsfähige Subjekt in Konfliktsituationen mit entgegenstrebenden naturbedingten Neigungen praktisch bewähren soll. Umgekehrt bietet das Gefühl der Achtung für Kant aber auch die empirische Gewähr, daß wir im transzendentalen Sinne frei sind, daß wir als Menschen jedenfalls grundsätzlich in der Lage sind, alle nach Gesetzen der Natur vorhandenen Neigungen zugunsten dessen außer Kraft zu setzen, was das moralische Gesetz zu tun gebietet. »Vor einem niedrigen, bürgerlich gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem gewissen Maße, als ich mir von mir
Freiheit als Schlußstein eines Systems der reinen Vernunft
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selbst nicht bewußt bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht und den Kopf noch so hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu lassen. Warum das? Sein Beispiel hält mir ein Gesetz vor, das meinen Eigendünkel niederschlägt, wenn ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und dessen Befolgung, mithin die Thunlichkeit desselben, ich durch die That bewiesen vor mir sehe« (KpV A 136). Und selbst wenn mir weder an mir selbst noch an anderen ein schlagendes Beispiel der Realisierbarkeit des moralischen Gesetzes begegnet zu sein scheint, so macht uns das gefühlsbesetzte Bewußtsein dieses Gesetzes doch im Grundsätzlichen unmißverständlich klar, daß wir können, was wir sollen, daß wir im transzendentalen Sinne frei sind: Man frage, so Kant, einen Menschen, ob, »wenn sein Fürst ihm unter Androhung [der …] Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre« (KpV A 54).
Die Postulate der reinen praktischen Vernunft 1 von Friedo Ricken SJ
Die »unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst«, so heißt es in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, »sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit« (KrV B 7). Trotz des Verlustes, »den die speculative Vernunft in ihrem bisher eingebildeten Besitze erleiden muß, bleibt […] alles mit der allgemeinen menschlichen Angelegenheit, und dem Nutzen, den die Welt bisher aus den Lehren der reinen Vernunft zog, in demselben vortheilhaften Zustande, als es jemals war, und der Verlust betrifft nur das Monopol der Schulen, keineswegs aber das Interesse der Menschen« (KrV B XXXI f.). Die dogmatischen Beweise der Schulen für die Unsterblichkeit der Seele, die Freiheit des Willens und das Dasein Gottes hätten »wegen der Untauglichkeit des gemeinen Menschenverstandes zu so subtiler Speculation« (KrV B XXXII) auf die Überzeugung des Publikums nicht den mindesten Einfluß haben können. Das »bloß speculative Interesse der Vernunft« an diesen drei Gegenständen sei, so betont die transzendentale Methodenlehre, »nur sehr gering«. »Wenn demnach diese drei Cardinalsätze zum Wissen gar nicht nöthig sind und uns gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden: so wird ihre Wichtigkeit wohl eigentlich nur das Praktische angehen müssen« (KrV A 798–200 / B 826–828). Die Kritik der spekulativen Vernunft tastet die Überzeugung des gemeinen Menschenverstandes von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nicht nur nicht an; sie trägt vielmehr zu deren Ansehen bei, indem sie die Schulen belehrt, »sich keine höhere und ausgebreitetere Einsicht in einem Punkte anzumaßen, der die allgemeine menschliche Angelegenheit betrifft, als diejenige, zu der die große (für uns achtungswürdigste) Menge auch ebenso leicht gelangen kann« (KrV B XXXIII). In dem, was Menschen ohne Unterschied angeht, ist die Natur »keiner parteiischen Austheilung ihrer Gaben zu beschuldigen«, Eine frühere Fassung erschien in Höffe (Hrsg.): Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2002. 1
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und die höchste Philosophie kann es »in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur« nicht weiter bringen, »als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen« (KrV A 831 / B 859). Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind daher keine Wahrheiten, deren »alleinige[n] Kenner und Aufbewahrer« die Schulen sind, die dem Publikum nur den Gebrauch mitteilen. Vielmehr sollen die Schulen sich »auf die Cultur« der »allgemein faßlichen und in moralischer Absicht hinreichenden Beweisgründe allein einschränken« (KrV B XXXIII). Damit sind Ausgangspunkt und Aufgabe der Postulatenlehre genannt: Es geht um die ›Kultur‹ , d. h. um Klärung und Entfaltung allgemein menschlicher Einsichten. Für diese zu ›kultivierenden‹ Intuitionen des alltäglichen Bewußtseins finden wir bei Kant verschiedene Formulierungen. »Wäre kein Gott«, so heißt es in der Reflexion 6674 (AA 19,130), die wahrscheinlich in die zweite Hälfte der sechziger Jahre zu datieren ist, »so würden alle unsere Pflichten schwinden, weil eine Ungereimtheit im Ganzen wäre, nach welcher das Wohlbefinden nicht mit dem Wohlverhalten stimmete, und diese Ungereimtheit würde die andere entschuldigen. Ich soll gerecht gegen andere sein; aber wer sichert mir mein Recht?« »Sobald die Menschen über Recht und Unrecht zu reflectiren anfingen« führt die Kritik der Urtheilskraft aus (KU B 438), »in einer Zeit, wo sie über die Zweckmäßigkeit der Natur noch gleichgültig wegsahen […], mußte sich das Urtheil unvermeidlich einfinden: daß es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewaltthätig verhalten habe, wenn er gleich bis an sein Lebensende, wenigstens sichtbarlich, für seine Tugenden kein Glück, oder seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe. Es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen«. Nach der Vorrede zur ersten Auflage der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft kann es »der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme« (RGV BA VII = AA 6,5). Der Begriff von Gott ist nach der zweiten Kritik ein nicht zur Metaphysik, sondern »ein zur Moral gehöriger Begriff« (KpV A 249). Das ist in einem eine moralphilosophische und eine religionskritische These. Nur sie gewährleistet die sittliche Autonomie des Menschen und die Reinheit und Selbstlosigkeit der Religion. »Es ist nöthig«, so notiert Kant etwa im Jahr 1772, »die Sittlichkeit vor der Religion zu schiken, daß wir eine tugendhafte Seele Gott darbringen; wenn die Religion vor den Sitten vorhergeht, so ist die Religion
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ohne sentiment eine kalte Einschmeichelei und die Sitten eine observantz aus Noth ohne Gesinnung« (Reflexion 6753 ; AA 19,148). Jede historische Religion muß sich der Kritik durch die praktische Vernunft stellen. »Wenn man Gott vor der moralitaet erkenen will, so legt man ihm nicht moralische Vollkommenheiten bey. Daher kan religion böse Sitten hervorbringen oder sie gesetzlich indeterminirt lassen« (Reflexion 6499 [ca. 1764 –1766]; AA 19, 35). »Die Religion ist nicht Grund der Moral, sondern umgekehrt«, andernfalls würden wir nicht »die moralische bonitaet des Göttlichen Willens erkennen könen« (Reflexion 6759 [1772?] = AA 19,150).
1. Postulate und reiner praktischer Vernunftglaube Der Gedankengang, der zu den Postulaten führt, sei zunächst in seinen Grundlinien umrissen. Ausgangspunkt oder ratio cognoscendi ist das Bewußtsein des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft, »durch welches Vernunft unmittelbar den Willen bestimmt« (KpV A 238). Diese Willensbestimmung ist an keine theoretischen Voraussetzungen gebunden; das für sich selbst apodiktisch gewisse moralische Gesetz ist »keiner anderweitigen Unterstützung durch theoretische Meinung von der inneren Beschaffenheit der Dinge, der geheimen Abzweckung der Weltordnung, oder eines ihr vorstehenden Regierers bedürftig, um uns auf das vollkommenste zu unbedingt gesetzmäßigen Handlungen zu verbinden« (KpV A 257). Als vernünftiger Wille muß der durch das Sittengesetz bestimmte Wille jedoch davon ausgehen, daß die Befolgung des Sittengesetzes möglich ist. Er steht unter der unbedingten Forderung des Sittengesetzes, und er »fordert« seinerseits »diese nothwendige[n] Bedingungen der Befolgung seiner Vorschrift«. Wenn es dann anschließend heißt, die »Postulate sind […] Voraussetzungen in nothwendig praktischer Rücksicht« (KpV A 238), so ist von einer zweifachen Notwendigkeit die Rede: der unbedingten Verpflichtung durch das moralische Gesetz und den notwendigen Bedingungen seiner Befolgung. Die erste Kritik faßt den Gedankengang folgendermaßen zusammen (KrV A 633 f. / B 661 f.): »Da es praktische Gesetze giebt, die schlechthin nothwendig sind (die moralische), so muß, wenn diese irgend ein Dasein, als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft, nothwendig voraussetzen, dieses Dasein postulirt werden«. Postulieren bedeutet also fordern. Was nach der zweiten Kritik gefordert werden muß, ist die Möglichkeit des höchsten Guts (KpV A 205): »Ist also das höchste Gut
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nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, […] an sich falsch sein«. Von der Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz ist das notwendige Objekt eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens zu unterscheiden. Die Freiheit ist »die Bedingung des moralischen Gesetzes«; die »Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind aber nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes, sondern nur Bedingungen des nothwendigen Objects eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens« (KpV A 5 f.), d.h. des höchsten Guts. Die Postulate der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes stehen und fallen danach mit Kants Lehre vom höchsten Gut. Sie sind nur schlüssig, wenn es Kant gelingt zu zeigen, daß die »Beförderung des höchsten Guts […] ein a priori nothwendiges Object unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetz unzertrennlich zusammenhängt« (KpV A 205). Diese Frage muß zunächst offenbleiben; ich gehe auf sie bei der Interpretation des Postulats des Daseins Gottes ein. Bis dahin setze ich voraus, daß das moralische Gesetz verlangt, das höchste Gut zu befördern, und frage nach den Folgerungen, die Kant daraus zieht. Der Wille kann der unbedingten Forderung, das höchste Gut zu verwirklichen, nur unter der Voraussetzung nachkommen, daß die Vernunft das höchste Gut für möglich hält. Daß das höchste Gut möglich ist, ist aber eine theoretische Proposition und damit Gegenstand der theoretischen Vernunft. Sie setzt drei andere Propositionen voraus: daß die theoretischen Begriffe Freiheit, Unsterblichkeit, Seele und Gott, die reine Vernunftbegriffe ohne entsprechende Anschauung sind und daher nicht zur »Erkenntniß dieser Objecte« dienen können, dennoch »Objecte haben«. Die praktische Vernunft zwingt also die theoretische, die »objective Realität« (KpV A 243) von Freiheit, Unsterblichkeit und Gott anzunehmen, »weil praktische Vernunft die Existenz derselben zur Möglichkeit ihres und zwar praktisch schlechthin nothwendigen Objects, des höchsten Guts, unvermeidlich bedarf, und die theoretische dadurch berechtigt wird, sie vorauszusetzen« (KpV A 242). Wenige Zeilen vorher spricht Kant statt von der »Existenz« nur von der »Möglichkeit jener Objecte der reinen speculativen Vernunft«. Nach der Religionsschrift muß zu dem, was jedem Menschen zur Pflicht gemacht wird, »das Minimum der Erkenntniß (es ist möglich, daß ein Gott sei) subjectiv schon hinreichend sein« (RGV B 230 Anm. = AA 6,154 Anm.). Gemeint ist die reale, von der logischen, d. h. der Widerspruchsfreiheit unterschiedene Möglichkeit (KrV B XXVII Anm.).
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Die Kritik der reinen Vernunft bezeichnet die Idee als »die unentbehrliche Bedingung jedes praktischen Gebrauchs der Vernunft« (KrV A 328 / B 384). »Die Postulate«, so ergänzt und interpretiert die zweite Kritik, geben »den Ideen der speculativen Vernunft […] objective Realität und berechtigten sie zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßen könnte« (KpV A 238). Was bedeutet hier der Begriff der objektiven Realität? Wir können der Forderung der reinen praktischen Vernunft, das höchste Gut zu befördern, nur unter der Voraussetzung nachkommen, daß wir das höchste Gut für möglich halten. Die Annahmen, daß das höchste Gut möglich ist und damit die Annahmen der Existenz von Freiheit, Unsterblichkeit und Gott, sind folglich notwendige Voraussetzungen für unser Bemühen, das höchste Gut zu verwirklichen und damit ein in die Welt der Erscheinung hineinwirkender kausaler Faktor. Die Ideen der spekulativen Vernunft werden »immanent und constitutiv, indem sie Gründe der Möglichkeit sind, das nothwendige Object der reinen praktischen Vernunft (das höchste Gut) wirklich zu machen« (KpV A 244). Kant versteht unter einem »Postulat der reinen praktischen Vernunft […] einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz […], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetz unzertrennlich anhängt« (KpV A 220; vgl. A 22 f. Anm.). Bisher haben wir uns mit dem propositionalen Bestandteil dieses Satzes beschäftigt; wir haben gesehen, daß es sich um Existenzaussagen handelt: die Postulate nehmen an, »daß es solche Gegenstände [Freiheit, Unsterblichkeit, Gott] gebe« (KpV A 244). Wenden wir uns jetzt dem Akt des Fürwahrhaltens zu. Kant unterscheidet »drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen. Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjectiv, als objectiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjectiv zureichend und wird zugleich für objectiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjectiv als objectiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen« (KrV A 822 / B 850). Das Fürwahrhalten der Postulate ist »Glaube und zwar reiner Vernunftglaube […], weil blos reine Vernunft (sowohl ihrem theoretischen als praktischen Gebrauch nach) die Quelle ist, daraus er entspringt« (KpV A 227). Den Begriff des reinen Vernunftglaubens erläutert Kant, indem er die Postulate von Hypothesen unterscheidet. Beide entspringen einem Bedürfnis der reinen Vernunft. Die reine spekulative Vernunft hat das Bedürfnis, die Ordnung und Zweckmäßigkeit der Natur zu erklären, und sie nimmt deshalb eine Gottheit als Ursache an. Sie schließt damit auf eine hinreichende, aber
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nicht notwendige Bedingung. Die Erklärung der Zweckmäßigkeit der Natur durch eine Gottheit mag die beste unter den möglichen Hypothesen sein; wir können aber nicht wissen, ob sie die einzig mögliche Erklärung ist. Eine solche Hypothese kann daher »nicht weiter gebracht werden […] als zu dem Grade der für uns Menschen allervernünftigsten Meinung« (KpV A 256). Der physikotheologische Gottesbeweis kann daher keinen Glauben begründen. Die spekulative Vernunft hält eine Hypothese für wahr, weil sie ein Bedürfnis nach einer Erklärung hat. Das Fürwahrhalten eines Postulats kann kein Wissen sein, denn ein Postulat kann theoretisch nicht bewiesen werden; es handelt sich also um ein objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Wodurch wird es zu einem subjektiv zureichenden Fürwahrhalten, d.h. zu einem Glauben? Warum hat die reine Vernunft das Bedürfnis, die Postulate für wahr zu halten? Weil, so faßt die Definition die Antwort zusammen, ein Postulat »einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt« (KpV A 220). Der subjektive Grund des Fürwahrhaltens ergibt sich aus der Pflicht, mir das höchste Gut »zum Gegenstande meines Willens zu machen, um es nach allen Kräften zu befördern« (KpV A 257). Ich kann dieser Pflicht nur entsprechen, wenn ich die Möglichkeit des höchsten Guts voraussetze. Daß ich mir das höchste Gut zum Zweck mache, setzt also voraus, daß ich die Postulate für wahr halte. Der subjektive Grund des Fürwahrhaltens ist folglich der Gehorsam gegenüber dem moralischen Gesetz, das gebietet, das höchste Gut zu befördern. Das Bedürfnis, die Postulate für wahr zu halten, ergibt sich aus dem Willen, dem moralischen Gesetz zu gehorchen. Der reine Vernunftglaube ist subjektiv zureichend, weil »der subjective Effect dieses Gesetzes, nämlich die ihm angemessene und durch dasselbe auch nothwendige Gesinnung, das praktisch mögliche höchste Gut zu befördern«, ihn voraussetzt (KpV A 257; vgl. A 23 Anm.; A 226). Das Fürwahrhalten der Postulate ist deshalb nur bei dem subjektiv zureichend, der sich das höchste Gut zum Zweck gemacht hat. In der zweiten Kritik ist diese Folgerung nur angedeutet: Es ist »der Rechtschaffene«, der sagt: »ich will, daß ein Gott […] sei« (KpV A 258); der reine praktische Vernunftglaube ist »selbst aus der moralischen Gesinnung entsprungen« (KpV A 263). Dagegen hebt die erste Kritik ausdrücklich hervor, »daß sich dieser Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet. Gehn wir davon ab und nehmen einen, der in Ansehung sittlicher Gesetze gänzlich gleichgültig wäre, so wird die Frage, welche die Vernunft aufwirft, bloß eine Aufgabe für
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die Speculation, und kann alsdann zwar noch mit starken Gründen aus der Analogie, aber nicht mit solchen, denen sich die hartnäckigste Zweifelsucht ergeben müßte, unterstützt werden«. Es sei aber kein Mensch bei diesen Fragen frei von allem Interesse. Wem es an moralischer Gesinnung mangle, dem bleibe »genug übrig, um zu machen, daß er ein göttliches Dasein und eine Zukunft fürchte«. Denn dazu sei letztlich nur gefordert, daß die Unmöglichkeit von beidem sich nicht apodiktisch beweisen lasse (KrV A 829 f. / B 857 f.).
2. Das Dasein Gottes Die ›Deduction‹ des Postulats (KpV A 223–226) geht aus vom Begriff der Glückseligkeit. Sie ist »der Zustand eines vernünftigen Wesens, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht«. Sie beruht also auf der Übereinstimmung der Natur mit dem Wünschen und Wollen des Menschen und erfordert daher auch deren Übereinstimmung mit dem durch das moralische Gesetz bestimmten Willen. Das Handeln nach dem moralischen Gesetz kann diese Übereinstimmung jedoch nicht bewirken. Zum einen bestimmt die Natur nicht das moralische Gesetz, denn dieses gebietet »durch Bestimmungsgründe, die von der Natur und der Übereinstimmung derselben zu unserem Begehrungsvermögen […] ganz unabhängig sein sollen«. Zum anderen bestimmt das moralische Gesetz nicht die Natur, denn das sittlich handelnde Wesen »ist doch nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur selbst«. Dennoch wird in der praktischen Aufgabe der reinen Vernunft »ein solcher Zusammenhang als nothwendig postulirt: wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen. Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund […] der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit enthalte, postulirt«. Diese Ursache ist »ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d. i. Gott. Folglich ist das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes«. Schwierigkeiten für das Verständnis dieses Arguments bereiten vor allem die Termini ›Welt‹ und ›Natur‹. Werden sie in einer oder in verschiedenen Bedeutungen gebraucht? Als ersten Schritt versuche ich, den Begriff der besten Welt, mit der das höchste Gut identifiziert wird, zu klären.
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Die erste Kritik entwickelt den Begriff einer Welt, die »allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre«. Aufgrund der Freiheit der vernünftigen Wesen kann sie sein, und nach dem Sittengesetz soll sie sein. Diese »moralische Welt […] wird so fern bloß als intelligibele Welt gedacht, weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität […] abstrahirt wird«. Sie ist »also eine bloße, aber doch praktische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll« und daher objektive Realität hat (KrV A 808 / B 836). In dieser moralischen Welt ist die Sittlichkeit notwendig mit der proportionierten Glückseligkeit verbunden, »weil die durch sittliche Gesetze theils bewegte, theils restringirte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst unter der Leitung solcher Principien Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann thue, was er soll« (KrV A 809 f. / B 837 f.). Da dies jedoch nicht der Fall ist, kann die notwendige Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit »nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird« (KrV A 810 / B 838). Das Dasein Gottes wird hier nicht deswegen postuliert, weil »in dem moralischen Gesetze nicht der mindeste Grund zu einem nothwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionirten Glückseligkeit« (KpV A 224) ist, sondern weil nicht jeder tut, was er nach dem moralischen Gesetz tun sollte. Aber wie kann Kant dann auf Gott als »Ursache der Natur« schließen? Wie soll Gott als Ursache der Natur den Mangel ausgleichen, der sich daraus ergibt, daß nicht alle nach dem Sittengesetz handeln? Wird Gott als Ursache der Natur verstanden, so folgt daraus, daß der Mangel in der Welt der Natur behoben und die Glückseligkeit dort erreicht würde. Das wird wenige Zeilen später von Kant jedoch ausdrücklich bestritten: Die Sinnenwelt bietet uns die praktisch notwendige Verknüpfung der beiden Elemente des höchsten Guts nicht dar; also werden wir eine Welt, in der sie verbunden sind, »als eine für uns künftige Welt annehmen müssen« (KrV A 811 / B 839). Die Inkonsistenz läßt sich nur beheben, wenn wir einen zweifachen Naturbegriff annehmen. Es ist einmal die Natur, »die blos Object der Sinne ist« (KpV A 207). Dieser Begriff kann jedoch nicht gemeint sein, wenn es von der Glückseligkeit heißt, sie beruhe »auf der Übereinstimmung der Natur« (KpV A 224) mit der sittlichen Willensbestimmung des Menschen, denn diese
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Übereinstimmung kann in der Natur, die bloß Objekt der Sinne ist, »niemals anders als zufällig stattfinden« (KpV A 207); es kann also nur die Natur in einer noumenalen Welt sein. Der »besten Welt« (KpV A 226) entspricht in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten das »Reich der Zwecke«, das hier ausdrücklich als »mundus intelligibilis« (GMS BA 83 = AA 4,438) bezeichnet wird. Es ist die systematische Verknüpfung »der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag« (GMS BA 74 = AA 4,433). Kant nennt zwei Bedingungen, damit es zustande kommt: Der kategorische Imperativ müßte allgemein befolgt werden und »das Reich der Natur und die zweckmäßige Anordnung desselben« müßten mit dem vom Sittengesetz bestimmten Willen »zusammenstimmen« (GMS BA 84 = AA 4,438). Die allgemeine Befolgung des kategorischen Imperativs ist hier nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, damit alle Glieder den alle ihre eigenen Zwecke umfassenden Zweck der Glückseligkeit erreichen. Die Natur achtet nicht auf die Würdigkeit eines Menschen, glücklich zu sein, so daß durch sie, wie die Geschichte des Spinoza in der dritten Kritik zeigt, auch die Rechtschaffenen »allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes gleich den übrigen Thieren der Erde unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie ingesammt […] verschlingt« (KU B 428). Das moralische Gesetz verpflichtet die Menschen, sich wechselseitig den »Naturzweck, den alle Menschen haben, ihre eigene Glückseligkeit«, zum Zweck zu machen. »Denn das Subject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen […], soviel möglich, meine Zwecke sein« (GMS BA 69 = A 4,430). Dieses Gesetz gilt, obwohl das vernünftige Wesen nicht damit rechnen kann, daß in dieser Welt die beiden für die Erreichung des vorgeschriebenen Zwecks notwendigen Bedingungen, die allgemeine Befolgung und das Zusammenstimmen der Natur, jemals erfüllt sein werden (GMS BA 84 f. = AA 4,438 f.). Wenn es aber Pflicht ist, die der Würdigkeit entsprechende Glückseligkeit zu befördern, dann ergibt sich daraus für die reine Vernunft »nicht allein Befugniß, sondern auch die mit der Pflicht als Bedürfniß verbundene Nothwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen« (KpV A 226). In welcher Weise ist diese Notwendigkeit mit der Pflicht verbunden? Die erste Kritik referiert Leibniz’ Unterscheidung zwischen dem Reich der Gnade, d.h. dem Reich der Zwecke unter der Regierung des höchsten ursprünglichen Guts, und dem Reich der Natur, in dem die vernünftigen
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Wesen keinen anderen Erfolg ihres sittlichen Verhaltens erwarten »als nach dem Lauf der Natur unserer Sinnenwelt«, und sie folgert (KrV A 812 / B 840): »Sich also im Reiche der Gnaden zu sehen […], ist eine praktisch nothwendige Idee der Vernunft«. Die Annahme der noumenalen besten Welt ist also eine notwendige Voraussetzung (nicht die Triebfeder; vgl. KrV A 807 / B 835) für die Bestimmung des Willens durch das Sittengesetz. In der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift (RGV B III–XI = AA 6,3–6) ist dieser Zusammenhang näher entfaltet. Die Moral bedarf »keines materialen Bestimmungsgrundes der freien Willkür, das ist keines Zweckes« (RGV B IV f. = AA 6,3); ihre Gesetze verbinden durch die bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit. Dadurch ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß sie »eine nothwendige Beziehung« auf einen Zweck habe, »nämlich nicht auf den Grund, sondern auf die nothwendigen Folgen« der dem kategorischen Imperativ gemäßen Maximen. »Denn ohne alle Zweckbeziehung kann gar keine Willensbestimmung im Menschen stattfinden« (RGV BA VI = AA 6,4). Die Bestimmung der Willkür durch das moralische Gesetz hat, mittels der entsprechenden Handlung, eine Wirkung. Diese ist nicht der Zweck, um dessentwillen die Willkür sich bestimmt, sondern die Folge, die sich aus dieser Willensbestimmung ergibt. Nun genügt die Anweisung, wie sie zu wirken habe, der Willkür nicht; vielmehr stellt sie notwendig auch die Frage, wohin es führt, wenn sie nach dieser Anweisung handelt. Es »kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was denn bei diesem unserem Rechthandeln herauskomme, und worauf wir, gesetzt auch, wir hätten dieses nicht völlig in unserer Gewalt, doch als einen Zweck unser Thun und Lassen richten könnten, um damit wenigstens zusammen zu stimmen« (RGV B VII = AA 6,5). Es ist unser natürliches Bedürfnis, »zu allem unseren Thun und Lassen im ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken«. Dieser Endzweck, das höchste Gut, ist die notwendige und hinreichende Bedingung aller übrigen Zwecke, die wir uns setzen. Würde dieses Bedürfnis, sich einen Endzweck zu denken, nicht erfüllt, so wäre das »ein Hindernis der moralischen Entschließung«. Fassen wir diese Interpretation zusammen und fragen wir, ob sie dem Text der Deduktion in der zweiten Kritik gerecht wird. Das moralische Gesetz fordert die »Bewirkung des höchsten Guts in der Welt« (KpV A 219) oder »die Bearbeitung zu Hervorbringung und Beförderung des höchsten Guts in der Welt« (KpV A 226). Es verlangt also, in der Sprache der Metaphysik der Sit-
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ten, die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit zum Zweck zu machen (MST A 13 = AA 6,385). In der Sinnenwelt kann das Ziel dieser Forderung nicht erreicht werden, denn hier kann der Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit allenfalls zufällig sein (KpV A 207); »ein weites Grab« verschlingt »sie insgesammt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel)« (KU B 428). Die Pflicht beschränkt sich deshalb darauf, »das höchste Gut nach unserem größten Vermögen wirklich zu machen« (KpV A 259 Anm.). Die für den notwendigen Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit erforderliche Übereinstimmung des »Reichs der Natur mit dem Reiche der Sitten« (KpV A 262) ist nur in der noumenalen Welt möglich. Der Wille kann sich jedoch nur dann dazu bestimmen, das höchste Gut in der Sinnenwelt zu befördern, wenn er es für möglich hält; die nur als noumenale denkbare beste Welt ist daher eine notwendige praktische Idee. Nach dieser Interpretation führt das Argument zu Gott als Oberhaupt im Reich der Zwecke (GMS BA 85 = AA 4,439); Beweisziel der Deduktion der zweiten Kritik ist jedoch Gott als »die Ursache (folglich der Urheber) der Natur« (KpV A 226). Als solcher soll er, wozu das vernünftige Wesen in der Welt nicht imstande ist, den »nothwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionirten Glückseligkeit eines zur Welt als Theil gehörigen und daher von ihr abhängigen Wesens« bewirken (KpV A 224). Was bedeuten hier ›Natur‹ und ›Welt‹? In welcher Welt wird der Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit hergestellt? Die Rede von Gott als Urheber der Natur legt nahe, daß das Beweisziel dasselbe ist wie das der Gottesbeweise der theoretischen Philosophie und folglich die sichtbare Welt und Natur gemeint sind. Gott als Urheber der Natur bewirkt in dieser sichtbaren Welt die Übereinstimmung des Reichs der Sitten mit dem Reich der Natur. Er müßte also in die Naturordnung der Sinnenwelt eingreifen, um den Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit zu bewirken. Diese Annahme erscheint jedoch als absurd, denn es wird »immer bleiben«, daß auch der Rechtschaffene »durch die Natur« den Übeln der Krankheit und des Todes unterworfen ist (KU B 428). Was das Argument beweist, so der Einwand, ist das Dasein Gottes als Oberhaupt des Reichs der Zwecke oder der Gnade; dagegen behauptet Kant, es beweise wie die traditionellen Gottesbeweise das Dasein Gottes als Schöpfer der sichtbaren Welt. Gegen diesen Einwand läßt die Deduktion sich nur dadurch verteidigen, daß Kant in ihr die Termini ›Welt‹ und ›Natur‹, ohne das deutlich zu machen, in zweifacher Bedeutung gebraucht. Beweisziel des Arguments wäre dann,
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daß das »Naturreich« und das »Reich der Zwecke als unter einem Oberhaupte vereinigt gedacht« werden müssen (GMS BA 85 = AA 4,439). Das ergibt sich daraus, daß das Reich der Natur um des Reichs der Zwecke willen geschaffen wurde; der letzte Zweck Gottes in der Schöpfung ist das höchste Gut (KpV A 235). Zweck der sinnlichen Welt ist die noumenale Welt, in der Sittlichkeit und Natur übereinstimmen. Das höchste Gut, das in der sinnlichen Welt nach Kräften zu verwirklichen wir die Pflicht haben, ist nur in der noumenalen Welt möglich. Die kritische Aufhebung der Antinomie spricht von einer Natur, »die blos Object der Sinne ist« (KpV A 207 Hvh. v. Vf.); für die Lösung der Antinomie ist also offensichtlich eine übersinnliche Natur erforderlich. Die Deduktion schließt auf »das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesammten Natur« (KpV A 225 Hvh. v. Vf.); die gesamte Natur, die hier von der Natur unterschieden wird, könnte verstanden werden als die sinnliche und die noumenale Natur. Möglich wäre es auch, in der Phrase »die oberste Ursache der Natur, so fern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muß« (KpV A 226 f.), den mit »so fern« beginnenden Satz nicht nur auf die »oberste Ursache«, sondern auch auf »Natur« zu beziehen. Der Begriff des höchsten Guts eröffnet einen neuen Blickwinkel auf das moralische Gesetz: Es muß als göttliches Gebot gesehen werden, ohne daß dadurch die sittliche Autonomie aufgehoben wird. Durch das von ihm vorgeschriebene Objekt führt es »zur Religion, d. i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote« (KpV A 233). Das moralische Gesetz schreibt mir einen Zweck vor, den ich aus eigener Kraft nicht erreichen kann. Ich muß daher ein Wesen annehmen, durch das erreicht werden kann, was mir unbedingt vorgeschrieben ist. Daß dieses Wesen den durch das moralische Gesetz vorgeschriebenen Zweck verwirklicht, setzt voraus, daß das moralische Gesetz vorschreibt, was dieses höchste Wesen will. Es würde den Zweck nicht verwirklichen, wenn es nicht sein eigener Zweck wäre und wenn das Gebot, diesen Zweck zu verwirklichen, nicht Ausdruck seines Willens wäre. Das Sittengesetz läßt also den letzten Zweck Gottes in der Schöpfung der Welt erkennen. Es ist der Zweck, den das Sittengesetz uns vorschreibt und der nur durch das höchste Wesen verwirklicht werden kann. Wenn »man nach dem letzten Zwecke Gottes in Schöpfung der Welt frägt«, muß man »das höchste Gut nennen« (KpV A 235).
Die Postulate der reinen praktischen Vernunft
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3. Die Unsterblichkeit der Seele Ein Postulat fordert, daß eine zur Erfüllung einer Vorschrift der reinen praktischen Vernunft notwendige Bedingung erfüllt ist. Wie lautet die Vorschrift, aus welcher sich das Postulat der Unsterblichkeit der Seele ergibt? Kant gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Nach der Vorrede ist es, wie beim Postulat des Daseins Gottes, die Forderung, das höchste Gut zu verwirklichen: »Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind […] nur Bedingungen des nothwendigen Objects« eines durch das Sittengesetz bestimmten Willens (KpV A 5 f.). Davon geht Kant auch in der Deduktion des Postulats aus: »Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt ist das nothwendige Object eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens. In diesem aber ist die völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze die oberste Bedingung des höchsten Guts. Sie muß also eben sowohl möglich sein als ihr Object, weil sie in demselben Gebote dieses zu befördern enthalten ist« (KpV A 219 f.). Dagegen heißt es später bei der Aufzählung der Postulate: Das Postulat der Unsterblichkeit »fließt aus der praktisch nothwendigen Bedingung der Angemessenheit der Dauer zur Vollständigkeit der Erfüllung des moralischen Gesetzes« (KpV A 238). Hier ist die Forderung, das höchste Gut zu verwirklichen, für die Deduktion des Postulats nicht vorausgesetzt; die Unsterblichkeit ist unmittelbar vielmehr lediglich notwendige Bedingung für die vollständige Erfüllung des moralischen Gesetzes; diese Forderung ist eine notwendige und hinreichende Prämisse für die Deduktion des Postulats. Eine mittelbare Beziehung zum höchsten Gut wird damit jedoch nicht bestritten: Die Unsterblichkeit ist notwendige Bedingung für die vollständige Erfüllung des moralischen Gesetzes, und diese ist wiederum notwendige Bedingung des höchsten Guts. Aber die vollständige Erfüllung des moralischen Gesetzes wäre auch dann gefordert, wenn der Wille kein notwendiges Objekt hätte. Das Postulat der Unsterblichkeit setzt daher lediglich die Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz voraus; es ist unabhängig von der Lehre vom höchsten Gut. Die oben zitierten einleitenden Sätze der Deduktion (KpV A 219 f.) wollen das Postulat der Unsterblichkeit aus der Forderung ableiten, das höchste Gut in der Welt zu bewirken. Welcher Begriff der Welt liegt hier vor? Das höchste Gut soll in der Sinnenwelt verwirklicht werden. Diese Forderung führt jedoch nicht zum Postulat der Unsterblichkeit; sie ist eine Pflicht, welche die sterblichen Menschen nach Kräften erfüllen sollen. Der Begriff der Welt muß daher
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auch die noumenale Welt umfassen. Zur »Bewirkung des höchsten Guts in der Welt« ist nicht nur die Verwirklichung der vom Sittengesetz vorgeschriebenen Zwecke (MS T A 13 = AA 6,385 f.), sondern ebenso der ins Unendliche fortgehende Progressus zur Heiligkeit notwendig. Tatsächlicher Ausgangspunkt der Deduktion ist die praktisch notwendige Forderung der Heiligkeit, die nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus erfüllt werden kann. Es »ist nach den Principien der reinen praktischen Vernunft nothwendig, eine solche praktische Fortschreitung als das reale Object unseres Willens anzunehmen« (KpV A 220). Unabhängig von der Lehre vom höchsten Gut findet der Gedanke sich bereits im Kapitel über die Triebfedern. Das Ideal der Heiligkeit ist von keinem Geschöpfe erreichbar und »dennoch das Urbild […], welchem wir uns zu näheren und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen Progressus gleich zu werden streben sollen« (KpV A 149). »Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter Voraussetzung einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich« (KpV A 220). Das Argument setzt eine moralische Teleologie voraus; es geht davon aus, daß es die Bestimmung des Menschen ist, das moralische Gesetz vollkommen zu erfüllen. Kant spricht von der »moralischen Bestimmung unserer Natur« (KpV A 220); sie wird uns im Faktum der Vernunft bewußt. Diese unsere moralische Bestimmung und die Heiligkeit des moralischen Gesetzes sind nur durch das Postulat der Unsterblichkeit miteinander vereinbar. Ohne dieses Postulat stünden wir vor folgenden Möglichkeiten: Wir müßten das moralische Gesetz für unerfüllbar halten. Damit würden wir auf unsere moralische Bestimmung verzichten; das moralische Gesetz würde ein unerfüllbares und damit ein sinnloses Gesetz. Oder wir müßten die Heiligkeit des moralischen Gesetzes bestreiten. Das moralische Gesetz würde für uns um den Preis erfüllbar, daß wir es »nachsichtlich (indulgent) und so unserer Behaglichkeit angemessen« machen. Oder wir würden der moralischen Schwärmerei verfallen und auf den »völligen Erwerb der Heiligkeit des Willens« (KpV A 221) hoffen. Das wäre Selbstbetrug, Arroganz und Eigendünkel; wir würden die Grenzen, welche die reine praktische Vernunft uns setzt, überschreiten (KpV A 153) und vergessen, daß die sittliche Stufe, auf welcher der Mensch steht, nicht Heiligkeit, sondern »Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe« (KpV A 151) und Achtung fürs moralische Gesetz ist. Alle diese Möglichkeiten würden das »unaufhörliche Streben« (KpV A 221),
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das strenge, unnachsichtige, aber dennoch wahre Sittengesetz zu befolgen, verhindern. Der unendliche Progressus darf nicht als Prozeß in der Zeit gedacht werden. Die ununterbrochene Fortdauer des Menschen ist eine »mit der Zeit ganz unvergleichliche Größe (duratio noumenon)«, von der wir uns nur einen negativen Begriff machen können. Wesen in dieser übersinnlichen Fortdauer stehen nicht unter Zeitbedingungen und sind daher kein Gegenstand möglicher Erfahrung; ihr Zustand ist »keiner andern als moralischer Bestimmung ihrer Beschaffenheit fähig« (EaD A 495 ff. = AA 8,327). Der Begriff der unendlichen Dauer ist ein ausschließlich negativer Begriff, der nur besagt, »daß der Vernunft in (praktischer) Absicht auf den Endzweck auf dem Wege ständiger Veränderungen nie Genüge gethan werden kann« (EaD A 510 = AA 8, 334).
4. Reiner praktischer Vernunftglaube und theoretische Philosophie Der Vernunftglaube ist insofern auf die theoretische Philosophie angewiesen, als diese zeigen muß, daß die Gegenstände, deren Dasein er postuliert, sich denken lassen. Um einen Gegenstand denken zu können, brauche ich einen Begriff, und es muß ohne Widerspruch möglich sein, die objektive Gültigkeit dieses Begriffs zu behaupten. Um die Ideen denken zu können, brauche ich Begriffe, die nicht aus der Erfahrung gewonnen und in ihrer Anwendung nicht auf die Erfahrung beschränkt sind, sondern auch auf Gegenstände jenseits der möglichen Erfahrung angewendet werden können. Diese Begriffe sind die Kategorien. Der praktische Vernunftglaube setzt daher die Deduktion der Kategorien in der Kritik reinen Vernunft voraus, die zeigt, »daß sie nicht empirischen Ursprungs sind, sondern a priori im reinen Verstand ihren Sitz und Quelle haben« und »daß sie auf Gegenstände überhaupt, unabhängig von ihrer Anschauung, bezogen werden« (KpV A 254 f.). Die Dialektik der ersten Kritik hatte gezeigt, daß die Begriffe von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit keinen Widerspruch enthalten und diese Gegenstände folglich logisch möglich sind (KrV B XXVI–XXIX); es sind »(transscendente) Gedanken, in denen nichts Unmögliches ist« (KpV A 243). Durch das Gesetz der reinen praktischen Vernunft erhalten diese Begriffe objektive Realität, ohne daß dadurch diese Objekte erkannt würden, weil dazu den Begriffen eine Anschauung entsprechen müßte. Die Postulate sind daher keine synthetischen Urteile der theoretischen Vernunft, denn diese setzen eine
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Anschauung voraus. Die »theoretische Erkenntniß der reinen Vernunft« bekommt durch die Postulate einen »Zuwachs«, der aber lediglich darin besteht, daß jene »blos denkbare[n]« Begriffe »jetzt assertorisch für solche erklärt werden, denen wirklich Objecte zukommen« (KpV A 242), eine Behauptung, zu welcher die reine praktische die reine theoretische Vernunft zwingt. Die Erweiterung der theoretischen Vernunft ist also keine Erweiterung der Spekulation. Wohl aber kann die theoretische Vernunft von diesem Zuwachs einen negativen, religionskritischen Gebrauch machen, um den Anthropomorphismus, der sich auf eine vermeintliche Erfahrung, und den Fanatismus, der sich auf eine übersinnliche Anschauung beruft, zu bekämpfen (KpV A 244 f.). »Die Einschränkung der Vernunft, in Ansehung aller unserer Ideen vom Übersinnlichen, auf die Bedingungen ihres praktischen Gebrauchs«, so heißt es in der Kritik der Urtheilskraft, »hat, was die Idee von Gott betrifft, den unverkennbaren Nutzen: daß sie verhütet, daß Theologie sich nicht in Theosophie (in vernunftverwirrende überschwengliche Begriffe) versteige, oder zur Dämonologie (einer anthropomorphistischen Vorstellungsart des höchsten Wesens) herabsinke; daß Religion nicht in Theurgie (ein schwärmerischer Wahn, von anderen übersinnlichen Wesen Gefühl und auf sie wiederum Einfluß haben zu können), oder in Idololatrie (ein abergläubischer Wahn, dem höchsten Wesen sich durch andere Mittel, als durch eine moralische Gesinnung, wohlgefällig machen zu können) gerathe« (KU B 439 f.). Die oberste Ursache, so zeigt die Deduktion des Postulats des Daseins Gottes, muß Grund der Übereinstimmung der Natur mit dem obersten Bestimmungsgrund des Willens vernünftiger Wesen sein, d. h. sie muß eine »der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität« haben. Daraus folgt, daß sie ein Wesen ist, das »durch Verstand und Willen Ursache […] der Natur ist« (KpV A 225 f.). Dieser Gottesbegriff wird später eingeschränkt: Die Prädikate, durch die wir Gott denken, sind »Verstand und Wille, und zwar so im Verhältnisse gegen einander betrachtet, als sie im moralischen Gesetze gedacht werden müssen, also nur so weit von ihnen ein reiner praktischer Gebrauch gemacht wird« (KpV A 246 f.). Obwohl diese Begriffe von unserer eigenen Natur hergenommen sind, handelt es sich nicht um einen Anthropomorphismus oder um eine überschwengliche Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände, weil sie von allen anderen Eigenschaften des menschlichen Verstandes und Willens abstrahieren und nur so viel übrig lassen, »als gerade zur Möglichkeit erforderlich ist, sich ein moralisch Gesetz zu denken, mithin zwar ein Erkenntniß Gottes, aber nur in praktischer Beziehung« (KpV A 247).
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Der Gottesbegriff ist folglich ein zur Moral und nicht zur Naturphilosophie und Metaphysik gehöriger Begriff. Kant wiederholt die entscheidenden Schritte seiner Kritik am ontologischen (KrV A 592–603 / B 620–631) und am physikotheologischen (KrV A 620–630 / B 648–658) Gottesbeweis (KpV A 249– 252). Weil jedes Existenzurteil synthetisch ist, kann die Existenz Gottes nicht aus dem bloßen Begriff des vollkommensten Wesens bewiesen werden. Der Schluß aus der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welt gelangt nur zu einem weisen, gütigen, mächtigen usw. Urheber. Der Begriff von Gott bleibt auf diesem Wege »immer ein nicht genau bestimmter Begriff von der Vollkommenheit des ersten Wesens, um ihn dem Begriffe einer Gottheit für angemessen zu halten« (KpV A 252). Um zu einem allwissenden, allgütigen, allmächtigen Wesen usw. zu führen, bedarf er einer Ergänzung. Die einzige für die spekulative Vernunft mögliche ist der bereits widerlegte ontologische Beweis. Schlüssig wird der physikotheologische Beweis jedoch, wenn wir ihn durch den moralischen ergänzen. Die Vernunft »setzt einen persönlichen Wert, den der Mensch sich allein geben kann, als Bedingung, unter welcher allein er und sein Dasein Endzweck sein kann, voraus« (KU B 471). »Auch stimmt damit das gemeinste Urtheil der gesunden Menschenvernunft vollkommen zusammen: nämlich daß der Mensch nur als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung sein könne« (KU B 412). Als Argument der spekulativen Vernunft, das ist Kants Auffassung, überzeugt der teleologische Gottesbeweis nicht; die Einwände, welche die erste Kritik gegen ihn vorbringt, bleiben für Kant trotz aller Achtung, die er diesem Beweis entgegenbringt, gültig. Seine Überzeugungskraft erhält das teleologische Argument dadurch, daß »sich unvermerkt der jedem Menschen beiwohnende und ihn so innigst bewegende moralische Beweisgrund in den Schluß mit ein[mischt …] und also jenes Argument, in Ansehung des Mangelhaften, welches ihm noch anhängt, willkürlich ergänzt« (KU B 472). Die Überzeugung wird ausschließlich durch den moralischen Beweisgrund hervorgebracht; das teleologische Argument hat lediglich eine propädeutische Funktion; es leitet »das Gemüth in der Weltbetrachtung auf den Weg der Zwecke, dadurch aber auf einen verständigen Welturheber« (KU B 472). Die Betrachtung der Zweckmäßigkeit und Ordnung der Natur lenkt die Aufmerksamkeit auf eine zwecksetzende Ursache und macht den Menschen so empfänglicher für das moralische Argument; indem die Zwecke der Natur als Analoga der sittlichen Zwecke gesehen werden, erfährt der moralische Beweisgrund eine Bestätigung. Aber dem gemeinen Menschenverstand fällt es schwer, diese beiden Argumente voneinander zu unterscheiden.
Le primat de la raison pure pratique Das Primat der reinen praktischen Vernunft von Emmanuel Levinas (eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Jakub Sirovátka)
i. einleitung 1. Einführende Bemerkungen Der folgende, erstmals im französischen Original und in deutscher Übersetzung präsentierte Artikel von Emmanuel Levinas stellt in dessen Werk eine Ausnahme dar. Es handelt sich wohl um die einzige ausführlichere zusammenhängende Stellungnahme des Autors zum System der Philosophie Kants mit Schwerpunkt auf der Levinas besonders nahen praktischen Philosophie. Daß Levinas das Thema des Primats der praktischen reinen Vernunft bearbeitet hat, überrascht nicht sonderlich, da seine eigene denkerische Bemühung der Ethik als der ersten Philosophie galt:1 »La morale n’est pas une branche de la philosophie, mais la philosophie première«.2 Levinas unterstreicht – im Als einer der wenigen Interpreten Levinas’ (und zwar schon sehr früh) hat Stephan Strasser gesehen, daß beide Denker – Kant und Levinas – in ihrer Grundausrichtung vom Primat der praktischen Vernunft beseelt sind. Vgl. Strasser: Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Levinas’ Philosophie, 325: »Worin besteht dann ›der Zug‹ aus Kants Denkwelt, mit dem sich Levinas vollständig identifizieren kann? Er fällt mit der Gesamttendenz zusammen, die die ersten beiden Kritiken beseelt: dem Primat der praktischen Vernunft in Bezug auf die theoretische Vernunft.« 2 Totalité et Infini 281. Die Werke von Levinas werden im folgenden nach den geläufigen Siglen zitiert. Totalité et Infini: TI; deutsche Zitate nach Totalität und Unendlichkeit; Stellennachweise nach TI, da die Originalpaginierung in der deutschen Übersetzung mitaufgeführt ist. Dieselbe Zitierweise gilt für Autrement qu’être ou au-delà de l’essence: AQ (dt. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht); De Dieu qui vient à l’idée: DD (dt. Wenn Gott ins Denken einfällt); En découvrant l’existence avec Husserl 1
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Geiste der praktischen Philosophie Kants (TI, X): »Die Moral erhebt sich gegen die Politik, sie geht über die Klugheit mit ihren Funktionen und über die Regeln des Schönen hinaus; sie erhebt Anspruch auf Unbedingtheit und Universalität.« Für Levinas geht die Ethik – die praktische Philosophie par excellence – der Ontologie voraus. Und Kant ist für ihn einer der wenigen, der auf Bedeutungen jenseits der Ontologie hingewiesen hat. Das Herausstellen des Primats der Ethik wird als eines der Ziele von Totalité et Infini genannt. Laut Levinas ist es eines »der Ziele des vorliegenden Werkes […], diesen Primat des Ethischen, also der Beziehung von Mensch zu Mensch – der Bedeutung, der Unterweisung, der Gerechtigkeit –, herauszustellen, den Vorrang einer irreduziblen Struktur zu erweisen, auf die sich alle anderen stützen« (TI, 51).3 Explizite Äußerungen von Levinas zu Kant finden sich über sein ganzes Werk verstreut und fallen meistens positiv aus, mitunter aber auch zwiespältig.4 Kant wird zusammen mit Platon, Hegel, Bergson und Heidegger unter die fünf ›unentbehrlichen‹ Philosophen gezählt.5 Kants Primat der praktischen Vernunft kommt zudem in der Aufzählung der »Gipfel der Philosophie« vor, in denen die abendländische Philosophie laut Levinas »erwacht ist«, um festzustellen, daß neben dem Streben nach Wissen auch die Infragestellung des Selben durch den Anderen zu ihrer Sache gehört (ZU, 115 f.): »das Jenseits des Seins bei Platon; das Eindringen der wirkenden Kraft des Intellekts durch die Tür bei Aristoteles; die Idee Gottes in uns, die unsere endlichen Kräfte et Heidegger: DEHH (dt. Die Spur des Anderen) und Humanisme de l’autre homme: HAH (dt. Humanismus des anderen Menschen). Alle weiteren Siglen: Dieu, la mort et le temps: DMT/Gott, der Tod und die Zeit: GTZ; Entre nous: EN/Zwischen uns: ZU; Éthique et Infini: EI. 3 »L’établissement de ce primat de l’éthique, c’est-à-dire de la relation d’homme à homme – signification, enseignement et justice –, primat d’une structure irréductible à laquelle s’appuient toutes les autres […] est l’un des buts du présent ouvrage.« Vgl. auch TI, 175. 4 Es ist daher unzutreffend zu behaupten, daß die Anspielungen Levinas’ auf die Philosophie Kants in einem »negativen Ton« gehalten seien. Vgl. Feron: Intérêt et désintéressement de la raison. Levinas et Kant, 83: »Mais surtout, les allusions de Levinas à Kant ont pris, à l’époque de Totalité et Infini du moins, une tonalité presque systématiquement négative.« Trotzdem sieht Feron starke inhaltliche Parallelen in der Philosophie von Kant und Levinas, die er anhand des Begriffspaares ›intérêt de la raison/ désintéressement‹ aufzeigt. 5 Vgl. u. a. EI, 27 f.
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übersteigt, die Übersteigerung der theoretischen Vernunft in praktische Vernunft bei Kant; das Streben nach Anerkennung durch den Anderen bei Hegel selbst; die Erneuerung der gelebten Zeit (durée) bei Bergson; die Nüchternheit der klaren Vernunft bei Heidegger.«6 Im Bezug auf seine Ausführungen über die Beziehung zum Anderen, der durch die Epiphanie seines Antlitzes einen ethischen Anspruch, eine ethische Anklage an das Subjekt richtet, bekennt Levinas, sich der praktischen Philosophie Kants besonders nahe zu fühlen (ZU, 23): »Was wir uns diesbezüglich vorstellen, scheint uns schon von Kants praktischer Philosophie angedeutet, der wir uns besonders nahe fühlen.«7 In seinem zweiten Hautwerk Autrement qu’être ou au-delà de l’essence würdigt Levinas die Philosophie Kants als eine, »die für das Menschliche einen Sinn findet, ohne ihn durch die Ontologie zu bemessen, einen Sinn außerhalb der Frage ›Wie verhält es sich mit?‹, die man gerne für vorgängig hält, außerhalb der Unsterblichkeit und des Todes, an denen die Ontologien sich aufhalten. Daß weder die Unsterblichkeit noch die Theologie den kategorischen Imperativ zu bestimmen vermögen, darin liegt das Neue dieser kopernikanischen Wende: der Sinn bemißt sich nicht durch das Sein oder das Nichtsein, im Gegenteil, das Sein bestimmt sich vom Sinn her.«8 Diese Würdigung steht im scheinbaren Widerspruch zu einer anderen Stelle in demselben Werk, wo die Philosophie Kants als die Grundlage der Vgl. ebenfalls in Wenn Gott ins Denken einfällt, 166. Eine weitere positive Bezugnahme auf Kants Denken im Zusammenhang des Gottdenkens jenseits der Ontologie wird als Frage formuliert (GTZ, 217): »Gott existiere eminent, auf eine höchste Weise, eine Höhe über aller Höhe bedeutend. Aber untersteht diese Höhe noch der Ontologie? Stellt sie keinen Bruch mit der Immanenz dar? Ist die Modalität der Höhe nicht dem Himmel entliehen, der sich über unseren Köpfen ausbreitet? ›Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir‹, sagt diese Kantische Formulierung nicht das Nicht-Thematisierbare?« 7 EN, 22: »Ce que nous en entrevoyons nous semble cependant suggéré par la philosophie pratique de Kant dont nous nous sentons particulièrement près.« 8 AQ, 166: » […] kantisme, qui trouve un sens à l’humain sans le mesurer par l’ontologie et en dehors de la question ›qu’en est-il de?‹ qu’on voudrait préalable, en dehors de l’immortalité et de la mort auxquelles achoppent les ontologies. Le fait que l’immortalité et la théologie ne sauraient déterminer l’impératif catégorique, signifie la nouveauté de la révolution copernicienne: le sens qui ne se mesure pas par l’être ou le ne pas être, l’être se déterminant, au contraire, à partir du sens.« Eine nahezu wörtliche Wiederholung dieser Passage befindet sich auch im HAH, 82. Vgl. auch Transcendance et intelligibilité, 19 f.: in der ›doctrine du primat de la raison pratique‹ komme eine ›intrigue spirituelle tout autre que la gnose‹ zum Vorschein. 6
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Philosophie qua Ontologie bezeichnet wird (AQ, 226): »Le kantisme est la base de la philosophie, si la philosophie est ontologie.« Dieser Widerspruch ist jedoch tatsächlich nur scheinbar, denn Levinas bezieht sich – und zwar beides mal positiv – auf die Philosophie Kants, einerseits auf die praktische, andererseits auf die theoretische Philosophie. Bei aller Positivität der Beurteilung der Philosophie Kants scheint Levinas an einigen Stellen zwischen Bewunderung der revolutionären Kühnheit der Kantischen Ideen und der Skepsis zu schwanken, Kant bleibe doch letztlich dem Seinsdenken verhaftet. Zwar hebt Levinas hervor, daß Kant Bedeutungen entdeckt habe, die nicht auf das Sein zurückkommen (DD, 190): »Er entdeckt im praktischen Gebrauch der reinen Vernunft die Verwicklung eines Geschehens, das nicht auf eine Seinsbezogenheit zurückgeführt werden kann. Ein in gewisser Weise utopischer Wille, der für die Informationen taub und den Bestätigungen gegenüber indifferent ist, die ihm vom Sein her zukommen könnten (und welche der Technik und dem hypothetischen Imperativ wichtig sind, nicht aber die reine praktische Philosophie und auch nicht den kategorischen Imperativ betreffen), geht aus einer Freiheit hervor, die sich oberhalb des Seins und diesseits von Wissen und Nichtwissen befindet.« Auf der anderen Seite komme Kant schließlich aber doch wieder auf das Sein zurück. Levinas sagt (DD, 190 f.): »Und dennoch wird nach einem Moment der Trennung die Beziehung mit der Ontologie in den ›Postulaten der praktischen Vernunft‹ wiederhergestellt, als ob inmitten all dieser Kühnheiten auf sie gewartet worden wäre: die Ideen kehren auf ihre Weise zum Sein zurück in der Existenz Gottes. […] Es kommt letztlich auf die Existenz des Ideals der reinen Vernunft, auf die Existenz des höchsten Wesens an in einem Bauwerk, dessen Schlußstein einzig die Vorstellung von Freiheit sein müßte.«9 Bei aller Uneindeutigkeit läßt sich folgendes festhalten: die theoretische Philosophie Kants bleibt laut Levinas an die Ontologie gebunden, der praktischen Philosophie wird dagegen attestiert, einen Sinn außerhalb der Ontologie gefunden zu haben. Diese Position kann anhand der letzten Vorlesungen Levinas’ an der Sorbonne aus dem Jahre 1975/76 untermauert werden, die unter dem Titel Dieu, la Mort et le Temps erschienen sind. Zwar werde in der Kritik der reinen Vernunft das Ende des onto-theologischen Gottdenkens eingeläutet, zwar erkenne Kant vernünftige Ideen an, die das Sein nicht einholen können. Trotzdem kehre er zur Onto-theologie zurück und zwar in der 9
Vgl. auch DD, 36 f.
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Bestimmung der Gottesidee (DMT, 179 f.): »Il y a malgré tout un retour à l’onto-théo-logie dans la pensée kantienne, dans la façon dont elle détermine l’idée de Dieu. À partir de l’expérience, Dieu est posé comme la totalité de la réalité (omnitudo realitatis). Cet ensemble de tous les prédicats possibles de la réalité, Kant l’apelle idéal transcendantal. […] On ne peut donc pas démontrer spéculativement (par la pensée théorique) l’être de l’idéal transcendantal, mais Kant conserve l’idée que l’ultime sens d’une notion est dans son être; il ne reconnaît pas au pensable d’autre norme que la norme d’être.« In der praktischen Vernunft dagegen findet Kant laut Levinas Bedeutungen, die von der Ontologie unabhängig sind. Levinas hebt hervor, daß sich die zwei Fragen ›Was soll ich tun?‹, ›Was darf ich hoffen?‹ nicht auf ein Seinsverständnis reduzieren lassen; sie betreffen die Pflicht und das Heil des Menschen. Im Problem der Vermittlung von Moralität und Glückseligkeit zeige Kant Bedeutungen auf, die sich nicht »auf das Epos des Seins« einschränken lassen (DMT, 71): »Je suis libre dans le respect de la loi morale, bien que, théoriquement, j’appartienne au monde de la nécessité. Dieu et l’immortalité de l’âme sont exigés par la Raison pour que soit pensable l’accord entre la vertu et le bonheur. Cet accord exige, indépendamment de l’aventure ontologique et contre tout ce que l’ontologie nous enseigne, un après.« Die moralische Handlung wird unabhängig von allem Göttlichem, allem Jenseits gedacht, Gott kann sogar vom moralischen Akt ausgehend beschrieben werden.10 Und die Hoffnung auf ein höchstes Gut jenseits des Todes, die Hoffnung als eine Beziehung zu etwas Unmäßigem ist laut Levinas eine Beziehung zu einem Mehr als Sein. Für Levinas ist es kein Zufall, daß Kant einen vom Sein unabhängigen Sinn gerade ausgehend von der Moral findet. Und gerade dies sei die große Stärke der praktischen Philosophie Kants: ausgehend von einer moralischen Handlung eine Hoffnung auf ein Jenseits der Zeit zu denken, das unabhängig von jeder endlichen oder unendlichen Zeit ist (DMT, 74 f.): »C’est là la grande force de la philosophie pratique de Kant: la Vgl. DMT, 75: »L’action morale dans sa liberté signifie l’indépendance vis-à-vis de toute divinité, de tout au-delà (Kant décrit le divin à partir de l’action libre): nous sommes intérieurement liés par l’obligation morale du devoir, dit Kant. Dieu n’est pas nécessaire à l’acte moral – c’est au contraire à partir de l’acte moral qu’on peut le décrire.« Insofern gilt für Levinas das Wort Kants vom Beginn der Religionsschrift (RGV BA III = AA 6,3): »Die Moral […] bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug.« 10
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possibilité de penser un au-delà du temps par l’espoir mais, bien évidemment, pas un au-delà qui prolongerait le temps, pas un au-delà qui est (qui serait). Ni un dérivé quotidien du temps originaire. Mais espoir rationnel, comme si, dans le temps fini, s’ouvrait une autre dimension d’originarité qui n’est pas un démenti infligé au temps fini, mais qui a un autre sens que le temps fini ou infini.«
2. Kritik als Wesen der theoretischen Philosophie Die theoretische Philosophie Kants wird als Grundlage der Philosophie bezeichnet, soweit sie versucht, das Sein zu denken. Die Philosophie als Ontologie hat laut Levinas ihre Grundlage im Kritizismus (AQ, 225): »le criticisme qui est le fondement même de la philosophie entendue comme comphréhension de l’être.« Zuerst ist Ontologie laut Levinas jedoch eine Philosophie, die das Andere auf das Selbe reduziert, denn »sie fördert die Freiheit; die Freiheit ist die Identifikation des Selben, sie läßt sich nicht durch das Andere entfremden« (TI, 13). Kant habe indessen gezeigt, wie man das Sein zu denken hat und daß die Grenzen der theoretischen Vernunft eng gezogen sind. Die Neuheit des Kritizismus besteht für Levinas im Mißtrauen der Vernunft gegenüber ihren eigenen Spielen, die sie betören, in einer Wachsamkeit, die keine Täuschungen zuläßt.11 Somit ist die theoretische Philosophie Kants in einem doppelten Sinn die Grundlage der Philosophie, einerseits qua Ontologie, andererseits, weil sie den Bereich des Seinsdenkens abgegrenzt und damit zugleich den Primat der Ontologie in Frage gestellt hat. Vor diesem Horizont sind die verschiedenen Bemerkungen zu Kant zu lesen (TI, 109): »Die Kraft auch der kantischen Philosophie des Sinnlichen besteht darin, Sinnlichkeit und Verstand zu trennen, die Unabhängigkeit Vgl. DD, 35: »Die Vernunft müßte, insofern sie Modalität der Erkenntnis ist, gewissen Spielen mißtrauen, die sie betören. Sie sollte zur Wachsamkeit verpflichtet sein, um Täuschungen zu vereiteln. […] Daß jene betörenden Spiele sich in der Vernunft selbst abspielen können, und zwar ohne deren vernünftiges Vonstattengehen zu beeinträchtigen – ohne daß sie es weiß sozusagen; daß folglich eine Ausübung der Vernunft – gegen die Hellsichtigkeit selbst-notwendig ist, und zwar eine andere als ihre spontane und unvoreingenommene Ausübung, daß Wachsamkeit gegen die Evidenz und gegen ihre Träume bei hellichtem Tag geboten sein kann […] all dies macht die Neuheit des Kritizismus aus.« 11
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der ›Materie‹ der Erkenntnis im Verhältnis zum synthetischen Vermögen der Vorstellung festzuhalten, sei es auch nur in negativer Form«; die Hervorhebung des Endlichkeitsdenkens bei Kant, indem das Endliche nicht mehr aufgrund seines Bezuges zum Unendlichen begriffen wird und die Endlichkeit ihre positive Beschreibung in der Sinnlichkeit hat (vgl. TI, 170); »die revolutionäre Idee« (auch wenn Kant sie selber abgeschwächt habe) der transzendentalen Tätigkeit des Geistes, die Idee einer geistigen Tätigkeit, die nicht auf ein Objekt abzielt (vgl. TI, 163).12 Die Theorie habe also den eigenen Dogmatismus entdeckt und stelle nun die Freiheit des ontologischen Vollzugs in Frage. Durch die Kritik wird also die Vernunft aus ihrem Kreisen um sich selber anfänglich befreit. Diese Kritik stellt somit eine anfängliche Öffnung dar, die in der Ethik ihre Erfüllung findet. Die Infragestellung des Selben durch die Kritik ist laut Levinas bereits durch den Anderen geschehen. Wie die Kritik dem Dogmatismus vorausgeht, so geht die Metaphysik laut Levinas der Ontologie voraus (TI, 13): »De sorte que son intention critique l’amène au-delà de la théorie et de l’ontologie: la critique ne réduit pas l’Autre au Même comme l’ontologie, mais met l’exercice du Même en question. Une mise en question du Même – qui ne peut se faire dans la spontanéité égoïste du Même – se fait par l’Autre. On appelle cette mise en question de ma spontanéité par la présence d’Autrui, éthique. L’étrangeté d’Autrui – son irréductibilité à Moi – à mes pensées et à mes possessions, s’accomplit précisément comme une mise en question de ma spontanéité, comme éthique. La métaphysique, la transcendance, l’accueil de l’Autre par le Même, d’Autrui par Moi se produit concrètement comme la mise en question du Même par l’Autre, c’est-à-dire comme l’éthique qui accomplit l’essence critique du savoir. Et comme la critique précède le dogmatisme, la métaphysique précède l’ontologie.« Die Kritik ist für Levinas das Wesen des Wissens, weil sie sich nicht auf die objektive Erkenntnis reduzieren läßt und schon vom Anderen her kommt und zu ihm führt. Die theoretische Vernunft wird von vornherein der praktischen Vernunft untergeordnet, so daß die Kritik, das kritische Wesen des Wissens, den Übergang zwischen der Theorie und der Ethik bildet. Bekanntlich ist schon laut der Kritik der reinen Vernunft (B 829) »die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt.« Die Kritik wird so als die Beunruhigung des Anderen im Selben gesehen, als eine theoretische Tätig12
Vgl. dazu u. a. HAH, 94, AQ, 40, Anm. 6 oder DEHH, 102 f.
Emmanuel Levinas
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keit, die aus einer praktischen Quelle fließt, aus dem Anspruch des Anderen, der die Unterordnung der theoretischen Vernunft unter das Primat der praktischen Vernunft einleitet.
3. Moralische Erfahrung, moralisches Bewußtsein Die Nähe zwischen Levinas’ praktischer Philosophie der Ethik und Kants Philosophie der praktischen Vernunft scheint über die expliziten Äußerungen hinaus implizit im Denken von Levinas wirksam zu sein. Auch trotz des scheinbaren Widerspruchs zwischen der Rede von der Autonomie, der Selbstgesetzgebung der Vernunft bei Kant und der Bestimmung der Subjektivität in höchster Heteronomie und Passivität (etwa als Geisel; vgl. AQ, 163 f.) bei Levinas kommen sich beide Philosophen im Denken der Moralität erstaunlich nahe. »Jedenfalls liegt hier eine wirkliche und nicht nur eine scheinbare Übereinstimmung zwischen beiden Denkern vor – trotz sonstiger ins Auge springender Gegensätze. Man kann in der Tat in Levinas’ Philosophie einen konsequent durchgehaltenen Versuch sehen, den Vorrang der ethischen Rationalität gegenüber der theoretischen auf eine neuartige Weise zu begründen.«13 In seinem Beitrag La philosophie et l’idée de l’Infini nimmt Levinas eine allgemeine Bestimmung des Begriffspaares Autonomie-Heteronomie vor. Er charakterisiert mit ihnen zwei grundsätzliche Wege der Philosophie, die sich in der Idee der Wahrheit treffen. Das Prinzip der Heteronomie führt laut Levinas zu einer Philosophie, die sich um das absolument autre kümmert. Sie wäre eine Philosophie, die in ihrer Wahrheitssuche über die äußere Welt zum Fremden und damit zur Transzendenz gelangte. Aus dem Prinzip der Autonomie erwächst dagegen eine Philosophie, die im Prozeß der Wahrheitssuche an der Erhaltung der eigenen Identität interessiert ist, die alles Andere auf sich selbst, auf das Selbe reduziert. Die Autonomie wäre demnach bestimmt als primat du Même ou le narcissisme.14 Übertragen auf die praktische Philosophie, wäre Ethik oder Moral nur als Heteronomie möglich, da sie Platz für den Anderen läßt und sich von ihm bestimmen läßt. In der Autonomie kommt es laut Levinas gar nicht zu einer echten Begegnung, in der sich das Subjekt vom Anderen affizieren läßt, da 13 14
Strasser: Jenseits, 325. Vgl. DEHH, 165 ff.
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der Andere von vornherein nicht als Anderer respektiert wird. Trotz dieser klaren Unterscheidung stellt sich jedoch das Verhältnis zwischen der Autonomie und Heteronomie bei Levinas nicht so problemfrei da, wie es scheinen könnte. Daß es sich um eine spannungsgeladene Beziehung handelt, belegt eine Stelle aus Autrement qu’être ou au-delà de l’essence: Levinas spricht über die »autonomie de la voix de la conscience« (AQ, 206), mit der ich eine Verantwortung für den Anderen ausspreche, die jedoch nicht in mir hat beginnen können (vgl. dazu auch Kant: GMS BA 66 f. = AA 4,429). Das Selbe, das Subjekt, das alles auf sich bezieht, muß durch den Anderen geweckt werden, um zu einer Verantwortung für ihn fähig zu sein. Deshalb spricht die Gewissensstimme in meiner Nähe zum Nächsten, die sich wiederum in der Spur des Unendlichen ereignet (AQ, 206): »das Unendliche […] hinterläßt eine Spur seiner unmöglichen Inkarnation und seiner Maßlosigkeit in meiner Nähe mit dem Nächsten, in der ich in der Autonomie der Gewissensstimme eine Verantwortung ausspreche, die nicht in mir hat beginnen können – für eine Freiheit, die nicht die meine ist.« Hier werden also Autonomie und Heteronomie miteinander verquickt – wenn auch letztlich in der Sprache von Levinas die Heteronomie Oberhand behält. Die Autonomie als das Primat des Selben hat wenig mit der Autonomie der reinen praktischen Vernunft Kants zu tun. Denn es handelt sich bei Kant nicht um die beliebige Selbstbestimmung von Individuen, sondern darum, daß die Vernunft ein Gesetz vorschreibt, unter das jeder vernünftige Wille sich gestellt sieht.15 Die Autonomie der Vernunft Kants und die Heteronomie in der Bestimmung des Subjekts bei Levinas gehen in eine ähnliche Richtung: »Le moment du surgissement de cette expérience [ l’expérience éthique] est en effet, assurément, un moment d’ouverture au devoir, d’irruption de la loi, qui peut bien être décrit en termes de sujétion, ce qui est certes le cas chez Lévinas, mais aussi bien chez Kant, dans l’expérience du respect: parce que nous sommes des êtres finis, et non des saints, la loi s’impose à nous de l’extérieur – et donc, du point de vue d’une analyse phénomenologique du rapport vécu au devoir, il est légitime de lire ce moment comme moment du sujétion ou, si l’on préfère, d’hétéronomie.«16 Den Dreh- und Angelpunkt, in dem sich beide Denker trefVgl. dazu Fischer/Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, 214 –230. 16 Vgl. Renaut: Lévinas et Kant, 102. Vgl. auch Feron, Intérêt et désintéressement de la raison, 104: »Une liberté qui ne dépend de rien (autonomie) mais qui ne consiste en rien, qui n’est même pas une expérience, qui simplement est attestée par la 15
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fen, stellt die moralische Erfahrung und das Faktum des moralischen Bewußtseins dar. Ähnlich wie bei Kant das Sittengesetz mit seiner Aufforderung ›du sollst!‹ in moralisch relevanten Situationen auftritt, beruft sich Levinas auf eine konkrete moralische Erfahrung: in der Begegnung mit dem Anderen trifft mich sein ethischer Anspruch. Durch die ›Epiphanie‹ des Antlitzes des Anderen werde ich gewahr, daß er eine ethische Forderung an mich stellt. Die moralische Erfahrung besagt: die Forderungen, die der Andere an mich stellt, können mit den Forderungen meinerseits nicht verglichen werden (TI, 24): »Une séparation du Moi qui n’est pas la réciproque de la transcendance de l’Autre à l’égard de moi, n’est pas une éventualité à laquelle ne pensent que les abstracteurs de quintessence. Elle s’impose à la meditation au nom d’une expérience morale concrète – ce que je me permets d’exiger de moi-même, ne se compare pas à ce que je suis en droit d’exiger d’Autrui. Cette expérience morale, si banale, indique une asymétrie métaphysique.« Diese moralische Erfahrung, in der mir der Anspruch des Anderen begegnet, nennt Levinas auch absolute Erfahrung (TI, 37): »L’expérience absolue n’est pas dévoilement mais révélation«. Sie ist jedoch keine Enthüllung, die die Aktivität des Subjekts voraussetzt, sondern eine Offenbarung, in der das Subjekt heimgesucht wird, d. h. passiv ist. Es handelt sich um eine Erfahrung, die nicht theoretisch zu fassen ist, es ist eine Erfahrung ohne Begriffe (TI, 74): »dans la conscience morale, je fais une expérience qui n’est à la mesure d’aucun cadre a priori – une expérience sans concept«. Ich kann vom Anderen nichts fordern. Der Empfang des Anderen markiert laut Levinas den Anfang meines sittlichen Bewußtseins. Indem der Andere meine Freiheit in Frage stellt, stellt sich bei mir das Bewußtsein der moralischen Unwürdigkeit ein. In der Scham entdecke ich den mörderischen Charakter meiner Spontaneität, meiner Freiheit. Und in der Scham entdecke ich mich nicht mehr als eine unschuldige Spontaneität, sondern als Usurpator und Mörder.17 Levinas sagt (TI, 55): »La conscience première de mon immoralité, n’est pas ma subordination au fait, mais à Autrui, à l’Infini.« conscience morale, c’est-à-dire par la conscience en tant que vigilance et éveil du Même par l’Autre.« 17 »C’est l’accueil d’Autrui, le commencement de la conscience morale, qui met en question ma liberté. […] La conscience morale accueille autrui. […] La morale commence lorsque la liberté, au lieu de se justifier par elle-même, se sent arbitraire et violente.« TI, 56.
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Levinas beruft sich also bei der Frage, wie überhaupt sittliches Bewußtsein entstehen kann, auf eine grundsätzliche, konkrete Erfahrung. Was sein Denken bewegt, ist das Problem, wie überhaupt so etwas wie Moral im menschlichen (Zusammen)Leben auftauchen kann und wo seine Quelle zu finden ist. Die Moralität entspringt seiner Überzeugung nach der Begegnung mit dem Anderen, besser gesagt: der Erfahrung, daß der Andere an mich einen ethischen Anspruch richtet, indem ich aufgefordert bin, ihn zu achten und, wie Levinas sagt, Verantwortung für ihn zu übernehmen. Der Empfang des Anderen als eine Erfahrung, in der mein moralisches Bewußtsein seinen Anfang nimmt, lädt zum Nachvollzug ein, läßt sich jedoch weder erzwingen noch stringent theoretisch begründen (TI, 58 f.): »L’accueil d’autrui est ipso facto la conscience de mon injustice – la honte que la liberté éprouve pour ellemême.« Um besser zu verstehen, wie moralische Erfahrung sich ereignet, ist es wichtig hervorzuheben, daß Levinas von einer Asymmetrie der Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen ausgeht, die sich eben in der moralischen Erfahrung ausdrückt. Das Ich und der Andere stehen nicht ›auf einer Ebene‹. Zwischen dem Selben – mir – und dem Anderen bestehe eine dissymétrie de l’espace intersubjectif, eine ethische Ungleichheit (inégalité éthique), in der der Andere dem Selben schwächer und gleichzeitig höher erscheint. Die Beziehung zum Anderen ist eine Beziehung der ethischen Nicht-In-Differenz (non-in-différence). Wenn es Moralität geben soll, dann hat der Andere einen ethischen Vorrang vor mir: dies nennt Levinas die erste Gegebenheit des moralischen Bewußtseins (DEHH, 174): »Il faut qu’Autrui soit plus près de Dieu que Moi. Ce qui n’est certainement pas une invention de philosophe, mais la première donnée de la conscience morale que l’on pourrait définir comme conscience du privilège d’Autrui par rapport à moi. La justice bien ordonnée commence par Autrui.« In Entre nous verknüpft Levinas explizit das eigene Denken des Auftretens des moralischen Anspruchs mit der Kantischen Terminologie. Daß Levinas für den Kern seines Ethik-Denkens – nämlich für die durch das Antlitz des Anderen hervorgerufene moralische Verpflichtung – den Begriff Kants par excellence verwendet, den des kategorischen Imperativs, dürfte als starker Hinweis auf die inhaltliche Nähe der beiden Moralphilosophien gelten. Levinas beschreibt, wie mich durch das Antlitz des Anderen ein Gebot trifft, das meine unabweisbare Verantwortung für den Anderen stiftet. Dieses Gebot komme aus der ›unvordenklichen Vergangenheit‹, in der sich das Unendliche aufhält, das in keine Gegenwart überführt werden kann. Die Heteronomie
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des Gebots tritt mit der Autorität des Imperativs auf (ZU, 210): »Vergangenheit in der Bedeutung einer eingewurzelten Verpflichtung, die älter ist als jedes Eingehen einer Verpflichtung; Vergangenheit, deren ganzer Sinn aus dem Imperativ bezogen wird, der in Gestalt des Antlizes des Anderen dem Ich befiehlt. Kategorischer Imperativ: ohne Rücksicht – wenn man so sagen kann – auf eine freie Entscheidung, die die Verantwortung ›rechtfertigen würde‹ ; ohne Rücksicht auf irgendein Alibi.«
Das Primat der praktischen Vernunft
ii. le primat de la raison pure pratique
ii. das primat der praktischen vernunft
Emmanuel Levinas (1971)1
von Emmanuel Levinas (1971)
1° – Rien que Raison
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1. Nichts als Vernunft
L’œuvre critique de Kant surgit en cette Das kritische Werk Kants tritt gegen Ende fin du 18° siècle qu‘on appelle siècle des des 18. Jahrhunderts auf, das als JahrLumières – siècle de l‘Aufklärung. Kant hundert der Aufklärung bezeichnet wird. définit lui-même l‘Aufklärung comme Kant selbst bestimmt die Aufklärung als émancipation: l‘homme quitte sa condi- Emanzipation: der Mensch verläßt seition de mineur ou »l‘incapacité de se ser- nen minderen Zustand, »das Unvermövir de sa raison sans l‘aide d‘un autre«. gen, sich seines Verstandes ohne Leitung Sapere aude – aie le courage d‘user de eines anderen zu bedienen«.12 Sapere ta propre raison – serait le mot d‘ordre aude – wage dich deiner eigenen Ver(1).2 Mais l‘homme qui récuse toute tu- nunft zu bedienen – sollte zum Leitwort telle et qui se laisse diriger par la raison werden.13 Aber der Mensch, der jede Beseule – l‘homme désormais majeur – ne vormundung zurückweist und sich allein peut plus se permettre aucune naïveté. Il durch die Vernunft selbst leiten läßt – er doit éprouver la maturité de son guide, ist von nun an ein Mensch in höherem mais aussi s‘assurer que la raison, jus- Zustand –, kann sich keine Naivität mehr qu‘alors principe par excellence du con- erlauben. Er muß nicht nur prüfen, wie naître, peut commander l‘action comme reif die Führung seiner Vernunft ist, elle ordonne le savoir. D‘où, dans le kan- sondern sich auch vergewissern, ob die tisme, d‘une part, le contrôle de la raison Vernunft, die bisher in ausgezeichnetem par elle-même, aboutissant, on le sait à la Sinne als Prinzip der Erkenntnis galt, das restriction de sa compétence théorétique Handeln in eben der Weise befehligen ou spéculative; d‘autre part, la proclama- kann, wie sie das Wissen ordnet. Daher tion de sa souveraineté sur l‘action. Fixa- führt die Selbstprüfung der Vernunft in tion des limites du connaître dans une Kants Philosophie einerseits, wie man critique de la raison pure – extension weiß, zur Beschränkung ihrer theorede la raison à l‘action ou existence d‘une tischen oder spekulativen Reichweite, raison pure pratique, capable de com- andererseits zur Behauptung ihrer Kraft, mander inconditionnellement – tout se das Handeln zu bestimmen. Einerseits passe comme si, dans son usage pratique, geht es in einer Kritik der reinen Verla Raison avait une priorité par rapport nunft um die Bestimmung der Grenzen à son usage théorique: tout le kantisme des Erkennens, andererseits um eine s‘annonce donc comme primat de la rai- Ausweitung der Macht der Vernunft als Bestimmungsgrund des Handelns oder son pure pratique. um die Existenz einer reinen praktischen Cf. Kant: Beantwortung der Frage: Was Vernunft, die unbedingt gebietet. All das ist Aufklärung. geschieht, als ob die Vernunft in ihrem
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Emmanuel Levinas
praktischen Gebrauch Vorrang hätte gegenüber ihrem theoretischen Gebrauch: folglich beruht die Philosophie Kants insgesamt auf dem Primat der reinen praktischen Vernunft.14 2° – La raison théorétique ou spéculative
2. Die theoretische oder spekulative Vernunft
La Critique de la raison pure examine Die Kritik der reinen Vernunft unterjusqu‘où s‘étend la compétence de la sucht, bis wohin sich die Kompetenz raison dans le domaine de la théorie. der Vernunft im Bereich der Theorie Cet examen ne se contente pas de met- erstreckt. Diese Untersuchung gibt sich tre au point une méthode, il met en {2} nicht mit der Ausarbeitung einer Mequestion le droit même de la Raison au thode zufrieden, sondern stellt sogar den savoir. Une position si radicale est jus- Anspruch der Vernunft auf Wissen in tifiée par une découverte fondamentale. Frage. Eine so radikale Position ist durch Lorsque dans son exercice théorique, eine grundlegende Entdeckung gerechtpartant des réalités qui se montrent dans fertigt. Wenn sich die Vernunft in ihrem l‘expérience et qui se conforment, no- theoretischen Gebrauch im Ausgang von tamment, aux conditions de l‘espace, du den Tatsachen, die sich in der Erfahrung temps et de la causalité, la raison s‘élève zeigen und die sich vor allem nach den et s‘arrête – par-delà les séries, toujours Bedingungen von Raum, Zeit und Kauinachevées de l‘expérience – à des idées salität richten, zu den unbedingten Ideen, in-conditionnées, à des commencements zu den absoluten Anfängen erhebt – jenabsolus; lorsque, avec toutes les apparen- seits der nie vollendeten Reihe der Erces de la légitimité, la raison pose des fahrung – und mit ihnen endigt; wenn réalités absolues qui correspondent à ces die Vernunft mit allem Schein von Leidées, mais ne peuvent pas se montrer gitimität die absolute Wirklichkeit setzt, dans l‘expérience; bref, lorsque la raison, die diesen Ideen entspricht, die sich aber au lieu de penser des réalités physiques in der Erfahrung nicht zeigen kann, kurz: spatio-temporelles, se fait métaphysique wenn die Vernunft, anstatt die physische, ou spéculative,3 elle tombe en des contra- räumlich-zeitliche Wirklichkeit zu dendictions qui opposent entre eux les pen- ken, metaphysisch oder spekulativ wird, seurs les plus rigoureux et transforment gerät sie in Widersprüche, die die schärfla philosophie en un champ de bataille. sten Denker untereinander entzweien Le passage de l‘expérience à l‘au delà und die Philosophie in ein Schlachtfeld de l‘expérience ne serait donc logique verwandeln.15 Der Übergang von der qu‘en vertu d‘une étrange illusion appe- Erfahrung zu dem, was jenseits der lée »apparence transcendantale«.4 Erfahrung liegt, wäre demzufolge Kant aura ainsi découvert – et c‘est là la nur auf Grund einer sonderbaren Täu-
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grande nouveauté – que cette illusion de schung denkbar, die »transzendenla raison spéculative ne doit rien à une taler Schein« genannt wird.16 Kant défaillance quelconque des penseurs; hat folglich entdeckt – und das ist die qu‘elle est inhérente à l‘exigence de große Neuerung –, daß diese Illusion der l‘absolu et de l‘inconditionné, que c‘est, spekulativen Vernunft nichts mit einem en quelque manière une illusion due à la Versagen irgendeines Denkers zu tun rationalité même de la Raison. Comme hat; daß sie dem Anspruch des Absoluten si, en suivant les règles de sa logique, und des Unbedingten innewohnt, so daß mais en dépassant l‘expérience, la raison dieser Anspruch in irgendeiner Weise perdait la raison. selbst der Vernünftigkeit der Vernunft zuzuschreiben ist. Gleichsam als hätte Voilà pourquoi la Critique de la Raison die Vernunft, die zwar den Regeln ihrer pure était nécessaire, voilà pourquoi Logik folgt, aber den Bereich der Erfahelle est une limitation de l‘exercice de rung überschreitet, die Vernünftigkeit la raison théorique. La Raison n‘est sûre verloren. qu‘appliquée à la nature spatiale et temAus diesem Grund wurde die Kritik porelle où se montrent les schèmes des der reinen Vernunft nötig; aus demselcon-{3}cepts qu‘elle enchaîne – la raison ben Grund ist sie eine Begrenzung des n‘est sûre qu‘appliquée aux phénomè- Gebrauchs der theoretischen Vernunft. nes, selon la terminologie kantienne. Die Vernunft ist nur zuverlässig in der Interdiction à la Raison d‘affirmer – ou Anwendung auf die räumliche und zeitde nier – rien de ce qui est en dehors de liche Wirklichkeit; in ihr zeigen sich die l‘expérience – rien de ce qui est non pas Schemata der Begriffe, die sie hervorpour nous mais en soi. bringt – die Vernunft ist nach der Terminologie Kants nur zuverlässig in der Le mouvement qui entraîne la raison au Anwendung auf die Phänomene. Dies delà de l‘expérience est une simple invi- ist ein Verbot für die Vernunft, etwas tation à pousser plus loin la recherche zu behaupten – oder zu verneinen –, was d‘une idée régulatrice. Elle n‘autorise ni außerhalb der Erfahrung ist – etwas, was l‘affirmation – ni la négation – d‘aucune nicht für uns, sondern an sich ist. réalité au delà de l‘expérience: ni l‘afDer Antrieb, der die Vernunft über firmation ni la négation d‘un Dieu; ni die Grenzen der Erfahrung hinausl‘affirmation ni la négation d‘une vie reißt, ist eine einfache Einladung, die après la mort. La critique des pouvoirs Suche nach einer regulativen Idee de la raison assainit ainsi son usage weiterzutreiben. Sie gestattet weder die théorique: en lui interdisant tout dé- Behauptung – noch die Verneinung – irpassement de l‘expérience, elle évite les gendeiner Wirklichkeit jenseits des Erparalogismes, les contradictions avec fahrungsbereichs: weder die Behauptung elle-même ou des preuves théologiques noch die Verneinung eines Gottes; weder fallacieuses. Si d‘autres raisons que celles die Behauptung noch die Verneinung dont dépend une vision scientifique du eines Lebens nach dem Tod. Die Kritik
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monde, pouvaient intervenir en faveur de vérités spéculatives – si une autre façon d‘envisager le réel que celle qui répond au souci d‘établir une science physico-mathématique de l‘expérience se faissait valoir – la raison théorique n‘adhérerait certes pas à ces vérités, mais ne trouverait rien à redire.
des Vermögens der Vernunft reinigt also ihren theoretischen Gebrauch: indem sie ihr jedes Überschreiten der Erfahrung verbietet, vermeidet sie die Paralogismen,17 die Widersprüche, in die sie sich verwickelt18 oder die trügerischen theologischen Beweise.19 Wenn andere Gründe als diese, von denen eine wissenschaftliche Sicht der Welt abhängt, zugunsten der spekulativen Wahrheiten sprechen könnten – wenn eine andere Art der Betrachtung des Wirklichen sich geltend machen würde als diese, die dem Bestreben entspricht, eine physiko-mathematische Wissenschaft der Erfahrung zu errichten –, dann würde die theoretische Vernunft diesen Wahrheiten zwar nicht sicher anhängen, sie hätte aber auch nichts gegen sie einzuwenden.
3° – La Raison pure pratique
3. Die reine praktische Vernunft
Qu‘en-est-il de la Raison dirigeant l‘ac- Worum geht es bei der Vernunft, die das tion? Qu‘en est-il de la raison pure pra- Handeln bestimmt? Worum geht es bei tique? Pourquoi l‘appelle-t-on pure? der reinen praktischen Vernunft? Warum wird sie rein genannt? Les philosophes connaissaient depuis Die Philosophen kannten seit jeher toujours la notion de la raison prati- den Begriff der praktischen Vernunft. que. Pour5 arriver à ses buts, en effet, Um seine Ziele zu erreichen, sucht der l‘homme recherche des moyens. Or, le Mensch nämlich nach Mitteln. Nun aber choix des moyens dépend d‘un savoir hängt die Wahl der Mittel von einem rationnel, de la connaissance des causes vernünftigen Wissen ab, von der Kenntet des effets qui régissent le monde. Sa- nis der Ursachen und der Wirkungen, die voir faire, c‘est raisonner. Prouver que den Weltlauf beherrschen. Wissen, wie les moyens {4} appropriés à l‘obtention etwas zu machen ist, heißt, die Vernunft d‘une fin, ne sont pas disponibles, oblige gebrauchen. Der Erweis, daß die geeigà modifier le but même que se propose neten Mittel zur Erlangung eines Ziels l‘action. La raison dirige ainsi incontes- nicht verfügbar sind, zwingt zur Ändetablement l‘action. Est-elle dans cette rung des Zieles selbst, das die Handlung fonction la raison pure pratique? Kant sich setzt. Die Vernunft bestimmt das lui conteste ce titre. La raison pratique Handeln also ganz offensichtlich. Ist es
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qui intervient dans le choix de moyens, die reine praktische Vernunft, die diese est technique. Elle n‘est qu‘une mise en Funktion erfüllt? Kant streitet ihr diesen application des connaissances obtenues Titel ab. Die praktische Vernunft, die in par la raison théorique. Car le but de die Wahl von Mitteln eingreift, ist eine l‘action reste, dans l‘entreprise tech- technische. Sie ist nur eine praktische nique, toujours emprunté aux besoins, Anwendung der Erkenntnisse, die von aux désirs, aux passions. Il est connu der theoretischen Vernunft stammen. par l‘expérience que nous faisons de la Denn der Zweck der Handlung bleibt nature humaine. Selon Kant, une raison innerhalb des technischen Vorhabens pure apporte des principes indépendants immer den Bedürfnissen, den Sehnsüchde l‘expérience: a priori. La raison qui ten, den Leidenschaften entlehnt. Er ist dirige l‘action par le choix des moyens uns bekannt durch die Erfahrung, die n‘est donc pas une raison pure. wir mit der menschlichen Natur machen. Laut Kant bringt eine reine Vernunft Existe-t-il une action commandée a pri- Prinzipien bei, die unabhängig von der ori? Existe-t-il une raison pure pratique? Erfahrung sind: a priori. Diejenige VerOn peut retourner la question. Les actes nunft, die das Handeln durch die Wahl dont le but est déterminé par les besoins, der Mittel bestimmt, ist folglich keine par les désirs, par les passions – par les reine Vernunft. penchants – méritent-ils, abstraction Gibt es eine Handlung, die a priori faite de la part qui y reviendrait à un geboten ist? Gibt es eine reine praktichoix raisonable de moyens, le nom sche Vernunft? Man kann die Frage auch d‘action? Ne déroulent-ils pas l‘automa- umdrehen. Verdienen die Handlungen, tisme des tendances actionn[é]6 comme deren Zweck durch die Bedürfnisse, die des ressorts, la nature empirique de Sehnsüchte, die Leidenschaften – durch l‘homme? Il n‘y a d‘action que libre. die Neigungen – bestimmt ist, abgeOr, Kant pense que l‘action n‘est libre sehen von dem Teil, der wieder auf die que sous le commandement de la raison. vernunftmäßige Wahl von Mitteln hinComment la raison commande-t-elle? ausliefe, den Namen einer Handlung? Et pourquoi son commandement est-il Lassen diese Handlungen nicht den Auliberté pour Kant? tomatismus der Neigungen ablaufen wie Triebfedern, wie die empirische Natur La raison commande l‘acte si le motif de des Menschen? Es gibt keine Handlung, l‘acte n‘est pas une inclination; s‘il est le außer einer freien. Nun denkt Kant pur respect de la Loi. Non point respect aber, daß eine Handlung nur dann frei pour telle ou telle loi positive, inscrite ist, wenn die Vernunft sie gebietet. Wie dans le Code ou dans les moeurs et qui gebietet die Vernunft? Und warum ist ihr pourrait, en effet, ne traduire qu‘un {5} Gebieten für Kant Freiheit? intérêt particulier; mais respect pour Die Vernunft gebietet die Handlung, l‘universalité qui caractérise la Loi sofern der Beweggrund der Handlung comme Loi. Or, l‘universalité est bien nicht eine Neigung ist; sofern sie die
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l‘expression de la Raison. Obéir à la Loi reine Achtung für das Gesetz ist. Es par respect pour la Loi comme Loi, c‘est handelt sich keineswegs um Achtung agir par la Raison. Dans l‘intention du für dieses oder jenes positive Gesetz, das respect pour la Loi Kant reconnait la mo- im Gesetzbuch steht oder das die Sitten ralité. L‘action morale est donc l‘action verlangen und das nur einem Einzelincommandée par la raison. Mais un être teresse Ausdruck verleihen könnte, sonraisonnable n‘obéit pas à la Loi comme à dern um Achtung für die Allgemeinheit, une force extérieure. Il se reconnaît dans die das Gesetz als Gesetz charakterisiert. l‘universalité de la Loi. En obéissant à la Denn Allgemeinheit ist schlechthin der Loi, il obéit à lui-même, il se donne sa Ausdruck der Vernunft. Dem Gesetz geloi, il est autonome. Il veut librement horchen aus Achtung für das Gesetz als l‘universalité de la Loi, même s‘il la veut Gesetz, das bedeutet nach der Vernunft contre ses inclinations. Or, la détermi- handeln. In der Absicht der Achtung für nation de l‘action par le respect de la loi, das Gesetz erkennt Kant die Moralität. est un fait, un »fait de la raison« comme Eine moralische Handlung ist demnach Kant l‘appelle: le fait de l‘impératif ca- eine durch die Vernunft gebotene Handtégorique – le fait d‘un commandement lung. Ein vernünftiges Wesen gehorcht inconditionnel de la loi. Elle heurte les dem Gesetz jedoch nicht wie einer äußepenchants mais qui est voulue par l‘être ren Kraft. Es erkennt sich in der Allgeraisonnable que nous sommes. Qu‘une meinheit des Gesetzes wieder. Im Gehorloi universelle heurtant nos passions, sam gegenüber dem Gesetz gehorcht es puisse être voulue, est l‘existence même sich selbst, es gibt sich sein Gesetz, es ist de la raison pure pratique. L‘homme autonom. Es will die Allgemeinheit des est véritablement agissant quand la Gesetzes aus freien Stücken, selbst wenn règle qu‘il adopte pour agir – quand sa es sie gegen seine Neigungen will. Denn maxime de son action – se laisse énon- die Bestimmung der Handlung aus der cer comme principe universel sans pour Achtung für das Gesetz ist ein Faktum, autant devenir absurde ou contradictoire. ein »Factum der Vernunft«, wie Kant L‘homme est véritablement agissant es nennt: das Faktum des kategorischen quand il est moral. Imperativs – das Faktum eines unbedingt gebietenden Gesetzes.20 Das Gesetz stößt mit den Neigungen zusammen, aber es ist von dem vernünftigen Wesen gewollt, das wir selber sind. Daß ein allgemeines Gesetz, das mit unseren Leidenschaften zusammenstößt, gewollt werden kann, das ist gerade die Existenz der reinen praktischen Vernunft. Der Mensch ist ein wirklich Handelnder, wenn die Regel, die er sich für das Handeln zu eigen macht – wenn seine Maxime seines
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Handelns – sich als allgemeines Prinzip formulieren läßt, ohne absurd oder widersprüchlich zu werden. Der Mensch ist ein wirklich Handelnder, wenn er moralisch ist. 4° – Le primat de la raison pure pratique
4. Das Primat der reinen praktischen Vernunft
Mais la liberté de l‘action accomplie par Widerspricht der Determinismus der respect de la loi – la liberté de la raison Natur aber nicht der Freiheit der Handpure pratique – n‘est-elle pas contre- lung, die in Achtung für das Gesetz dite par le déterminisme de la Nature? ausgeführt wird, der Freiheit der reinen Commander l‘action par la raison, ce praktischen Vernunft? Eine Handlung n‘est pas seulement indiquer les actes durch die Vernunft zu gebieten, das beà faire ou à ne pas faire. L‘être raison- deutet nicht nur die Weisung, bestimmte nable n‘acceptera pas d‘ordres qui lui Taten zu vollziehen oder nicht zu vollziedemanderont l‘impossible. Une raison hen. Ein vernünftiges Wesen wird keine qui commande l‘action {6} est donc tenus Anweisungen akzeptieren, die von ihm à éclairer l‘homme sur son destin ou sur Unmögliches verlangen. Eine Vernunft, son intérêt ultime sur lesquels, jusqu‘à die die Handlung gebietet, ist gehalten, sa majorité spirituelle le renseignait la den Menschen über sein Schicksal oder Religion. Il faut que la raison puisse dire über sein letztes Interesse aufzuklären, à l‘être raisonnable et ce qu‘il doit faire worüber ihm – bis zu seiner spirituelet ce qu‘il a à espérer. len Mündigkeit – die Religion Auskunft gegeben hatte. Die Vernunft muß dem Kant fonde certes l‘action libre – ou l‘ac- vernünftigen Wesen sagen können, was tion morale, ou l‘action raisonnable – sur es tun soll und worauf es hoffen darf. le désintéressement total, sur une voKant gründet zwar die freie Handlonté capable de vouloir l‘universalité de lung – die moralische Handlung, oder la loi et de réprimer les penchants sensi- die vernünftige Handlung – auf die bles. Mais la pratique que détermine la vollkommene Uneigennützigkeit, auf raison ne peut – en tant que pratique – se einen Willen, der imstande ist, die Allgepasser de tout intérêt. Kant soutient – et meinheit des Gesetzes zu wollen und die c‘est l‘une de ses vues la plus profondes sinnlichen Neigungen zurückzudrängen. et en tout cas la plus caratéristique – que, Die von der Vernunft bestimmte Praxis, à tout exercice d‘une faculté de l‘âme, kann aber – gerade als Praxis – nicht auf correspond un intérêt, qu‘aucun »pou- jedes Interesse verzichten. Kant behaupvoir de l‘esprit« (Gemüthskraft) ne peut tet (das ist eine seiner tiefsten Einsichten, être mis en exercice sans condition et que jedenfalls die charakteristischste), daß cette condition est un intérêt. D‘où l‘idée jedem Gebrauch eines Seelenvermö-
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singulière d‘un intérêt désintéressé. Le gens ein Interesse entspricht, daß keine devoir, par exemple d‘après Kant, n‘a »Gemüthskraft« ohne Bedingung zur pas d‘intérêt sensible et s‘accomplit par Ausübung gebracht werden kann und pur respect pour l‘universalité de la loi, daß diese Bedingung ein Interesse ist.21 mais l‘acte moral se 7 trouve ainsi comme Daher die eigentümliche Idee eines unun intérêt dans ce que le respect – sen- eigennützigen Interesses. Die Pflicht hat timent ex-ceptionnel, sentiment intel- beispielsweise nach Kant keinen sinnlectuel selon Kant – conserve encore de lichen Zweck und ereignet sich durch sentimental. reine Achtung für die Allgemeinheit des Gesetzes, aber die moralische Handlung Kant montre que la raison pure pratique findet sich so wie ein Interesse in dem affirme la liberté (sans laquelle l‘auto- Sinne vor, daß die Achtung – ein außernomie ne serait qu‘illusion), qu‘elle gewöhnliches Gefühl, ein intellektuelles trouve la force d‘énoncer: »tu dois, donc Gefühl laut Kant – noch etwas Gefühlstu peux«; qu‘elle postule l‘existence de mäßiges bewahrt.22 Kant zeigt, daß die reine praktische Dieu et l‘immortalité de l‘âme sans lesquels la vertu, pourtant désintéressée et Vernunft die Freiheit bestätigt (ohne brillant par elle-même de tout son éclat, welche die Autonomie nur eine Illusion serait à jamais séparée du bonheur et, wäre), daß sie die Kraft findet zu sagen: par conséquent, ne serait pas le Bien par- »du sollst, also kannst du«;23 daß sie das fait »non seulement aux yeux intéressés Dasein Gottes und die Unsterblichkeit de la personne qui se prend elle-même der Seele postuliert, ohne welche die Tupour but, mais au jugement d‘une raison gend, obwohl sie uneigennützig ist und impartiale qui considère la vertu comme durch sich selbst in ihrem vollem Glanz erstrahlt, auf ewig von der Glückseligkeit le bien le plus haut«. getrennt wäre und daß es folglich kein {7} Or, Dieu seul peut garantir le bonheur vollkommenes Gutes gäbe, »nicht blos à la vertu et un bonheur proportionnel à in den parteiischen Augen der Person, die la vertu et seule l‘âme non limitée par sich selbst zum Zwecke macht, sondern la mort peut parfaire sa vertu pour se selbst im Urtheile einer unparteiischen rendre digne du bonheur. La rationalité Vernunft, die jene überhaupt in der Welt même de l‘action postule l‘existence de als Zweck an sich betrachtet«.24 Denn Gott allein kann der Tugend Dieu et l‘immortalité de l‘ame, que la raison ne saurait connaître. La rationa- die Glückseligkeit und eine der Tugend lité même de l‘action exige la liberté que angemessene Glückseligkeit gewähren, la raison théorique exclut de l‘expérience und nur eine vom Tod nicht begrenzte (du monde du phénomène) et [...] 8 ni af- Seele kann ihre Tugend vervollkommnen, firmer, ni nier au delà de l‘expérience. um sich der Glückseligkeit würdig zu erweisen. Die Vernünftigkeit der Handlung Ainsi la raison pratique nous pousse à ist es selbst, die das Dasein Gottes und conférer l‘être à des idées qui pour la die Unsterblichkeit der Seele postuliert,
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raison spéculative n‘étaient que princi- obwohl die Vernunft sie nicht erkennen pes régulateurs à poser la liberté, Dieu könnte. Die Vernünftigkeit der Handet l‘immortalité au delà de l‘expérience. lung ist es selbst, die Freiheit verlangt, Les affirmations de la raison pratique ne obwohl die theoretische Vernunft sie aus sont pas ici des savoir mais uniquement der Erfahrung (der phänomenalen Welt) des articles de foi, d‘une foi qui en tant ausschließt und obwohl sie jenseits des que commandée, par la raison pratique Erfahrungsbereichs weder etwas behaupest elle-même rationnelle. N‘est-ce pas ten noch etwas verneinen kann. là un démenti que l‘usage pratique de So drängt uns die praktische Vernunft, la raison inflige à la raison théorique? den Ideen Sein zuzusprechen, die für Si l‘une et l‘autre n‘étaient que coor- die spekulative Vernunft nur regulative données, on aurait pu penser en effet que Prinzipien waren, also Freiheit, Gott l‘usage de la raison pratique est abusif und Unsterblichkeit über die Grenzen et qu‘il doit être réduit au silence dans der Erfahrung hinaus anzunehmen. Die l‘intérêt de la théorie. Mais Kant montre Behauptungen der praktischen Vernunft d‘une part, que la raison théorique qui sind hier keine Erkenntnisse, sondern ne saurait adhérer à la foi de la rasion einzig und allein Inhalte des Glaubens, pratique, ne peut non plus la contes- eines Glaubens, der selbst vernünftig ter; et d‘autre part, Kant montre que ist, da er durch die praktische Vernunft l‘intérêt de la raison théorique est sub- geboten ist.25 Ist das nicht eine Wiordonnée à l‘intérêt de la raison prati- derlegung der theoretischen Vernunft que – tout intérêt étant en fin de compte durch den praktischen Gebrauch der pratique. L‘activité désintéressée de la Vernunft? Wenn die eine und die an»raison spéculative«, de la raison recher- dere nur aufeinander abgestimmt wären, chant impassiblement des vérités et dont hätte man in der Tat denken können, daß l‘intérêt consiste »dans la connaissance der Gebrauch der praktischen Vernunft de l‘objet poussée jusqu‘aux principes a mißbraucht wird und daß er im Interesse priori les plus élevés« est conditionnée der Theorie schweigen soll. Kant zeigt et que l‘intérêt qui la fait »fonctionner« einerseits, daß die theoretische Verest seulement com-{8}plet9 dans l‘usage nunft, die dem Glauben der praktischen pratique. S‘il n‘y avait pas d‘usage prati- Vernunft nicht zustimmen könnte, ihn que de la raison pure, la raison théorique nicht mehr bestreiten kann, und andene saurait jamais entrer en exercice. La rerseits zeigt Kant, daß das Interesse der connaissance pour la conaissance »ne theoretischen Vernunft dem Interesse vaudrait pas une heure de peine« comme der praktischen Vernunft untergeordl‘a vu Pascal. C‘est cette subordination de net ist – da jedes Interesse schließlich l‘intérêt de la raison théorétique à l‘inté- praktisch ist. Die objektive Tätigkeit der rêt de la raison pratique que Kant appelle »speculativen Vernunft«, der Vernunft, primat de la raison pure pratique. die unerschütterlich Wahrheiten sucht, deren Interesse »in der Erkenntniß des Objects bis zu den höchsten Principien
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a priori« besteht,26 ist bedingt, und das Interesse, das sie »funktionieren« läßt, ist nur im praktischen Gebrauch vollständig.27 Wenn es den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft nicht gäbe, würde die theoretische Vernunft nie zur Ausübung kommen. Das Wissen um des Wissens willen »wäre nicht eine Stunde Mühe wert«, wie Pascal gesehen hat.28 Es ist diese Unterordnung des Interesses der theoretischen Vernunft unter das Interesse der praktischen Vernunft, die Kant das Primat der reinen praktischen Vernunft nennt. 5° – Le primat de la Raison pure pratique et la Religion
5. Das Primat der reinen praktischen Vernunft und die Religion
La raison répond, selon l‘expression Die Vernunft entspricht, laut einem même de Kant, au »désir indomptable Ausdruck Kants selbst, der »nicht de poser quelque part un pied ferme au zu dämpfende[n] Begierde, durchaus delà des limites de l‘expérience« (Cr. de über die Grenze der Erfahrung hinla Raison pure B. 824). Mais se placer au aus irgendwo festen Fuß zu fassen« delà de l‘expérience, ce n‘est pas traver- (KrV B 824). Aber einen Platz jenseits ser par la pensée toute la série des con- der Erfahrung einzunehmen, bedeutet ditions sur lesquelles l‘expérience repose nicht, mit dem Denken die ganze Reihe en régressant de condition en condition der Bedingungen zu durchschreiten, auf jusq‘au principe, jusqu‘à l‘inconditionné; denen die Erfahrung beruht, von Bedinse placer au delà de l‘expérience, c‘est en gung zur Bedingung bis zum Prinzip partant de la raison pratique, qui com- zurückzugehen, bis zum Unbedingten; mande inconditionnellement, accomplir einen Platz jenseits der Erfahrung einun acte, c‘est-à-dire accomplir un acte nehmen, bedeutet, im Ausgang von der libre, c‘est-à-dire encore un acte moral. praktischen Vernunft, die unbedingt geLa raison agit avant d‘être spéculation, bietet, eine Handlung zu vollziehen, d. h. elle est dignité de l‘être moral, placé en eine freie Handlung zu vollziehen, das agissant librement à l‘origine de la série bedeutet eine moralische Handlung. Die des phénomènes dont aucune pensée ne Vernunft handelt, bevor sie Spekulation saurait remonter le courant. »Le concept ist, sie ist die Würde des moralischen de la liberté, écrira Kant, forme la clef Wesens, sie ist an einen Platz gestellt, an de voûte de tout l‘édifice d‘un système dem sie frei handelt, am Anfang einer de la raison pure et même de la raison Reihe von Erscheinungen, gegen deren
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spéculative«. La Raison tout court – le commencement au delà des limites de l‘expérience, le commencement d‘une série – est action libre.10 La spéculation se subordonne à l‘action. Il n‘y aurait pas de pensée, si la raison spéculative n‘avait pas d‘intérêt. {9} La raison spéculative ne se déploie pas dans une sérénité impersonnelle. Au commencement était l‘intérêt. Que la raison pure repose sur un intérêt, qu‘il existe un intérêt quand il n‘y a plus d‘intérêts; que l‘intérêt, inséparable du pratique pur, puisse être reconnu comme l‘ultime sens de la rationalité, que la pratique – ou comme on le dira bientôt, la praxis – soit le fond du logos – c‘est là la grande nouveauté du primat de la raison pure. Avant les postulats de la raison pure pratique, avant l‘existence de Dieu et l‘immortalité de l‘âme, aux quelles la raison pure pratique croit de foi rationnelle, c‘est cette subordination du connaître à un intérêt qui est le moment religieux de la pensée kantienne. C‘est peut-être la façon dont les formes rationnelles s‘enchaînent sans intérêt aucun, selon le »structuralisme« contemporain, qui constitue la plus caractéristique contestation du primat de la raison pure pratique. Le »structuralisme« est le primat de la raison théorique. Mais le moment religieux du kantisme est plus moderne qu‘on ne pense. L‘intérêt, »principe qui contient la condition sous laquelle un pouvoir de l‘esprit est seulement mis en exercice«, n‘est pas
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Strom kein Denken schwimmen könnte. »Der Begriff der Freiheit«, schreibt Kant, »macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus«.29 Die Vernunft – der Anfang jenseits der Grenzen der Erfahrung, der Anfang einer Reihe – ist kurz gesagt eine freie Handlung. Die Spekulation ordnet sich der Handlung unter. Es gäbe kein spekulatives Denken, wenn die spekulative Vernunft kein Interesse hätte. Die spekulative Vernunft entfaltet sich nicht in einer unpersönlichen Klarheit. Am Anfang war das Interesse. Daß die reine Vernunft auf einem Interesse beruht, daß ein Interesse besteht, auch wenn es dort keine Interessen mehr gibt; daß das Interesse, von dem reinen Praktischen nicht zu trennen, als der letztgültige Sinn der Rationalität anerkannt werden kann, daß das Praktische – oder wie man kurz sagt: die Praxis – der Grund des Logos ist – das ist die große Neuheit des Primats der reinen Vernunft. Vor den Postulaten der reinen praktischen Vernunft, vor dem Dasein Gottes und der Unsterblichkeit der Seele, an die die reine praktische Vernunft im Vernunftglauben glaubt, ist es diese Unterordnung des Wissens unter ein Interesse, die das religiöse Moment im Kantischen Denken ausmacht. Das ist vielleicht die Weise, in der sich die Vernunftformen ohne jedes Interesse verbinden, gemäß dem zeitgenössischen »Strukturalismus«, der die charakteristischste Bestreitung des Primats der reinen praktischen Vernunft darstellt. Der »Strukturalismus«
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mesuré, pour Kant, par sa conformité aux besoins, aux désirs et aux passions de l‘animalité humaine. Le penchant compromettrait la liberté de l‘acte qu‘il déclenche et les opinions qu‘il déterminera ne sauraient compter pour la pensée rationnelle. L‘intérêt de la raison pure pratique est, au delà des intérêts de la nature sensible et, ainsi, en rupture avec une théologie (et aussi avec une politique) qui assure la satisfaction de l‘homme naturel, ou qui, comme le dira Nietzsche – n‘apporte que des consolations. Le Dieu de l‘intérêt désintéressé survit à la mort du grand Pan, qui n‘étant qu‘une force suprême parmi les forces traversant la nature re-{10}gissant comme lui, ou sous ses ordres, les intérêts des hommes, ces »animaux raisonnables« qui ont perdu leurs signification exceptionnelle dans la crise actuelle de l‘humanisme occidental. Emmanuel LEVINAS 11
ist das Primat der theoretischen Vernunft.30 Aber das religiöse Moment der Philosophie Kants ist moderner als man denkt. Das Interesse als »Princip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben [eines Vermögens des Gemüths] befördert wird«,31 ist laut Kant nicht an seiner Übereinstimmung mit den Bedürfnissen, den Sehnsüchten und den Leidenschaften der menschlichen Animalität zu messen. Die Neigung würde die Freiheit der Handlung beeinträchtigen, die sie auslöst, und die Ansichten, die sie bestimmt, könnten für das vernünftige Denken nicht zählen. Das Interesse der reinen praktischen Vernunft steht, jenseits der Interessen der sinnlichen Natur, demzufolge im Gegensatz zu einer Theologie (und auch zu einer Politik), die die Befriedigung des natürlichen Menschen beteuert, oder die, wie Nietzsche sagt – nur Tröstungen verschafft.32 Der Gott des uneigennützigen Interesses überlebt den Tod des großen Pan,33 der nur eine höchste Kraft unter den Kräften gewesen ist, die die Natur übersteigen und die wie er – oder unter seinem Befehl – die Interessen der Menschen lenken, dieser »vernünftigen Tiere«,34 die ihre einzigartige Bedeutung in der gegenwärtigen Krise des abendländischen Humanismus verloren haben.
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iii. anmerkungen zum text Emmanuel Levinas hat den hier edierten französischen Text Herrn Professor Dr. Roger Burggraeve für das Archiv in Leuven gegeben. Herr Burggraeve hat ihn freundlicherweise für die vorliegende Veröffentlichung zur Verfügung gestellt, wofür ihm herzlicher Dank gebührt. Bisher ist der Text nicht im französischen Original erschienen, sondern nur in niederländisch (Het primaat van de zuivere praktische rede. Übersetzt von C. P. Heering-Moorman. In: Wijsgerig Perspectief op Maatschappij en Wetenschap 11, 1970 –71, n. 3, 178 –186) und in englisch (The primacy of pure practical reason (translation and annotations). Übersetzt von B. Billings. In: Man and World 27, 1994, 445– 453). Das Typoskript hat zehn Seiten mit handschriftlichen Korrekturen. Die Blattanfänge sind im Text vermerkt ({ Seitenzahl }). Auf der ersten Seite findet sich am linken Rand oberhalb des Titels handschriftlich der Name Levinas. Am rechten oberen Rand steht in Klammern die Jahreszahl 1971. Alle Stellen, die im folgenden kursiviert sind, sind im Typoskript mit der Hand unterstrichen. Handschriftliche Verbesserungen sind ohne Vermerk in den Text eingefügt. Durchgestrichene Passagen wurden stillschweigend weggelassen. Ein besonderer Dank gilt auch meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Norbert Fischer, für seine Hilfe bei der Herausgabe dieses Artikels. 2 Die 1 in Klammern verweist auf die einzige Fußnote des Typoskripts. 3 Vor »bref« und nach »spéculative« sind handschriftlich Interpunktionen eingefügt, vielleicht Gedankenstriche. 4 Das Gesperrte ist im Text doppelt unterstrichen. 5 Oberhalb von »Pour« stehen zwei nicht eindeutig identifizierbare Buchstaben, aber weder ein Einfügungszeichen noch eine Durchstreichung, die sonst bei allen handschriftlichen Eintragungen zu finden sind. 1
Die Endung des Wortes ist im Typoskript unleserlich. 7 Das »se« ist durch handschriftliche Überzeichnung unleserlich; vermutlich sollte ein Tippfehler (»se«?) korrigiert werden. 8 Eine durchgestrichene, mit der Hand korrigierte Stelle – beides jedoch unleserlich. 9 Wegen einer Beschädigung rechts unten des Blattes 7 ist nur »c« zu lesen (es fehlt: »om-«). 10 Der zweite Gedankenstrich ist im Typoskript nicht zu erkennen; sein Ort ist aber durch einen übergroßen Wortabstand in der handschriftlichen Korrektur identifizierbar. 11 Unterhalb des Namens steht mit anderer Schrift die Bemerkung: »geschreven voor Wijsgeerig Perspectief jaargang 11 (1970/71), n. 3, pp. 178 –186«. 12 WA A 481=AA 8,33. 13 Vgl. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (A 481 = AA 8,33): »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« 14 Vgl. dazu KpV A 215 f.: »III. Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen. Unter dem Primate zwischen zwei oder mehreren durch Vernunft verbundenen Dingen verstehe ich den Vorzug des einen, der erste Bestimmungsgrund der Verbindung mit allen übrigen zu sein. In engerer, praktischer Bedeutung bedeutet es den Vorzug 6
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des Interesse des einen, so fern ihm […] das Interesse der andern untergeordnet ist.« 15 Vgl. dazu die Vorrede zur ersten Auflage der KrV A VII f. Laut Kant wird die menschliche Vernunft durch Fragen belästigt, die sie nicht abweisen, aber auch nicht beantworten kann. Die Vernunft steigt immer höher zu entfernteren Bedingungen bis sie sich genötigt fühlt, Grundsätze anzunehmen, die den Erfahrungsgebrauch überschreiten. Die Vernunft gerät in Widersprüche, »weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Gränze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probirstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik« (KrV A VIII). 16 Vgl. KrV B 349–355. 17 Vgl. dazu das erste Hauptstück.Von den Paralogismen der reinen Vernunft des zweiten Buches der transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft. 18 Vgl. KrV B 433. Vgl. dazu die ersten drei Abschnitte des zweiten Hauptstückes Die Antinomie der reinen Vernunft in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. 19 Vgl. dazu die den vierten bis siebten Abschnitt des dritten Hauptstücks Das Ideal der reinen Vernunft der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. 20 Kant nennt das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ein Faktum der Vernunft, sogar das einzige Faktum der reinen Vernunft. Kant bringt das moralische Gesetz in der Kritik der praktischen Vernunft im Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft zur Sprache (KpV A 54): »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Andere Formulierungen des kategorischen Imperativs finden sich in GMS BA 52 = AA 4,421 und GMS BA67 = AA 4,429. Vgl. KpV A 55 f.: »Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden
Datis der Vernunft […] herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori […]. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankündigt.« 21 Vgl. KpV A 216: »Einem jeden Vermögen des Gemüths kann man ein Interesse beilegen, d. i. ein Princip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird. Die Vernunft als das Vermögen der Principien bestimmt das Interesse aller Gemüthskräfte, das ihrige aber sich selbst.« 22 Der Bestimmungsgrund einer moralischen Handlung darf laut Kant nicht eine sinnliche Neigung sein, sondern alleine das moralische Gesetz muß den Bestimmungsgrund des Willens darstellen. Dieses moralische Gesetz tue der Eigenliebe Abbruch und schlage den Eigendünkel nieder (KpV A 130): »Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellectuellen Causalität, d. i. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit dem subjectiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung, und, indem es ihn sogar niederschlägt, d. i. demüthigt, ein Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird. Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl«. Dieses Gefühl nennt Kant auch ein moralisches Gefühl (KpV A 133). 23 Levinas bezieht sich auf ein Beispiel, das Kant in der Kritik der praktischen Vernunft schildert, um zu zeigen, daß uns die Freiheit durch das Bewußtsein eines Sittengesetzes bewußt wird (KpV A 54): »Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugnis
Das Primat der praktischen Vernunft wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilet also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.« Vgl. auch RGV B 59 Anm.; B 60 = AA 6,49 f. 24 KpV A 199. 25 Vgl. KU B 459: »Nur Gegenstände der reinen Vernunft können allenfalls Glaubenssachen sein, aber nicht als Gegenstände der bloßen reinen speculativen Vernunft; denn da können sie gar nicht einmal mit Sicherheit zu den Sachen, d. i. Objecten jenes für uns möglichen Erkenntnisses, gezählt werden.« 26 KpV A 216. 27 Vgl. dazu KpV A 216: »Die Vernunft als das Vermögen der Principien bestimmt das Interesse aller Gemüthskräfte, das ihrige aber sich selbst. Das Interesse ihres speculativen Gebrauchs besteht in der Erkenntnis des Objects bis zu den höchsten Principien a priori, das des praktischen Gebrauchs in der Bestimmung des Willens in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks.« 28 Vgl. Blaise Pascal, Pensées, 84 Laf./79 Br.: »[Descartes. Il faut dire en gros: ›Cela se fait par figure et mouvement‹, car cela est vrai. Mais de dire quels, et composer la machine, cela est ridicule, car cela serait vrai, nous n’estimons pas que toute la philosophie vaille une heure de peine.]«/(Descartes. Man muß im großen und ganzen sagen: Das geschieht durch Gestalt und Bewegung. Denn das ist wahr, doch zu sagen, welche Gestalt und Bewegung, und die Maschine zusammenzusetzen, das ist lächerlich. Denn das ist nutzlos und unsicher und mühselig.
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Und wenn das die ganze Wahrheit wäre, so meinen wir nicht, daß alle Philosophie eine Stunde Mühe wert wäre.) 29 Vgl. KpV A 4: »Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft aus, und alle andere Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an, und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objective Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz.« 30 Vgl. auch AQ, 74: »Les intérêts que Kant a découverts à la raison théorique ellemême, l’avaient subordonnée à la raison pratique, devenue raison tout court. Ces intérêts sont précisément contestés par le structuralisme qui est peut-être à définir par le primat de la raison théorique.« 31 KpV A 216. 32 Zu den »Tröstungen der Religion« bei Friedrich Nietzsche vgl. u. a. Morgenröte 41 = KSA 3, 48; Menschliches, Allzumenschliches 169 = KSA 2, 447. 33 Vgl. Blaise Pascal, Pensées, 343 Laf./ 695 Br.: »Prophéties. Le grand Pan est mort.« Martin Heidegger zitiert diesen Ausspruch Pascals in Nietzsches Wort »Gott ist tot« 198 (GA 5,214). Dieses Wort stammt von Plutarch, der in seiner Abhandlung Über die Abnahme der Orakel darüber berichtet, daß man eine Orakelstimme vernommen hat, die den Tod des Gottes Pan verkündet hat. Vgl. Pascal: Gedanken. Stuttgart 1997, 201 Anm. 45. 34 Vom Menschen als einem ›vernünftigen Thier‹ spricht Kant öfters; z. B. KU B 282; SF A 197=AA 7,112; Anth A 284 = AA 7,303 und A 315 = AA 7,321; ZeF; 8,414.
Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants von Bernd Dörflinger
1. Moral und Zwecke Der erste Teil der Vorrede zur ersten Auflage von Kants Religionsschrift endet mit einer langen Anmerkung, die in der – hier nicht zum ersten Mal geäußerten – These gipfelt, Moral führe »unausbleiblich zur Religion« (RGV B XIII = AA 6,8 Anm.). Auch was unter Religion verstanden werden soll, ist hier gesagt, nämlich Annahme eines »allvermögende[n] moralische[n] Wesen[s] als Weltherrscher« (ebd.). – Ganz zu Beginn dieser Vorrede heißt es allerdings von der Moral unmißverständlich, sie sei »vermöge der reinen praktischen Vernunft […] sich selbst genug« und bedürfe »zum Behuf ihrer selbst […] keineswegs der Religion« (RGV B III f. = AA 6,3). Obwohl sofort ersichtlich ist, daß es keinen Widerspruch erzeugt, Moral einerseits für autonom und andererseits für notwendig mit Religion verbunden zu erklären, scheint doch ein Spannungsverhältnis vorzuliegen. Denn der doch als ›moralisches Wesen‹ apostrophierte göttliche Weltherrscher wird bei der Bestimmung der Autonomie der Moral ausdrücklich als etwaiger moralischer Gesetzgeber ausgeschlossen. Der Mensch bedürfe »weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten« (ebd.). Ja, es sei sogar seine »eigene Schuld, wenn sich ein solches Bedürfniß« – vermittels der Idee eines anderen Wesens seine Pflicht zu erkennen und ihr gemäß zu handeln – »an ihm vorfinde« (ebd.). Dieses Bedürfnis könne »keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität« abgeben (ebd.). Kant hält es demnach sogar für ein moralisches Defizit, wenn der Mensch seine Pflicht nicht im Selbstverhältnis freier Selbstverpflichtung erzeugt, sondern auf die Idee Gottes rekurriert, um von diesem, also heteronom, seine Verpflichtung zu entlehnen. Unter dem Aspekt der Begründung der Moral erscheint derart der religiöse Gedanke an den moralischen Weltherrscher nicht bloß unnötig, sondern sogar schädlich.
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Auch über die Begründung hinaus in Ausübung der Pflicht ist es nach Kant ganz unnötig, sich in Beziehung auf Gott zu setzen. Es bedarf ihmnach überhaupt »keines materialen Bestimmungsgrundes der freien Willkür« – wie Gott einer wäre –, »das ist keines Zwecks, weder um was Pflicht sei, zu erkennen, noch dazu, daß sie ausgeübt werde« (RGV B IV f. = AA 6,3 f.). Im Gegenteil soll allein durch Reflexion auf »die bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit« (RGV B IV = AA 6,3) einer Maxime zu entscheiden sein, ob ich etwa »vor Gericht«, so Kants Beispiel, »in meinem Zeugnisse wahrhaft […] sein soll« (RGV B V = AA 6,4). Denjenigen, der es nötig findet, seine Wahrhaftigkeit durch einen materialen Bestimmungsgrund zu erzeugen, nennt er gar einen »Nichtswürdige[n]« (ebd.). Nach dieser weitgehenden Aussage hätten wir es z. B. dann mit einem Nichtswürdigen zu tun, wenn einer allein aus dem Grund wahrhaft aussagte, weil eine Falschaussage gegen Gottes Gesetz verstoßen und Gott nicht gefallen würde, wenn er seine Wahrhaftigkeit also nicht aus sich erzeugen könnte. Doch trotz der Abweisung jeglicher Zweckvorstellung aus der Willensbestimmung zum moralischen Handeln, d. h. trotz der autonom im Selbstverhältnis durch Reflexion auf die Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Maxime zu erzeugenden Verpflichtung, etwa zur Wahrhaftigkeit, hat Moral doch eine notwendige Beziehung auf Zwecke; eine der moralischen Willensbestimmung nachträgliche, aber doch unvermeidliche. Kants Begründung dieser Notwendigkeit lautet schlicht: weil »keine Willensbestimmung im Menschen […] ohne alle Wirkung sein kann« (ebd.). Immer muß also die Vorstellung einer Wirkung, d. h. eine Zweckvorstellung, zur moralischen Bestimmung der Willkür hinzukommen, weil die Willkür sonst, so Kant, zwar angewiesen wäre »wie […], aber nicht wohin sie zu wirken habe« (ebd.). Der Wille benötigt also etwa nicht bloß die Anweisung zur wahrhaftigen Aussage, die als solche im Selbstverhältnis als Selbstverpflichtung ohne Zweckvorstellung zu erzeugen ist, sondern darüber hinaus eine Vorstellung von den Wirkungen des wahrhaftigen Aussagens. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß nach möglichen Erwägungen mit ebenso möglichen unterschiedlichen Ergebnissen die Zweckvorstellung, die die moralische Willensbestimmung dann schließlich vervollständigt und spezifiziert, nicht zur Modifikation dieser moralischen Bestimmung führen darf, also nicht etwa das Wahrhaftigkeitsgebot selbst fraglich werden lassen darf, denn dann wäre unzulässigerweise das Moralische an der Willensbestimmung doch wiederum unter die Bedingung eines Zwecks gestellt. Aber im Anschluß an die moralische Willensbestimmung
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sind nach Kant bestimmte handlungsorientierende Zweckvorstellungen nicht bloß möglich, sondern sogar gefordert und unvermeidlich. Mit der auf die rein moralische Willensbestimmung notwendig folgenden Einbeziehung von Zwecken ist die Frage nach der Realisierung des Moralischen in der Welt an diese Willensbestimmung notwendig angeschlossen, d. i. nach Kantischem Sprachgebrauch die Frage nach der Verbindung des Moralischen »mit der Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können« (RGV B VIII = AA 6,5). Der zuletzt skizzierte Zusammenhang ist von Kant selbst in der bis hierhin zugrundegelegten Passage der Religionsschrift wie folgt ausgedrückt: Es bedarf »zwar für die Moral zum Rechthandeln keines Zwecks, sondern das Gesetz, welches die formale Bedingung des Gebrauchs der Freiheit überhaupt enthält, ist ihr genug. Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme, und worauf wir, gesetzt auch, wir hätten dieses nicht völlig in unserer Gewalt, doch als auf einen Zweck unser Thun und Lassen richten könnten« (RGV B VI f. = AA 6,4 f.).
2. Notwendige Verbindung von Tugend und Glück In der Fortführung der Passage der Religionsschrift erwägt Kant nun nicht spezielle Situationen des Rechthandelns und seiner Folgen in der Welt, sondern welche Welt im ganzen der allein am moralischen Gesetz orientierte Mensch »wohl, durch die praktische Vernunft geleitet, erschaffen würde, wenn es in seinem Vermögen wäre« (RGV B VIII = AA 6,5); er erwägt den »Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann«, d. i. der »Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke« (ebd.). Dieser Endzweck, so das Ergebnis, ist gedacht durch die Idee des höchsten Guts, worunter verstanden wird, daß der Mensch sich »zu seinen Pflichten« noch »den Erfolg derselben« hinzudenkt (RGV B IX = AA 6,6), und zwar derart, daß die Vereinigung der aus moralischer Pflicht sein sollenden Wirkungen mit denjenigen Zwecken gedacht wird, »die wir haben« (RGV B VII = AA 6,5). Die Zwecke aber, die wir schlicht haben, d. h. die mit der natürlichen Vorfindlichkeit des Menschen schon mit gegeben sind, lassen sich zusammengefaßt durch den Zweck der Glückseligkeit benennen. Es wird also durch die Idee des höchsten Guts die Vereinigung der moralischen Wirkungen mit dem gedacht, was der Mensch
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aufgrund natürlichen Bedürfnisses will, nämlich glücklich sein. Insofern mit dem Moralischen vereinigt, wird dieses Glücklich-Sein nicht nur nicht durch amoralisches Handeln, auch nicht durch moralindifferentes Handeln erzielt sein dürfen, sondern der Pflichterfüllung »angemeßne Glückseligkeit« sein müssen, d. h. durch Pflichterfüllung verdientes Glück. Insgesamt ist also, wie es schon die Kritik der reinen Vernunft in der Methodenlehre ausdrückt, durch die Idee des höchsten Guts das »System der sich selbst lohnenden Moralität« gedacht (KrV A 809 / B 837). Es ist an dieser Stelle also festzuhalten, daß Kant zum einen die formale Willensbestimmung nach dem Sittengesetz für notwendig durch materiale Zwecksetzungen erweiterungsbedürftig hält und daß zweitens diese Zwecksetzungen auf einen geradezu ›eudaimonistisch‹ zu nennenden Endzweck hinauslaufen, wobei darin allerdings Glückseligkeit an die Bedingung der Tugend, die er sonst auch Glückswürdigkeit nennt, rückgebunden bleibt. Kant unterscheidet zwischen dem, was sich analytisch aus den moralischen Gesetzen entwickeln läßt und dem davon unterschiedenen »synthetische[n] praktische[n] Satz a priori«, daß sich jedermann das höchste Gut »zum Endzwecke machen solle« (RGV B XI Anm. = AA 6,7 Anm.), durch welchen Imperativ also das Glücksziel in die Sphäre des Sollens mit einbezogen ist. Das ist im Fall der analytischen Betrachtung der moralischen Gesetze nicht so, denn, so Kant: »Diese […] gebieten schlechthin, es mag auch der Erfolg derselben sein, welcher er wolle, ja sie nöthigen sogar davon gänzlich zu abstrahiren« (ebd.). Es wäre allerdings verfehlt, daraus zu schließen, daß die moralischen Gesetze nach analytischer Betrachtung von der Glücksthematik ganz abgetrennt sind. In der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft ist dazu ausgeführt, daß unter der Bedingung, »daß jedermann thue, was er soll« (KrV A 810 / B 838) – und gemeint ist die Befolgung der sittlichen Gesetze bloß demgemäß, was sie analytisch enthalten –, daß dann die »vernünftigen Wesen […] selbst […] Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden« (KrV A 809 / B 837). Bei faktischer Erfüllung dieser Bedingung – wenn es also keine Hindernisse universeller Pflichterfüllung gäbe – wäre es nicht nötig, das Glück, im Zitat durch die universelle Wohlfahrt angesprochen, ausdrücklich als synthetisch hinzukommenden Zweck zu setzen und es eigens zum Gegenstand des Sollens zu machen, weil es sich auch ohne dies bloß bei Befolgung der formalen sittlichen Anweisung, Maximen des Handelns gesetzesförmig einzurichten, von selbst einstellen würde. Glück ist also in jedem Fall, auch im analytischen, im Gesichtsfeld des Begriffs der Moralität,
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weshalb allein auch einsichtig wird, warum Kant den Tugendhaften, d. h. den, der unangesehen aller materialer Zwecke allein pflichtgemäß handelt, in eins den Glückswürdigen nennt. Ohne daß mindestens die Projektion des Glücks schon im Begriff der Moralität enthalten wäre, könnte der Tugendhafte auch nicht einmal Glückswürdiger heißen. Daß dieser allerdings bloß glückswürdig und nicht aufgrund seiner Moralität auch schon ein in der Tat Glücklicher und Glück Hervorbringender ist, zeigt schon an, daß es sich bei der genannten Voraussetzung – jeder tut, was er soll; Hindernisse der Sittlichkeit gibt es nicht – um eine Fiktion handelt, von der das wirkliche menschliche Leben abweicht. Anders gesagt, ist das Glück unter den Bedingungen dieses Lebens nicht analytisch im Begriff des Rechthandelns enthalten. Glück folgt also nicht notwendig aus dem Rechthandeln. Es tut nicht jeder, was er soll, denn mit der Sinnlichkeit gibt es einen zweiten, allem Anschein nach moralisch-praktischer Rationalität externen Aspekt des menschlichen Selbstverständnisses. Seiner Sinnlichkeit nach ist sich der Mensch gegeben, vorfindlich, mit Bedürfnissen behaftet, die den Status unverfügbarer empirischer Daten haben. Diese Sinnlichkeit, die im Unterschied zur moralischen Willensbestimmung die ›Privatwillkür‹ des Menschen bestimmt (KrV A 810 / B 838), ist zwar per se moralindifferent und insofern unschuldig, aber, wenn im moralisch relevanten Fall die Handlungsmaxime bestimmend, moralitätszerstörend. Aufgrund dieser anscheinend vernunftexternen Sinnlichkeit mit ihrem anscheinend isolierten Gebiet ganz außermoralischer Bedürfnisse und moralindifferenter Befriedigungen, das sind von Glückswürdigkeit abgetrennte Glücksmöglichkeiten, ist im Fall moralischer Handlungen, so Kant, nicht »bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden« (ebd.). Das heißt: Das Verhältnis von Glückswürdigkeit und tatsächlichem Glück scheint ein beliebiges und zufälliges zu sein. Das aber, daß der Glückswürdige nicht notwendig glücklich sein soll, sondern vielleicht unglücklich bleiben muß, entsprechend daß der Unwürdige vielleicht glücklich ist, ist ein buchstäblich irrationaler Zustand, mit dem praktische Vernunft sich nicht begnügen kann. Das Defizit dieses Zustands denkt sie sich mittels der notwendigen Idee des höchsten Guts als geheilt und fordert demgemäß, so der Text der Methodenlehre, daß »das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden sei« (KrV A 810 / B 837). Das ist die Forderung, daß der Nexus zwischen Glückswürdigkeit und Glück ein notwendiger sei. Spezieller, auf das Handeln bezogener Ausdruck dieser Forderung ist, wie in der Formulierung
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der Religionsschrift schon angeführt, der synthetisch praktische Satz a priori, daß »jedermann sich das höchste in der Welt mögliche Gut zum Endzwecke machen solle« (RGV B XI Anm. = AA 6,7 Anm.). Synthetisch ist dieser Satz, weil er über den bloßen »Begriff der Pflicht in der Welt hinausgeht« – man könnte auch sagen: mißlicherweise hinausgehen muß – »und eine Folge derselben [der Pflichten] (einen Effect) hinzuthut, der in den moralischen Gesetzen nicht enthalten ist« (ebd.), d. i. die Glückseligkeitsfolge. Weil das Glück aus der Befolgung der moralischen Gesetze nicht von selbst resultiert, muß es durch Vernunft hinzukommend ausdrücklich gemacht und auch eigens gefordert, d. h. in die Sollensvorschrift als synthetische Ergänzung aufgenommen werden. Mit der nun für den Menschen gestellten Aufgabe, d. i. in einer anderen Formulierung Kants: die Aufgabe, »die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken« (RGV B XIII Anm. = AA 6,8 Anm.), steht er unter der Anforderung, über bloße formale Pflichterwägungen hinaus materiale Erwägungen mit dem Ziel der Gestaltung einer besseren Welt anzustellen, in der tatsächlich auch für das Glück der Glückswürdigen gesorgt ist. Es stellt dies eine Ausdehnung der Rationalitätsansprüche praktischer Vernunft auf den Bereich des Sinnlichen dar. Unterstellt nämlich, die Forderung wäre erfüllt, wäre das Glück des Glücklichen nicht länger bloß empirisches Datum, d. h. nicht länger bloß zufällig gegebenes Faktum, das ebenso zufällig auch dem Unwürdigen hätte zuteil werden können, sondern es wäre vor der praktischen Vernunft gerechtfertigtes, ja in der notwendigen Konsequenz ihrer Betätigung liegendes verdientes Glück. Die mindestens partielle Herstellung solcher Verhältnisse muß nun auch möglich sein, denn ohne dies, d. h. bei Unmöglichkeit des Bewirkens von Glück in Korrelation mit Glückswürdigkeit, wäre es unsinnig, das höchste Gut, wie Kant es doch tut, in einen für jedermann geltenden Imperativ aufzunehmen. Daß wir auf den genannten »Zweck unser Thun und Lassen richten« sollen, liegt eben daran, daß es »der Vernunft […] unmöglich gleichgültig sein« kann, was aus dem »Rechthandeln herauskomme«, und diese Vorschrift gilt, so Kant, »gesetzt auch, wir hätten dieses nicht völlig in unserer Gewalt« (RGV B VII = AA 6,5). Etwas davon muß in unserer Gewalt liegen, um den erweiterten Imperativ nicht aufgrund unmöglicher Verwirklichung sinnlos werden zu lassen, doch die Frage, ob alles dazu in unserer Gewalt liegt, wird von Kant verneint. Er stellt fest, daß »das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht« (RGV B XIII = AA 6,8 Anm.). Anders gesagt ist das menschliche
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Vermögen nicht hinreichend, durch sein Wirken in der Welt den Zufallscharakter des einer isolierten Sinnlichkeit zugehörenden Glücklich- bzw. Unglücklich-Seins durch Integration in die vereinigten Systeme der Sittlichkeit und der Glückseligkeit zu eliminieren. Da Vernunft aber auf Totalität aus ist und sein muß, muß sie das, wozu sie selbst nicht hinreichend ist, in ein, so Kant, »allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher« setzen (ebd.), »unter dessen Vorsorge dieses geschieht« (ebd.).1 An diese zuletzt zitierte Stelle fügt Kant sein Diktum an: »Moral führt unausbleiblich zur Religion« (RGV BXIII = AA 6,8). Vgl. Vossenkuhl: Die Paradoxie in Kants Religionsschrift und die Ansprüche des moralischen Glaubens. Mit gewissen negativen Konsequenzen findet sich dort die Differenzierung zwischen der analytischen und der synthetischen (um eine materiale Zwecksetzung erweiterten) Fassung des Sittengesetzes nicht. Die Bedingung, die Vossenkuhl statuiert (vgl. 169), damit das Sittengesetz nicht sinnlos sei, nämlich die Annahme Gottes als des Garanten des im Fall moralischer Handlungen für den Menschen unverfügbaren Entgegenkommens der Natur unter dem Gesichtspunkt des Weltbesten, gilt aber nur für seine synthetische Version. Gemäß der analytischen Fassung, d. h. ohne Einbeziehung materialer Zweckerwägungen, ist es dem Menschen immer möglich, etwa zu erkennen, daß die Wahrheit gesagt werden muß; und es steht auch allein in seiner Macht, dies zu tun. Nur hinsichtlich der gemäß dem synthetischen Imperativ zusätzlich zu der moralischen Erwägung im engeren Sinne anzustellenden Erwägungen unter dem Aspekt des (aus der wahren Aussage) resultierenden, durchaus unsicheren Glückszustands der Welt, ist die Idee göttlicher Beihilfe notwendig. Die verbleibende Schwierigkeit hinsichtlich der etwaigen Sinnlosigkeit des synthetischen Imperativs, die dann in der Tat ungelöst bliebe, wenn etwas definitiv Unerreichbares, der durch Moralität beförderte Glückszustand, durch ihn gefordert wäre, ist nach Vossenkuhl nur durch den Vollzug und die Anerkennung des sogenannten moralischen Gottesbeweises (KU § 87) zu lösen möglich. Dadurch gewinnt ihmnach also die Moralreligion mit ihrem Glauben an die Existenz Gottes das beträchtliche systematische Gewicht, das Sittengesetz vor der Sinnlosigkeit zu bewahren, und es können seines Erachtens nur durch diesen Glauben die am Weltbesten orientierten moralischen Handlungen überhaupt motiviert sein (vgl. 174 / 179). Kant dagegen war weit entfernt davon, Glaubensgewißheit als Bedingung für die Sinnhaftigkeit und die Motivationskraft des Sittengesetzes in seiner synthetischen Gestalt zu statuieren. Der schwächste der Möglichkeitsmodi, die Nicht-Unmöglichkeit eines göttlichen Urhebers, war für ihn praktisch hinreichend, d. h. hinreichend für die Sinnhaftigkeit des synthetischen Imperativs und hinreichend für seine Motivationskraft: »Da ich […] nicht allein befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt zu denken, sondern sogar am moralischen Gesetze einen rein intellectuellen Bestimmungsgrund meiner Causalität (in der Sinnenwelt) habe, so ist es nicht unmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelst eines intelligibelen Urhebers der Natur) und zwar nothwendigen 1
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3. Gott als Element der Idee des höchsten Guts Hier stellt sich nun die Frage, ob das entwickelte Denken-Müssen Gottes schon Religion im Sinne eines Glaubens an Gott bedeutet, so daß also gesagt werden könnte, Moral führe notwendig zum Gottesglauben. Die zu erfüllenden Bedingungen dafür sind sehr hoch gesteckt, wenn nach Kants eigener Angabe aus dem Streit der Fakultäten gilt, daß »Religion (als auf moralische Begriffe gegründet) für sich vollständig und zweifelsfrei sein muß« (SF A 62 = AA 7,44). In seiner Schrift Was heißt: Sich im Denken orientiren? erläutert er Glauben als ein »Fürwahrhalten«, das »dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig unterschieden ist« (WDO A 320 = AA 8,141). Diese Angabe kommt überein mit seiner klassischen Bestimmung dieses Fürwahrhaltens in der Kritik der reinen Vernunft als »subjectiv zureichend[es]« Fürwahrhalten, das, obwohl »objectiv unzureichend«, doch »Überzeugung« sei (vgl. KrV A 822 / B 850). Den Fall der Begründung des Glaubens in moralischen Begriffen beschreibt er hier als den, »sicher« zu sein, »daß diesen Glauben nichts wankend machen könne«.2 Was zunächst dagegen zu sprechen scheint, die entwickelten Gedanken zum höchsten Gut, speziell den Gedanken an Gott als des notwendig zu denkenden Garanten der Vereinigung des Systems der Sittlichkeit mit dem der
Zusammenhang als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt habe« (KpV A 206 / 207 f.). Ähnlich äußert er sich in Reflexion 8077 (AA 19,608): Die Pflicht, nach Kräften das beständige »Fortschreiten zum Bessern« des Menschengeschlechts zu fördern, ist »immer hinreichend gegründet […], wenn man ihr nur nicht die Unmöglichkeit entgegenstellen kann.« 2 KrV A 828 / B 856. Mit der entwickelten Bedingung subjektiver Gewißheit ist – anders als etwa Forschner meint (Das Ideal des moralischen Glaubens. Religionsphilosophie in Kants Reflexionen) – dann noch kein Vernunftglaube begründet, wenn bloß »aus der Perspektive unparteilicher Vernunft das Glück eines moralitätsfähigen und glücksbedürftigen Wesens […] nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu postulieren oder zumindest nach Billigkeitsgründen zu erwarten ist« bzw. wenn Vernunft nur »Hoffnung und Verheißung der Realisierung des höchsten qua vollständigen Guts« (91) gibt. So lange bloß gesagt werden kann: Wenn es aufs Ganze gesehen vernünftig zugeht, müssen das höchste Gut und Gott als sein Garant existieren, ist noch Raum für Zweifel an dieser universellen Rationalität und also der subjektive Zustand des Fürwahrhaltens noch nicht der der Gewißheit. Unter dieser Voraussetzung ist diese Rationalität eben erst, um mit den Worten von O’Neill zu reden, »Gegenstand eines vernünftigen Hoffens« (Innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 104).
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Glückseligkeit, als Grundlage eines Glaubens anzuerkennen, ist der Status dieser Gedanken als Ideen. Die Kritik der reinen Vernunft ist in weiten Teilen Ideenkritik, und zwar auch solcher Ideen, die Vernunft unausbleiblich denken muß. Der Grund, auch nur das schwächste Fürwahrhalten hinsichtlich der Gegenstände dieser Ideen, bloßer Gedankendinge, auszuschließen, ist hier, grob gesprochen, daß ihnen keine Anschauung korrespondierend gegeben werden kann, weder eine empirische noch eine reine. Aus diesem Grund ist daraufhin nicht einmal ein Meinen möglich, wozu nämlich »wenigstens etwas« gewußt werden muß (KrV A 822 / B 850), d. h. wozu wenigstens ein Element objektiv zureichend durch Anschauung bewährt sein muß. Der Ideenkritik unterliegt in der angesprochenen Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft auch die Gottesidee. Ihre Erwägung führt nach den berühmten Abschnitten, die alle nur möglichen Gottesbeweise widerlegen sollen, bloß zu dem minimal positiven Ergebnis, zumal selbstverständlich auch kein Beweis der Nicht-Existenz Gottes möglich wäre, daß Gott nicht unmöglich ist. Minimal ist dieses Ergebnis, weil es nur die logische Widerspruchsfreiheit des bloßen Begriffs von Gott konzediert, nicht aber reale Möglichkeit ausdrückt. Von daher ist in der Gottesfrage Urteilsenthaltung nahegelegt, Agnostizismus also. Zwar weist Kant den Ideen der Dialektik auch noch eine nützliche Rolle zu, nämlich als regulative Ideen zu dienen. In dieser Funktion ist aber etwa die Idee einer »höchsten Intelligenz […] nur ein heuristischer und nicht ostensiver Begriff und zeigt an, nicht wie ein Gegenstand beschaffen ist, sondern wie wir, unter der Leitung desselben die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen« (KrV A 671 / B 699). Unter ihrer Leitung sehen wir, so Kant, die Dinge der Welt so an, »als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten« (ebd.). Es kann aber darum die Existenz des Gegenstandes dieser Idee »nicht einmal hypothetisch zugegeben« werden (KrV A 670 / B 698). Wenn man diese Funktion von Ideen auf die Idee des höchsten Gutes übertrüge, so verbliebe für diese nicht mehr als der Status, einen gedachten, und zwar von vornherein als unerreichbar gedachten Zielpunkt zu markieren, nämlich den der vollständigen Vereinigung der Systeme der Sittlichkeit und der Glückseligkeit vermittels eines allvermögenden Wesens, wobei diese Idee zwar die relative Nützlichkeit haben könnte, das Handeln unter dem Gesichtspunkt der unserem Vermögen ja partiell zugesprochenen Weltverbesserung zu leiten, aber ein Glaube an das Dasein jenes allvermögenden Wesens wird sich daraus nicht herleiten lassen.
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Wenn nun aber doch die Idee des höchsten Guts einen Gottesglauben soll begründen können, dann wird der Charakter dieser Idee ein wesentlich anderer sein müssen als der der soeben erwogenen Ideen. Und in der Tat hat sie diesen, weil sie nämlich eine im Praktischen begründete Idee ist. Insofern Idee, werden durch sie zwar auch wie durch die anderen Ideen unvollständige Verhältnisse durch einen Totalitätsbegriff vervollständigt gedacht, aber in ihrem Fall ist es keine Mangelsituation des Erkennens, sondern es sind im Moralischen begründete defizitäre Verhältnisse. Die Heilung von Erkenntnisdefiziten scheint nun ganz anders bewertet werden zu müssen als die Heilung der aus der Warte praktischer Vernunft unzulänglichen, d. h. bloß zufällig möglichen Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glück. Die Heilung von Erkenntnisdefiziten erscheint als entschieden weniger wichtig. Zum »Dasein Gottes«, als zur Endabsicht der »Speculation der Vernunft im transscendentalen Gebrauche« gehörend, sagt Kant demgemäß: Daran ist das »Interesse der Vernunft nur sehr gering« (KrV A 798 / B 826). Während das demnach schwache Interesse der Vernunft etwa an Gottesbeweisen leicht zu unterdrücken sein wird, scheint das Interesse der Vernunft an der tatsächlichen Überwindung der Situation einer nicht notwendig vergoltenen Moralität unabweisbar zu sein. Die Unabweisbarkeit des Interesses selbst ist hier als signifikant anzusehen. Es handelt sich dabei um kein partikulares Interesse, das aus dem Grund dieser Partikularität unter Verdacht zu stellen wäre, sondern um das universale Interesse der praktischen Vernunft daran, daß das moralische Gebaren nicht ohne tatsächliche Konsequenzen bleiben darf. In diesem Sinne sagt Kant von dem Satz, der das Dasein Gottes ausdrückt, daß er »uns zum Wissen gar nicht nöthig« sei, aber »gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen« werde; seine »Wichtigkeit« gehe »wohl eigentlich nur das Praktische« an (KrV A 799 f. / B 827 f.). Für wen nun aber das genannte Interesse an einer Moralität mit notwendigen angemessenen Folgen abzuweisen möglich wäre, für den wäre an dieser Stelle der Weg von der Moral zur Religion zu Ende, also Religion unter Einschluß des Gottesglaubens keine unausbleibliche Folge, obwohl auch dieser noch anerkennen könnte, daß als Garant des Notwendigkeitsnexus zwischen Glückswürdigkeit und Glück Gott gedacht werden muß. Es würde dieser nicht zum Glauben Vordringende es also für möglich halten, daß zum einen die Verpflichtung zur Moralität gegeben sei, daß zum zweiten auch, die Folgen betreffend, Gott als Garant der nicht im Menschenvermögen liegenden Vollendung der Rationalität praktischer Vernunft notwendig zu denken sei, daß aber
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drittens von der tatsächlichen universellen Vernünftigkeit der Verhältnisse nicht mit der zum Glauben nötigen Gewißheit auszugehen sei, daß also, jene Folgen der Moralität betreffend, auch das irrationale Dunkel der Folgenlosigkeit herrschen könne. Nach Kant regiert diesen Ungläubigen die »Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfniß«; indem er diese Unabhängigkeit als »Verzichtthuung auf Vernunftglauben« versteht, scheint dieser Verzichtende eine Anstrengung gegen etwas von seinem Bedürfnis her eigentlich Näherliegendes aufbringen zu müssen (WDO A 328 = AA 8,146). Die Reflexion des Gläubigen im Sinne der Vernunftreligion dagegen müßte etwa so lauten: Es muß sein, woran mir gelegen ist, denn es ist mir daran unter dem Aspekt praktischer Vernunft gelegen, d. h. vom dominierenden Aspekt meines Selbstverständnisses her, der allein menschliche Existenz bedeutsam macht. Der nicht von der Moral zur Glaubensgewißheit Gelangende müßte diese Bedeutsamkeit als eine hinsichtlich der Folgen potentiell sinnlose Bedeutsamkeit ansehen. Wenn dieser allerdings kein dogmatischer Atheist ist – ein solcher würde (allenfalls mit scheinbaren Beweisen operieren könnend) die Unmöglichkeit des höchsten Guts und damit implizit die Nicht-Existenz Gottes dezidiert behaupten –, dann wird für ihn die andererseits zuzugestehende Nicht-Unmöglichkeit des höchsten Guts praktisch hinreichend sein, d. h. hinreichend für moralische Handlungen mit der zusätzlichen Orientierung an der Verbesserung des Glückzustands der Welt (vgl. Fußnote 1).
4. Moral und Glaube Insofern Glaube nun als Überzeugung bestimmt ist, d. h. als subjektiv zureichendes Fürwahrhalten, das objektiv unzureichend ist, ist diese unzureichende Objektivität nicht schon als Grund einer Einschränkung des Grades seiner Gewißheit zu nehmen. Wenn es auch andere Gründe der Einschränkung geben mag, so drückt die Bestimmung ›objektiv unzureichend‹ doch nur aus, daß der Glaube sich auf nichts Gegebenes und auch nichts Gebbares in der reinen oder empirischen Anschauung gründen kann, unter welcher Bedingung theoretische Beweise und die mit ihnen verbundene Gewißheit des Wissens stehen. Durch ›objektiv unzureichend‹ ist also nur die völlige Verschiedenheit der Art, nicht aber die Minderung des Grades der Glaubensgewißheit ausgedrückt. Es ist demnach »Vernunftglaube«, so Kant in der Orientierungsschrift, »der, welcher sich auf keine andere Data gründet als die, so
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in der reinen Vernunft enthalten sind« (WDO A 318 = AA 8,141). Gemeint ist die reine praktische Vernunft. Reine praktische Vernunft aber ist insgesamt anschauungsabgezogen. Beginnend mit der Gewißheit des Sittengesetzes selbst, d. h. mit der Gewißheit des moralischen Verpflichtet-Seins überhaupt, ist es geradezu das Kennzeichnende des Fürwahrhaltens auf dem Gebiet des Praktischen, objektiv unzureichend zu sein, allerdings ohne daß dadurch doch das Bewußtsein der Verpflichtung Schaden nähme. Das Moralische ist nirgends – weder seiner Begründung nach, noch in der Ausübung – buchstäblich wahrnehmbar nach den Kriterien, die die theoretische Vernunft für Wahrnehmbarkeit formuliert, sondern durch praktische Begriffe wird insgesamt und immer nur eine intelligible Welt gedacht, ohne daß uns das daran hinderte, von ihnen mit Überzeugung, d. h. mit zureichendem Fürwahrhalten, in moralischen Urteilen Gebrauch zu machen. Die Art der Überzeugtheit beim Vernunftglauben ist also keine andere als bei Statuierung der sittlichen Verpflichtung und beim Gebrauch praktischer Begriffe überhaupt. Hier wie dort findet alles bloß in Gedanken statt, nicht in Daten der Anschauung gegründet, ist also nur »in der reinen Vernunft enthalten.« Es ist allerdings das im moralischen Bewußtsein begründete Bewußtsein Gottes doch bloß auf eine etwas vermittelte Art, d. h. nach Art des schließenden Denkens, zu erzielen möglich und insofern dann doch unterschieden vom moralischen Bewußtsein selbst, denn der Grundsatz der Moralität ist, so Kant, »ein Gesetz […], durch welches Vernunft unmittelbar den Willen bestimmt« (KpV A 238). Während in einer moralisch-praktisch relevanten Situation sofort gewußt wird, was geboten ist und der Grundsatz der Moralität also unmittelbar befiehlt, beruht das vom moralischen Bewußtsein abgeleitete Bewußtsein Gottes auf einem für das moralische Handeln selbst unwesentlichen Bedenken der Gesamtsituation menschlichen Handelns einschließlich seiner bis zur Totalität gesteigerten Folgen. Unter der Bedingung des aus jeder speziellen Handlungssituation herausgelösten Bedenkens, das die Handlungssituation des Menschen im ganzen reflektiert und daraus einen Schluß zieht, steht naturgemäß auch die mit der Konklusion des Schlusses ›Es ist ein Gott‹ verbundene Gewißheit, die also von recht mittelbarer Art ist. Überhaupt versteht Kant den Satz, daß ein Gott sei, als »einen theoretischen […] Satz […], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt« (KpV A 220). Es erhält dadurch also, obwohl auf einem Rückgriff auf praktisches Bewußtsein beruhend, doch »theoretische Erkenntniß der reinen Vernunft […] einen Zuwachs« (KpV A 242). Wenn
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nun Gottesglaube theoretischer Zuwachs ist, so ist, an Gott zu glauben, keine innere Angelegenheit der praktischen Vernunft, d. h. nicht selbst Praxis. Es folgt daraus, daß die durch einen Gläubigen erzielte Gewißheit nicht als praktisch verbindlich angesehen, nicht zur Pflicht für alle gemacht werden kann. »Ein Glaube, der geboten wird, ist«, so Kant, »ein Unding« (KpV A 260). Entsprechend verletzt, wer nicht glaubt, keine Pflicht. Wenn Unglauben eine Verfehlung darstellt, dann demgemäß keine moralische Verfehlung, sondern allenfalls eine intellektuelle in dem Sinne, daß eine subjektivnotwendige Schlußfolgerung nicht vollzogen ist. Das Nichtvollziehen von Schlüssen aber begründet keine Schuld und keinen Vorwurf, zumal durch den unterbliebenen Schluß per se noch nichts Nachteiliges folgt. Denn Moral ist autonom und entbindet von der Verpflichtung zur moralischen Handlung weder wenn die Gesamtsituation menschlichen Handelns gar nicht bedacht ist, noch wenn sie bis hin zu einem dogmatischen Atheismus falsch bedacht ist.3 Kant bezeichnet demgemäß die Glaubensgewißheit auch als ein freies Fürwahrhalten (vgl. Log A 101.104 Anm. = AA 9,67.69 Anm.). Sie ist damit unterschieden vom nicht freien Fürwahrhalten im etwaigen Fall anschauungsbezogener theoretischer Gewißheit, die durch objektive Wahrheitsgründe bestimmt ist. Zum Beispiel die mathematische Demonstration des Satzes des Pythagoras in der reinen Anschauung nötigt durch objektive Gründe zum Fürwahrhalten. Ebenso drücken empirische Erfahrungsurteile aus, obwohl dazu eine Spontaneität des Denkens nötig ist, daß das Bewußtsein, und zwar als nichtprivates Bewußtsein überhaupt, durch geregelte empirische Anschauungen notwendig bestimmt ist und deshalb die Zustimmung aller zum Urteil abgenötigt werden kann. Anschauungsbezogene theoretische Urteile sind aufgrund ihrer auf Objekte gestellten Allgemeinheit auch mitteilbar, wobei zu beachten ist, daß Mitteilbarkeit bei Kant den strikt terminologischen Sinn der intersubjektiven Übertragbarkeit besitzt. Das Glauben dagegen gibt ihmnach »wegen der bloß subjectiven Gründe keine Überzeugung, die sich mittheilen läßt und allgemeine Beistimmung gebietet« (Log A 106 = AA 9,70). Daß der dogmatische Atheist trotz seiner theoretischen Defizite im Rahmen der Kantischen Systematik für moralisch intakt angesehen werden kann, vertritt auch Lara Denis (Kant’s Criticismus of Atheism. In: Kant-Studien. Im Erscheinen): »One can maintain respect for morality while lacking a developed notion of the highest good […]. Dogmatic atheism does not condemn one to vice. Dogmatic atheism does, however, put someone at a disadvantage regarding incentives to morality and optimism about the ideal form of the highest good. And it is a theoretically unsound position.« 3
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Im normalsprachlichen Sinn des Mitteilens ist selbstverständlich auch das Glauben mitteilbar, d. h. kommunikabel. Einer kann also dem anderen seinen Glauben bekennen, doch ein solches Glaubensbekenntnis ohne den nötigenden Anspruch der Übertragung im Sinne der Kantisch terminologisch gefaßten Mitteilbarkeit trägt gerade der Freiheit des Fürwahrhaltens im Fall der Glaubensgewißheit Rechnung, denn es respektiert, daß es beim Glauben allein auf den selbsteigenen Vollzug von nicht auf Objekte gestellten Gedanken im Reflektieren der Gesamtsituation praktischer Vernunft ankommt. Gleichwohl heißt freies Fürwahrhalten nicht beliebiges Fürwahrhalten, insofern es zwar in nicht anschauungsfähigen Begriffen, aber doch in der starken Realität notwendiger praktischer Begriffe und in einem unabweisbaren und nicht relativierbaren Bedürfnis nach Totalität im Sinne der Vereinigung des Systems der Sittlichkeit mit dem System der Glückseligkeit gründet. Wenn Kant die subjektive Notwendigkeit des Glaubens so erläutert, daß es eine »nur für mich geltend[e]« sei (Log A 99 = AA 9,66), dann ist dadurch nur ausgedrückt, daß keine Glaubenspflicht statuiert werden kann und auch keine theoretisch durch objektive Gründe nötigende Übertragung möglich ist, nicht aber, daß er dadurch Privatglaube wäre, denn der Gläubige steht im Glauben im Selbstverständnis, als der jener Totalität Bedürftige ihn nicht auf ein partikulares, sondern auf ein allgemeines und notwendiges Bedürfnis zu gründen (vgl. KpV A 259 f.). Dieses Bedürfnis, so seine Überzeugung, kann nicht nichts zu bedeuten haben. Wie gewiß aber auch für sich selbst, muß er es doch der selbsteigenen Reflexion jedes anderen Einzelnen überlassen, auch für sich die besondere Bedeutsamkeit dieses Bedürfnisses zu bejahen und dadurch auszuschließen, es könne das in dem unbezweifelbaren Moralitätsgebot liegende Projekt vereinigter Glückswürdigkeit und Glückseligkeit zu keinem Abschluß zu bringen sein, womit es sich in einer sinnlosen Folgenlosigkeit verlöre. Das Gebot der Moralität unserer Handlungen wäre aber in diesem letzten Fall nicht tangiert, denn es legt, so Kant, »die Erkenntniß Gottes und seines Willens nicht zum Grunde« (KpV A 232). Anders in seinen Worten: »Wenn wir bloß auf Handlungen sehen, so haben wir [den] Glauben nicht nöthig« (Log A 104 Anm. = AA 9,69 Anm.). Dadurch ist also wiederum die Autonomie der Moral ausgedrückt,4 d. h. daß auch bei etwaiger negativ ausgehender Folgenerwägung dem Obwohl nun zwar der Glaube zur Erzeugung von Handlungen nicht nötig ist, ist aus dem Gesichtspunkt der Vernunftreligion doch jede moralische Handlung bloß 4
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Menschen das Aufgeben seines moralisch-praktischen Selbstverständnisses unmöglich wäre. Es wären dann aber die Rahmenbedingungen der Befolgung des Moralitätsgebots derart, daß praktische Vernunft sich wie auf einer Insel, umgeben von Hoffnungslosigkeit, Geltung verschaffen müßte. Dagegen steht aber das für signifikant und zum subjektiven Überzeugungsgrund zu nehmende Bedürfnis der Vernunft nach allumfassend verwirklichter moralischpraktischer Rationalität, von dem sie sich nicht überzeugen kann, daß es ein illusionäres Bedürfnis sei.
5. Glaubensentscheidung Zu allerletzt sieht Kant den Einzelnen nach Erwägung seiner praktischen Gesamtsituation aber trotz aller im Bedürfnis nach allumfassender praktischer Rationalität begründeter dringender Empfehlung doch noch in einer Entscheidungssituation, in der ihm »eine Wahl zukommt« (KpV A 261). als solche eine Handlung im Dienst Gottes, denn aus diesem Gesichtspunkt ist »die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel alles […], was Gott von Menschen fordert« (RGV B 145 = AA 6,103). Angesichts dessen, daß im Punkt der Hervorbringung moralischer Handlungen selbst Vernunftreligion nicht nötig ist, ist schwerlich einzusehen, welche positive Rolle in diesem Punkt irgendeine historische, geoffenbarte Religion mit den von einer solchen immer auch geforderten moralindifferenten, rein gottesdienstlichen Handlungen spielen könnte. Den Versuch, eine solche Rolle auch den nur auf Offenbarung beruhenden »non-moral religious activities or beliefs« zuzuschreiben und sie als »legitimate part of the true (universal) religion« (145) herauszustellen, hat etwa Palmquist unternommen (Does Kant Reduce Religion to Morality?). Kants empirischer Befund ist zwar, daß viele Menschen »sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem Dienst denken, den sie Gott zu leisten haben; wo es nicht sowohl auf den innern moralischen Werth der Handlungen, als vielmehr darauf ankommt, daß sie Gott geleistet werden, um, so moralisch indifferent sie auch an sich selbst sein möchten, doch wenigstens durch passiven Gehorsam Gott zu gefallen« (RGV B 146 = AA 6,103). Mit dem Anspruch, eine Vernunfteinsicht auszusprechen, sagt er aber: »Daß sie, wenn sie ihre Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere) erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten, mithin in allem ihrem Thun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, beständig im Dienste Gottes sind, und daß es auch schlechterdings unmöglich sei, Gott auf andere Weise näher zu dienen […], will ihnen nicht in den Kopf« (ebd.). – Der These Palmquists, Offenbarungsreligion sei legitimer Teil der Vernunftreligion, steht auch Woods Interpretation entgegen (Kant’s Deism).
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Diese ist von ihm in der Anmerkung zum VIII. Abschnitt der Dialektik der reinen praktischen Vernunft zwar entfaltet als die Situation der Entscheidung zwischen einer auch nicht für unmöglich zu haltenden »Harmonie der Naturgesetze mit denen der Freiheit […] nach einem bloßen Naturlaufe«, d. h. »ohne einen der Natur vorstehenden weisen Urheber« einerseits, und einer solchen Harmonie eben gerade unter Voraussetzung eines solchen Urhebers andererseits. Es ist dies also zwar nicht die Wahl zwischen dem Gottesglauben und der Sinnlosigkeit folgenloser Moralität, denn das schlechthin Irrationale käme für Vernunft als Glied einer Entscheidungsalternative nicht in Frage, aber es ist doch immerhin eine Wahl, nämlich zwischen einem Glauben an eine künftige Welt mit oder ohne Gott. Insofern es überhaupt eine Entscheidungssituation ist, steht der Einzelne darin also nicht schon unausbleiblich in der unerschütterlichen Gewißheit des Gottesglaubens, sondern er muß sich durch einen Willensakt erst dazu bestimmen. Vor diesem Willensakt endet also die Unausbleiblichkeit des Fortgangs von der Moral zur Religion, so daß man sagen könnte: Moral führt unausbleiblich bis an die Schwelle der Religion, aber nicht über sie hinweg. Die Situation der Wahl ist nun aber keine solche mit gleich starken subjektiven Gründen für beide Möglichkeiten, sondern durch Moral ist eben entschieden nahegelegt, den Akt zum Glauben hin zu vollziehen, ohne daß er doch dadurch letztlich nezessitiert wäre und aufhörte, ein freier Akt zu sein. Was den Akt in Richtung Glauben drängt, aber nicht zwingt, ist – wie immer wieder zu sagen bleibt – das Bedürfnis praktischer Vernunft. Bedürfnis ist, so Kant, »das Princip, was unser Urtheil hierin bestimmt« (KpV A 262 f.). Dies mit der verbleibenden Freiheit zusammengenommen, entscheidet »ein freies Interesse der reinen praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers« (KpV A 262). Dabei kann diese Annahme, so Kant weiter, »öfters selbst bei Wohlgesinnten bisweilen in Schwanken, niemals aber in Unglauben gerathen« (KpV A 263). Der hier angesprochene und ausgeschlossene Unglaube wird der dogmatische, die Nicht-Existenz des Urhebers behauptende sein müssen, denn für ihn spricht weder ein Interesse noch eine Erkenntnis theoretischer Vernunft, während das Schwanken allerdings auch kein Schwanken sein würde, wenn darin das positive Urteil nicht doch suspendiert wäre. Wenn es das Schwanken selbst des ›Wohlgesinnten‹ ist und also nicht auf mangelnder Moralität beruht, wird seine Ursache das Bewußtsein des doch nicht völlig durch Moral nezessitierten Glaubens sein, d. h. das Bewußtsein des die Notwendigkeitslücke schließenden Willensaktes, woran nach den Maßstäben des Folgerns theoretischer
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Vernunft Anstoß genommen werden kann. Die Überwindung des Schwankens wird dann wieder Sache der aufgrund ihres überragenden Interesses den Primat führenden praktischen Vernunft sein müssen. Im Schlußabschnitt der Dialektik der reinen praktischen Vernunft gibt Kant dem durch theoretische Vernunft verursachten Schwanken als solchem sogar eine positive Deutung. Denn gesetzt, theoretische Vernunft könnte, was sie nicht kann, nämlich Gott mit apodiktischer Gewißheit beweisen, so würde er uns »unablässig vor Augen liegen« (KpV A 265). Damit aber würden »die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Werth der Handlungen aber, worauf doch allein der Werth der Person und selbst der der Welt, in den Augen der höchsten Weisheit ankommt, würde gar nicht existiren« (ebd.). Diesem Gedanken nach könnte Gott uns in der Ferne zu sich halten, damit wir in seinen Augen einen moralischen Wert entwickeln können, was nicht möglich wäre, wenn wir, seiner Existenz ganz gewiß, aus Furcht zwar gesetzeskonform handelten, unser Verhalten derart aber nicht moralisch verdienstvoll sein könnte, sondern in einen »bloßen Mechanismus verwandelt« wäre (KpV A 265). Da es aber nicht so ist und wir »mit aller Anstrengung unserer Vernunft« – gemeint ist die spekulativ-theoretische – »nur eine sehr dunkele und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken, oder klar beweisen läßt« (KpV A 265 f.), so besitzt der Mensch sein eingeschränktes Erkenntnisvermögen um der Möglichkeit des Erwerbs eines moralischen Werts willen. Er besitzt es gerade weil es eingeschränktes Vermögen ist in »weislich angemessene[r] Proportion« (KpV A 263). Das Argument der Zweckmäßigkeit einer Einschränkung läßt sich nun auch auf die Begründung des Glaubens aus dem Reflektieren der Situation praktischer Vernunft anwenden, denn auch dann, wenn ein ganz und gar unerschütterlicher Gottesglaube daraus im strengsten Sinne unausbleiblich folgen müßte, würde unser Verhalten aus dieser Gewißheit heraus sich in jenen Mechanismus verwandeln müssen. Um des Erhalts des moralischen Werts der Handlungen willen aber läßt sich auch als ›weislich‹ proportioniert ansehen, wenn der praktische Vernunftglaube zwar auf stärkste Weise durch das Bedürfnis nach universeller Rationalität im Sinne des im höchsten Gut vollendeten Endzwecks praktischer Vernunft nahegelegt ist, es aber doch nicht vollkommen zwingend gewiß sein kann, ob diese uns entzogene universelle Rationalität auch tatsächlich waltet.
Das Reich Gottes auf Erden Kants Lehre von der Kirche als »ethischem gemeinem Wesen« von Giovanni B. Sala SJ
In meinem Beitrag möchte ich auf die Religionsphilosophie eingehen, so wie Kant sie in seiner Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ausgearbeitet hat. In einem ersten Teil wird die Eigenart dieses Werks hinsichtlich des Inhalts und der Methode dargelegt; in einem zweiten Teil wird einer der Grundbegriffe von Kants Religionsphilosophie ausführlicher untersucht, nämlich der vom ›Reich Gottes auf Erden‹. Darunter versteht Kant das ›ethische gemeine Wesen‹, in dem er den eigentlichen Sinn und Zweck jener Institution sieht, die für den christlichen Glauben die Kirche ist.
1. Zur Religionsphilosophie Kants a) Inwieweit ist die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« eine Religionsphilosophie? Kants Religionsschrift von 1793 gilt als ›die erste moderne Religionsphilosophie‹;1 mit ihr habe Kant ein ›Pionierwerk‹ geliefert, ›dessen Einfluß enorm gewesen ist‹.2 In der Tat steht sie am Anfang der methodischen Beschäftigung der Philosophie mit der Religion, nachdem sich die Philosophen in der Neuzeit vom christlichen Glauben und von einer gläubigen Bindung an die Kirche gelöst hatten. Und aus ihr sind immer wieder Impulse für die philosophische Reflexion über die Religion ausgegangen.
McCarthy: Quest for a philosophical Jesus. Christianity and Philosophy in Rousseau, Kant, Hegel, and Schelling, 59. Übersetzung vom Vf. 2 Ebd. 105. 1
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Aber angesichts des tatsächlichen Inhalts dieses Werks stellt sich die Frage: In welchem Sinne kann diese Schrift als eine Religionsphilosophie angesehen werden? Denn man würde heute nicht ohne weiteres erwarten, daß in einer philosophischen Schrift folgende drei ausgesprochen christliche Themen den ganzen Inhalt des Buches ausmachen, nämlich die Ursünde im ersten Stück, Jesus Christus im zweiten Stück und die Kirche im dritten und vierten Stück. Die Definition von Religionsphilosophie, die Johannes Baptist Metz gegeben hat, dürfte genau den Sinn treffen, gemäß dem heute die Religionsphilosophie, bei aller Verschiedenheit in der konkreten Ausführung, verstanden wird. Sie ist nach Metz »die methodisch-reflexe Erhellung der Möglichkeit und des formalen Wesens von Religion im menschlichen Dasein überhaupt, also die Analytik des vom Menschen und seinem Selbstverständnis her erreichbaren und vollziehbaren Bewußtseins der Betroffenheit vom Absoluten«.3 Nun aber arbeitet Kant hier keine Analytik des menschlichen Daseins aus zur Erhellung davon, welche Möglichkeiten in ihm vorliegen, die einen Zugang zu Gott eröffnen, und welche Strukturen von daher die religiöse Beziehung des Menschen zu Gott annehmen kann. Das Werk ist vielmehr die kritische Überprüfung einer positiven, historischen Religion: des Christentums. Dementsprechend ist die angewandte Methode eine aposteriorisch-analytische: Durch die reine Vernunft wird das Faktum der christlichen Religion untersucht, um aus dem System ihrer Glaubenssätze durch deren kritisch-philosophische, oft symbolisierende Auslegung einen Inbegriff von Grundwahrheiten einer reinen Vernunftreligion zu gewinnen.4 Wahrheiten also, die unserer natürlichen Vernunft einsichtig sind, auch wenn sie uns vielleicht de facto erst durch die göttliche Offenbarung bekannt wurden.5 Kant geht also an die christliche Religion unter derselben Perspektive heran, die Lessing in seiner Erziehung des Menschengeschlechtes einprägsam als den Erziehungsplan Gottes formuliert hatte, kraft dessen die Mysterien des Christentums geoffenbart wurden, um Vernunftwahrheiten zu werden (§ 76). Wenn es schon problematisch ist, das Werk Kants eine Religionsphilosophie LThK, 21963, 8, 1190. 4 Vgl. Noack: Einleitung zur Edition der RGV, LIII. 5 Vgl. KU B 462 Anm.; in RGV B 233 = AA 6,155 f. wird der Sinn und Zweck einer historisch-übernatürlichen Offenbarung besonders deutlich zur Sprache gebracht. Dort führt Kant aus, was er in der Vorrede zur 2. Auflage mit dem Bild der zwei konzentrischen Kreise dargelegt hatte (RGV B XXI–XXIII = AA 6,12 f.). Vgl. auch Reflexion 5635; 3
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zu nennen, ist es noch problematischer, es eine transzendentale Religionsphilosophie zu nennen, will man diesen bei Kant selbst vieldeutigen Begriff nicht zu dem Allerweltswort machen, mit dem heute exotische Gurus ihre eben ›transzendentalen‹ Meditationen anpreisen. Bei Kant dürfte die Hauptbedeutung des Terminus, neben der in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft (B 25) angegebenen Bedeutung von einer Theorie der Möglichkeit apriorischer Erkenntnisse, die sein, die der geläufige Gebrauch des Terminus in derselben Kritik meint, aber erst später zur Sprache gebracht wurde. Demgemäß bezeichnet transzendental das, »was vor [der Erfahrung] (a priori) zwar vorhergeht, aber doch zu nichts mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntniß möglich zu machen« (Prol A 204 Anm. = AA 4,373 Anm.). Eine solche objektkonstitutive Funktion des Transzendentalen hat zur Folge, daß die dadurch erkannten Gegenstände den ontologischen Status einer Erscheinung haben, d. h. daß sie »nur durch diese Vorstellungen etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sind« (KrV A 370). In der Religionsschrift argumentiert Kant durchaus realistisch. Wenn er die Realität der religiösen, geoffenbarten Wahrheiten bestreitet – oder, genauer gesagt, für nicht akzeptabel vor dem Forum der ›bloßen Vernunft‹ hält –, so tut er dies nicht aus den erkenntnistheoretischen Gründen, die seinem transzendentalen Idealismus zugrundeliegen, sondern aus der antisupranaturalistischen Einstellung der Aufklärung. Daß die Religionsschrift keine Abteilung der Transzendentalphilosophie ausmacht, wird von Kant am Ende der Vorrede zur zweiten Auflage ausdrücklich gesagt (RGV B XXV = AA 6,14): »Es bedarf, um diese Schrift ihrem wesentlichen Inhalte nach zu verstehen, nur der gemeinen Moral, ohne sich auf die Kritik der p. Vernunft, noch weniger aber der theoretischen einzulassen«. Die Religionsphilosophie Kants ist vielmehr ein typisches Produkt des Rationalismus und der Aufklärung: Mit ihr beabsichtigt Kant, die christliche Religion vom Standpunkt der praktisch-moralischen Vernunft zu überprüfen, um zu ihrem wahren Inhalt vorzustoßen. Kurzum: sie ist äußerst kritisch, aber nicht kritizistisch, insofern die Kritik nicht anhand der eigentlichen Prinzipien des transzendentalen Idealismus durchgeführt wird. AA 18,266; vgl. die Vorarbeiten zur Religionsphilosophie über die analytische Methode, AA 23,115. Vgl. Bohatec: Die Religionsphilosophie Kants in der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, 51–54.
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b) Eine ins Philosophische gewendete Dogmatik des Christentums im Dienst der Gebildeten Die Reihenfolge der in den vier Stücken des Werkes behandelten Themen zeigt deutlich, daß hier dieselbe Materie in Betracht gezogen wird, mit der die christliche Dogmatik sich befaßt. Denn die christliche Religion besteht nicht, deistisch, in der Anerkennung und Verehrung des höchsten, transzendenten Wesens, das die Welt erschaffen hat und das im Prinzip der menschlichen Vernunft zugänglich ist. Der ›Schöpfer und Herr des Himmels und der Erde‹,6 den das Christentum verehrt, ist mit dem Gott identisch, der sich im Laufe der Geschichte auf übernatürliche Weise geoffenbart und in ihr gehandelt hat. Offenbarung und Wirken Gottes haben ihren Höhepunkt in Jesus von Nazareth erreicht, im wesensgleichen Sohn Gottes, der ›für uns Menschen und zu unserem Heil‹ in der Fülle der Zeit Mensch geworden ist. Jesus Christus, der durch sein Erlösungswerk den gefallenen Menschen in seine ursprüngliche Würde wiedereingesetzt hat, steht im Zentrum des christlichen Glaubens. Nun aber setzt die Wahrheit von Christus eine andere geoffenbarte Wahrheit voraus: die des »peccatum originarium« (RGV B 25 = AA 6,31), von dem er die Menschheit durch sein Opfer am Kreuz erlöst hat. Dieselbe Erlösung, die zu einer bestimmten Zeit der Weltgeschichte geschehen ist, ist mit einer Heilsgemeinschaft verbunden, der Kirche, welche die Erlösungstat Christi den im Laufe der Zeit einander folgenden Generationen vermitteln soll. Diese Heilsgemeinschaft, deren lebensspendende Seele der Geist Christi, der Heilige Geist ist, vergegenwärtigt in der Zeit jenes Reich Gottes, das Jesus als in seiner Person angekommen verkündete (vgl. Mk 1,15). Nur auf der Grundlage der hier erwähnten Wahrheiten des Christentums erklärt sich der Inhalt und die Struktur der Religionsschrift Kants. Das erste Stück trägt den Titel: »Von der Einwohnung des bösen Princips neben dem guten: oder über das radicale Böse in der menschlichen Natur«. Bekanntlich hat diese massive Behauptung eines radikalen Bösen in der menschlichen Natur die Zeitgenossen Kants überrascht und befremdet: Sie sahen in dieser Anleihe bei »dem Ärgernis und der Torheit christlich-dogmatischer Lehre«7 eine Absage an den Optimismus der Aufklärung mit ihrem selbstbewußten 6 7
Vgl. DS 3001 und 3004. Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert I,245.
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Glauben an den moralischen Fortschritt der Menschheit; also eine Zustimmung zu der am meisten unaufgeklärten Lehre des Christentums. Aber genau in dieser Lehre sah Kant den geeigneten Zugang zu seiner deistisch-aufklärerischen Auffassung von der Religion als reiner Moral. Nach Kant ist die für den Menschen allein mögliche Überwindung des Bösen in ihm die »Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeintlichen Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens« (KpV A 151). Das Böse, in dem der Mensch sich »vor jeder That« in der Zeit (RGV B 25 = AA 6,31) immer schon befindet, besteht in einer Umkehrung der »sittliche[n] Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür« (RGV B 23 = AA 6,30). Dieses Böse, gegen das der Mensch sein Leben lang zu kämpfen hat, und das Kant im ersten Stück ohne jegliche Beziehung zu Gott darlegt, also ohne die theologische Qualifikation einer Sünde, stellt die Voraussetzung und die Perspektive dar, unter denen die folgenden zwei Themen des Werkes, Jesus Christus und die Kirche, von einem ausschließlich moralischen Standpunkt her behandelt werden. Denn die Realität des Erlösers ist das »Ideal der moralischen Vollkommenheit«, die »in dem Menschen Platz genommen hat« (RGV B 74 = AA 6,61), während die Kirche die »Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen ist« (RGV B 142 = AA 6,101). Diese Reduktion von zwei Grundwahrheiten des Christentums auf moralische Realitäten setzt sich fort im Laufe des Werkes in einer entsprechenden Auslegung der Heiligsten Dreifaltigkeit, der Mysterien des Lebens Jesu, der Sakramente der Kirche, der Gnade, der Eschatologie und des Gebets. Als Fazit gilt, daß die Religionsphilosophie Kants sachlich eine ins Philosophische gewendete christliche Dogmatik ist,8 in der die von Gott geoffenbarten Wahrheiten und die von der Kirche authentisch festgelegten Dogmen unter dem Rasiermesser der ›bloßen Vernunft‹ zu Bestandteilen einer natürlichen Moral aufklärerischen Zuschnittes werden. Es mag widersprüchlich sein, von einer philosophischen Dogmatik zu sprechen, da es ein Dies darf umso mehr behauptet werden, wenn man die theologischen Quellen berücksichtigt, die Kant bei der Abfassung seiner Religionsschrift nachweislich verwendet hat. Den Nachweis hat 1938 Bohatec durch seine umfangreiche, schon erwähnte Untersuchung Die Religionsphilosophie Kants erbracht. Sein Fazit lautet (18): »Gerade diese Schrift lehnt sich in reichlichem Ausmaß an die traditionelle Dogmatik an«, und zwar bis ins Detail. In meinem Buch: Die Christologie in Kants ›Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ bin ich auf diese »Dogmatik« Kants hinsichtlich der Person und des Werks von Jesus Christus eingegangen. 8
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Christentum ohne göttliche Offenbarung und Menschwerdung Gottes nicht gibt; die Redewendung gibt jedoch eine Spannung wieder, die das ganze Werk durchzieht. Daß Kant in seiner philosophischen Reflexion über die Religion fast nur das Christentum in Betracht zieht, hat seinen Grund nicht so sehr in der damaligen mangelhaften Kenntnis der fremden Religionen, sondern vielmehr, wie Troeltsch bemerkt hat, in Kants »persönlicher Meinung und Überzeugung, der an der Vorzugsstellung des Christentums als an etwas Selbstverständlichem festhielt«.9 Nur im Christentum sieht Kant den Anfang einer historischen Religion, die das enthält, was die eigentliche Religion ausmacht (RGV B 185 = AA 6,125; RGV B 189 = AA 6,27; SF A 45 = AA 7,36; SF A 62 = AA 7,44). Es gilt ihm deshalb, diesen Kern der wahren Religion freizulegen, indem das im Laufe der Zeit zur ursprünglichen Verkündigung Jesu statutarische und zufällige Hinzugekommene allmählich entfernt wird. Für sein Vorhaben einer Überleitung der Religion – in ihren historischen und statutarischen Elementen genommen – in die reine Moral, d. h. in die moralische Selbstgesetzgebung und Gesinnung des Menschen, sah Kant im Christentum die Elemente vorhanden, deren Entwicklung zur Etablierung der eigentlichen, alle Menschen umfassenden Religion führen würde. Daß in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft das Christentum allein untersucht wird, hängt aber auch mit einem anderen Grund zusammen, nämlich mit dem Ziel, das Kant sich vorgenommen hatte. Delekat bezeichnet dieses Ziel als »einen wissenschaftlichen, wenn man will, seelsorglichen Dienst an den Gebildeten«.10 Denn die philosophischen Überzeugungen der Aufklärung mit ihrem Losungswort von einer Vernunft, der alles zu unterwerfen ist, brachten die Gebildeten in Konflikt mit der Landesreligion. Sie verlangten zu wissen, was eigentlich die Religion, näherhin, was das Christentum in seinen Lehrinhalten sei. Das existentielle Problem, das die Aufklärung herbeigeführt hatte, war nicht das der Religion – zumal in Deutschland, wo die rationalistische Tradition der Theologie gegenüber viel freundlicher eingestellt war als etwa in Frankreich und England –, sondern das der geoffenbarten und dazu noch institutionalisierten Religion, so wie sie sich in der Kirche als Landesreligion präsentierte. Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, hier 98 f. 10 Delekat: Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften, 343. 9
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Im späteren Streit der Fakultäten werden die Nöte und Rechte der Gebildeten durch die philosophische Fakultät vertreten. Diese tadelt nicht nur die Vermengung von Vernunftreligion und Offenbarungsreligion, sondern bestreitet auch die Verbindlichkeit dessen, was die Offenbarungsreligion »über die eigentliche Religion hinaus Wahres in sich enthält« (SF A 47 = AA 7,37). In der Religionsschrift selbst warnt Kant »die weltliche oberste Macht« davor, auf ihre Untertanen Druck zugunsten ›gewisser historischer Kirchenlehren‹ auszuüben; denn dadurch würde deren ›Gewissenhaftigkeit‹ in Versuchung gebracht (RGV B 200 = AA 6,133). Im Klartext gesagt: Die Philosophie wehrt sich dagegen, daß die Vernunft vor den Mysterien des Christentums haltmachen soll. Deswegen will Kant diese Mysterien, wie sie in der Lehre der Kirche festgelegt sind, einer Prüfung unterziehen, um »den vernünftelnden Theil der Menschen (der aber wird bey zunehmender Cultur man mag ihn niederdrücken so sehr man will allmählig sehr gros) zur Annehmung derselben geneigt« zu machen (Vorredeentwürfe zur Religionsphilosophie; AA 20,440). An derselben Stelle faßt Kant seine Absicht mit den Worten zusammen (ebd. 439): »In der gegenwärtigen Schrift wird das Ganze einer Religion überhaupt, so fern sie blos aus der durch moralische Ideen geleiteten Vernunft entwickelt werden kan, vorgetragen«. 2. Kants Denkweg zum »Reich Gottes auf Erden« a) Die Entwicklung der Idee des Reiches Gottes bei Kant Nach dem radikalen Bösen stellt das »Reich Gottes auf Erden« den zweiten Grundbegriff von Kants Religionsphilosophie dar. Den Begriff von einem Reich Gottes, das Jesus an die alttestamentlichen Verheißungen anknüpfend als mit seiner Person nahegekommen verkündete (Mk 1,5; Mt 4,17; Lk 10,9.11), fand Kant im Pietismus seiner Zeit vor. Der Pietismus setzte die bereits von Melanchton initiierte protestantische Verkirchlichung des Reich-Gottes-Gedankens fort, und zwar durch Kombination biblizistischheilsgeschichtlicher Stufenschemata zu einer Umgestaltung der Welt mit eigenen geistlich-gemeinschaftlichen Bekehrungs- und Heiligungsgedanken. Die zeitgenössische Aufklärung hat dann, auf dem Hintergrund deistischer Weltanschauungen sowie eines Fortschrittsoptimismus und der Idee von einer Erziehung des Menschengeschlechtes, diesen Reich-Gottes-Gedanken verdiesseitigt und moralisiert (vgl. RGG3 5,920 f.).
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Bei Kant zeichnet sich der Reich-Gottes-Begriff durch die beiden letztgenannten Eigenschaften aus: das dritte Stück der Religionsschrift handelt von der »Gründung eines Reichs Gottes auf Erden« (RGV B 127 = AA 6,93; Hvh. v. Vf.), wobei dieses Reich darin besteht, daß das gute Prinzip »sich im menschlichen Geschlecht als einem gemeinen Wesen nach Tugendgesetzen […] ein Reich [errichtet], welches den Sieg über das Böse behauptet und unter seiner Herrschaft der Welt einen ewigen Frieden zusichert« (RGV B 183 = AA 6,124). Wie aus dieser Beschreibung des Reiches Gottes auf Erden am Ende des ersten, philosophischen Teils des dritten Stücks erhellt, und wie wir im folgenden näher sehen werden, behandelt Kant unter diesem Titel den gesellschaftlichen Aspekt des Bösen und seine Überwindung in einer Gesellschaft, die als ethisches Gemeinwesen aufgefaßt wird. Weil nun das so verstandene Reich Gottes Ziel der Geschichte ist, findet Kants Geschichtsphilosophie in der Religionsphilosophie ihre Vollendung: Religion als Moral verstanden ist ja nach Kant tragender Grund der Geschichte.11 In einer Reflexion der 70er Jahre schreibt Kant: »Das Reich Gottes auf Erden: das ist die letzte Bestimmung des Menschen« (Reflexion 1396 ; AA 15,608). Die Textbasis der Idee des Reiches Gottes ist bei Kant äußerst schmal; erst im Werk von 1793 wird sie entfaltet. Vorher findet man diese Idee nur eher implizit berührt oder jedenfalls nur kurz behandelt. Im folgenden zeichne ich den Ertrag nach, den eine Suche in den früheren Veröffentlichungen Kants ergibt.12 (1) Ein erster Hinweis findet sich im Kanon-Hauptstück der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft. Zur Antwort auf die zweite der drei bekannten Fragen: »Was soll ich tun?«, spricht Kant von einer Welt, die allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre, und nennt sie »eine moralische Welt« (KrV B 833.836). Diese Welt bezieht sich auf die Sinnenwelt, insofern letztere Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch ist. Genau in der Sinnenwelt entsteht ein »corpus mysticum der vernünftigen Wesen« in dem Maße, in dem sie durch die Kohärenz ihres unter moralischen Gesetzen
Vgl. Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie, 128. Vgl. ausführlicher bei Habichler: Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant, bes. das zweite Kapitel. M. E. tendiert der Verfasser zur Überinterpretation der Texte Kants, um sie für seine These zu vereinnahmen. Vgl. meine Besprechung in: Theologie und Philosophie 68, 1993, 100–104. 11 12
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stehenden Willens mit sich selbst und mit dem Willen aller anderen eine »systematische Einheit« bilden (KrV B 836). Daß die hier genannte »moralische Welt« zwar noch nicht als Reich Gottes gesehen wird, aber doch schon in diese Richtung geht, erhellt sowohl aus dem religiös-theologischen Begriff »corpus mysticum«, mit dem Kant sie bezeichnet, als auch aus der »unzertrennlich[en]« Verknüpfung, die Kant zwischen dem »System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit« sieht (KrV B 836 f.). Denn gerade für die Realisierung der Glückseligkeit, deren die Sittlichkeit würdig ist (KrV B 834), postuliert Kant an dieser Stelle die Existenz Gottes. Deswegen ist das gemeinte corpus mysticum, zumindest in einem seiner Bestandteile, ein Werk Gottes. (2) Eine weitere Vorwegnahme des Reiches Gottes auf Erden findet sich in der drei Jahre später erschienenen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Die dort angegebene dritte Formel des kategorischen Imperativs, die Formel der Autonomie, weist zwei Varianten auf. Während die erste nur vom Willen »jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens« spricht (GMS BA 70 = AA 4,431), zieht die zweite auch alle anderen, ebenfalls selbstgesetzgebenden vernünftigen Wesen in Betracht. Damit führt der Begriff der Autonomie zum Begriff eines »Reiches der Zwecke«. Denn die autonomen vernünftigen Wesen sind, wie Kant bereits in der zweiten Formel des kategorischen Imperativs dargelegt hat, Zweck an sich selbst. Sie bilden also zusammen ein Reich der Zwecke, d. h. »eine systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objective Gesetze« (GMS BA 74 = AA 4,433). Zu dieser Gemeinschaft ist ein Doppeltes zu bemerken. Erstens ist hier von einer Glückseligkeit nicht mehr (zumindest nicht ausdrücklich) die Rede. Zweitens, obwohl Kant keine Einschränkung der Autonomie der vernünftigen Wesen kennt (außer, daß sie an die Form der Allgemeinheit gebunden ist) und obwohl er eine theologische Begründung des Sittengesetzes als unechtes Prinzip der Moralität ablehnt, wagt er doch nicht, den Menschen zum Oberhaupt im Reich der Zwecke zu machen. Diesen Platz könne nur ein »völlig unabhängiges Wesen ohne Bedürfniß und Einschränkung seines dem Willen adäquaten Vermögens« einnehmen (GMS BA 75 = AA 4,434). Oberhaupt des Reichs der Zwecke kann also nur Gott sein. Somit kommt das Reich der Zwecke in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten unter dieser Hinsicht einem Reich Gottes auf Erden gleich.
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(3) In den von Kant veröffentlichten Schriften findet der Begriff »Reich Gottes« erst in der Kritik der praktischen Vernunft ausdrückliche Erwähnung, und zwar im Abschnitt über das »Dasein Gottes, als ein Postulat der reinen praktischen Vernunft«. Bekanntlich postuliert Kant dort die Existenz Gottes als Bedingung der Möglichkeit, daß die Pflicht tatsächlich erfüllt wird, die uns reine praktische Vernunft auferlegt, daß wir nämlich »das höchste Gut […] zu befördern suchen« (KrV A 225). Denn von den zwei Bestandteilen des höchsten Guts können wir Menschen nur einen verwirklichen, die Sittlichkeit. Was die Glückseligkeit betrifft, hängt sie, schreibt Kant, weitgehend von einer Natur ab, welche sich aber nicht nach der Moralität des Menschen richtet. Also, folgert Kant, sind wir berechtigt, die Existenz einer »obersten Ursache der Natur [anzunehmen], die eine der moralischen Gesinnung gemäße Causalität hat« (ebd.). Es ist hier nicht der Ort, die Schwierigkeiten zu diskutieren, die gegen die Stichhaltigkeit dieser Kant’schen Argumentation sprechen, und auch nicht den Begriff des höchsten Gutes zu analysieren, das mit Hilfe der Natur zustande kommen soll und also noch zu einer irdischen Existenz des Menschen gehört – Kant nennt es »die beste Welt« (KpV A 226). Jedenfalls führt Kant im Anschluß an dieses Postulat des höchsten ursprünglichen Gutes den Begriff vom »Reich Gottes« ein, um die so verstandene Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit zu bezeichnen. Die Argumentation des Postulats zeigt also, daß es sich in den Augen Kants um ein »Reich Gottes auf Erden« handelt, wie Kant es in der Religionsschrift nennt. An dieser Stelle wird auch der Zusammenhang dieses Ziels der Moralität mit der Religion zur Sprache gebracht: »Die Lehre des Christentums, wenn man sie auch noch nicht als Religionslehre betrachtet,13 giebt in diesem Stücke einen Begriff des höchsten Guts (des Reichs Gottes), der allein der strengsten Forderung der praktischen Vernunft ein Gnüge thut« (KpV A 229 f.). Worauf Kant hier besteht, ist, daß die Glückseligkeit nicht auf den Menschen als »Bewegungsgrund zur Befolgung des Gesetzes« wirken darf, obwohl die Existenz Gottes um der Realisierung der Glückseligkeit willen postuliert wurde. Hierin liegt die Spannung, die das Postulat Gottes durchzieht und derentwegen Kant in den drei Kritiken drei nacheinander verschiedene Fassungen seiner Argumentation versucht hat, aber ohne die Spannung lösen zu können. In der Fußnote zu dieser Stelle vergleicht Kant »die christliche Vorschrift der Sitten« mit denen der griechischen Schulen. 13
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In der Tat ist die Spannung unlösbar, solange die Autonomie des Menschen gilt. Warum sollte Gott die der Sittlichkeit proportionierte Glückseligkeit verwirklichen, wenn die Verbindlichkeit des moralischen Imperativs nicht von ihm abhängt? Wenn der Mensch sich völlig autonom ein Gesetz gibt, so soll er auch dafür sorgen, daß er auf seine Rechnung kommt. Ebenfalls unlösbar ist die Spannung, solange der Formalismus des Sittengesetzes gilt. Wenn nämlich das Gesetz uns »unangesehen der Zwecke, die durch solche Handlung bewirkt werden können«, in Anspruch nimmt (GMS BA 14 = AA 4,400), d. h. negativ ausgedrückt, wenn das Sittengesetz von seinem Wesen her nicht das Gesetz der Vervollkommnung des Menschen – also in diesem Sinne das Gesetz seiner Glückseligkeit – ist,14 so sieht man nicht ein, warum die Sittlichkeit letztlich nicht von der Glückseligkeit abgekoppelt bleiben darf. Jedenfalls spricht Kant in der Kritik der praktischen Vernunft von der Hoffnung auf Glückseligkeit (KpV A 232), der Hoffnung nämlich, daß das ›gütige‹ höchste Wesen diese Glückseligkeit uns geben wird. Er sieht deshalb in der Hoffnung die Verbindung zwischen Sittlichkeit und Religion (KpV A 233): »Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Object und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote«. Es kann nicht bezweifelt werden, daß das ›als‹ hier den Sinn des geläufigen Kant’schen ›als ob‹ hat. Denn unmittelbar danach wiederholt Kant unmißverständlich, daß es sich in Wahrheit um »Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst« und nicht um »Verordnungen eines fremden Willens« handelt. Dennoch müssen sie »als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden«, weil es allein die Glückseligkeit und damit das höchste Gut verwirklichen kann. Die Religionsschrift wird diese Definition wiederaufnehmen und dabei den erkenntnistheoretischen und ontologischen Stellenwert Gottes weiter abschwächen: Unsere Erkenntnis Gottes ist ein »problematisches Annehmen«; es genügt »das Minimum der Erkenntniß (es ist möglich, daß ein Gott sei)« (RGV B 229 f. Anm. = AA 6,153 f. Anm.). (4) Zum Bereich des Reiches Gottes kann man auch Kants geschichtsphilosophische Abhandlungen rechnen, insofern sie jene Entwicklung des Menschen von der Kultivierung über die Zivilisierung bis zur Moralisierung Gemeint ist freilich nicht die Glückseligkeit, die Kant im Auge hat, wenn er sie in Zusammenhang mit unserem sinnlichen Begehrungsvermögen setzt, und die er deshalb als Selbstliebe in pejorativem Sinne bezeichnet (KpV A 40). 14
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darlegen. Denn einerseits zielt der unendliche Progressus des Menschen als moralischen Wesens eben auf eine vollkommene Moralität, andererseits koinzidiert die Kant’sche »Annäherung des Reiches Gottes« (RGV B 167 = A 6,115) genau mit diesem moralischen Fortschritt des Menschen. Oben habe ich auf Tröltsch hingewiesen, der in der Religionsphilosophie Kants die Vollendung seiner Geschichtsphilosophie sieht. (5) Außerdem gehört zum Begriff des Reiches Gottes, obwohl eher von Ferne, auch die Idee eines mundus intelligibilis, die Kant in seinen erkenntnistheoretisch-metaphysischen Schriften vertritt. Denn gerade die moralische, und damit für Kant die religiöse Dimension des Menschen, öffnet den Zugang zu dieser intelligiblen Welt, der Welt der wahren Realität. Die vielen Fäden im Denken Kants – Erkenntnis- und Seinslehre, Geschichtsphilosophie, Religion und Ethik – laufen alle in Richtung auf den Menschen als moralisches Wesen.
b) Eine dreimalige Behandlung des Bösen im Menschen und dessen Überwindung Wie schon erwähnt, steht die Redewendung »Reich Gottes auf Erden« für das dritte dogmatische Thema der christlichen Religion: die Kirche. Dieses Thema wird von Kant im dritten und vierten Stück der Religionsschrift unter dem Gesichtspunkt des Bösen im Menschen behandelt. Im folgenden werde ich mich auf die ›Erste Abtheilung‹ des dritten Stücks konzentrieren, in dem Kant seine philosophische ›Dogmatik‹ der Kirche ausarbeitet. Die ›Zweite Abtheilung‹ untersucht die christliche Kirche in ihrem historischen Werdegang, während das vierte Stück vor allem auf die kultische und ›statutarische‹ Entartung derselben Kirche eingeht. Abgesehen von einigen Abschnitten, die weitere wichtige Überlegungen beisteuern (vor allem die zwei Abschnitte zu Beginn des vierten Stücks über die christliche Religion als natürliche und als gelehrte Religion), haben die ›Zweite Abtheilung‹ und das vierte Stück eher den Wert eines Dokuments über die Meinung der zeitgenössischen Gebildeten hinsichtlich der Kirchengeschichte und des etablierten Kirchenregiments. Das vierte Stück, das hauptsächlich auf die sichtbare Kirche eingeht, fällt auf wegen seines äußerst polemischen Tons; seine destruktive Kritik hört sich wie ein Widerhall der antikirchlichen Einstellung der damaligen gebildeten Welt an.
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Die aus sieben Abschnitten bestehende ›Erste Abtheilung‹ ist in zwei Teile gegliedert. Die ersten drei Abschnitte entwickeln einen ausführlichen Vergleich (»eine gewisse Analogie«: RGV B 130 = AA 6,94) zwischen der bürgerlichen Gemeinschaft als juridisch verfaßter und einem Gemeinwesen als ethisch verfaßtem, das Kant aufgrund seines Gesetzgebers ›Volk Gottes‹ nennt. Mit diesem lange durchgezogenen Vergleich, bei dem die bürgerliche Gesellschaft als terminus comparationis dient, beabsichtigt Kant durch Herausstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen beiden gesellschaftlichen Gebilden die wesentlichen Merkmale des ethischen Gemeinwesens zu ermitteln. Sobald das ethische Gemeinwesen als Volk Gottes erkannt worden ist, identifiziert Kant es mit der Kirche. Damit hat er den Ansatzpunkt für den zweiten Teil seiner Argumentation. Das Begriffspaar juridisches – ethisches Gemeinwesen wird dort durch andere Begriffspaare ersetzt: historischer Glaube, Offenbarungsglaube, Kirchenglaube, Geschichtsglaube (RGV B 161 = AA 6,111) einerseits und Vernunftglaube, reiner Glaube, Religionsglaube, moralischer Vernunftglaube (RGV B 248 = AA 6,164) andererseits. Alle diese Begriffe laufen auf das entscheidende Begriffspaar hinaus: Geschichtsglaube, der auf die gegenwärtige und sichtbare Kirche bezogen ist, und Vernunftglaube, der auf das Reich Gottes auf Erden als jene unsichtbare und endgültige Kirche, aber doch ›auf Erden‹, bezogen ist, welche das innere, identische Ziel der menschlichen Geschichte und der Religion zugleich darstellt. Allerdings wird im Laufe der Argumentation die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche nicht immer kohärent eingehalten. Dies hängt auch vom schillernden Status der Eschatologie bei Kant ab, d. h. des ethischen Gemeinwesens, wenn es sein letztes Ziel erreicht hat. Durch die Reduktion der Religion auf Moral – was freilich für Kant keine Reduktion ist, sondern die Bewahrheitung dessen, was ›eigentliche‹ Religion ist – weist Kant auf den Weg zur definitiven Überwindung des radikalen Bösen hin, von dem her seine Religionsphilosophie ausgegangen ist: Das gute Prinzip ist dabei, ein Reich zu errichten, »welches den Sieg über das Böse behauptet und unter seiner Herrschaft der Welt einen ewigen Frieden zusichert« (RGV B 183 = AA 6,124). Aber warum ist ein neues Stück über den »Sieg des guten Prinzips«, wie die Überschrift des dritten Stücks lautet, überhaupt noch nötig? Die Frage stellt sich, weil in den beiden vorangehenden Stücken bereits die Rede davon ist, wie das radikale Böse im Menschen zu überwinden ist. Angesichts des
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tatsächlichen Inhaltes aller drei Stücke gibt der Hinweis etwa auf den Unterschied zwischen ›Kampf‹ (zweites Stück) und ›Sieg‹ (drittes Stück) lediglich eine verbale Antwort. Im ersten Stück ist von einer »ursprünglichen Anlage zum Guten« im Menschen die Rede (RGV B 14 = AA 6,26), welche auch durch die böse »intelligibele That […] ohne alle Zeitbedingung« (RGV B 26 = AA 6,31), nämlich die Umkehrung der »sittliche[n] Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür« (RGV B 23 = AA 6,30), nicht vertilgt werden konnte (RGV B 52 = AA 6,46). Gerade deshalb vermag Kant schon im letzten Abschnitt des Stückes den Weg aus dem radikalen Bösen heraus zur »Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft« zu umreißen. Er schreibt: »Ungeachtet jenes Abfalls erschallt doch das Gebot: Wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch können«: denn laut Kant ist »ein Keim des Guten in seiner ganzen Reinigkeit übrig geblieben« (RGV B 50 = AA 6,45). Der Mensch soll also eine »allmählige Reform« seiner Sinnesart bewirken, die trotz ihres nie abgeschlossenen Fortschritts in den Augen Gottes als eine ›Revolution‹ der Denkungsart gilt. Durch eine solche ›unwandelbare Entschließung‹ wird das moralische Gesetz anstatt der Selbstliebe wieder zur wirksamen Motivation der Handlungen des Menschen (RGV B 54 f. = AA 6,47 f.). In seinen Ausführungen besteht Kant mit Nachdruck darauf, daß der Mensch das, was er tun soll, auch tun kann (RGV B 60 = AA 6,50). Kant formuliert den Grundsatz, daß »ein jeder so viel, als in seinen Kräften ist, thun müsse, um ein besserer Mensch zu werden« (RGV B 62 = AA 6,52). Theologisch gesprochen bedeutet dies: Das initium fidei steht in unserer Macht (vgl. RGV B 48 = AA 6,44). Eine Hilfe von oben, die Gnade, wird von Kant nicht ausgeschlossen. Sollte sie nötig sein, wird sie uns wohl von Gott gewährt werden, wenn wir nur das Unsere getan haben, »um dieses Beistandes würdig zu werden« (RGV B 63 = AA 6,52).15
Diese Einstellung zum Übernatürlichen ist für die ganze Religionsschrift typisch. Was Kant am Herzen liegt, ist die Darlegung seiner Vernunftreligion, d. h. dessen, was nach seinem Dafürhalten eigentlich die Religion ausmacht. Alles Übrige erhält eo ipso den Stellenwert von Adiaphora, mit denen jedermann umgehen kann, wie es ihm dünkt. Kant braucht solche Dinge und Wahrheiten nicht zu bestreiten. Für seinen »seelsorglichen Dienst an Gebildeten« waren überflüssige Streitigkeiten mit der kirchlichen Obrigkeit eher kontraproduktiv. 15
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Nichts anderes gilt für das zweite Stück. Der Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen, der nach der Heiligen Schrift als Kampf einer »wie vom Himmel« herabgekommenen Person geschildert wird (RGV B 109 = AA 6,80), erweist sich für die »bloße Vernunft« als Kampf der Idee des Sittlich-Guten, die in uns »Platz genommen hat« (RGV B 74 = AA 6,61). Da nun diese Idee »wirklich zu unserer ursprünglichen Anlage« gehört, müssen wir uns bemühen, »sie tief in unserer Gesinnung aufzunehmen«. Durch ein solches »auf Selbsttätigkeit gegründetes Gut« (RGV B 115 = AA 6,83) ist die Gewalt des Bösen in uns »gebrochen« (RGV B 114 = AA 6,82), ja besiegt; denn es gilt, wie Kant unmittelbar danach behauptet, daß »die Mächte des Bösen dagegen nichts ausrichten können […]« (RGV B 115 = AA 6,83).16 Wiederum nichts anderes findet sich im dritten (und vierten) Stück des Werkes, wie wir im folgenden sehen werden: Die Reduktion des Christentums auf das Maß der bloßen moralischen Vernunft führt jedesmal zum selben Kern der Kant’schen Moral – der Moral der autonomen Vernunft. Jeweils anders ist nur, wie die drei Grundwahrheiten aus dem »Geschichtsglauben« (Ursünde, Jesus Christus, Kirche), so wie auch andere christliche Wahrheiten, die sich um die drei genannten gruppieren, durch eine moralisch-symbolische Interpretation in den Dienst am Menschen als moralischem Wesen gestellt werden. Eine Entfaltung der Religionsphilosophie Kants findet sich also nur in ihrer Interpretation des Kirchenglaubens als vorläufigem »Vehikel« (RGV B 152 = AA 6,106 u. ö.) zur Etablierung jenes »moralischen Vernunftglauben[s]« (RGV B 248 = AA 6,164), den Kant unter dem Bild des »Reiches Gottes auf Erden« im dritten Stück darlegt. Der Sieg des Vernunftglaubens ist der Sieg jener Moral des guten Lebenswandels, die Kant bereits in seinen früheren ethischen Werken dargelegt hatte. Das dritte Stück unterscheidet sich somit von den zwei anderen dadurch, daß die Untersuchung des Bösen und der Wiederherstellung des Guten im Menschen von der dogmatischen Lehre über die Kirche ausgeht. Da nun die Kirche die gemeinschaftliche Dimension des christlichen Heiles besagt, wird in diesem Stück der gesellschaftliche Aspekt des Bösen und seiner Überwindung untersucht. Wegen Texten wie diesem fragt sich auch Bohatec (Die Religionsphilosophie Kants, 397), ob die Unterscheidung Kants im zweiten Stück zwischen (bloßer) Brechung und Besiegung der bösen Gewalt (RGV B 114 = AA 6,82), die zu einem weiteren Stück über denselben Kampf führt, »auf Grund des von ihm beigebrachten Beweismaterials als stichhaltig angesehen werden kann«. 16
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Der Vorspann zu den sieben Abschnitten begründet die Notwendigkeit einer Ausweitung des Horizontes, unter dem das Böse im Menschen zu betrachten ist, dadurch, daß die Menschen, mit denen der einzelne aufgrund seiner sozialen Natur in Verbindung steht, ihn zum Bösen verleiten. Es genügt, daß Menschen da sind, »um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben« (RGV B 128 = AA 6,94). Sobald der Mensch »unter Menschen ist«, entstehen Neid, Herrschsucht, Habsucht und die damit verbundenen Neigungen (ebd.). Diese soziologische Erklärung des Bösen im Menschen hebt an sich das im ersten Stück über den Ursprung des Bösen im ›bösen Herzen‹ des einzelnen Menschen Ausgeführte nicht auf (RGV B 36 = AA 6,37), sagt aber, daß dieses Böse durch die den Menschen umgebende Gesellschaft aktualisiert wird.17 Mit dem Gedanken, daß das Böse seine (verheerende) Wirkung in der Gesellschaft zeigt, nimmt Kant den Gedanken seiner Geschichtsphilosophie auf, wonach »der Übergang aus der Rohigkeit eines bloß thierischen Geschöpfes in die Menschheit« auf der sittlichen Seite einen »Fall« bedeutet hat; aber »für die Natur, die ihren Zweck mit dem Menschen auf die Gattung richtet«, war dieser Übergang in die Gesellschaft und in die Kultur ein »Gewinn« (MAM A 14 = AA 8,115 f.). Das Böse gilt unter geschichtsphilosophischer Perspektive als sozusagen vorausgeplantes Mittel für die Erreichung einer ›bürgerlichen Gesellschaft‹ und letzten Endes für die Erreichung eines moralischen Ganzen (vgl. IaG A 393 = AA 8,21 f.). Hat in den geschichtsphilosophischen Schriften der Antagonismus der Kräfte als Mittel zur Entfaltung aller Naturanlagen zum sittlichen Handeln einen positiven Wert, so fällt er jetzt unter das Verwerfungsurteil Kants. Während vorher der einzelne in der Gesellschaft sich »mehr als Mensch« fühlte, wird jetzt die Gesellschaft schon in ihrem bloßen Dasein zur Anstifterin des Bösen. Der Grund dieses Umschwungs in der Auffassung der Gesellschaft ist sicherlich die neue theologische Problematik von Sünde und Erlösung. Aber der Gedanke, daß die Gesellschaft in ihrem bloßen Dasein den Anlaß zur Weckung nicht-sittlicher Neigungen gibt, stammt aus dem Kulturpessimismus von Rousseau, auf den Kant selbst in seiner späteren Anthropologie hingewiesen hat (Anth B 321 f. = AA 7,326 f.). Aus diesem Grund will Kant der bürgerlichen Gesellschaft eine andere Gesellschaft an die Seite stellen, die auf die Verhütung dieses Bösen und die Beförderung des Guten im Menschen 17
Bohatec: Die Religionsphilosophie Kants, 399.
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hinzielt: eine »Republik nach Tugendgesetzen« (RGV B 129 = AA 6,94). Damit hat Kant den Anschluß gefunden, um rein philosophisch auf der Ebene der Moral die gemeinschaftliche, raum-zeitliche Dimension des Erlösungswerkes Christi durch seine Kirche zu behandeln.
c) Vom ethischen Naturzustand zum ethischen Gemeinwesen als Volk Gottes Den Leitfaden zur philosophisch-moralischen Auslegung der dogmatischen Lehre über die Kirche nimmt Kant, wie gesagt, von der bürgerlichen Gesellschaft: Wie der gegenwärtigen rechtlich-bürgerlichen Gesellschaft ein rechtlicher Naturzustand vorausgegangen ist, so gilt auch für die anvisierte religiöse Gesellschaft, daß sie aus einem religiösen, d. h. nach Kant moralischen Naturzustand hervorgegangen ist, bzw. daß sie einen solchen Naturzustand verlassen soll, in den sie als sichtbare Gesellschaft zurückzufallen immer wieder droht. Beide ursprünglichen gesellschaftlichen Gebilde, die schon aus dem naturhaften Faktum gegeben sind, daß mehrere Menschen da sind, sind dadurch gekennzeichnet, daß »ein jeder sich selbst das Gesetz« gibt (RGV B 131 = AA 6,95). Es ist dies, rechtlich gesehen, der Zustand des »bellum omnium in omnes«; ethisch gesehen, der »Zustand der innern Sittenlosigkeit« (RGV B 135 und Anm. = AA 6,97 und Anm.), weil die Menschen, wie Kant im Vorspann behauptet hat, aufgrund ihres bloßen Beisammen-Seins »einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage […] verderben« (RGV B 128 = AA 6,94). Es entsteht deshalb für die Menschen die Notwendigkeit, »in eine ethische Vereinigung [zu] treten« (RGV B 132 = AA 6,96), wie sie auch schon zu einer rechtlichen Gesellschaft übergegangen sind. Wenn nun der Naturzustand unter beiden Aspekten dadurch charakterisiert ist, daß es in ihm kein äußeres Gesetz gibt, dem der einzelne »sich sammt allen andern unterworfen erkennte« (RGV B 131 = AA 6,95), so verlangt die den Naturzustand ablösende Gesellschaft öffentliche Gesetze (RGV B 132 f. = AA 6,96) und damit auch eine »öffentliche machthabende Autorität« (RGV B 131 = AA 6,95). Diese allgemeine gesetzgeberische Instanz ist im Falle des politischen Gemeinwesens »der allgemeine Wille« der zu vereinigenden Menge (RGV B 137 = AA 6,98) – eine republikanische Staatsverfassung also, die Kant auch anderswo im Gefolge Rousseaus favorisiert (vgl. MSR B 240 f. = AA 6,340 f.;
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ZeF BA 20–29 = AA 8,349–353). Dasselbe aber ist für das zu gründende ethische Gemeinwesen nicht möglich. Denn hier beziehen sich die Gesetze auf »die Moralität der Handlungen (welches etwas Innerliches ist, mithin nicht unter öffentlichen menschlichen Gesetzen stehen kann)«. Aber die geforderten öffentlichen Gesetze können ursprünglich auch nicht bloß vom Willen eines Oberen des ethischen Gemeinwesens erlassen werden, »weil sie alsdann […] zwangsfähige Rechtspflicht« wären (RGV B 137 f. = AA 6,98 f.). Zu dieser allem Anschein nach unentrinnbaren Alternative findet Kant doch ein tertium: Die gesuchten öffentlichen Gesetze sind »alle wahren Pflichten«, zu denen »auch die ethischen« gehören (RGV B 138 = AA 6,99). Aber wer auferlegt dem Menschen solche Pflichten? Kant geht an dieser Stelle auf diese Frage nicht ein; man kann aber keinen Zweifel darüber hegen, daß er an die moralisch-praktische Vernunft des Menschen denkt, in deren Autonomie, laut seinen beiden Werken zur Grundlegung der Ethik, das oberste Prinzip der Sittlichkeit liegt. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten unmittelbar vor dem Abschnitt über die »Autonomie des Willens« schreibt Kant: »Die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein [!] gesetzgebend, obgleich mit dem Beding, eben dieser Gesetzgebung zugleich selbst unterworfen zu sein« (GMS BA 87 = AA 4,440; auch BA 77 = AA 4,434). Dem naheliegenden Einwand, daß sie menschliche Gesetze sind, die Kant kurz davor als nicht geeignet für den Übergang vom ethischen Naturzustand zum ethischen Gemeinwesen abgelehnt hat, begegnet er, indem er hinzufügt, daß die genannten Pflichten »zugleich als seine [des obersten Gesetzgebers] Gebote vorgestellt werden müssen« (RGV B 137 f. = AA 6,98 f.; Hvh. vom Vf.). Damit hat Kant die öffentlichen Gesetze gefunden, die die Parallele zwischen der rechtlich-bürgerlichen und der ethisch-bürgerlichen Gesellschaft rechtfertigen, von der er ausgegangen ist. Kurzum, die Gesetze sind ethisch und damit zwangsfrei, weil sie auf der gesetzgebenden Vernunft des Menschen selbst gründen; sie sind öffentlich, weil sie als vom göttlichen Gesetzgeber, dem ›moralischen Weltherrscher‹, erlassen vorgestellt werden; zugleich sind sie innere Gesetze, weil der Gesetzgeber ein Herzenskündiger ist (RGV B 139 = AA 6,99).18
Diese doppelte gesetzgeberische Instanz der Moralität ist für die Ethik Kants insgesamt charakteristisch und zugleich die Quelle einer unlösbaren Spannung, die diese Ethik durchzieht. Prinzipiell stammt nach Kant die Verbindlichkeit des Sittengesetzes von der reinen praktischen Vernunft des Menschen; deswegen gilt ihm »die Autonomie 18
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Damit ist Kant vom ursprünglichen ethischen Naturzustand als einem Zustand der »innern Sittenlosigkeit« (RGV B 135 = AA 6,97) zum ethischen Gemeinwesen übergegangen, in dem allein der Sieg des guten Prinzips über das böse (wobei beide Prinzipien dem Menschen selbst innewohnen) »gehofft werden« kann (RGV B 129 = AA 6,94). Das umrissene Gemeinwesen ist eine »Republik unter Tugendgesetzen« (RGV B 140 = AA 6,100), die »Volk Gottes« genannt werden kann, weil ihre Gesetze göttliche Gebote sind (RGV B 139 = AA 6,99). Bevor wir mit der Untersuchung des zweiten Teils der Argumentation fortfahren, der vom Volk Gottes auf das »Reich Gottes auf Erden« schließt, d. h. auf die Kirche, wie sie sich in einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft erweist, ist eine kritische Analyse der bisherigen Argumentation angebracht. Wir haben gesehen, daß Kant im vorliegenden Werk nicht beabsichtigt, eine Religion »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« aus einer Analyse des menschlichen Daseins zu deduzieren. Grundlage und Ausgangspunkt seines Interesses ist die vorgegebene christliche Religion, die er im Lichte der menschlichen Vernunft allein interpretieren und damit rekonstruieren will. Nun ist der Mensch durch ein Doppeltes gekennzeichnet. des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit«. Konsequenz daraus ist, daß sämtliche anderen gesetzgebenden Instanzen, einschließlich Gottes, den »unächten Principien der Sittlichkeit« zuzurechnen sind (GMS BA 87 f. = AA 4,440 f.). Aber angesichts der konkreten Probleme, die die moralische Verbindlichkeit berühren, sieht sich Kant gezwungen, die Autonomie des Menschen zu relativieren, und damit Lehrstücke vorzulegen, die nur durch Wegschauen in ihrer Widersprüchlichkeit vertreten werden können. So z. B. in der zweiten Variante der dritten Formel des kategorischen Imperativs, der Formel des »Reichs der Zwecke«, hinsichtlich des Oberhauptes dieses Reiches (GMS BA 75 = AA 4,433 f.). Dasselbe bei der Definition der Religion, wo die Verbindung des Sittengesetzes mit Gott notdürftig durch ein ›als‹ ( = als ob!) hergestellt wird. Man sehe dazu MST A 109 = AA 6,444, wo das ›als‹ ausdrücklich für die Bezeichnung einer »Pflicht des Menschen gegen sich selbst« gehalten wird. Dasselbe im Postulat eines Gottes, der eine Glückseligkeit wegen der Einhaltung eines Gesetzes zustande bringen soll, das er nicht erlassen hat. Dieselbe Spannung charakterisiert auch Kants Lehre von der Kirche. Was bei Kant fehlt, ist die Idee einer partizipativen Autonomie des Menschen, die metaphysisch auf der Grundlage der Transzendenz Gottes ausgearbeitet werden kann. Nur so ist es möglich, beide Merkmale des moralischen Imperativs zu vereinbaren: Daß er (unmittelbar) unserer moralischen Intentionalität entspringt und zugleich daß er uns absolut in Anspruch nimmt. Denn worauf sonst kann diese Absolutheit gegründet sein?
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Einerseits steht er nach christlichem Glauben in seiner Individualität unmittelbar vor Gott. Als freies und verantwortliches Wesen steht der Mensch in seinem Gewissen »allein« vor Gott, »dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist«19, und wird einst in seiner persönlichen, unabtretbaren Verantwortung vor dem Richterstuhl Gottes vom »Guten oder Bösen, das er im irdischen Leben getan hat« Rechenschaft ablegen (2 Kor 5,10; vgl. auch Röm 14, 10–12). Andererseits hat das Leben des Menschen sowohl in der natürlichen wie auch in der übernatürlichen Ordnung wesentlich eine gemeinschaftliche Dimension. Die gemeinschaftliche Dimension in der übernatürlichen Ordnung ist das Leben des Menschen in der Kirche. Denn das Heil des Menschen kommt vom Erlösungswerk des menschgewordenen Sohnes Gottes und wird in der Zeit durch die Kirche vermittelt. Der einzelne wird in die Kirche eingegliedert, indem er den von ihr verkündeten Glauben annimmt und sich taufen läßt; durch die Sakramente der Kirche wächst er in die Kirche als mystischen Leib Christi hinein. Nun ist es Kants Absicht, die gemeinschaftliche Dimension des Christentums, also die Institution Kirche, in die reine, eigentliche Religion zu übertragen, deren Grundlage die bloße, moralische Vernunft des Menschen ist. Es ergibt sich also die Frage, ob die Vernunftethik Kants, so wie er sie in seinen Schriften der 80er Jahre entwickelt hat, eine gemeinschaftliche Dimension beinhaltet und was für eine sie ist. Nur so ist es möglich zu ermitteln, ob die Moralreligion Kants eine gemeinschaftliche Dimension aufweist, welche als parallel zur Kirche im Christentum gelten kann. Eine solche Parallele wird in der oben untersuchten Argumentation vorausgesetzt: Die rechtlich-bürgerliche Gesellschaft, die als bekannt vorausgesetzt wird, wird als Modell für den Entwurf einer ethisch-bürgerlichen Gemeinschaft genommen – wobei Modell bedeutet, daß zwischen beiden Gesellschaften Ähnlichkeiten und Unterschiede vorliegen. Denn für Kant steht von vornherein fest, wie bereits aus dem ersten Entwurf seiner Religionslehre im Brief an Lavater von 1775 hervorgeht, daß die gesuchte Vernunftreligion eine rein moralische sein soll. Es geht Kant deshalb in diesem Werk darum zu zeigen, daß die anvisierte moralische Religion keine Abschaffung des Christentums bedeutet, sondern vielmehr seine ›Aufhebung‹, d. h. sowohl Bewahrung und Vervollkommnung dessen, was im Christentum authentische 19
Vaticanum II: Gaudium et spes, 16.
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Religion ist, als auch Überwindung dessen, was in der gegenwärtigen Fassung des Christentums sich vor dem Kriterium der rein moralischen Vernunft bloß als Hülle erweist (RGV B 114 = AA 6,83; RGV B 117 = AA 6,85) oder als Vehikel (RGV B 152 = AA 6,106 u. ö.). Die Analogie zwischen jener gemeinschaftlichen Dimension der christlichen Religion, die Kirche genannt wird, und der bürgerlichen Gesellschaft ist an sich naheliegend, wenn man bedenkt, wie Gott selber schon im Alten Testament das künftige Heilswerk Christi durch ein von ihm auserwähltes Volk vorbereitet hat, das er mit der Aufgabe betraute, stellvertretend für das ganze Menschengeschlecht »auf den versprochenen Erlöser zu harren«.20 Mit der Ankunft Christi und der Ausgießung des Heiligen Geistes wurde das neue Volk Gottes, die Kirche, als »Sakrament der Vereinigung aller Menschen mit Gott und untereinander« gegründet.21 Es wundert deshalb nicht, daß in der theologischen Reflexion die Kirche auch unter dem Begriff einer ›societas‹ dargestellt wurde.22 Das Problem hinsichtlich der Ekklesiologie Kants ist, ob der Leitfaden einer Analogie mit dem Staat im Falle des ethischen Gemeinwesens, das Kant vorschwebt, doch nicht zu einer schiefen Argumentation verleitet bzw. in eine Sackgasse führt. Es geht vor allem um die öffentliche Gesetzgebung, die für das rechtlich-bürgerliche Gemeinwesen ein fundamentales Konstitutivum ist. Welches kann nun ihr Gegenstück im ethischen Gemeinwesen sein? Im Falle der christlichen Kirche ist es das Gesetz des Evangeliums, die »lex nova«, welche »principaliter est lex indita (homini)«23, weil sie »ipsa gratia Spiritus Sancti interius data« ist24. Ein solches Gesetz ist innerlich und zugleich vom Oberhaupt des Gemeinwesens stammend, also öffentlich. Nicht so leicht ver-
Vaticanum II: Dei Verbum, 3. Vaticanum II: Lumen gentium, 1. 22 Vgl. die Enzyklika von Pius XII: Mystici corporis, 222 ff. Derselbe Begriff für die Kirche war auch in der vom Ersten Vatikanischen Konzil vorgesehenen Konstitution über die Kirche enthalten. Vgl. im ersten Schema, can. 10 (Mansi: Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio 51,551). Die dortige Qualifikation »perfecta« bezeichnet eine Gesellschaft, die sämtliche Requisiten einer Gesellschaft besitzt, so daß sie von keiner anderen umfassenderen abhängig oder auf sie hingeordnet ist. Auch im neuen Codex Iuris Canonici, can. 204, § 2 heißt es: »Haec Ecclesia, in hoc mundo ut societas constituta et ordinata«. 23 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I.II, q. 106, a. 1. 24 Ebd. a. 2. 20 21
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mag Kant, ein entsprechendes Gesetz für sein ethisches Gemeinwesen vorzulegen. Diese Frage soll im folgenden erörtert werden.
d) Gibt es einen Naturzustand, der ein vorsittlicher Zustand des Menschen ist? Die Schwierigkeiten hinsichtlich der Gesetzgebung beginnen bei dem, was nach Kant der Einrichtung des ethischen Gemeinwesens vorhergegangen sein soll, nämlich bei dem (angeblichen) vorsittlichen Zustand des Menschen, nämlich einem »Zustand der innern Sittenlosigkeit« (RGV B 135 = AA 6,97), welcher der Rechtlosigkeit im juridischen Naturzustand entspricht.25 Denn der Naturzustand, sowohl juridisch wie auch ethisch, ist nach Kants Erklärung ein solcher, in dem, mangels einer äußeren, alle Menschen verpflichtenden Gesetzgebung, »ein jeder sich selbst das Gesetz« gibt (RGV B 131 = AA 6,95). Aber was für ein Gesetz gibt sich der einzelne im genannten Naturzustand? Auf der Grundlage beider bereits früher verfaßten Schriften Kants zur Ethik kann es sich um kein anderes Gesetz handeln als das der Auto-nomie – eben Selbst-gesetzgebung –, welche das Fundament der ganzen Kant’schen Ethik ausmacht, d. h. sowohl der Pflichten des Menschen gegen sich selbst wie auch der Pflichten gegen andere.26 In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten spricht Kant, im Anschluß an die dritte Formel des kategorischen Imperativs, von der »Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich giebt« (GMS BA 77 = AA 4,434; auch BA 73 = AA 4,432). Die Autonomie, d. h. daß der Wille sich selbst das Gesetz gibt (vgl. KpV A 59), ist »das alleinige Princip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten« (KpV A 58; Hvh. v. Vf.). Vgl. Schulze: Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 100. Die »Elementarlehre« der Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre – der zweite Teil der MS – ist genau nach diesen zwei Arten von Pflichten eingeteilt. Bekanntlich erkennt Kant »in der bloßen Philosophie« keine Pflichten des Menschen gegen Gott, vgl. MSR A 50 = AA 6,241; MST A 108 f. = AA 6,443 f.; A 178 –183 = AA 6,486–488. Die letztgenannte Stelle trägt die Überschrift: Die Religionslehre als Lehre der Pflichten gegen Gott liegt außerhalb der Grenzen der reinen Moralphilosophie. In der Religionsschrift heißt es geradezu: »Es giebt keine besondere Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion« (RGV B 230 = AA 6,154). 25 26
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Kant will mit seiner Lehre von der Autonomie gewiß nicht sagen, daß der Mensch de facto immer sittlich handelt. Denn sowohl in den Schriften zur Ethik wie auch in der Religion weist er immer wieder auf andere Motivationen unserer Entscheidungen und Handlungen hin, auf Interessen und Triebfedern unter dem Sammelbegriff von Heteronomie (vgl. GMS BA 88 ff. = AA 4,441 ff.), die die Entscheidungen und Handlungen und damit den Menschen böse machen. Aber in keinem Fall wird von ihm die Selbstgesetzgebung als Quell von Immoralität beurteilt! Im Gegenteil, Sittenlosigkeit ist da, wo »der Wille nicht sich selbst das Gesetz gibt«, sondern die Antriebe und die Neigungen (KpV A 59; dasselbe in GMS BA 88 = AA 4,441). Daß das SichSelbst-das-Gesetz-Geben, so wie Kant es auffaßt, zugleich eine allgemeine d. h. alle Menschen betreffende Gesetzgebung ist, werden wir weiter unten im Zusammenhang mit dem Problem der von Kant geforderten öffentlichen Gesetzgebung als ein Konstitutivum des ethischen Gemeinwesens (und weiterhin des Reiches Gottes auf Erden) erörtern. Aber aus diesem Überblick über die moralische Verfassung des Menschen steht eines fest: In keinem persönlichen oder gesellschaftlichen Zustand ist der Mensch ohne moralisches Gesetz; er ist in diesem Sinne nie ›sittenlos‹, auch nicht in seinem gesellschaftlichen Verhalten. Wenn von einer Stoßrichtung der den Menschen konstituierenden Selbstgesetzgebung die Rede sein soll, so ist das gerade die Rücksicht auf die anderen, auf alle (!) Menschen, wie es aus der ersten Formel des kategorischen Imperativs hervorgeht, die Kant als die geeignetste für die sittliche Beurteilung ansieht (GMS BA 80 f. = AA 4,436 f.). Aus der Gesetzgebung des einzelnen entsteht ein »Reich der Zwecke« (GMS BA 74 = AA 4,433), das ein »Reich der Sitten« ist (KpV A 147 = AA 5,82).
e) Eine soziologische Erklärung des Bösen Kant charakterisiert den ethischen Naturzustand als einen der »öffentliche[n] wechselseitige[n] Befehdung der Tugendprincipien und […] der inneren Sittenlosigkeit« (RGV B 135 = AA 6,97), der nicht so sehr von der »eigenen rohen Natur [des Menschen], sofern er abgesondert da ist, sondern von Menschen [kommt], mit denen er im Verhältniß steht […] es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen« (RGV B 128 = AA 6,93 f.).
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Das Böse, das Kant im ersten Stück auf der Grundlage der biblisch-kirchlichen Lehre vom Sündenfall zu Beginn der Menschheit als »in der menschlichen Natur« einwohnend ermittelt hat, wird hier zwar nicht direkt zurückgenommen, wohl aber anders verstanden oder zumindest anders akzentuiert. Es sind nicht »die Anreize« seiner Natur (von der gesagt worden ist, daß sie durch einen »natürlichen Hang zum Bösen« gekennzeichnet ist: RGV B 27 = AA 6,32), die die »Leidenschaften in ihm rege« machen (RGV B 128 = AA 6,93), sondern das bloße Zusammensein mit anderen Menschen. Denn dies erweckt jene »vergleichende Selbstliebe«, von der Kant im ersten Stück als »Anlage für die Menschheit« gesprochen hat (RGV B 17 = AA 6,27); aus ihr, als aus einer Rivalität, gehen Neid, Herrschsucht, Habsucht und feindselige Neigungen hervor (RGV B 128 = AA 6,93 f.). Kurzum, während nach dem ersten Stück der Religionsschrift das Böse in einer »intelligibelen That« vor aller Erfahrung (RGV B 26 = AA 6,31; B 39 Anm. = AA 6,39 Anm.), näherhin in einer Umkehrung der sittlichen Ordnung der Triebfedern (Selbstliebe anstatt des Gesetzes) besteht (RGV B 34 = AA 6,36), wird hier das Böse eher soziologisch erklärt. Die vorige Erklärung wird verändert, wohl im Hinblick auf das soziale Gebilde, die Kirche, die in der Vernunftreligion als Mittel zur Überwindung des Bösen ausgelegt werden soll. Bohatec verweist auch auf den Theologen Johann David Heilmann, der von einer »Gemeinschaft der Sünde« sprach und so Kants Kulturpessimismus Rousseauscher Herkunft theologisch erhärtete.27 Aber gerade diese Funktion, die hier dem ethischen Gemeinwesen zugeschrieben wird, überrascht nicht weniger als die vorige Verbindung von Autonomie und Sittenlosigkeit. Denn wenn das Zusammensein in einer Gesellschaft den an sich guten Menschen verdirbt, so scheint daraus zu folgen, daß der Sieg des guten Prinzips eher die Auflösung der Gesellschaft verlangt und jedes Individuum sich auf sich selbst zurückziehen soll.28 Für die Errichtung dieser »allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen«, argumentiert Kant weiter, sollen »alle, die das Gute lieben« (RGV B 129 = AA 6,94), alle »wohlgesinnten Menschen« (RGV B 136 = AA 6,98) sich versammeln. Aber wer sind diese Menschen? Laut den vorhergehenden Ausführungen ist jeder Mensch an sich nicht schlecht, zugleich aber dem Bösen ausgesetzt, sobald er bei anderen Menschen ist. Es scheint also, daß Kant für 27 28
Bohatec: Kants Religionsphilosophie, 402. Schulze: Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 99.
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die Gründung des ethischen Gemeinwesens jene Menschen voraussetzt, die es erst durch dieses Gemeinwesen überhaupt geben kann.
f) Das ethische Gemeinwesen als Ziel der Gattung Eingeflochten in die Argumentation, die zur Ermittlung eines Gemeinwesens führt, welches imstande ist, das Böse zu überwinden, das wegen des Zusammenseins mit anderen Menschen aktualisiert wird, findet sich eine Auffassung des ethischen Gemeinwesens, die zumindest teilweise anders als die bisher entworfene ist. Im zweiten Abschnitt, nachdem Kant von der Notwendigkeit gesprochen hat, aus dem ethischen Naturzustand »so bald wie möglich herauszukommen«, qualifiziert er eine solche Notwendigkeit als eine Pflicht eigener Art, nämlich »nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst« (RGV B 135 = AA 6,97).29 Damit bezieht sich Kant auf den Grundsatz seiner Geschichtsphilosophie, demgemäß »der einzelne nur in der Gattung seine volle Bestimmung erreicht«.30 Von seinen geschichtsphilosophischen Schriften verweise ich insbesondere auf die erste, nämlich Die Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784: »Am Menschen […] sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln«. Dies gilt namentlich für »die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft« (IaG A 384 = AA 8,22). Überhaupt gilt für Kant, daß vielleicht bei den Einwohnern anderer Planeten »ein jedes Individuum seine Bestimmung in seinem Leben völlig erreichen [mag]. Bei uns ist es anders; nur die Gattung kann dieses hoffen« (IaG A 397Anm. = AA 8,23Anm.). Auch zu Beginn des vierten Stücks, wo Kant das Argument des vorigen Stückes zusammenfaßt, sagt er, daß sich »zu einem ethischen gemeinen Wesen […] zu vereinigen eine Pflicht besonderer Art sei« (RGV B 225 = AA 6,151). Aber dort wird die Besonderheit im Unterschied gesehen zwischen einer »zufälligen Zusammenstimmung aller«, solange ein jeder seiner Privatpflicht gehorcht, und einer Zusammenstimmung infolge der absichtlichen Vereinigung aller im Hinblick auf ein solches Gemeinwesen. Beide ethischen Grundlegungsschriften Kants sowie seine normative Ethik sprechen zwar immer wieder vom allgemeinen Charakter des vom einzelnen Menschen erlassenen Imperativs, daß er nämlich allen Menschen Rechnung trägt, aber eine Pflicht der menschlichen Gattung als solcher kennen sie nicht. 30 Bohatec: Kants Religionsphilosophie, 398. 29
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Aber man muß genauer sehen, wozu das menschliche Geschlecht verpflichtet ist. Denn nach den Ausführungen Kants an dieser Stelle der Religionsschrift handelt es sich nicht um die Überwindung des Bösen – weder in jedem einzelnen Menschen noch in der menschlichen Gesellschaft –, wie das bisher Gesagte über den sittlichen Naturzustand nahelegen würde, also nicht um ein zunächst negatives Ziel, sondern um ein positives Ziel, nämlich die »Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts«; der Grund dieser Verlegung des Akzents auf die Gemeinschaft ist, daß »jede Gattung vernünftiger Wesen […] objectiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke […] bestimmt« ist (RGV B 135 = AA 6,97; Hvh. v. Vf.). Zu diesem Zweck bemerkt Kant, daß er »durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt« werden kann; dafür sei eine Vereinigung aller ›wohlgesinnten Menschen‹ erforderlich (RGV B 136 = AA 6,97 f.). Nun aber wissen wir nicht, ob die Errichtung einer solchen »allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen« in unserer Gewalt steht; deswegen ist die Pflicht, dies zu tun, »von allen anderen [Pflichten] unterschieden«. Daraus folgert Kant (RGV B 136 = AA 6,98): »Man wird schon zum voraus vermuthen, daß diese Pflicht der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich der eines höhern moralischen Wesens, bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden«. Hier kommt also Gott als Hersteller des ethischen Gemeinwesens in Betracht, nicht als dessen Gesetzgeber. Mit diesem Gedanken scheint Kant das Postulat Gottes wiederaufzunehmen, das er in den drei Kritiken und zu Beginn der Religionsschrift entwickelt hat. Denn Gott wird hier angenommen als derjenige, der das genannte ›höchste gemeinschaftliche Gut‹ (RGV B 135 = AA 6,97) bewirken kann. In der Tat aber haben wir hier eine sehr verschiedene Argumentation. Denn das Postulat Gottes setzt das menschliche Subjekt in seiner Isoliertheit dem Naturgeschehen entgegen und verlangt für die Verwirklichung des höchsten Guts, das in der Zusammenstimmung von Sittlichkeit (des einzelnen) und der ihr proportionierten Glückseligkeit besteht (vgl. etwa KpV A 198 f.), das Dasein eines moralischen Welturhebers und Regierers. An dieser Stelle der Religionsschrift dagegen besteht das höchste Gut in der vollkommen moralischen Gesellschaft selbst als einer solchen, und zwar in dieser Welt, wie die im weiteren Verlauf der Argumentation vorgenommene Identifikation dieses ethischen Gemeinwesens mit dem »Reich Gottes
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auf Erden« besagt. Von der Glückseligkeit ist in der angegebenen Definition des höchsten Guts keine Rede, sondern nur von einem ›gemeinschaftlichen‹ Gut. Allerdings muß das Gesagte vom ethischen Gemeinwesen aufgrund der zweiten Abteilung des dritten Stückes differenziert werden. Denn dort endet die ›historische Vorstellung der allmähligen Gründung der Herrschaft des guten Princips auf Erden‹ (RGV B 183 = AA 6,124; Hvh. v. Vf.) gemäß der biblischen Vorlage mit der Eschatologie. Nun legt das Grundanliegen Kants, die theologische Wirklichkeit der Kirche zu einem ethischen Gemeinwesen umzuwandeln, eine innerweltliche Eschatologie nahe, eine Vollendung des ethischen Gemeinwesens hier auf Erden, auf der allein Moralität des Menschen im eigentlichen Sinne möglich ist (RGV B 205 = AA 6,136). Kurzum, das höchste Gut ist die moralische Gemeinschaft selbst hier auf Erden. Andererseits aber liegt im biblischen Begriff des Reiches Gottes auch der Gedanke eines Reiches, in dem den Guten die entsprechende ›physische‹ Glückseligkeit und den Bösen die entsprechende physische Verdammnis zuteil wird. Infolgedessen versucht Kant in seiner Lehre von der Kirche, auch einer transzendenten, metahistorischen Eschatologie Rechnung zu tragen. Von da her ergibt sich ein Schwanken in seinen Ausführungen sowie die Undurchsichtigkeit seiner Antwort auf die unausweichliche Frage: Wohin führt schließlich das ganze moralische Bemühen des Menschen sowohl als Individuum wie auch als Gemeinschaft? Ein solches Schwanken in der Geschichtstheologie Kants, d. h. in seiner Betrachtung des Menschen als homo religiosus, ist mit seiner Geschichtsphilosophie eng verbunden, in der der Mensch als Träger der Kultur betrachtet wird, wobei die Verbindung zugleich eine gegenseitige Beeinflussung bedeutet. Eine solche gegenseitige Beeinflussung ist schon deshalb bei Kant zu erwarten, weil seine Reduktion der Religion auf die Moral zugleich die Zuweisung der Religion in die Mitte der kulturtragenden Faktoren bedeutet.31
Vgl. die drei Momente in der Entwicklung der Menschengattung: »cultivirt«, »civilisirt«, »moralisirt« (IaG A 402 = AA 8,26). Mit Zivilisierung meint Kant die äußerliche Gesittung. 31
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g) Die öffentliche Gesetzgebung des ethischen Gemeinwesens Aber es ist vor allem die Forderung nach öffentlichen Gesetzen als Grundkonstitutivum des ethischen Gemeinwesens, auf die die Analogie mit der rechtlich-bürgerlichen Gesellschaft führt, die dem Vorhaben Kants die größte Schwierigkeit bereitet – dem Vorhaben nämlich, die Kirche des christlichen Glaubens in ein ethisches Gemeinwesen zu überführen, wobei der Akzent der Analogie auf ›gemein‹ liegt. Mit dieser Schwierigkeit waren wir bereits konfrontiert, als es (in 2.c) darum ging, Kants Weg vom Naturzustand zum ethischen Gemeinwesen nachzuzeichnen. Da der zu verlassende Naturzustand bereits die Gesetzgebung des einzelnen kennt (RGV B 131 = AA 6,95), muß es »außer den Gesetzen, die sie [die Vernunft] jedem einzelnen vorschreibt«, noch ›öffentliche‹ Gesetze geben (RGV B 129 f. = AA 6,94). Im ethischen Naturzustand fehlt ja nach Kant ein ›äußeres‹ Gesetz, dem sich alle unterwerfen (RGV B 131 = AA 6,95). Aber wenn es dann darum geht, die Instanz dieser ›öffentlichen Gesetzgebung‹ (RGV B 137 = AA 6,98) zu nennen, so ist Kant gezwungen, wie oben dargelegt, auf die ethischen Pflichten zu rekurrieren, die der einzelne aufgrund seiner eigenen praktischen Vernunft anerkennt, indem er sie sich autonom auferlegt, die aber wegen ihres Charakters der Allgemeinheit als Gebote Gottes angesehen werden (RGV B 138 f. = AA 6,99). Wenn dann im zweiten Teil der ›philosophischen Vorstellung‹, in dem Kant das ethische Gemeinwesen mit der Kirche identifiziert, Gott als Gesetzgeber der öffentlichen Gesetze der Kirche vorgestellt wird, ja als derjenige, der den »zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effect verschaffen kann« (RGV B 147 = AA 6,104),32 so kann all dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß »der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben ist«, daß also die »reine moralische Gesetzgebung« unabdingbar eine innere ist (RGV B 148 = AA 6,104; Hvh. v. Vf.), die in der Autonomie des einzelnen gründet. Genau dies ist das, was Kant bereits in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft ausführlich dargelegt hat. Von der Religion und damit von der Kirche wird an der hier untersuchten Stelle gesagt, daß die moralische, in unser Herz geschriebene Gesetzgebung das ist, »was diese selbst [die wahre Religion] eigentlich ausmacht« (RGV B 148 = Hier kommt doch der Grundgedanke des höchsten Gutes im Sinne des Postulats Gottes wieder, d. h. als des Ganzen von Tugend und entsprechender Glückseligkeit. 32
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AA 6,104) und damit auch das ethische Gemeinwesen, sofern dieses zur Konstitution der Religion gehört. Daß für die ›allgemeine Republik nach Tugendgesetzen‹ (RGV B 136 = AA 6,98) keine öffentliche Gesetzgebung außer der allgemeinen Gesetzgebung des Individuums nötig ist, geht schon aus der dritten Formel des kategorischen Imperativs hervor, die Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mehrmals mit leichten Varianten in der Diktion und im Vorstellungsmittel angibt. Es heißt dort (GMS BA 74 = AA 4,433): »Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens, das sich durch alle Maximen seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten muß, um aus diesem Gesichtspunkte sich selbst und seine Handlungen zu beurtheilen, führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reiches der Zwecke«, das, wie schon gesagt, ein ›Reich der Sitten‹ ist (KpV A 147). Von dieser »systematische[n] Verbindung vernünftiger Wesen« (GMS BA 75 = AA 4,433) wird dort mehrmals gesagt, daß sie durch »gemeinschaftliche objective Gesetze« entsteht. Diese Gesetze sind eindeutig die Gesetze des Individuums in seiner Vernunftautonomie, so wie es von demselben Individuum heißt, daß es Glied des ›Reichs der Zwecke‹ ist (GMS BA 75 f. = AA 4,433 f.).33 Es ist nicht einzusehen, was das ethische Gemeinwesen bzw. die Kirche (als Kirche des Vernunftglaubens bzw. als Reich Gottes auf Erden) dem Begriff des Reiches der Zwecke sachlich hinzufügen kann und soll. Neu in der Religionsschrift ist nur, daß das ›Oberhaupt‹ des Gemeinwesens namentlich als Gott selbst eingeführt wird, ohne die Schwankungen, die die zitierte Stelle der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten aufweist und auf die ich oben (in 2.a.2) hingewiesen habe. Zusammenfassend läßt sich der Trend der Kant’schen Argumentation wie folgt ausdrücken: Wenn das Eigentliche der Religion die Moral ist und Oben 2.a.2 wurde bereits das »Reich der Zwecke« als eine Vorwegnahme des »Reiches Gottes auf Erden« in der Religionsschrift vorgestellt. Ebenfalls wurde erwähnt, daß Kant nicht wagt, den Menschen zum Oberhaupt dieses Reichs zu machen, obwohl er es als auf der allgemeinen Gesetzgebung des Menschen gegründet auffaßt. Daß dies gegen die Logik seiner eigenen Prämissen verstößt, muß wohl Kant selbst gespürt haben. Denn er schreibt: »Es [das vernünftige Wesen] gehört [dazu …], wenn es als gesetzgebend keinem Willen eines anderen unterworfen ist«. In der Tat heißt es kurz danach: »Diese Gesetzgebung muß aber in jedem vernünftigen Wesen selbst angetroffen werden und aus seinem Willen entspringen können« (GMS BA 75 f. = AA 4,433 f.). Zu dieser Spannung im Denken Kants vgl. auch die Fußnote 18 über die doppelte gesetzgeberische Instanz in der Ethik Kants. 33
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wenn die ›Autonomie des Willens das oberste Prinzip der Sittlichkeit‹ ist (GMS BA 87 = AA 4,440) – wobei es keinen Zweifel geben kann, daß Kant auch in der Religionsschrift an diesen zwei Grundprinzipien festhält –, so kann es in einer reinen Religion keine ›öffentlichen‹ Gesetze geben, die nicht die Gesetze »des Willens jedes [einzelnen] vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens« sind (GMS BA 70 = AA 4,431). Eine solche unausweichliche Folgerung kommt der Behauptung gleich, daß der Sieg des guten Prinzips in der Vernunftreligion der ›individuellen‹ Moral nach den ethischen Grundschriften Kants nichts hinzufügt; er kann nichts hinzufügen und er braucht nichts hinzuzufügen. Damit ist auch gesagt, daß die öffentliche Gesetzgebung des Reiches Gottes auf Erden eine rein innere Gesetzgebung ist und daß es in der rein moralischen Religion keinen Platz für eine wie immer geartete Kirche gibt, der eine gemeinschaftliche Heilsfunktion außer der zukommen soll, die die reine praktische Vernunft des Individuums schon hat. Nachdem Kant auf dem Weg seiner Analogie zur Idee eines Volkes Gottes und damit zur Kirche gelangt ist, d. h. ab dem Abschnitt IV, spielt die öffentliche Gesetzgebung in seiner ausführlichen Darlegung von Form, Konstitution und Verwirklichung der wahren Kirche tatsächlich keine Rolle mehr. Dies bedeutet keineswegs, daß das ethische Gemeinwesen Kants keine öffentliche Gesetzgebung im Sinne allgemeiner Gesetze kennt. Eine solche Konklusion wäre aus zwei Gründen falsch. Denn erstens ist jegliche moralische Norm von sich aus allgemein, weil die Individualität als solche keine sittlich relevante Ungleichheit zwischen den Menschen ausmacht. Zweitens, weil der allgemeine Charakter, der eine notwendige Bedingung für jegliche moralische Norm darstellt, in der Ethik Kants zu einer zureichenden und damit zur alleinigen Bedingung der Moralität geworden ist. Das dadurch entstehende Problem des Formalismus braucht hier nicht erörtert zu werden. h) Die Kirche der Vernunftreligion Wir haben gesehen, daß für die Untersuchung Kants nur das Christentum in Frage kommt, um daraus die eigentliche Religion herauszudestillieren, welche eine alle Menschen umfassende Vernunftreligion sein muß. Weil nun das Christentum in der Kirche eine ihm wesentliche gemeinschaftliche Dimension aufweist, hat Kant in den ersten drei Abschnitten der philosophischen Abteilung des dritten Stücks dahingehend argumentiert, was diese Kirche in der von ihm anvisierten Religion sein muß; damit ist er zum Begriff eines
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ethischen Gemeinwesens gekommen. In den nun folgenden vier Abschnitten geht Kant unter einer systematischen Perspektive vom noch undifferenzierten Begriff eines ethischen Gemeinwesens zu einer Kirche im eigentlichen Sinn über, und zwar in ihren Kennzeichen (IV), in ihrer Konstitution (V), in ihrem Glauben (VI) und in ihrem Werdegang (VII). In jedem dieser Abschnitte stellt die christliche Kirche den Bezugspunkt: Es wird untersucht, ob und in welchem Ausmaß sie der Kirche einer rein moralischen Religion zumindest tendentiell entspricht und was dagegen wegfallen muß. Die in der zweiten Abteilung folgende historische Untersuchung der christlichen Kirche liegt außerhalb der Zielsetzung der vorliegenden Abhandlung. Denn es geht mir darum zu zeigen, wie nach Kant ein aufgeklärter Mensch die Kirche als gesellschaftlich verfaßte Manifestation der christlichen Religion verstehen und was er von ihren ›statutarischen‹ Elementen halten soll. (1) Im Abschnitt IV geht Kant vom Begriff des Volkes Gottes zum Begriff der Kirche über. Ein ethisches Gemeinwesen als ein Ganzes scheint nicht in unserer Macht zu stehen (Abschnitt II), und weil es wegen der es konstituierenden öffentlichen Gesetzgebung bereits als Volk Gottes erkannt wurde (Abschnitt III), deshalb ist seine Ausführung nur von Gott selbst zu erwarten. Aus diesen zwei Gründen – Gesetzgebung und Ausführung – erweist sich das ethische Gemeinwesen als eine Kirche; allerdings als eine unsichtbare Kirche. Hier übernimmt Kant die Distinktion zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche (RGV B 142 = AA 6,101), die im Zuge der ekklesiologischen Kontroversen nach der Reformation geläufig geworden war. Wie im Falle des guten Prinzips im zweiten Stück, so gilt auch hier die theologische Realität der Kirche als eine ›bloße Idee‹, die in unserer moralisch-gesetzgebenden Vernunft als Urbild der sichtbaren Kirche vorliegt; um die Verwirklichung der letzteren sollen die Menschen selbst sich bemühen, auch wenn sie hoffen dürfen, daß Gott ihnen die Vollendung in dem, was sie nicht vermögen, ›angedeihen lassen‹ wird (RGV B 141 = AA 6,101). Von dieser sichtbaren Kirche als Vorbereitung und zugleich als (defizitäre) Darstellung des Reiches Gottes auf Erden, »soviel es durch Menschen geschehen kann«, analysiert Kant zunächst die Kennzeichen, um aber doch zu dem Schluß zu gelangen, daß die Kirche »als bloße Repräsentantin eines Staats Gottes betrachtet, […] eigentlich keine ihren Grundsätzen nach der politischen ähnliche Verfassung« hat (RGV B 142 ff. = AA 6,101 f.). Damit hebt Kant die Analogie auf, durch die er verleitet wurde, auch für die rein moralische Gemeinschaft eine öffentliche Gesetzgebung zu fordern.
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(2) Daß die Kirche als gemeinschaftliche Dimension der Religion ihre Entstehung einem historischen Glauben und damit statutarischen (positiven) Gesetzen verdankt, wird von Kant der menschlichen Schwäche zugeschrieben. Denn die Menschen sind nicht zu überzeugen, daß »die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel alles sei, was Gott von Menschen fordert« (RGV B 145 = AA 6,103); sie denken vielmehr an einen besonderen Dienst, den sie Gott zu leisten haben und an moralisch indifferente Handlungen, durch die sie Gott ihren Gehorsam zeigen. Daraus entspringt, anstatt der eigentlichen moralischen Religion, eine gottesdienstliche Religion.34 Hier und im folgenden operiert Kant mit der doppelten Reihe von Termini, die oben (in 2.b) bereits erwähnt wurden: (1) historischer Glaube, Offenbarungsglaube, Kirchenglaube, Geschichtsglaube (RGV B 161 = AA 6,111), (2) Vernunftglaube, reiner Glaube, Religionsglaube, moralischer Vernunftglaube (RGV B 248 = AA 6,164). Kant versucht die Beziehungen zwischen Kirchenglauben und Vernunftglauben vor allem anhand der Distinktion von Materie und Form der Kirche festzulegen. Die Materie besteht in der Beobachtung aller Pflichten als Gebote Gottes; die Form betrifft die Kirche als Vereinigung vieler Menschen. Die Form ist den Bemühungen und der Verantwortung der Menschen überlassen; es entsteht deshalb die Frage, inwieweit die Form, die das Christentum tatsächlich angenommen hat, der oben genannten Materie entspricht. Aufschlußreich für die Kant’sche Auffassung vom ›Volk [Gottes] unter göttlichen Geboten‹ (RGV B 139 = AA 6,99) ist der Umstand, daß hier, wo von der ›Form‹ der Kirche als einer ›öffentlichen Verpflichtung‹ (RGV B 149 = AA 6,105) die Rede ist, die vorher verlangten ›öffentlichen [göttlichen] Gesetze‹ (RGV B 132 f. = AA 6,96) nicht mehr erwähnt werden. Die einzige hier genannte göttliche Gesetzgebung findet im Gewissen jedes einzelnen Menschen statt: Sie ist »die reine moralische Gesetzgebung, dadurch der Wille Gottes in unser Herz geschrieben ist« (RGV B 148 = AA 6,104). Denn »Religion« ist »innerlich […] verborgen« und kommt »auf moralische Gesinnung« an (RGV B 154 f. = AA 6,108). »In Ansehung der [rein moralischen Gesetze] Die Ablehnung einer »gottesdienstlichen Religion« bedeutet für Kant die Ablehnung von »Diensten« gegen Gott, die Kant kurzerhand »Hofdienste« nennt. Die Kirche Kants kennt keine Liturgie der Gemeinde. Will man von einer ›schuldigen‹ Ehrerweisung gegen Gott sprechen, so liegt eine solche »religiöse Gesinnung« in der Erfüllung »unserer pflichtmäßigen Handlungen«, also in den »ethisch-bürgerlichen Menschenpflichten (von Menschen gegen Menschen)« (RGV B 230 Anm. = AA 6,154 Anm.). 34
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kann ein jeder aus sich selbst durch seine eigene Vernunft den Willen Gottes, der seiner Religion zum Grunde liegt, erkennen« (RGV B 147 = AA 6,104; Hvh. v. Vf.). Die vermeintlich göttlichen Gesetze, die in der Kirche hinzukommen, werden hier als statutarische Gesetze entlarvt, die der Mensch selbst infolge seiner Neigung zu einer gottesdienstlichen Religion, d. h. zu einer Religion der ›Gunstbewerbung‹ (RGV B 61 = AA 6,51), und überhaupt wegen seines natürlichen Verlangens nach ›etwas Sinnlich-haltbarem‹ (RGV B 177 = AA 6,109) sich ausdenkt. Allerdings will Kant hinsichtlich der Form ›eine besondere göttliche Anordnung‹ (RGV B 150 = AA 6,105) nicht schlechthin ausschließen. Eine solche vermittelnde Position – so könnte man sie zunächst interpretieren – hat Kant mehrmals hinsichtlich der statutarischen Elemente und der dogmatischen Lehren der Kirche (etwa der Gnade, der Stiftung der Kirche durch Jesus, der Wunder) eingenommen. Grund dafür ist aber nicht eine Unsicherheit hinsichtlich der Wahrheit solcher positiven oder übernatürlichen Wirklichkeiten, sondern Kants innere Distanz zu den historischen und ›zufälligen‹ Elementen der christlichen Religion, die nicht moralischer Natur sind. Was Kant im Zusammenhang mit seiner Behandlung der Wunder schreibt: Wir können sie »insgesammt auf ihrem Werthe beruhen lassen«; nur soll man sie »nicht zum Religionsstücke machen« (RGV B 117 = AA 6,85), verrät seine wahre Einstellung. Damit hat sich der aufgeklärte Gelehrte eines solchen Ballasts entledigt, ohne in Konflikt mit der Landeskirche und ihrer Orthodoxie zu geraten (vgl. oben Anm. 19). Dieser Einstellung und Absicht gemäß arbeitet der folgende sechste Abschnitt eine Hermeneutik des historischen Glaubens aus. Hauptkriterium für die Interpretation des Glaubens der Kirche ist dieselbe Moral, die das Wesentliche der Religion ausmacht. Ein anderer Aspekt der in der Sache entschiedenen, aber in der Form behutsamen Opposition Kants gegen den statutarischen Kirchenglauben und damit gegen alles, was er unter dem Begriff »gottesdientliche Religion« sammelt, ist, daß er doch diesem Glauben die positive Aufgabe eines ›Vehikels‹ zur ›Introduction‹ und zur »öffentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung des [reinen Religionsglaubens]« (RGV B 152 f. = AA 6,106 u. ö.) zuspricht. Ein solches Mittel hat freilich nur ›provisorische‹ Funktion (RGV B 179. 270 = AA 6,121.176).35 Aus der Reduktion der Religion auf MoDer Vehikel-Gedanke gehört zum deistischen Schema; vgl. Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie, 134–137, aber auch die Präzisierung Bohatecs 35
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ral, welche nur eine einzige für alle Menschen sein kann, folgt die These, die Kant auch zwei Jahre später im philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden formuliert hat (ZeF B63 f. = AA 8,367). »Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben« (RGV B 154 = AA 6,107), insofern der Glaube auf die verschiedenen, historisch bedingten Offenbarungen bezogen ist. Diese Distinktion liegt offensichtlich im Rahmen des deistischaufklärerischen Anliegens, eine allgemeine, über die verschiedenen und sich einander bekämpfenden Konfessionen hinausgehende Religion zur Geltung zu bringen. Es sei schließlich bemerkt, daß der Vernunftglaube als Kernbegriff der von Kant anvisierten Religion nicht denselben Sinn hat wie der Vernunftglaube im Kontext der Postulatenlehre. Denn dort hat er einen irrationalistischfideistischen Sinn (Annahme dessen, was über den Bereich unserer objektiv gültigen Erkenntnis hinausgeht), während er hier einen rationalistischen und antisupranaturalistischen Sinn hat. Man kann auch sagen, daß in der Postulatenlehre der Akzent des zusammengesetzten Terminus Vernunftglaube auf Glaube im Gegensatz zu Wissen liegt (KrV B XXX); in der Religionslehre liegt der Akzent auf Vernunft im Gegensatz zu Offenbarung – die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft beruht ja auf einem Wissen durch Vernunft. (3) Der siebte Abschnitt führt die »philosophische Vorstellung des Sieges des guten Prinzips« zu Ende: Das Sich-Durchsetzen der moralischen Komponente im Kirchenglauben bedeutet die Annäherung und damit die Gründung des Reiches Gottes auf Erden. Kant schildert mit beredtem Fortschrittsoptimismus und Freiheitspathos das allmähliche Wegfallen alles Statutarischen und Geschichtlichen, bis reiner Religionsglaube allein bei allen Menschen herrscht. »Das Wahre und Gute« teilt sich, »vermöge der natürlichen Affinität, in der es mit der moralischen Anlage vernünftiger Wesen überhaupt (Kants Religionsphilosophie, 456, Anm. 156). Vom Vehikel spricht Kant wieder im SF A 46 f. = AA 7,37; A 64 = AA 7,45 u. ö. Auch hierin zeigt sich die Zweideutigkeit bzw. Behutsamkeit Kants, wenn es sich um Lehrstücke handelt, die die kirchliche Obrigkeit näher angehen. In der am Ende des dritten Stückes behandelten Eschatologie ist zunächst davon die Rede, daß der Geschichtsglaube, der jetzt als »gegenwärtig noch nicht entbehrliche Hülle« der reinen Vernunftreligion fungiert, »durch anhaltende Entwickelung der reinen Vernunftreligion« wegfallen wird; in der zweiten Auflage des Werkes hat Kant hinzugefügt: »vielleicht mag er als Vehikel immer nützlich und nothwendig sein« (RGV B 204 f.,Anm. = AA 6,135).
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steht, […] durchgängig mit« (RGV B 181 = AA 6,122 f.); d. h. es umfaßt alle Menschen, »um ein absolutes ethisches Ganze zu errichten« (RGV B 133 = AA 6,96), zu dem die moralische Anlage des Menschen hinstrebt und von dem Kant zu Beginn seiner ›philosophischen Vorstellung‹ sprach. In der unsichtbaren Kirche, die durch die gegenwärtige sichtbare Kirche »dürftig vorgestellt und vorbereitet« wird, wird schließlich ›Gleichheit‹ zwischen Laien und Klerikern herrschen und damit »wahre […] Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein jeder zwar dem (nicht statutarischen) Gesetz gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber auch zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des Weltherrschers ansehen muß« (RGV B 179 f. = AA 6,122). Damit haben wir am Ende der Entwicklung genau dieselbe Situation wie zu Beginn, nämlich wie im ethischen (und juridischen) Naturzustand, in dem »ein jeder sich selbst das Gesetz« gibt (RGV B 131 = AA 6,95). Kant gibt also seinen Vergleich der Kirche mit der staatlichen Gemeinschaft auf, woraus sich die Notwendigkeit einer öffentlichen Gesetzgebung ergeben hatte, und folgt vielmehr der inneren Logik seines Ansatzes bei einer rein moralischen Religion im Zusammenhang mit dem Autonomie-Gedanken seiner Ethik. Wenn Kant zu Beginn der nachfolgenden ›historischen Vorstellung‹ schreibt, daß von »der Religion auf Erden […] keine Universalhistorie des menschlichen Geschlechtes« möglich ist, weil sie »als auf den reinen moralischen Glauben gegründet, kein öffentlicher Zustand« ist (RGV B 183 f. = AA 6,124; Hvh. v. Vf.), so bedeutet dies, daß der in einer Gesellschaft realisierte moralische Glaube keine öffentlichen Gesetze impliziert; denn sonst wäre die wahre Religion historisch faßbar.36 Die Autonomie als der Kern der Kant’schen Auffassung vom Menschen als moralischem Wesen spielt dieselbe Rolle für die Individualethik wie für die Sozialethik. Die soziale Dimension des Menschen verlangt zwar für die politische Gemeinschaft ein anderes gesetzgebendes Subjekt als das Individuum, d. h. den einzelnen Bürger; das trifft aber nicht für die religiöse Gemeinschaft – die Kirche, zu. Für die letzte genügt das vernünftige Individuum als ein allgemein gesetzgebendes Subjekt. Das ›Reich der Zwecke‹, zu dem die phiDiese Unmöglichkeit einer Historie der Religion, wenn man unter Religion Moralität im engeren Sinne (d. h. im Unterschied zur bloßen Legalität) versteht, hängt auch mit einem Gedanken zusammen, der mehrmals in den Schriften Kants zur Moral vorkommt, nämlich, daß es dem Subjekt selbst (und a fortiori einem Dritten) unmöglich ist, mit Sicherheit zu wissen, ob es allein aus Pflicht seine Entscheidung und Handlung vorgenommen hat. 36
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losophische Ethik Kants führt, koinzidiert mit dem ›Reich Gottes auf Erden‹, zu dem seine Religionsphilosophie führt. Einziger Unterschied zwischen beiden ist, daß der letzte Begriff die Idee Gottes als ›obersten Gesetzgebers‹ (RGV B 138 = AA 6,99) hinzufügt – wobei Kant in seiner Definition der Religion nicht versäumt, darauf hinzuweisen, daß es dazu »nur der Idee von Gott […] bedarf, ohne sich anzumaßen, ihr durch theoretische Erkenntniß die objective Realität sichern zu können« (RGV B 230 Anm. = AA 6,154 Anm.).
i) Abschließende Betrachtung Im vorliegenden Aufsatz wurde ein Aspekt der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft untersucht, nämlich die Lehre von der Kirche, so wie sie im Begriff vom ›Reich Gottes auf Erden‹ gemeint ist. Kant beabsichtigt nun, die christliche Religion im Lichte der ›bloßen‹ Vernunft zu analysieren, um aus ihrer Lehre und Praxis sowie aus ihren Institutionen die Religion zu entwerfen, die sich aus dem ergibt, was die menschliche Vernunft durch ihr eigenes Vermögen von Gott und dem Menschen erkennen kann. Deshalb hielt ich es für angemessen, das Vorhaben Kants anhand des Christentums zu untersuchen, so wie dies in der Tradition der christlichen Kirche sich selbst versteht. Im Zentrum der Christentums steht nicht die Kirche, sondern Jesus Christus. Dehalb liegt in der Interpretation, die Kant von Jesus Christus im zweiten Stück des Werkes vorgelegt hat, die Grundentscheidung hinsichtlich der christlichen Religion überhaupt. Christus ist für Kant nicht der Sohn Gottes, Gott selbst, der zu unserem Heil Mensch geworden ist, sondern die ›personificirte Idee des guten Princips‹ (RGV B 73 = AA 6,60), die jedem Menschen innewohnt und ihn zu einem moralischen Wesen macht. Trotz aller Sympathie, ja Bewunderung, die Kant für Jesus hegt, kann die Religion Kants nicht mehr eine christliche Religion genannt werden. Die Kirche ist nun die Gemeinschaft, die Jesus von Nazareth gestiftet hat, um sein Heilswerk den Menschen aller künftigen Zeiten zu vermitteln. Mit dem Wegfallen der Gottheit Christi – Jesus ist für Kant ein Mensch, der das genannte Ideal des Guten »in seiner ganzen Vollkommenheit« verwirklicht hat (RGV B 73 = AA 6,60) – erhält die Kirche einen völlig anderen Sinn: Sie wird zur Gemeinschaft derer, die versuchen – egal, ob sie sich auf die exemplarische historische Figur Jesu berufen oder nicht –, das gute Prinzip, d. h. das
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Sittengesetz, in ihrem Verhalten zu leben. Ihre Religion – die wahre Religion für Kant – ist die ›Religion des guten Lebenswandels‹ (RGV B 61 f. = AA 6,51 u. ö.), wie Kant sie einprägsam umschrieben hat. Kant hat deshalb seine Ekklesiologie anhand des Begriffes eines ›ethischen Gemeinwesens‹ entwickelt. Von diesem Gemeinwesen habe ich in meiner Studie vor allem die Gesetzgebung in Betracht gezogen, die Kant eigens verlangt, um das von ihm anvisierte Gemeinwesen nicht in der Moralität des einzelnen Menschen aufgehen zu lassen, weil dann der Begriff Kirche inhaltslos bleiben würde. Zu diesem Zweck spricht er von einer öffentlichen Gesetzgebung (also von einem Gesetz über jenes ins Herz jedes Menschen geschriebene hinaus), von einem obersten Gesetzgeber, von ›ethischen‹ Pflichten, die wir als Gebote Gottes ansehen. In meinem Beitrag bin ich auf die Schwierigkeiten eingegangen, die sich gegen den Versuch ergeben, noch an einer eigenen Realität, Kirche genannt, festzuhalten, nachdem man den Weg einer Reduktion der Religion auf die natürliche Moral eingeschlagen hat. Infolgedessen kommen die drei Stücke der Religionsphilosophie Kants einer dreimaligen Darlegung desselben Themas gleich, wie der Mensch aufgrund des ihm innewohnenden Gesetzes seiner eigenen praktischen Vernunft das Böse in sich überwinden soll und kann. Die wiederholte Behandlung dieses Themas fällt nur unter dem Gesichtspunkt unterschiedlich aus, insofern es jedesmal in bezug auf eine andere der christlichen Grundlehren Sündenfall, Jesus Christus, Kirche ausgeführt wird. In der Reduktion der Religion auf Moral liegt die epochale Bedeutung der Schrift Kants von 1793. Mit epochal meine ich deren maßgeblichen Einfluß auf die ›westliche‹ Kultur bis auf den heutigen Tag, wobei dieser Einfluß gewiß zum großen Teil darauf beruht, daß der Verfasser derselbe ist, der eine Kritik der reinen Vernunft und eine Kritik der praktischen Vernunft geschrieben hat. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war nicht prinzipiell gegen die Religion eingestellt; aber infolge ihrer Verabsolutierung der menschlichen Vernunft und ihres emanzipatorischen Pathos ging sie auf Distanz zum Christentum, insofern dieses sich als eine geoffenbarte, übernatürliche und dazu noch institutionalisierte Religion präsentierte. Wenn man nun den Sinn für Freiheit, Recht und Gerechtigkeit der damaligen bürgerlichen Schichten in der Bevölkerung berücksichtigt und wie stark bei den Gebildeten das Verlangen war, von der eigenen Vernunft »in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen« – wie Kant sich in seiner Programmschrift über die Aufklärung
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ausdrückte (WA A 484 = AA 8,36) –, so wundert es nicht, daß die Vordenker der Zeit auf eine Religion drängten, die dem erzieherisch-moralischen Ideal der Aufklärung entsprechen würde. Mit einem Wort: zu einer Religion, deren Inhalt lediglich sittlich und deren Aufgabe lediglich erzieherisch, vor allem für das Volk, sein sollte. Damit galt ihnen die Kirche als eine moralische Anstalt. Daß die christliche Kirche als dafür besonders geeignet erschien, versteht sich von selbst und wird von Kant mehrmals hervorgehoben. Die Auffassung von der Kirche als einer moralischen Anstalt hat sich in unserer Kultur durchgesetzt. Denn sie weist den Vorteil auf, den die halben Wahrheiten zu haben pflegen: Sie erlaubt, den Beitrag der Kirche zur Sicherung jenes Fundaments in Anspruch nehmen, das unsere freiheitliche Gesellschaft für die Verwirklichung jener Menschenrechte braucht, die sie auf ihre Fahne geschrieben hat, aber durch ihre politischen und rechtlichen Institutionen nicht garantieren kann. Zugleich erlaubt dieselbe Auffassung der Moderne, die übernatürliche Seite der Kirche beiseite zu schieben, die sie für unzumutbar hält. Denn: Was steht hinter dieser Auffassung der Kirche als moralischer Anstalt? Dahinter steht das Projekt der Aufklärung, das weitgehend auch das Projekt unserer Kultur heute ist, das Projekt nämlich eines absolut autonomen Menschen, der ein echter, voller Mensch sein will – und dazu gehört das moralische Gesetz als das Gesetz seiner Freiheit –, aber nur ein Mensch! Ein solches Ziel war die Antriebskraft der philosophischen Bemühungen Kants um die Religion: die Überleitung der Christianitas in die Humanitas. Als der Marburger Neukantianer Paul Natorp im Jahre 1894 ein Buch mit dem Titel Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Humanität. Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik veröffentlichte, tat er etwas, was durchaus in die Richtung ging, auf die der Meister hundert Jahre zuvor hingewiesen hatte. Die Tragik eines solchen Humanismus liegt nun darin, daß in der tatsächlich existierenden Gnadenordnung, nämlich der Gnade Jesu Christi des Erlösers, »ein bloßer Mensch zu sein das ist, was der Mensch nicht sein kann«.37 Die Geschichte zeigt immer wieder, daß eine Gesellschaft, die nur menschlich sein will, schließlich weniger als menschlich wird. Die Bewahrheitung des Christentums ist nicht, wie Kant meint, das Wegfallen der Hülle 37
Lonergan: Insight. A Study of Human Understanding, 729.
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der historisch-übernatürlichen Offenbarung, wenn endlich die ewige Idee des moralischen Menschen zur vollen Anerkennung gelangt, sondern das Offenbarwerden dessen, was der Mensch nach dieser Offenbarung schon jetzt in der Verborgenheit und Vorläufigkeit der Geschichte ist: Sohn Gottes durch die Gnade Christi. Daß der moralische Auftrag wesentlich für die christliche Kirche ist, kann nicht bestritten werden. Es geht deshalb nicht darum, die Bedeutung der Kirche als moralischer Instanz herunterzuspielen – das Gegenteil ist die Not der Zeit. Es geht vielmehr darum, die Wurzeln des christlichen Menschenbildes freizulegen, das dem genannten moralischen Auftrag zugrundeliegt; diese Wurzeln reichen tiefer als die Aufklärung und die Kant’sche Religion der bloßen Vernunft wahrhaben wollten. Die Botschaft des Neuen Testaments ist ein Appell an den Menschen, frei und verantwortlich sein ewiges Heil zu bewirken. Aber was für ein Heil? Im 2. Petrusbrief (1,4) wird die christliche Berufung nicht nur negativ als Absage an die »verderbliche Begierde, die in der Welt herrscht«, gekennzeichnet, sondern zugleich positiv als Anteilnahme »an der göttlichen Natur«. Und im ersten Brief des hl. Johannes heißt es (3,1): »Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es«. Wenn dem so ist, dann ist der ›Geschichtsglaube‹, d. h. der Glaube an das, was der Gottessohn zu unserem Heil getan hat, und an die Kirche als ›Vehikel‹ zu diesem Heil kein ›Aberglaube‹, wie Kant ihn kurzerhand nennt (SF A 107 = AA 7,65). Er ist vielmehr die Bedingung für jenes echte MenschSein, das zugleich ein Kind-Gottes-Sein ist, weil die Gnade Christi als heiligmachend (sanctificans), d. h. als übernatürliche Erhöhung des Menschen, zugleich heilend (sanans) ist, Bedingung zu echtem Menschsein. Genau dies aber war und ist das, was der autonome Mensch der Aufklärung sowie der Moderne nicht akzeptieren kann. Tröltsch hat zutreffend den Grund diagnostiziert, warum Kant den Sohn Gottes zu einer exemplarischen Realisierung der ›moralischen Vollkommenheit‹ (RGV B 74 = AA 6,61) reduziert, und warum er konsequenterweise die Kirche zu einer moralischen Anstalt gemacht hat, nämlich »die Gewalt der modernen antisupranaturalistischen Problemstellung«. Tröltsch fährt fort: »Kant empfindet in dem 18. Jahrhundert ein neues Zeitalter der Religionsgeschichte, das Zeitalter der nicht statutarischen, und das heißt der nicht-supranaturalistischen Religion, das einen Bruch mit allem bisherigen bedeutet und erst in seinen Anfängen ist«.38 38
Tröltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie, 38 und 39 f.
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Giovanni B. Sala
Eine christliche Kirche ›innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ ist in der Tat eine contradictio in adiecto. Ich darf noch hinzufügen: Das Experiment der letzten Jahrhunderte liefert so etwas wie den empirischen Beweis für die Unmöglichkeit des Unternehmens Kants und der Aufklärung überhaupt. Nichts spricht dafür, daß die Ablehnung dessen, was im Christentum über die Grenzen der bloßen Vernunft hinausgeht, uns der Zielvorstellung einer ›Religion des guten Lebenswandels‹ näher gebracht hat; vieles spricht eher dagegen. Die volle Entfaltung des den Menschen konstituierenden moralische Imperativs erweist sich zusehends in der von Gott de facto gewollten Ordnung der Gnade, von der die göttliche Offenbarung spricht, ohne Christus und seine Gnade als ein Ding der Unmöglichkeit.
Kant: von der Moral zur Religion (und zurück) von Costantino Esposito
1. Vernunft und Religion: vom Konflikt zur Befriedung. Zum systematischen Stellenwert von »Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre« »[…] eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten« (RGV B XVIII f. = AA 6,10). Eine solche Behauptung könnte (erleichtert um den ein wenig inquisitorischen Ton, den Kant seiner Ermahnung verleiht) mit einiger Wahrscheinlichkeit bei einem Theologen wie Thomas von Aquin oder beim überwiegenden Teil der apologetischen Tradition der katholischen Theologie Zustimmung finden, ist doch auch diese sich gewiß, daß die christliche Offenbarung ihrer eigenen Natur gemäß vernünftig ist, d. h. den Fragen und den Erwartungen der menschlichen Vernunft entspricht, auch wenn sie als Antwort qualitativ anders oder unbegrenzt gegenüber der Frage bleibt. Kant greift diese theologische Tradition (die im übrigen von der einheimischen protestantischen Reformation tiefgreifend erschüttert worden war) paradoxerweise wieder auf, nun aber sozusagen in umgekehrtem Sinn: daß die Religion sich niemals in Konflikt zur Vernunft bringen kann, verdankt sich dem Umstand, daß die Vernunft schon immer a priori Ursprung, Inhalt und Ziel einer jeden möglichen Religion bestimmt hat. Der Name der Bestimmung lautet Moralität und die spezifische Form dieser Bestimmung der Moralität (d. h. der reinen praktischen Vernunft) in bezug auf die Religion heißt für Kant Theologie. Durch die Neudefinierung des Begriffs von Theologie eröffnet Kant den doppelten Übergang von der Erkenntnis (d. h. im wesentlichen der Naturwissenschaften) zur Moral und von der Moral zur Religion. Dabei ist der erste Übergang allerdings nicht umkehrbar (für Kant vermittelt die Moral keine Erkenntnis, sondern konfrontiert uns lediglich mit dem kategorischen Imperativ, dessen: ›du sollst!‹ sich nie in ein: ›ich weiß‹ umformen läßt); der zweite hingegen ist umkehr-
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bar, sofern ihm eine Art Reversibilität oder Zirkularität zukommt: die Moral führt unweigerlich zur Religion, die Religion aber führt wieder zurück zur Moral. Betrachten wir diese Frage ein wenig näher. 1. Am Ende der Kritik der reinen Vernunft (1781, 21787) hatte Kant bereits festgestellt (KrV B 829): »so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt«, und also habe man jegliche Theologie theoretischer Art aufzuheben, um der einzig rechtmäßigen Religion der Vernunft, die eben moralischer Art sei, Platz zu geben. 2. Nachdem Kant gezeigt hat, daß sich das moralische Interesse allein in der absoluten Autonomie der praktischen Vernunft erfüllt, die als reine unbedingte Pflicht sich selbst zum Gesetz wird, entwirft er in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) die unvermeidliche und notwendige Beziehung zwischen Moralität und Religion, besser den Weg, der ausgehend von der Moral und auf diese gegründet zur Religion führt – und führen muß (KpV A 233). 3. Die Frage wird ausdrücklich wiederaufgenommen in der Kritik der Urtheilskraft (1790), dort in der Überleitung von der physischen Teleologie zur moralischen Teleologie und in der folgenden Überleitung von der moralischen Teleologie zur Ethikotheologie, wo – kaum ist der Begriff von Gott bestimmt hervorgebracht – auch die notwendige Verbindung zur Religion bestimmt wird (KU B 477). 4. Schließlich durchläuft Kant in seinem Werk über die Religion rückwärts diesen Gründungsweg, indem er von der Religion ausgeht, die er als das Andere in bezug auf die reine Vernunft begreift. Er geht also von der Religion in ihrer geschichtlich geoffenbarten Form aus, vom Christentum, um zu zeigen, daß das notwendige Wesen dieser positiven Religion ausschließlich im reinen moralischen Imperativ besteht, den die Vernunft sich selbst gibt. Es sei weiter daran erinnert, daß Kant in der Vorrede der Religionsschrift die innere Verbindung zwischen der Religion und der reinen – besser: der bloßen – Vernunft durch die Versöhnung des Konflikts (und der entsprechenden Zensur) zwischen der philosophischen Theologie und der biblischen Theologie vorführt. Einerseits sei es stets legitim, »daß der Philosoph von der biblischen Theologie etwas entlehnt, um es zu seiner Absicht zu brauchen«; andererseits könne der biblische Theologe, um eine Niederlage zu vermeiden, sich niemals in Konflikt zum Philosophen setzen: »Sollte es aber bei dem erstern [dem biblischen Theologen] darauf angesehen sein, mit der Vernunft in Religionsdingen wo möglich gar nichts zu schaffen zu haben, so
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kann man leicht voraussehen, auf wessen Seite der Verlust sein würde« (vgl. RGV B XVII = AA 6,9 f.). Diese hermeneutische Versöhnung von biblischer und philosophischer Theologie bringt für Kant – wie fünf Jahre später in der Schrift vom Streit der Fakultäten sichtbar wird – einen präzisen Vorschlag für die akademische Laufbahn mit sich: »ob es nicht wohlgethan sein würde, nach Vollendung der akademischen Unterweisung in der biblischen Theologie jederzeit noch eine besondere Vorlesung über die reine philosophische Religionslehre (die sich alles, auch die Bibel, zu Nutze macht) nach einem Leitfaden, wie etwa dieses Buch (oder auch ein anderes, wenn man ein besseres von derselben Art haben kann), als zur vollständigen Ausrüstung des Candidaten erforderlich, zum Beschlusse hinzuzufügen« (RGV B XIX = AA 6,10; vgl. SF A 16–18 = AA 23 f.; SF A 44 – 49 = AA 36–38). Wenn wir der akademischen Tätigkeit von Kant selbst Aufmerksamkeit schenken, finden wir in den Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, die er mit hoher Wahrscheinlichkeit im akademischen Jahr 1783/84 gehalten hat (wenn auch erst 1817 postum von Pölitz publiziert),1 einen für die systematische Überleitung von biblischer Theologie zur Religion der reinen Vernunft hoch relevanten Text. Diese Vorlesung mag der Forderung nach einem Unterricht in philosophischer Theologie Genüge tun, wie Kant sie zehn Jahre später in der Religionsschrift vorlegen wird (wobei er 1793 Religion Pölitz. – Eine kritische Neuveröffentlichung des Textes, bei dem es sich laut Pölitz um das unveränderte Manuskript einer Nachschrift handelt, mit den Varianten aus zwei weiteren Nachschriften derselben Vorlesung hat Kurt Beyer (Diss., Halle 1937) herausgegeben. In der Akademie-Ausgabe sind diese Vorlesungen 1972 von Gerhard Lehmann ediert worden ( = AA 28.2,2; 989–1126). – Die Authentizität der Vorlesungen ist nachprüfbar geworden dank des Vergleichs des von Pölitz publizierten Textes nicht nur mit den schon von Beyer durchgesehenen Heften, sondern auch mit einem anderen 1981 entdeckten und in AA 29.1.2 aufgenommenen Heft. Dazu und zur Datierung und Geschichte des Textes, die auf den Nachlaß eines bekannten Schülers von Kant, Friedrich T. Rink, zurückgehen, vgl. Esposito (Hrsg.): I. Kant: Lezioni di filosofia della religione, 11–31. Volle Bestätigung findet die Zuschreibung dieser Vorlesungen zu Kant bei Kreimendahl: Kants Kolleg über Rationaltheologie. Fragmente einer bislang unbekannten Vorlesungsnachschrift. Vgl. auch Esposito: Kants philosophische Religionslehre zwischen reiner und praktischer Vernunft. Vgl. auch die Einführungen der englischen und französischen Übersetzungen dieser Vorlesungen: Lectures on Philosophical Theology, hrsg. von Wood und Clark; Lectures of the philosophical doctrine of religion, in Kant: Religion and Rational Theology, hrsg. von Wood und di Giovanni; Leçons sur la théorie philosophique de la religion, hrsg. von Fink und Nicolas. 1
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jedoch von der Heiligen Schrift ausgeht, nicht wie zuvor von der systematischen Theologie der Schulmetaphysik). Zugleich aber kann diese Vorlesung als Einführung in die Religionsschrift, als eine Art von kritisch-theologischer Propädeutik gelesen werden, um im Kreise zur biblischen Theologie zurückzukehren. Darüber hinaus sei daran erinnert, daß Kant den hermeneutischen Zirkel zwischen biblischer Theologie und theologischer Philosophie in der Religionsschrift im Bild zweier konzentrischer Kreise denkt, wobei die historische Offenbarung die weitere, die Vernunftreligion die engere Sphäre darstellt, so daß der kritische Philosoph, der Vernunftlehrer, sich einerseits an den Kern der Vernunftreligion halten kann, der im Zentrum jeder Offenbarungsreligion steht (das wäre die Aufgabe der Vorlesungen), andererseits aber – wie es in der Religionsschrift nahegelegt wird – von der weitesten historisch-geoffenbarten Sphäre, d. h. der äußeren und weniger wesentlichen Sphäre ausgehen kann, um sie zum »reinen Vernunftsystem der Religion« zurückzuführen (RGV B XXII = AA 6,12). Angesiedelt zwischen der ersten und der zweiten Kritik, im Übergang von der reinen theoretischen Vernunft zur reinen praktischen Vernunft, bezeichnen die Vorlesungen über die philosophische Religionslehre auch in chronologischer Hinsicht einen entscheidenden Moment in der Überprüfung des transzendentalen Systems Kants. Es sei daran erinnert, daß in die Jahre dieser Vorlesungen bezeichnenderweise zwei andere Schriften fallen: 1783 die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können und 1784 die Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Bedenkenswert erscheint, daß die Prolegomena die neue kritisch-transzendentale Metaphysik theoretisch als eine Wissenschaft erörtern, die an den Grenzen der Vernunft steht, und die nicht nur das, was innerhalb dieser Grenzen liegt, d. h. den Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis, das Phänomen, bestimmen kann, vielmehr auch das denken und konstituieren kann und muß, was jenseits jener Grenzen liegt, auch wenn es nicht Gegenstand der Wissenschaft, sondern Gegenstand der Moral ist und mithin immer noch der reinen Vernunft immanent bleibt. Innerhalb der einen reinen Vernunft ist das sinnliche datum oder das Phänomen Gegenstand des Verstandes, während das letzte Sein der Dinge (das Ding an sich) allein zum Gegenstand der Vernunft wird und als solcher eben intelligible Welt heißt. Die Aufklärungsschrift verficht ihrerseits das Programm eines ›Ausgangs‹ der Vernunft aus dem Stande der ›Unmündigkeit‹, selbstverschuldet, wo die
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Vernunft einen von ihr verschiedenen Faktor oder eine Autorität als Leitung annimmt, und visiert vor allem ›den Hauptpunkt der Aufklärung‹ an, will sagen die Emanzipation des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft von jeglicher Abhängigkeit oder jeglicher Beziehung zu anderem als zu sich selbst, »vorzüglich in Religionssachen« (WA A,481 und 492 = AA 8,35 und 41). Im übrigen fallen die Vorlesungen chronologisch und thematisch mit einigen Schriften zu Anthropologie und Geschichtsphilosophie zusammen und können vor allem als Schritt in Richtung auf die 1785 veröffentlichte Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gelesen werden,2 besonders da in ihnen eine immer weitergehende Formalisierung des moralischen Gesetzes erfolgt. Wenn man mehr als zehn Jahre vorausblickt, d. h. auf die 1797 publizierte, ausdrückliche Konstruktion einer Metaphysik der Sitten, erklärt sich vielleicht der Titel, unter dem die Vorlesungen 1817 herausgegeben wurden. Wenn Kant in den achtziger Jahren Vorlesungen hält, die thematisch als Natürliche Theologie und Vernunfttheologie bestimmt und benannt werden,3 könnte der von Pölitz gewählte Titel – philosophische Religionslehre – ganz rechtens (nicht nur um der Kohärenz mit dem systematischen desideratum der Religionsschrift willen), von der direkten Verbindung mit der philosophischen Rechts- und Tugendlehre her verstanden werden, die eben die beiden Teile der Metaphysik der Sitten bilden: nämlich um die Rolle der Vorlesungen hervorzuheben, damit das »System der praktischen Philosophie« sich vervollständige, wie Pölitz in der Vorrede zur zweiten Edition von 1830 ausdrücklich nahelegt.4 Vgl. IaG; MAM. Zum Übergang von den Vorlesungen zur Grundlegung der Metaphysik der Sitten siehe die schon von Waterman aufgestellte Hypothese: Kant’s Lectures on the Philosophical Theory of Religion, 301–310. 415 f. 3 Kant hat allem Anschein nach außer im Wintersemester 1783/84 auch im Sommersemester 1774, im Wintersemester 1785/86 und im Sommersemester 1787 Vorlesungen über natürliche Theologie gehalten. Vgl. Arnoldt: Möglichst vollständiges Verzeichnis aller von Kant gehaltenen oder auch nur angekündigten Kollegia (mit Zusätzen des Hrsg. Schöndörffer), 239, 269 f., 299. 4 Vgl. AA 28.2.2,1514 f. Im Fall von Kant ist es angebracht, die philosophische Religionslehre und die Religionsphilosophie noch auseinanderzuhalten, zumindest in ihrem besonderen Status als Disziplinen, da letztere erst zwischen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts zur selbständigen Disziplin wird. Dazu vgl. Feiereis: Die Umprägung der natürlichen Theologie in Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts; Jaeschke: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. – Hinsichtlich der nicht zu leugnenden 2
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2. Kant im Durchgang durch die Schulmetaphysik und jenseits der Schulmetaphysik. Die kritische Aneignung der Transzendentaltheologie In einem kritischen Horizont erscheint die Art, wie die Vorlesungen die Verbindung von Religion und Moral ansetzen, einigermaßen verschieden von dem, was wir in der Religionsschrift vorfinden. Hier betrachtet Kant die Religion hauptsächlich in historisch-anthropologischer Richtung als eine moralische Hermeneutik der christlichen Dogmatik: man denke an die berühmte Interpretation des göttlichen Wortes als personifizierte Idee des guten Prinzips, d. h. als Ideal der moralischen Vollkommenheit; oder an die Interpretation des geschichtlichen Glaubens als einfache Beförderung des wahren Glaubens – d. h. des vernünftigen Glaubens – welcher als Vehikel zu verschwinden bestimmt ist; genauso wie die sichtbare Kirche, verstanden als Leib Christi, sich in ein ethisches gemeines Wesen verwandeln muß, in eine unsichtbare Kirche, die aus reinen moralischen Herzensgesinnungen gebildet ist (RGV B 73 ff., 137 ff. 154 ff., 167 = AA 6,60 ff., 98 ff., 107 f., 115 und passim). In den Vorlesungen stellt Kant dagegen das religiöse Problem unmittelbar als theologisches. Die Frage ist von einigem Interesse für das Verständnis von Kants hermeneutischer Strategie, auch in Hinblick auf eine moralische Interpretation des Christentums. Daß dieses fortschreitend von seinem geschichtlichen Inhalt entleert wird, und darob zugleich von seinem göttlichen Ursprung, findet die natürliche Voraussetzung in genauer Interpretation der erkenntnismäßigen Öffnung und der ethischen Bestimmung der menschlichen Vernunft. Auf dem Spiel zu stehen scheint hier nicht so sehr das Verstehen oder Nicht-Verstehen der Religion und des christlichen Glaubens als vielmehr – wie Kant selbst mehrfach unterstreicht – das Verstehen oder Nicht-Verstehen, das die menschliche Vernunft ihrer eigenen Natur entgegenbringt. Rolle, die bei Kant einer Religionsphilosophie dennoch im eigentlichen Sinn zukommt, d. h. mehr der Sache nach als im Sinne einer Spezialdisziplin, vgl. Sala: Kant und die Frage nach Gott. Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants; Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie; Ricken/Marty (Hrsg.): Kant über Religion; Pirillo (Hrsg.), Kant e la filosofia della religione. In diesen Studien sind verschiedene weiterführende Analysen zur historischen Textgestalt und kritischen Interpretation sowie Beiträge zur Wirkungsgeschichte und zu Kants Einfluß auf protestantische und katholische Theologie zu finden.
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Gewöhnlich gilt Theologie für eine Untersuchung zweiten Grades, die von der vorhergehenden Manifestation ihres Gegenstandes auf natürlicher Ebene abhängt (z. B. vom datum der geschaffenen Realität, das auf einen Schöpfer verweist, oder – wie bei Descartes – von der eingeborenen Idee der Unendlichkeit, die als ein in uns gegenwärtiges datum begriffen ist und auf die Existenz des vollkommenen Seins verweist). Die Zweitrangigkeit der Theologie zeigt sich noch offensichtlicher, wenn die Forschung von einer geoffenbarten Gegebenheit ausgeht, von einem geschichtlichen, raum-zeitlichen Ereignis. Bei Kant dagegen bildet die Theologie die Grundlage, auf der die Religion gedacht werden muß. Mit anderen Worten: es ist die Theologie, die die Religion hervorruft, nicht umgekehrt. Ausgangspunkt ist hier also die Bestimmung der Theologie, besser des theologischen Charakters der rationalen Untersuchung, und noch grundlegender: die theologische Dimension der Vernunft selbst.5 Kant, der wie alle Professoren seiner Zeit verpflichtet war, Vorlesungen zu halten, worin sie systematischen Handbüchern folgend diese kommentieren, geht nicht zufällig das Problem an, indem er mit seinen Studenten zwei Texte liest, die der sogenannten Schulmetaphysik, der rationalistischen Schule Leibnizscher Herkunft angehören, nämlich die Vorbereitung zur natürlichen Theologie von Johann August Eberhard (1781) und vor allem die berühmte Metaphysica von Alexander Gottlieb Baumgarten (1739).6 Ohne die vielschichtigen Probleme auch nur zu berühren, die durch die kritische Lektüre dieser beiden rationalistischen (oder wie Kant selbst sagt) Eine Rekonstruktion der Frage bietet Winter: Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants. 6 Verschiedene Textpassagen der Vorlesungen entsprechen ausdrücklich einigen Randbemerkungen Kants in seinen Exemplaren der Kompendien und stellen mithin über eine Bezugsquelle erster Hand hinaus auch eine wertvolle kritische Beglaubigung für die Authentizität der Vorlesungen dar. Adickes hat die Erläuterungen Kants zum Lehrbuch von Eberhard (AA 18) und dem von Baumgarten (AA 17) zusammengestellt und mit Kants Reflexionen über Themen der Metaphysik verbunden (unter denen sich auch genaue Übereinstimmungen mit der Vorlesung von 1783/84 finden) und in den Zeitraum zwischen 1780 und 1788 datiert. Vgl. Kopper: Kants Stellungsnahme zum ontologischen Gottesbeweise in seinen Randbemerkungen zu Eberhards »Vorbereitung zur natürlichen Theologie«. Für den untersuchten Zusammenhang bleiben folgende Studien wichtig: Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung; Hinske: Die historischen Vorlagen der Kantischen Transzendentalphilosophie; Wood: Kant’s Rational Theologie. Wood spricht in diesem Zusammenhang von einer substantiellen Sympathie Kants für die metaphysisch-scholastische Tradition, wenn auch in kritischer Perspektive; vgl. 147–149.151. 5
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›dogmatischen‹ Handbücher von Kant aufgeworfen worden sind, beschränke ich mich darauf, die Definitionen zu zitieren, die diese beiden Autoren von der natürlichen Theologie geben. Für Eberhard ist die Vorbereitung zur natürlichen Theologie »die Wissenschaft der Regeln zur Bildung der vollkommensten Erkenntniss Gottes in dem menschlichen Verstande und ihrer Mittheilung«, der ein theoretischer Teil entspricht, »worin die Entstehung der Erkenntniss Gottes und die Regeln ihrer Vollkommenheit werden vorgetragen werden«, und ein praktischer, »der die Regeln der Mittheilung dieser Erkenntniss enthalten wird«.7 Hier dreht sich alles um eine Idee von Vollkommenheit, die nicht nur ein charakterisierendes Attribut des Gottesbegriffs selbst ist, sondern auch die höchste begriffliche Konstruktion des menschlichen Verstandes auszeichnet. In seiner Vorlesung über natürliche Theologie benutzt Kant das Kompendium Eberhards vor allem in bezug auf die Ontotheologie, d. h. hinsichtlich des Beweises a priori, der aus der »inneren Realität« (verstanden als »logische Möglichkeit«) die »äussere oder obiective Realität« bezieht.8 In diesem Sinne Eberhard: Vorbereitung zur natürlichen Theologie zum Gebrauch akademischer Vorlesungen (Halle 1781; AA 18; 491–606; hier 513 f.), mit den diesbezüglichen Reflexionen und Anmerkungen Kants. Bereits im Vorbericht bekräftigt Eberhard, daß die von ihm angebotene akademische Vorbereitung in erster Linie erreicht werden soll »durch die Abhandlung von den Irrthümern in der natürlichen Theologie […], die man nicht anders als durch eine wissenschaftliche Erlernung derselben vermeiden kann«; und in zweiter Linie »durch die Anweisung, wie die zur Erkenntnis Gottes gehörigen Begriffe […] rein dargestellt werden« (AA 18,491). 8 Eberhard: Vorbereitung zur natürlichen Theologie; AA 18,524. Hinsichtlich der erforderlichen Requisiten für eine korrekte Gotteserkenntnis schreibt Eberhard (ebd.): »Da wir uns unter dem Höchsten Wesen das Vollkommenste vorstellen: so müssen wir 1. wohl untersuchen, welche Arten von Merkmalen diesem vollkommensten Wesen zukommen, damit wir sicher sind, dass wir keine Merkmale in dem Begriff desselben bringen, die der höchsten Vollkommenheit widersprechen; 2. zeigen, dass ein Wesen, dessen Begriff aus solchen Merkmalen zusammengesetzt ist, eine innere Realität, 3. dass es eine äussere Realität habe«. Und dann präzisiert Eberhard (ebd.): »Die innere Realität eines Begriffes ist nichts anders als seine Möglichkeit: so wie wir unter der äusseren seine Wirklichkeit verstehen. Um diese letztere zu beweisen, wird erfordert, 1. dass bewiesen werde, die Wirklichkeit sei in dem Begriffe des vollkommensten Wesens enthalten, oder es müsse vermöge seines Wesens wirklich sein, 2. dieses vollkommenste Wesen, das wir uns, vermöge seines Begriffes, als wirklich vorstellen müssen, habe auch eine äussere oder objective Wirklichkeit, oder der Begriff desselben habe einen wirklichen Gegenstand ausser unserm Verstande«. Die »innere Wahrheit des Begriffes von Gott«, und seine »äussere Wahrheit« – durch Beweise a priori und a posteriori 7
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liefert Eberhard Kant sozusagen als Arbeitsmaterial den Begriff der ›metaphysischen Unendlichkeit‹, die dem göttlichen Wesen eignet, verstanden als Inbegriff aller Vollkommenheiten (omnitudo realitatis), die als Prädikate dem ens realissimum innewohnen. Aber genau besehen ist die Problemstellung, bei der Kant sich hier aufhält (sicherlich über die von Eberhard gelieferte ›dogmatische‹ Lösung hinaus), der Entwurf von Gott als ein ›Ding überhaupt‹ (Religion Pölitz; AA 28,2.2,1020). Die dingliche Konstitution des Begriffs von Gott als ens realissimum versteht Kant als spekulative Hypothese, aus der sich die Wirklichkeit nicht ableiten läßt; und dennoch besitzt diese eine spezifische Realität, die in theoretischem Sinn gedacht (wie Kant in der ersten Kritik bezüglich des transzendentalen Ideals behauptet, welches als Substrat fungiert, das in unserer Vernunft zur vollständigen Bestimmung der Realität gesetzt ist) und vor allem in moralischem Sinn gefordert werden muß, wie es von den Vorlesungen über die philosophische Religionslehre an ausdrücklich gesagt wird. Kant hatte schon in der ersten Kritik die Möglichkeit, das Sein als Prädikat zu bestimmen ganz und gar abgelehnt (da ja gilt: Sein – oder Dasein – ist bloß die Position eines Dinges, bestimmbar nur durch die Formen der transzendentalen Vorstellungen des Ich denke: Raum, Zeit, die Kategorien). Folglich war er zu dem Schluß gekommen, daß Gott völlig unbestimmbar bleibt, eben als ein Ding, das sich nicht gibt, sich nicht sinnlich setzt.9 artikuliert – bilden die zwei grundlegenden Abteilungen des ersten (theoretischen) Teils dieser Vorbereitung, wozu eine dritte Sektion tritt, die den »Irrthümern […], die aus den Mängeln der Religionserkenntniss entstehen« (d. h. Atheismus, Polytheismus und Aberglauben), und eine weitere, die der natürlichen Geschichte der Religion gewidmet ist (AA 18,528 f.). 9 Vgl. KrV B 626 f.; Religion Pölitz; AA, 28.2.2,1027 f. – In Bezug auf die Dinglichkeit eines Dinges und seinen sachlichen Inhalt (oder Sachheit), stellt Kant das Problem in den Vorlesungen folgendermaßen (Religion Pölitz; AA 28,2.2,1013): »Hier [in der Ontotheologie] betrachten wir Gott als das höchste Wesen, wenigstens legen wir zuerst diesen Begriff hier zum Grunde. Wie werde ich mir nun ein höchstes Wesen bloß als Ding durch die reine Vernunft denken können?« Man ziehe aber auch die Kritik der reinen Vernunft hinzu, da wo Kant die Bildung des transzendentalen Ideals als ein »All der Realität (omnitudo realitatis)« entwickelt, das als »transscendentales Substratum« in unserer Vernunft zum Grunde gelegt, zur durchgängigen Bestimmung der Realität dient: »Eine transscendentale Verneinung bedeutet […] das Nichtsein an sich selbst, dem die transscendentale Bejahung entgegengesetzt wird, welche ein Etwas ist, dessen Begriff an sich selbst schon ein Sein ausdrückt und daher Realität (Sachheit) genannt wird, weil durch sie allein, und so weit sie reicht, Gegenstände Etwas (Dinge) sind, die
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Doch bietet Kant in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft einen andersartigen Gebrauch der spekulativen Theologie an: darin übernimmt die Existenz Gottes die neue Funktion einer notwendigen vernünftigen Hypothese. Der so verstandene Gottesbegriff bezieht sich als transzendentales Ideal nicht auf einen in der Erfahrung gegebenen Gegenstand, sondern – in einem regulativen Sinn – allein auf den Verstandesgebrauch im allgemeinen. In ihm vermählt sich das Negative am Gottesbegriff (das Unerkennbare und Unerfahrbare) mit einem rein idealen, nie objektiv realen Sinn: der Vereinheitlichung aller Verstandesregeln. Dennoch bleibt das Resultat auch für die Theologie wichtig. Dennoch bemerkt Kant abschließend (KrV B 668): »wenn einmal, in anderweitiger, vielleicht praktischer Beziehung, die Voraussetzung eines höchsten und allgenugsamen Wesens, als oberster Intelligenz, ihre Gültigkeit ohne Widerrede behauptete: so wäre es von der größten Wichtigkeit, diesen Begriff auf seiner transscendentalen [theoretischen] Seite, als den Begriff eines nothwendigen allerrealsten Wesen, genau zu bestimmen«. Dies geschehe, um den Gottesbegriff ebenso den unberechtigten Einwänden der Atheisten (die sich der Illusion hingeben, beweisen zu können, daß Gott nicht existiert) wie der Deisten (die Gott als Ursache der Welt akzeptieren, aber nicht als denkendes und freies, d. h. moralisches entgegenstehende Negation hingegen einen bloßen Mangel bedeutet und, wo diese allein gedacht wird, die Aufhebung alles Dinges vorgestellt wird« (B 602 f.). – Aber dazu vgl. BDG (A 10 f. = AA 2,74): »Sage ich: Gott ist ein existirend Ding, so scheint es, als wenn ich die Beziehung eines Prädicats zum Subjecte ausdrückte. Allein es liegt auch eine Unrichtigkeit in diesem Ausdruck. Genau gesagt, sollte es heißen: Etwas Existirendes ist Gott, das ist, einem existirenden Dinge kommen diejenigen Prädicate zu, die wir zusammen genommen durch den Ausdruck: Gott, bezeichnen. Diese Prädicate sind beziehungsweise auf dieses Subject gesetzt, allein das Ding selber sammt allen Prädicaten ist schlechthin gesetzt«. Und wie wird es gesetzt? Dem einzigen Argument von 1763 zufolge (BDG A 29 = AA 2,83): »Alle Möglichkeit setzt etwas Wirkliches voraus, worin und wodurch alles Denkliche gegeben ist. Demnach ist eine gewisse Wirklichkeit, deren Aufhebung selbst alle innere Möglichkeit überhaupt aufheben würde. Dasjenige aber, dessen Aufhebung oder Verneinung alle Möglichkeit vertilgt, ist schlechterdings nothwendig«. Letzteres ist ein Beweis, den Kant nach der kritischen Wendung nicht verwirft, sondern nicht mehr für »apodiktisch gewiß« hält, weil diese nicht die »objektive Nothwendigkeit« des ens originarium zeigt, »sondern nur die subjective Nothwendigkeit, es anzunehmen«, eben als »Substratum der Möglichkeit aller Dinge« (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1034). – Dazu vgl. Theis: Gott. Untersuchung zur Entwicklung des theologischen Diskurses in Kants Schriften zur theoretischen Philosophie bis hin zum Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft, bes. 153 ff.
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Wesen) zu entheben; gleichzeitig soll er von der jeder statutarischen Religion innewohnenden anthropomorphen Versuchung gereinigt werden zugunsten einer neuen Form von Theismus: eines theismus moralis. Nun nimmt Kant in den Vorlesungen von 1783/84, genauer gesagt in dem der Transzendentaltheologie gewidmeten Teil, diesen ›kleinsten‹ Begriff von Gott als eines Wesens auf, das sich wohl denken läßt (Religion Pölitz; AA 28.2.2,998), nicht jedoch als existierend (und auch nicht als nicht-existierend), vielmehr einfach als in logischem Sinne nicht widersprüchlich, und stellt diesen Begriff unmittelbar in den Dienst der Moraltheologie. Es ist hier von Interesse, die besondere Bedeutung festzuhalten, die Kant der Frage des Theismus beimißt. Sie umfaßt vor allem die Polemik gegen den dogmatischen und den skeptischen Atheisten (vgl. Religion Pölitz; AA 28.2.2, 1023–1027). Ersterer verneint die Möglichkeit eines Gottes absolut, erweist sich aber, wenn ihm ein zwingender Nachweis der Negation abverlangt wird, unfähig, ihn zu erbringen, und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem auch sein Gegner, der das Dasein Gottes analytisch beweisen wollte, nicht vermag, diesen Nachweis zu erbringen. Der Dogmatismus des Atheisten erweist sich so als genaue Umkehrung des Dogmatismus des Theisten (wenn man unter einem Theisten den Vernunfttheologen versteht, der Gott als eigenen Gegenstand annimmt). Dessen Widerlegung verlangt nicht den vorherigen Beweis der Existenz Gottes, sondern den Nachweis unseres Unvermögens, Existenz wie Nicht-Existenz Gottes zu beweisen. Obwohl der skeptische Atheismus, der in Kants Augen ein größeres Recht als der dogmatische besitzt (vielleicht ist da ein indirekter Bezug zu Hume zu erkennen), stellt Kant ihn weniger als Gegenposition, sondern als unvollständiges kritisches Moment dar, das seinen äußersten Konsequenzen erst zuzuführen wäre. Das skeptische Moment, assimiliert und transformiert in der kritischen Struktur der Vernunft, muß dem konstruktiven Moment Platz machen, d. h. der Anerkennung eines vom theoretischen verschiedenen Motivs, das dennoch von der Vernunft erzeugt ist und dem Theismus, und zwar dem moralischen Theismus, stattgibt.10 Dabei sei unterstrichen, daß für Kant der Theismus nur insoweit aus dem Atheismus hinausführt, wie er sich als Ausweg aus dem Deismus darstellt. Der Deist ist derjenige, der einen Gott nur als ›Weltursache‹ anerkennt, oder Diesbezüglich ist von einem recht eigentlichen apologetischen Moment in der transzendentalen Theologie Kants gesprochen worden: vgl. Lamacchia: La filosofia della religione in Kant. I: Dal dogmatismo teologico al teismo morale (1755–1783), 589 ff. 10
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äußerstenfalls als blinde und ursprüngliche Natur, die an der Wurzel der Dinge wirkt, aber ohne Freiheit – und damit, ohne der ›Welturheber‹ zu sein (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1001 f., 1047–1050). Gegen Deismus wie Atheismus setzt Kant auf die Unmöglichkeit eines spekulativen Gottesbeweises und versichert sich dabei für eine kurze Wegstrecke der von Hume vorgetragenen anti-deistischen Kritik. Es ist dies keine unbedeutende Geleitschaft, nicht nur eine Quelle für Kant, eher ein Übergangsmoment zu seiner andersartigen Lösung, die er für das gleiche Problem findet. Humes skeptische Position11 zu einer intelligenten Ursache, die Ordnung und Zielrichtung in der Natur hervorgebracht habe, teilt Kant als Diskurs über die Grenzen der Vernunft, ist aber nicht auf jedwede natürliche Theologie auszudehnen, da die menschliche Vernunft über einen anderen Schlüssel zur Eröffnung der theologischen Dimension der Natur verfügt – den moralischen Schlüssel. Kant zufolge ist das religiöse Problem, und selbst das Problem Gottes, innerhalb der Humeschen Philosophie nicht lösbar, weil die moralische Begründung fehlt, sofern die Moralität bei Hume ihre Herkunft aus bestimmten Gefühlen bezieht.12 Wenn der Skeptizismus – mit Grund – dem Deismus entgegensteht, so vereint beide in Kants Augen doch, daß sie die radikalere Art von Notwendigkeit nicht anerkennen, die praktische Notwendigkeit nämlich, die nicht auf ein theoretisches Demonstrationsverfahren reduzierbar ist, aber mit der Tatsache der Vernunft selbst übereinstimmt. Kommen wir auf den kleinsten Begriff von Gott zurück, wie er von der Transzendentaltheologie im Hinblick auf die Moraltheologie erbracht wird. Lehrreich läßt sich diese Reduktion den ganzen Kommentar hindurch verfolgen, den Kant seinen Studenten zu den aus der Metaphysica Baumgartens ausgewählten Paragraphen der Theologia naturalis bietet; dabei ist Baumgarten sicherlich der höher einzuschätzende Autor gegenüber Eberhard, und seine onto-theologischen Zuschreibungen bilden eine Art von Richtschnur, der entlang Kant von Mal zu Mal den Übergang von der dogmatischen zur kritisch-transzendendentalen Intentionalität vollzieht. Baumgarten zufolge ist die natürliche Theologie die Wissenschaft von Gott in dem Maße, wie er ohne Glaube erkannt werden kann (»Theologia naturalis est scientia de deo, Vgl. Hume: Dialogues Concerning Natural Religion (1779), vol. 2, 394 f., 408 f., 420 f. Vgl. hierzu Religion Pölitz; AA 28.2.2,1062–1064, aber auch in Prol A 173 f. = AA 4,356. 12 Vgl. Religion Pölitz; AA 28.2.2,1072 f. – Hierzu siehe Hume: A Treatise of Human Nature, Book III, 233 ff. 11
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quatenus sine fide cognosci potest«).13 Diese Definition von Theologie birgt einen Ausschluß strukturellen Charakters, oder besser: sie stimmt mit dieser Ausgrenzung überein, kraft deren die vernünftige Möglichkeit eines Redens über Gott allererst eingesetzt wird. In dem Raum, der durch den Ausschluß des Glaubens aus der Wissenschaft von Gott gesichert ist, enthält die natürliche Theologie »die ersten Anfänge der praktischen Philosophie, der Theologie und der Offenbarungstheologie«.14 Auch für Kant soll die Theologie vom Glauben unabhängig sein, aber nicht, weil sie die rationale Erkenntnis von Gott beträfe, sondern weil sie die Anwendung des Gottesbegriffs auf die Moralität betrifft. Ich weiß nicht und werde nie wissen können, wer Gott ist, nicht einmal, ob Gott existiert; aber die Vernunft postuliert sein Dasein, und ich soll aus moralischen Gründen an ihn glauben. Der Ursprung des Glaubens ist nicht ein natürliches oder geoffenbartes datum, sondern ein reines, postuliertes Erfordernis der praktischen Vernunft.15 Was Kant das Interesse der spekulativen Vernunft nennt, wäre mithin recht begrenzt, wenn es nicht auf das praktische Interesse bezogen würde. Und dies spiegelt sich in der Art, wie Kant die transzendentalen Prädikate des ens originarium liest, von denen Baumgarten spricht. Diesem zufolge16 wäre die Methode, die Attribute Gottes zu bestimmen, eine dreifache: via negationis (alles Unvollkommene und Negative an meinen Vorstellungen ausstreichen Baumgarten: Metaphysica (AA 17,5–226); hier § 800 (AA 17,157). Baumgarten: Metaphysica (AA 17,157: »Theologia naturalis prima philosophiae practicae, teleologiae et theologiae revelatae principia continet. Ergo refertur cum ratione ad metaphysicam«.– Es sei an den berühmten Anfang der Paragraphen 1 und 2 erinnert: »Metaphysica est scientia primorum in humana cognitione principiorum«; auf sie »referuntur ontologia, cosmologia, psychologia, et theologia naturalis« (AA 17,23). Ontologie wird von Baumgarten definiert als Wissenschaft von den allgemeinen Prädikaten des Seienden (»scientia praedicatorum entis generaliorum«; AA 17,24), Kosmologie als Wissenschaft von den allgemeinen Prädikaten der Welt (»scientia praedicatorum mundi generalium«; AA 17,103), Psychologie als Wissenschaft von den allgemeinen Prädikaten der Seele (»scientia praedicatorum animae generalium«; AA 17,130). 15 Es sei daran erinnert, was Kant 1786 sagt (WDO A 320 f. = AA 8,142): »Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Compaß, wodurch der speculative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientiren […] kann. Der Begriff von Gott und selbst die Überzeugung von seinem Dasein kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden, von ihr allein ausgehen und weder durch Eingebung, noch durch eine ertheilte Nachricht von noch so großer Autorität zuerst in uns kommen«. Vgl. aber auch VTP (zehn Jahre später). 16 Vgl. Baumgarten: Metaphysica; AA 17,161. 13 14
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und Gott das Reale zuschreiben, das übrigbleibt); via eminentiae (Gott die Realität höchsten Grades zuschreiben); endlich via analogiae, was Kant den »herrliche[n] Weg der Analogie« nennt.17 Hier finden wir eine der bedeutendsten Abweichungen von Baumgarten, für den das notwendig Seiende (Gott) analog dem kontingenten Seienden ist, insofern es partialiter simile, partialiter diverso (teils ähnlich, teils verschieden von ihm) ist. Für Kant hingegen bleibt dieses Kriterium ungewiß, da wir niemals wissen können, ob Gott eine Eigenschaft habe, die der von kontingentem Seienden vollkommen ähnlich wäre. Besser wäre es, die Analogie in mathematischem Sinne als »die vollkommene Ähnlichkeit der Verhältnisse« aufzufassen, wobei die Vollkommenheit von einer Komponente des Verhältnisses (Gott) auf die Struktur des Verhältnisses selbst verschoben wird (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1023): »So wie die Glückseligkeit eines Menschen (die Aufhebung des Elendes) sich verhält zu der Güte eines andern Menschen; so verhält sich die Glückseligkeit aller Menschen zu der Güte Gottes«. Der Analogieschluß bildet nicht eine bloße Annäherung an die in Frage stehende Sache (den Gottesbegriff als Ursache), stellt sich vielmehr vollends befriedigend dar, so daß »wir weiter nichts bedürfen« (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1023). In dieser Kant’schen Position läßt sich der Übergang von der Onto-theologie zur Moraltheologie beobachten, versteht man unter Ontotheologie nicht nur in striktem Sinn die Theologie, die von dem Argument für das Dasein Gottes handelt, das Kant als erster als ontologischen Beweis bezeichnet hat, um ihn vom kosmologischen und vom physikotheologischen Beweis zu unterscheiden (auch wenn für ihn der erstere stillschweigend in den anderen beiden vorausgesetzt ist); begreift man vielmehr grundlegender Ontotheologie als Betrachtung der rationalen Theologie, wie sie die metaphysische Erfüllung der modernen Ontologie darstellt.18 Religion Pölitz; AA 28.2.2,1023. Vgl. Marty: La naissance de la métaphysique chez Kant. Une étude sur la notion kantienne d’analogie; Melchiorre: Analogia e analisi trascendentale, bes. 63 ff. 18 Die Ontotheologie »betrachtet Gott bloß aus Begriffen (und das ist eben theologia transscendentalis, als Princip aller Möglichkeit)« (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1003). Das Prinzip aller Möglichkeit, nicht das »complementum possibilitatis« oder das »complementum essentiae sive possibilitatis internae«, wovon Wolff: Philosophia prima sive ontologia, § 174) bzw. Baumgarten (Metaphysica; AA 17,38) sprachen. – Siehe dazu außer der klassischen Untersuchung von Henrich: Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit; Röd: Der Gott der reinen Vernunft. Die Auseinandersetzung um den ontologischen Gottesbeweis von Anselm bis Hegel; Scribano: L’esistenza di Dio. Storia della prova ontologica da Descartes a Kant, Kap. II,III,VI. 17
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Die Theologie hat nun nicht mehr theoretisch-demonstrativen Charakter, sondern hypothetisch-propädeutischen: hypothetisch im Sinne einer rein idealen Intelligibilität, wobei ›ideal‹ das rein Subjektive meint, wovon man nie eine Erfahrung haben kann, das aber zu gleicher Zeit eine ursprünglich objektive, der reinen Vernunft immanente Realität konstituiert; propädeutisch in bezug auf die Selbstbegründung der moralischen Theologie, welche allein die ideale Möglichkeit der Ontotheologie begründen und gleichzeitig zur Erfüllung bringen kann. Damit erreicht die große Tradition bei Kant ihre letzte Beglaubigung, die wir zumindest bis zu den Disputationes Metaphysicae des Francisco Suárez (1597) zurückverfolgen können, derzufolge Metaphysik und Theologie sich in systematisch notwendiger Weise verbinden, durch Vermittlung der Ontologie, der Wissenschaft vom conceptus entis ut sic. Das Seiende, verstanden als kleinste noetische Realität, als essentia realis rein denkbar, als nichtwidersprüchlich, ist jener neutrale Begriff, der den Schöpfer wie die Schöpfung, das Unendliche wie das Endliche, das Notwendige wie das Kontingente in sich begreift.19 Am interessantesten aber ist, daß Kant, wenn er den ontotheoVgl. Suárez: Disputationes metaphysicae (1597) Vgl. auch Suárez: Disputazioni metafisiche I–III. Es handelt sich um das Werk, in dem in einem Sinne, der für die moderne Philosophie klassisch wird, das – zugleich sachliche und epistemologische – Verhältnis von Metaphysik und Theologie gleichsam kanonisiert wird. Vor allem unterscheidet Suárez innerhalb der Metaphysik selbst ein angemessenes Objekt, welches das ens ut sic (Disp. I.1.26) ist, und ein prinzipielles Objekt (Disp. I.1.19) welches Gott ist. Einerseits hat also der Begriff von Seiendem – in seinem doppelten, formalen und objektiven Sinn – einen ausschließlich noetischen Ursprung; andererseits begreift dieses als Seiendes auch das höchste Seiende ein, und führt mithin Gott – der doch der Grund des Gegenstands der Metaphysik ist – auf ein subiectum der als natürliche Theologie verstandenen Metaphysik zurück. Die Betrachtung des Seienden als Seiendes ihrerseits (was wenig später offiziell ›Ontologie‹ genannt werden wird) muß die begrifflichen Elemente beibringen, damit die Offenbarungstheologie selbst gedacht werden kann (vgl. das Prooemium der Disputationes). Genau in dieser Suárezschen Konstellation von ontologischer Metaphysik, theologischer Metaphysik und positiver Theologie tauchen dann die Lösungen des nach-cartesianischen Rationalismus auf: man denke nur an Baumgarten, um bei dem Autoren zu bleiben, den Kant in den hier untersuchten Vorlesungen am meisten benutzt, und an seine Auffassung der Ontologie als metaphysica universalis, gegenüber der Theologie, die er (gleichwie Kosmologie und Psychologie) als Wissenschaft von den ontologischen Attributen eines besonderen Seienden versteht (vgl. Baumgarten, Metaphysica; AA 17,157). Hier sehen wir, wie die transzendentale Ontologie im reinen Begriff das mögliche Wesen einer Sache denkt, und wie das ursprüngliche sich Geben des 19
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logischen Anspruch der scholastischen Metaphysik dekonstruiert, (den er im übrigen in der extremen Rationalisierung eines Wolff kennt), ihn paradoxerweise verdoppelt, indem er die noetische Immanenz des Gottesbegriffs nicht mehr als sein, sondern als sein müssen annimmt. Metaphysik und Theologie kreuzen sich nicht mehr mittels Ontologie, sondern vermittels der Ethik.
3. Von der spekulativen Theologie zur Moraltheologie. Die notwendige Religion als Postulat der Moral Damit sind wir beim Grund der Frage, bei der eigentümlichen Verfassung der Theologie angelangt. Dieses in den kritischen Beschäftigungen Kants scheinbar zweitrangige Thema trägt genau besehen eine – vielleicht verborgene – außerordentliche Bedeutung, wenn es darum geht, zu verstehen, daß die Kantische Religion in der Überkreuzung von spekulativer Möglichkeit und moralischer Notwendigkeit angelegt ist. Zu Beginn der Vorlesungen fragt sich Kant: »Was ist Theologie?« und antwortet: »Das System unserer Erkenntniß vom Höchsten Wesen«. Wenn aber ein »System ist, wo die Idee des Ganzen durchgängig herrscht«, dann gilt es zu präzisieren, daß »das System der Erkenntniß von Gott […] nicht den Inbegriff aller möglichen Erkenntnisse von Gott, sondern dessen, was bei Gott von der menschlichen Vernunft angetroffen wird«, bedeutet (Religion Pölitz; AA 28.2.2,995). Wenn uns ersteres unmöglich ist, bis wohin können wir dann bei letzterem gelangen? Kants kritische Lösung besteht darin, das erkenntnistheoretische Vermögen nicht mehr auf den Gegenstand der Theologie zu beziehen, der uns nicht gegeben ist, sondern auf ihre eigene innere Erkenntnisform. Die Frage lautet mithin: »inwiefern hat unsere Erkenntnis von Gott, oder die Theologie unserer Vernunft, einige Würde? […] ob wir eine Erkenntnis von dem Gegenstande haben, welche der Würde desselben angemessen ist?« Die Antwort ist allein möglich im Übergang – in einer Art von genetischer Veränderung – von der theoretischen zur praktischen Ebene: »In der Moral sehen
Seienden darin besteht, eine Sache im Denken zu sein.– Über die Linie, die von Suárez zu Kant führt, vgl. die grundlegende Studie von Gilson: L’être et l’essence (V und VI); dazu die wichtigen Aufsätze von Courtine: Suarez et le système de la métaphysique, und Honnefelder: Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (II und III).
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wir, daß nicht bloß der Gegenstand Würde hat, sondern auch die Erkenntnis Würde enthält«. Unsere Theologie kann sich daher nicht zugute halten, den höchsten Wert zu objektivieren, da sie gegenüber diesem »nur ein Schatten« bleibt (Religion Pölitz; AA 28.2.2,997). In diesem Schatten steht dann aber: »es ist lediglich die Frage: hat unsere Erkenntnis auch immer Würde?« Kants Antwort ist klar: »Ja! In sofern sie Beziehung auf Religion hat; denn Religion ist nichts anders, als Anwendung der Theologie auf Moralität, d. i. auf Gute Gesinnungen und ein, dem höchsten Wesen wohlgefälliges, Verhalten« (ebd.). In dem Maße, in dem diese Religion die Stütze und die Festigkeit jedweden moralischen Prinzips bildet, besitzt die Theologie einen ihr inneren Wert »in wiefern sie die Hypothesis aller Religion ist, und allen unsern Begriffen von Tugend und Rechtschaffenheit Gewicht gibt« (Religion Pölitz; AA 28.2.2,997 f.). So ist die natürliche Religion, Substrat und Maßstab jeder anderen Religion – einschließlich der geoffenbarten. Die Idee von Gott bildet eine Art Kurve in der Flugbahn der Vernunft, welche ihre theologische Intentionalität im reinen Aufgreifen der moralischen Pflicht realisiert, dem einzig ›absoluten‹, das ihr ganz gegeben ist, besser: das die Vernunft sich selbst gibt. Somit wäre es die Religion, die das Maß und das Statut der Theologie bestimmt; sodann aber läge es im Zirkelschluß bei der Theologie, die in ihrer moralischen Notwendigkeit angezeigt ist, uns notwendig auf die Religion zu führen. 1. Im Hinblick auf das einzig mögliche Maß der Theologie lautet Kants Frage: »welches ist das Minimum der Theologie, insofern sie erforderlich zur Religion ist; welches ist die kleinste nützliche Erkenntnis von Gott, die uns bewegen kann, einen Gott zu glauben, und darnach unsern Lebenswandel einzurichten? Welches ist der kleinste engste Begriff von Theologie? Daß man einer Religion bedarf, und daß der Begriff zureichend ist zur natürlichen Religion. Dieses ist aber, wenn ich einsehe, daß mein Begriff von Gott möglich ist, und daß er den Verstandesgesetzen nicht wiederstreitet« (Religion Pölitz; AA 28.2.2,998). Wir stehen hier vor einer wahren reductio ad minimum theologicum. 2. Aber die »Möglichkeit des Begriffes von Gott«, ihre spekulative Anerkennung – zugegeben vom Deisten, abgewiesen vom Atheisten – erfordert ihrerseits eine notwendige und unstreitige Grundlage, daran niemand zweifeln kann, insofern sie sich auf Moralität stützt (Religion Pölitz; AA 28.2.2,998): »denn diese hat sonst keine Triebfedern: Hierzu ist also die bloße Möglichkeit
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eines solchen Wesens [d. h. die als moralische Triebfeder gegründete spekulative Möglichkeit] hinreichend, daß Religion im Menschen hervorgebracht werde; aber es ist nicht das Maximum der Theologie«. Die Religion ist etwas, das man erreicht, worin das, was nur möglich ist (in theoretischem Sinn), notwendige Realität durch den moralischen Imperativ der reinen praktischen Vernunft empfängt. Der Begriff der Triebfeder bringt die treibende Kraft zum Ausdruck, die subjektiv die Bewegung des rationalen Willens anschiebt, also das Motiv liefert, das den Willen subjektiv bestimmt. Er wird von Kant in den Vorlesungen aufgeboten, um »den Widerspruch zwischen dem Laufe der Natur und der Moralität« aufzulösen (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1072). Es handelt sich um das, was in der zweiten Kritik die Antinomie der praktischen Vernunft heißt (KpV A 204): »Es muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein«. Nur: »Das erste ist schlechterdings unmöglich«, weil man nicht aus dem Bedürfnis nach Glückseligkeit ein moralischer Mensch sein kann, sonst wäre die Moral nicht mehr autonom, sondern heteronom (KpV A 205, 206): »Das zweite ist aber auch unmöglich […] in der Welt«, jedoch »nicht schlechterdings« falsch wie das erste, sondern nur in bezug auf die Kausalität der sinnlichen Welt. Dabei bliebe es, wenn nicht die Existenz eines Wesens postuliert würde, »welches selbst nach der Vernunft und moralischen Gesetzen die Welt regieret«, und das im zukünftigen Weltlauf eine Teilhabe an der Glückseligkeit seitens der Geschöpfe festgesetzet hätte, die sich dieser würdig erwiesen hätten, »denn sonst verlieren alle subjektiv nothwendigen Pflichten […] ihre objektive Realität«.20 Gott ist so schon laut dem Text der Vorlesungen ein notwendiges Postulat im Hinblick auf die objektive Realität des moralischen Gesetzes. Was aber soll objektive Realität hier heißen, und in welchem Sinne ist sie der subjektiven Pflicht entgegengesetzt? Gewiß kann sie nicht die natürliche Wirkung der Tugend, d. h. tout court die Glückseligkeit, bedeuten, vielmehr Religion Pölitz; AA 28.2.2,1072. – »Denn so, wie eine Voraussetzung aus subjektiven Gründen eine bloße Hypothese ist; so ist hingegen eine Voraussetzung aus objektiven Gründen ein nothwendiges Postulat. Diese objektiven Gründe sind nun entweder theoretisch, wie in der Mathematik, oder praktisch, wie in der Moral« (ebd. 1083). Und eben in diesen Vorlesungen bezeichnet Kant zum ersten Mal die Existenz Gottes als »ein nothwendiges Postulat für unumstößliche Gesetze meiner eigenen Natur«, die eben eine moralische Natur ist (ebd. 1072). 20
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das »der Glückseligkeit würdig« werden (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1072 f.). Mit anderen Worten: objektive Realität und subjektive Pflicht sind beide a priori. Wenn mir also die Pflichten von der Vernunft unstreitig zugeteilt sind, so ginge mir laut Kant – für den Fall, daß Gott fehlte – die moralische Triebfeder ab, dieweil ich im gegenteiligen Fall »entweder ein Phantast [sofern die Moral zu einer unrealisierbaren Schimäre wird] oder ein Bösewicht« sein müßte (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1072). Das aber erklärt sich seinerseits aus dem Umstand, daß während »die Glückseligkeit […] ein System zufälliger Zwecke« ist, eben weil ein jeder nur gemäß seinem Verdienst daran teilhat, »die Moralität aber […] das absolut nothwendige System aller Zwecke« ist, »und eben die Zusammenpassung mit der Idee eines Systems aller Zwecke ist der Grund der Moralität einer Handlung«.21 Gott ist also die moralische Triebfeder der Pflicht, sofern »er […] gleichsam das moralische Gesetz selbst, aber personificiret gedacht« ist. Und es ist kein Zufall, daß im Übergang von diesen Vorlesungen zur Kritik der praktischen Vernunft der Begriff der Triebfeder eine weitere Formalisierung erfährt, wenn er, obgleich ein subjektiver Impuls des Willens, mit dem objektiven Grund des moralischen Gesetzes selbst identifiziert wird, welcher einzig in der »Achtung fürs moralische Gesetz« ausfindig gemacht wird.22 In den Vorlesungen erlaubt es gerade der Begriff der Religion, die Idee von Gott als Triebfeder der Moralität zu denken und – zugleich – die Moral als den einzigen Bereich, der einen bestimmten Begriff von Gott liefert. Oder wie es an einer anderen Stelle der Vorlesungen heißt: »eine solche Moraltheologie verschafft uns außer der überzeugenden Gewißheit, die wir dadurch von dem Wesen Gottes erhalten, auch zugleich den großen Vortheil, daß sie uns zur Religion führet, indem sie den Gedanken an Gott fest mit unserer Moralität zusammenknüpft, und uns auf die Art selbst zu bessern Menschen macht« Religion Pölitz; AA 28.2.2,1075. Genau an diesem Ort ist der Punkt des Übergangs von transzendentaler Freiheit zu praktischer Freiheit in Kants System ausgemacht worden; vgl. Delbos: La philosophie pratique de Kant, 212 f. 22 Religion Pölitz; AA 28.2.2,1076. Vgl. KpV A 139. – Es ist das Verdienst von Beyer, in seiner Einleitung zur kritischen Wiederveröffentlichung der Vorlesungen über die Philosophische Religionslehre (124) auf die graduelle Akzentverlagerung und Bedeutungsverschiebung in Kants Vokabular aufmerksam gemacht zu haben, hin zu einer immer stärkeren Formalisierung von der ersten Kritik zu den Vorlesungen, und von diesen zu GMS und KpV. – Andererseits finden wir noch im Opus postumum von Kant die Betrachtung von Gott nicht als eine Substanz sondern als »die personificirte Idee des Rechts und Wohlwollens« (AA 22,108). 21
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(Religion Pölitz; AA 28.2.2,1083). In dieser Hinsicht ist es also legitim zu behaupten, daß die Theologie für Kant die ratio cognoscendi der Moralität darstellt, und diese die ratio essendi der Theologie, und daß die Religion den – strukturellen und permanenten – Übergang von der theoretischen Erkenntnis zum praktischen Dasein bildet.23 Die Moraltheologie (zweiter Teil der Vorlesungen) ist es mithin, die die Religion in praktischem Sinn absolut notwendig macht. Auch hier werden die rationalistischen Prädikate von Baumgarten aufgegriffen – z. B. die Heiligkeit, Gütigkeit und Gerechtigkeit Gottes –, aber sie werden neu interpretiert als postulierte Dimensionen der praktischen Vernunft: »Die Vernunft leitet uns auf Gott, als einen heiligen Gesetzgeber, unsere Neigung für Glückseligkeit wünscht sich in ihm einen gütigen Weltregierer, und unser Gewissen stellet uns ihn als den gerechten Richter vor Augen«.24 Die Heiligkeit Gottes wird unter diesem Gesichtspunkt als Selbstverpflichtung der praktischen Vernunft gedeutet; die göttliche Güte wird verstanden als Verhältnismäßigkeit der Glückseligkeit (jenseits jedweder Unentgeltlichkeit oder Barmherzigkeit) zum Verdienst des moralischen Subjekts (d. h. zur Befolgung des Moralgesetzes); die Gerechtigkeit Gottes schließlich bedeutet die Begrenzung der Güter in der Verteilung der Glückseligkeit, weshalb allein und ausschließlich der glücklich sein soll, der sich der Glückseligkeit moralisch würdig erwiesen hat. Da es mir in diesem Zusammenhang nicht möglich ist, die Entwicklung von Kants Idee der Moraltheologie zu verfolgen, beschränke ich mich darauf, die Vgl. Esposito: Einführung zur italienischen Ausgabe der Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, Lezioni di filosofia della religione, 65. Die Wechselbeziehung zwischen Theologie und Moralität ist analog der zwischen Freiheit, verstanden als ratio essendi des Moralgesetzes und des letzeren als ratio cognoscendi der Freiheit (KpV A 5 Anm.). Aber vielleicht handelt es sich um etwas mehr als um eine Analogie, als da wäre eine im eigentlichen Sinn zirkuläre Verkettung der praktischen Vernunft. 24 Religion Pölitz; AA 28.2.2,1075. – Es ist vielleicht nicht unangebracht, hier als Kontrapunkt die Definition der drei moralischen Attribute Gottes anzuführen, wie sie in der Metaphysica von Baumgarten stehen: »Sanctitas est realitas entis, qua plures illius imperfectiones vere tales tolluntur, hinc sanctissimus est, cuius realitate omnes eius imperfectiones tolluntur« (AA 17,161); »Bonitas (benignitas) est determinatio voluntatis ad faciendum alteri bene. Beneficium est actio alteri utilior ex bonitate profecta […] Deus vult beneficia aliis conferenda. ergo benignus est, summe« (AA 17,181); »Bonitas erga personas sive spiritus proportionalis est iustitia […] Deus iustus est, summe. Dum deum iustisimum dicimus, veramur summam eius bonitatem, proportionalissimam […]« (AA 17, 182). Vgl. die Wiederaufnahme und die Transfiguration dieser Attribute in Religion Pölitz; AA 28.2.2,1074–1076. 23
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Dimension der Notwendigkeit, welche die Religion darin annimmt, hervorzuheben. In einer Abteilung der Vorlesungen (»Von der Natur und Gewißheit des moralischen Glaubens«) wendet Kant sich diesem Problem zu, indem er die Moral mit der Mathematik vergleicht. In beiden Fällen haben wir es mit ›notwendigen Postulaten‹ zu tun, die nicht bloße subjektive Voraussetzungen (wie die spekulativen Hypothesen) bilden, sondern Voraussetzungen, die auf objektiven Gründen beruhen, theoretischen in der Mathematik, praktischen in der Moral. Daher ist die Evidenz der moralischen Imperative die gleiche wie die der mathematischen Axiome. Wie man bei Verneinung der letzteren in ein absurdum logicum geriete, in eine Unsinnigkeit beim Urteilen, verfiele man bei Verneinung des moralischen Glaubens in ein absurdum practicum, das sich ergibt, »wenn der ein Bösewicht seyn müßte, der dies oder jenes läugnen wollte« (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1083). Nicht mehr die nicht-widersprüchliche Möglichkeit, sondern die moralische Pflicht bildet das Gerüst der Annahme der Existenz Gottes, da Gott ja fortan als eigentlicher Gegenstand der Theologie ausschließlich in dem Maße betrachtet werden kann, als er in das Thema der Moralität hineingehört. Dieser Gott kann nicht mehr rechtens von der philosophischen Theologie behandelt werden, wenn diese sich nicht in eine Religionsphilosophie verwandelt, oder radikaler gesagt: ihren Platz an diese abtritt. Das aber schwächt nicht im geringsten die Verbindlichkeit der Gottesidee, stärkt sie vielmehr für Kant auf entscheidende Weise, sofern sie zu einer andersartigen, nicht so sehr logisch-deduktiven als vielmehr ethisch-religiösen Notwendigkeit wird. Es bleibt jedoch anzumerken, daß auf beiderlei Weise das ontologische SichGeben Gottes in dem ganz modernen Sinn seiner Seiendheit als Struktur der Vernunft gedacht wird.25 In den Vorlesungen sagt Kant (analog zu den drei Kritiken und der Religionsschrift), daß Moralität und Religion »auf’s genaueste verbunden« sind, und sich lediglich dadurch unterscheiden, daß in der Moralität die Pflichten »als Grundsätze eines jeden vernünftigen Wesens, ausgeübt werden sollen, und daß dasselbe als Glied eines allgemeinen Systems der Zwecke handeln Jaeschke hat auf eine Frage von historisch wesentlicher Bedeutung aufmerksam gemacht: Mit Kant vollzieht sich keine bloße Neuformulierung der »rationalen Theologie« als »Religionsphilosophie«, sondern das Scheitern der philosophischen Theologie wird zur Bedingung für die autonome Einrichtung einer Religionsphilosophie erklärt, die nunmehr als ein Teil der Ethik verstanden wird (vgl. Die Vernunft in der Religion, 11,43 und passim). 25
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soll«, während in der Religion jene Pflichten »als Gebote eines obersten heiligen Willens angesehen werden, weil doch im Grunde die Gesetze der Moralität die einzigen sind, die mit der Idee einer höchsten Vollkommenheit zusammenstimmen«.26 Hier ist die höchste Vollkommenheit nicht mehr als das Maximum der ontologischen Bestimmung zu verstehen, vielmehr perspektivisch – im Zusammenfließen von spekulativer Hypothese, regulativem Ideal, praktischem Postulat und Endzweck – als Verbindung von physischer Theologie (oder Teleologie) und praktischer Theologie (oder Teleologie). Und es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, wie Kant eine terminologische Verschiebung in bezug auf die Baumgartensche Formel vornimmt: diesem zufolge konstituiert sich die Wissenschaft von den Zwecken der Schöpfung als »teleologia tam physica, corporum, quam pneumatica, fines spirituum exhibens«; für Kant hingegen ist die (physische und moralische) Natur zu gleicher Zeit in nexu effectivo, in nexu finali und in nexu morali darzustellen: die zirkuläre und notwendige Verbindung von Moralität und Religion besteht, außer daß sie ein grundlegendes und strukturelles datum der reinen Vernunft ist, in der Anerkennung – in fieri – eines allgemeinen Plans, »nach welchem, trotz alles Mißbrauches ihrer Freiheit, doch endlich die größtmöglichste Vollkommenheit desselben [d. h. des Menschengeschlechtes] wird erreicht werden«.27 Von einer Seite her kann die Religion sich (zumindest in ihrem wesentlichen Kern) für Kant niemals historisch konstituieren, sondern muß aufgrund der geforderten Reinheit ihren rationalen Kern fortschreitend von der geschichtlich-geoffenbarten, unvermeidlich statutarischen Umhüllung befreien (man denke an die ethisch-religiöse Neubegründung der Idee von ekklesiastischer Institution in der Kirche als ethischer Gemeinschaft, wovon die Religionsschrift spricht); andererseits aber erfüllt sich ihr rein rationales, theologisch-moralisches, Schicksal dennoch allein im Hinblick auf den geschichtlichen Fortschritt, in dem Maße, als sie ein notwendig durch die Vernunft gesichertes Ziel entwirft, auch wenn dieses noch nicht tatsächlich erreicht ist. Somit ließe sich sagen, daß für Kant die Religionsphilosophie zu einer Geschichtsphilosophie im eigentlichen Sinn wird.
Religion Pölitz; AA 28.2.2,1102. Vgl. KrV B 395; KpV A 233; KU B 477; RGV B 229 = AA 6,153 f. 27 Religion Pölitz; AA 28.2.2,1103. Vgl. Baumgarten: Metaphysica ; AA 17,194. 26
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4. Der entscheidende Gegenbeweis: das Problem des Bösen Die Gegenprobe zu dieser Lösungsperspektive liefert die Verhandlung des Problems des Bösen. Bezeichnenderweise sieht der nicht genannte Herausgeber Pölitz in der Vorrede zur ersten Auflage der Vorlesungen genau darin einen der originellsten Punkte von Kants Ausführungen gegenüber der Behandlung des gleichen Problems in der zehn Jahre später verfaßten Schrift über die Religion (vgl. Religion Pölitz; AA 28.2.2,1516.1078). Während Kant nämlich in diesem späteren Text dem abträglichen Einfluß der Zensur seitens der Regierung unterlegen sei, habe er in den Vorlesungen seine Position noch in voller Freiheit bezogen. Darunter verstand Pölitz die Nichtrückführbarkeit der Vernunftreligion auf das Christentum und umgekehrt der Rückführbarkeit des Christentums auf eine Moralreligion. Das Problem ist seiner Anlage nach das klassische Leibnizsche Problem der Theodizee, und in der Tat führt Kant es als Antwort auf die Einwände hinsichtlich der moralischen Attribute Gottes vor, nämlich Heiligkeit, Güte und Gerechtigkeit. Wenn Kant von diesen Attributen spricht, betrachtet er sie bereits – im Unterschied zu sanctitas, bonitas und iustitia bei Baumgarten28 – als ideale Merkmale der Moralität selbst, und deshalb als Vollkommenheitsmomente Gottes, sofern er Gott als objektive Realisierung der Moralität begreift. So mag man die geschichtlich-phänomenologische und nicht nur metaphysische Antwort besser verstehen, die Kant auf diese Frage in den Vorlesungen gibt. Gegen die Heiligkeit: was ist der Ursprung des moralisch Bösen? Gegen die Güte: woher rührt das physische Übel in der Welt? Gegen die Gerechtigkeit: woher die ungleiche Verteilung von gut und böse in der Welt, die im Gegensatz zur Moralität steht? Metaphysischer Optimismus und manichäischer Pessimismus sind keine annehmbaren Lösungen. Eher wäre eine Lösung des Problems in der DyVgl. Esposito: Einführung. – Es ist zutreffend, daß Kant in den Vorlesungen die Leibnizsche Theorie, derzufolge die von Gott erschaffene Welt die beste aller möglichen Welten sei, positiv aufgreift, aber diese wird sozusagen aus dem Zusammenhang der spekulativen Theologie extrapoliert und in den der Moraltheologie gestellt. Radikaler noch heißt es: »Man kann aber diese Theorie von der besten Welt, unabhängig von aller Theologie, nach den Maximen der Vernunft, erkennen, ohne daß man nöthig hat, bei dem Beweise derselben selbst erst auf die Weisheit eines Schöpfers zu recurriren« (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1098). Wir finden dieses Motiv auch in Kants Schrift zur Theodizee (MpVT). 28
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namik der moralischen Selbstverwirklichung der Vernunft auszumachen und mit ihr zu identifizieren. Der Mensch ist das einzige Wesen unter den Geschöpfen »welches seine Vollkommenheiten, und demnach auch die Gutartigkeit seines Charakters aus sich selbst hervorarbeiten sollte«. Deshalb hat Gott ihn frei erschaffen, wobei er ihm Talente und Fähigkeiten zu entwickeln, aber auch tierische Instinkte zu beherrschen gab. Darum ist der Mensch »seiner Natur nach in Hinsicht der Anlage vollkommen«, wenngleich noch ›roh‹; sodaß er »zum Beweise seiner Freiheit fällt«.29 Von einem rohen aber vollkommenen Tier wird er zu einem freien ›Thor‹, und die Vervollkommnung muß ihn in einem langwierigen Fortschreiten bis zur Idee eines moralisch vollkommenen Wesens führen. Unter diesem Blickwinkel erscheint das Böse »als die unvollständige Entwicklung des Keims zum Guten«: nichts Ursprüngliches also, sondern »bloße Negation«, »Einschränkung des Guten«. Seine Unabgeschlossenheit geht von der Bedingung der Roheit aus (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1078). Der »Ursprung des Bösen« ist demnach als »die erste Entwickelung unserer Vernunft zum Guten« zu denken. In diesem Sinne ist es nicht »unvermeidlich«, im Gegenteil will Gott seine Austilgung »durch die allgewaltige Entwickelung der Keime zur Vollkommenheit«. Wenn dieser Keim allgewaltig ist, dann wird das Böse zu einer bloßen ›Nebenfolge‹ des Guten. Und wenn die Vernunft (die eigentlich der Keim des Guten ist) am Anfang dem Menschen zum Gebrauch des Instinktes dient, kommt der Mensch am Ende dazu, die Vernunft »um ihrer selbst willen« zu entwickeln (d. h. vermittels des moralischen Gesetzes, mit dem verbunden die Sünde als Residuum der Freiheit auftaucht). Daraus folgt: »Endlich wenn sich der Mensch ganz entwickelt hat, so hört das Böse von selbst auf« (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1078 f.). Gott ist mithin in bezug auf das Böse gerechtfertigt, weil »die ganze Species des Menschengeschlechts endlich zur Vollkommenheit gelangen soll«, und »nun einmal eine Klasse von Geschöpfen seyn [soll,] die sich von ihren Instincten, vermöge ihrer Natur, entfesseln und losreißen sollen; bei welcher Entwicklung denn auch manche Fehlschritte und Laster entstehen. Alles aber sollte einst einen herrlichen Ausgang gewinnen« (Religion Pölitz; AA 28.2.2, 1079). In der Religionsschrift sagt Kant etwas anderes: »Dieses Böse ist radical, weil es den Grund aller Maximen verdirbt; zugleich auch als natürlicher 29
Religion Pölitz; AA 28.2.2,1077 f.; vgl. auch IaG.
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Hang durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen […]; gleichwohl aber muß er zu überwiegen möglich sein, weil er in dem Menschen als frei handelndem Wesen angetroffen wird« (RGV B 35 = AA 6,37). Die Dialektik von der Unmöglichkeit, das Böse zu vertilgen, und der Notwendigkeit, es zu besiegen, faßt genau die Radikalität des Bösen im Kantischen Sinn: ein »angeborenes, (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse«, welches daher vermutlich ebenso von uns selbst beherrschbar ist.30 Den Vorlesungen zufolge muß sich diese letztere Möglichkeit notwendig realisieren. Der Religionsschrift zufolge bleibt sie eine aporetische Notwendigkeit in bezug auf das Fortdauern des Bösen (nicht zufällig bevorzugen Zeitgenossen wie Goethe und Schiller den Kant der Vorlesungen gegenüber dem des radikal Bösen). In beiden Fällen, wie immer man die Frage interpretieren will, steht eines fest: daß der Gott, von dem Kant spricht, dieses Böse angesichts der Freiheit und dem Gewissen des Menschen nicht unentgeltlich retten kann (denn: »so läßt sich gar nicht absehen, wie Gott, unbeschadet unserer Freiheit, zu unsern Handlungen concurrire)«.31 Oder besser gesagt: auch wenn er es vermöchte (und wir können das nicht aus apodiktischen Gründen verneinen), bliebe es für meine Vernunft immer unbegreifbar, »wie etwas für die ganze Menschheit zu ihrer Wohlfahrt nothwendig seyn soll, was doch nicht in ihrer Vernunft liegt, sondern alle Vernunft übersteiget«. Es kehrt also aufs neue das Problem der Notwendigkeit wieder: jene absolute Notwendigkeit, die Kant auf theoretischer Ebene als den »wahre[n] Abgrund für die menschliche Vernunft« bezeichnet hatte, wo »alles unter uns [sinkt]«, und die in moralischem Sinne mit der Verpflichtung des Gesetzes identifiziert wird und kein anderes Maß als das der Pflicht anerkennen kann (Religion Pölitz; AA 28.2.2,70 f.; vgl. KrV B 640 f.). Hier gelangt man in den Bereich dessen, was Kant die »Geheimnisse in der Vernunftreligion« nennt: die Vernunft ist gewiß »um ihrer selbst willen gedrungen«, an die absolute Notwendigkeit Gottes zu glauben; doch wo sie die Möglichkeit davon einsehen will, gerät sie »sogleich in’s Stocken«. Das Geheimnis wird aber noch größer, wenn man die schlechthin moralische BeRGV B 27 = AA 6,32. – Zu dieser Problematik vgl. Pranteda: Il legno storto. I significati del male in Kant. 31 Religion Pölitz; AA 28.2.2,1106. – Zu den Präferenzen von Schiller und Goethe vgl. Schiller: Brief an Körner vom 28. Februar 1793 (Briefe, 280–282) und Goethe, Brief an Herder vom 7. Juni 1793 (Briefe, 19,212 f.). – Dazu vgl. die einschlägige Zusammenstellung von Vorländer: Kant – Schiller – Goethe, 15 f., 153–155. 30
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deutung des Glaubens bedenkt: kann Gott – fragt sich Kant – einen Menschen »glücklich machen«, der »sich vor dem Richterstuhle des Gewissens noch nicht dem ganzen moralischen Gesetzte adäquat, folglich der Glückseligkeit unwürdig findet«? (Religion Pölitz; AA 28.2.2,1120). Uns, die wir ihn als Richter denken, ist es unmöglich, ihn zu verstehen und uns folgerichtig seiner Güte zu überantworten. Uns selbst genügt es, dessen würdig zu sein. Oder, wie Kant in der Religionsschrift sagt: »›Es ist nicht wesentlich und also nicht jedermann nothwendig zu wissen, was Gott zu seiner Seligkeit thue, oder gethan habe‹; aber wohl, was er selbst zu thun habe, um dieses Beistandes würdig zu werden« (RGV B 63 = AA 6,52). Hier – dem Geheimnis gegenüber, und vor allem einer Güte gegenüber, die nicht mehr mit Gerechtigkeit identifiziert wird, (wie Kant zuvor vorgeschlagen hatte), und die also nicht mehr nur notwendig ist – herrscht laut Kant »tiefes Stillschweigen unserer Vernunft« (Religion Pölitz; AA 28.2.2, 1120, 1076). Bleibt aber das Problem, ob dieses Schweigen bloß die Verweigerung zu sprechen wäre, wovon man nicht mit Gewißheit weiß, und ob es also den Raum frei läßt für eine andere Möglichkeit der Religion, die nicht schon a priori innerhalb der Vernunft ganz ›moralisiert‹ wäre; oder ob es nicht im Gegenteil das Nichts-anderes-hören-Können (und das Nichts-anderes-hörenSollen) als den reinen Befehl der Vernunft in der selbstbezüglichen Form des Moralgesetzes wäre. Es ist das im Zusammenhang der Aufklärung hochumstrittene Problem, das Kant als Prüfstand für die gesamte kritische Philosophie präsentiert, das Problem des Verhältnisses zwischen rein rationaler Religion und geschichtlich-geoffenbartem Glauben, spezifischer: zwischen natürlicher Religion und Christentum. In den Vorlesungen wird die Frage nicht ausdrücklich verhandelt, da sie doch bereits mit dem Übergang von der spekulativen Theologie zur Moraltheologie gelöst ist, dort nämlich, wo die theoretische Denkbarkeit (d. h. die kleinste Möglichkeit) des Gottesproblems sich in seiner äußersten praktischen Notwendigkeit erfüllt. Aber gerade im Licht dieser Interpretation der Religion, sofern sie der Vernunft notwendig und immanent dienlich ist – und auch abgesehen von der unbestreitbaren Verwendung, die Kant selbst von der christlichen Materie bei der theologischen Strukturierung der reinen Vernunft macht –,32 ließe sich eine letzte Frage stellen: ob das Christentum, In dieser Arbeit gehen wir nicht auf das Problem der theologisch-positiven Quellen Kants ein. Wir verweisen auf Bohatec: Die Religionsphilosophie Kants in der »Reli32
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um weiter im Wortgebrauch Kants zu bleiben, noch mit gutem Recht eine Religion genannt werden kann, oder ob es nicht paradoxerweise etwas bleibt, das nicht zurückzuführen wäre auf den sich selbst begründenden Zirkel der gegenseitigen Implikation von Religion und Moral.33
gion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«; Lamacchia: Le fonti teologico-positive nella filosofia della religione di Kant; Esposito: Introduzione, 51 ff.; Winter: Theologiegeschichte und literarische Hintergründe der Religionsphilosophie Kants. 33 Erinnert sei an die zusammenfassende Formulierung, mit der Kant in der zweiten Kritik die Reduktion der christlichen Religion als einzige moralische Religion kanonisiert: »das christliche Princip der Moral selbst [ist] doch nicht theologisch (mithin Heteronomie), sondern Autonomie der reinen praktischen Vernunft für sich selbst« (KpV A 232).
Die ›Endabsicht der Metaphysik‹ vor ›allen ihren Zurüstungen‹ Kann die Unterscheidung zwischen einem ordo inventionis und dem ordo expositionis der Kantforschung als Interpretationshilfe dienen? von Aloysius Winter
1. Die Fragestellung Eine wissenschaftliche Abhandlung ist gewöhnlich eine methodisch geordnete Darstellung eines Gedankenganges oder Sachverhalts, die den Leser schrittweise zu dem angezielten Ergebnis hinführen soll, wobei der Weg, auf dem dieses Ergebnis gefunden wurde, sehr verschieden sein kann. Die aufgrund einer Zielvorgabe sich ergebende Fragestellung führte zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Problemen und Lösungsmöglichkeiten, die sich zunächst in meist ungeordneter Folge darstellten. Irrwege waren zu verwerfen, Umwege zu verkürzen, neue Wege zu suchen, Argumente zu finden. Für den Leser war dann nach endlicher Klärung eine logisch geordnete und methodisch nachvollziehbare Darstellung zu verfassen, ohne ihn mit dem ungeordneten und in Teilen vielleicht sogar zufälligen Werdegang zu belasten. Diese Unterscheidung zwischen dem ordo inventionis und dem ordo expositionis kann jedoch auch bei der Interpretation eines gegebenen Textes hilfreich sein. Gewöhnlich folgt man seinem Aufbau und seiner inneren Logik in der Reihenfolge der Darstellung. Falls allerdings die ursprüngliche Zielvorstellung des Autors und die sich daraus ergebenden Fragestellungen bekannt sind, kann man auch versuchen, den Text aus dieser Perspektive ›gegenzulesen‹, um so wichtige Einsichten für das Verstehen einzelner Teile der Darstellung und ihrer Gesamtorientierung zu gewinnen, deren Bedeutung und Gewicht sonst vielleicht nicht genügend deutlich werden, wenn man nur der gedanklichen Linie des Textes Schritt für Schritt folgt. So weist Kant selbst in seiner Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft auf »eine zweite Aufmerksam-
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keit« bei einer Darstellung hin, »die mehr philosophisch und architektonisch ist; nämlich die Idee des Ganzen richtig zu fassen und aus derselben alle jene Theile in ihrer wechselseitigen Beziehung aufeinander vermittelst der Ableitung derselben von dem Begriffe jenes Ganzen in einem reinen Vernunftvermögen ins Auge zu fassen«.1 Eine vollständige Rekonstruktion des ordo inventionis ist freilich nicht mehr möglich. Hilfreich kann dabei der Blick in die nachgelassenen Vorarbeiten und Reflexionen sein, mit Vorbehalt auch in die Vorlesungsnachschriften. Der ordo expositionis ist demgegenüber an die verschiedenen Phasen der Entwicklung des Denkens gebunden, die sich in den im Laufe der Zeit entstandenen Schriften mit ihrer jeweiligen thematischen Ausrichtung niedergeschlagen haben. Wenn man dies in Rechnung stellt und mit dem in manchem oder vielem sekundären Charakter des ordo expositionis rechnet, lassen sich manche Mängel oder auch Einseitigkeiten vom bekannten Forschungsinteresse her eher verstehen. So sah Kant selbst »mannigfaltige Veranlassung«, »manche Mängel im alten dogmatischen Gange der Philosophie zu ergänzen und Fehler abzuändern, die nicht eher bemerkt werden, als wenn man von Begriffen einen Gebrauch der Vernunft macht, der aufs Ganze derselben geht« (KpV A 17 Anm.). Das Gesagte kann so bis zu einem gewissen Grade auch für das Gesamtwerk eines Autors gelten, falls entsprechende generelle Absichtserklärungen vorliegen. Das ist nun bei Kant ausdrücklich der Fall, auch wenn es sich in der vorkritischen gegenüber der kritischen Periode unterschiedlich darstellt. In der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant in der Einleitung von der ›Endabsicht‹ der Vernunft bezüglich der Erkenntnisse, »welche über die Sinnenwelt hinausgehen«, die »viel erhabener« ist als alles, was der Verstand im Felde der Erscheinungen lernen kann, und den sich daraus ergebenden Aufgaben, die er in einem Zusatz der zweiten Auflage ausdrücklich beschreibt: »Diese unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Die Wissenschaft aber, deren Endabsicht mit allen ihren Zurüstungen eigentlich nur auf die Auflösung derselben gerichtet ist, heißt Metaphysik«.2 In einer ebenfalls der zweiten Auflage der Kritik der KpV A 18. Vgl. dazu Prol A 216 = AA 4,380: »Und nun schlage ich vor, da ein weitläufig Gebäude unmöglich durch einen flüchtigen Überschlag sofort im Ganzen beurtheilt werden kann, es von seiner Grundlage an, Stück vor Stück zu prüfen, und hiebei gegenwärtige Prolegomena als einen allgemeinen Abriß zu brauchen.« 2 KrV B 7. Vgl. auch Reflexion 4459; AA 17,559 f. (etwa 1772 nach Adickes): »Was ist dasjenige, was den tiefen Untersuchungen der Metaphysik ihren obersten Bewegungs1
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reinen Vernunft hinzugefügten Anmerkung heißt es noch ausführlicher: »Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit […]. Alles, womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt, dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen.«3 In den Prolegomena sagt Kant über die Beschäftigung der Metaphysik »mit reinen Vernunftbegriffen«: »dieser Theil der Metaphysik ist überdem gerade derjenige, welcher den wesentlichen Zweck derselben, wozu alles andre nur Mittel ist, ausmacht« (Prol A 125 = AA 4,327). »Wir sollen uns denn also ein immaterielles Wesen, eine Verstandeswelt und ein höchstes aller Wesen (lauter Noumena) denken, weil die Vernunft nur in diesen als Dingen an sich selbst Vollendung und Befriedigung antrifft, die sie in der Ableitung der Erscheinungen aus ihren gleichartigen Gründen niemals hoffen kann« (Prol A170 f. = AA 4,354 f.). Es sind die »transscendentale[n] Ideen, deren Inbegriff die eigentliche Aufgabe der natürlichen reinen Vernunft ausmacht, welche sie nöthigt, die bloße Naturbetrachtung zu verlassen und über alle mögliche Erfahrung hinauszugehen und in dieser Bestrebung das Ding […], was Metaphysik heißt, zu Stande zu bringen«.4 Dies bestätigt Kant dann noch einmal in grund giebt und worin die Wahre Wichtigkeit einer solchen Wissenschaft zu setzen ist. 1. Es ist nicht […] 2. Auch nicht […] 3. Also nur als eine propaedeutik der Weisheit. Als ein solches aber, worin bestehen die Vornehmste Fragen, die sie auflösen, oder die Wichtigen Erkenntnisse, wozu sie der Schlüssel seyn soll. Sie sind 2. Ist ein Gott, und ist ein künftiges Leben. Die Beantwortung dieser Fragen ist wiederum wichtig, sofern es ein Grund ist unseres Verhaltens und die Grundsatze des Lebens bevestigt.« ; Reflexion 5637; AA 18,273 (1780–89 ?): »der Zwek der Ganzen Metaphysik ist Gott und die Zukunft und der zwek von diesen unser Verhalten, nicht ob wir es der moral gemäß anstellen sollen, sondern ob sie ohne Folgen sey.« 3 KrV B 396 Anm. Dem steht nicht entgegen, daß Kant am 21.9.1798 an Christian Garve schrieb (AA 12,257 f.): »Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r.V. […] diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.« Erinnert sei an dieser Stelle an die eigenmächtige Textänderung von »keine Privatmeinungen« in »reine Privatmeinungen« bezüglich der Hypothesen der reinen Vernunft durch Hartenstein in KrV A 782 / B 810, die von der Akademieausgabe (AA 3,509) übernommen wurde. Cassirer / Görland (3,526), Schmidt (710) und Weischedel (2,661) haben ›keine‹ beibehalten. Vgl. dazu Goldschmidt: Kants »Privatmeinungen« über das Jenseits und Die Kant-Ausgabe der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften. Ein Protest, 54 f. 4 Prol A 184 = AA 4,362. Kant glaubt »gewahr zu werden, daß diese Naturanlage
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der Methodenlehre der Kritik der Urtheilskraft, wo er schreibt: »Gott, Freiheit und Seelenunsterblichkeit sind diejenigen Aufgaben, zu deren Auflösung alle Zurüstungen der Metaphysik, als ihrem letzten und alleinigen Zwecke, abzielen.« Freiheit »nur als negative Bedingung für die praktische Philosophie« zu betrachten und »die Lehre von Gott und der Seelenbeschaffenheit« als theoretische »für sich und abgesondert« darzutun, sei der Grund »gewisser verfehlten Versuche in der Philosophie« gewesen.5 Um also Metaphysik, die auf den Bereich »jenseit der Erfahrung« abzielt (Prol A 24 = AA 4,265), allererst zu ermöglichen, war die Klärung der »transscendentalen Hauptfrage« erforderlich (Prol A 45 = AA 4,278): »Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?« Diese Klärung hatte die Vernunftkritik als ›Disciplin‹ der reinen Vernunft und damit als eine ›Zurüstung‹ zu leisten. »Auch hat diese Art von Wissenschaft dieses Eigenthümliche an sich, daß die Darstellung des Ganzen erfoderlich ist jeden Theil zu rectificiren«. Ausgehend von der »Hauptfrage, auf die alles ankommt«, solle dann der Leser »so nach und nach jedes Stück einzeln prüfen und durch vereinigte Bemühungen bearbeiten«, schrieb Kant an Christian Garve am 13. August 1783.6 Aber nur »Ein kleiner Theil derer, die sich das Urtheil über Werke des Geistes anmaßen, wirft kühne Blicke auf das Ganze eines Versuchs und betrachtet vornehmlich die Beziehung, die die Hauptstücke desselben zu einem tüchtigen Bau haben könnten, wenn man gewisse Mängel ergänzte oder Fehler verbesserte. Diese Art Leser ist es, deren Urtheil dem menschlichen Erkenntniß vornehmlich nutzbar ist«, schrieb Kant schon 1762 im Beweisgrund (1763 veröffentlicht; BDG A 9 = AA 2,67). Damit hat Kant das oben vorgeschlagene ›Gegenlesen‹ selbst legitimiert. Aber nicht erst eine künftige Metaphysik würde auf den Bereich »jenseit der Erfahrung« abzuzielen haben (Prol A 24 = AA 4,265); diese Perspektive dahin abgezielt sei, unseren Begriff von den Fesseln der Erfahrung und den Schranken der bloßen Naturbetrachtung so weit loszumachen, daß er wenigstens ein Feld vor sich eröffnet sehe, was blos Gegenstände für den reinen Verstand enthält, die keine Sinnlichkeit erreichen kann« (ebd.). 5 KU B 464 f. Die Wortstatistik weist in Kants Druckschriften (ohne OP) für ›Gott‹ mit Ableitungen 850, für ›Freiheit‹ 1004, für ›Seele‹ 434 und für ›Unsterblichkeit‹ 49 Stellen nach; dazu kommen noch 2 Stellen für ›Seelen( = )unsterblichkeit‹ und 49 für ›Seelenlehre‹, weitere Wortzusammensetzungen nicht eingerechnet; vgl. Wortindex zu Kants gesammelten Schriften. 6 AA 10,339; vgl. ebd.: »Mit einem Worte die Maschine ist einmal vollständig da, und nun ist nur nöthig die Glieder derselben zu glätten, oder Oel daran zu bringen, um die Reibung aufzuheben, welche freylich sonst verursacht, daß sie still steht.«
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war bereits für die Vernunftkritik maßgebend. Bekanntlich sollte die Kritik der reinen Vernunft ursprünglich den Titel tragen: »Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft« (AA 10,123.129). Während der Begriff der ›Schranken‹ für Kant ›bloße Negationen‹ enthält, ist für ihn »in allen Grenzen auch etwas Positives«, nämlich die Eröffnung eines »Raum[es] für die Erkenntniß der Dinge an sich selbst«,7 um »ein immaterielles Wesen, eine Verstandeswelt und ein höchstes aller Wesen (lauter Noumena) denken« zu können (Prol A 170 f. = AA 4,354 f.), auch wenn wir »niemals erkennen können«, was die Verstandeswesen »an sich selbst sein mögen« (Prol A 171 = AA 4,355). »Wir halten uns aber auf dieser Grenze, wenn wir unser Urtheil blos auf das Verhältniß einschränken, welches die Welt zu einem Wesen haben mag, dessen Begriff selbst außer aller Erkenntniß liegt, deren wir innerhalb der Welt fähig sind […] und vermeiden dadurch den dogmatischen Anthropomorphismus […] und erlauben uns einen symbolischen Anthropomorphismus, der in der That nur die Sprache und nicht das Object selbst angeht.« Es ist eine Erkenntnis des Unerkennbaren »nach dem, was es für mich ist, nämlich in Ansehung der Welt, davon ich ein Theil bin«. »Eine solche Erkenntniß ist die nach der Analogie, welche nicht etwa, wie man das Wort gemeiniglich nimmt, eine unvollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge, sondern eine vollkommne Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen bedeutet« (Prol A 176 = AA 4,357). Wird einem solchen Vernunftbegriff eine ihm grundsätzlich unangemessene sinnliche Anschauung unterlegt, spricht Kant von einer ›symbolischen Hypotypose‹, in welcher die Urteilskraft »erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist« anwendet (KU B 255 f.). »Freiheit, Unsterblichkeit und Gott« haben demnach als »bloße reine Vernunftbegriffe […] keine correspondirende Anschauung«; ihre »objective Realität« wird jedoch für die Möglichkeit des höchsten Guts notwendig als Bedingung vorausgesetzt und »postulirt«,8 so daß der ›Endzweck‹ der spekulativen Vernunft sich zugleich als unerläßliche Voraussetzung des Prol A 167 ff. = AA 4,352 ff. Schon 1766 schrieb Kant an Moses Mendelssohn (AA 10,72): »Es liegt hier daran auszumachen ob es nicht hier wirklich Grenzen gebe welche nicht durch die Schranken unserer Vernunft nein der Erfahrung die die data zu ihr enthält festgesetzt seyn.« 8 KpV A 242. Zu »objective Realität« vgl. z. B. auch KrV B 396; KpV A 5 f.,242.249; Log A 103 = AA 9,68 Anm. 7
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praktischen Vernunftgebrauchs erweist und der Kreis sich damit schließt. Auf diese Weise aber »beweiset« auch »die vorher nur problematische transscendentale Theologie ihre Unentbehrlichkeit durch Bestimmung ihres Begriffs und unaufhörliche Censur einer durch Sinnlichkeit oft genug getäuschten und mit ihren eigenen Ideen nicht immer einstimmigen Vernunft.« Denn sie liefert nun dank der auf reine Vernunftbegriffe hin orientierten Vernunftkritik einen ›gereinigten Begriff‹ der »transscendentale[n] Prädikate«, die »eine jede Theologie so sehr nöthig hat«, wenn sie von »Nothwendigkeit«, »Unendlichkeit«, »Einheit«, einem »Dasein außer der Welt (nicht als Weltseele)«, von der »Ewigkeit ohne Bedingungen der Zeit«, von der »Allgegenwart ohne Bedingungen des Raumes«, der »Allmacht« usw. handelt (KrV A 641 f. / B 669 f.). Sie ermöglicht »gereinigte[n]« (RGV B 303 Anm. = AA 6,195 Anm.) oder »geläuterte Religionsbegriffe« (SF A 80 = AA 7,52), die »von schädlichen Anthropomorphismen gereinigt« sind (RGV B 213 = AA 6,141). Zudem bestätigt sie gereinigte »moralische[n] Begriffe« (KrV A 817 / B 845) und legt einen »Pflichtbegriff« vor, der »von allem Empirischen (jedem Gefühl) gereinigt« ist (MST A IV f. = AA 6,376). Das alles soll eine »durch Kritik geläuterte[n], dadurch aber auch in einen beharrlichen Zustand gebrachte[n] Metaphysik« leisten (KrV B XXIV), wie sie die menschliche Vernunft bis dahin »nicht genugsam geläutert von allem Fremdartigen« hat »darstellen können«, obwohl die »Idee einer solchen Wissenschaft […] ebenso alt« ist wie die »speculative Menschenvernunft« (KrV A 842 / B 870). Als ›geläuterte‹ oder ›gereinigte‹ Philosophie wurde Kants Denken auch bereits von einigen Zeitgenossen in Briefen an ihn anerkannt.9 So erweist sich der erste zunächst scheinbar ›negaVon seinem Bruder Joh. Heinrich Kant am 10.9.1782 (AA 10,288): »Deine Critic der gereinigten Vernunft, hat hir die Stimmen aller Denker.« Von Johann Erich Biester am 6.3.1786 (AA 10,433): »Wahrlich, es ist Zeit, daß Sie, edler Wiederhersteller des gründlichen und gereinigten Denkens, aufstehen, und dem Unwesen ein Ende machen.« Von Daniel Jenisch am 20.4.1796 (AA 12,73): »Der herrschende Materialismus unserer philosophischen und theologischen Moralsysteme weichet, beschämt und verwirrt, dem erhabenen System der Würde der Menschheit: und die von je her dunkel = geahnete, von allen edlen Herzen lebendig = gefühlte reine Gesetzgebung der Vernunft für die Handlungen denkender Naturen, strahlet, durch Ihren Tiefsinn geläutert von jeder fremden Beimischung, in verklärter Glorie.«. Von Johann Ernst Lüdeke am 12.12.1798 (AA 12,272): »Aber sind und sollen denn alle Theologen Frösche seyn? Gab es und giebt es nicht auch unter ihnen Schwäne, die den Genuß des Wassers und der Luft verbinden? und sollte nicht selbst Ihre Philosophie auch diesen Schwänen die Luft gereiniget haben?« 9
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tive‹ Nutzen der Vernunftkritik in seinen Auswirkungen durchaus als positiv und als ›sehr wichtig‹ (KrV B XXIV f.). Hier muß zunächst einem möglichen Einwand begegnet werden. Daß wichtige Aussagen Kants zur ›Endabsicht‹ der Vernunft sich erst in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft finden, könnte den Eindruck erwecken, als habe Kant sein Denken erst nach Abfassung der ersten Auflage in dieser Weise orientiert. Aber schon in der ersten Auflage unterscheidet er den ›Schulbegriff‹ der Philosophie von ihrem »Weltbegriff (conceptus cosmicus)« in welcher Absicht sie »die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)« ist.10 Bekanntlich bedurfte es nachträglicher Verdeutlichungen, weil Kant sich gegen Mißdeutungen der Kritik der reinen Vernunft wehren mußte. Dies geschah zuerst in den Prolegomena11 und wurde dann in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft durch die eingefügten Texte klargestellt. Vermutlich noch vor der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, nach anderen Datierungen schon sehr viel früher,12 hat Kant in seiner Metaphysikvorlesung nach Pölitz erklärt: »Gott und die andere Welt ist das einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen«; und der Abschnitt über die rationale Theologie wird eingeleitet mit dem Satz: »Wir gehen jetzt zu derjenigen Erkenntniß der Metaphysik über, die den Zweck und die Endabsicht derselben ausmacht, und worauf die Nothwendigkeit der ganzen Metaphysik beruht.«13 Vielleicht noch früher (nach Adickes 1764 bis KrV A 838 f. = B 866 f. Ausführlicher erläutert wird diese Unterscheidung in der sog. Wiener Logik (AA 24,2, 798–800), die nach Bruno Bianco »in das Sommersemester 1782« zu datieren ist; vgl. Schulbegriff und Weltbegriff der Philosophie in der Wiener Logik. Ein Beitrag zum Verständnis von Kants Philosophie- und Wissenschaftsbegriff, hier: 53 Anm. 37. 11 Metaphysik hat es mit »reinen Vernunftbegriffen zu thun«, deren kritische Erörterung den »Theil der Metaphysik«, »welcher den wesentlichen Zweck derselben, wozu alles andre nur Mittel ist, ausmacht« (Prol A 125 = AA 4,327), »weil die Vernunft nur in diesen als Dingen an sich selbst Vollendung und Befriedigung antrifft« (Prol A 171 = AA 4,354), »deren Inbegriff die eigentliche Aufgabe der natürlichen reinen Vernunft ausmacht« (Prol A 184 = AA 4,362). Dazu erneute Behandlung der Themen Seele (Substantialität), Freiheit und Gott. 12 Erdmann 1773 / 74, Arnold 1779 / 80, Menzer vor 1781; vgl. Lehmann: AA 28.2.2, 1340 ff. 13 Metaphysik Pölitz; AA 28.1,301: »[…] unsere Erkenntnisse erstrecken sich nicht weiter, als uns die Erfahrung leitet; in diesen Erkenntnissen aber können wir bis an die 10
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spätestens 1773 / 75) notiert sich Kant: »Die Begriffe von Gott (und der allgemeinen Unterordnung unter das gesetz der Nothwendigkeit), der Freyheit (der Zufälligkeit und unabhängigkeit von der Gegenwertigen Welt) und der andern Welt (das Verhältnis unsrer Freyheit und unabhängigen Natur auf Gott) sind die drey Vernunftbegriffe, die eine innere Wichtigkeit haben, unter sich connex und der Grund der Erheblichkeit der ganzen metaphysik sind« (Reflexion 4241; AA 17,475). Darüber hinaus muß grundsätzlicher gefragt werden: Ist die Orientierung auf die »eigentlichen Zwecke« der Metaphysik und die sich daraus ergebenden »unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft« (s. o.) erst mit der sog. kritischen Wende erfolgt, oder ist sie weit früher anzusetzen? Im ersteren Fall könnte man versuchen, jedenfalls die Texte der kritischen Zeit im angegebenen Sinn ›gegenzulesen‹, andernfalls wären auch die vorkritischen Werke für eine Interpretation unter dieser Perspektive geeignet. Allerdings ist dann nicht unbedingt damit zu rechnen, daß sich die für die kritische Zeit belegbare Orientierung von vornherein mit vergleichbarer Deutlichkeit dargestellt findet. Darum ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob sich vom Erstlingswerk an Anzeichen einer wenn auch zunächst diffusen Zielvorstellung für alle philosophischen Bemühungen finden, und, wenn das der Fall sein sollte, wie sie sich besonders in der Behandlung der Fragen nach der Seele und nach Gott entwickelt hat.
2. Die vorkritische Zeit Zunächst könnte es den Anschein haben, daß Kants Interesse von Anfang an vorrangig Fragen der Physik und der Astronomie gegolten habe. Sogar das Motto aus Seneca, das er seiner Erstlingsschrift vorangestellt hat, daß man nicht wie in einer Schafherde bloß den Vorausgehenden folgen sondern dorthin gehen soll, wohin gegangen werden muß,14 läßt sich als Kritik an Grenze dieser Erfahrungen kommen. Die Grenze dieser Welt a parte ante und a parte post sind Gott und die andere Welt. Gott ist die Grenze a priori, und die künftige Welt die Grenze a posteriori.« 14 Vgl. GwS AV = AA 1,7: »Nihil magis praestandum est, quam ne pecorum ritu sequamur antecedentium gregem, pergentes, non qua eundum est, sed qua itur.« Ähnlich 1755 (PND; AA 1,387): »In quo quidem conatu cum haud calcatum tramitem ingredienti admodum proclive sit errore quodam labi, omnia aequa iudicandi ratione in meliorem partem accepturum lectorem benevolum, mihi persuadeo.«
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den genannten Wissenschaften deuten. Darüber hinaus aber ist sein Unbehagen weit grundsätzlicher: »Unsere Metaphysik«, schreibt er am Ende des ersten Hauptstücks, »ist wie viele andere Wissenschaften in der That nur an der Schwelle einer recht gründlichen Erkenntniß; Gott weiß, wenn man sie selbige wird überschreiten sehen.« Statt einer ›großen Weltweisheit‹, wünscht er sich ›eine gründliche‹, bei der das ›Vorurtheil‹ nicht mehr die »größte Stärke ihrer Beweise« bildet.15 Auch Francis Bacon und Descartes hatten zunächst ihr Unbehagen am gängigen Wissenschaftsbetrieb artikuliert, aber ihre jeweiligen Neuansätze entsprechen nicht den Vorstellungen Kants. Seine Kritik richtet sich »gegen die herrschende Neigung derer, die die menschliche Erkenntniß zu erweitern suchen« (ebd.). Dabei geschieht es dann, daß man »vermittelst gewisser Schlüsse, die irgendwo einen Fehler versteckt halten, der sehr scheinbar ist, eine gewisse Meinung erwiesen zu haben glaubt«, die zu Irrtümern führen, die »öftermals ganze Jahrhunderte« unentdeckt bleiben und vielleicht nur »vermittelst eines glücklichen Zufalls« schließlich entlarvt werden (GwS A 116 f. = AA 1,95 f.). Hier kündigt sich die spätere Frage nach den Voraussetzungen für die Legitimität einer »Erweiterung der reinen Vernunft« (KpV A 241) über die Grenzen der Erfahrung hinaus an, die spekulativ nicht zu haben ist, wozu aber »die Antinomien wider Willen nöthigen«, nämlich »über das Sinnliche hinaus zu sehen und im Übersinnlichen den Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen a priori zu suchen« (KU B 239). Gegen Bülfinger gerichtet schreibt Kant (GwS A121 = AA I, 99): »eine metaphysische Untersuchung, insbesondere eine, die so verwickelt und zusammengesetzt ist, verstattet nach allen Seiten noch immer unzählige Schlupfwinkel, wohin der eine von den Gegnern sich retten kann, ohne daß ihn der andere zu verfolgen, oder hervorzuziehen im Stande ist.« Aber schon in dieser Schrift kommt er auf die Seele zu sprechen und auf die Frage nach dem influxus physicus (vgl. GwS A 8 = AA 1,20 f.), und er reflektiert darüber, ob es möglich und wahrscheinlich ist, daß Gott andere Welten in anderen Raumesarten geschaffen habe (GwS A 14 = AA 1,25). Beim ersten Thema gibt er zu, ›ausgeschweift‹ zu sein, beim zweiten behält er sich eine weitere Betrachtung vor. Damit bekundet er schon hier sein grundsätzliches Interesse an diesen Themen, während der Methodenfrage eine Schlüsselfunktion zukommt. Die Methodenüberlegungen, die Kant in dieser Schrift anstellt, führGwS A 22 = AA 1,30 f. Zur Metaphysikkritik des vorkritischen Kant vgl. Hinske: Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant, 112–115. 15
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ten zwar nicht zum angestrebten Ziel, die Formel für die kinetische Energie zu entwickeln (die drei Jahre zuvor bereits gefunden war, was er nicht wußte), aber sie waren richtungsweisend für die spätere Lösung insbesondere des zentralen Problems der Antinomie: »einen gewissen Mittelsatz« zu suchen, »der beiden Parteien in gewisser Weise Recht läßt« (GwS A24 = AA 1,32), und »den Punkt [zu] bestimmen, darin das Wahre von beiden Seiten zusammen fiel« (GwS A 239 = AA 1,183), um so die jeweiligen irrigen Voraussetzungen herauszufinden.16 Die Anwendung dieser Methode führt in der Naturgeschichte von 1755 zur zutreffenden Erklärung der Planetenbewegungen.17 Aber es ist nicht zu übersehen, daß die Fragen nach Gott und der Seele des Menschen jenseits des Todes weitaus umfangreicher und ausführlicher behandelt werden, als es das Thema einer Naturgeschichte und Theorie des Himmels erfordern würde, selbst wenn man den Versuch einer Absicherung gegen religiöse Eiferer unterstellt. Die physikalischen und astronomischen Erörterungen werden in den Dienst eines physikotheologischen Gottesbeweises auf neuer Grundlage gestellt, der in mehreren Anläufen und aus unterschiedlicher Perspektive wiederholt und nachdrücklich bekräftigt wird. Kants Unbehagen richtet sich hier audrücklich gegen jene »Verteidiger der Religion«, die sich der Gründe »zur Bestätigung eines höchstweisen Urhebers« »auf eine schlechte Art bedienen« und so den Naturalisten »ohne Not […] eine schwache Seite darbieten« (NTH A XIII = AA 1,222). Demgegenüber glaubt er einen »unleugbaren Beweis« (NTH A XXVIII = AA 1,227) aus »unwidersprechlichen Gründen« (NTH A XIII = AA 1,222) vorzulegen, daß »ein allgenugsamer Verstand sein muß, in welchem die Naturen der Dinge zu vereinbarten Absichten entworfen worden« sind (NTH AXXVIII = AA I, 227 f.). Er geht so weit zu sagen: »es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann«, wodurch sogar noch »ein höherer Begriff seiner unendlichen Weisheit verursacht wird«.18 Der Vgl. dazu Hinske: Kants Weg, 125 ff. NTH A 25 = AA 1,262: »Es ist aber eben so klar, daß ein Begriff sein müsse, in welchem diese dem Scheine nach wider einander streitende Gründe vereinigt werden können und sollen, und daß in diesem Begriffe das wahre System zu suchen sei.« 18 NTH A XXVII ff. = AA 1,228; A 27 = AA 1,263: »Allein auch in den wesentlichen Eigenschaften der Elemente, die das Chaos ausmachen, ist das Merkmal derjenigen Vollkommenheit zu spüren, die sie von ihrem Ursprunge her haben, indem ihr Wesen aus der ewigen Idee des göttlichen Verstandes eine Folge ist.« Vgl. A 79 f. = AA 1,293: »Die 16 17
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sonst scheinbar so kühle Kant gesteht dabei (NTH A 16 = AA 1,256): »mit welcherm Erstaunen wird man entzückt, wenn man die unendliche Menge Welten und Systemen ansieht«. »Es ist hier kein Ende, sondern ein Abgrund einer wahren Unendlichkeit, worin alle Fähigkeit der menschlichen Begriffe sinkt, wenn sie gleich durch die Hülfe der Zahlwissenschaft erhoben wird. Die Weisheit, die Güte, die Macht, die sich offenbart hat, ist unendlich und in eben der Maße fruchtbar und geschäftig; der Plan ihrer Offenbarung muß daher eben wie sie unendlich und ohne Grenzen sein« (ebd.). In dieser frühen Phase (wie auch später noch) ist eine ungebrochene Überzeugung von der Gültigkeit einer allerdings verbesserten Physikotheologie festzustellen. Bei der Betrachtung des Universums zeigen sich »die sicheren Merkmaale der Hand Gottes« (NTH A 144 = AA 1,331). Gegen ›eine faule Weltweisheit‹, »die unter einer andächtigen Miene eine träge Unwissenheit zu verbergen trachtet«, wird festgestellt (NTH A 148 = AA 1,334): »Also ist ein Wesen aller Wesen, ein unendlicher Verstand und selbständige Weisheit, vorhanden, daraus die Natur auch sogar ihrer Möglichkeit nach in dem ganzen Inbegriffe der Bestimmungen ihren Ursprung zieht.« Die Formulierung: »sogar ihrer Möglichkeit nach« läßt schon hier Kants eigenes ontologisches Argument aus dem Realgrund aller Möglichkeit anklingen, das im selben Jahr in der Nova dilucidatio in knapper Form vorgelegt19 und 1763 im Beweisgrund von 1763 ausführlich behandelt wird. Ebenso deutet der vorher zitierte »Abgrund einer wahren Unendlichkeit, worin alle Fähigkeit der menschlichen Begriffe sinkt« bereits die Richtung der späteren Vernunftkritik an. Ähnlich die Stelle aus dem Beschluß: »Bei der allgemeinen Stille der Natur und der Ruhe der Sinne redet das verborgene Erkenntnisvermögen des unsterblichen Geistes eine unnennbare Sprache und gibt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen« (NTH A 200 = AA 1,367). Natur ist an vortrefflichen Auswickelungen in dem sich selbst gelassenen Zustande ihrer Kräfte sogar im Chaos fruchtbar, und die darauf folgende Ausbildung bringt so herrliche Beziehungen und Übereinstimmungen zum gemeinsamen Nutzen der Creatur mit sich, daß sie sogar in den ewigen und unwandelbaren Gesetzen ihrer wesentlichen Eigenschaften dasjenige große Wesen mit einstimmiger Gewißheit zu erkennen geben, in welchem sie vermittelst ihrer gemeinschaftlichen Abhängigkeit sich zu einer gesammten Harmonie vereinbaren.« 19 PND; AA 1,395: »En demonstrationem exsistentiae divinae, quantum eius maxime fieri potest, essentialem et, quamvis geneticae locus proprie non sit, tamen documento maxime primitivo, ipsa nempe rerum possibilitate, comprobatam.«
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Ebenso ist Kant bereits in dieser Schrift eher zurückhaltend bezüglich des künftigen Schicksals der »unsterblichen Seele« (NTH A 198 = AA 1, 366): »Es ist uns nicht einmal recht bekannt, was der Mensch anjetzt wirklich ist, […]; wie viel weniger werden wir errathen können, was er dereinst werden soll!« Er sagt das, obwohl er andererseits geradezu enthusiastisch in Vorstellungen einer künftigen Seligkeit schwelgt (NTH A 127 = AA 1,322): »Eine Glückseligkeit, welche die Vernunft nicht einmal zu erwünschen sich erkühnen darf, lehrt uns die Offenbarung mit Überzeugung hoffen. Wenn dann die Fesseln, welche uns an die Eitelkeit der Creaturen geknüpft halten, in dem Augenblicke, welcher zu der Verwandlung unsers Wesens bestimmt worden, abgefallen sind, so wird der unsterbliche Geist, von der Abhängigkeit der irdischen Dinge befreiet, in der Gemeinschaft mit dem unendlichen Wesen den Genuß der wahren Glückseligkeit finden.« Vielleicht zeigt sich hier besonders deutlich das Bewußtsein der Diskrepanz zwischen seiner religiösen Überzeugung20 und den Möglichkeiten und Grenzen mindestens des bis dahin entwikkelten philosophischen Denkens, soweit es ihm bekannt war. Diese Einsicht konsequent und selbstkritisch durchzuhalten, könnte weiterführen. Darum fordert Kant schon in der Erstlingsschrift: »man sollte sich doch endlich diesen Zwang anthun, um einer gegründeten Erkenntniß alles aufzuopfern, was eine weitläufige Reizendes an sich hat« (GwS A 23 = AA 1,31). Weniger wäre dann mehr. Immerhin klingt das Motiv des ›unendlichen Progressus‹ des Unsterblichkeitspostulates bereits in der Naturgeschichte an, in der über den Darüber gelegentliche Andeutungen; z. B. VE; AA 1,431: Der Mensch lerne durch Erdbeben »vielleicht auch auf diese Weise einsehen: daß dieser Tummelplatz seiner Begierden billig nicht das Ziel aller seiner Absichten enthalten sollte.« Vgl. 458: »Allein auch Muthmaßungen sind annehmungswürdig, wenn es darauf ankommt den Menschen zu der Dankbegierde gegen das höchste Wesen zu bewegen, das selbst alsdann, wenn es züchtigt, verehrungs- und auch liebenswürdig ist.« Vgl. ebd. 460: »Der Mensch ist nicht geboren, um auf dieser Schaubühne der Eitelkeit ewige Hütten zu erbauen. Weil sein ganzes Leben ein weit edleres Ziel hat, wie schön stimmen dazu nicht alle die Verheerungen, die der Unbestand der Welt selbst in denjenigen Dingen blicken läßt, die uns die größte und wichtigste zu sein scheinen, um uns zu erinnern: daß die Güter der Erden unserm Triebe zur Glückseligkeit keine Genugthuung verschaffen können!« Weiterhin AA 2,42: »Unter diesen Betrachtungen richtet der Weise (aber wie selten findet sich ein solcher!) die Aufmerksamkeit vornehmlich auf seine große Bestimmung jenseit dem Grabe.« »Wir finden die Wege der Vorsehung allemal weise und anbetungswürdig in den Stücken, wo wir sie einigermaßen einsehen können; sollten sie es da nicht noch weit mehr sein, wo wir es nicht können?« 20
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Menschen gesagt wird: »Er würde auch das verachtungswürdigste unter allen [Creaturen] zum wenigsten in den Augen der wahren Weisheit sein, wenn die Hoffnung des Künftigen ihn nicht erhübe, und den in ihm verschlossenen Kräften nicht die Periode einer völligen Auswickelung bevorstände« (NTH A 182 = AA I, 356). Daß der Begriff der ›Freiheit‹ nicht schon in gleicher Weise in den ersten Frühschriften thematisiert wurde, braucht nicht zu überraschen. Freiheit spielt auch später eine Sonderrolle als ratio essendi der Moralität (KpV A 6 Anm.). Als Brücke zwischen dem theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch21 und durch ein »Factum der reinen Vernunft« »bestätigt«22 gehört sie dann in den Begründungszusammenhang für die beiden Postulate der Seelenunsterblichkeit und der Existenz Gottes und liegt insofern auf einer anderen Ebene. Um seine eigene Freiheit zu verteidigen, berühmte Gelehrte zu kritisieren, beginnt Kant seine schriftstellerische Tätigkeit mit einem hohen Lob für Timoleon, der die Freiheit selbst gegen die in Schutz nahm, »die sich ihrer Freiheit sogar wider ihn selber bedienten« (GwS A VI = AA 1,7 f.). Die Erfahrung, »wie weit sich die Freiheit des menschlichen Verstandes erstrecke, bei den augenscheinlichsten Wahrheiten annoch zu zweifeln«, wird in den Gedanken zwar erwähnt, aber nicht weiter verfolgt (GwS A 105 = AA 1,89). Die Freiheit Gottes wird in der Naturgeschichte lediglich angesprochen im Zusammenhang mit der ›gemeinschaftlichen Fläche‹ der Planetenbahnen, aber erst zum Problem im Versuch einiger Betrachtungen über den OptimisKrV A 802 f. / B 830 f.: »Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. […] Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung als eine von den Naturursachen, nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transscendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst […] von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fordert und so fern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung zuwider zu sein scheint und also ein Problem bleibt.« Auf die besondere Bedeutung dieser Stelle hat schon Erdmann 1878 hingewiesen (Kant’s Kritizismus in der ersten und in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, 72). Vgl. Nachträge zur KrV A (AA 13,42): »Die größte Schwierigkeit macht die Freyheit, weil sie ein Wesen, das zur Sinnenwelt gehöret, zugleich mit der intellectualen nach einem gegebenen Gesetze verbindet, und dadurch auch mit Gott.« Vgl. auch Winter: Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants, 329. 22 Vgl. KpV A 9: »dasjenige, was dort [in der KrV] bloß gedacht werden konnte, durch ein Factum bestätigt«. Zum »Factum der Vernunft« als ›Bewußtsein‹ des moralischen ›Grundgesetzes‹ vgl. KpV A 55 f.; KpV A 72: Dieses ›Factum‹ ist »mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden«; vgl. auch KpV A 187. 21
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mus, wo Kant sie als ›gütige Notwendigkeit‹ gegen den angeblichen ›Zwang‹ verteidigt, bei der Schöpfung die beste unter den möglichen Welten wählen zu müssen: »Dank für eine solche Freiheit, die das Beste unter dem, was zu schaffen möglich war, ins ewige Nichts verbannt« (VBO A 8 = AA 2,34). Aber auch bei diesem Thema ist ein zunehmendes Problembewußtsein zu erkennen, das schließlich eine grundsätzliche Lösung erfordert. Zunächst aber stehen die Fragen nach Gott und der Seele im Vordergrund. Bezeichnend ist auch, daß ihm bei der Behandlung der »vier syllogistischen Figuren« vorrangig Beispiele einfallen, die ›die Seele des Menschen‹ und den ›Geist‹ betreffen (FSSF A10 ff. = AA 2,50 ff.). Nachdem in den Gedanken als Lösung für das Problem des ›influxus physicus‹ noch die gemeinsame Anwesenheit ›in einem Orte‹ und im ›Raum‹ angegeben worden war (GwS A 8 ff. = AA 1,20 f.), legt Kant in der Nova dilucidatio ein ›principium coexistentiae‹ vor, nach dem die Beziehungen endlicher Substanzen untereinander nur dadurch möglich seien, daß diese »von dem gemeinsamen Grund ihres Daseins, nämlich dem göttlichen Verstand, in wechselseitigen Beziehungen gestaltet erhalten werden«.23 Diese Erklärung bezeichnet er als ›rerum harmonia universalis‹ und hält sie für einen verbesserten Kontingenzbeweis: »[…] da ohne diese Gemeinsamkeit des Grundes die allgemeine Verknüpfung nicht denkbar wäre, so kann hieraus für eine oberste Ursache aller Dinge, d. h. für Gott und zwar einen einzigen, ein höchst einleuchtendes Zeugnis entlehnt werden, das, wenigstens meiner Meinung nach, jenen Beweis aus der Zufälligkeit wohl bei weitem übertrifft.«24 Auch den physikoPND; AA 1,412 f. Übersetzung nach Insel-Ausgabe 1,497. PND; AA 1,414: »[…] evidentissimum inde depromitur summae omnium rerum causae, i. e. Dei, et quidem unius, testimonium, quod mea quidem sententia demonstrationem illam contingentiae longe antecellere videtur.« Übers. nach Insel-Ausgabe I, 503. Das Argument vorgestellt bereits in der Naturgeschichte (NTH A 78 f. = AA 1,293): »Die Natur ist an vortrefflichen Auswickelungen in dem sich selbst gelassenen Zustande ihrer Kräfte sogar im Chaos fruchtbar, und die darauf folgende Ausbildung bringt so herrliche Beziehungen und Übereinstimmungen zum gemeinsamen Nutzen der Creatur mit sich, daß sie sogar in den ewigen und unwandelbaren Gesetzen ihrer wesentlichen Eigenschaften dasjenige große Wesen mit einstimmiger Gewißheit zu erkennen geben, in welchem sie vermittelst ihrer gemeinschaftlichen Abhängigkeit sich zu einer gesammten Harmonie vereinbaren.« Vgl. NTH A 79 = AA 1,294: »Alle Wesen hängen aus einer Ursache zusammen, welche der Verstand Gottes ist; sie können daher keine andere Folgen nach sich ziehen, als solche, die eine Vorstellung der Vollkommenheit in eben derselben göttlichen Idee mit sich führen.« Die ›durchgängige Harmonie‹ der geschaffenen Dinge 23 24
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theologischen Beweis versucht Kant zu verbessern, indem er im Beweisgrund »Regeln der verbesserten Methode der Physikotheologie« aufstellt,25 die »den Geist wahrer Weltweisheit« enthält und so »ihre Pflichten gehörig« erfüllt (BDG A 147 f. = AA 2,136 f.). Das Schwergewicht dieser Schrift liegt aber in der ausführlichen Behandlung des schon früher vorgelegten eigenen ontologischen Beweises (BDG A 198 f. = AA 2,160 f.) aus dem ›ersten Realgrund‹ aller Möglichkeit überhaupt,26 aus dessen Notwendigkeit er die Einigkeit, die Einfachheit, die Unveränderlichkeit und Ewigkeit des ›notwendigen Wesens‹ als ›Geist‹ herleitet, dem auf seine Weise Verstand und Willen zukommen (BDG A 25-42 = AA 2,81-89). Dieser Beweis könne »vollkommen a priori geführt werden« (BDG A 46 = AA 2,91), sei von »mathematische[r] Evidenz« und könne der »Überzeugung von der großen Wahrheit: es ist ein Gott« »den höchsten Grad mathematischer Gewißheit« (BDG A 188 f. = AA 2,155) verleihen, meint Kant noch in dieser Phase seines Denkens. Immerhin hat er diesen Beweis später nie widerlegt,27 sondern ihn in das ›Ideal‹ der reinen Vernunft transformiert, um jedenfalls die Denknotwendigkeit festzuhalten, nachdem er gegen Ende der sechziger Jahre eingesehen hatte, daß der »erste Realgrund aller Möglichkeit« zunächst auch nur ein gedachter ist. Daß man aber sagen muß: »Es ist ein Gott« bleibt ihm jedoch auch später »die wichtigste aller unserer Erkenntnisse« (BDG A 3 = AA 2,65). Zunächst aber (1764) bleibt er dabei: Unter Bezugnahme auf seinen eigenen ›ontologischen‹ Gottesbeweis, der allerdings kein »Urtheil über seine [Gottes] freie Handlungen, über die Vorauch im Beweisgrund (BDG A 138 = AA 2,132). In KpV A 231 f. wird von der christlichen Sittenlehre gesagt, daß durch ihre Darstellung »Natur und Sitten in eine jeder von beiden für sich selbst fremde Harmonie durch einen heiligen Urheber kommen, der das abgeleitete höchste Gut möglich macht.« 25 BDG A 123 ff. = AA 2,126 f. Vgl. dazu auch Schmucker: Kants vorkritische Kritik der Gottesbeweise. Ein Schlüssel zur Interpretation des theologischen Hauptstücks der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. 26 BDG A 21 f. = AA 2,79: »Indessen bemerke ich nur noch, daß ich dasjenige Wirkliche, durch welches als einen Grund die innere Möglichkeit anderer gegeben ist, den ersten Realgrund dieser absoluten Möglichkeit nennen werde, so wie der Satz des Widerspruchs der erste logische Grund derselben ist«. 27 Vgl. dazu Religion Pölitz (AA 28.2.2,1034) über den früheren Beweisgrund: »Allein widerleget kann er auf keine Weise werden, weil er in der Natur der menschlichen Vernunft seinen Grund hat; denn diese nöthiget mich duchaus, ein Wesen anzunehmen, das der Grund von allem Möglichen ist, weil ich sonst überall nicht erkennen könnte, worin etwas möglich sey.«
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sehung, über das Verfahren seiner Gerechtigkeit und Güte« erlaubt, schreibt er: »Die erste Gründe der natürlichen Gottesgelahrtheit sind der größten philosophischen Evidenz fähig«,28 obwohl für ihn »die Metaphysik […] ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen Einsichten« ist und »noch niemals eine geschrieben worden« sei (UDG A 78 f. = AA 2, 283). Als Beispiel für »Irrthümer«, die dadurch entstehen, daß »man sich zu urtheilen unternimmt, ob man gleich noch nicht alles weiß, was dazu erfordert wird«, nennt er die Seele: auch wenn »der Beweis gut sei«, »daß die Seele nicht Materie sei«, dürfe man nicht daraus schließen, »daß die Seele nicht von materieller Natur sei«, »wovon wirklich noch kein Beweis gegeben worden, der, wenn man ihn ausfindig machte, die unbegreifliche Art anzeigen müßte, wie ein Geist im Raume gegenwärtig sei« (UDG A 90 = AA 2,293). Dieses Thema beschäftigt ihn dann ausführlich in den Träumen eines Geistersehers, wo er die Meinung der ›Schullehrer‹ nicht ungereimt findet: »Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Theile« (TG A 20 = AA 2,325). Denn es sei denkbar, daß eine geistige Substanz, ob sie gleich einfach ist, einen Raum einnehme […], ohne ihn zu erfüllen« (TG A 17 = AA 2, 323). In De mundi sensibilis wird er 1770 dann von einer »praesentia virtualis, non localis« sprechen (MSI A 32 = AA2,414). Er ist »geneigt«, »das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten« und seine »Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen« (TG A 25 = AA 2,327). Er hält seine Seele zwar (noch)29 für eine »einfache Substanz«, läßt es aber unausgemacht, ob sie »materiell, oder ob sie immateriell und folglich ein Geist sei, ja sogar, ob eine solche Art Wesen als diejenige, so man geistige nennt, nur möglich sei« (TG A 14 = AA 2, 322). Deren besondere »Art von Undenklichkeit« könne jedenfalls »nicht als eine erkannte Unmöglichkeit angesehen werden« (TG A 16 = AA 2,323). Geister in UDG A 94 ff. = AA 2,296 f.; vgl. A 95 = AA 2,297: »In allen Stücken demnach, wo nicht ein Analogon der Zufälligkeit anzutreffen, kann die metaphysische Erkenntniß von Gott sehr gewiß sein.« 29 Vgl. Reflexion 5294; AA 18,145: »Es ist lächerlich, die Seele korperlich gedenken zu wollen; denn wir haben den Begrif der substantz nur von der Seele, und den des Korpers bilden wir uns darnach.« (Datierung unsicher: ab 1769?). In Metaphysik Pölitz wird die Substantialität der Seele noch selbstverständlich vorausgesetzt (AA 28.1,285): »daß sie [die Seele] blos leben werde, das folgt schon aus ihrer Substantialität, indem jede Substanz fortdauert, auch die Substanz der Körper«. Ebd. 287: »Dieses ist der einzige Beweis, der a priori kann gegeben werden, der aus der Erkenntniß und der Natur der Seele, die wir a priori eingesehen, hergenommen ist.« Dazu Winter: Der andere Kant, 206 f., Anm. 214. 28
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diesem Sinne unterscheidet er dabei nachdrücklich »von dem unendlichen Geiste, der der Urheber und Erhalter derselben ist« (TG A 12 Anm. = AA 2,321 Anm.). In dieser Schrift wird (nach Swedenborg)30 erstmals der Ausdruck »die immaterielle Welt (mundus intelligibilis)« gebraucht (TG A 30 = AA 2,329) und »als ein für sich bestehendes Ganze« beschrieben, »deren Theile untereinander in wechselseitiger Verknüpfung und Gemeinschaft stehen, auch ohne die Vermittelung körperlicher Dinge« (TG A 31 = AA 2,330). Sie würde »zuerst alle geschaffene Intelligenzen, deren einige mit der Materie zu einer Person verbunden sind, andere aber nicht, in sich befassen« (TG A 35 = AA 2,332). »Die menschliche Seele würde daher schon in dem gegenwärtigen Leben als verknüpft mit zwei Welten zugleich müssen angesehen werden«.31 Das ›würde‹ allerdings schränkt diese Überlegungen ein, weil sie »lediglich aus dem Begriffe von der geistigen Natur überhaupt, der gar zu sehr hypothetisch ist«, geschlossen werden (TG A 39 = AA 2,333). Auch in der Frage nach Gott bestehe ein »starker Verdacht«, »daß die schwache Begriffe unseres Verstandes vielleicht auf den Höchsten sehr verkehrt übertragen worden« seien (TG A 47 = AA 2,337), weil z. B. »die Vorstellung der göttlichen Ewigkeit selbst bei Philosophen den Schein einer unendlichen Zeit« annehme, »so sehr wie man sich auch hütet beide zu vermengen« (TG A 52 = AA 2,339). Hier wird besonders deutlich, wie Kant allmählich die Möglichkeiten und Reichweite der Philosophie am Maßstab der Begriffe über Gott und die Seele mehr und mehr kritisch zu reflektieren versucht. Wolff und Crusius werden nun »Luftbaumeister der mancherlei Gedankenwelten« genannt (TG A 58 = AA 2,342), eine Formulierung, die auf Jonathan Swift zurückgeht,32 nachdem er Crusius bis dahin als ›celeberrimus‹, ›acutissimus‹, ›perspicacissimus‹ oder auch als ›beVgl. Anth A 107 = AA 7,191; Metaphysik Pölitz (AA 28.1,298 f.): »Der Gedanke des Swedenborg ist hierin sehr erhaben. Er sagt: Die Geisterwelt macht ein besonderes reales Universum aus; dieses ist der mundus intelligibilis, der von diesem mundo sensibili muß unterschieden werden.« 31 TG A 36 = AA 2,332. So auch später (KpV A 155): »[…] da es denn nicht zu verwundern ist, wenn der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen in Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung nicht anders als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß.«. Aufgegriffen von Herder und von Kant zitiert in seiner Rezension der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (AA 8,51) »Der jetzige Zustand des Menschen ist wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweier Welten. […] Er stellet uns zwei Welten auf einmal dar, und das macht die anscheinende Duplicität seines Wesens.« 32 Vgl. dazu Winter: Der andere Kant, 76. 30
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rühmt‹ bezeichnet hatte (z. B. PND; AA 1,397 f.,405; BDG A 15 = AA 2,76; VKK A VI = AA 2,169). Selbstkritisch spricht Kant sogar von seinem »anmaßlichen Lehrbegriff von der Geistergemeinschaft« (TG A 77 = AA 2,350) und sagt vom »philosophischen Lehrbegriff von geistigen Wesen«, daß er »im negativen Verstande« vollendet sein könne, »indem er nämlich die Grenzen unserer Einsicht mit Sicherheit festsetzt und uns überzeugt: daß die verschiedene Erscheinungen des Lebens in der Natur und deren Gesetze alles seien, was uns zu erkennen vergönnt ist, das Principium dieses Lebens aber, d. i. die geistige Natur, welche man nicht kennt, sondern vermuthet, niemals positiv könne gedacht werden« (TG A 80 = AA 2,351). Im Anschluß an seine Abhandlung über Swedenborg und dessen ›Arcana caelestia‹ stellt Kant fest: »In so fern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft«. »Ich habe diese Grenze hier zwar nicht genau bestimmt, aber doch in so weit angezeigt, daß der Leser bei weiterem Nachdenken finden wird, er könne sich aller vergeblichen Nachforschung überheben«.33 Damit war das Stichwort für den späteren kritischen Weg gefallen, das ihn hinfort beschäftigen sollte.34 In der Dissertatio von 1770 schreibt Kant dann über den »dissensus inter facultatem sensitivam et intellectualem« (MSI A2 3 = AA 2,389): »Haec autem reluctantia subiectiva mentitur, ut plurimum, repugnatiam aliquam obiectivam, et incautos facile fallit, limitibus, quibus mens humana circumscribitur, pro iis habitis, quibus ipsa rerum essentia continetur.« Dem ›sensibile‹ ordnet er das ›phaenomenon‹ und dem ›intelligibile‹ das ›noumenon‹ zu ( MSI A2 7 = AA 2,392). Zeit und Raum sind die »condicio cognitionis sensitivae, non […] medium ad intuitum intellectualem«, der immer passiv ist im Gegensatz zum göttlichen »intuitus«, »qui obiectorum est principium, non principiatum, cum sit independens, […] archetypus et propterea perfecte intellectualis« (MSI A2 12 = AA 2,396 f.). Und weil die Einheit der Weltsubstanzen als »entia ab alio«, nämlich »ab uno« die Folge (consectarium) dieser Abhängigkeit vom den Einen ist, der nicht nur als Baumeister, sondern zugleich als TG A 116 = AA 2,368. Vorher angekündigt (BDG A 109 = AA 2,119): Grenzen »der Naturforschung«; UDG A 75 = AA 2,279: »Grenzen der Wissenschaften«; vgl. AA 2,310: »der jetzt gedachten Absichten«; TG A 80 = AA 2,351: »unserer Einsicht«; TG A 89 = AA 2,356: »so unkenntlich bezeichnete Grenzen«. Vgl. TG A 118 f. = AA 2,369; MSI A 33 = AA 2,415. 34 Die Kritik der reinen Vernunft sollte nach dem zunächst geplanten Titel über die »Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft« handeln, wie der Briefwechsel ausweist (AA 10,123.129). 33
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Schöpfer (MSI A2 25 f. = AA 2,408) verstanden wird, steht die Welt dem Blick der menschlichen Erkenntniskraft »nur insofern ins Unendliche offen, als sie selber mit allem anderen von derselben unendlichen Kraft eines Einzigen erhalten wird« (MSI A2 27 = AA 2,409; deutsch nach Insel III,79). Das bezieht sich auch auf die sinnlichen Vorstellungen von Raum und Zeit, so daß Kant den Raum als »OMNIPRAESENTIA PHAENOMENON « und die Zeit als »causae generalis aeternitas phaenomenon« bezeichnet, womit er sich der Auffassung von Malebranche angenähert habe, »nämlich daß wir alles in Gott schauen« (MSI A2 28 = AA 2,410; deutsch nach Insel III,81). Dennoch sind Grenzüberschreitungen von der sinnlichen zur intellektualen Erkenntnis (»phaenomenon intellectuatum«) streng zu vermeiden (MSI A2 30 = AA 2, 411 f.), wenn man z. B. Gottes Allgegenwart örtlich und seine Ewigkeit zeitlich versteht und sich so in ein ›unentrinnbares Labyrinth‹ verstrickt (MSI A2 33 = AA 2,414; deutsch nach Insel III,93). Ebenso kann auch »der Seele eine unbedingte und unmittelbare Örtlichkeit abgesprochen und gleichwohl eine hypothetische und mittelbare zuerteilt werden« (MSI A2 38 Nota = AA 2,419 Anm.; deutsch nach Insel III,107). Die spätere generelle Lösung der Antinomienproblematik zeichnet sich bereits (laut Adickes ab 1764 bis spätestens 1771) in Kants Reflexionen über den Tod ab, der nicht von besonderem Belang sei: er »ist nichts anderes, als das Ende der Sinnlichkeit«, wodurch wir »nicht andere Gegenstände, sondern eben dieselbe gegenstande anders (nemlich intellectualiter) und in andern Verhältnissen zu uns gesehen« wahrnehmen werden, also nicht, wie sie uns erscheinen, sondern wie sie wirklich (an sich selbst) sind.35 Von hier aus erscheint die sogenannte kopernikanische Wende keineswegs als Umbruch, sondern als Fortsetzung eines Weges, der nach dem bis dahin zugrunde gelegten Plan nicht mehr weiterführte.
Reflexion 4239; AA 17,473: »Das physische dieses Lebens ist von keiner Bedeutung […] daher müssen wir dieses Leben gringe schätzen. […] Das physische des Lebens bleibt demnach eine Kleinigkeit«. Reflexion 4240; AA 17,474 f.: »Auf diesem fuß ist das Gegenwärtige Leben nur die Erscheinung und das Bild des Geistigen«. 35
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3. Die Kritik Daß die genannte ›Endabsicht‹ der Metaphysik die Zielvorgabe der Vernunftkritik war, bestätigt Kant selbst auf einem Nachlaßblatt, das Adickes auf Anfang der neunziger Jahre datiert hat. Dort schreibt Kant unter der Überschrift: »Von der Veranlaßung der Critik« (Reflexion 6317; AA 18,625 f.): »Nun wird es interessant, die Bedingungen des uns möglichen Erkenntnisses der Dinge nicht zu Bedingungen der Moglichkeit der Sachen zu machen; denn thun wir dieses, so wird Freyheit aufgehoben und Unsterblichkeit, und wir können von Gott keine andere als wiedersprechende Begriffe bekommen. Dieses nöthigt nun, die Moglichkeit, den Umfang und die Grentzen unsers speculativen Erkenntnis =Vermögens genau zu bestimmen, damit sich nicht epicurische Philosophie des ganzen Vernunftfeldes bemächtige und Moral und religion zu Grunde richte, oder wenigstens die Menschen nicht inconseqvent mache. / Uberdem sind Raum und Zeit so nothwendige Bestimmungen a priori der Existenz der Dinge, daß sie nicht allein sammt allen ihnen anhängigen Folgen Bedingungen der Existenz der Gottheit, sondern wegen ihrer Unendlichkeit, absoluten nothwendigkeit und Nothwendigkeit gar zu göttlichen Eigenschaften gemacht werden müßten, wären sie Bestimmungen der Dinge an sich selbst. Denn hat man sie einmal dazu gemacht, so ist kein Grund, warum man sie blos auf endliche Wesen einschränken solle. Die Theologie, damit sie sich nicht selbst wiederspreche, sieht sich genothigt, beyde nur zu der Form unserer Sinlichkeit zu machen und allen Dingen, die von uns erkannt werden konnen, als Phaenomenen, Noumena, die wir nicht kennen, in Ansehung deren aber das Unbedingte allein stattfindet, unterzulegen.« Und auf der Vorderseite desselben Blattes unter der Überschrift: »Von der Critik in Ansehung der Theologie« (623): »Um zu beweisen, daß es für die Vernunft unvermeidlich sey, ein Daseyn Gottes anzunehmen und zwar nach einem Begriffe, der zum theoretischen sowohl als practischen Gebrauch unserer Vernunft, sofern sie auf die letzte Principien a priori ausgeht, hinreichend sey, mußte ich beweisen, daß die speculative Vernunft weder seinen Begrif mit sich selbst einstimmig geben noch ein solches Daseyn oder auch nur die Realität dieses Begrifs darthun könne. – Denn hätte ich das letztere eingeräumt, so hätte ich entweder müssen auf den Gebrauch der Vernunft in ansehung der Erfahrungsgegenstände kommen und, da ich diese für Dinge an sich selbst hätte halten müssen, so wäre ich erstlich auf Antinomien gestoßen, dabey alle speculative Vernunft scheiterte, und endlich hätte ich das Gottliche
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wesen sensificirt und anthropomorphosirt; oder ich hätte alles für Erscheinungen gehalten und nur die Gottheit unter den Dingen an sich selbst durch reine Ontologische Begriffe suchen müssen, wo mir alsdenn gar kein Erkentnis übrig geblieben wäre. Ich mußte also das Unvermögen des blos theoretischen Vernunftgebrauchs hierin darthun, wobey doch noch übrig blieb, daß der dem Begriffe von Gott und seinem Daseyn nicht wiedersprach, anstatt daß sonst gantz falsche Begriffe von Gott und am Ende die Unmoglichkeit, ein solches Wesen zu denken, herausgekommen wäre.« Das hätte ein verklärender Rückblick in die Vergangenheit sein können, wenn dasselbe, jedenfalls bezüglich der Frage nach Gott, nicht in kürzerer Fassung schon in der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft stünde (KrV B 71f.): »In der natürlichen Theologie, da man sich einen Gegenstand denkt, der nicht allein für uns gar kein Gegenstand der Anschauung, sondern der ihm selbst durchaus kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung sein kann, ist man sorgfältig darauf bedacht, von aller seiner Anschauung […] die Bedingungen der Zeit und des Raumes wegzuschaffen. Aber mit welchem Rechte kann man dieses thun, wenn man beide vorher zu Formen der Dinge an sich selbst gemacht hat und zwar solchen, die als Bedingungen der Existenz der Dinge a priori übrigbleiben, wenn man gleich die Dinge selbst aufgehoben hätte? Denn als Bedingungen alles Daseins überhaupt müßten sie es auch vom Dasein Gottes sein. Es bleibt nichts übrig, wenn man sie nicht zu objektiven Formen aller Dinge machen will, als daß man sie zu subjektiven Formen unserer äußeren sowohl als inneren Anschauungsart macht, die darum sinnlich heißt, weil sie nicht ursprünglich, d. i. eine solche ist, durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird (und die, so viel wir einsehen, nur dem Urwesen zukommen kann), sondern von dem Dasein des Objekts abhängig, mithin nur dadurch, daß die Vorstellungsfähigkeit des Subjekts durch dasselbe affiziert wird, möglich ist.« Und in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV A 182): »Hingegen ist es uns ganz leicht, die Bestimmung der göttlichen Existenz als unabhängig von allen Zeitbedingungen zum Unterschiede von der eines Wesens der Sinnenwelt als die Existenz eines Wesens an sich selbst von der eines Dinges in der Erscheinung zu unterscheiden.« Ähnlich heißt es in der Kritik der praktischen Vernunft im Blick auf die Freiheit (KpV A 181): »In der That: wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestim-
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mungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein.« Damit ist (in Abgrenzung gegen die ›Leibniz-Wolffische Philosophie‹; vgl. KrV A 44 / B 61 f.) das entscheidende Motiv für die transzendentale Ästhetik bestimmt. Gegen Locke und Hume (KrV B 127) wird daraufhin in der transzendentalen Logik der Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) auf den Bereich empirischer Erkenntnis beschränkt: sie haben »keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als nur so fern diese als Gegenstände möglicher Erfahrung angenommen werden« (KrV B 147 f.). Das bedeutet, daß auf Objekte einer »nicht = sinnlichen Anschauung« »nicht einmal eine einzige Kategorie angewandt werden könnte; z. B. der Begriff einer Substanz« (KrV B 149). Solche Objekte kann man zwar durch Kategorien ›denken‹, aber nicht ›erkennen‹, da sie nicht durch eine Anschauung ›gegeben‹ werden (KrV B 146, 165; vgl auch KpV A 245; KU B 116 und 435). Anders ist es nur bei den »Kategorien der Freiheit«, die keiner Anschauung bedürfen, weil sie »die Form eines reinen Willens […] als gegeben zum Grunde liegen haben« und »die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen […] selbst hervorbringen« (KpV A 115 f.). Damit ist dem früh geäußerten Streben Kants entsprochen, »die Quellen der Irrthümer zu verstopfen«, um »ein gereinigtes Erkenntniß« (AA 1,469) und allgemein eine ›gereinigte Weltweisheit‹ zu erreichen (BDG A 93 f. = AA 2,113). Ein erster Anwendungsfall ist das »Bewußtsein seiner selbst«, das »keine Erkenntniß von mir, wie ich bin, sondern bloß, wie ich mir selbst erscheine«, darstellt, »unerachtet aller Kategorien, welche das Denken eines Objects überhaupt […] ausmachen« (KrV B 158), also nicht, wie ich mich »erkennen würde«, wenn meine »Anschauung intellectuell wäre« (KrV B 159). Es fällt auf, daß bei diesem Thema die beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft voneinander abweichen, so daß hier eine Verdeutlichung oder auch Weiterentwicklung anzunehmen ist. Ebenso ist die Neufassung des Paralogismus der Seelenlehre in der transzendentalen Dialektik ein Hinweis darauf, daß das Problem insbesondere der Substantialität der Seele Kant auch nach der ersten Auflage weiter beschäftigte. In den Prolegomena wird das Problem bezeichnenderweise offengelassen.36 Es kann angenommen werden Prol A 137 = AA 4,334: »Dieses denkende Selbst (die Seele) mag nun aber auch als das letzte Subject des Denkens, was selbst nicht weiter als Prädicat eines andern Dinges vorgestellt werden kann, Substanz heißen: so bleibt dieser Begriff doch gänzlich leer und ohne alle Folgen, wenn nicht von ihm die Beharrlichkeit als das, was den Begriff der Substanzen in der Erfahrung fruchtbar macht, bewiesen werden kann.« 36
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und wird mit Recht angenommen, daß die »transscendentale Dialektik« in der Kritik der reinen Vernunft nicht ein Ergebnis der transzendentalen Idealismus ist, sondern (nach dem Anstoß der Antinomie-Problematik, zu der auch die Frage nach der »Freiheit« gehört) jenen Schwerpunkt des ganzen Werkes darstellt, auf den hin die »transscendentale Ästhetik« und die »transscendentale Analytik« konzipiert worden sind.37 Ein wenn auch schwacher Hinweis darauf findet sich in der Kritik der praktischen Vernunft, wo Kant den Leser davon »überzeugen« möchte, »wie höchstnöthig, wie ersprießlich für Theologie und Moral jene mühsame Deduction der Kategorien [in der Kritik der reinen Vernunft] war« (KpV A 254). Die ausführliche Behandlung der Gottesfrage in der »transscendentalen Dialektik«, angefangen vom »Ideal der reinen Vernunft« als dem »Inbegriff[e] aller Möglichkeit« (KrV A 573 / B 601) über die Kritik der überlieferten Gottesbeweise bis hin zur »Kritik aller Theologie aus speculativen Principien der Vernunft« (KrV ab A 631 / B 659) belegt das zentrale Interesse Kants an diesem Thema, das er mit seiner Vernunftkritik (oder Disziplin) gegenüber dessen traditoneller Behandlung korrigieren und vertiefen möchte, obwohl seine Bemühungen zunächst als Rückbau erscheinen können und es in den Augen mancher Kritiker auch tatsächlich sind. Es erweist sich indes, daß Kant immer erst dann und dort abbaut, wenn und wo er neue und bessere Möglichkeiten sieht, was manchmal nur aus Andeutungen hervorgeht. Das transzendentale »Ideal« der reinen Vernunft, auf das »alles Denken der Gegenstände überhaupt ihrem Inhalte nach zurückgeführt werden muß, […] ist das einzige Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist, weil nur in diesem einzigen Falle ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimmt und als die Vorstellung von einem Individuum erkannt wird« (KrV A 576 / B 604). Denn wir müssen »die systematische Einheit der Natur durchaus als objektivgültig und notwendig voraussetzen« (KrV A 651, B 679). Ihre Idee ist »unumgänglich notwendig«, und deshalb ist man »nicht allein befugt, sondern auch genöthigt, […] diese Idee zu realisiren, d. i. ihr einen wirklichen Gegenstand zu setzen«, allerdings zunächst nur »als ein Etwas überhaupt, das ich an sich selbst gar nicht kenne«, aber als Grund der systematisch vollständigen Einheit der empirischen Erkenntnis unterstellen muß (KrV A 677 / B 705). Nach Analogie mit einer Intelligenz »müssen« wir sogar »einen einigen weisen und allgewaltigen Welturheber« »voraussetzen«, ohne dabei »das Feld möglicher Erfahrung« zu erweitern (KrV A 697 / 37
Vgl. dazu Winter: Der andere Kant, 280 ff.
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B 725), weil das Prinzip der systematischen Einheit der Natur nur »regulativ« und nicht »konstitutiv« ist (KrV A 693 / B 721) und »als bloß regulativer Grundsatz und [als] Maxime den empirischen Gebrauch der Vernunft durch Eröffnung neuer Wege, die der Verstand nicht kennt, ins Unendliche (Unbestimmte) zu befördern und zu befestigen« geeignet ist (KrV A 679 / B707). Diese so begründete Denknotwendigkeit (Kant benutzt diesen Ausdruck nicht) eines »an sich nothwendigen Urwesens« (ebd.) ist durchaus positiv zu bewerten. Am 4. August 1786 schreibt Kant (AA 8,154): »Es scheint zwar befremdlich, daß wir unsere Begriffe von Dingen an sich selbst nur dadurch gehörig bestimmen können, daß wir alle Realität zuerst auf den Begiff von Gott reduciren und so, wie er darin statt findet, allererst auch auf andere Dinge als Dinge an sich anwenden sollen. Allein jenes ist lediglich das Scheidungsmittel alles Sinnlichen und der Erscheinung von dem, was durch den Verstand, als zu Sachen an sich selbst gehörig, betrachtet werden kann.« So wird eher verständlich, wie Kant es gemeint haben könnte, daß wir, wenn auch anders als Malebranche meinte, alle Dinge in Gott schauen (MSI A2 28 = AA 2,410) Die ›Denknotwendigkeit‹ dient als solide und komplementäre Grundlage für den Wirklichkeitserweis durch die praktische Vernunft, der schon in der ersten Kritik angekündigt wurde (KrV A 641 f. / B 669 f.): »Wenn es eine Moraltheologie geben sollte, die diesen Mangel ergänzen kann, so beweiset alsdann die vorher nur problematische transscendentale Theologie ihre Unentbehrlichkeit durch Bestimmung ihres Begriffs und unaufhörliche Censur einer durch Sinnlichkeit oft genug getäuschten und mit ihren eigenen Ideen nicht immer einstimmigen Vernunft. Die Nothwendigkeit, die Unendlichkeit, die Einheit, das Dasein außer der Welt (nicht als Weltseele), die Ewigkeit ohne Bedingungen der Zeit, die Allgegenwart ohne Bedingungen des Raumes, die Allmacht etc. sind lauter transscendentale Prädicate, und daher kann der gereinigte Begriff derselben, den eine jede Theologie so sehr nöthig hat, bloß aus der transscendentalen gezogen werden.« Darüber hinaus hat Kant die wesentlichen Beweisgänge der Kritik der praktischen Vernunft schon gegen Ende der ersten Kritik skizzenhaft vorgestellt.38 Seine daran anschließende Erörterung des Vernunftglaubens belegt eindrucksvoll sein vorrangiges Interesse, besonders durch das freimütige BeKrV A ab 804 / B ab 832: »Des Kanons der reinen Vernunft Zweiter Abschnitt: Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft«. 38
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kenntnis (KrV A 828 / B 856): »Da also die sittliche Vorschrift zugleich meine Maxime ist, (wie denn die Vernunft gebietet, daß sie es sein soll), so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben und bin sicher, daß diesen Glauben nichts wankend machen könne, weil dadurch meine sittlichen Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein.« Der Schlüssel zur Auflösung aller Antinomien sowohl der spekulativen als auch der praktischen Vernunft und der Urteilskraft liegt für Kant in der Unterscheidung zwischen den Phaenomena und den Noumena, den Erscheinungen und den Dingen an sich selbst betrachtet. Das betrifft in besonderer Weise die Idee der ›Freiheit‹. »Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten« (KrV A 536 / B 564). Es wäre falsch zu sagen, »daß eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur, oder aus Freiheit entspringen müsse«, weil »beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich stattfinden« kann (ebd.). Es gibt Wirkungen, die »in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Nothwendigkeit der Natur angesehen« werden können (KrV A 537 / B 565). Darum kommt der Idee der Freiheit, deren »Möglichkeit wir a priori wissen« (KpV A 5), eine Brückenfunktion zwischen dem intelligibelen Bereich der Dinge an sich selbst und dem sensibelen Bereich der Erscheinungen zu, die in der Kritik der praktischen Vernunft wie ein »Schlußstein von dem ganzen Gebäude« (ebd.) als Vermittlung zwischen dem theoretischen und praktischen Vernunftgebrauch zum Tragen kommt. Nachdem das Faktum der unhinterfragbar vorgegebenen Pflicht zur Moralität die intelligibele Kausalität der Freiheit ›bestätigt‹ (KpV A 9) und ›gleichsam beweist‹,39 kann die »Antinomie der praktischen Vernunft« als Inkongruenz zwischen Tugend und Glückseligkeit (KpV A 204 f.) ihre Auflösung in den Postulaten der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes finden, in denen das Postulat der Freiheit (KpV A 238 und 240) als Voraussetzung einschlußweise enthalten ist (KpV A 219-237). Unter einem »Postulat der reinen praktischen Vernunft« versteht Kant mehr als das Wort vermuten läßt, nämlich »einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz […], sofern er einem a priori KpV A 187. Das moralische Gesetz als ›Factum‹ auch KpV A 56 (3x).72.74.81. 96.187. 39
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unbedingt geltenden praktischen Gesetz unzertrennlich anhängt«.40 Sein Gegenteil würde ein ›absurdum morale‹ oder ›absurdum practicum‹ bedeuten.41 Damit wird die Reichweite der theoretischen Vernunft nicht verlängert, sondern sie erfährt nur insofern eine »Erweiterung« und einen »Zuwachs«, indem sie »genöthigt wurde, daß es solche Gegenstände gebe, einzuräumen« (KpV A 244 f.), die für sie allein lediglich denknotwendige Gegenstände waren: transzendente Ideen und Prinzipien werden nun immanent und konstitutiv (ebd.), allerdings nicht »in theoretischer« (KpV A 242), sondern nur »in praktischer Absicht« (KpV A 240). Da aber die praktische Vernunft der spekulativen vorangeht (›Primat‹; vgl. KpV A 215), ist das kein Nachteil, »weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauch allein vollständig ist.« (KpV A 219). Auf diese Weise sollte dem Ungenügen der bis dahin geübten Philosophie abgeholfen werden, wobei an das bekannte Wort aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu erinnern ist (B XXX): »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit sehr dogmatisch ist.« Damit ist die von uns verfolgte Zielvorstellung angesprochen. Und weiter unten (B XXXII): »[…] der Verlust trifft nur das Monopol der Schulen, keinesweges aber das Interesse der Menschen.« In dieser Vorrede erscheint auch der Begriff des ›Übersinnlichen‹,42 der (mit seinen Ableitungen) erstmals 1786 in der Schrift. Was heißt: Sich im Denken orientiren? (neunmal; AA 8,131–147) und einmal in den Bemerkungen zu Ludwig Heinrich Jakob’s Prüfung der Mendelssohn’schen Morgenstunden verwendet worden war (AA 8,149–155). Er bezeichnet »ein unbegränztes, aber auch unzugängliches Feld für unser gesammtes Erkenntnißvermögen« (KU B XIX) und reicht in seiner Bedeutung vom »übersinnliKpV A 220, vgl. auch 216; dazu Log A 175 = AA 9,112: »Ein Postulat ist ein praktischer, unmittelbar gewisser Satz«. Dazu merkt Kant an (ebd.): »Es kann auch theoretische Postulate geben zum Behuf der praktischen Vernunft. Dieses sind theoretische, in praktischer Vernunftabsicht nothwendige Hypothesen, wie die des Daseins Gottes, der Freiheit und einer andern Welt.« 41 Reflexion 5477; AA 18,193. Auch: ›absurdum pragmaticum‹: Religion Pölitz; AA 28.2.2,267.291 ff. Vgl. auch Winter: Der andere Kant, 331. 42 KrV B XXI. Im Briefwechsel erscheint der Begriff erst im folgenden Jahr 1789 (AA 12,7.20.39.46.76). 40
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chen Substrat der Erscheinungen« (KU B 237), den »Sachen an sich selbst« (KpV A 98), über den menschlichen Verstand,43 die Freiheit (MSR A 48 = AA 6,239), die Gesinnung (RGV B 99 Anm. = AA 6,74 f. Anm.), die moralische Anlage (RGV B 48 = AA 6,44; SF A 84 = AA 7,54), die Moralität (VTP A 406 Anm. = AA 8,397 Anm.), den ›moralischen Endzwecks‹ und die ›Bedingungen seiner Ausführbarkeit‹ (KU B 467), die ›intelligibele Welt‹ (KpV A 78), zur ›übersinnlichen‹ Natur vernünftiger Wesen (KpV A 74) bis hin zu ›Gott‹ (KpV A 100.246) als übernatürlichem ›Realgrund‹ (KU B 352). Auf das ›Übersinnliche‹ zielt der ›Vernunftglaube‹, der »dem Grade nach keinem Wissen nachsteht«, auch wenn er »der Art nach davon völlig verschieden ist« (WDO A 320 = AA 8,141). »Wenn also der Vernunft in Sachen, welche übersinnliche Gegenstände betreffen, als das Dasein Gottes und die künftige Welt, das ihr zustehende Recht zuerst zu sprechen bestritten wird: so ist aller Schwärmerei, Aberglauben, ja selbst der Atheisterei eine weite Pforte geöffnet« (WDO A 322 = AA 8,143). Im zweiten Entwurf zur Preisschrift für das Jahr 1791 wird das dritte Stadium der künftigen Metaphysik als »Praktischdogmatischer Überschritt zum Übersinnlichen« beschrieben, der die »transscendenten Ideen« des Übersinnlichen »in uns, über uns und nach uns« betrifft, nämlich die »Freyheit«, »Gott« und die »Unsterblichkeit« (FM A 105 f. = AA 20,293 ff.). Der Begriff des ›Übersinnlichen‹ (237 mal lt. Wortindex in den Druckschriften) bezeichnet deutlicher als die Rede vom ›Übernatürlichen‹ und seinen Ableitungen (107 mal vor allem in den frühen und dann wieder in den späten Schriften) Kants Bestreben, einen legitimen Weg zu finden, über die Grenzen der Sinnlichkeit hinauszusehen. So »erklärt sich auch allererst das Räthsel der Kritik, wie man dem übersinnlichen Gebrauche der Kategorien in der Speculation objective Realität absprechen und ihnen doch in Ansehung der Objecte der reinen praktischen Vernunft diese Realität zugestehen könne« (KpV A 8). Die einmal »eingeleitete objective Realität« der Freiheit als »eines reinen Verstandesbegriffs im Felde des Übersinnlichen giebt nunmehr allen übrigen Kategorien, obgleich immer nur so fern sie mit dem Bestimmungsgrunde des reinen Willens (dem moralischen Gesetze) in nothwendiger Verbindung stehen, auch objective, nur keine andere als blos praktisch = anwendbare Realität« (KpV A 99). »Hier ist nun«, schreibt Kant, KU B 92: »ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist […] und dessen Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat untergelegt wird«. 43
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»ein in Vergleichung mit der speculativen Vernunft blos subjectiver Grund des Fürwahrhaltens, der doch einer eben so reinen, aber praktischen Vernunft objectiv gültig ist, dadurch den Ideen von Gott und Unsterblichkeit vermittelst des Begriffs der Freiheit objective Realität und Befugniß, ja subjective Nothwendigkeit (Bedürfniß der reinen Vernunft) sie anzunehmen verschafft wird, ohne daß dadurch doch die Vernunft im theoretischen Erkenntnisse erweitert, sondern nur die Möglichkeit, die vorher nur Problem war, hier Assertion wird, gegeben und so der praktische Gebrauch der Vernunft mit den Elementen des theoretischen verknüpft wird« (KpV A 6 f.). »Der einzige Begriff der Freiheit verstattet es, daß wir nicht außer uns hinausgehen dürfen, um das Unbedingte und Intelligibele zu dem Bedingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsere Vernunft selber, die sich […] als zur reinen Verstandeswelt gehörig […] erkennt« (KpV A 189 f.). Es sind die Antinomien der theoretischen und praktischen Vernunft sowie der Urteilskraft, die als »Schlüssel« aus dem »Labyrinthe« (KpV A 193) »wider Willen nöthigen, über das Sinnliche hinaus zu sehen, und im Übersinnlichen den Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen a priori zu suchen: weil kein anderer Ausweg übrig bleibt, die Vernunft mit sich einstimmig zu machen« (KpV A 239). Das Praktische aber ist dasjenige, »welches uns über die Sinnenwelt hinaushilft und Erkenntnisse von einer übersinnlichen Ordnung und Verknüpfung« verschafft, jedenfalls soweit das in praktischer Absicht erforderlich ist (KpV A 190). Die Beschränkung auf das moralisch-Praktische stellt sich für Kant jedenfalls als Gewinn dar: konnte auf spekulativem Wege physisch bzw. metaphysisch nur auf Gott als »einen weisen, gütigen, mächtigen etc. Urheber der Ordnung, Zweckmäßigkeit und Größe« der Welt geschlossen werden, so ermöglicht der praktische Vernunftgebrauch nun einen »genau bestimmten Begriff dieses Urwesens« als des »höchsten Wesens« und als »eines Welturhebers von höchster Vollkommenheit«, der »allwissend«, »allmächtig«, »allgegenwärtig, ewig« und allgütig ist (KpV A 251 f.), während der spekulative Vernunftgebrauch das »Ideal des allerrealsten Wesens« nur durch ›erlaubte‹ Hypothesen und aufgrund eines »dringenden Bedürfnisses der Vernunft« »zuerst realisirt«, »darauf hypostasirt« und »sogar personificirt« KrV A 583 / B 611), wodurch die »objective Realität« dieser Idee aber »noch lange nicht bewiesen« sei (KrV A 592 / B 620). Im Ergebnis identifiziert sich Kant offenbar mit dem Bekenntnis des ›Rechtschaffenen‹ (KpV A 258 f.): »[…] ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Naturverknüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich
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auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen; denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urtheil unvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zu achten, so wenig ich auch darauf zu antworten oder ihnen scheinbarere entgegenzustellen im Stande sein möchte.« Ein solcher »reiner praktischer Vernunftglaube« ist »nicht geboten«, aber »mit dem theoretischen Bedürfnisse der Vernunft einstimmig[e]« und »ein Beförderungsmittel dessen, was objectiv (praktisch) nothwendig ist« (KpV A 263). Auf dieser Grundlage sucht Kant dann in der Kritik der Urtheilskraft, dem »Verbindungsmittel der zwei Theile der Philosophie zu einem Ganzen« und dem »Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft« (KU B XX f.), die Reflexion der unvermeidlichen Hauptaufgaben der Metaphysik noch weiter voranzutreiben. Bis an sein Lebensende ist er aber ehrlich genug, nie mit dem Erreichten zufrieden zu sein. Als dem »Vermögen der Subsumtion des Besondern unter das Allgemeine« (EEKU Nachlaß; AA 20,201) kommt dem Urteil der Urteilskraft jedenfalls in ihrer reflektierenden Funktion durch ihr Prinzip »a priori von der Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer empirischen Gesetzmäßigkeit überhaupt« »Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit« zu (EEKU Nachlaß; AA 20,243). Sie macht »den Übergang von dem Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich«, indem sie dem »übersinnlichen Substrat« der Natur, das der Verstand nur anzeigen konnte, »Bestimmbarkeit durch das intellectuelle Vermögen« verschafft, so daß die Vernunft ihm »durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung« geben kann (KU B LVI). In der Analytik des Erhabenen, »mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist« (KU B 84), dient die Vorstellung der furchterregenden Macht Gottes dazu, zu erklären, daß »die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserm Gemüthe enthalten« ist, weil der Mensch bei der Betrachtung der göttlichen Größe nur dann über die Furcht erhoben wird, wenn »er eine dessen Willen gemäße Erhabenheit der Gesinnung bei sich selbst erkennt« (KU B 108). Dabei gilt grundsätzlich, daß die »Lust am Erhabenen der Natur […] ein anderes Gefühl, nämlich das seiner übersinnlichen Bestimmung« voraussetzt, »welches, so dunkel es auch sein mag, eine moralische Grundlage hat« (KU B 154). Bei der teleologischen Betrachtungsweise aber würden die Grenzen zwischen der Metaphysik und der Naturwissenschaft nicht eingehalten werden, wenn man »für die Naturwissenschaft und in ihren Context
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den Begriff von Gott hereinbringt, um sich die Zweckmäßigkeit in der Natur erklärlich zu machen, und hernach diese Zweckmäßigkeit wiederum braucht, um zu beweisen, daß ein Gott sei: so ist in keiner der beiden Wissenschaften innerer Bestand« (KU B 305). Die philosophische Erkenntnis des Endzwecks (scopus) der Natur bedarf allerdings einer »Beziehung desselben auf etwas Übersinnliches […], die alle unsere teleologische Naturerkenntniß weit übersteigt; denn der Zweck der Existenz der Natur selbst muß über die Natur hinaus gesucht werden« (KU B 299). Und weil wir es »unentbehrlich nöthig« haben, »der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen«, findet »die Teleologie keine Vollendung des Aufschlusses für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie« (KU B 334 f.). Obwohl die Urteile der reflektierenden Urteilskraft nur regulativen Charakter haben, müssen wir uns, »um die Möglichkeit einer solchen Zusammenstimung der Dinge der Natur zur Urtheilskraft […] wenigstens denken zu können, […] einen andern Verstand denken, in Beziehung auf welchen, und zwar vor allem ihm beigelegten Zweck«, damit wir »jene Zusammenstimmung der Naturgesetze mit unserer Urtheilskraft, die für unsern Verstand nur durch das Verbindungsmittel der Zwecke denkbar ist, als nothwendig vorstellen können« (KU B 348). Denn es ist »uns schlechterdings unmöglich, aus der Natur selbst hergenommene Erklärungsgründe für Zweckverbindungen zu schöpfen, und es ist nach der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnißvermögens nothwendig, den obersten Grund dazu in einem ursprünglichen Verstande als Weltursache zu suchen« (KU B 353 f.), für den als intellectus archetypus »das Ganze den Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Theile« enthält (KU B 349). Hier bewährt sich auf einer anderen Ebene die frühere Lösung der commercium-Problematik, indem die reflektierende Urteilskraft aus subjektiver Notwendigkeit die mechanische (wirkursächliche) Naturbetrachtung und die teleologische (endursächliche) Erklärung nur durch Rückgriff auf ein »gemeinschaftliche[s] Prinzip« im »Übersinnlichen«, nämlich einen »obersten Verstand[e]« und eine »absichtlich wirkende Ursache« vereinigen muß (KU B 355–363), in der »der Mechanism[s] der Natur« und die »Causalität derselben nach Zwecken« als ihrem »einzigen oberen Princip zusammenhängen« (KU B 358) und von ihm abhängen (KU B 335). »Wir können uns die Zweckmäßigkeit, die selbst unserer Erkenntniß der inneren Möglichkeit vieler Naturdinge zum Grunde gelegt werden muß, gar nicht anders denken und begreiflich machen, als indem wir sie und überhaupt die Welt uns als ein Product einer verständigen Ursache (eines Gottes) vorstellen« (KU B 337). Nur so findet die Antinomie der
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teleologischen Urteilskraft ihre Lösung (KU B 313–316). Unter dieser Perspektive wird die Physikotheologie erneut überprüft mit dem Ergebnis, daß sie »eine mißverstandene physische Teleologie« sei, »nur als Vorbereitung (Propädeutik) zur Theologie brauchbar, und nur durch Hinzukunft eines anderweitigen Princips […] zu dieser Absicht zureichend« (KU B 410). Diese Ergänzung leistet eine »Ethicotheologie«, die »auch für sich hinreichend« ist, die für unsere Vernunft notwendige Beziehung der Naturzwecke »auf eine verständige Weltursache, ein Princip, die Natur und Eigenschaften dieser ersten Ursache, als obersten Grundes im Reiche der Zwecke, zu denken und so den Begriff derselben zu bestimmen«, nämlich als »Intelligenz und gesetzgebend für die Natur« und »auch als gesetzgebendes Oberhaupt in einem moralischen Reich der Zwecke«; als ein »Urwesen«, das »allwissend«, »allmächtig« und »allgütig« ist und auch alle übrigen »transscendentalen Eigenschaften, als Ewigkeit, Allgegenwart, usw.« besitzt (KU B 413 f.). »Auf diese Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der physischen und gründet allererst eine Theologie« (KU B 414). Der in der Kritik der Urtheilskraft vorgelegte »moralische[n] Beweis[e] des Daseins Gottes« soll nun den »Fortschritt der Vernunft von jener moralischen Teleologie und ihrer Beziehung auf die physische zur Theologie« darstellen (KU B 420). Der sachliche Fortschritt gegenüber dem Beweisgang des Gottespostulates in der Kritik der praktischen Vernunft ist nicht ohne weiteres ersichtlich. In der Kritik der Urtheilskraft wird unter der Perspektive einer »moralische[n] Teleologie« unser Weltbezug als »mit anderen Dingen in der Welt verbundene Wesen« (KU B 419) gegenüber der eher auf das Individuum abgehobenen Argumentation der Kritik der praktischen Vernunft zugrunde gelegt, in der »Tugend und Glückseligkeit zusammen den Besitz des höchsten Guts in einer Person […] das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen«, was als »das Ganze, das vollendete Gute« bezeichnet (KpV A 199) und als »das ganze Object der reinen praktischen Vernunft, die es sich notwendig als möglich vorstellen muß«, vorgestellt wird (KpV A 214). In beiden Argumenten gilt Gott als Voraussetzung: in der Kritik der praktischen Vernunft, um die Möglichkeit des Zusammenhanges »zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit« sicherzustellen, der als das »höchste Gut in der Welt« »nothwendig postulirt« wird (KpV A 224 f.); in der Kritik der Urtheilskraft, als Voraussetzung, »um uns einen Endzweck vorzusetzen«, den wir »in praktischer Absicht der Schöpfung beizulegen genöthigt« sind und dem »nachzustreben« uns »aufgegeben« ist »als Pflicht« (KU B 423 f., 434 f., 439). Der Endzweck wird angegeben und »in
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Ansehung seiner Bedingungen« bestimmt durch die praktische Vernunft (KU B 430 f.) als das »höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt« (KU B 423). Beide Fassungen des Arguments sind zweistufig. In der Kritik der Urtheilskraft wird dies ausdrücklich angegeben: der erste Schluß geht auf einen »Endzweck der Schöpfung«, im zweiten muß ein »moralisches Wesen als Welturheber, mithin ein Gott angenommen werden« (KU B 433). In der Kritik der praktischen Vernunft wird aus der »Pflicht […] das höchste Gut als »das nothwendige Object eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens« (KpV A 219) zu befördern (KpV A 226), zunächst das Postulat der Unsterblichkeit der Seele und dann (als Bedingung ihrer Möglichkeit) mit moralischer Notwendigkeit das Dasein Gottes abgeleitet: So sei »das Postulat der Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) zugleich das Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes.« Das wurde übrigens mit derselben Terminologie bereits an zwei Stellen der Kritik der reinen Vernunft in beiden Auflagen ausgeführt (KrV A 810 f. / B 838 f. und A 814 / B 842). Auf die umstrittene Funktion des Begriffs des höchsten Guts und seines verpflichtenden Charakters kann hier nicht eingegangen werden.44 Wegen der unbedingten Verbindlichkeit des Sittengesetzes und der unvermeidlichen Frage nach den Konsequenzen bei seiner Befolgung scheint die Bezugnahme auf das höchste Gut mindestens in der Kritik der praktischen Vernunft verzichtbar zu sein, wie Kants Ausführungen in der Metaphysikvorlesung nach Pölitz belegen, wo nur von der faktischen Disproportion zwischen Moralität und Glückseligkeit die Rede ist.45 Zudem dürfte das darauf beschränkte Argument stärker sein als seine Fassung in der Kritik der Urtheilskraft. Der gedankliche Fortschritt besteht aber in jedem Fall in der ausgeweiteten teleologischen Sichtweise, auch wenn es sich, wie Kant selbst zugibt, nur um »ein subjectiv, für moralische Wesen, hinreichendes Argument« handelt (KU 425 Anm.). Der »von uns zu bewirkende Endzweck« als »Effect[s] des gesetzmäßigen Gebrauchs unserer Freiheit« »zusamt den einzigen für uns denkbaren Bedingungen« seiner »Möglichkeit, nämlich dem Dasein Gottes und der Seelen-Unsterblichkeit« ist allerdings »bloße Glaubenssache der reinen Vernunft« (KU B 457 ff.). Ein so begründeter moralischer Vernunftglaube aber könnte selbst ein »Postulat der Vernunft« heißen; weil solches »Fürwahrhalten« »dem Grade nach keinem 44 45
Vgl. dazu Winter: Der andere Kant, 358 ff. Metaphysik Pölitz; AA 28.1,317–320, angedeutet schon 288 f.
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Wissen nachsteht« (WDO A 320 = AA 8,141 f.); er ist »als Wegweiser oder Compaß« und »praktische Überzeugung« für den »speculative[n] Denker« »oft fester als alles Wissen« (ebd. und Log A110 = AA 9,72). So führt die moralische Teleologie »auf das, was zur Möglichkeit einer Theologie erfordert wird, nämlich auf einen bestimmten Begriff der obersten Weltursache nach moralischen Gesetzen« und damit »auch unmittelbar zur Religion, d. i. der Erkenntniß unserer Pflichten, als göttlicher Gebote« (KU B 476 f.), aber sie verhindert gleichzeitig, daß Theologie zur Theosophie entartet und die rationale Psychologie zur ›Pneumatologie‹ (KU B 442 f.). Bezüglich der »Idee der Freiheit« stellt Kant gegen Ende der Kritik der Urtheilskraft aber sogar fest, daß sie sich »unter den Thatsachen« findet: Sie ist »die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Thatsache ist und unter die scibilia mit gerechnet werden muß« (KU B 457). Mit der Abfassung der Kritik der Urtheilskraft wollte Kant, wie er am Schluß der Vorrede zur ersten Auflage erklärt, sein »ganzes kritisches Geschäft« beenden (KU B X). Die beabsichtigte Darstellung einer kritisch geläuterten Metaphysik und die Erfüllung ihrer höchsten Aufgaben war damit aber noch nicht verbunden. So läßt sich die Spur seines Gundanliegens in den späteren Schriften weiter verfolgen, was hier nur noch angedeutet werden kann.46 In der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft löst Kant die »merkwürdige Antinomie der menschlichen Vernunft mit ihr selbst« zwischen dem Glauben an das »Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit (den Sohn Gottes) an sich selbst« und »dasselbe Urbild in der Erscheinung (an den Gottmenschen)«, indem er feststellt, daß hierbei »dieselbe praktische Idee (,) nur in verschiedener Beziehung genommen« sei, wobei einmal »das Urbild als in Gott befindlich« und »ein andermal« »als in uns befindlich« vorgestellt werde, so daß die Antinomie »nur scheinbar« sei.47 In dieser Schrift betont Kant ausdrücklich die Eigenständigkeit der christlichen Offenbarungsreligion, die als der äußere zweier konzentrischer Kreise (RGV B XXI f. = AA 6,12) nicht auf den inneren Kreis der ›Vernunftreligion‹ beschränkt ist, wofür der So wird das Thema der Freiheit noch in der Metaphysik der Sitten vielfältig aufgegriffen, und auch die Bedeutung der Religion reflektiert. Im Streit der Fakultäten wird der Ort der theologischen Fakultät innerhalb der Universität behandelt und es werden dabei Fragen der Offenbarung und der Bibelinterpretation erörtert. 47 RGV B 168-176 = AA 6,116 –119. Vgl. dazu Tilliette: Philosophische Christologie, 105 ff. und 234 ff. 46
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Deismus weitgehend eingetreten war, sondern einen eigenen kostbaren und bei einem etwaigen Verlust unwiederbringlichen Gehalt aufweist. Es ist der durchgehaltene Respekt vor den Grenzen der Vernunftreligion, wenn Kant angesichts der Unzulänglichkeit des Menschen zur Realisierung des höchsten Guts vom »Abgrund des Geheimnisses« spricht, »was Gott hiebei thue, ob ihm überhaupt etwas und was ihm (Gott) besonders zuzuschreiben sei«, während der Mensch nur wisse, »was er selbst zu thun habe, um jener ihm unbekannten, wenigstens unbegreiflichen Ergänzung würdig zu sein« (RGV B 210 f. = AA 6,139). Eine solche Ergänzung aber ist erforderlich, weil die Pflicht »der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts« »von einer einzelnen Person […] allein nicht bewirkt wird«, sondern nur durch die Gründung eines »ethischen gemeinen Wesens« als ein »Volk Gottes« erreicht werden kann, das aber, da es nicht auf bloße Legalität der Handlungen, sondern auf (innere) Moralität gestellt sein muß, nicht von Menschen gestiftet werden kann, sondern nur durch einen obersten »Gesetzgeber«, »in Ansehung dessen alle wahren Pflichten […] zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen, welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen und […] jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen« (RGV B 137 ff. = AA 6,98 f.). Aus diesem Grund ist auch ein ›historischer (Offenbarungs =)Glaube‹ über den reinen Vernunftglauben hinaus unersetzlich und wegen der menschlichen Unzulänglichkeit eigentlich auch unverzichtbar.48 Damit hat Kant, ohne es so zu nennen, ein weiteres Gottesargument vorgelegt und damit RGV B 148 = AA 6,104. Zur Offenbarung (SF A XIX = AA 7,9): »weil sie den theoretischen Mangel des reinen Vernunftglaubens, den dieser nicht abläugnet, z. B. in den Fragen über den Ursprung des Bösen, den Übergang von diesem zum Guten, die Gewißheit des Menschen im letzteren Zustande zu sein u. dgl., zu ergänzen dienlich und als Befriedigung eines Vernunftbedürfnisses dazu nach Verschiedenheit der Zeitumstände und der Personen mehr oder weniger beizutragen behülflich ist.«. Zur Bibel (AA 23,451): »So lange Aufklärung in der Welt bleibt wird nie ein für das Volk in Sachen der Religion schicklichers und kräftiges Buch angetroffen werden«. Weiter (452): »Das Entstehen der Bibel als eines Volksbuchs ist die größte Wohlthat die dem menschlichen Geschlechte je wiederfahren ist«; »und wenn es ja Wunder geben soll so ist dieses Buch […] das größte Wunder selbst«. Schließlich (454): »Die Bibel enthält in sich selbst einen in practischer Absicht hinreichenden Beglaubigungsgrund ihre[r] Göttlichkeit«, so daß sie »die einzige heilige Schrift zu heißen und in unabsehliche Zeiten zu bleiben geeignet ist« (453); »Keine Theophilanthropische Gemeinde theologische Mystik wird den Mangel derselben ersetzen« (453). 48
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gleichzeitig sein fortdauerndes Interesse auch an der Offenbarung kundgetan. Die zahlreichen positiven Äußerungen Kants zur Bibel und zum Christentum (nicht zu seinen Zerrformen) auch in seinen Vorarbeiten und nachgelassenen Reflexionen belegen dies eindrucksvoll. Von manchen Interpreten wird angenommen, daß Kant in seinen letzten Lebensjahren die hier beschriebene Orientierung aufgegeben habe, was sich besonders im Opus postumum zeige.49 Undeutliche und ungeschützte Formulierungen mit Entwurfscharakter mögen dazu Anlaß geben. Eigentlich wollte Kant nur »eine noch übrige Lücke« »im System der crit. Philos.« ausfüllen unter dem Titel: »Uebergang von den metaph. A. Gr. [Anfangsgründen] der N. W. [Naturwissenschaft] zur Physik«.50 Abgesehen davon, daß eine religiöse Kehrtwende Kants in seinen letzten Lebensjahren psychologisch nicht sehr wahrscheinlich ist,51 läßt sich im Gegenteil auch der Versuch einer positiven Weiterentwicklung in der Frage nach Gott belegen. Grundsätzlich steht sie um 1800 weiterhin an erster Stelle: »Die höchste Stufe der Transsc: Philos. d. i. der synthetischen Erkentnis aus reinen Begriffen (a priori) liegt in der zwiefachen Aufgabe: 1. Was ist Gott? 2. Ist ein Gott? […] Die Zweyte Aufgabe der reinen Vernunft heißt: Was ist Gott? Der Transsc: Phil. höchster Standpunkt Transsc. Theologie« (OP; AA 22, 63). Schon rein äußerlich fällt auf, daß die Frage nach Gott ausführlicher behandelt wird, als es die angeVgl. Förster: Die Wandlungen in Kants Gottesidee, 362: »Die Postulatenlehre in ihrer klassischen Form ist im Opus postumum endgültig verabschiedet«. Ders.: »Was darf ich hoffen?« Zum Problem der Vereinbarkeit von theoretischer und praktischer Vernunft bei Immanuel Kant, 185: »Zu hoffen gäbe es demnach in Kants abschließender Bestimmung des Transzendentalphilosophie nichts mehr.« 50 So in den Briefen Kants an Christian Garve vom 21. September 1798 und an Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetter vom 19. Oktober 1798 (AA 12,256–259). 51 Vgl. z. B. den Briefentwurf an König Friedrich Wilhelm II nach dem 12. Oktober 1794: »vornehmlich in meinem 71sten Lebensjahre, wo der Gedanke sich von selbst aufdringt, daß es wohl seyn könne, ich müsse dereinst einem herzenskundigen Weltrichter davon Rechenschaft ablegen« (AA 11,529 f.); leicht abgeändert wiedergegeben in der Vorrede zum Streit der Fakultäten 1798 (AA 7,9 f.): »weshalb ich auch jetzt in meinem 71sten Lebensjahre, wo der Gedanke leicht aufsteigt, es könne wohl sein, daß ich für alles dieses in kurzem einem Weltrichter als Herzenskündiger Rechenschaft geben müsse«. Besonders aufschlußreich der letzte persönliche Brief Kants vom 9. April 1803, in dem er an Friedrich Stuart, den Verlobten seiner ›Brudertochter‹ schrieb (AA 12,346): »Empfangen Sie, Beyde Verlobte, statt meines verstorbenen Bruders hiemit meinen väterlichen Segen, der Sie und alle Meinigen, zu welchen ich von nun an Ew. Wohlgebohrnen zu zählen, die Ehre habe, gewiß begleitet.« 49
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zielte Thematik verlangen würde, was der Index der Akademieausgabe belegt (OP; AA 22,672–675). Nach meiner Einschätzung geht es Kant bei den besonders umstrittenen Stellen um einen bis dahin weniger beachteten Aspekt. Bei seinen nicht aufgegebenen Bemühungen um einen reineren Gottesbegriff will er die Immanenz52 des transzendenten Gottes deutlicher in den Blick nehmen, eine Perspektive, die Fichte dann zu vertiefen und weiterzudenken versucht hat. Etwa seit dem Jahr 1800 beschäftigte sich Kant erneut mit dem Problem der Substantialität Gottes. Im Konvolut VII finden sich zunächst tastende und uneinheitliche Formulierungen zum Thema: »est Deus in nobis« (OP; AA 22, 130), die dann im spätesten Konvolut I lauten: »Dieses Gebietende Wesen ist nicht ausser dem Menschen als vom Menschen unterschiedene Substanz« (OP; AA 21,21), oder: »ich der Mensch bin selbst dieses Wesen und dieses ist nicht etwa eine Substanz ausser mir« (OP; AA 21,25), oder schließlich über die »active Vorstellung von Gott. Nicht als einer besonderen Persönlichkeit Substanz außer mir sondern Gedanke in mir« (AA 21,154). Daß die transzendente Verwendung der Kategorie ›Substanz‹ sich für den theoretischen Vernunftgebrauch verbietet, ist nicht neu. ›Gott außerhalb‹ würde außerdem eine räumliche Vorstellung beinhalten, die Gott nicht zukommt und seine Allgegenwart nicht ernst nimmt: Transzendenz und Immanenz sind keine sensibilia im Sinne der Kritik. Parallele Stellen im Opus postumum sprechen für diese Interpretation.53 Schließlich schreibt Kant auch gegen Ende des spätesten 1. Konvoluts zum Thema der Substantialität Gottes: »Ob diese auch dem höchsten Wesen zukomme übersteigt unsere Begriffe« (OP; AA 21,152). Jedenfalls könnte man in diesen Überlegungen den Versuch sehen, Gott und Seele als die zentralen Themen seiner Philosophie zusammenzudenken: »Gott in der Seele des Menschen« (OP; AA 22,120) im »All der Wesen«, »weil ein Einiges Wesen alles Daseyn begründen muß« : »Sein Name ist heilig seine Hochschätzung ist Anbetung und sein Wille allvermögend« (OP; AA 21,52, im spätesten 1. Convolut).
Unter dem Stichwort »Immanenz« im Index von AA 22,678 heißt es: »s. Transzendenz«. Dieses Stichwort ist jedoch nicht verzeichnet, statt dessen heißt es unter »transcendent«: »transcendent / immanent« mit zwei Fundstellen (727). 53 Zum Beispiel AA 22, 48.61.109.122 f.,125.128.131.301; AA 21,13.136.144.150.152. 52
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4. Folgerungen Die am Ziel orientierte Entwicklung des Kantschen Philosophierens samt ihren Wegen und Umwegen läßt sich anhand der Werke mit ihren unterschiedlichen Themen nur sehr unscharf rekonstruieren, weil die jeweilige systematische Darstellung in den verschiedenen Phasen eigenen Gesetzen unterliegt. Für die Interpretation ist es jedoch von Belang, mit der im Hintergrund verlaufenden Interessenrichtung zu rechnen, um auch von daher, soweit erkennbar, einen Text einzuschätzen. Darum verbietet es sich auf jeden Fall, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aus der Sicht eines Werkes oder eines Abschnitts daraus auf den ganzen Kant zu schließen, was leider gelegentlich geschieht.54 Für die Beurteilung der bekannten terminologischen Schwankungen oder auch Ungereimtheiten hilft es zu wissen, worauf es Kant eigentlich ankam, was ihm wichtig war und warum er auf den Ausdruck weniger Sorgfalt verwandte. Ein Wechsel der Argumentation muß nicht das Aufgeben früherer Zugänge bedeuten, wenn das nicht aliunde zu sichern ist: es kann sich aus der Sicht auf das Ganze als die Suche nach neuen Wegen und Aspekten handeln, wobei manchmal frühere Positionen nicht einfach aufgegeben, sondern neu eingeordnet wurden. Kant wollte von Anfang an die allgemeine ›Heeresstraße‹ vermeiden (GwS A IX = AA 1,10) und einen »haud calcatum tramitem« betreten (PND; AA 1,387), und er war sich dessen durchaus bewußt, daß »sich auf einer unbetretenen Bahn Fehltritte« zutragen können (NG A 39 = AA 2,189). Dabei bleibt natürlich Kritik am Aufbau und an der Sytematik möglich; aber etwaige Mängel oder Unzulänglichkeiten der Darstellung, die ergänzungsbedürftig erscheinen, werden manchmal vom Grundanliegen her betrachtet verständlicher, weil Kant im Blick auf das Ziel nur die ›Zurüstungen‹ vornahm, von denen er annahm, daß sie am ehesten zu diesem Ziel führen konnten. Ein weiterer Ausbau der Systematik war ihm aus dieser Perspektive gesehen weniger wichtig. Das zu bedenken und zu berücksichtigen sollte diese Untersuchung anregen.
So versucht z. B. Sans in seiner Dissertation: Ist Kants Ontologie naturalistisch? Die »Analogien der Erfahrung« in der »Kritik der reinen Vernunft« aus einem untergeordneten Teilbereich der Kritik der reinen Vernunft auf Kants ›Ontologie‹ zu schließen und sie zu beurteilen; vgl. dazu die Rezension von Winter (Theol. Revue 99, 2003, 257–260). 54
Denken des ›Übersinnlichen‹ bei Kant Zu Herkunft und Verwendung einer Schlüsselkategorie seiner praktischen Metaphysik von Clemens Schwaiger
1. Einleitung: Zum Stand der Forschung Im Zuge seiner Arbeiten an der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik blickt Kant gegen Mitte der 90er Jahre in einer denkerischen Lebensbilanz auf seine problembeladene Liebe zur Metaphysik zurück. Sein spannungsreiches Verhältnis zur einstigen Königin der Wissenschaften hat im Laufe der Zeit schon manche Umkippung erlebt. Doch selbst im Herbst seines Denkens wartet Kant noch mit einer Neuerung auf, nämlich mit einer Definition der Metaphysik, die bei ihm vorher so gar nicht zu finden ist. Sie sei »die Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten«.1 Freilich liegt eine solche Formulierung dem ursprünglichen Wortsinn anscheinend nahe: Ist Metaphysiker nicht gerade derjenige, der über alle Gegenstände möglicher Erfahrung (›trans physicam‹: meta! ta! fysika1) hinauszugehen versucht? 2 Kants späte Begriffsbestimmung lag am Ende des 18. Jahrhunderts offenbar in der Luft. Metaphysik wird damals etwa bei Reinhold in einer prägnanten Kurzformel als »Wissenschaft des Uebersinnlichen« begriffen;3 FM A 9 f. = AA 20,260. Vgl. Caimi: Zu Kants Entwurf einer metaphysica specialis, 104: »Kant scheint, aus welchen Gründen auch immer, jetzt entschlossen, wie einst Sokrates eine ›zweite Schiffahrt‹ in jenes uferlose Meer [der Metaphysik] zu unternehmen.« 2 Vgl. FM A 158 f. = AA 20,316; vgl. Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik (AA 20,3352–3). Vgl. auch Winter: Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants, 493: »Kant will mit seiner kritischen Philosophie keineswegs das ›Übersinnliche‹ abwerten, sondern er sucht im Gegenteil nach der Legitimität eines Überschritts ins Übersinnliche«. 3 Reinhold: Versuch einer Beantwortung der von der erlauchten Königl. Ak. der Wis1
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›übersinnlich‹ ist mehr oder minder synonym zu ›metaphysisch‹. Dieses Metaphysikverständnis ist dann nicht zuletzt im Gefolge von Kants Preisschrift bis in die Gegenwart hinein maßgebend geblieben, auch wenn man jetzt meist dagegen ankämpft.4 Selbst wer Vergangenes überwinden oder destruieren möchte, setzt es zunächst einmal voraus. So bezeichnet etwa für Heidegger »Metaphysik in ursprünglicher Bedeutung genommen die Erkenntnis des übersinnlich Seienden, d. h. des Seienden, das hinausliegt und sofern es hinausliegt über das Sinnliche«.5 Aber so traditionell der Terminus des Übersinnlichen heute klingen mag, so wenig versteht er sich, begriffsgeschichtlich gesehen, von selbst. Der Freiburger Philosophiehistoriker Anselm Model hat vor einiger Zeit in einer bahnbrechenden Studie mit Nachdruck auf die relative Neuheit dieser Wortprägung aufmerksam gemacht: sie gehöre weder dem Sprachgut der Bibel noch dem der klassischen Metaphysik an. Erst der reife Kant habe dem besagten Begriffsgebrauch zum Durchbruch verholfen; auf ihn lasse sich insbesondere auch die Assoziation von ›Metaphysik‹ mit ›übersinnlich‹ zurückführen. Zwar komme der Ausdruck vom Geistesraum der Theosophie und Mystik her, da er schon bei Jacob Böhme im frühen 17. Jahrhundert zu belegen sei; aber seine eigentliche Beheimatung in der philosophischen Fachterminologie verdanke sich eben keinem Geringeren als Kant.6 Der wortstatistische Befund im Kantschen Œuvre selbst gibt ebenfalls zum Erstaunen Anlaß: das Adjektiv ›übersinnlich‹ bzw. das Substantiv ›das sensch. zu Berlin aufgestellten Frage: »Was hat die Metaphysik seit Wolff und Leibnitz gewonnen?«, 210. Von einer »Wissenschaft des Uebersinnlichen« ist bereits bei Schultz die Rede, vgl. Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft, 143.147. 4 Vgl. als aktuelles Beispiel Buchheim: Was sind metaphysische Fragen?, bes. 100– 102. Zwar gelte uns die Metaphysik herkömmlich als Suche nach der Erkenntnis des Übersinnlichen, d. h. als Frage nach dem, was dem Sinnlichen zuvor- und zugrundeliege, aber die metaphysischen Interessen könnten ebensogut (oder sollten noch besser) auf das Sinnenfällige gerichtet sein. 5 Heidegger: Vom Wesen der menschlichen Freiheit, 204. 6 Vgl. Model: Zu Bedeutung und Ursprung von ›übersinnlich‹ bei Immanuel Kant; jetzt ergänzend ders.: Anmerkungen zum Terminus ›übersinnlich‹ bei Jacob Böhme und Immanuel Kant. Als Gesamtübersicht ferner Enders: ›Übersinnlich; das Übersinnliche‹. – Zwar mag es der Sache nach bereits im Mittelalter eine der wichtigsten Fragen der Metaphysik gewesen sein, wie eine Erkenntnis des Übersinnlichen möglich sei (so z. B. Steel: Der Adler und die Nachteule. Thomas und Albert über die Möglichkeit der Metaphysik, 4 f.), aber zumindest in begriffsgeschichtlicher Hinsicht muß eine solche Problemformulierung als anachronistisch gelten.
Denken des ›Übersinnlichen‹ bei Kant
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Übersinnliche‹ tauchen in den Druckschriften überhaupt erst ab dem Jahre 1786 auf. Als Erstzeuge ist hier von kaum zu überschätzender Bedeutung der programmatische Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientiren? vom Herbst dieses Jahres, in dem auch sonst viele wichtige Motive der Folgezeit erstmals anklingen. Nachdem der Terminus aber einmal in den Kantschen Wortschatz Eingang gefunden hat, begegnet er in seinen Veröffentlichungen sage und schreibe 237mal.7 Dabei besitzt er keineswegs eine vorwiegend negative, abschätzige Färbung, wie man das aufgrund von Kants lebenslanger Polemik gegen alle philosophischen Luftikusse vielleicht vermuten möchte. Mit der späteren Usurpierung durch Spiritisten aller Couleur hat der Kantsche Wortgebrauch sichtlich nichts am Hut.8 Gegenüber solchen nachfolgenden Verfremdungen soll hier nach Möglichkeit die anfängliche Sagkraft der seinerzeit noch frischen, unverbrauchten Begrifflichkeit wiedergewonnen werden. Um Kants Aussageabsicht besser erhellen zu können, gilt es, seine Wortwahl präziser im Kontext spätaufklärerischer Diskussionen zu verorten. Eine grundlegende Lücke in Anselm Models zwar überaus verdienstvollen, aber keineswegs schon erschöpfenden Untersuchungen ist jedenfalls darin zu sehen, daß die große zeitliche Kluft zwischen Böhme und Kant nahezu unausgefüllt bleibt. In den gut eineinhalb Jahrhunderten zwischen beiden Denkern vollzieht sich offenkundig eine weitgehende Säkularisierung des zunächst rein religiösen Begriffs.9 Böhmes Vgl. Martin (Hrsg.): Allgemeiner Kantindex zu Kants gesammelten Schriften 17, 907; zum frühesten bzw. überaus häufigen Vorkommen vgl. Winter: Der andere Kant, 491– 493. Der Verfasser widerspricht sich allerdings selbst, wenn er andernorts behauptet (278 u. 347 f.), der Begriff des ›Übersinnlichen‹ werde von Kant in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 (B XXI) zum allerersten Mal verwendet, nicht schon in dem erwähnten Artikel in der Berlinischen Monatsschrift vom Oktober 1786. 8 Obwohl Kant in den Träumen eines Geistersehers bekanntlich mit brillantem Sarkasmus gegen den Okkultismus seiner Zeit zu Felde gezogen ist, hat man später sogar ihn, den Begründer der kritischen Philosophie, für eine ›mystische Weltanschauung‹ zu vereinnahmen gesucht. Gegen eine derartige Verbiegung des Anti-Swedenborgianers setzt sich Paul von Lind: »Kant’s mystische Weltanschauung«, ein Wahn der modernen Mystik. Eine Widerlegung der Dr. C. du Prel’schen Einleitung zu Kant’s Psychologie mit gutem Grund zur Wehr, denn (92): »Kants Loosung im Uebersinnlichen heisst eben immer noch: Vernunft.« 9 Einzelne Interpreten, die Kant in die Nähe der mystischen Tradition rücken, gehen sogar so weit, seine gesamte Transzendentalphilosophie als »einen großangelegten Versuch der Säkularisierung der Mystik« aufzufassen; dies die These von Stamer: Der intelligible Charakter und die übersinnliche Natur, 124. 7
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spirituelle Sehnsucht nach dem übersinnlichen Leben besteht darin, »daß ich GOtt sehe und höre reden«.10 Der Mensch komme erst dann in seinen übersinnlichen Grund, wenn er seine Eigen-Sinnlichkeit breche und sich dem Willen Gottes ergebe. Die Tatsache, daß eine kritische Distanz zum veräußerlichten Kirchenchristentum beide Autoren verbindet,11 ist als Begründung zu wenig, um Kants Aneignung des fraglichen Terminus zu erklären, zumal völlig offen ist, ob und inwieweit Kant mit Böhmes einschlägigem Schrifttum überhaupt bekannt war. Auch die Annahme einer eventuellen Vermittlung Böhmeschen Gedankenguts an Kant durch den Pietismus12 bleibt solange bloße Vermutung, als nicht konkrete Quellen dafür namhaft gemacht werden können. Einen direkten Anhaltspunkt für weiterführende Forschungen liefert demgegenüber Models Hinweis, daß das gesuchte Schlüsselwort unmittelbar vor Kant wenigstens beiläufig schon in Moses Mendelssohns Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (1785) anzutreffen ist.13 Denn damit ist ein Fingerzeig dafür gegeben, daß die tieferen Gründe für die baldige Konjunktur der Vokabel wohl in den geistigen Erschütterungen des sogenannten Pantheismusstreits zwischen Mendelssohn und Jacobi zu suchen sind, in den Kant ja mit seinem Orientierungsaufsatz vermittelnd bzw. stellungnehmend eingreift. Zwar teilte Kant mit den beiden Hauptkontrahenten den Endzweck der Metaphysik, einen Weg vom Sinnlichen zum Übersinnlichen zu finden, aber an der Art des Übergangs schieden sich die Geister.14 Aber noch bevor dieser Jahrhundertstreit in aller Schärfe entbrennt, macht ein anderer Autor, dem unter dieser Rücksicht in der Literatur noch keinerlei Beachtung geschenkt worden ist, die übersinnlichen Begriffe zu den tragenden Grundbegriffen der Metaphysik: nämlich Johann August Eberhard, der enge Freund Mendelssohns und entschiedene Gegner Kants. Im folgenden soll diese bislang verdeckt gebliebene Quelle zunächst eingehender dargestellt und interpretiert werden, da entgegen Models These bereits hier vor Kant das 10
Böhme: De vita mentali oder Vom übersinnlichen Leben (1622), 144; vgl. ebd.
144 f. Vgl. Model: Anmerkungen, 158. Vgl. ebd. 160; Model: Bedeutung, 188 f. 13 Vgl. ebd. 160 f.; Model: Bedeutung, 185. Sein Verweis auf Mendelssohn: Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, 56, ist zu berichtigen (recte: 48) sowie zu ergänzen (zusätzlich: 45). 14 Vgl. Euler: ›Orientierung im Denken‹: Kants Auflösung des Spinoza-Streits. 11 12
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Übersinnliche zu einer zentralen Kategorie philosophischer Reflexion erhoben und eng mit dem Selbstverständnis der Metaphysik verkoppelt wird. Sodann soll Kants erstmalige Denkorientierung im Übersinnlichen im genannten Aufsatz von 1786 näher untersucht werden, da der Zugang zum Feld des alle sinnliche Erfahrung Übersteigenden inzwischen zum großen Zankapfel für die gelehrte Welt geworden ist. So sehr Kant mit Eberhard das Vernunftbedürfnis anerkennt, auf dem schlüpfrigen Boden des Übersinnlichen festen Halt zu gewinnen, lehnt er dennoch die vorgebliche Erkennbarkeit dieses für den Menschen mit tiefer Nacht erfüllten Bereichs als überschwenglich und schwärmerisch ab. Eine in diesem Punkt detaillierte Erörterung der ab Ende der 80er Jahre öffentlich ausgetragenen Kontroverse mit Eberhard soll dazu dienen, Kants kritische Selbstbeschränkung menschlicher Vernunft in bezug auf übersinnliche Gegenstände noch genauer zu fassen. So geeignet Eberhards Kontrastmodell erscheint, Kants Begriffsverwendung schärferes Profil zu verleihen, wird mit dem gewählten Lektüreschlüssel jedoch keineswegs der Anspruch erhoben, das Thema schon in all seinen mannigfachen Facetten ausgeleuchtet zu haben.
2. Übersinnliche Begriffe als Gegenstand der Metaphysik bei Johann August Eberhard Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ist der Hallenser Philosophieprofessor Johann August Eberhard wohl der führende Kopf der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie in Deutschland. Anstelle Kants, der den ehrenvollen Ruf an die Friedrichs-Universität ausgeschlagen hatte, zum Nachfolger des 1777 verstorbenen Georg Friedrich Meier bestellt, vertritt er im wesentlichen die Metaphysik von dessen Lehrmeister Alexander Gottlieb Baumgarten. Nicht nur legt er seinen Vorlesungen als Lehrbuch die erfolgreiche Metaphysica (1739) des Ästhetikbegründers zugrunde, was bekanntlich auch Kant getan hat, sondern er versucht darüber hinaus durch eine Neuauflage der Meierschen Übersetzung dieses Werks ein philosophisches Gegengewicht zur aufkommenden Kantschen Vernunftkritik zu schaffen.15 Vgl. dazu den aufschlußreichen, namentlich auf Kant eingehenden »Vorbericht zur neuen Auflage« von Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik [Übersetzt von Georg Friedrich Meier. Neue, vermehrte Auflage hrsg. v. Johann August Eberhard]. Halle 15
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Eberhard schließt sich zunächst ganz Baumgartens origineller Definition von Metaphysik an: diese sei »die Wissenschaft der ersten Erkenntnißgründe in der menschlichen Erkenntniß« (»scientia primorum in humana cognitione principiorum«).16 Bemerkenswert ist der starke epistemologische Einschlag dieser Begriffsbestimmung: Gerade im Hinblick auf Kants kopernikanische Wende zum erkennenden Subjekt muß es erstaunen, daß schon Baumgarten (und ihm folgend Eberhard) die Metaphysik in eine Quasi-Erkenntnistheorie verwandeln. Diese gnoseologische Umwendung springt bei einem Vergleich mit Wolffs noch ganz gegenstandsorientierter Definition in die Augen, wonach Metaphysik die Wissenschaft vom Seienden, von der Welt im allgemeinen und von den Geistern ist.17 Baumgartens vornehmliches Bestreben bei dieser erkenntnistheoretischen Selbstreflexion des Menschen war es, gegenüber dem traditionellen Vorrang der rationalen Erkenntnis der sinnlichen Erkenntnis zu größerem Recht zu verhelfen. Zu diesem Zweck führte er bekanntermaßen die Ästhetik als eine selbständige Wissenschaft sensitiven Erkennens neu in den philosophischen Fächerkanon ein. Demgegenüber geht es Eberhard in erster Linie um die Sicherung derjenigen Erkenntnisse, die über den Gesichtskreis des Sinnlichen hinausliegen, mag man sich hier auch auf zunächst unbefestigtem Boden bewegen. Denn »das Werk der Philosophie«, so fordert Eberhard schon in seiner Hallenser Antrittsvorlesung vom Jahre 1778, müsse »eine Erkenntniß seyn, die deutlicher und gewisser ist, als die Erkenntniß der Sinne, die Wissenschaft der nothwendigen übersinnlichen Wahrheiten.«18 1783 (11766). Eine v. Vf. betreute historisch-kritische Ausgabe dieses Bandes ist derzeit im Rahmen der ersten Abteilung der Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung (Stuttgart–Bad Cannstatt) in Vorbereitung. 16 Baumgarten: Metaphysik, 1 (§ 1) bzw. ders.: Metaphysica. Halle 41757 (11739), 1 (§ 1) [wiederabgedruckt in: AA 17,2316]; übernommen von Eberhard: Kurzer Abriß der Metaphysik mit Rücksicht auf den gegenwärtigen Zustand der Philosophie. Halle 1794, 1 (§ 1). Nach dem »Vorbericht« soll dieses Kompendium gar »nichts neues enthalten, sondern das System in der lichtvollen und natürlichen Ordnung, worin es A. G. Baumgarten vorgetragen, bald zusammenziehen, bald etwas erweitern« (III f.). 17 Vgl. Wolff: Discursus praeliminaris de philosophia in genere. Einleitende Abhandlung über Philosophie im allgemeinen, 86: »Est igitur Metaphysica scientia entis, mundi in genere atque spirituum.« Mit Recht betont Casula: La metafisica di A. G. Baumgarten, 85 f., daß die zitierte, für Baumgarten sehr bezeichnende Auffassung von Metaphysik noch nirgendwo in den Quellen aufscheint. 18 Eberhard: Von dem Begriffe der Philosophie und ihren Theilen, 23. Dieser zwar 2
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Der näheren Umschreibung dieser Aufgabe dient eine ausgebaute Begriffsklassifikation, die allem Anschein nach auf Eberhard selbst zurückgeht. Demnach gibt es drei Arten von Begriffen: ›Sinnliche Begriffe‹ erhalten wir unmittelbar durch die äußeren Sinne, ›außersinnliche Begriffe‹ unmittelbar durch den inneren Sinn, ›übersinnliche Begriffe‹ schließlich durch Abstraktion von den beiden erstgenannten. Außersinnliche Begriffe und übersinnliche Begriffe werden ihrerseits noch einmal unter der Bezeichnung ›unsinnliche Begriffe‹ zusammengefaßt, weil sie beide – im Gegensatz zu den sinnlichen Begriffen – Gegenstand der Metaphysik sind.19 Diese originäre Einteilung weist einerseits mit ihrer terminologischen Rückbindung an die sinnliche Erfahrung auf Baumgarten hin, orientiert sich aber andererseits vor allem am Vorbild von Leibniz, der sich besonders »in die metaphysischen Reviere des Unsinnlichen« erhoben habe.20 Den direkten Anstoß für die Ausarbeitung der neuen Sprachregelung könnte schließlich der mit Eberhard eng befreundete, aus derselben Philosophietradition herkommende Moses Mendelssohn gegeben haben, der ebenfalls schon früh den »kühne[n] Schritt aus der sinnlichen Welt in die Uebersinnliche« gewagt hatte.21 Es bleibt die Frage aufzuwerfen, wann und wie, wenn überhaupt, Kant mit Eberhards hier in Umrissen skizzierter Begriffsbildung zum Übersinnlichen als dem eigentlichen Betätigungsfeld der Metaphysik bekannt geworden ist. Quellengeschichtliche Fragestellungen dieser Art lassen sich naturgemäß nur etwas krause, aber für die geschichtliche Entwicklung sehr aussagekräftige Vortragstext, in dem der zukunftweisende Terminus ›übersinnlich‹ bereits wiederholt an zentraler Stelle fällt, hat in der Literatur leider nur selten Beachtung gefunden; eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, ist Paolinelli: I motivi della polemica antikantiana di J. A. Eberhard, 66 f. 19 Vgl. Baumgarten: Metaphysik, 1 (Scholion zu § 1 [ = Zusatz von Eberhard gegenüber der Meierschen Erstauflage]); Eberhard: Kurzer Abriß, 2 f. (§§ 3–4); vgl. auch Eberhard: Von dem Begriffe, 39 f. 20 Eberhard: Leben des Freyherrn von Leibnitz, 16; vgl. ders.: Gottfried Wilhelm Freyherr von Leibnitz, 118; vgl. auch schon Eberhards Rezension zur Erstedition von Leibniz’ Nouveaux essais in: Allgemeine deutsche Bibliothek 3,2 (1766), 44–82, hier 45. 21 Mendelssohn: Über die Sprache, 22. Die Herausgeberin Eva J. Engel vermutet, daß diese seinerzeit unveröffentlichte Abhandlung, die Eberhard jedoch zu Gesicht bekommen haben dürfte, wahrscheinlich schon im Jahre 1756 oder kurz danach entstanden ist (vgl. XVII f.). Zur philosophischen Einordnung des zitierten Passus vgl. Ulrich Ricken: Mendelssohn und die Sprachtheorien der Aufklärung, 224.
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äußerst schwer beantworten. Immerhin kann als Tatsache festgehalten werden, daß Kant Mitte der 80er Jahre, mithin vor seinem am Ende des Jahrzehnts ausbrechenden öffentlichen Grundsatzstreit mit Eberhard, sein Kolleg über natürliche Theologie nach dem Kompendium des Hallenser Philosophenkollegen gehalten hat. In der 1781 erschienenen Vorbereitung zur natürlichen Theologie stößt man aber gleichfalls mehrfach auf das fragliche Attribut, ist doch für Eberhard die Gotteserkenntnis geradezu das Paradebeispiel einer übersinnlichen Erkenntnis.22 Inzwischen freilich hatte die Auseinandersetzung zwischen Mendelssohn und Jacobi um den rechten philosophischen Zugang zum Reich übersinnlicher Wahrheiten ungeahnte Ausmaße angenommen, so daß sich auch Kant zu einem Orientierungsversuch genötigt sah.
3. Die Suche nach Orientierung im Übersinnlichen angesichts der Desorientierung im Pantheismusstreit Es ist geschichtlich wohl kaum ein Zufall, sondern entspricht sowohl der Herausforderung der Stunde wie der Logik der Sache, wenn Kant in seinen Publikationen erstmals, und dann gleich gehäuft, in seinem Beitrag zur Frage Was heißt: Sich im Denken orientiren? vom Oktober 1786 vom Begriff des ›Übersinnlichen‹ Gebrauch macht. In der Forschungsliteratur ist man sich über die herausragende Bedeutung dieser kleinen Schrift für die (Weiter-)Entwicklung der kritischen Lehren einig. Der philosophische Gehalt dieser von den Zeitgenossen mit höchster Spannung erwarteten Positionierung Kants im Spinozismusstreit reicht weit über den Tagesanlaß hinaus.23 Das Auftreten unseres Themenbegriffs ist typisch für eine Premiere: Einerseits wird hier der Grundstein für Kants folgende, durchaus zustimmende und keineswegs ablehnende Rezeption des Terminus gelegt. Andererseits kommt es dabei zu einem einmaligen, später nicht wieder erreichten Höhepunkt in seiner Verwendung. Denn die Rede vom Übersinnlichen wird in singulärer Weise mit der (ebenfalls neuen) Problematik des Sich-Orientierens im Denken verknüpft. Kant zufolge haben wir Menschen ein unabweisbares Vgl. Eberhard: Vorbereitung zur natürlichen Theologie, 7.20; AA 18,51936 .52034 . 54734 ; vgl. auch Eberhard: Von dem Begriffe, 47–51. 23 Vgl. etwa die umfangreiche Einleitung zu der von Philonenko veranstalteten französischen Ausgabe: Qu’est-ce que s’orienter dans la pensée. Commentaire, traduction, notes et index, 15–74. 22
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Bedürfnis der Vernunft, uns »im unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfülleten Raume des Übersinnlichen […] zu orientiren.« Daher rührt die Suche nach einem »Wegweiser oder Compaß, wodurch der speculative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientiren« kann.24 In der kurz zuvor zwischen Mendelssohn und Jacobi aufgebrochenen Debatte war nicht nur diese oder jene Frage, sondern das orientierende Richtmaß allen Denkens selbst strittig geworden, was eine weitreichende Desorientierung nach sich zog. Kant sucht die verlorengegangene Übersicht wiederzugewinnen, und zwar zunächst durch eine philosophische Vertiefung des Orientierungsgedankens selbst. Daher erklärt sich die eigenartige titelgebende Frage Was heißt: Sich im Denken orientiren? 25 Schon Mendelssohn hatte, wenngleich eher unauffällig und noch unterminologisch, den Begriff des Sich-Orientierens ins Spiel gebracht. In einer Schlüsselpassage der Morgenstunden bekennt er: »So oft mich meine Spekulation zu weit von der Heerstraße des Gemeinsinns abzuführen scheinet, so stehe ich still und suche mich zu orientiren. Ich sehe auf den Punkt zurück, von welchem wir ausgegangen, und suche meine beide Wegweiser zu vergleichen.«26 Bei dieser Empfehlung, Streitigkeiten zwischen spekulativer Philosophenvernunft und gemeinem Menschenverstand bis auf ihren Ausgangspunkt zurückzuverfolgen, bleibt freilich eigentümlich offen, woran man sich denn in Zweifels- und Konfliktfällen zu halten vermag. Demgegenüber beansprucht Kant, in seiner Vernunftkritik den gesuchten Orientierungspunkt gefunden zu haben. Wie schon die geographische Orientierung, so könne auch die geistige Orientierung bei aller Angewiesenheit auf objektive Daten auf einen subjektiven Unterscheidungsgrund nicht verzichten. Um eine bestimmte Himmelsrichtung zu finden, muß ich mich ja nicht nur nach dem Stand der Sonne richten, sondern auch auf meinen eigenen Standort Bezug nehmen. Wie bei der Orientierung im Raum, so ist es Kant zufolge auch bei der Orientierung im Denken: Wenn die Vernunft WDO A 311 = AA 8,137 und A 320 = AA 8,142; vgl. ebd. A 307 = AA 8,134. Zu den philosophischen Wurzeln des Orientierungsbegriffs vgl. etwa Stegmaier: ›Was heißt: Sich im Denken orientieren?‹ Zur Möglichkeit philosophischer Weltorientierung nach Kant; Orth: Orientierung über Orientierung. Zur Medialität der Kultur als Welt des Menschen. 26 Mendelssohn: Morgenstunden, 82; vgl. ders.: An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobi Briefwechsel über die Lehre des Spinoza, 198, 202 u. 211. 24 25
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sich über alle Grenzen der Erfahrung erweitern will, kann sie sich nicht mehr nach objektiven Gründen der Erkenntnis bestimmen. Infolgedessen bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als die Maßstäbe irgendwie aus sich selber zu nehmen.27 Zur Klärung der Frage, ob und wie der Mensch gegebenenfalls zu einer Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände gelangen kann, ist daher mit einer genauen Analyse seines Erkenntnisvermögens zu beginnen. Bei dieser Selbstkritik der Vernunft kann es dann sein, daß ihr »in Ansehung des Übersinnlichen durch strenge Kritik die Flügel beschnitten werden« müssen.28 Kritische Philosophie hat das metaphysische Denken von allen Versuchungen des Überschwangs zu reinigen. Deutlich gegen Jacobi gewandt, besteht Kant darauf, es gebe »keine überschwengliche Anschauung unter dem Namen des Glaubens, worauf Tradition oder Offenbarung, ohne Einstimmung der Vernunft, gepfropft werden kann«.29 In der Frage, ob die Vernunft als ausschlaggebendes Kriterium für Behauptungen im Felde des Übersinnlichen akzeptiert wird, liegt für Kant letzten Endes der springende Punkt in den ganzen Debatten des Pantheismusstreits.30 Der Versuch dagegen, absolute Gewißheit für von der Vernunft nicht nachprüfbare Behauptungen zu beanspruchen, ist als ›überschwenglich‹ zurückzuweisen.31 Damit hat Kant erneut einen der Vgl. zum Ganzen WDO A 307–311 = AA 8,134–137. Einige Bemerkungen von Herrn Professor Kant (aus Ludwig Heinrich Jakobs Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden) A LI = AA 8,151 (vgl. WDO A 323 Anm. = AA 8,143 Anm.). In der Schrift seines Hallenser Gefolgsmannes Ludwig Heinrich Jakob, für die Kant dieses Begleitschreiben verfaßte, wird übrigens ausgiebig vom Begriff des ›Übersinnlichen‹ Gebrauch gemacht, und zwar – ganz im Sinne Kants – kritisch begrenzend; vgl. Jakob: Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise für das Daseyn Gottes, XX.XXV.XXXIV f., XLVI.13.16. Dies könnte ein Indiz dafür sein, daß sich der Kantianer Jakob gerade auch vom Mendelssohnianer Eberhard polemisch absetzt. Denn Eberhard hatte währenddessen in einer ausführlichen Besprechung der Hauptschriften zum Spinozismusstreit in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek 68 (1786), 311–379 klar für Mendelssohn gegen Jacobi Partei ergriffen. 29 WDO A 306 = AA 8,134. – Jacobi scheint den Begriff des ›Übersinnlichen‹, soweit ich sehe, nur im späteren Rückblick auf den von ihm ausgelösten Streit verwendet zu haben; vgl. Jacobi: Schriften zum Spinozastreit, bes. 340–342 (Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, ›Vorbericht‹ zur dritten Auflage von 1819, XX–XXV). 30 Vgl. WDO A 322 = AA 8,143. 31 Vgl. FM A 16 f., 41.111.121 f.,149 = AA 20,262 f.,272.296 f.,300.310; KU § 89, B 439 f. = A 434; SF A 65 = AA 7,46. 27 28
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Sprache der Mystik entstammenden Terminus aufgegriffen, diesmal aber – der ursprünglich positiven religiösen Verwendung ungeachtet – mit eindeutig negativer Konnotation.32 Der Kritizismus möchte also, auch wo das Übersinnliche, d. h. über das Sinnliche Hinausreichende, zu seinem Thema wird, »zum Schwärmen ins Überschwengliche nicht den mindesten Vorschub« geben (KpV A 100). In der Grenzbestimmung des reinen Vernunftvermögens sieht Kant vielmehr das einzige sichere Mittel, alle Schwärmerei mit der Wurzel auszurotten.33
4. Die kritische Selbstbeschränkung menschlicher Vernunft bezüglich übersinnlicher Gegenstände. Kants offene Kontroverse mit Eberhard Die lange schon schwelenden Spannungen zwischen den philosophischen Häuptern von Königsberg und Halle kamen schließlich zum Ausbruch, als der streitbare Eberhard im Herbst 1788 mit dem Philosophischen Magazin eine eigene Zeitschrift zur Widerlegung des Kritizismus gründete und Kant zu Ostern 1790 mit einer (nicht nur im Titel) polemischen Gegenschrift antwortete: Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll.34 Noch ganz in diesen
Vgl. Zachhuber: ›Überschwenglich‹. Ein Begriff der Mystikersprache bei Immanuel Kant; ders.: ›Überschwang‹. Der Verfasser sieht in dem religiösen Best- und Longseller Die überschwengliche Erkentniß Jesu Christi (Halle 1731) des Pietisten Johann Liborius Zimmermann ein entscheidendes Bindeglied zwischen der klassischen Mystik und Kant. 33 Vgl. WDO A 323 f. Anm. = AA 8,143. – Der Vorwurf der ›Schwärmerei‹ wurde damals so ziemlich gegen alles und jedes erhoben. Die Gegner im Spinozismusstreit schlugen sich diese Anklage jedenfalls wechselseitig um die Ohren. Auch in diesem Fall ist Kant, obwohl nicht einfach über den Parteien stehend, um eine philosophische Begriffsklärung bemüht: Schwärmerei sei die »Maxime der Ungültigkeit einer zu oberst gesetzgebenden Vernunft« (WDO A 327 = AA 8,145) oder – drastischer formuliert – »ein Wahn […], über alle Grenze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d. i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen) zu wollen« (KU § 29, B 125). 34 Herkömmliche Darstellungen dieses klassischen Konfliktes kranken zumeist daran, daß sie die umfangreiche Vorgeschichte, die im vorangehenden anhand eines ausgewählten Schwerpunktes skizziert wurde, nicht (ausreichend) berücksichtigen. Dies gilt noch jüngst für Gawlina: Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen 32
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Gedankenkreis einer Grundsatzdiskussion zwischen Leibniz-Wolffscher und Kantscher Spätphilosophie gehört ferner, gewissermaßen als Schlußwort von Kants Seite, die eingangs zitierte Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik.35 Bezüglich der hier erörterten Thematik dreht sich die Auseinandersetzung vor allem um die grundlegende Frage, wie Sinnliches und Übersinnliches überhaupt voneinander zu unterscheiden sind. Kants Haupteinwand gegen Eberhard könnte man vielleicht so formulieren: Was nicht sinnlich ist, muß deswegen noch lange nicht übersinnlich sein. Nur weil etwas das konkrete Vorstellungsvermögen eines Menschen übersteigt, braucht es noch keineswegs außerhalb der Sphäre der Sinnlichkeit zu liegen. Kant ironisiert das von Eberhard gebrauchte Standardbeispiel des Tausendecks: Da man dieses in der Anschauung kaum von einem Neunhundertneunundneunzigeck unterscheiden könne, müsse man fürchten, daß auch beim Neuneck die Schwelle vom Sinnlichen zum Übersinnlichen schon gut zur Hälfte überschritten sei.36 Geometrische Gegebenheiten verbleiben hingegen für Kant, unabhängig vom Grad ihrer sinnlichen Faßbarkeit, stets im Bereich der Anschauung. Eberhard wird vorgeworfen, eine Zweideutigkeit im Begriff des ›Nichtsinnlichen‹ absichtlich zu verschleiern: Der Ausdruck könne einerseits etwas lediglich nicht Empfindbares bezeichnen, also »dasjenige an der sinnlichen Vorstellung, was nicht mehr mit Bewußtsein empfunden wird«, andererseits etwas völlig Unbildliches, »was gar nicht, auch nicht dem mindesten Teile nach, in einer sinnlichen Anschauung enthalten sein kann«.37 Nach Kants Immanuel Kant und Johann August Eberhard. Dabei reicht Eberhards kritische Beschäftigung mit Kant nachweislich sogar bis auf die Zeit von dessen Inauguraldissertation zurück; vgl. Altmann: Eine bisher unbekannte frühe Kritik Eberhards an Kants Raumund Zeitlehre. 35 Vgl. Vleeschauwer: La Cinderella dans l’oeuvre Kantienne. 36 Vgl. ÜE BA 47–51 = AA 8,210–212; unter Bezug auf Eberhard: Ueber das Gebiet des reinen Verstandes, 272 f. 37 ÜE BA 30 f. = AA 8,201; vgl. ebd. 36.60 f. = AA 8,204.218; FM A 10.15 f. = AA 20,260. 262. – Das hier zur Differenzierung verwendete Adjektiv ›unbildlich‹ ist im übrigen ein Novum im Kantschen Vokabular und überhaupt nur in der Streitschrift gegen Eberhard anzutreffen (insgesamt 7mal; vgl. Martin: Kantindex, 920). Offensichtlich übernimmt Kant damit einen Ausdruck seines Gegners, denn Eberhard hatte bei seinen Invektiven auf Kant zwischen bildlicher Sinnenerkenntnis und unbildlicher Verstandeserkenntnis unterschieden (vgl. ders.: Ueber die logische Wahrheit oder die transscendentale Gültigkeit der menschlichen Erkenntniß, 168 f., 171.173; ders.: Ueber das Gebiet des reinen
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Auffassung hingegen sollte der Terminus des ›Übersinnlichen‹ von vornherein für Sachverhalte reserviert werden, »die nur in Gedanken, niemals aber als solche in der Anschauung vorkommen können.«38 Infolgedessen ist so etwas wie eine ›übersinnliche Anschauung‹ prinzipiell unmöglich – zumindest für den Menschen. Klopft man den Vorwurf des verborgenen Doppelsinns auf seine Berechtigung ab, ist er allerdings sowohl ungenau wie ungerecht. Eberhard verwendet gar nicht den für Kant so anstößigen Ausdruck ›nichtsinnlich‹, sondern – sieht man näher zu – das Wörtchen ›unsinnlich‹, das wiederum bei Kant nicht zu finden ist. Man könnte geneigt sein, diese kleine sprachliche Nuance als Lappalie abzutun, würde Eberhard nicht, wie oben gezeigt, ausdrücklich zwischen zwei Teilbereichen des Unsinnlichen unterscheiden: dem Außersinnlichen einerseits und dem Übersinnlichen andererseits. Indes kommt Kants Kritik insofern nicht von ungefähr, als das Übersinnliche bei Eberhard im Grunde als bloße Verlängerung zum Sinnlichen gedacht wird. Es ist lediglich davon abstrahiert und damit letztlich auf derselben Ebene anzusiedeln. Demgegenüber besteht Kant darauf, daß »das Übersinnliche von dem sinnlich Erkennbaren, selbst der Species nach (toto genere), unterschieden« ist.39 Zwischen beiden gähne eine tiefe Kluft, gleich als ob es verschiedene Welten wären. Beim versuchten Schritt von der einen zur anderen tue man leicht einen gefährlichen Sprung. Mit anderen Worten: Wer die Metaphysik nur als eine zu höheren Stufen aufsteigende Physik ansehe, begehe eine meta1basiß ei2ß a3llo ge1noß, verirre sich also in Wirklichkeit auf ein ganz anderes Feld. Bei der Beschreibung des menschlichen Erkenntnishaushaltes hat Kant diesen fundamentalen Wesensunterschied dann bekanntlich so gefaßt, daß er Raum und Zeit als die Anschauungsformen der Sinnlichkeit (sowie die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien, die im Zusammenspiel mit ersteren die Verstandes, 266–271). Erneut dürfte dabei die mystische Tradition Pate gestanden haben, sucht doch bereits Jacob Böhme zu erweisen, daß für den glaubenden Menschen »nicht die Macht der Bildlichkeit ein Gott sey, sondern die Macht der Uber- und Unbildlichkeit alles beherrsche« (vgl. Böhme: Theoscopia oder Die hochtheure Pforte von göttlicher Beschaulichkeit (1622), 180; vgl. auch: ›unbildlich‹, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Band 24, 392). 38 ÜE BA 50 = AA 8,212; vgl. KpV A 125 f. u. 244 f.; KU § 57, B 240 = A 237. 39 FM A 118 = AA 20,299; zum folgenden: KpV A 96; KU BA XIX; FM A 43.100 f., 179 f. = AA 20,272 f.,293.324.
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Erfahrungserkenntnis konstituieren) von den Vernunftideen des Übersinnlichen strukturell getrennt hat. Weder raum-zeitliche Vorstellungen noch auch etwa die Kategorie der Kausalität ließen sich auf übersinnliche Wesen anwenden. Bei den transzendenten Ideen, denen kein kongruierender Gegenstand in der sinnlichen Erfahrung gegeben werden könne, seien wiederum drei zu unterscheiden: das Übersinnliche in uns (Freiheit), das Übersinnliche über uns (Gott) und das Übersinnliche nach uns (Unsterblichkeit).40 Unter diesen dreien hat die Freiheit, die im moralischen Gesetz ansichtig wird, erkenntnismäßig den Vorrang inne. Denn als frei handelndes sittliches Wesen übersteigt der Mensch den Bereich des sinnlich Gegebenen, erlebt er sich als selbst- und nicht mehr fremdbestimmt. Insofern wird die Idee der Freiheit gewissermaßen zur Einbruchsstelle des Übersinnlichen in die Erfahrungswelt. Seiner praktischen, nicht seiner theoretischen Vernunft hat es der Mensch letztlich zu danken, daß ihm überhaupt »Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt« sind.41 Dagegen verrennt sich die erklärenwollende Spekulation, wenn sie übersinnliche Gegenstände für den erkennenden Zugriff verfügbar machen will und vermessenerweise versuchen sollte, das Geheimnis Gottes oder auch nur des Menschen auf den Begriff zu bringen.42 Der Versuch, das Übersinnliche in die Sinnlichkeit hinabzuziehen, wird von Kant als schädlicher Anthropomorphismus verurteilt. Darin spiegelt sich erneut seine These von der unendlichen, unüberbrückbaren Kluft zwischen sinnlichem und übersinnlichem Bereich wider. Eine solche ›Versinnlichung‹, also das Bemühen, reinen Vernunftbegriffen eine sinnliche Anschauung unterzulegen, ist in seinen Augen kein lobenswertes Verdienst, sondern ein verfehltes Unterfangen. Denn das Reich des Sinnlichen ist von sich her dem
Vgl. FM A 105–107, 166 = AA 20,295; KU § 91, B 467 f. /A 461 f., B 479 f. /A 473 f.; Reflexion 6317; AA 18,6293–8 ; Reflexion 6358; AA 18, 68514–20 . 41 KpV A 266; vgl. ebd. A 74 f.,185; FM A 98 f.,148 = AA 20,292.309 f. Zur entscheidenden Brückenfunktion der Freiheit beim Bahnen eines Weges in die intelligible Welt vgl. Winter: Der andere Kant, 81 f.,108 f.,328 f.,508. 42 Vgl. Winter: Der andere Kant, 42 u. 254 f. – Es dürfte keineswegs bloß ein frommes oder gar abgezwungenes Lippenbekenntnis sein, wenn sich Kant in diesem zentralen Punkt mit der theologischen Tradition ganz einig weiß: »Daß wir von übersinnlichen Dingen was sie an sich sind gar kein Erkentnis haben können will nichts mehr sagen als alle Orthodoxe theologen jeder Zeit gesagt haben« (Vorarbeiten zur Schrift gegen Eberhard; AA 20,36221–23). 40
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Übersinnlichen schlechthin unangemessen.43 Statt vergeblich auf die »Erreichung jenes El Dorado (d. i.) des Ubersinnlichen« zu hoffen müßten ganz im Gegenteil »dem Philosophen Aussichten ins Theoretisch Übersinnliche Abschreckend« sein.44 Alle Theorien des Übersinnlichen bleiben eine Anmaßung. Damit ist mit dem gebotenen Nachdruck der denkerische Abgrund markiert, der den Kantschen Kritizismus von einer Metaphysik à la Eberhard trennt. Dennoch erbringt das Übersinnen des Übersinnlichen bei Kant keineswegs nur ein negatives Ergebnis. Bei dem untersuchten Terminus handelt es sich nicht einfach bloß um einen Kampfbegriff, so sehr Kants Auseinandersetzung damit in polemischen Zusammenhängen wurzelt, denen im vorangehenden das besondere Augenmerk galt. Kant ist weit davon entfernt, »alles Übersinnliche für Erdichtung und dessen Begriff für leer an Inhalt zu halten« (KpV A 9). Als Vernunftwesen scheinen wir Menschen die Einsicht in die Beschränktheit unserer Erkenntnis von Übersinnlichem nur schwer zu ertragen. Um ein letztes Mal Kant selbst das Wort zu geben: »Die Vernunft will beständig ins Übersinnliche, wie es wohl über die sinnliche Natur hinaus beschaffen sein möchte: sie scheint also, obzwar ein theoretisches Vermögen, dennoch gar nicht für diese Sinnlichkeit bestimmt zu sein«.45
Vgl. KpV A 246; KU § 59, B 255 = A 251 f.; RGV B 82 f. Anm. / A 75 f. Anm. = AA 6,64 f.; WDO A 311 = AA 8,136 f. 44 Reflexion 6334; AA 18,655 3–4 bzw. Reflexion 1471a; AA 15,65120–21. 45 SF A 117 = AA 7,70; vgl. KU § 56, B 239 = A 236. 43
Homo noumenon: Kants praktisch-moralische Anthropologie von Reiner Wimmer
1. Einleitung Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis von Kants Anthropologie ist die Tatsache, daß Kant von der seit der Antike üblichen zweiteiligen Bestimmung des Menschen – als z95on lo1gon e3con, als z95on politiko1n oder als animal rationale – abweicht. In der Religionsschrift beispielsweise spricht er von drei »Anlagen« als »Elementen der Bestimmung des Menschen«: »1. Die Anlage für die Thierheit des Menschen, als eines lebenden; 2. Für die Menschheit desselben, als eines lebenden und zugleich vernünftigen; 3. Für seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen, und zugleich der Zurechnung fähigen Wesens« (RGV B 15 = AA 6,26). Unter ›Menschheit‹ im zweiten Bestimmungselement ist hier offenbar noch nicht die aus der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs bekannte moralische Unbedingtheit des homo noumenon verstanden – sie taucht ja erst im dritten Element auf –, sondern die lediglich durch hypothetische Imperative bestimmte Vernunft des homo phaenomenon. Dagegen ist die im dritten Element vorkommende ›Zurechnung‹ als moralische Zurechnung zu verstehen, wie sich aus Kants anschließenden Erläuterungen ergibt: Nur die Anlage zur Persönlichkeit hat »für sich selbst praktische, d. i. unbedingt gesetzgebende, Vernunft zur Wurzel« (RGV B 19 = AA 6,28). Der klarste Kommentar Kants zu dieser Dreiteilung findet sich in der Analytik der zweiten Kritik (KpV A 108 f.): »Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört, und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern […]. Aber er ist doch nicht so ganz Thier, um gegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleichgültig zu sein, und diese blos zum Werkzeuge der Befriedigung seines Bedürfnisses als Sinnenwesens zu gebrauchen. Denn im Werthe über die bloße Thierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjeni-
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gen dienen soll, was bei Thieren der Instinct verrichtet; sie wäre alsdann nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Thiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen. Er bedarf also freilich nach dieser einmal mit ihm getroffenen Naturanstalt Vernunft, um sein Wohl und Weh jederzeit in Betrachtung zu ziehen, aber er hat sie überdem noch zu einem höheren Behuf, nämlich auch das, was an sich gut oder böse ist, und worüber reine, sinnlich gar nicht interessirte Vernunft nur allein urtheilen kann, nicht allein mit in Überlegung zu nehmen, sondern diese Beurtheilung von jener gänzlich zu unterscheiden und sie zur obersten Bedingung der letzteren zu machen.« Ob es allerdings solche nicht für andere Zwecke – z. B. Naturzwecke –, sondern ob es für sich selbst praktische – und damit, wie Kant sagt: reine – Vernunft gibt und die ihr entsprechende moralische Freiheit, ist natürlich durch diese Unterscheidungen selbst noch nicht ausgemacht, sondern bedarf des Nachweises. Da sich moralische Freiheit nicht nur auf das Wollen, sondern auch auf das Handeln bezieht, hat sich ihr Nachweis nicht nur auf die Willens-, sondern auch auf die Handlungsfreiheit zu beziehen. Dementsprechend wird sich diese Abhandlung in zwei Abschnitten zunächst die kritische Prüfung von Kants Aufweis der Realität der Handlungsfreiheit, danach die kritische Prüfung seines Aufweises der Realität der Willensfreiheit angelegen sein lassen (Abschnitte 3 und 4). Diesen beiden Teilen vorangestellt wird ein Abschnitt, der in die für Kant spezifische Konzeption einer praktisch-moralischen Anthropologie einführt. Damit wird natürlich nicht der gesamte Bereich dessen abgeschritten, was Kant unter der Bezeichnung ›Anthropologie‹ versteht und auch bearbeitet. Er verwendet das Wort ja bekanntlich in zweierlei Bedeutung: einerseits als Inbegriff der intelligiblen Bestimmungen des Menschseins (homo noumenon), andererseits als Inbegriff von dessen empirischen Bestimmungen (homo phaenomenon). Weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich im Rahmen der letzteren Bedeutung bewegt sich seine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aus dem Jahre 1798. Im fünften Teil dieser Studie wird das Hauptaugenmerk auf die gesellschaftliche Dimension des homo noumenon gelenkt. Kants noumenale Anthropologie findet nämlich erst ihren systematischen Abschluß unter den Titeln ›Reich der Zwecke‹ und ›ethisches Gemeinwesen‹. Hier werden die Menschen verstanden als solche, die ihre letztgültige individuelle und kol-
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lektive Bestimmung nur in der ausdrücklich erklärten moralischen Einstimmigkeit miteinander finden. Die Konstitution einer solchen moralischen Welt ist allerdings nicht ohne die (Postulierung der) Mitwirkung Gottes möglich. Insofern führt Kants praktisch-moralische Anthropologie zu einer – natürlich nur praktisch-moralisch begründbaren – Theologie.
2. Kants Konzeption einer praktisch-moralischen Anthropologie Kant unterscheidet die Philosophie als Wissenslehre und die Philosophie als Weisheitslehre. Als Wissenslehre ist sie theoretische Philosophie, von Kant auch als Philosophie ›dem Schulbegriffe nach‹ bezeichnet, womit ursprünglich, von Kant jedoch kritisch revidiert, das herkömmliche scholastische Doppelprogramm einer physisch-empirischen und einer metaphysischen Philosophie gemeint war. Als Weisheitslehre ist die Philosophie im umfassenden Sinne praktische Philosophie, von Kant in Übernahme traditioneller Terminologie als Philosophie »dem Weltbegriffe nach« oder als ›Weltweisheit‹ oder auch als ›Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung‹ bezeichnet, um sie von der Theologie, traditionell als ›Gottesweisheit‹ verstanden, abzuheben (vgl. KrV A 838–840 / B 866–868; Log A 23 f. = AA 9, 23–25). Als Wissenslehre geht es der Philosophie um die möglichst vollständige, methodisch geleitete, systematische Erkenntnis all dessen, was ist oder was sein kann, und zwar entweder aus empirisch gegebenen Sachverhalten, wodurch sich letztlich ein System empirischer Wissenschaften ergibt, oder aus reinen, d. h. aller Erfahrung voraus- oder zugrundeliegenden Begriffen, was zum einen in die traditionelle Metaphysik oder in die kritische, von Kant begründete Transzendentalphilosophie als der Lehre von den notwendigen Bedingungen und damit auch Grenzen menschlichen Erkennens und Handelns führt, zum anderen in Logik, Mathematik, Geometrie und andere formale Wissenschaften. Philosophie nach ihrem ursprünglichen griechischen Wortsinn, als Weisheitslehre und Weisheitsliebe, ist demgegenüber »die Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft« (Log A 23 = AA 9,23) bzw. »von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft« (KrV A 839/B 867).1 Sie hat Vgl. auch die vielfältigen Bemerkungen Kants in dieser Richtung im Opus Postumum, vor allem AA 21,119–141. 1
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das zum Gegenstand, »was jedermann nothwendig interessirt«; Mathematik, Physik, Logik hingegen sind Disziplinen und Fertigkeiten, die zu »beliebigen Zwecken« eingesetzt werden können (vgl. KrV A 839 Anm. / B 867 Anm. sowie Log A 24 = AA 9,24), insofern lediglich Mittel darstellen und einen relativen Wert haben. Nur die Erkenntnis und Beachtung des letzten Zwecks der menschlichen Vernunft und des Menschen selbst, der Menschheit im Ganzen und der Natur insgesamt haben »innern«, »absoluten Werth«, weshalb Kant ihnen »Würde« zuspricht (Log A 23 = AA 9,23 f.) – eine Formulierung, mit der er den End- und Selbstzweckcharakter einer Person oder Tätigkeit prägnant hervorzuheben pflegt (vgl. GMS B 64–66.77 = AA 4,428.434 f.; MST A 93 = AA 6,434 f.). Solange aber noch von einer Vielzahl von Zwecken, gerade auch von ›wesentlichen‹ oder ›letzten‹ Zwecken gesprochen wird, ist von dem wirklichen Endzweck des menschlichen Daseins, der nur einer sein kann, noch nicht die Rede. Dieser umfaßt »die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral« (KrV A 840 / B 868). Während die Philosophie als Wissenslehre, als theoretische apriorische und empirische Philosophie, im wesentlichen Philosophie und Wissenschaft der Natur ist, ist Philosophie als Weisheitslehre praktische Philosophie, und weil »praktisch« alles ist, »was durch Freiheit möglich ist« (KrV A 800/B 828), ist sie in erster Linie Philosophie der Freiheit, die vor allem den in Freiheit zu akzeptierenden Endzweck des Menschen betreffend Moralphilosophie ist (vgl. KU H 1–3 = AA 20,193 f.; KU B XI f.). Es ist vom heutigen Gebrauch des Wortes ›Moralphilosophie‹ her nicht selbstverständlich, es bei Kant auch auf das menschliche Leben im Ganzen und seinen Sinn und auf die Philosophie als Weisheitslehre und –liebe bezogen zu sehen. Kant stößt hier von grundsätzlichen Erwägungen aus auf ein umfassendes Verständnis von Moralphilosophie vor, wie es die Antike mit ihrer Lehre vom guten oder richtigen Leben gewonnen hatte. Der Eintritt in dieses Leben bzw. seine Wiedergewinnung ist in Vertiefung des antiken Standpunkts, die sich für Kant dem Christentum verdankt,2 nur als Befreiung von einem dem eigentlichen Zweck des Daseins entfremdeten Leben möglich. Moralphilosophie ist demnach von Kant umfassend verstanden: als Philosophie vom Endzweck des Menschen, als Philosophie der Freiheit zur Verwirklichung dieses Endzwecks in einem guten Leben und damit als praktische Vgl KrV A 817 / B 845; KpV A 149.153f., 229f. Anm.; KU B 463 Anm.; RGV B 67– 72 = AA 6,57–60. 2
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Philosophie im eminenten Sinne, nämlich als Weisheitslehre. Moralphilosophie als Tugendlehre, d. h. als eine Lehre zu realisierender moralischer Einzelzwecke, Haltungen und Einstellungen wäre demgegenüber sekundär.3 Für Kant hat der Lehrer der Weisheit selber ein Weiser zu sein, so daß auch die von ihm gelehrte Philosophie zugleich Praxis eines weisen Lebens ist, wozu ihm Sokrates als Beispiel dient (vgl. Log A 34 = AA 9,29). Aber Lehre und Leben sind nicht notwendigerweise – weder begrifflich noch existenziell – eine Einheit. Die praktische Philosophie gibt nur den ›Begriff‹, ›die Idee einer vollkommenen Weisheit‹ und kann insofern nur den Endzweck des Menschen und seiner Vernunft vor Augen führen, stellt ihn aber nicht selbst dar. Dies ist der Vorbehalt, unter den man Kants Behauptung, Philosophie als Weisheitslehre habe absoluten Wert, unvermeidlicherweise stellen muß. Im Verhältnis zur Philosophie als Wissenslehre trifft diese Behauptung allerdings zu, weshalb man die Weisheitslehre rechtens auch »eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft«, nämlich im Hinblick auf ihren Endzweck, dem als dem obersten alle übrigen Zwecke unterzuordnen sind, nennen kann (Log A 24 f. = AA 9,24). Damit ist der »Primat der reinen praktischen Vernunft« aufgewiesen, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauch allein vollständig ist (KpV A 215.219; vgl. KrV A 797–802/B 825–830; GMS B 21 = AA 4,404). Das bedeutet jedoch nicht, daß die moralisch-praktische Vernunft, daß also die Philosophie als Weisheitslehre die theoretische Philosophie als Kritik und Methode entbehren könnte (GMS B 22 f. = AA 4,404 f.; KpV A 291 f.). Aber es bedeutet, daß Theorie, Kritik, Methode – kurz: Wissenschaftlichkeit – nur Mittel zu dem Zweck sind, die wesentliche Bestimmung des Menschen herauszuarbeiten, um ihn vor Selbstmißverständnissen und falscher Lebenspraxis zu bewahren – soweit dies überhaupt durch Theorie, Kritik und Methode bewerkstelligt werden kann. Der Mensch und seine Bestimmung – das ist letztlich der Gegenstand der Philosophie. Sie ist also wesentlich praktische Anthropologie, die auch in ihren theoretischen Erörterungen getragen ist von dem eigentlichen Interesse des Menschen, den Sinn seines Lebens, den Zweck seines Daseins zu erfassen. Die Grundfrage der Philosophie ist deshalb nach Kant: »Was ist der Vgl. Wimmer: Anthropologie und Ethik. Erkundungen in unübersichtlichem Gelände, 231–241. 3
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Mensch?« Um den lebenspraktischen, existenziellen, reflexiven Sinn dieser Frage zu verdeutlichen, hätte sie jeder einzelne Mensch jeweils für sich zu stellen: Wer bin ich? Wer soll ich sein? Wozu lebe ich? Wie kann ich erkennen und wie kann ich lernen, was ich »seyn muß um ein Mensch zu seyn«? (AA 20,45 Z. 19). Kants Frage, was der Mensch sei, kann nämlich mißverstanden werden. Sie klingt wie eine x-beliebige Frage danach, was etwas ist, z. B.: ›Was ist ein Tier?‹, ›Was ist eine Universität?‹, ›Was ist eine Zahl?‹, ›Was ist Weisheit?‹, ›Was ist ein Naturgesetz?‹ Je nach Sinn der Frage wird sie durch Worterklärungen, durch Gegenstandsbeschreibungen, durch Hinweise auf Beispiele, durch die Erläuterung von wissenschaftlichen Theorien oder durch die Einordnung in eine wissenschaftliche, z. B. biologische Klassifikation beantwortet, etwa: ›Der Mensch ist ein zweifüßiges Säugetier‹. Kants Frage versteht sich demgegenüber aber als philosophische Frage im gekennzeichneten lebenspraktischen Sinne, geht es in ihr doch zunächst und vor allem um den Fragenden selbst, und zwar um die Möglichkeit und die Notwendigkeit, daß er sich selbst begreife und sich im Begreifen seiner selbst durch den Vollzug des eigenen Daseins selbst bestimme; denn der Mensch kann gar nicht anders, als sein Leben zu führen und um diese Notwendigkeit zu wissen. Indem er sein Leben führt und darum weiß, tritt er zu sich selbst in ein gedoppeltes Verhältnis. Kierkegaard nennt den Menschen deshalb »ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält«,4 und Plessner kennzeichnet ihn als »exzentrische Positionalität«.5 In dieser existenziellen Reflexivität des Menschen sind Erkennen und Wollen, Sein und Sollen in der Unabdingbarkeit von Selbstverständnis und Selbstbestimmung auch begrifflich unlösbar miteinander verschränkt.6 Kant gliedert die Frage des Menschen nach sich selbst in die bekannten drei Unterfragen (KrV A 805 / B 833; Log A 25 = AA 9,25): »1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich thun? 3. Was darf ich hoffen?«7 In der Vorlesung über Logik, Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, 13. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, 288 ff. 6 Vgl. Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Schilling: Moralische Autonomie. Anthropologische und diskurstheoretische Grundstrukturen. 7 Vgl. KrV A 805 = B 833 sowie Kants Brief an Stäudlin vom 4.5.1793; AA 11, 1. Aufl. 414 = 2. Aufl. 429. 4 5
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die sein Schüler G. B. Jäsche 1800 herausgab, bemerkt Kant, daß man diese Fragen und ihre Beantwortung durch die Erkenntnis-, die Moral- und die Religionslehre zur Anthropologie rechnen könne, »weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen«. Während er zuvor – wie gezeigt – in seiner Logik-Vorlesung genau diesen anthropologischen Kern in praktisch-existenzieller Abzweckung herausstellt, scheint er die drei Fragen zunächst eher in vernunfttheoretischer und erkenntniskritischer Akzentuierung auszulegen: »Der Philosoph muß also bestimmen können 1. die Quellen des menschlichen Wissens, 2. den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens und endlich 3. die Grenzen der Vernunft«. Aber schließlich läßt er doch zur »Fertigkeit im Gebrauch aller Mittel zu beliebigen Zwecken […] eine zweckmäßige Verbindung aller Erkenntnisse und Geschicklichkeiten zur Einheit […] und eine Einsicht in die Übereinstimmung derselben mit den höchsten Zwecken der menschlichen Vernunft« hinzutreten (Log ebd.). Demgegenüber bezieht die transzendentale Methodenlehre der ersten Kritik besagte drei Fragen nicht ausdrücklich, sondern nur implizit, aber doch unübersehbar, auf die philosophische Anthropologie, und zwar mit der gleichen praktisch-existenziellen Ausrichtung, die in der Logik-Vorlesung begegnete: Der letzte Zweck des reinen Gebrauchs unserer Vernunft ist praktisch, wobei das Wort ›praktisch‹ im Unterschied zu den Ausdrücken ›pragmatisch‹ und ›technisch‹ einen moralischen Sinn erhält; denn nur »reine praktische Gesetze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist, und die nicht empirisch bedingt, sondern schlechthin gebieten, [können] Producte der reinen Vernunft sein. Dergleichen aber sind die moralischen Gesetze; mithin gehören diese allein zum praktischen Gebrauche der reinen Vernunft« (KrV A 800 / B 828; vgl. GMS B 39– 48 = AA 4,414 – 419). So ist deutlich genug, daß nach Kants Verständnis Philosophie primär praktische Philosophie ist (im gekennzeichneten Sinne von ›praktisch‹) und daß solche Philosophie ipso facto philosophische Anthropologie ist, weil Philosophie ihrer primären, weltbürgerlichen Bedeutung nach »die Idee einer vollkommenen Weisheit [ist], die uns die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft zeigt« (Log A 24 = AA 9,24). Inwiefern ist für Kant Anthropologie zugleich Moralphilosophie? Worin sieht Kant die ethische Qualität der existenziellen Selbstbeziehung des Menschen begründet? Wie läßt sich die oben aufgestellte Behauptung einlösen, in dieser praktisch-moralischen Reflexivität seien Selbsterkenntnis und moralisches Wollen, Sein und moralisches Sollen, Lebenssinnverständnis und mora-
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lische Lebensbestimmung begrifflich miteinander verschränkt? Welchen Weg schlägt Kant ein, um diese Behauptung zu begründen? Kant betont immer wieder (GMS B 20–35 = AA 4,403–412; KpV A 15–20, 163–167), daß die Sittlichkeit, um die es in ethischen Reflexionen geht, keine Erfindung von Moralphilosophen, sondern eine alltäglich-lebensweltliche Tatsache ist, in deren Dienst moralphilosophische Erörterungen treten. Die Aufgabe der Moralphilosophie ist es nicht, das Prinzip der Moral zu erfinden, sondern lediglich, es aufzusuchen und in seiner Reinheit darzustellen. Auf diese Aufgabe kann sie nicht verzichten, weil das Moralgesetz in den Bedürfnissen und Neigungen des Menschen einen starken Gegner hat (GMS B 23 f. = AA 4,405): »Hieraus entspringt aber eine natürliche Dialektik, d. i. ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen und sie wo möglich unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d. i. sie im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst die gemeine praktische Vernunft am Ende nicht gut heißen kann [und] sie nöthigt, in der Philosophie Hülfe zu suchen«. Hier wie andernorts (z. B. KpV A 163) betont Kant die einzigartige Rolle der gemeinen praktischen Vernunft: Das Wort ›gemein‹ bedeutet hier sowohl ›gewöhnlich‹ als auch ›allgemein‹: Praktische Vernunft kommt jedem Menschen in jeder Situation zu! Wenn Kant den ersten Abschnitt der Grundlegung mit der Überschrift versieht: »Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen«, dann meint ›Übergang‹ hier nicht ein Verlassen und Hinter-sich-lassen der Ebene der sog. ›gemeinen‹ Vernunft, sondern lediglich ihre philosophische Explikation; Kant kennzeichnet die dafür einzuschlagende Methode denn auch als ›analytisch‹ (GMS B XVI = AA 4,392). Um die wirkliche Bedeutung von Kants Behauptung, praktische Vernunft sei allgemein, zu erfassen, wird man als nähere Kennzeichnung hinzufügen müssen, es handle sich dabei um reine, d. h. moralische Vernunft (›praktisch‹ also in dem zuvor markierten Sinne); denn daß der Mensch im pragmatischen, technischen oder sonstwie zweckrationalen Sinne vernünftig ist, bedarf einerseits keiner Betonung, vermag andererseits aber auch nichts zum Verständnis der Moral beizutragen. Kants Meinung nach verfügen alle Menschen über ein grundsätzlich richtiges vorphilosophisches Verständnis von Sittlichkeit, auch wenn sie nicht fähig sind, es angemessen zu artikulieren oder zu explizieren.
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Was aber heißt ›reine‹ bzw. ›moralische‹ Vernunft, wenn doch Kant nicht behaupten kann, alle konkreten moralischen Urteile seien richtig und in diesem Sinne vernünftig? Er meint ja gerade, daß dies durchaus nicht immer der Fall ist. Kant ist zwar der Meinung, daß sich aus dem grundlegenden Moralprinzip, das nur eines sein kann und deshalb von ihm ›der Kategorische Imperativ‹ (im Singular) genannt wird, alle übrigen Moralnormen – die kategorischen Imperative im Plural – ableiten und begründen lassen; doch bei ihrer Anwendung auf konkrete Situationen sind natürlich Irrtümer möglich – schon die Beschreibung der Situation bzw. die Auswahl der für die moralische Beurteilung relevanten Handlungs- und Situationsmerkmale kann irrig sein. Außerdem können persönliche Vorlieben, selbstbezogene Interessen, kollektive Voreingenommenheiten die moralische Urteilsfähigkeit verdunkeln. Wir können uns sogar gegen den klar vernommenen Urteilsspruch unseres moralischen Gewissens entscheiden, einen Grundsatz wählen, der mit dem eindeutig erfaßten Moralgesetz unvereinbar ist. Aber jene Irrtums- und diese Wahlmöglichkeiten beziehen sich nicht auf das moralische Verpflichtetsein selbst. Als solches ist es unbedingt, absolut (deshalb heißt es ›moralisch‹), und als solches ist es rein ›formal‹, wie Kant sich ausdrückt, und kann deshalb nicht irrig sein; denn es kann nicht irrig sein, daß der Mensch den Ansprüchen der moralischen Vernunft – die seine eigene ist! – unterliegt. Die menschliche Irrtumsfähigkeit setzt erst bei der Konkretisierung dieses Vernunftanspruchs ein, dort, wo es um seine Umsetzung in sog. ›materiale‹ Moralnormen (objektive Grundsätze oder kategorische Imperative im Plural) geht. Und auch die Entscheidung gegen eine moralische Verpflichtung – als bewußte Wahl eines unmoralischen Grundsatzes – bedeutet nicht das Verschwinden oder Erlöschen dieser Verpflichtung; sie bzw. das formale Moralgesetz (der Kategorische Imperativ) ist ja selbst kein Gegenstand der Wahl oder der Entscheidung. Im übrigen würde die Möglichkeit einer rationalen Wahl selbst wiederum einen vernünftigen Maßstab voraussetzen, einen Vernunfthorizont, der weiter und höher ist als der zur Wahl stehende Grundsatz. Da aber der moralische Gesichtspunkt bzw. das Verpflichtetsein durch reine praktische Vernunft schlechthin unbedingt und Maßstab aller übrigen Maßstäbe ist, kann er nicht eigentlich abgewählt werden. Dementsprechend formuliert Kant: »Das Wesentliche alles sittlichen Werths der Handlungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme« (KpV A 126). Wie Beck gezeigt hat, müßte
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es genauer heißen, daß das Bewußtsein des moralischen Gesetzes selbst – und nicht z. B. ein Gefühl oder eine Wahl oder Entscheidung – unmittelbar den Willen bestimme.8 Würde das Gesetz selbst den Willen bestimmen, wäre er nicht mehr frei, und würde ein Gefühl oder eine Entscheidung, die dem Moralgesetz allererst Wirklichkeit (im Sinne von Geltung und Wirkkraft) verleiht, den Willen bestimmen, so würde dem Willen etwas vorausgehen, das nicht von ihm selbst abhängt. In diesem Sinne vorausgehen kann ihm, wie gesagt, aber nur das formale Verpflichtetsein (synonym: der Kategorische Imperativ, das Bewußtsein des Moralgesetzes). Das moralische Gefühl der Achtung vor dem Moralgesetz geht dem Bewußtsein von ihm nicht voraus, sondern folgt ihm; es ist ein vernunftgewirktes Gefühl (vgl. KpV A 132–135).9 »Geschieht die Willensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Gesetze«, aber durch etwas anderes als das Bewußtsein von ihm, »mithin nicht um des Gesetzes willen: so wird die Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralität enthalten« (KpV A 127). Noch einmal wird deutlich, daß nicht der Mensch, insofern er ein bedürftiges und verletzliches Wesen ist, den Grund für sein Verpflichtetsein durch das Moralgesetz darstellt, sondern der Mensch, insofern er Vernunftwesen ist. Seine Vernunft ist die Quelle für die Geltung dieses Gesetzes und ist insofern seinem Willen vorgegeben. Deshalb kann die Geltung des Gesetzes nicht darauf beruhen, daß wir es zum Gegenstand eines Wahlaktes und dadurch zum Ziel unseres Strebens machen und es so anerkennen. Wir können und sollen zwar darüber entscheiden, ob wir dem Gesetz Folge leisten wollen oder nicht – und insofern ist es Gegenstand unserer Wahl und erlangt Geltung-für-uns im Sinne seiner Aneignung oder verliert sie im Sinne seiner Verwerfung. Aber durch seine Ablehnung verliert es nicht seine Geltung-an-sich vor dem Forum der reinen Vernunft. In diesem Sinne ist es unverfügbar all unserem Wollen und Wählen, Tun oder Lassen vorgegeben. Als solches macht es sich in unserem Bewußtsein – ›Gewissen‹ genannt – bemerkbar. So gibt es zwei Instanzen unseres sittlichen Bewußtseins: Vernunft und Wille. Die eine verpflichtet, und zwar unbedingt, die andere unterliegt dieser unbedingten Verpflichtung (vgl. MST A 38 f., 63–65, 98–103 = AA 6,400 f., 417 f., 441 f.). Damit Vernunft praktisch sein kann, müssen diese beiden Seiten unseres Menschseins frei sein: Die Vernunft selbst ist frei als das 8 9
Beck: A Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason, 221–223. Ebd., 223–225.
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Vermögen der Selbstgesetzgebung oder Autonomie (Vernunftfreiheit, Urteilsfreiheit); und der der gesetzgebenden Vernunft unterworfene Wille ist frei, dieses ihr von der Vernunft angesonnene Gesetz anzunehmen oder abzulehnen (Willens- oder Entscheidungsfreiheit). Da es sich in beiderlei Hinsicht nicht um empirische oder phänomenale, sondern um intelligible oder noumenale Freiheit handelt, kann sie nicht empirisch aufgewiesen oder gar wissenschaftlich bewiesen werden. Sie muß aber vorausgesetzt werden, wenn wir das unleugbare und unverfügbare Bewußtsein unbedingten Verpflichtetseins nicht für ein Phantasma oder für gehaltlos halten wollen. Es scheint, daß es zwar möglich ist, theoretisch das Bestehen eines solchen Verpflichtetseins zu bestreiten (z. B. wenn man jegliche Form metempirischer Freiheit bestreitet), nicht aber praktisch; denn es scheint, daß wir das Bewußtsein der unbedingten Richtigkeit oder Falschheit eigenen oder fremden Wollens (und Handelns) nicht wirklich abschaffen oder loswerden können; und ähnlich, so scheint es, können wir – zumindest in bezug auf uns selbst – uns des Bewußtseins der Freiheit und damit der Verantwortung zumindest für manche unserer Entschlüsse (und Handlungen) praktisch nicht begeben, auch wenn wir keine theoretische Möglichkeit haben, unsere Überzeugung, in solchen Situationen frei zu sein, zu bewahrheiten. Auch Kant hält an der Freiheit unserer Vernunft und unseres Willens fest: »Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden« (GMS B 99–101 = AA 4,447 f.; vgl. KpV A 3–10, 51–60). Um Kants Aufweis zunächst der Handlungsfreiheit, dann der Willensfreiheit wird es im folgenden gehen.
3. Handlungsfreiheit Mit dem Begriff der Freiheit steht und fällt unser menschliches Selbstverständnis. In seiner Debatte zum Verhältnis von menschlichem Handeln und Naturnotwendigkeit nennt Kant die mit einer Handlung als solcher verbundene Art der Freiheit ›Freiheit im kosmologischen Verstande‹ oder ›kosmologische Freiheit‹. Er bestimmt sie als »das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen« (KrV A 533/B 561) In dieser Bedeutung ist die Freiheit »eine reine transscendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, zweitens deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann« (ebd.). Deshalb bezeichnet Kant sie auch als transzendentale Freiheit (KrV A 446/B 474).
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Zwei Einwände diskutiert Kant, die gegen die Möglichkeit solcher transempirischen Freiheit zu sprechen scheinen: den metaphysischen und den psychologischen Einwand. Ersterer geht vom Kausalprinzip aus, das besagt, daß »alles, was geschieht, eine Ursache, mithin auch die Causalität der Ursache, die selbst geschehen oder entstanden, wiederum eine Ursache haben müsse; wodurch denn das ganze Feld der Erfahrung, so weit es sich erstrecken mag, in einen Inbegriff bloßer Natur verwandelt wird« (KrV A 533/ B 561). Bezogen auf unsere Handlungen bedeutet dies: Es gibt sie nur als Bewegungen an oder in unserem Leibe. Sie verdanken sich nicht der Spontaneität eines Subjekts, sondern kausalen Ketten, die durch den Leib gehen. – Der psychologische Einwand läßt sich heutzutage am besten tiefenpsychologisch formulieren: Wir haben Anlaß anzunehmen, daß unser Handeln durch Mechanismen und Kräfte – heute oft ›Triebe‹ genannt – bestimmt wird, die uns in der Regel nicht bewußt sind. Unbewußte Bedürfnisse und Neigungen und die mit ihrer Vorstellung bzw. ihrer Befriedigung einhergehenden Vorstellungen bzw. Empfindungen von Lust und Unlust bestimmen unser Verhalten (vgl. KpV A 45 f.). Und Kant selbst besteht wiederholt darauf, daß wir die innersten Regungen unseres Herzens nicht aufzudecken vermögen, daß das, was uns vernünftig, gar moralisch erscheint, ›pathologischen‹ Ursprungs sein mag, ohne daß wir allerdings die Frage nach dem eigentlichen Movens endgültig zu beantworten wüßten (vgl. z. B. KrV A 551 Anm. / B 579 Anm.; GMS B 26 = AA 4,407; MST A 114 = AA 6,447). David Hume hatte die Kausalität ihrer empirischen Unerweislichkeit wegen als metaphysischen Restbestand aus den Erfahrungswissenschaften eliminiert. Es hätte Kant in einer vor-metakritischen Einstellung so scheinen können, als gelänge es auf Humes Ebene am besten, menschliche Freiheit zu behaupten und zu verteidigen. Doch abgesehen davon, daß die – ›empirisch‹ zu nennende – Freiheit der Fähigkeit zur Wahl zwischen Alternativen weder für die Handlungs- noch für die Willensfreiheit als Paradigma in Frage kommt – beide Freiheitsbegriffe sind nicht empirischer Art –, sieht Kant 1., daß die Naturwissenschaften ohne den Kausalbegriff und ohne die Suche nach Kausalgesetzen nicht möglich sind, und er sieht 2., daß der Kausalbegriff, obwohl kein Erfahrungs-, sondern ein Verstandesbegriff, doch Realität hat, und zwar transzendentale Realität, wobei seine Realgeltung aber vom Handlungsbegriff abhängt, so daß, weit entfernt davon, begrifflich unvereinbar zu sein, menschlichem Handeln sogar begriffliche und epistemologische Priorität gegenüber dem Kausalgeschehen zukommt. Kant sieht schließlich 3., daß
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menschliches Handeln grundlegend auf die Konstanz der Geschehensabläufe in der Natur angewiesen ist. Nach Belieben in den Lauf der Dinge einzugreifen vermögen, ist nicht so zu verstehen, daß wir den Lauf der Natur außer Kraft setzen können. Die Verläßlichkeit und Selbständigkeit der Natur, ihre (relative) Unabhängigkeit von unserem Wollen und Handeln sind für eben dieses Wollen und Handeln von grundlegender Bedeutung. Diese Gewißheiten sind notwendige Bedingungen unseres Lebens; auf ihnen ruhen unsere lebensweltlichen und unsere wissenschaftlichen Praktiken auf. – Diese drei Einsichten Kants sollen nun anhand einschlägiger Texte Kants selbst nachvollzogen und abschließend anhand der neueren wissenschaftstheoretischen Diskussion überprüft werden. In seinen Schriften zur theoretischen Philosophie fragt Kant, was es heißt, von der Natur zu reden, vor allem aber, was wir tun, wenn wir Naturwissenschaft treiben, und was die transzendentalen Bedingungen solchen Tuns sind. In der Kritik der reinen Vernunft kommt er zu dem Ergebnis, daß das, was wir mit dem Wort ›Natur‹ meinen, durch unser Vermögen zu handeln konstituiert ist und daß wir die Natur in den Wissenschaften von ihr nur so erkennen, wie sie durch unser konstruierendes und experimentierendes Handeln erscheint. Er zeigt, daß die Grundbegriffe der Physik und der Mathematik sowie der durch die Mathematisierung der Natur garantierte Gesetzeszusammenhang auf planmäßiges, zielgerichtetes Handeln zurückführen: »Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Cirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn successiv bestimmen, und dadurch auf die Succession dieser Bestimmung in demselben Acht haben. Bewegung als Handlung des Subjects […], folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahiren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt sogar den Begriff der Succession zuerst hervor« (KrV B 154 f.). Und auch der für die Naturforschung konstitutive Begriff der Kausalität führt auf den der Handlung, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft (A 204/B 249) erklärt. Die kausalgesetzliche Determiniertheit des Naturgeschehens ist ein Entwurf unseres Verstandes und ein Resultat unse-
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res handelnden Umgangs mit ihm. Die sinnliche Anschauung allein – so führt Kant des öfteren aus (z. B. Prol A 77– 85 = AA 4,297–302; KrV A 202 f. / B 247 f.) – bietet keine zeitliche Abfolge von Ursache und Wirkung, sondern nur ihre Gleichzeitigkeit. Wie gelingt uns dann aber die sichere Differenzierung zwischen ihnen? Kant antwortet: Durch das kontrollierte Experiment, indem wir nämlich in den Lauf der Dinge (u. U. wiederholt) eingreifen und dann zusehen, was geschieht, und indem wir (zur Kontrolle) unseren Eingriff unterlassen und ebenfalls zusehen, was geschieht. Kant führt ein einfaches lebensweltliches Beispiel zur Erläuterung an: »Wenn ich eine Kugel, die auf einem ausgestopften Küssen liegt und ein Grübchen darin drückt, als Ursache betrachte, so ist sie mit der Wirkung zugleich. Allein ich unterscheide doch beide durch das Zeitverhältniß der dynamischen Verknüpfung beider. Denn wenn ich die Kugel auf das Küssen lege, so folgt auf die vorige glatte Gestalt desselben das Grübchen; hat aber das Küssen (ich weiß nicht woher) ein Grübchen, so folgt darauf nicht eine bleierne Kugel« (KrV A 203/B 248 f.). In der Vorrede zur zweiten Auflage der ersten Kritik attestiert Kant den Naturforschern der frühen Neuzeit, daß ihnen ein Licht aufgegangen sei. »Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie […] die Natur nöthigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten. […] Die Vernunft muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt« (B XIII). So sind Begriff und Erkenntnis der Natur durch unseren handelnden Umgang mit ihr ermöglicht, wie umgekehrt auch unser Umgang mit ihr durch eine gewisse Konstanz ihres Erscheinens für uns bedingt ist. Deshalb kann Kant resümierend sagen: »Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht […] ursprünglich hineingelegt« (KrV A 125). Was wir ›Natur‹ nennen und in den Naturwissenschaften erforschen, ist somit kein eigenständiges Phänomen, als was es der Determinismus voraussetzt, sondern das Ergebnis einer besonderen Praxis des Menschen. Wer wissen will, was die Natur – als Gegenstand der Wissenschaft! –
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ist, muß in einer langen Ausbildung die auf Handlungen zurückführenden Konstruktionen verstehen lernen, die die sogenannte ›Natur‹ konstituieren. Gegen den Determinismus gewandt versteht Kant die Naturwissenschaften gerade als eine Emanzipation des Menschen von der Natur, sofern die Natur nämlich Widerfahrnischarakter hat; er macht sich eine Ordnung nach eigenen, freilich nicht beliebigen, sondern transzendentalen Ideen. Deshalb ist es widersinnig, wenn Naturwissenschaftler – zur Zeit vor allem Gehirnphysiologen, Soziobiologen und Genetiker – ein deterministisches Selbstverständnis des Menschen propagieren; denn 1. sind ihre Erkenntnisse nur durch Freiheit (des Denkens und Handelns) möglich, und 2. ist es der Sinn der Naturwissenschaften, die Freiheit des Menschen vor äußeren Einwirkungen zu schützen bzw. sie zu erweitern, nicht sie zu negieren. Gegen eine »transscendentale Physiokratie« (KrV A 449 / B 477) setzt Kant die Idee der transzendentalen Freiheit. Diese Freiheit ist Bedingung sowohl für die Möglichkeit von alltäglichem und naturwissenschaftlichem Handeln – in diesem Sinne spricht Kant von ›kosmologischer Freiheit‹ – als auch für die Möglichkeit von Handlungsverantwortung – in diesem Sinne spricht er von ›praktischer Freiheit‹ (vgl. KrV A 533 f. / B 561 f.). Für beide Freiheitsaspekte ist der Begriff der Spontaneität grundlegend: in ersterem Sinne die »Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln« (ebd.), in letzterem Sinne die ›absolut‹ genannte Spontaneität als der eigentliche »Grund der Imputabilität« einer Handlung (KrV A 448 / B 476). Ohne Freiheit vorauszusetzen, würden wir nicht verstehen, was Handeln oder Tätigsein ist; und ohne ein rechtes Verständnis unseres Tuns würden wir weder unser Leben noch die Wissenschaften verstehen; wir würden nicht sehen können, daß und wie wir für unsere Lebensführung im Ganzen wie im Einzelnen verantwortlich sein können. Auch eine vollständige Beschreibung unserer physiologischen Zustände und ihrer Gesetzlichkeiten würde dieses Verständnis nicht ermöglichen, weil es unser Handeln nicht als Handeln verstehen ließe. Zwar ist all unser Handeln physiologisch bedingt. Aber diese Bedingungen sind nur notwendig, nicht hinreichend für das Handlungsgeschehen, so daß damit das Handeln selbst, das Handeln als solches noch nicht erklärt ist. Auch für den Fall, wo ein Sachverhalt eine bestimmte materielle Voraussetzung einer Handlung darstellt – z. B. das nach den bisherigen Ergebnissen der neurophysiologischen Forschung stets kurz (einige tausendstel Sekunden) vor dem Beginn des Vollzugs einer Handlung auftretende sogenannte ›Bereitschaftspotenzial‹ –,
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ist ein Verständnis auszuschließen, das annimmt, dieses Potenzial verursache die Handlung; Handlungen können weder physisch noch sonstwie verursacht sein. Möglich erscheint hier nur eine Kausalitätsauffassung, wonach das Potenzial die materielle Seite des Handlungsgeschehens bzw. seinen Beginn verursacht, dieses Geschehen als ganzes aber zusammen mit dem ihm vorausgehenden Potenzial ›Teil‹ der Handlung ist, so wie Handlungen gewöhnlich von Leibesveränderungen – auch physiologischer Art – ›getragen‹ sind. Daraus folgt: Auch eine vollständige Beschreibung aller physiologischen Zustände einer Person und der physischen Zustände der Welt, in die sie gesetzt ist, würde ihr Handeln nicht vorhersehbar machen; denn es geht in die Physis nicht das Selbstverständnis des Menschen als handelndes In-der-WeltSein ein. Diese Unerreichbarkeit der menschlichen Welt für eine rein physische Betrachtung mag für Kant der ausschlaggebende Grund dafür gewesen sein, von ihr als dem ›mundus intelligibilis‹ in Unterscheidung vom ›mundus sensibilis‹ zu sprechen. Der Mensch vermag sich auf zwei Weisen anzusehen, so daß er sich selbst auf doppelte Weise zum Gegenstand wird: als Natur- oder Sinnenwesen (homo phaenomenon) und als Vernunft- und Handlungswesen (homo noumenon). So kann man speziell »die Causalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel nach den Wirkungen derselben als einer Erscheinung in der Sinnenwelt. Wir würden uns demnach von dem Vermögen eines solchen Subjects einen empirischen, imgleichen auch einen intellectuellen Begriff seiner Causalität machen, welche bei einer und derselben Wirkung zusammen stattfinden. Eine solche doppelte Seite, das Vermögen eines Gegenstandes der Sinne sich zu denken, widerspricht keinem von den Begriffen, die wir uns von Erscheinungen und von einer möglichen Erfahrung zu machen haben. Denn da diesen, weil sie an sich keine Dinge sind, ein transcendentaler Gegenstand zum Grunde liegen muß, der sie als bloße Vorstellungen bestimmt, so hindert nichts, daß wir diesem transcendentalen Gegenstande außer der Eigenschaft, dadurch er erscheint, nicht auch eine Causalität beilegen sollten, die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird« (KrV A 538 f./B 566 f.). Die Kausal- oder Naturgesetzeswissenschaften selbst verdanken sich absichtsvollem, d. h. zielgerichtetem, speziell: intervenierendem, beobachtendem und systematisierendem Handeln. Diese transzendentalen Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit können sie weder selbst herstellen noch auch nur erklären. Von den Bedingungen der Möglichkeit der Wissenschaft her zeigen
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sich somit die Eigenständigkeit der menschlichen Handlungswelt und ihre Priorität gegenüber der Sinnenwelt, weshalb Kant sagen kann, daß »die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält« (GMS B 111 = AA 4,453). Das menschliche Handlungsvermögen ist ein transzendentales Faktum unserer menschlichen Welt und hat nur in ihr seinen Platz. Das zeigt sich begrifflich auch darin, daß Handlungen nicht auf Ursachen, sondern auf Gründe führen und nur von ihnen her verständlich gemacht werden können. Kant legt großen Wert darauf, hier klar und eindeutig zu sprechen. In der Analytik der zweiten Kritik setzt er diesen Sachverhalt des Langen und Breiten auseinander und trifft hier wiederholt die Unterscheidung zwischen Gründen, die in meiner Gewalt sind, und Gründen, die nicht in meiner Gewalt sind, also Ursachen (KpV A 169 ff.). Den Sinn von Handlungen erfahren wir nicht durch Naturforschung, sondern nur dadurch, daß wir uns gemeinsam über die Absichten und Gründe unserer Handlungen verständigen. Um Handlungen zu verstehen, können wir nicht hinter sie zurück. Wir begreifen sie primär immanent, aus unserer menschlichen Handlungswelt. Ihr geht nichts vorher. Was der Mensch sei, kann deshalb nur noch (im Horizont der Lebenswelt) beschreibend, nicht (im Sinne der Naturwissenschaften) erklärend beantwortet werden. Diese Einsicht verdanken wir nicht erst Wittgenstein, sondern schon Kant. Auf ihr beruht sein gesamtes kritisches Werk. Sie erhält eine leicht faßliche Gestalt in seiner Lehre vom Faktum der Vernunft. Diese bezieht er allerdings explizit nur auf die reine praktische Vernunft. Aber sie kann auch, wie hier geschehen, auf jene praktische Vernunft bezogen werden, auf der unsere Lebenswelt und die auf ihr gründenden Wissenschaften beruhen, ohne daß aber mit dieser Erweiterung Kantischen Sprachgebrauchs der kategoriale Unterschied zwischen dieser und jener Form der Vernunft eingeebnet wird. Die Plausibilität der erörterten Thesen Kants sei nun, diesen Teil abschließend, mit Blick auf die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion erhöht. Die Notwendigkeit, echte Gesetze von Sätzen über kontingente empirische Regelmäßigkeiten zu unterscheiden, wird selbstverständlich in der Wissenschaftstheorie anerkannt. Aber eine allgemein akzeptierte Liste von Kriterien für diese Unterscheidung fehlt. Ein auch im Kantischen Sinne überzeugender Ansatz zur Lösung dieses Problems stammt von G. H. von Wright.10 DemWright: Explanation and Understanding (dt.: Erklären und Verstehen); Causality and Determinism. 10
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nach setzt die Unterscheidung zwischen gesetzlicher, ›nomisch‹ genannter Regelhaftigkeit und zufälliger, ›akzidenteller‹ Regelmäßigkeit die angemessene Einführung und Explikation des Begriffs der (Wirk-)Ursache voraus, der wiederum den der Handlung voraussetzt, näherhin den des verursachenden Handelns im hier relevanten Kontext der unter anderem durch experimentelles Handeln charakterisierbaren Natur- und teilweise auch Sozialwissenschaften. Den so gewonnenen Begriff der Ursache bezeichnet von Wright als ›aktionistisch‹ oder auch als ›experimentalistisch‹; er wäre wohl angemessener ›interventionistisch‹ zu nennen. Der Ansatz von Wrights sei nun skizziert: Die menschliche Fähigkeit zu handeln läßt sich verstehen als das Vermögen, von sich aus nach Belieben in den Lauf der Dinge einzugreifen, so daß anderes geschieht als ohne diesen Eingriff. Damit dies der Fall ist und erkannt werden kann, muß der Handelnde ein Wissen um den natürlichen Ablauf der Ereignisse in der Welt unabhängig vom eigenen Eingreifen haben. Im Begriff der Handlung ist somit ein Vergleich oder Kontrast zwischen jenem Zustand, der aus der Handlung resultiert, und jenem anderen Zustand eingeschlossen, der sich ergeben hätte, wäre die Handlung nicht vollzogen worden. Von Wright nennt den Gegenstand dieser impliziten Bezugnahme einer jeden Handlung ihr ›kontrafaktisches Element‹,11 das in irrealen Konditionalsätzen zum Ausdruck gebracht werden kann. Nun läßt sich Kontrafaktisches, Irreales empirisch nicht unmittelbar bewahrheiten; man kann also von ihm kein durch direkte Beobachtung begründetes Wissen haben. Trotzdem ist man gewöhnlich der festen Überzeugung, daß es zutrifft. Ist diese Überzeugung rational zu rechtfertigen? Worauf beruht sie? Sie gründet auf der Beobachtung und Vertrautheit mit einem bestimmten Grad von Regelmäßigkeit oder Konstanz, den die natürlichen Abläufe zeigen. Ohne diese Konstanz und das Wissen um sie wären wir nicht imstande, in Geschehensverläufe einzugreifen, d. h. von uns aus einen Anfang in einer Abfolge von Ereignissen zu setzen. Damit wird deutlich: In natürlichen Abläufen sind Kausalbeziehung und Kausalfaktoren ontisch unabhängig vom menschlichen Vermögen zu handeln; aber sowohl begriffslogisch als auch erkenntnistheoretisch von ihm abhängig. Deshalb kann (und muß) der Begriff der Ursache mit Hilfe des Handlungsbegriffs eingeführt werden. Der Begriff der Ursache beruht also auf der menschlichen Fähigkeit, in den natürlichen Ablauf der Dinge einzu11
Causality and Determinism, 39.
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greifen; diese Fähigkeit bzw. ihre Betätigung hat jedoch das Bestehen und die Kenntnis gewisser Regelmäßigkeiten im Naturgeschehen zur Voraussetzung, wobei es erkenntnistheoretisch oder begriffslogisch belanglos ist, ob diese Regelmäßigkeiten nun ihrerseits nomischer, also kausalgesetzlicher, oder bloß akzidenteller, also zufälliger Art sind. – Für ein kausal erfolgreiches Handeln ist eine gewisse Kenntnis dieser Regelmäßigkeiten selbstverständlich notwendig. Der Erwerb dieser Kenntnis geschieht lebensweltlich durch quasi-experimentelles Probehandeln aufgrund mehr oder weniger expliziter Annahmen, in der Naturwissenschaft durch experimentelle Prüfung von Hypothesen und Theorien.
4. Willens- und Entscheidungsfreiheit In einer berühmten Anmerkung in der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft hält Kant fest, daß die von ihm zuvor ›transzendental‹ genannte Freiheit »allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei«. Nur unter der Bedingung dieses Gesetzes könnten »wir uns allererst der Freiheit bewußt werden« (A 5 Anm.). Dieses Bewußtsein qualifiziert er im auf diese Weise kommentierten Satz im Haupttext als ein Wissen a priori. A priori ist dieses Wissen deshalb, weil es – wie das Bewußtsein der Handlungsfreiheit und das Bewußtsein des Moralgesetzes – kein Erfahrungswissen (im Kantischen Sinne) darstellt. Dieses Wissen von der Wirklichkeit der Freiheit ist zwar nach Kant unzertrennlich mit dem Bewußtsein des Moralgesetzes verbunden, weil durch es allein, und zwar notwendig, bedingt; aber es ist kein in Bezug auf die Möglichkeit der Freiheit einsehendes, also kein sie erklärendes Wissen. Die Wirklichkeit transzendentaler Freiheit im moralischen Sinne – und nur von ihr ist in diesem Abschnitt die Rede – ist also nicht an sich und unmittelbar bewußt, sondern nur in Verbindung und in Abhängigkeit vom Bewußtsein des Sittengesetzes. Die Eigenart dieses Gesetzes und des Bewußtseins von ihm genauer zu bestimmen läßt auch eine genauere Bestimmung des Wesens jener Freiheit erwarten. Deshalb wende ich mich zunächst der Frage zu, was Kant unter dem Sittengesetz und unter sittlicher Einsicht versteht. Kant geht in seiner Moralphilosophie – wie schon im zweiten Abschnitt festgestellt – von der Sittlichkeit als einem Faktum aus: Im Bereich des Moralischen ist das Wesentliche nicht zu erfinden, sondern lediglich aufzusuchen
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und in seiner Reinheit begrifflich präzise darzustellen. Jeder Mensch verfügt seiner Auffassung nach über ein grundsätzlich richtiges Verständnis des Moralischen, unabhängig davon, ob er fähig ist, es auch angemessen und klar zu artikulieren. Deshalb ist Kants Methode zur Bestimmung des obersten Prinzips der Moral die der Analyse des gewöhnlichen sittlichen Bewußtseins (vgl. GMS B XV f., 20–22 = AA 4,392, 403 f.; KpV A 14 Anm.). Die Aufgabe der Kritik besteht dann lediglich in der Abweisung von egoistisch, eudaimonistisch, empiristisch, szientistisch oder sonstwie reduktionistisch motivierten Mißverständnissen des jedem Menschen vertrauten Moralischen (vgl. GMS B 23 f. = AA 4,405). Worauf bezieht sich aber Kants Auffassung von der grundsätzlichen Richtigkeit des üblichen Moralverständnisses? Sie bezieht sich zweifellos nicht auf die konkreten materialen Moralurteile von beliebigen Menschen, sondern lediglich auf das, was Kant in der zweiten Kritik als »ein Factum der Vernunft« bzw., abschwächend, »gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft« bezeichnet: das ursprüngliche Bewußtsein unbedingten Verpflichtetseins (KpV A 55.81). Es liegt jeder Erörterung normativer Einzelfragen zugrunde – in Kants Sprache: der moralischen Beurteilung subjektiver Handlungsmaximen. Was meint Kant mit dem Ausdruck ›Faktum der Vernunft‹? 12 Die erste Bedeutungskomponente, die in die Kantische Verwendung des Wortes ›Faktum‹ eingeht, ist die, welche der alltägliche Gebrauch des Wortes ›faktisch‹ nahe legt. Hier fungiert der Begriff des Faktischen gewöhnlich als Gegenbegriff zum bloß Fiktiven, zum lediglich Vermuteten etc. Demnach möchte Kant die Wirklichkeitsgeltung des Bewußtseins unbedingten Verpflichtetseins betonen, die er auch mit solchen Wendungen wie ›objektive‹, ›unbezweifelbare‹, ›unleugbare Realität‹ oder ›apodiktische Gewißheit des moralischen Gesetzes‹ herausstellt (vgl. KpV A 56.81.83.97). Dem gleichen Zweck dienen Formulierungen wie die, daß die vernünftige Bestimmung des Willens ›unvermeidlich‹ ist oder daß das Moralgesetz ›sich aufdrängt‹ bzw. ›einen Zwang‹, ›eine Nötigung ausübt‹ bezüglich entgegenstehender Neigungen (vgl. z. B. KpV A 56.164). Das zweite Bedeutungselement – die Grundlosigkeit und Unableitbarkeit des Bewußtseins des unbedingten VerBei der Beantwortung dieser Frage bediene ich mich der Überlegungen von Andreas Trampota in § 1.4 seiner Dissertation an der Universität Tübingen 2001, mit dem Titel: Autonome Vernunft oder moralische Sehkraft? Das epistemische Fundament der Ethik bei Immanuel Kant und Iris Murdoch (voraussichtlich: Stuttgart / Berlin / Köln 2003). 12
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pflichtetseins – hebt Kant im Unterschied zum ersten Element ausdrücklich hervor, wenn er schreibt: »Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes [scil. der reinen praktischen Vernunft] ein Factum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist« (KpV A 55 f.). Hier geht es Kant, wie auch an anderen Stellen (vgl. KpV A 74.80–83, 163 f.), um den Hinweis, daß das Bewußtsein eines unbedingten Anspruchs grundsätzlich nicht ableitbar ist, schon gar nicht aus Sachverhalten des mundus sensibilis, aber auch nicht aus solchen des mundus intelligibilis. Es ist so fundamental, daß es keiner Begründung zugänglich ist; als ein ursprünglich Gegebenes kann es lediglich aufgezeigt werden. Deshalb könnte man dieses Faktum auch ein datum absolutum nennen. Trampota macht darauf aufmerksam, daß es Kant also nicht nur, im Sinne von William James, um ein (rein subjektives) right to belief gehen kann,13 daß es nämlich keine gewichtigen Einwände gebe, an diesem Bewußtsein unbedingten Verpflichtetseins festzuhalten, sondern um die Objektivität seiner unbedingten Geltung. Deshalb sagt Kant von diesem Bewußtsein, daß es »sich für sich selbst uns aufdringt« (KpV A 56) und bezeichnet es als »apodiktisch gewiß« (KpV A 81). Dieses ›Sich-für-sich-selbst-uns-Aufdringen‹ des unbedingten Verpflichtetseins durch das Moralgesetz in unserer Selbsterfahrung stellt einen positiven und unanfechtbaren Erweis seiner Wirklichkeit dar. – Schließlich bemerkt Trampota, daß der Ausdruck ›Faktum der Vernunft‹ als genitivus explicativus zu verstehen ist: Das Faktum der Vernunft ist nichts anderes als die tätige Vernunft selbst, die sich für sich selbst in ihrem Tätigsein als real erweist.14 Aus all dem folgt, daß das Moralgesetz nicht dadurch Geltung erlangt, daß der Mensch es zum Ziel seines Strebens macht. Es ist auch kein Mittel zu übergeordneten, über- oder außermoralischen, z. B. religiösen, Zwecken. Deshalb ist – mit Trampota – Kants Grundlegung der Ethik nicht als ›teleologisch‹, sondern als ›deontologisch‹ zu bezeichnen, und zwar in einem Vgl. James: The Will to Believe and Other Essays in Popular Philosophy (dt.: Der Wille zum Glauben). 14 So auch schon Beck: Das Faktum der Vernunft. Zur Rechtfertigungsproblematik in der Ethik, 282 Anm. 13
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starken, transzendentalphilosophischen Sinne, d. h.: Das Faktum unseres unbedingten Verpflichtetseins bedarf nicht unserer Anerkennung für seine Geltung, sondern gilt unabhängig von unseren Entscheidungen und drängt sich uns als unbedingter Geltungsgrund jenes Moralgesetzes auf, das der oberste Maßstab für die Beurteilung unserer Begierden und Neigungen, unserer Handlungsgrundsätze und -ziele ist. Mit seiner Betonung der Gesetzlichkeit dieses Maßstabs redet Kant nicht einem legalistischen oder rigoristischen Verständnis der Moralität das Wort, sondern hebt seine Universalität im Sinne der Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit, seine Formalität im Sinne des Absehens von material-inhaltlichen Gesichtspunkten und seine Objektivität im Sinne unbedingter Normativität, also seinen absoluten Verpflichtungscharakter hervor. All diese Gesichtspunkte klingen in den folgenden Sätzen Kants an; sie enthalten außerdem Hinweise auf Kants Methode der Urteilsanalyse, die solche Erkenntnisse zu Tage fördert und bewahrheitet: »Das vorher genannte Factum ist unleugbar. Man darf nur das Urtheil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen: so wird man jederzeit finden, daß, was auch die Neigung dazwischen sprechen mag, ihre Vernunft dennoch, unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen halte, d. i. an sich selbst [nämlich an die reine praktische Vernunft! – Anm. R. W.], indem sie sich als a priori praktisch betrachtet. Dieses Princip der Sittlichkeit nun, eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung willen, die es zum formalen obersten Bestimmungsgrunde des Willens unangesehen aller subjectiven Verschiedenheiten desselben macht, erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftige Wesen, so fern sie überhaupt einen Willen, d. i. ein Vermögen haben, ihre Causalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen« (KpV A 56 f.). Deutlich wird hier auch – wie an vielen anderen Stellen in Kants Werk –, daß das Vernunftfaktum sich für ihn in jenen Urteilen manifestiert, die einen Gegensatz von reiner Vernunft bzw. sittlicher Pflicht und subjektiver Neigung zum Ausdruck bringen. Kant sieht diese Urteile als synthetische Urteile a priori an, d. h., es handelt sich um Urteile reiner praktischer Vernunft. Als solche können sie sich nicht auf Erfahrung gründen, sondern artikulieren Einsichten, die unabhängig von menschlichen Charaktereigenschaften, Zwecksetzungen und Neigungen sind, auch wenn sie sich, als Urteile, auf diese beziehen. Insofern manifestiert sich in ihnen die Autonomie der Vernunft.
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Der Mensch kann sich nicht der Anerkennung dieser Selbstgesetzgebung der Vernunft enthalten oder sich ihr entziehen. Sie erzwingt sich diese Anerkennung, obwohl sie ihrer gar nicht bedarf. Die Vernunft tut dies im von ihr selbst gewirkten Gefühl der Achtung vor dem Gesetz, in Empfindungen der Pflicht, der Schuld und der Reue, vor allem aber in moralischen Beurteilungen und Bewertungen. In ihnen manifestiert sich die Freiheit des Menschen, von seiner konkreten Verfaßtheit, von seinen Wünschen und Neigungen – zumindest im Urteilen – kritisch Abstand zu nehmen; und Kant versucht zu zeigen – u. a. mit Hilfe eines Beispiels, für das er an unsere moralische Selbsterfahrung appelliert –, daß es erlaubt, ja zwingend ist, von dieser Urteilsfreiheit und der ihr zugrunde liegenden Autonomie der Vernunft auf die Freiheit des Willens zu schließen, sich und sein Verhalten allein mit Rücksicht auf moralische Gesichtspunkte zu bestimmen: Fragt man jemanden, der unter Androhung sofortigen Todes aufgefordert wurde, einen Mitmenschen ungerechtfertigt zu beschuldigen, »ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre« (KpV A 54). Überzeugt dieser Übergang vom Bewußtsein der Autonomie reiner praktischer Vernunft und vom darin gegebenen Bewußtsein unbedingten Verpflichtetseins zur Behauptung transzendentaler Willensfreiheit? Ist Kants Axiom ›(Moralisches) Sollen setzt Können (Freiheit) voraus‹ gültig? 15 Wir haben, wie ausgeführt, zu differenzieren zwischen verschiedenen Arten des Könnens, der Freiheit: (a) Vernunftfreiheit und die damit gegebene Urteilsfreiheit; (b) Handlungsfreiheit; (c) moralische Willensfreiheit (als moralische Wahl- und Entscheidungsfreiheit). Wir sahen, daß die Urteilsund die Handlungsfreiheit grundsätzlich und im allgemeinen kein Problem darstellen. Aber wie steht es mit der Willensfreiheit? Kant kennt nur eine Möglichkeit ihres Aufweises, nämlich den gerade präsentierten über die Erfahrung unbedingter Pflicht, wobei er mit Bedacht ein Beispiel wählt, bei dem der moralische Anspruch im Widerstreit zu dem wohl grundlegendsten aller vitalen Bedürfnisse des Menschen steht, nämlich dem, sein Leben zu erhalten. 15
Stellenangaben in Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, 102.
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Kant räumt ein, daß niemand im voraus von sich wissen kann, ob er in besagter Konfliktsituation der moralischen Forderung nachkommen werde. Aber er müsse urteilen, daß ihm dies doch möglich sei. – Ist dieses Urteil berechtigt? Ich meine: Nein. Nicht nur kann niemand seine Wahl, seine Entscheidung in dieser Situation voraussehen, sondern er kann auch nicht wissen, ob er in dieser Situation das Vermögen hat, die moralisch geforderte Entscheidung zu fällen. Für den Fall, daß er sich in dieser Situation nicht dem moralischen Anspruch gemäß verhält, kann dies bedeuten, daß unklar ist und bleibt, ob letztlich ein Zwang oder eine freie Entscheidung zu diesem Ergebnis geführt hat. Davon unberührt mag sein Urteil über das eigene Verhalten sein: Er wird es als mit dem Gebotenen nicht in Übereinstimmung befindlich beurteilen und sich u. U. Selbstvorwürfe machen, von denen aber unklar bleiben mag, ob sie gerechtfertigt sind. Ist Kants Axiom in seinem hier geforderten moralischen Verständnis also unbegründet? Ich schlage dem Erörterten gemäß eine Differenzierung vor: Als transzendentaler Grundsatz ist er gerechtfertigt, stellt er kein Phantasma, keine Chimäre dar, weil er 1. die entscheidende Sinn- und Möglichkeitsbedingung des Moralischen angibt und weil es 2. Menschen gibt, die (a) keines ihrer außermoralischen Interessen als unbedingt betrachten, die aber (b) darüber hinaus fähig und bereit sind, diese ihre außermoralischen Interessen ggf. ihrem unbedingten moralischen Interesse zu opfern. Und diese Fähigkeit und Bereitschaft kann sich letztlich nur im Verhalten zeigen: »in einem Erweis des Geistes und der Kraft« (Paulus: 1 Kor 2, 4)! Mir scheint, daß in diesem, wenigstens gelegentlichen, Sich-zeigen oder Sich-erweisen moralischer Freiheit das einzige wirklich unanfechtbare Zeugnis für die Realgeltung des Sittengesetzes besteht und nicht, wie Kant meint, im unbedingten Vernunftund Verpflichtungscharakter dieses Gesetzes bzw. in dem Bewußtsein davon. Als genereller Nachweis der Realität individueller und situationsbezogener Freiheit zum moralisch Guten kann ein solcher Erweis natürlich nicht in Anspruch genommen werden. Genauso wenig taugt allerdings der Hinweis auf die eventuelle Seltenheit solcher Erweise zum Nachweis der Irrealität dieser Freiheit bei der überwiegenden Zahl der Menschen (daß es vielleicht, wie eine jüdische Überlieferung meint, nur einen einzigen Gerechten in jeder Generation gebe) und damit zum Nachweis der faktischen Geltungslosigkeit des Sittengesetzes bei der Mehrzahl der Menschen. Zwar macht fast jeder die paulinische Erfahrung der Inkonsistenz und der Diskrepanz, des Zwiespalts und des Widerstreits zwischen ›Geist‹ und ›Fleisch‹, zwischen
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›Wollen‹ und ›Vollbringen‹ (vgl. Röm 7, 14 –25), zwischen Urteilen und Handeln. Aber es muß im allgemeinen offen bleiben, wem sich dieser Bruch verdankt: einem individuell konstitutiven, ›angeborenen‹ Unvermögen (vgl. RGV B 8,14 = AA 6,21.25) oder einem durch individuelle Entscheidung(en) erworbenen Unvermögen. So viel läßt sich aufgrund der generellen subjektiven Unerkennbarkeit des eigenen moralischen Charakters jedenfalls zu Gunsten der aktuellen Geltung-für-mich des Sittengesetzes sagen, daß nur die Überzeugung, ihm auch entsprechen zu können, die Möglichkeit, ihm zu entsprechen, wahrt, während die gegenteilige Überzeugung nach Art einer self-fulfilling prophecy diese Möglichkeit unterminiert. Wie bei der Fähigkeit zu handeln, so denkt und versteht sich der Mensch bei seiner sittlichen Vernunft- und Urteilsautonomie, bei seiner aus ihr folgenden Verpflichtungserfahrung und bei seiner damit verbundenen Unterstellung von Willensfreiheit auf zweierlei Weise, nämlich als Vernunft- und Freiheitswesen und als Leib- und Sinnenwesen. Diese ›Doppelexistenz‹ und die Tatsache, daß die Sinnlichkeit des Menschen nicht natürlicherweise mit seinen unbedingten Vernunftansprüchen übereinstimmt, sind der Grund der Erfahrung eines (unbedingten) Sollens (GMS B 111 f. = AA 4,454): »Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches kategorische Sollen einen synthetischen Satz a priori vorstellt, dadurch daß über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält«. Und dort heißt es weiter (GMS B 113 = AA 4,455).: »Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.« Weil die Anerkennung dieses Anspruchs notwendig erfolgt, gibt es ein »eigenes nothwendiges Wollen« im Menschen, wie Kant sich ausdrückt. Insofern ist sein Wille nicht frei. Dieser Wille ist von unbedingtem Wert, aber er kann doch nicht im moralischen Sinne ›gut‹ genannt werden. Aber als Sinnen- und Bedürfniswesen erfährt der Mensch sich zugleich häufig im Widerspruch zu diesem Anspruch. Insofern ist sein Wille frei, ihm zu entsprechen oder ihm
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nicht zu entsprechen. Entspricht er ihm, so ist er ein im moralischen Sinne guter Wille, widerspricht er ihm, ist er ein böser Wille. Auf den in diesem Sinne guten Willen bezieht sich Kants berühmter Eingangssatz zum Haupttext der Grundlegung: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille« (GMS B 1 = AA 4,393). Mit dieser Feststellung scheint eine andere Behauptung der Grundlegung zu konkurrieren, nämlich die, daß »der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen«, als Person, d. h. »als Zweck an sich selbst« existiert und deshalb »einen absoluten Wert hat« (GMS B 64 f. = AA 4,428). Aber diese absolute Wertigkeit ist nicht moralischer Art, bezieht sich nicht auf die moralische Güte eines Menschen, sondern auf den vormoralischen Grund möglicher Güte oder Bosheit: die reine praktische Vernunft als moralisches Urteilsvermögen und das vorhin ›Wille‹ genannte Vermögen zur moralischen Entscheidung. Wenn Kant nun genau diesen anthropologischen Grund zur Materie, zum Inhalt einer der Formeln des Kategorischen Imperativs macht, so scheint er seiner Auffassung von der strikten Formalität dieses Imperativs untreu zu werden. Doch dem ist nicht so. Kant macht hier nur den Grund dieser Form selbst zum Inhalt des Sittengesetzes; es darf und kann nämlich nicht die notwendigen und hinreichenden Bedingungen seiner selbst ignorieren oder gar desavouieren: Vernunftfreiheit, Willensfreiheit und Handlungsfreiheit. Deshalb sagt die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (GMS B 66/67 = AA 4,429). Das Wort ›Menschheit‹ steht in dieser Formel nicht für das Kollektiv aller Menschen, sondern für jenen beschriebenen allgemeinen, allen Menschen gemeinsamen Grund der möglichen individuellen moralischen Selbstbestimmung, während das Wort ›Person‹ hier – bzw. der Ausdruck ›Persönlichkeit‹ in der eingangs angeführten dreiteiligen Bestimmung des Menschen aus der Religionsschrift – jeden einzelnen Menschen als homo noumenon bezeichnet, insofern er an dieser so verstandenen Menschheit teilhat bzw. sie individuell verkörpert. Man könnte nun versucht sein, Kants Ethik letzten Endes doch für eine materiale und teleologische Ethik zu halten, weil sie anthropologische Grundgegebenheiten als unüberbietbar wertvoll auszeichne und in allem Wollen und Handeln zu berücksichtigen vorschreibe – wobei sich an diese Kennzeich-
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nung unvermeidlich die Frage anschließt, wie sich jene absolute Wertung und diese absolute Vorschrift ihrerseits begründen. – Zur Klärung ist auch hier wieder auf Kants Auskunft zu verweisen, »daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei» (KpV A 5 Anm.; vgl. KrV B XXVIII f.; KpV A 51–53, 80–87; RGV B 58 f. Anm. = AA 6,49 Anm.). Auf den gegenwärtigen Zusammenhang bezogen heißt dies: Kants Begründung der Ethik erfolgt in zwei Schritten: Sie gründet sich unmittelbar auf – nimmt ihren direkten Ausgang von – dem Bewußtsein ›formalen‹, d. h. inhaltlich unbedingten Verpflichtetseins, geht aber dann von hier aus in transzendentaler Reflexion zurück auf den ermöglichenden Vernunft- und Freiheitsgrund dieses Bewußtseins, für den Kant den konkretisierenden und konzentrierenden Ausdruck ›homo noumenon‹ wählt. Der letzte Grund des unbedingten Sollens – der ›Form‹ des Sittengesetzes – ist also ein Sein! Und eben dieses Sein des homo noumenon, das es zu achten gilt, ist zugleich der letztliche Inhalt des Sittengesetzes! Ersichtlich macht der traditionell gegen Kant erhobene Formalismusvorwurf unter diesen Verständnisbedingungen keinen Sinn.16 Und auch der andere beliebte Einwand, hier liege ein naturalistischer Fehlschluß vor, verfängt nicht.17 Es wird ja nicht auf irgendeine Weise von einem Sein auf ein Sollen geschlossen, sondern es findet eine – um mit Kant zu sprechen – transzendentale Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen unbedingten Sollens oder – um eine an Wittgenstein anschließende Redeweise zu benutzen – eine ›grammatische‹, d. h. begriffslogische Analyse statt, in der die begrifflichen Präsuppositionen der Erfahrung bzw. des Bewußtseins unbedingten Verpflichtetseins erhoben werden. Wir haben oben allerdings festgestellt, daß diese Erfahrung allein und für sich selbst noch nicht genügt, um ihren Inhalt und ihren angeblichen Ermöglichungsgrund vor dem Verdacht, phantasmaVgl. Ebbinghaus: Deutung und Mißdeutung des kategorischen Imperativs; ders.: Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten; Schmucker: Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants; Gregor: Laws of Freedom. A Study of Kant’s Method of Applying the Categorical Imperative in the Metaphysik der Sitten, bes. Kap. VI; Mendonça: Die Person als Zweck an sich; Geismann: Sittlichkeit, Religion und Geschichte in der Philosophie Kants, bes. 437–450; Steigleder: Kants Moralphilosophie. Die Selbstbezüglichkeit reiner praktischer Vernunft. 17 Vgl. Rentsch: Die Konstitution der Moralität, 270–277, 311–334; Wimmer: Anthropologie und Ethik, 242–245. 16
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tisch, chimärisch zu sein, zu bewahren. Sie muß – über Kant hinaus – um die weitere Erfahrung ergänzt werden, daß es Menschen gibt oder gab, die in bestimmten Situationen jedes direkt oder indirekt selbstbezogene Interesse unzweideutig zurückzustellen vermochten.18 Jene transzendentale Reflexion ist, nach Kants Verständnis, keine theoretische, sondern eine praktische Reflexion, weil ihr Ausgangspunkt, die Erfahrung unbedingten Verpflichtetseins, die transzendentale Gegebenheit praktischer Vernunft, und zwar reiner, d. h. moralischer, praktischer Vernunft, erweise. Deshalb ist auch die in dieser Reflexion eingeschlossene Erkenntnis der Vernunft- und der Willensfreiheit nicht theoretisch, sondern praktisch. Nur so kann in der zweiten Kritik »von dem Befugnisse der reinen Vernunft im praktischen Gebrauche zu einer Erweiterung, die ihr im speculativen für sich nicht möglich ist«, die Rede sein (KpV A 87). Kant geht an einer anderen Stelle dieser Kritik sogar so weit, das Faktum der praktischen Vernunft und das Bewußtsein der Freiheit des Willens miteinander zu identifizieren: Sie seien ›einerlei‹ (KpV A 72). Weil die Freiheit des Willens theoretisch unerweislich und praktisch nicht unmittelbar gegeben, wenn auch »einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt«, kann sie (in einem weiteren Sinne) zur Postulatenlehre gerechnet werden (KpV A 220). Sowohl in der ersten als auch in der zweiten Kritik hat Kant die hier waltende Einstellung zu dem in praktisch-moralischer Hinsicht zu Postulierenden ›Glauben‹ genannt. Dieser Glaube und die ihm eigene Gewißheit können natürlich ihrerseits nicht theoretisch-doktrinär, sondern auch nur praktischmoralisch sein (vgl. KrV A 820 / B 848). Deshalb nennt Kant ihn auch »reinen praktischen Vernunftglauben« (KpV A 259 f.,263). So ist das Höchste, das vom Menschen ausgesagt werden darf, daß er in moralischer Hinsicht frei ist und sich also selbst zur Moralität bestimmen kann, letztlich nicht auf Wissen, sondern auf Glauben gegründet, zwar nicht auf einen religiösen Offenbarungsglauben, sondern auf einen praktischen Vernunftglauben. Aber es bleibt ein Glaube. Seine Gewißheit ist die dem Faktum der reinen praktischen Vernunft eigene, alle empirisch-theoretisch begründeten Gewißheiten überragende Gewißheit. Als Exempla mögen die Geschichten vom ›Mann im Wasser‹ und vom ›Herrn Lehrer‹ dienen, aufgezeichnet von Rosenblatt: The Man in the Water, 37; Kertész: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 56–65, 90–97. 18
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5. Das noumenale Reich der Zwecke oder das ethische Gemeinwesen Mit dem Glauben an das unbedingte Verpflichtetsein und die darauf bezogene moralische Freiheit eines jeden Menschen ist die Hoffnung auf eine moralische Welt verknüpft, in der jeder für sich und zugleich mit jedem anderen das Wohl aller – distributiv und kollektiv betrachtet – will und tatkräftig – kooperativ und subsidiär – nach dem Maße seiner Fähigkeiten und situativen Möglichkeiten befördert. Der Begriff der moralischen Welt – von Kant systematisch erstmals in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft eingeführt (KrV A 808 ff. / B 836 ff.) – hat zwei Dimensionen: eine soziale und eine materiale. Die soziale Dimension tritt in der Grundlegung unter dem Titel eines ›Reichs der Zwecke‹ (GMS B 71–74.83–85 = AA 4,431–433.438 f.), im dritten Stück der Religionsschrift unter dem eines ›ethischen Gemeinwesens‹ hervor. Die materiale Dimension erscheint unter dem Begriff des höchsten Guts. In ihm wird »die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft«, d. h. »eine natürliche und notwendige Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit und der Erwartung einer ihr proportionierten Glückseligkeit, als Folge derselben, wenigstens als möglich« gedacht (KpV A 194.214). All diese Begriffe entfalten das Selbstverständnis einer reinen praktischen Vernunft und sind deshalb bloß intelligibel. Sie bezeichnen noumenale Aspekte einer über den einzelnen Menschen hinausgehenden gemeinsamen (idealen) moralischen Welt bzw. einer (möglichen) moralischen Gemeinschaft der Menschen, einer moralisch geeinten Menschheit. Die darauf bezogene noumenale Anthropologie scheint deshalb ebenfalls ideale Züge anzunehmen. Sie scheint keine transzendentale Anthropologie der faktischen menschlichen Welt oder des faktisch vorkommenden Menschen zu sein. – Das ist jedoch eine Täuschung. Auch die bisher gezeichneten Grundzüge einer noumenalen Anthropologie bezogen sich ja nicht auf den idealen Menschen besten moralischen Willens und Handelns in einer zukünftigen Geschichte, sondern auf die reine Vernunft des wirklichen Menschen. Allerdings umfaßt jene Anthropologie, wie wir sahen, die das Wesen des Menschen charakterisierende doppelte Reflexivität des sich zu sich selbst verhaltenden Selbstverhältnisses, wo das Selbst-Sollen ein Selbst-Sein ist. Aber deshalb wird auch jetzt keine Anthropologie einer idealen Menschheit entworfen – sie wäre auch in einem negativen Sinne ortlos, utopisch –, sondern es wird lediglich in die soziale, ja in die gesamtmenschheitliche Dimension hinein fortgesetzt, was in der auf das Individuum eingeschränkten
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Perspektive schon angelegt war. Handelt es sich doch bei der Forderung nach der Verwirklichung der idealen Welt um eine unbedingte Forderung der tatsächlichen praktischen Vernunft des Menschen, gerichtet an jeden einzelnen Menschen und an alle Menschen in ihrer Gesamtheit, die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft zu realisieren. Kant gibt dem Ausdruck ›moralische Welt‹ folgende Bedeutung: Sie ist »die Welt, sofern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre (wie sie es denn nach der Freiheit der vernünftigen Wesen sein kann und nach den nothwendigen Gesetzen der Sittlichkeit sein soll)« (KrV A 808 / B 836). Diese Welt ist also eine Forderung der reinen Vernunft. Soll diese Forderung aber nicht leer sein, muß vorausgesetzt werden, daß reine Vernunft auch in dieser Hinsicht praktisch sein kann. Nun hat »die Vernunft zwar in Ansehung der Freiheit überhaupt, aber nicht in Ansehung der gesammten Natur Causalität«, d. h. der Mensch kann »zwar freie Handlungen, aber nicht Naturgesetze hervorbringen« (KrV A 807 / B 835). Der Mensch ist nicht Schöpfer der Natur und ihrer Gesetze, vielmehr ermöglicht sie seiner Freiheit zu wirken, setzt ihr aber auch eine unübersteigbare Grenze. Kant denkt diese unter den bekannten Naturgesetzen stehende moralische Welt nur ihrer Form nach oder, wie er sich ausdrückt, »bloß als intelligibele Welt«, »weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben (Schwäche oder Unlauterkeit der menschlichen Natur) abstrahirt wird. So fern ist sie also eine bloße, aber doch praktische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll«, nämlich mittels des moralisch bestimmten Handlungsvermögens des Menschen (KrV A 808 / B 836). – Kants Äußerung erweckt den Anschein, als ob sich die Kennzeichnung der moralischen Welt als intelligibel lediglich dem beschriebenen Abstraktionsvorgang verdanke. Doch der entscheidende Gesichtspunkt, sie ›intelligibel‹ (oder ›noumenal‹) zu nennen, besteht in ihrer moralischen Verfassung, und diese erstreckt sich nicht nur auf den Handlungs-, sondern auch auf den Gesinnungsaspekt, bei dem es um die obersten Grundsätze bzw. die letzten Zwecke des Handelns geht. Die Idee einer moralischen Welt ist der Inbegriff einer Welt, in der alle Menschen die Forderungen der Sittlichkeit zu realisieren suchen. Im Hinblick auf sie charakterisiert Kant die moralische Welt als »ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen […], so fern deren freie Willkür unter moralischen Gesetzen sowohl mit sich selbst, als mit jedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat« (ebd.). Diese Charakterisierung weist
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Analogien auf zu Kants von Rousseau inspirierter Bestimmung der rechtlich bestimmten Handlung, »nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann« (MSR A 33 = AA 6,230). In sachlich engerer Beziehung steht sie zur moralischen Idee eines Reichs der Zwecke und zur moralischen Forderung der Konstitution eines ethischen Gemeinwesens. Vor allem der Begriff des ethischen Gemeinwesens vermag den in der ersten Kritik nicht explizierten Begriff des corpus mysticum näher zu erläutern. Der Begriff des corpus (Christi) mysticum wurde von Augustinus im Anschluß an die paulinischen Leib-Christi-Aussagen in die christliche Theologie eingeführt. Er soll die besondere Existenzform der unsichtbaren – weil noumenalen – Kirche aller an Christus Glaubenden und mit ihm in ›mystischem‹ – d. h. vor allem: sakramentalem – Austausch Stehenden zum Ausdruck bringen. Kant löst diesen Begriff aus seinem engeren dogmatischen Kontext, läßt ihn aber Ähnliches bedeuten, nämlich die Idee einer moralisch geeinten Menschheit, die der religiösen, ja kirchlichen Dimension nicht entbehren muß, wie er im dritten Stück der Religionsschrift zeigt (worauf hier aber nicht eingegangen werden soll). Entwickelt man den Begriff der moralischen Welt als einer ethischen Gemeinschaft von leiblichen Vernunftwesen, dann begreift man diese Welt zugleich als ein »System der mit der Moralität verbundenen proportionirten Glückseligkeit […], weil die durch sittliche Gesetze theils bewegte, theils restringirte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst unter der Leitung solcher Principien Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden« (KrV A 809/B 837). Dies ist deshalb der Fall, weil jedes in jener Welt in Gemeinschaft mit anderen lebende leiblich verfaßte Vernunftwesen als der Voraussetzung nach moralisch gutes Wesen seine eigenen Glücksansprüche auf die Bedingung ihrer Vereinbarkeit mit den Ansprüchen aller anderen leiblichen Vernunftwesen eingeschränkt hat und als ein solches moralisch vollkommenes Wesen sowohl die eigenen wie die aller anderen derart eingeschränkten Ansprüche in Kooperation mit allen anderen ohne Parteilichkeit und mit dem vollen Maß seines Vermögens zu befriedigen bestrebt ist. In einer solchen moralisch vollkommenen Welt gibt es für die Individuen keinen Abstand zwischen Glück und Glücksverlangen, da alles Verlangen in Harmonie gebracht ist mit den in bezug auf jedes andere Individuum gerechtfertigten Glücksansprüchen und ihrer Stillung.
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Was ist aber für unsere tatsächliche Welt zu fordern, in der wir leben? In dieser moralisch unvollkommenen Welt ist die Bedingung nicht erfüllt, »daß jedermann thue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen« (KrV A 810 / B 838). Hier sind Sittlichkeit und Wohlergehen, moralische und physische Glückseligkeit nicht durch Verhalten und Gesinnung der Menschen systematisch-notwendig miteinander verknüpft. Damit diese moralisch notwendige Verknüpfung trotzdem Wirklichkeit werde bzw. die Notwendigkeit, sie zu denken, keinen Widerspruch enthalte und sich so selbst vernichte, bedarf es (des Postulats) einer allgütigen und allmächtigen Vernunft. Die Idee einer solchen Vernunft nennt Kant »das Ideal des höchsten Guts« und bezeichnet diese Vernunft, insofern sie sowohl Gesetzgeber als auch Urheber einer noch herzustellenden moralischen Welt ist, als ›höchstes ursprüngliches Gut‹ und die von ihr zu schaffende Welt als ›höchstes abgeleitetes Gut‹ (KrV A 810 f./ B 838 f.). Weil faktisch bestehende und moralische Welt nicht identisch sind, die moralische Welt noch nicht besteht, obwohl sie moralisch notwendig ist, müssen wir sie »als eine für uns künftige Welt annehmen«, was unsere Existenz über den Tod hinaus bedeutet. »Gott also und ein künftiges Leben sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Principien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen« (KrV A 811 / B 839). In der zweiten Kritik werden diese Postulate als Ergebnis der Auflösung der Antinomie der reinen praktischen Vernunft gesehen.19 Aber auf Kants Postulatenlehre näher einVgl. die wichtige Studie von Albrecht: Kants Antinomie der praktischen Vernunft; dazu das Referat und die weiterführende Diskussion in Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, 62–77, sowie die kritischen Äußerungen von Geismann zu den neueren Debatten um das höchste Gut und die Postulatenlehre Kants: Sittlichkeit, Religion und Geschichte, 451–504. – Die sich des öfteren auch auf meine Untersuchung zu Kants Religionsphilosophie beziehende Kritik Geismanns ist in der Regel erhellend und hat mich häufig überzeugt. Unzutreffend ist allerdings seine Meinung (451 Anm. 78), ich sei der Auffassung, Kants Lehre vom höchsten Gut habe sich im Laufe der Zeit gewandelt: »Insbesondere sehe ich nicht wie Wimmer in der Religionsschrift eine gegenüber den drei Kritiken neue Phase in Kants Lehre vom höchsten Gut«. Ich spreche aber (vgl. Kants kritische Religionsphilosophie, 9) nicht von Wandlung, sondern von Entfaltung, Differenzierung und Vertiefung der moral- und religionsphilosophischen Konzeption Kants im Durchgang durch die drei Kritiken und die Religionsschrift und bemerke, Kants religionsphilosophische Stellungnahmen müßten als heterogen, als inkonsistent oder als sich ändernden Anschauungen geschuldet erscheinen, wenn man das seine Reli19
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zugehen ist im Hinblick auf unser Thema nicht nötig. Zu fragen ist jedoch, worin das ethische Gemeinwesen besteht und worauf Kant die Pflicht seiner Errichtung gründet.20 Im dritten Stück der Religionsschrift lassen sich drei unterschiedliche Begründungsansätze finden, die Kant aber nicht voneinander abhebt: ein sozialanthropologischer, ein geschichtsphilosophischer und ein praktischmoralischer Ansatz.
a) Die sozialanthropologische Begründung für die Pflicht der Konstitution eines die Menschheit umfassenden ethischen Gemeinwesens Diesen Begründungsansatz skizziert Kant zu Beginn des dritten Stücks: Indem der einzelne den Hang zum Bösen in sich überwindet dadurch, daß er seine böse Gesinnung völlig umkehrt und in eine gute verwandelt, hat er zwar die Herrschaft des bösen Prinzips in sich gebrochen, den endgültigen Sieg aber noch nicht errungen; trotz seiner Umkehr bleibt er angefochten. Wodurch? Die Anfechtungen kommen ihm nicht »von seiner eigenen rohen Natur, sofern er abgesondert da ist«, nicht von seiner Sinnlichkeit, sondern »von Menschen«. Lebte er allein für sich selbst, gäbe es nichts, das ihn hinderte, ein guter Mensch zu sein; denn »seine Bedürfnisse sind nur klein und sein Gemüthszustand in Besorgung derselben gemäßigt und ruhig«. Erst sein Zusammenleben mit anderen reizt ihn zum Bösen: »Er ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß gionsphilosophie und ihre Dynamik organisierende Entfaltungsprinzip – den Begriff des höchsten Guts – übersehe, was freilich leicht geschehen könne. Schon die Überschriften zu den Hauptteilen meiner Untersuchung lassen erkennen, daß sie mit der Erkenntnis ernst macht, daß der – analog verwendete – Begriff des höchsten Guts das organisierende Grundprinzip von Kants Religionsphilosophie darstellt (vgl. auch meine weiteren Bemerkungen ebd. 10–13, 65–67). 20 Die folgenden Überlegungen sind meiner Studie Kants kritische Religionsphilosophie entnommen (187–196).
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sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen« (RGV B 128 = AA 6,93 f.). Aber nicht die bloße Tatsache, daß der Mensch nicht für sich allein, sondern unter seinesgleichen lebt, ist der Grund dafür, daß er anfällig für das Böse ist, sondern er liegt für Kant – der hier wohl Rousseau folgt21 – darin, daß der Mensch sich selbst nicht nur mit seinen eigenen Augen, sondern auch mit denen seiner Mitmenschen ansieht und beurteilt, und daß ihr Bild und Urteil – jedenfalls in seiner eigenen Vorstellung – mit dem Bild und Urteil, die er von sich selbst und seinen Bedürfnissen hat, nicht übereinstimmt, sondern von ihnen unvorteilhaft abweicht. Kant hat es in genauem Blick auf das Phänomen, das erst im Symbolischen Interaktionismus der modernen Sozialphilosophie und -psychologie die ihm gebührende Beachtung gefunden hat, offen gelassen, ob diese Abweichung durch die unterschiedliche Wahrnehmung und Beurteilung der anderen oder erst durch die Vorstellung davon im Betroffenen selbst zustande kommt: Der Mensch »ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten«! Da es Kant nur um das Resultat zu tun ist, kann er die Beantwortung der Frage danach, wie es sich nun in Wahrheit verhält, dahingestellt sein lassen. Das Ergebnis ist: Der Mensch macht sich das wirklich oder vermeintlich negative Urteil seiner Mitmenschen über ihn zu eigen und macht sich so abhängig von ihm. Aber ist diese Sachlage nicht ein Zug seines Hangs zum Bösen, für den er selbst verantwortlich zeichnet? Ist dieser Mangel an moralisch-personaler Selbstidentität nicht selber schon, weil selbstverschuldet, das Böse bzw. ein Teil des Bösen in ihm und nicht erst ein (moralisch neutraler) Anlaß oder Anreiz zum Bösen? Mit diesem Defizit scheint doch zumindest die erste der Stufen des Hanges zum Bösen bzw. der bösen Gesinnung oder Denkungsart, wie sie von Kant im ersten Stück der Religionsschrift entwickelt worden waren (RGV B 21 ff. = AA 6,29 ff.), »die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt, oder die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur«, realisiert. Außerdem hat er die mangelnde Selbstidentität dort schon als in der Freiheit des Menschen begründet und ihm damit zurechenbare Entartung seiner zweiten Naturanlage »für die Menschheit«, d. h. für seine zweckrationale Sozialität, beschrieben (RGV B 17 = AA 6,27). Vgl. Rousseau: Discours sur l’origine et des fondements de l’inégalité parmi les hommes. 21
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In dieser Zuordnung wird der Mangel an moralischer Selbstidentität als Defizit der (noumenalen) Denkungsart – der moralischen Gesinnung –, als Ergebnis transzendentaler Freiheitsentscheidung gedeutet. Aber er ließe sich auch der (phänomenalen) Sinnesart zuordnen, als Zeichen mangelnder Selbstbestimmung und Integrationskraft einer Grundentschiedenheit für das Gute in den Entscheidungsbereich des Alltags, in den konkreten leiblichsinnlich-sozialen Vollzug. Mit der Umkehr der Denkungsart ist zwar die ›Herrschaft‹ des ›bösen Prinzips‹ gebrochen, aber noch kein völliger, nicht nur den noumenalen, sondern auch den phänomenalen Bereich des Menschen umfassender ›Sieg‹ errungen; denn die Sinnesart, der phänomenale Bereich läßt sich nicht in gleicher Weise gleichsam mit einem Schlag revolutionieren, sondern nur in langwierigen, ausdauernden, vor Rückschlägen nicht gefeiten Bemühungen reformieren. Von den üblen eingeschliffenen Gewohnheiten eines Menschen im Umgang mit sich und seinesgleichen und den strukturellen Deformationen des sozialen und politischen Umfelds, von den vielfältigen Verkehrt- und Verhaftetheiten, mit denen die Menschen einander an der Führung eines befreiten, selbstbestimmten, glücklichen Lebens hindern, geht – so liegt nahe anzunehmen – ein beständiger Anreiz, zuweilen gar so etwas wie ein Sog, ja ein Zwang aus, die geschehene grundlegende Umkehr wieder rückgängig zu machen. – Aber ist diese naheliegende Annahme auch gerechtfertigt? Von ›Kampf‹, ›Angriff‹, ›Anreiz‹, ›Sog‹ usw. zu sprechen ist der Versuch, Unanschauliches, ja Unerkennbares – nämlich den Zusammenhang zwischen dem Phänomenalen und dem Noumenalen im Menschen – anschaulich und verständlich zu machen. Die Grenzen des Zulässigen sind aber überschritten, wenn das Wesen dieser beiden Bereiche verfälscht wird. So dürfen denn jene Ausdrücke nicht so verstanden werden, als könne das Phänomenale einen Kausaleinfluß auf das Noumenale ausüben. Die transzendentale Freiheit eines Menschen ist unberührbar. So wenig er Herr seiner selbst im psychischen und sozialen Sinne sein mag – im noumenalen Sinne ist und bleibt er uneingeschränkter Souverän. Es liegt an ihm, ob er hier der Anfechtung stattgibt, während es seiner freien Entscheidung im phänomenalen Sinne entzogen sein kann wegen der begrenzten Reichweite seiner psychischen und sozialen Freiheit, den gesellschaftlichen Zumutungen zu unmoralischem Verhalten entgegenzutreten. Ein Zusammenschluß der Menschen zur Beförderung der Moralität der Denkungsart wäre sinnlos, weil hier jeder nur für sich selber sorgen kann, nicht aber ein solcher zum Zwecke der Beförderung
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einer moralischen Sinnesart, weil sie aufgrund der Gesellschaftlichkeit des Menschen immer auch gesellschaftlich bedingt ist. Trotzdem kann es sich nur um eine ethische und nicht um eine rechtliche Vereinigung handeln, weil es um die Moralität der Einstellung (unmittelbar der Sinnesart, mittelbar der Denkungsart) und nicht um die Legalität des Verhaltens geht. Jedes Mittel aber zu ergreifen, das geeignet ist, Moralität wiederherzustellen, zu erhalten und auszubreiten, ist selbst moralische Pflicht. Das vorzüglichste Instrument zur Verfolgung dieses Zwecks stellt aber die ethische Vereinigung aller Menschen, kollektiv betrachtet, dar. Weil sie aber nicht von einzelnen bewerkstelligt werden kann – handelt es sich doch um eine moralische Vereinigung –, kann sie nur Pflicht der gesamten Menschheit sein. Diese Überlegungen lassen sich mit Kant so zusammenfassen: »Die Herrschaft des guten Princips, so fern Menschen dazu hinwirken können, ist also, so viel wir einsehen, nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu beschließen durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird« (RGV B 129 = AA 6,94). Im Anschluß daran führt Kant einige terminologische Klärungen durch: »Man kann eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen nach Vorschrift dieser Idee eine ethische, und sofern diese Gesetze öffentlich sind, eine ethisch-bürgerliche (im Gegensatz der rechtlich-bürgerlichen) Gesellschaft, oder ein ethisches gemeines Wesen nennen« oder auch in Analogie zum bürgerlichen Rechtsstaat einen »ethischen Staat, d. i. ein Reich der Tugend (des guten Princips)« (RGV B 129 f. = AA 6,94 f.). Natürlich sind die beiden das rechtlich-politische und das ethische Gemeinwesen bestimmenden Prinzipien wesentlich voneinander verschieden: Das Prinzip des Rechts schränkt nur die äußere Freiheit der Menschen im Verkehr miteinander auf jene Bedingungen ein, unter denen diese Freiheit eines jeden mit der Freiheit jedes anderen zusammenbestehen kann. Um diese Beschränkung gegebenenfalls wirkungsvoll durchsetzen zu können, ist staatliche Autorität mit Zwangsgewalt erforderlich. Der so erzwungene Gehorsam kann nur äußerlich sein, womit aber der Zweck des rechtlichen Zwangs auch erfüllt ist. Demgegenüber kennt das ethische Gemeinwesen keine öffentliche, mit Zwangsmitteln ausgestattete Autorität. Sie würde seinen Zweck, statt bloßer Legalität wahre Moralität zu fördern, unmittelbar vereiteln. Sein Prinzip ist vielmehr das der Vereinigung unter dem öffentlich proklamierten Ideal der
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reinen moralischen Gesinnung aller Menschen in all ihrem Tun und Lassen (RGV B 131 f., 137 f. = AA 6,95 f., 98 f.; vgl. MSR A 33 f. = AA 6,230 f.; MST A 18 f., 28–34 = AA 6,388 f., 394 –398).
b) Der geschichtsphilosophische Begründungsansatz Dieser Ansatz zur Begründung der menschheitlichen Verpflichtung zur Konstituierung eines ethischen Weltstaats bedient sich der Vorstellung von einem ethischen Naturzustand. Die bei wesentlicher Verschiedenheit der konstitutiven Prinzipien doch obwaltende Analogie zwischen dem rechtlichen und dem ethischen Gemeinwesen dehnt Kant auf jenen Zustand aus, der der Gründung des ethischen Gemeinwesens vorausgeht. So spricht er nicht nur von einem ›juridischen Naturzustand‹ (den er übrigens nun nicht mehr wie noch in seiner Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte von 1786 mit Rousseau als paradiesischen oder jedenfalls als vorkulturellen, moralisch gesehen neutralen Zustand ansieht, sondern mit Hobbes als einen »Zustand des Krieges von jedermann gegen jedermann«); sondern er spricht auch von einem »ethischen Naturzustand«, den er als einen »Zustand der unaufhörlichen Befehdung des guten Princips […] durch das Böse« oder auch als »eine öffentliche wechselseitige Befehdung der Tugendprincipien und ein[en] Zustand der innern Sittenlosigkeit« beschreibt (RGV B 134 f. = AA 6,96 f.). Die letzte Kennzeichnung ist allerdings schwer verständlich: Wie können sich Tugendprinzipien wechselseitig öffentlich befehden? Diese Formulierung kann sich lediglich auf das Fehlen der geforderten moralischen Vereinigung beziehen; so wie sich auch die Rede von ›innerer Sittenlosigkeit‹ nur von dem geforderten ethischen Gemeinwesen her verstehen läßt: Weil dieses (noch) nicht besteht, ist der gesamtmenschheitliche Binnenraum, ethisch betrachtet, im Zustand der Gesetzlosigkeit, der Unmoral. Jeder einzelne Mensch guten Willens folgt zwar der allen gemeinsamen moralisch-praktischen Vernunft, und insofern kann es weder intra- noch interindividuell einen Widerstreit von Pflichten oder Pflichtenkollisionen geben, wie Kant an anderer Stelle betont (MSR A 23 f. = AA 6,224). Aber das Ausbleiben eines die gesamte Menschheit umfassenden Reichs moralischen Wollens hat das Fehlen eines zureichenden Vertrauens in die Gesinnung auch der fernerstehenden Individuen, Gruppen und Gemeinschaften zur Folge, auch wenn solche Gruppen (›Kirchen‹) in ihrem Binnenraum für
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ihre Mitglieder dieses aufeinander bezogene moralische Wollen und Vertrauen schon annäherungsweise verwirklicht haben. Doch, wie Kant zurecht bemerkt, kann eine solche Gruppe »nur eine besondere Gesellschaft heißen«, die als »partiale Gesellschaft nur eine Vorstellung oder ein Schema ist, weil eine jede selbst wiederum im Verhältniß auf andere dieser Art als im ethischen Naturzustande sammt allen Unvollkommenheiten desselben befindlich vorgestellt werden kann« (RGV B 133 = AA 6,96). Diese Darlegungen Kants erinnern an die Aufstellung und Erörterung der Reich-der-Zwecke-Formel des Kategorischen Imperativs in der Grundlegung. Dort macht Kant von dem Begriff eines (moralischen) Reichs Gebrauch und spricht von einem ethischen ›mundus intelligibilis‹, den er in einem weiteren Schritt, wie wir gleich sehen werden, mit dem Reich Gottes identifiziert. Kant versteht »unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze« (GMS B 74 = AA 4,433). ›Systematisch‹ besagt hier nichts anderes als ›gesetzlich‹ oder ›gesetzmäßig‹; das Systematische kommt über das bloß Zufällige einer Verbindung zwischen Vernunftwesen durch die ihnen gemeinsamen Vernunftgesetze zustande. Diese Gesetze explizieren das Sein der Vernunftwesen; sofern sie ihnen aber noch nicht gemäß sind, explizieren sie, als kategorische Imperative, ihr Sollen. Ihr Sein ist von absolutem Wert; ihm kommt deshalb Würde zu (GMS B 77 f. = AA 4,434 f.). Kant bezeichnet ein Wesen mit solchem Wert als ›Zweck an sich selbst‹; ein Selbstzweck kann und darf niemals nur als Mittel gebraucht werden. Die moralisch vernünftige Verfolgung und Befriedigung von Interessen und Bedürfnissen als Zweck bestimmter Handlungen und Tätigkeiten hat die Beachtung dieses kategorischen Imperativs zur Bedingung. Ein Reich der Zwecke beinhaltet nur die moralisch vernünftige Ordnung dieser beiden Arten von Zwecken, nämlich der Vernunftwesen als Selbstzwecken und ihrer individuellen Handlungszwecke. Ein Reich der Zwecke ist somit »ein Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes sich selbst setzen mag) in systematischer Verknüpfung« (GMS B 74 = AA 4,433). Jedes Vernunftwesen ist sowohl Subjekt als auch Objekt einer solchen Vereinigung, die aber nur wirklich wird, wenn alle Vernunftwesen zu ihr zusammentreten – Subjekt, insofern es sich und allen anderen das Gesetz dieses Zusammenschlusses vorgibt und insofern es (mit allen anderen) verpflichtet ist, diesen zu betreiben; Objekt als Gegenstand der geforderten Achtung und als von allen einzubeziehendes Glied einer solchen Vereinigung. Auch wenn
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(vorauszusehen ist, daß) das Reich der Zwecke nicht zustandekommt, so ist doch jedes vernünftige Wesen verpflichtet, so zu handeln, »als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre« (GMS B 83 = AA 4,438). Es würde Wirklichkeit werden, wenn der Kategorische Imperativ »allgemein befolgt« würde (GMS B 84 = AA 4,438). Unter Einbeziehung der Tatsache seiner Nichtbefolgung kann er dann so formuliert werden: »handle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reiche der Zwecke« (GMS B 84 = AA 4,439). Insofern ist es »nur ein Ideal« (GMS B 75 = AA 4,433). In diesem Punkt unterscheiden sich Grundlegung und Religionsschrift nicht voneinander; denn auch diese vertritt die Auffassung, daß »die Idee« eines ethischen Gemeinwesens als eines Reichs der Tugend »in der menschlichen Vernunft ihre ganz wohlgegründete objective Realität hat (als Pflicht sich zu einem solche Staate zu einigen), wenn es gleich subjectiv von dem guten Willen der Menschen nie gehofft werden könnte, daß sie zu diesem Zwecke mit Eintracht hinzuwirken sich entschließen würden« (RGV B 130 = AA 6,95). Aber in anderer Hinsicht scheint – wenigstens auf den ersten Blick – ein Unterschied zu bestehen: Die Grundlegung spricht von der Pflicht jedes einzelnen, sich so zu verhalten, als ob ein Reich der Zwecke bestünde, obwohl (auch wenn) es nicht besteht; die Religionsschrift dagegen spricht von der Pflicht der gesamten Menschheit, sich zu einem Reich der Tugend zu vereinigen, ein Ziel, das nicht von einzelnen, sondern nur von allen zusammen in einem gemeinsamen Entschluß verwirklicht werden kann (RGV B 129.135 = AA 6,94.97). – Doch diese Differenz ist nur scheinbar. In der Grundlegung entfaltet Kant den Kategorischen Imperativ noch nicht bis zu seiner Gabelung in das Prinzip des Rechts und der Rechtspflichten und in das Prinzip der Tugend und der Tugendpflichten, welche Zweiteilung Kant ausdrücklich erst in der Metaphysik der Sitten vornimmt (MSR A 33,47–49 = AA 6,230 f., 239 f.; MST A 4–9,11 f. = AA 6,380–383.385). Entsprechend dieser Differenzierung des Kategorischen Imperativs besteht (nun nicht für die einzelnen Individuen oder Völker, sondern) für die Menschheit insgesamt die zweifache Pflicht, den rechtlichen und den ethischen Naturzustand zu verlassen und sich – über vielleicht unvermeidliche Zwischenstufen – sowohl zu einem politischen als auch zu einem ethischen Weltreich zu vereinigen. Diese das Projekt der umfassenden Verwirklichung praktischer Vernunft krönenden Ideale stellt Kant einerseits in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795), andererseits in seiner Religionsschrift (1793) vor.
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c) Der praktisch-moralische Begründungsansatz Dieser Ansatz zur Begründung der menschheitlichen Pflicht zur Konstituierung eines ethischen Weltstaats bezieht sich auf die Notwendigkeit der Realisierung des höchsten Guts: »Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objectiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt« (RGV B 135 = AA 6,97). Kant expliziert den Begriff des höchsten Guts in der Religionsschrift nicht, sondern setzt ihn voraus (vgl. das Vorwort zur ersten Auflage der RGV, A III–X = AA 6,3–6). Aber vielleicht ist dieser Rekurs voreilig. Es ist damit zu rechnen, daß »das höchste sittliche Gut« (RGV B 136 = AA 6,97) in nichts anderem als dem zuvor von Kant Dargelegten besteht, nämlich dem allgemeinen menschlichen Heraustreten aus dem ethischen Naturzustand. Doch dieser Deutung widerspricht folgender Zug von Kants anschließender Erörterung, in der die Pflicht des Zusammenschlusses der Menschheit »zu einem System wohlgesinnter Menschen […] als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen« als von anderen moralischen Pflichten, »die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe«, ganz unterschieden hingestellt wird, weil sie die Pflicht sei, »auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe« (RGV B 136 = AA 6,98). Dieses wesentliche Nichtwissen in bezug auf unsere Fähigkeiten bezieht sich auf zwei miteinander zusammenhängende Sachverhalte: 1. auf den Umfang unseres Vermögens, nach der Revolution unserer Denkungsart zum Guten auch die Reform unserer Sinnesart in Angriff zu nehmen und irgendwann einmal erfolgreich abzuschließen, und 2. auf den Umfang unseres Vermögens, das höchste Gut zu realisieren, nämlich zusammen mit der Sittlichkeit die ihr in genauer Proportion zukommende Glückseligkeit, die natürlich auch ihre sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen hat und deshalb ebenfalls ein ethisches Gemeinwesen erforderlich macht. Wir sind also in einem weder a priori noch a posteriori bestimmbaren Ausmaß sowohl bei der Reform unserer Sinnesart als auch bei der Beförderung der unserer Sittlichkeit entsprechenden Glückseligkeit auf den guten Willen anderer Menschen angewiesen, auf den systematisch aber nur Verlaß ist, wenn er gemeinschaftlich proklamiert worden ist. Nun besteht aber diese Vereinigung des guten Willens aller (noch) nicht; außerdem kann sie nur für die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen
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der genannten zu realisierenden Güter aufkommen, und auch da nur insoweit, als ihre Verwirklichung in das Vermögen aller (als einzelner und als Gesamtheit) gegeben ist. Diese Güter müssen aber realisiert werden; das fordert die praktisch-moralische Vernunft. Sie muß deshalb, wie oben schon angesprochen, die Existenz eines Wesens postulieren, das sowohl mächtig genug als auch gerecht und gütig ist, diese Güter (zusammen mit uns) zu verwirklichen. Das ist der Grund, weshalb Kant die Explikation der Pflicht der Menschheit, ein ethisches Gemeinwesen zu gründen, so abschließt: »Man wird schon zum voraus vermuthen, daß diese Pflicht der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich der eines höhern moralischen Wesens, bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen [zu ergänzen wäre: als auch der gesamten Menschheit! – Anm. R.W.] zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden« (RGV B 136 = AA 6,98). Dieser Pflicht kann man somit nur in Erwartung der Mithilfe Gottes nachkommen. Ein unter dieser Bedingung bestehendes ethisches Gemeinwesen nennt Kant unter Verwendung einer biblischen Bezeichnung ›Volk Gottes‹. Von ihm gilt somit: »Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann« (RGV B 141 = AA 6,100) – genauer: dessen Mitwirkung notwendige Bedingung seiner Verwirklichung ist. Ebenso notwendig ist allerdings das Tun jedes einzelnen Menschen (im Verbund mit allen anderen): »Er muß vielmehr so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen« (RGV B 141 = AA 6,101). Doch das ethische Gemeinwesen steht nicht nur unter der Bedingung göttlichen Mitwirkens aufgrund menschlicher Schwäche, sondern auch unter der göttlicher Gesetzgeberschaft trotz der Autonomie des Menschen. Schon in der Grundlegung spielt Gott in einem herzustellenden Reich der Zwecke die Rolle eines gesetzgebenden Oberhauptes, weshalb dieses Reich auch ›Reich Gottes‹ heißen kann (GMS B 75 f.,85 = AA 4,433 f.,439). Während aber in der Grundlegung Gott und Mensch hinsichtlich ihrer gesamten gesetzgeberischen Tätigkeit als von gleichem Rang erscheinen, erstreckt sich diese Gleichrangigkeit in der Religionsschrift nur noch auf die das Individuum verpflichtende moralische Gesetzgebung. Ja nicht einmal der allgemeine ethische Wille einer sich zu einem ethischen Weltstaat vereinigenden Menschheit scheint imstande zu sein, dieses Gemeinwesen gesetzgeberisch zu konstituieren – im Unterschied
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zur Konstitution eines politischen Gemeinwesens, wo der vereinigte Wille all jener, die sich rechtlich zusammenschließen wollen, genügt. Worin ist dieser Unterschied nach Kant begründet? Er beruht auf dem Öffentlichkeitscharakter des ethischen Gemeinwesens, der es im Unterschied zu einem rechtlichen Gemeinwesen in einen Widerspruch hineintreibt – nicht die Moralität, sondern nur die Legalität von Handlungen kann öffentlich sein! –, wenn nicht ein auch die Gesinnungen durchschauendes allwissendes (und ihnen gemäß vergeltendes allmächtiges) moralisches Vernunftwesen »als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht« wird (und zugleich als moralischer »Weltherrscher«). »Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich« (RGV B 138 f. = AA 6,99). Kant holt die religiöse Vorstellung vom Reiche Gottes gleichsam vom Himmel auf die Erde herab. Er tut dies dadurch, daß er das Ideal der moralischen Einheit der gesamten Menschheit als (in einer entfalteten ethischen Systematik oberste) moralische Vernunftidee versteht. Aber die Vernunft würde in einen Widerspruch mit sich selbst geraten bzw. jenes verpflichtende Ideal würde sich als begrifflich unmöglich erweisen, wenn nicht die unter Bedingungen der Sinnlichkeit bestehende und allem Anschein nach durch den Menschen selbst nicht aufhebbare Unvermitteltheit von Gesinnung und Publizität, Innerlichkeit und Öffentlichkeit, die sich konkret nicht selten zum Antagonismus auswächst, transzendiert werden könnte. Das aber erscheint Kant nur unter Voraussetzung eines göttlichen Gesetzgebers und moralischen Weltherrschers möglich, für den dieser Widerstreit nicht besteht. Die Idee einer in und durch Moralität geeinten Menschheit erweist sich somit erst mit dem Postulat der Existenz Gottes als verpflichtende Vernunftidee. Auch daß Kant, wie beschrieben, die moralische Vereinigung aller Menschen als das ›höchste‹, von Gott und Menschheit ›gemeinschaftlich‹ zu verwirklichende ›Gut‹ bezeichnet (RGV B 135 f. = AA 6,97 f.), legt die postulatorische Deutung seiner Erörterungen nahe, auch wenn er sie nicht explizit an die Kritik der praktischen Vernunft anschließt und sich fast durchgehend mit ihnen auf der begrifflichen Ebene bewegt, z. B. wenn er von der Notwendigkeit spricht, eine bestimmte ›Idee‹ oder einen bestimmten ›Begriff‹ von Gott ›vorauszusetzen‹ oder zu ›denken‹ (RGV B 136, 138 f. = AA 6,98.99); das geschieht allerdings in einem Abschnitt, der durch seine Überschrift die in ihm enthaltenen Erwägungen als (jedenfalls zunächst einmal) begriffliche qualifiziert:
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»Der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens ist der Begriff von einem Volke Gottes unter ethischen Gesetzen« (RGV B 137 = AA 6,98). Aber es geht ja um die Erforschung der Bedingungen für die Verwirklichung des ethischen Gemeinwesens, so daß seine begrifflich notwendigen Voraussetzungen und Implikationen zugleich auch real notwendige sind. Daß Kant es so meint, wird auch durch das schon zitierte Resultat seiner Darlegungen bestätigt: »Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann«. Im Unterschied also zum ersten Abschnitt des zweiten Stücks der Religionsschrift, in dem der Sohn Gottes als reine Vernunftidee und unter ihrer objektiven Realität lediglich ihre praktisch-moralische Gültigkeit verstanden ist, und im Unterschied zum ersten Teil des vierten Stücks und Äußerungen Kants in anderen Schriften, wo Religion bestimmt wird als Befolgung moralischer Pflichten, insofern sie zugleich als Gebote Gottes aufgefaßt werden, die Existenz Gottes aber von dieser Auffassung nicht vorausgesetzt werden muß, geht Kant in der ersten Abteilung des dritten Stücks über diese Position hinaus, genötigt durch die Einsicht, daß aufgrund offenbar unverrückbarer natürlicher Begrenztheiten des Menschen – soll die Verwirklichung der Idee einer moralischen Einheit der gesamten Menschheit möglich sein und die Auffassung dieser Idee als notwendige Idee der praktischen Vernunft aufrecht erhalten werden können – die Existenz eines allwissenden und allvermögenden moralischen Wesens praktisch-moralisch postuliert werden muß.
6. Schluß Die Untersuchung hat gezeigt, daß Kants noumenale Anthropologie sich in zwei Dimensionen bewegt: zum einen in der Dimension ›Individualität – Kollektivität‹ bzw. ›Personalität – Gemeinschaftlichkeit‹, zum anderen in der Dimension ›Mensch – Gott‹. Sowohl von seinem individuellen als auch von seinem gemeinschaftsbezogenen ethischen Selbstverständnis aus berührt der Mensch mit praktisch-moralischer Notwendigkeit Gott; und die Anthropologie erweist sich als nicht vollständig ohne diesen Übergang in die Theologie. Der Mensch und seine moralische Bestimmung – das ist für Kant letztlich der Gegenstand seiner Transzendentalphilosophie. Damit ist sie für ihn im Kern transzendentale Anthropologie in praktisch-moralischer Hinsicht. Die Grundfrage der Philosophie ist deshalb, wie wir sahen, für Kant: Wer bin ich
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und wer soll ich sein? Wer muß ich sein, um ein Mensch zu sein? Die transzendentale Anthropologie, die im gekennzeichneten Sinne zugleich praktisch ist, gibt hierauf die angemessene philosophische Antwort. Diese Antwort wäre aber von jedem Philosophierenden – um mit Kierkegaard zu sprechen – noch in die eigene ›Innerlichkeit‹, die eigene ›Subjektivität‹ zu nehmen, damit sie nicht nur Reflexionsergebnis bleibt, sondern in den Vollzug der ganzen ›Existenz‹ eintritt. Ein zentraler Aspekt dieses Selbstvollzugs scheint für Kant in einem permanenten Staunen über das Wunder des eigenen Daseins und seiner eigentlichen Bestimmung zu liegen. Kant hat diesem Staunen mehrfach lebhaften Ausdruck verliehen. Einer dieser von moralisch-religiösem Enthusiasmus gezeichneten Ausbrüche sei zum Abschluß zitiert: »Aber eines ist in unsrer Seele, welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt. – Was ist das (kann man sich selbst fragen) in uns, wodurch wir von der Natur durch so viel Bedürfnisse beständig abhängige Wesen doch zugleich über diese in der Idee einer ursprünglichen Anlage (in uns) so weit erhoben werden, daß wir sie insgesammt für nichts und uns selbst des Daseins für unwürdig halten, wenn wir ihrem Genusse, der uns doch das Leben allein wünschenswerth machen kann, einem Gesetze zuwider nachhängen sollten, durch welches unsere Vernunft mächtig gebietet, ohne doch dabei weder etwas zu verheißen noch zu drohen? Das Gewicht dieser Frage muß ein jeder Mensch von der gemeinsten Fähigkeit, der vorher von der Heiligkeit, die in der Idee der Pflicht liegt, belehrt worden, der sich aber nicht bis zur Nachforschung des Begriffes der Freiheit, welcher allererst aus diesem Gesetze hervorgeht, versteigt, innigst fühlen; und selbst die Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage muß auf das Gemüth bis zur Begeisterung wirken und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag« (RGV B 56–59 = AA 6,49 f.).
Die Bedeutung der Methodenlehren von Joachim Kopper
1. Einführung in das Problem Die drei Hauptwerke der kritischen Philosophie Kants – die Kritik der reinen Vernunft (1781), die Kritik der praktischen Vernunft (1788) und die Kritik der Urtheilskraft (1790) – enthalten jeweils als Hauptteil eine ›Elementarlehre‹ und als eine Art Anhang eine ›Methodenlehre‹. In der ›Methodenlehre‹, so können wir sagen, findet eine Art Reflexion auf die Bedeutung der Lehraussagen statt, die in der ›Elementarlehre‹ gemacht sind. An diese Reflexion Kants will ich mich in diesem Beitrag in erster Linie halten. Das bedeutet, daß wir versuchen müssen, in das Denken Kants selbst einzutreten und es als solches mitzuvollziehen. Es geht uns weniger um die behauptenden Lehraussagen als um das Denkgeschehen selber. Dabei ist es freilich nötig, daß wir zum Ausgangspunkt unserer Untersuchung die Lehraussagen nehmen, die Kant in der ›Elementarlehre‹ der Kritik der reinen Vernunft aufstellt, deren Problematik sich dann in der ganzen kritischen Philosophie entwickelt, insbesondere auch in den ›Methodenlehren‹ der drei Kritiken. Demgemäß soll dieser Beitrag in den folgenden drei Teilen aufgebaut sein. In einem ersten Teile werde ich von der ›Elementarlehre‹ der reinen Vernunft handeln; dann folgt die Betrachtung der ›Methodenlehre‹ der reinen Vernunft, und anschließend werde ich – in Bezug auf die ›Methodenlehre‹ – auf die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urtheilskraft zu sprechen kommen.
2. Zum Verhältnis von Elementarlehre und Methodenlehre in der Kritik der reinen Vernunft In der affirmierenden Lehre der Kritik der reinen Vernunft setzt sich Kant mit der scholastischen Metaphysik auseinander, deren Lehren er selbst noch – nach Handbüchern – seinen Vorlesungen zugrunde gelegt hat. Die schola-
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stische Metaphysik ging davon aus, daß der menschliche Verstand sich direkt auf die Dinge bezieht und seine Aussagen über die Dinge als solche macht. Die traditionelle Metaphysik glaubte dabei, zu dogmatischen Aussagen über die Dinge selbst kommen zu können und die Wirklichkeit auch ihrem ganzen Umfange nach mit ihren Begriffen zu erreichen. Deswegen glaubte man auch, über den ersten und obersten Grund aller Dinge, ferner über die erkennende menschliche Seele und über die Welt als Ganze zu behauptenden Aussagen kommen zu können. Diese behauptende Metaphysik war aber doch nicht so sicher in sich selbst gegründet, daß sie nicht auch in ihren Aussagen hätte in Frage gestellt werden können. Und man kann sagen, daß dieses Infragestellen selbst auch in der Denkhaltung der Metaphysik erfolgt ist, also durch ein Denken, das in Bezug auf sich selbst der Auffassung war, daß es sich in seinem Begreifen direkt mit den Sachen selbst befassen könne. Dieses Sichinfragestellen des metaphysischen Denkens führte dann nicht mehr zu dogmatischen Behauptungen über das Wirkliche, es führte vielmehr in die Skepsis. Obwohl es sich also den dogmatischen Behauptungen der klassischen Metaphysik entgegenstellt, kommt das skeptische Denken mit der metaphysischen Denkhaltung doch darin überein, daß es glaubt, sich mit seinem Begreifen direkt auf die Dinge selbst beziehen zu müssen, um über sie als solche Aussagen machen zu können. Wenn wir auf das philosophische Denken und auf die geistige Haltung überhaupt des 18. Jahrhunderts hinblicken, so bekommen wir den Eindruck, daß das Zeitalter mit diesen gegensätzlichen Stellungnahmen ganz gut zurechtgekommen ist. So verhält es sich mit Kant nicht. Er stellt das dogmatische metaphysische Denken und das skeptische metaphysische Denken nicht einfach, ein jedes für sich selbst genommen, nebeneinander hin, sondern er sucht sie als die zwei Ausdrucksweisen eines einzigen Geschehens des philosophischen Denkens zu fassen, das sich selbst als dogmatisches und als skeptisches Denken immer entgegenstellen muß, ohne Ruhe finden zu können, und das sich auf diese Weise selbst aufreibt und zerstört. In der Vorrede zur 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant (A X, nicht in B): »Jetzt, nachdem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentism, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften«. Kant meint, daß das menschliche Erkennen aus dieser Situation nur dadurch herauskommen könne, daß es nicht mehr glaube, sich unreflektiert direkt auf die Sachen beziehen zu können, sondern daß es sich zunächst mit sich selber befassen und
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versuchen müsse, zur Einsicht in seine eigene Situation und in die Weise zu kommen, wie es sich zu den Gegenständen verhalte. Nur sofern das menschliche Erkennen zur Erkenntnis seiner selbst gelangt ist, kann es für Kant über sein Verhältnis zu den Dingen recht befinden. In diesem Sinne sagt er, es geschehe »eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntniß, aufs neue zu übernehmen« (KrV A XI, nicht in B).
a) Die Aufgabe der ›transscendentalen Elementarlehre‹ Sehen wir uns nun den ersten Satz der ›transscendentalen Elementarlehre‹ an, so heißt es da (KrV B 33 / A 19): »Auf welche Art und durch welche Mittel auch immer eine Erkenntniß sich auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht […], die Anschauung.« Wie unser Erkennen es eigentlich mache, das beschwerliche Geschäft der Selbsterkenntnis auszuführen, was für Kant ja offenbar noch kein Philosoph vor ihm recht geleistet hat, davon hören wir nichts. Wir bleiben vielmehr bei der alten Auffassung, daß unser Erkennen einen direkten Zugang zu den Dingen habe. Doch soll dieser direkte Zugang zu den Dingen jetzt nicht mehr – wie für die hergebrachte Metaphysik – durch das Begreifen, sondern vielmehr durch das Anschauen geleistet werden. In seiner vorkritischen Zeit war Kant, ohne daß er sich dabei auf die Selbsterkenntnis der menschlichen Erkenntnis berufen hätte, zu der Einsicht gelangt, daß nicht das Begreifen, sondern daß vielmehr das Anschauen die Basis alles menschlichen Erkennens sei. Auf die Weise des Anschauens findet für uns das Gegenwärtigsein und das Offenbarsein der Dinge statt. Diesem Anschauen müssen wir uns hingeben, und so die Dinge anschauend können wir sie dann auch begreifen. Damit, daß sich das Begreifen so für Kant auf das Anschauen beziehen muß, hat sich aber an dem Begreifen selbst gar nichts geändert, und es ist immer noch die Frage, ob dieses Begreifen tauglich ist, die Dinge an sich selbst und als solche aufzufassen oder ob es, auch wenn es sich nun auf das Anschauen als auf seine Basis bezieht, ein skeptisches Begreifen bleiben muß, das nicht weiß, was die Dinge, denen es sich direkt zuwendet, eigentlich bedeuten. So kommt das philosophische Denken damit, daß es sich auf die Anschauung gründet, wohl in eine neue Position, aber zur Selbsterkenntnis der Erkenntnis ist es damit nicht gelangt. Das philosophische Denken hat sich für seine Lehre
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einen neuen Ausgangspunkt gegeben, aber, weil es nicht wirklich zu einer Selbsterkenntnis der Erkenntnis gelangt ist, führt es sich weiterhin mit dem Anspruch auf das direkte Begreifen der Dinge aus, wie er im metaphysischen Denken vorliegt (KrV B 1 / A 1): »Daß alle unsere Erkenntniß mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel.« Kant hat lange überlegt, auf welche Weise er denn nun das für ihn auf die Anschauung gegründete Erkennen auf die Weise einer metaphysischen Lehre ausführen solle. Er hat sich dafür entschieden, dies auf die Weise eines dogmatischen metaphysischen Behauptens zu tun, das also behauptet, daß unser Begreifen im direkten Zugang zu den Dingen die Dinge selbst und als solche fassen könne. Die skeptische metaphysische Auffassungsweise, daß wir die Dinge, zu denen unser Begreifen direkten Zugang hat, durch unser Begreifen in ihrer Bedeutung doch nicht verstehen können, hat er verworfen. Für das metaphysische dogmatische Begreifen aber hat er gemeint, der in sich beschlossenen Bedeutung des Anschauens durch eine ebenso in sich beschlossene systematische Anordnung der Begriffe entsprechen zu können, von der er dann auch behauptet, daß sie sich in der Geschichte des philosophischen Denkens noch nicht gefunden habe, sowie er dies bezüglich der Selbsterkenntnis der Erkenntnis in der ›Vorrede‹ der Kritik der reinen Vernunft tut. Der die Erkenntnis begründenden Anschauung entspricht das System der Erkenntnisbegriffe. Durch diese Begriffe haben wir dogmatische Erkenntnis von den Dingen innerhalb der Situation, daß sie uns in der Anschauung offenbar und gegenwärtig sind. Mit dieser auf unser Anschauen gegründeten dogmatischen Metaphysik, die also, ohne daß sie zur Selbsterkenntnis der Erkenntnis gelangt wäre, den Skeptizismus, der auch zum metaphysischen Denken gehört, durch bloße Deklaration von sich abweist, kritisiert Kant dann die dogmatische scholastische Metaphysik, wie er sie noch in den Handbüchern für seine Vorlesungen fand. Und in diesem Sinne heißt sein Buch dann die Kritik der reinen Vernunft, nämlich die Kritik der reinen Vernunft, wie sie sich in der dogmatischen Metaphysik vorstellig gemacht hat. Diese Kritik der dogmatischen reinen Vernunft, die selbst dogmatisch verfährt – und die auf den Skeptizismus, wie er doch auch zur Metaphysik gehört – gar nicht eingeht, besteht dann eigentlich in dem beständigen Appell an die dogmatisch begriffene anschauende Erfahrung: Wir begreifen die Dinge, aber wir begreifen sie nur, sofern wir sie erfahren; die traditionelle Metaphysik hingegen habe gemeint, daß das Begreifen durch sich und für sich allein die Dinge als solche fassen könne. In diesem Sinne habe sie gemeint, von dem ersten und
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obersten Grund der Dinge, von der Substantialität der menschlichen Seele und von der Welt als ganzer behauptend handeln zu können. Solche auf das Begreifen allein gegründete Behauptungen sind aber verfehlt: Wir gelangen zum Begreifen der Dinge nur, sofern wir sie anschauend erfahren.
b) Die Aufgabe der ›transscendentalen Methodenlehre‹ Mit diesem Ergebnis seiner ›transscendentalen Elementarlehre‹, das die Vernunft, wie sie sich auf die Weise der traditionellen Metaphysik verstanden hat, kritisiert, scheint Kant recht zufrieden gewesen zu sein. Zum Beschlusse seines Buches sagt er (KrV B 884): »Was nun die Beobachter einer scientifischen Methode betrifft, so haben sie hier die Wahl, entweder dogmatisch oder sceptisch, in allen Fällen aber doch die Verbindlichkeit, systematisch zu verfahren. Wenn ich hier in Ansehung der ersteren den berühmten Wolff, bei der zweiten David Hume nenne, so kann ich die übrigen, meiner jetzigen Absicht nach, ungenannt lassen. Der kritische Weg ist allein noch offen. Wenn der Leser diesen in meiner Gesellschaft durchzuwandern Gefälligkeit und Geduld gehabt hat, so mag er jetzt urtheilen, ob nicht, wenn es ihm beliebt, das Seinige dazu beizutragen, um diesen Fußsteig zur Heeresstraße zu machen, dasjenige, was viele Jahrhunderte nicht leisten konnten, noch vor Ablauf des gegenwärtigen erreicht werden möge: nämlich die menschliche Vernunft in dem, was ihre Wißbegierde jederzeit, bisher aber vergeblich, beschäftigt hat, zur völligen Befriedigung zu bringen.« Wir sehen nicht, auf welche Weise Kant in der ›transscendentalen Elementarlehre‹ die Selbsterkenntnis der Erkenntnis geleistet haben kann, wir hören aber auch nichts mehr von dem Chaos der Nacht, die für Kant ja gerade nur durch diese Selbsterkenntnis soll überwunden werden können. Das Chaos und die Nacht haben sich für Kant aber dadurch ergeben, daß das dogmatische und das skeptische metaphysische Denken einander aufreiben und auswegslos machen. Das skeptische Denken bloß als solches genommen ist nicht die Nacht und das Chaos, sondern die Nacht und das Chaos entstehen dadurch, daß das dogmatische Denken in sich selbst skeptisch ist und an seine eigenen behauptenden Aussagen nicht glauben kann, und daß umgekehrt das skeptische Denken nicht an sich und seine skeptische Denkhaltung glauben kann. In der Zuwendung zur bloßen Anschauung, die in ihrem Anschauen gar nichts behauptet, kommt diese Totalsituation, die das traditionelle Begreifen
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verläßt, zum Ausdruck. Aber Kant hat das Begreifen nicht in dieses Anschauen hineinnehmen können. Er wendet sich statt dessen – mit schlechtem Gewissen – zur dogmatischen Metaphysik zurück. Die ›transscendentale Elementarlehre‹ ist – auch in der Kritik, die an der dogmatischen Metaphysik und ihrer Gottes-, Seelen- und Weltlehre geübt wird – ein bloßes – selbst dogmatisches – Korrigieren, das sich seiner Unzulänglichkeit und seines Unausgewiesenseins bewußt ist und in einer Haltung des Denkens vollzogen wird, die darum weiß, daß sie selbst immer noch durch das Chaos und die Nacht bestimmt ist. Auf diese Weise erscheinen uns die letzten Worte der Kritik der reinen Vernunft, in denen Kant in Bezug auf dieses Werk seine Selbstzufriedenheit ausdrückt, als ein verzweifelter Versuch, die Unzulänglichkeit im Denken, die er beim Schreiben der ›Elementarlehre‹ erfahren hat, zu verdecken, und es ist diese Situation seines Denkens, die doch immer schon eine Einkehr des Denkens in sich selbst ist, die sich darin darstellt, daß er sich aufgerufen sah, seiner ›transscendentalen Elementarlehre‹ eine ›Methodenlehre‹ hinzuzufügen. In den Handbüchern der Metaphysik war der affirmierenden philosophischen Lehre immer auch eine ›Methodenlehre‹ als Anhang beigegeben, die sich mit der richtigen Anwendung und Durchführung des Denkens befaßte, das seinen metaphysischen Behauptungen nach in der eigentlichen Lehre vorgetragen war. In dieser Weise ist die Kantische Methodenlehre nicht zu verstehen. Auch Kants Methodenlehre befaßt sich mit dem richtigen Vernunftgebrauch; aber dieser richtige Vernunftgebrauch kann gerade nicht im direkten Anschluß an die ›Elementarlehre‹ vorgenommen werden, sondern er entspringt aus der Einsicht in die Unzulänglichkeit des Denkens der ›Elementarlehre‹ und aus der Einkehr, die in dieser Einsicht liegt. Ganz anders als die Selbstzufriedenheit, mit der die letzten Worte der Kritik der reinen Vernunft dieses Werk beschließen, hört sich an, was Kant zu Beginn seiner Besinnung auf den richtigen Vernunftgebrauch in der ›Methodenlehre‹ sagt (KrV B 823 / A 795): »Es ist demüthigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet. […] Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ: da sie nämlich nicht als Organon zur Erweiterung, sondern als Disciplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrthümer zu verhüten.« Aus dieser Situation kann es keinen Übergang zum richtigen Vernunftgebrauch geben, sondern der richtige Vernunftgebrauch muß anderswo gesucht
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werden: nämlich jenseits der Lehre und also unabhängig von ihr: und dieser Vernunftgebrauch ist der, in dem der Mensch als das vernünftige Weltwesen in seinem Sichverhalten in der Welt und in seinem Sichverstehen in der Gemeinschaft mit anderen Menschen sein Leben lebt. Kant nennt diesen Vernunftgebrauch, der – mit ihm selbst zu reden – der Vernunftgebrauch des gemeinen Menschenverstandes ist, den praktischen Vernunftgebrauch. Dieser praktische Vernunftgebrauch ist von der Lehre ganz unabhängig. Von der Lehre aus gelangt man nicht zu ihm hin, sondern der Philosoph, der die Unzulänglichkeit der Lehre durchschaut hat, muß sich von sich aus diesem praktischen Vernunftgebrauch als der Rettung aus dem Chaos und der Nacht zuwenden. Kant sagt in Beziehung auf die Situation der Vernunft (KrV B 824 / A 796): »Vermuthlich wird auf dem einzigen Wege, der noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie zu hoffen sein.« Auch in ihrem praktischen Gebrauche ist die Vernunft das oberste Erkenntnisvermögen. Sie meint die richtige Erkenntnis der Welt und der Situation des Menschen in der Welt. Um diese richtige Erkenntnis in der Einkehr des Denkens in sich selbst zu vollziehen, wendet sich Kant also von seiner theoretischen Kritik des metaphysischen Verständnisses der reinen Vernunft ab und wendet sich – in der Haltung der Einkehr des Denkens in sich selbst – dem gemeinen Menschenverstand und dem praktischen Gebrauch der Vernunft zu, die mit der Metaphysik und mit der Kritik der Metaphysik gar nichts zu tun haben (KrV B 824 f. / A 796 f.): »Folglich wenn es überall einen richtigen Gebrauch der Vernunft giebt, in welchem Fall es auch einen Kanon derselben geben muß, so wird dieser nicht den speculativen, sondern den praktischen Vernunftgebrauch betreffen, den wir also jetzt untersuchen wollen.« Dieser praktische Vernunftgebrauch soll eine Erkenntnis hergeben, die uns in ihrer Gültigkeit dem Chaos und der Nacht entreißt und die der Erfahrung unserer selbst und der Welt den in sich beschlossenen und ausgewiesenen Charakter gibt, den die metaphysischen und auch die kritischen philosophischen Behauptungen gerade nicht haben. Diese Erkenntnis, über die die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche verfügt, ist also gerade nicht eine Erkenntnis, die sich nur dem kritischen Philosophen offenbart, sondern sie ist seit je offenkundig und ist gerade auch die Erkenntnis des gemeinen Menschenverstandes. Die in sich beschlossene und allgemeingültige Erkenntnis, die wir auf diese Weise haben, meint aber die sittliche Bedeutung, die unsere Erfahrung von der Welt und von uns selbst immer schon bestimmt. Diese
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Bedeutung unserer Welterfahrung müssen wir akzeptieren und hinnehmen, wir können sie nicht durch theoretisches Philosophieren einsichtig machen. Deswegen sagt Kant (KrV B 835 / A 807): »Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori […] das Thun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen. […] Diesen Satz kann ich mit Recht voraussetzen, nicht allein indem ich mich auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auf das sittliche Urtheil eines jeden Menschen berufe«. Wenn wir erkennen, daß unsere philosophischen Behauptungen uns die eigentliche Bedeutung der Welt und unseres Daseins in der Welt gerade nicht eröffnen können, und wenn wir uns in unserem Welt- und Lebensverständnis dem praktischen Gebrauch der Vernunft anvertrauen, dann bekommt für uns die Welt im ganzen eine neue, eine moralische Bedeutung. Die Welt interessiert uns dann nicht mehr primär als die materiell gegebene Welt, und es sind nicht mehr die materiellen Güter, die unserem Leben in erster Linie Bedeutung und Inhalt geben sollen, sondern wir verstehen die Welt und unser Dasein in der Welt als den Vollzug einer moralischen Bestimmung, in die letztlich alle Dinge und alle Güter der Welt einbezogen sind. Diese unsere Welt gilt uns mit allem, was in ihr ist, und ohne daß sie sich dadurch in ihrer Beschaffenheit ändern würde, als solche als ein moralisches Reich, in dem die Menschen in moralischer Gemeinschaft miteinander verbunden sind (KrV B 836 / A 808): »Die Idee einer moralischen Welt hat […] objective Realität, nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligibelen Anschauung ginge […], sondern auf die Sinnenwelt, aber als einen Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche, und ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr«. »Die Idee einer moralischen Welt«, sagt Kant, »hat objective Realität«, d. h., diese unsere Welt gibt sich tatsächlich in dieser unbedingten Bedeutung an, und die Gemeinschaft, die die Menschen miteinander haben, hat in der Tat schon in dieser Welt den Charakter des corpus mysticum (KrV B 836 / A 808); aber diese unbedingte moralische Bedeutung unseres Daseins in der Welt schließt nicht aus, daß unsere Situation in der Welt nicht doch auch immer schon durch Hilflosigkeit, Schwäche und Verzweiflung bezeichnet ist, und daß Hilflosigkeit und Verzweiflung in gewisser Weise die Vorbedingung dafür sind, daß uns die moralische Bestimmung der Welt und unseres Daseins in der Welt überhaupt recht vor Augen tritt. In das Geschehen der Welt und unseres Daseins in der Welt als Sichvollziehen einer unbedingten morali-
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schen Bedeutung ist uns so die Hoffnung verwoben, daß diese moralische Bedeutung der Welt schließlich alles in allem sei und daß die Welt in dieser Bedeutung wahrhaft mit sich übereinkommen werde. In diesem Sinne hoffen wir auf das Herbeikommen des Reiches der Gnaden. »Leibniz nannte die Welt, so fern man darin nur auf die vernünftigen Wesen und ihren Zusammenhang nach moralischen Gesetzen unter der Regierung des höchsten Guts Acht hat, das Reich der Gnaden, und unterschied es vom Reiche der Natur. […] Sich also im Reiche der Gnaden zu sehen, wo alle Glückseligkeit auf uns wartet […], ist eine praktisch nothwendige Idee der Vernunft« (KrV B 840 / A 812). Wir hoffen auf das Reich der Gnaden; diese Hoffnung aber hält sich nicht an das faktische Gegebensein der Welt und an Behauptungen über diese gegebene Welt, die unser Denken ja gerade nicht auf die Wahrheit führen können, sondern, indem sie als die Hoffnung, die die wahre Bedeutung der Welt meint, in sich selbst beschlossen ist, da werden für sie – als Hoffnung – die Welt und die Menschen in ihrem Dasein aus dem ›höchsten ursprünglichen Gute‹ verstanden, durch das die Welt ihr Sein habe und durch das sie zu der Übereinkunft und Vollendung ihrer moralischen Bedeutung – im Reiche der Gnaden – gelangen werde. Die Hoffnung ergeht sich nicht in philosophischen Behauptungen über den Grund der Welt und über ihre oberste Ursache, sondern aus sich selbst – und auf die Weise ihrer selbst – weiß sie die Welt aus dem höchsten ursprünglichen Gut, durch das sie zu ihrer Vollendung durch das Reich der Gnaden bestimmt ist. Auf diese Weise verheißt uns die Vernunft in der Hoffnung das Herbeikommen – durch Gott – einer zukünftigen Welt, »welche freilich nur eine intelligibele Welt ist, da die Sinnenwelt uns von der Natur der Dinge dergleichen […] nicht verheißt, deren Realität auch auf nichts andres gegründet werden kann, als auf die Voraussetzung eines höchsten ursprünglichen Guts, da selbständige Vernunft mit aller Zulänglichkeit einer obersten Ursache ausgerüstet, […] die allgemeine, obgleich in der Sinnenwelt uns sehr verborgene Ordnung der Dinge gründet, erhält und vollführt« (KrV B 842 / A 814). Das Wissen um Gott kann nicht aus dem theoretischen oder, wie es auch heißt, spekulativen Gebrauch der Vernunft hervorgehen, der es nicht vermag, uns auf die Wahrheit zu führen; allein durch den praktischen Gebrauch der Vernunft werden wir auf dieses Wissen geführt, das ein Wissen der Hoffnung ist: sich also selbst gerade nicht als Begreifen, sondern vielmehr als Hoffen vollzieht. In dieser Hoffnung liegt aber eine Gewißheit, die in ihrem unbedingten Gelten über alle Behauptung hinausliegt, wie die theoretische
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Vernunft sie vorbringen kann. Das macht ja gerade die Verfassung der theoretischen Behauptungen aus, daß sie die Wahrheit nicht erreichen, sondern in einem Milieu geschehen, in dem über die Wahrheit überhaupt nicht befunden werden kann. Wenn wir auf philosophische Behauptungen verzichten und uns mit unseren wissenschaftlichen oder praktischen Behauptungen nur an die Dinge in der Welt und an ihre Verhältnisse halten, können wir beanspruchen, über diese Zustände zu wahren Einsichten zu kommen; aber die Dinge und ihre Zustände kommen mit ihren Wahrheiten allesamt nur in der Welt vor, zu deren wahrer Erkenntnis wir durch theoretisches Begreifen und Behaupten gerade nicht gelangen. Das Wissen der Hoffnung befreit uns von der Bindung an das theoretische Meinen der Welt, das ohne Wahrheit ist, und wir verstehen, daß die Wahrheiten, die wir in der Welt finden, zu der unbedingten Bedeutung unseres Daseins überhaupt nicht in ein Verhältnis gesetzt werden können. Das theoretische Meinen geht nicht auf das Ursprünglichgültige selbst und gilt in gewisser Weise nur in der Welt; das Wissen der Hoffnung aber, das wir als ein nichttheoretisches Wissen auch das Wissen des Glaubens nennen können, führt uns zu dem moralisch Gewissen eines künftigen Lebens im Reiche Gottes. Dieser Glaube oder dieses Wissen der Hoffnung, das dem praktischen Gebrauch der Vernunft entspringt, ist aber recht eigentlich ein Wissen des gemeinen Menschenverstandes. Die theoretische philosophische Spekulation dagegen führt in der Anmaßung und im Eigendünkel der Behauptungen, sie mögen positiv oder negativ ausfallen, von diesem eigentlichen Wissen des Menschen nur ab. Ich will hier noch in einem etwas längeren Zitat die Schlußstelle dieser Betrachtungen Kants anführen, in der er die Bedeutung seiner Darstellung des Wissens der Hoffnung, in der es um Gott und um ein künftiges Leben im Reiche der Gnade geht, von den – positiven oder auch negativen – Behauptungen der theoretischen Philosophie – auch von seinen eigenen – absetzt und dabei doch auch rühmt, daß erst aus seiner Kritik heraus das Erkennen, das immer schon im gemeinen Menschenverstande liegt, zur deutlichen Verkündigung hat gelangen können. Die Stelle lautet (KrV B 858 f. / A 830 f.): »Ist das aber alles, wird man sagen, was reine Vernunft ausrichtet, indem sie über die Grenzen der Erfahrung hinaus Aussichten eröffnet? nichts mehr als zwei Glaubensartikel? So viel hätte auch wohl der gemeine Verstand, ohne darüber den Philosophen zu Rathe zu ziehen, ausrichten können! Ich will hier nicht das Verdienst rühmen, das Philosophie durch die mühsame Bestrebung ihrer Kritik um die menschliche Vernunft habe; gesetzt, es
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sollte auch beim Ausgange bloß negativ befunden werden. […] Aber verlangt ihr denn, daß ein Erkenntniß, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle? Eben das, was ihr tadelt, ist die beste Bestätigung von der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen, da es das, was man anfangs nicht vorhersehen konnte, entdeckt, nämlich, daß die Natur in dem, was Menschen ohne Unterschiede angelegen ist, keiner parteiischen Austheilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie es in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen.« Kant beginnt diese Bemerkung mit dem Satze: »Ist dies aber alles, wird man sagen, was reine Vernunft ausrichtet, indem sie über die Grenzen der Erfahrung hinaus Aussichten eröffnet? nichts mehr als zwei Glaubensartikel?« Wenn wir uns hierbei in Kants Denken zu versetzen suchen, so hören wir aus diesem Satz heraus, daß für Kant mit der Einsicht in das Wissen der Hoffnung und in den Glauben, wie sie aus dem praktischen Gebrauch der Vernunft hervorgehen, daß für ihn also mit seiner ›Methodenlehre‹ der reinen Vernunft das, was die kritische Philosophie zu sagen hat, eigentlich vollendet und abgeschlossen ist. In dem Wissen der Hoffnung und des Glaubens liegt das, worum es der Vernunft eigentlich geht, und die Philosophie kann nicht mehr tun, als dieses »Interesse der Menschheit, welches keinem höheren untergeordnet ist« (KrV B 826 / A 798), rein und unverstellt vorstellig zu machen.
3. Zu den Methodenlehren der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urtheilskraft Aber Kant hat seine kritische Philosophie nicht mit dieser ›Methodenlehre‹ beschlossen; es scheint für ihn nicht möglich gewesen zu sein, sich in Bezug auf die obersten Fragen der reinen Vernunft mit dem Wissen des gemeinen Menschenverstandes zu begnügen, sondern er fühlte sich gedrängt, über den im bloßen Lebensvollzug gemeinten Glauben doch wieder zu spekulativer Erkenntnis hinauszugehen. Doch diese Übertragung der ›Methodenlehre‹ in spekulative Erkenntnis konnte er wieder nur auf die Weise dogmatischer Behauptung realisieren. Er gelangt nicht dazu, das dogmatische und das skeptische metaphysische Denken zu der Einsicht zusammenzuschließen, in der das Chaos und die Nacht überwunden werden können. Aber wenn die Kritik der
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praktischen Vernunft und die Kritik der Urtheilskraft dann auch in dogmatischer Behauptung verfahren, so geht es doch darum, aus dem bloßen Vollzug des gemeinen Menschenverstandes heraus zu einer Einsicht zu gelangen, in der die Vernunft mit sich selber übereinkomme: aus der ›Methodenlehre‹ heraus geht Kant – dogmatisch – über die Kritik der reinen Vernunft hinaus. Diese Rastlosigkeit, mit der es Kant darum ging, zu als endgültig behaupteter Einsicht zu gelangen, können wir – in einer kurzen Unterbrechung des Gedankenganges – ganz allgemein durch eine Mitteilung des österreichischen Barons von Purgstall über einen Besuch bei Kant – im Jahre 1795 – charakterisieren (vgl. Malter: Immanuel Kant in Rede und Gespräch, Nr. 493): »So gewiß ich nun glaube, daß Kants Moralität und Humanität durch den gefährlichen Stand eines Professors nicht gelitten hat, so gewiß ist es doch, daß er nicht allen Mängeln und Unvollkommenheiten seines Amtes entwischt. So kann er z. B. nicht mehr reden hören, wird ungeduldig, wenigstens auf einen Augenblick, wenn jemand etwas besser zu wissen glaubt, spricht unaufhörlich allein und weiß alles über alle Länder, Orte, Weltteile usw., z. B.: er wußte besser als ich, was für Federvieh wir haben, wie das Land aussieht, auf welcher Stufe der Aufklärung der katholische Geistliche steht usw.«
a) Zur Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft Auf diese Weise hat Kant die Einsicht, zu der er in der ›Methodenlehre‹ der reinen Vernunft gelangt war, auf dogmatische Weise in die ›Elementarlehre‹ der Kritik der praktischen Vernunft übertragen und hat im Ausgang von den Glaubenssätzen der ›Methodenlehre‹ das Dasein Gottes auf theoretischdogmatische Weise angenommen und vorausgesetzt. Von dieser Gotteslehre, die sich in der ›Elementarlehre‹ der praktischen Vernunft findet, können wir hier nicht näher handeln. Aber es verhält sich mit dieser dogmatischen Lehre so, daß sie mit ihren Behauptungen das moralische Sichverstehen des Menschen gerade wieder aus dem Blick verliert, und daß die ›Methodenlehre‹ der praktischen Vernunft, ohne selbst auf die Frage nach Gott sprechen kommen zu können, dazu aufruft, wieder in das moralische Sichverstehen einzukehren: und dies soll nicht durch einsames Denken, sondern durch das Gespräch erreicht werden. Dort heißt es (KpV A 269): »Vielmehr wird unter dieser Methodenlehre die Art verstanden, wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth, Einfluß auf die
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Maximen desselben verschaffen, d. i. die objectiv praktische Vernunft auch subjectiv praktisch machen könne.« Und später schreibt Kant (KpV A 272): »Wir wollen […] diese Eigenschaft unseres Gemüths, diese Empfänglichkeit eines reinen moralischen Interesse, und mithin die bewegende Kraft der reinen Vorstellung der Tugend, wenn sie gehörig ans menschliche Herz gebracht wird, als die mächtigste, und […] einzige Triebfeder zum Guten, durch Beobachtungen, die ein jeder anstellen kann, beweisen«. So wendet sich Kant mit dieser ›Methodenlehre‹ abermals von der Spekulation weg und zurück zum gemeinen Menschenverstande. Aber diese Rückwendung hat nun doch einen anderen Charakter, als sie ihn noch in der Kritik der reinen Vernunft hatte. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, die moralische Gesinnung und den moralischen Glauben als solche sprechen zu lassen, sondern die Niedergeschlagenheit, in die auch die theoretischen Affirmationen der Kritik der praktischen Vernunft geführt haben, läßt eine Einkehr und ein Verweilen im moralischen Sichverstehen und im Lebensgefühl hervorgehen, das gegenüber den objektiv-theoretischen Darlegungen der Lehre, als Kraft und als das eigentlich Lebendige erfahren ist. In diesem Sinne kommt Kant im ›Beschluß‹ der ›Methodenlehre‹ der praktischen Vernunft auf das Gefühl der Bewunderung und der Ehrfurcht zu sprechen, mit dem uns der bestirnte Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns erfüllen. Was in der ›Methodenlehre‹ der reinen Vernunft von dem Philosophen nur festgestellt wurde, das wird jetzt auf die Weise des Lebensgefühls vollzogen (vgl. KpV A 288 –292).
b) Zur Methodenlehre der Kritik der Urtheilskraft Doch selbst aus dieser Situation tritt Kant nochmals in das theoretisch-dogmatische Behaupten ein und legt 1790 die Kritik der Urtheilskraft vor. Selbst wenn wir die unbedingte Bedeutung, die im Weltsystem und in unserem eigenen sittlich bestimmten Dasein liegt, auch im Lebensgefühl verstehen, so mangelt diesem Gefühl für Kant doch immer noch die theoretische Einsicht in seine Bedeutung. Und diese Einsicht, mit der wir uns über den gemeinen Menschenverstand erheben, muß noch erreicht werden können. Aber das theoretisch-dogmatische Denken kann sich jetzt selbst nicht mehr einfach wiederholen, sondern es muß aus jener Einkehr und Besinnung vollzogen werden, die auf die Weise des gemeinen Menschenverstandes das Chaos und
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die Nacht, in die die theoretischen Affirmationen geführt haben, von sich abweist. So bekommt die letzte der drei Kritiken den Charakter des theoretisch-dogmatischen Sichausführens der Einkehr, in die das Denken Kants aus dem Scheitern der ›transscendentalen Elementarlehre‹, die nicht auf die Wahrheit führen konnte, schon mit der ›Methodenlehre‹ der reinen Vernunft eingetreten war. In diesem Sinne stellt sich die Kritik der Urtheilskraft nicht eigentlich als eine Lehre, sondern als eine – dogmatische – Reflexion dar, in der sich die Welt und das Dasein des Menschen in ihr als ein System darstellen, das in ästhetischen und teleologischen behauptenden Urteilen verstanden wird. Weil diese Lehre eine bloße Reflexion ist, verzichtet Kant auch darauf, sie ausdrücklich als ›Elementarlehre‹ zu bezeichnen. Indem man aber in dieser Reflexion auf das Gegebensein der Welt und des Menschen eingeschränkt bleibt, wird für diese reflektierende Lehre nun wieder eine besondere Methodenlehre erforderlich, in der die Reflexion sich selbst wieder in das moralische Gefühl hineinstellt und sich aus ihm vollzieht, so daß nun der moralische Glaube, von dem die Kritik der reinen Vernunft gehandelt hatte, sich nicht mehr nur als Faktum angibt, sondern als Vollzug des wahren Sichverstehens des Menschen in der Reflexion auf sich selbst zu verstehen ist. So bekommt die ›Methodenlehre‹ als ›Anhang‹ in der Kritik der Urtheilskraft ein besonderes Gewicht und ist auch umfänglicher als in den beiden anderen Kritiken ausgeführt. Die Reflexion, die sich in der behauptenden Lehre als für sich selber gültig darstellt, gibt sich in das Lebensgefühl und in den moralischen Glauben hinein und gibt sich selbst als die Weise an, wie das Lebensgefühl und der Glaube sich vollziehen. Das dogmatische Denken hebt, wenn wir so sagen wollen, seine eigene Autonomie auf und nimmt sich als solches durch das Lebensgefühl und durch den moralischen Glauben auf. Die Kritik der praktischen Vernunft hatte versucht, den Glauben, wie er für jedermann gilt, durch ein dogmatisches Begreifen zu bestimmen und war daran gescheitert. Aus der Rückbesinnung auf das moralische Sichverstehen des Menschen, das die ›Methodenlehre‹ der praktischen Vernunft verlangt, geht dann ein dogmatisch bestimmendes Denken hervor, das nur noch Reflexion sein kann. Diese Reflexion, die sich in ihrem affirmierenden Verfahren auch nicht genügen kann, die immer noch so beschaffen ist, daß sie die Wahrheit nicht festhalten kann, wird in der ›Methodenlehre‹ als Reflexion im Lebensgefühl und im Glauben vollzogen und in ihrem dogmatischen Charakter nicht mehr als für sich selbst geltend, sondern als die bloße Weise genommen, das Lebensgefühl
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und den Glauben durch sich anzugeben. Das dogmatische Denken tritt so in die Bescheidung ein, und auf diese Weise entfällt auch die Unterscheidung, die dieses Denken zwischen sich und dem gemeinen Menschenverstand immer gemacht hat. Das Begreifen ist nicht durch sich zu verstehen, sondern es ist durch das Lebensgefühl und durch den Glauben zu verstehen, und in diesem Sinne ist das Begreifen der Welt und des Menschen durch die Unterscheidung, die zwischen dem Philosophen und dem gemeinen Menschenverstand gemacht wird, gar nicht betroffen. Daß man für das Wissen um Gott und um die menschliche Seele und auch für das Wissen um die Welt selbst und ihr Dasein zwischen einem philosophischen Denken und einem Denken des gemeinen Menschenverstandes unterscheidet, das ist nur eine Meinung des dogmatischen Denkens, und diese Meinung legt das reflektierende Denken in der ›Methodenlehre‹ der Kritik der Urtheilskraft ab. Vor aller solcher Unterscheidung vollzieht das menschliche Denken aus dem moralischen und glaubenden Lebensgefühl und mit seinem moralischen Glauben sein Denken Gottes und der Ewigkeit so, daß der Mensch selber mit seinem Lebensgefühl und mit seinem moralischen Glauben das Sichbezeugen der Gegenwart und des Daseins Gottes ist. Wenn wir uns selbst richtig verstehen, und dieses richtige Verstehen liegt irgendwie immer schon in unserem Denken, dann sind in diesem Denken wir selbst für uns selbst, indem wir nur die Welt und uns selbst haben und meinen, doch das lebendige Zugegensein Gottes. Gott ist nicht noch außer uns da und gegeben, sondern nur wir sind da. Aber die Weise, wie wir uns selbst erfahren und denken, bedeutet das Sichbezeugen seiner Gegenwart. Vernachlässigen wir dieses Wissen der Reflexion und gehen wir in einem faktischen Begreifen wieder von der bloßen Erfahrung der Welt und von unserem Vorhandensein aus, so können wir die Gegenwart Gottes nicht mehr finden. Die scholastischen Metaphysiker hatten das determinierende Begreifen durch das analoge Begreifen überhöht. In diesem Sinne ist für Kant das reflektierende Denken, in dem wir die Gegenwart Gottes denkend vollziehen, ein analoges Denken. Wir haben nur uns selbst, aber indem wir uns selber denken, bezeugt sich in diesem Denken die Gegenwart Gottes: so, daß darin zugleich das Verbot liegt, über das Dasein Gottes in behauptender Erkenntnis verfügen zu wollen (KU B 451): »Eben darin, daß ich mir die göttliche Causalität nur nach der Analogie mit einem Verstande (welches Vermögen wir an keinem anderen Wesen als dem sinnlich-bedingten Menschen kennen) denken soll, liegt das Verbot, ihm diesen nicht in der eigentlichen Bedeutung beizulegen.«
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So wie Kant in der ›Methodenlehre‹ der reinen Vernunft über den praktischen Gebrauch der Vernunft doch raisonniert hat, so wird auch in der ›Methodenlehre‹ der Kritik der Urtheilskraft über Gott als den Urheber der Welt und des Daseins des Menschen in ihr raisonniert, aber das analogische Denken Gottes, das sich immer noch nach Art des theoretischen Begreifens durchführt, hat in der Reflexion gerade den Charakter, daß es sich selbst verbietet, sich als ein theoretisches Erkennen Gottes zu nehmen, das ja nur in das Chaos und in die Nacht zurückführen könnte. Wir sind es vielmehr selbst, in unserem Dasein in der Welt und in der Erfahrung, die wir von uns selbst haben, die gerade durch sich und auf die Weise ihrer selbst in ihrem moralischen Sichverstehen und Erkennen auch das erkennende Begreifen des Sichbezeugens der Gegenwart Gottes sind. Es findet ein theoretisches Erfahren und Erkennen unser selbst statt, auf dessen Weise wir des Gegenwärtigseins Gottes so inne sind, daß dieses Erkennen unser selbst, das uns auch Gott gibt, es gerade verbietet, daß wir es als ein dogmatisches Erkennen Gottes nehmen und verstehen dürften. Daß wir uns so in Gott verstehen und darüber auch etwas aussagen können, das findet aber in seiner in sich beschlossenen Totalität als das Sichvollziehen unseres Lebens und unseres Lebensgefühls statt, in dem auch die Welt als ganze mit einbeschlossen ist. In diesem Sinne wird in der Reflexion das Gefühl der Bewunderung und der Ehrfurcht, von dem die ›Methodenlehre‹ der praktischen Vernunft in ihrem ›Beschluß‹ gesprochen hatte, als religiöses Gefühl verstanden. In der Schlußanmerkung der ›Methodenlehre der teleologischen Urtheilskraft‹ heißt es (KU B 478 Anm.): »Die Bewunderung der Schönheit sowohl, als die Rührung durch die so mannigfaltigen Zwecke der Natur, welche ein nachdenkendes Gemüth, noch vor einer klaren Vorstellung eines vernünftigen Urhebers der Welt, zu fühlen im Stande ist, haben etwas einem religiösen Gefühl Ähnliches an sich. Sie scheinen daher zuerst […] auf das moralische Gefühl (der Dankbarkeit und der Verehrung gegen die uns unbekannte Ursache) und also durch Erregung moralischer Ideen auf das Gemüth zu wirken, wenn sie diejenige Bewunderung einflößen, die mit weit mehrerem Interesse verbunden ist, als bloße theoretische Betrachtung wirken kann.« Das Gefühl, in dem wir das analogische Denken Gottes vollziehen, ohne dadurch eigentlich etwas zu diesem Gefühle hinzuzufügen, ist das Gefühl der Dankbarkeit: das Gefühl der Dankbarkeit gegen die uns unbekannte Ursache. In diesem Gefühl der Dankbarkeit ist unser Leben in sich beschlossen. Alles,
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was in der Welt da ist, ist in der Dankbarkeit da. Und diese Dankbarkeit ist an sich selbst und ohne daß mehr da wäre als eben dieses Gefühl der Dankbarkeit gegen die unbekannte Ursache, das Verstehen der Welt in Gott. Dieses Gefühl ist dadurch charakterisiert, daß es die Ursache unseres Lebens und der Welt als unbekannte Ursache meint. Würde es diese Ursache als eine bekannte und für das Erkennen gegebene Ursache meinen, so wären wir schon wieder im Bereiche des Chaos und der Nacht. Aber so ist die Dankbarkeit eben nicht beschaffen. Dieses Gefühl läßt uns uns selbst aus der Gegenwart des Unendlichen verstehen, aus der heraus der Mensch als Weltwesen lebt, ohne daß er doch von der Welt her darüber befinden könnte. Dieses Gefühl der Dankbarkeit trägt unser ganzes Leben in der Welt; aber indem wir immer nur mit den Dingen in der Welt und mit den Menschen in der Welt zu tun haben, bleibt die Kraft dieses Gefühls uns zumeist verborgen. Wir erleben es nur flüchtig, und das Wissen um die unendliche Ursache unseres Daseins, das es in sich enthält, erscheint uns nur wie in einem Schattenbilde. Aber wenn es sich für den in dem Getriebe der Welt befangenen Menschen auch so verhält, so ist doch die Kraft, in der wir uns durch dieses Gefühl erfahren, auch wenn wir uns keine deutlichen Begriffe von ihr machen und machen können, in unserem Leben immer gegenwärtig, und durch das flüchtige Gefühl verstehen wir uns als die vernünftigen Weltwesen, die aus der göttlichen Ursache ihr Leben haben (KU B 416 f.): »Setzet einen Menschen in den Augenblicken der Stimmung seines Gemüths zur moralischen Empfindung! Wenn er sich, umgeben von einer schönen Natur, in einem ruhigen, heitern Genusse seines Daseins befindet, so fühlt er in sich ein Bedürfniß, irgend jemand dafür dankbar zu sein. […] Und ob gleich eine solche Stimmung des Gemüths selten vorkäme, oder auch nicht lange haftete, sondern flüchtig und ohne dauernde Wirkung, oder auch ohne einiges Nachdenken über den in einem solchen Schattenbilde vorgestellten Gegenstand und ohne Bemühung ihn unter deutliche Begriffe zu bringen vorüberginge: so ist doch der Grund dazu, die moralische Anlage in uns, als subjectives Princip sich in der Weltbetrachtung mit ihrer Zweckmäßigkeit durch Naturursachen nicht zu begnügen, sondern ihr eine oberste nach moralischen Principien die Natur beherrschende Ursache unterzulegen, unverkennbar.«
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Laut einer Reflexion Kants aus den Jahren 1790 oder 1791, die von »der Veranlaßung der Critik« handelt, ist es die Theologie, die »auf die ästhetische Critik« führt.1 Sie ist es nämlich, die in Widerspruch geriete, wenn Raum und Zeit »Bestimmungen der Dinge an sich selbst« wären, nicht nur Formen der Anschauung.2 Die unmittelbare Veranlassung der »Critik der Sinnlichkeit« sieht Kant jedoch im »Gesetz der Sittlichkeit«: denn das Bewußtsein zweier a priori gewisser Gesetze nötige mich, »mein eignes Subject« auf zweierlei Art, »als Object der Sinne und (g zugleich) der Vernunft […] zu denken«.3 Durch die »Erkenntniß der Pflichten als göttlicher Gebote« gerät die Vernunft dann auf den Weg zur Theologie.4 Weil wir uns »einen Gott denken und ihn annehmen« müssen, obwohl wir »sein Daseyn nicht beweisen und ihn nicht begreifen« können, meint Kant, es werde nun »interessant, die Bedingungen des uns möglichen Erkenntnisses der Dinge nicht zu Bedingungen der Reflexion 6317 ; AA 18,623–629, hier 627. Laut der Zuordnung von Adickes aus der Phase w1 (1790 oder 1791); die Zuordnung beruht auf zusätzlichen Indizien: Reflexion 6317a ist auf der Rückseite eines Briefes von Borowski vom 22. März 1790 niedergeschrieben; vgl. AA 18,629. Vgl. auch Winter: Der andere Kant, 101–104 und passim. 2 Zum Beispiel KrV B 47; vgl. auch B 71 f.; Reflexion 6317 ; AA 18,626. 3 Reflexion 6317 ; AA 18,625: »Dieses Nothigt mich zur Critik der Sinnlichkeit. Aber das würde auch nichts machen, wäre der Empirism und praedeterminism nicht aller Sittlichkeit zuwider.« Weil der Empirismus der Moral aber wirklich zuwider ist, »läuft die Moral durch die speculative Vernunft ohne Critik Gefahr« (AA 18,626).Vgl. Fischer: Kants These vom Primat der praktischen Vernunft. 4 KpV A 233; vgl. RGV B 138 f. = AA 6,99: »Also kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen, zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen; welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen.« Vgl. auch RGV B 229 = AA 6,153: »Religion ist (subjectiv betrachtet) das Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote.« 1
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Moglichkeit der Sachen zu machen; denn thun wir dieses, so wird Freyheit aufgehoben (g und) Unsterblichkeit, und wir können von Gott keine andere als wiedersprechende Begriffe bekommen«.5 Der Kampf um Realität oder Idealität von Raum und Zeit ist kein Geplänkel um marginale Fragen der Sinnlichkeit als des unteren der menschlichen Erkenntnisvermögen,6 sondern steht im Zentrum von Kants Umbildung und Neubegründung der Metaphysik. Kaum eine Rolle spielt dieser Kampf hingegen in Wissenschaften, für die es um objektive Erkenntnis geht.7 Der »bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschäftigte Verstand, der über die Quellen seiner Erkenntnis nicht nachsinnt« und nicht wissen muß, »was innerhalb oder außerhalb seiner ganzen Sphäre liegen mag«, kann ja auch ohne solche Einsichten »sehr gut fortkommen« (KrV B 297). Weil das Zeitproblem ins Zentrum von Kants kritischer Metaphysik gehört, läßt sich sein Sinn an den höchsten Punkten der Reflexion untersuchen. Diese Punkte sind laut der Kritik der reinen Vernunft das denkende Ich als Bedingung der Möglichkeit der objektiven Erkenntnis und das transzendentale Ideal als deren höchste Einheit, von der her alles (samt dem Ich, das die Idee dieses Ideals entworfen hat) problematisch so begriffen wird, als ob es aus ihm entsprungen sei.8 In der Kritik der reinen Vernunft fungiert das Ich Reflexion 6317 ; AA 18,626. Vgl. KrV B 863: »Ich verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere Erkenntnißvermögen und setze also das Rationale dem Empirischen entgegen.« 7 Dort geht es um Zeitmessung, nicht um die Frage, was Zeit ist. Vgl. Heidegger: Was heißt Denken?, GA 8,9 und 138 f. 8 Vgl. KrV B 133 Anm.: »Und so ist die synthetische Einheit der Apperception der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transscendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst.« Zur höchsten Einheit des Denkens vgl. KrV B 355 f.: »Alle unsere Erkenntniß hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen.« Diese höchste Einheit hat ihren Höhepunkt in der Idee von einer höchsten Intelligenz (z. B. KrV B 659 ff., 698 ff.), in der »Idee von Etwas«, »worauf alle empirische Realität ihre höchste und nothwendige Einheit gründet« (KrV B 703). Zur Idee dieses Ideals vgl. KrV B 604, 639 f., 647, 669, bes. 672: »Ich behaupte demnach: die transscendentalen Ideen sind niemals von constitutivem Gebrauche, so daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich nothwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht 5 6
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als spontane Kraft, die »alle meine Vorstellungen begleiten können« muß (KrV B 131). Demgegenüber bringt die Kritik der praktischen Vernunft das Ich im höchsten Punkt nicht aktivisch zur Sprache.9 Das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« lautet gerade nicht: »Das: Ich denke, muß alle meine Maximen begleiten können«.10 Solange ich Mannigfaltiges nach meinem Entwurf ordne, ist nicht von Moral die Rede. Moralität tritt erst auf, sobald sich ein Ich in die Pflicht genommen weiß und sich in einem kategorischen Imperativ als Du angesprochen sieht, der mit den Worten beginnt: »Handle so«.11 Die Kluft zwischen der Situation des spontan denkenden und des in die Pflicht genommenen Ich versucht Kant in der Kritik der Urtheilskraft zu überbrücken, indem er nach den Bedingungen des Endzwecks fragt, »der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existiren soll« (KU B LV). In allen diesen Aufgaben, die sich jedem denkenden Ich stellen, spielt die Zeit eine grundlegende Rolle. Sofern ein Ich nämlich seine Vorstellungen begleitet, durchläuft es mannigfaltig Gegebenes in der Zeit, um es zur Synthesis zu bringen. Sofern ein Imperativ vom denkenden Ich kategorisch fordert, andere Vernunftwesen als Zwecke an sich selbst zu achten, tritt in der Zeit plötzlich das Bewußtsein eines unbedingt gebietenden Gesetzes auf, auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt, ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.« 9 Ein Versuch der Parallelisierung wäre also verfehlt. Eine aktivische Formulierung erweckt nämlich den Eindruck, es handele sich hier um ein objektives Prinzip, das einem Entwurf der Vernunft entspringt und die Gesetzmäßigkeit des Handelns fordert. Im Bereich der theoretischen Erkenntnis ist die Form sachgemäß (KrV B 132): »denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.« Ein unbedingt gebietender Imperativ, dem ich als denkendes Wesen folgen soll, läßt sich auf diese Weise nicht ableiten. 10 Aus dieser Form könnten nur Regeln der Klugheit resultieren; vgl. GMS BA 66 f. = AA 4,428; KpV A 54; vgl. Fischer: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas (Kurztitel: Metaphysik), bes. 161 f.,166 f. 11 Vgl. KpV A 54. Schon in der grammatischen Präsentation drückt sich eine Inversion der Aktivität aus. Ohne konkrete, moralisch relevante Situationen, in denen Andere als Zwecke an sich selbst auftreten, bleibt die Regel, nur Maximen zu wählen, die zum allgemeinen Gesetz werden können, bloß subjektiv. Alles bleibt dann im Rahmen dessen, was die Vernunft nach ihrem eigenen Entwurf hervorbringt.
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zeigt sich etwas, »was man nicht suchte und doch bedarf«.12 Dieses Gesetz, das uns »eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge« verschafft, »in der wir schon jetzt sind« (KpV A 193), soll den Willen »in einem ins Unendliche gehenden Progressus« bestimmen (KpV A 220).13 Sofern ein Subjekt den Endzweck in der »Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe« erkennt (KU B LV), gesellen sich zur Pflicht, seine Maximen dem moralischen Gesetz gemäß zu wählen, die Aufgaben, die Bedingungen zu suchen, unter denen die Wirkung eines guten Willens zur Erscheinung kommen kann, und die Erscheinung seiner Wirkung in der Zeit zu befördern. Diese Aufgaben spiegeln sich in den Fragen der Kritik der reinen Vernunft, in denen sich alles Interesse der Vernunft vereinigt (KrV B 833): »1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?« In der Logik fügt Kant den drei Fragen als vierte hinzu: »Was ist der Mensch?« Zur Erklärung sagt er: »Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie.« Er schließt mit dem Hinweis, man könne »alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen« (Log A 25 = AA 9,25). In den folgenden Überlegungen wird das Problem der Zeit an diesen Grundfragen verfolgt, um den Ansatz für eine systematische Interpretation der Zeit in der Metaphysik Kants zu gewinnen. Sie sind nicht auf die Funktion der Zeit als Anschauungsform des Subjekts begrenzt, weil damit nur ein Teilaspekt der Sinnlichkeit als des unteren Erkenntnisvermögens ins Auge gefaßt wäre. Begonnen wird mit der Darstellung des Zeitproblems in den höchsten Punkten der Transzendentalphilosophie. Danach werden die Fragen, was ich wissen kann, was ich tun soll und was ich hoffen darf, auf ihren Zusammenhang mit diesem Problem untersucht. Abschließend geht es vor dem skizzierten Hintergrund um Kants Antwort auf die Frage, was der Mensch ist. Zur Bedeutung der Anderen als ›Grund‹ des obersten praktischen Prinzips, sofern sie als Zwecke an sich selbst erfaßt werden, vgl. GMS BA 66 = AA 4,429; dazu Fischer: Metaphysik, 172–175. Vgl. auch Reflexion 6670 ; AA 19,129 (Phase k, l = 1769–70): »Die ethische Regel lautet so: thue das, was dir dünket einem andern gut zu seyn.« Das Gute kann nicht als Entwurf der Vernunft gedacht werden: Reines Finden zeigt sich als Merkmal wahrer Transzendenz; vgl. Fischer: Suchen und Finden. 13 Die unendliche Forderung des Gesetzes führt zur Vorstellung einer un-endlichen Zeit und damit zum Postulat »einer ins Unendliche fortdaurenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens«. 12
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1. Das Zeitproblem in den höchsten Punkten der Transzendentalphilosophie Als höchsten Punkt allen Verstandesgebrauchs nennt Kant die ursprünglichsynthetische Einheit der Apperzeption, das »Ich denke«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muß (KrV B 131 und 133 Anm.). Das denkende Ich ist, um Gegenstände erkennen zu können, darauf angewiesen, »Vorstellungen zu empfangen« (KrV B 74). Der Empfang von Vorstellungen geschieht durch Empfindung, durch »Modification unserer Sinnlichkeit« (KrV B 179), wobei Empfindung »die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt«,14 auch wenn durch sie kein Gegenstand erfaßt wird, da »Empfindung an sich gar keine objective Vorstellung ist, und in ihr weder die Anschauung vom Raum, noch von der Zeit angetroffen wird« (KrV B 208). Damit wir die Gegenwart eines Gegenstandes wahrnehmen können, muß er unmittelbar als Erscheinung gegeben sein.15 Möglich ist die Erscheinung von Gegenständen einerseits durch unsere Fähigkeit, »Vorstellungen zu empfangen« (KrV B 74; vgl. auch B 33), andererseits durch Raum und Zeit als »reinen Formen der Sinnlichkeit«, als den Formen des äußeren und des inneren Sinnes.16 Damit wir die Gegenwart eines Gegenstandes denken können, ist Einbildungskraft als Vermögen vonnöten, »einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen« (KrV B 151). Indem das Ich seine Vorstellungen, die es als Empfindungen empfangen und durch Formen der Anschauung geordnet hat, denkend begleitet, verknüpft es sinnlich Gegebenes durch spontan hervorgebrachte Formen des Denkens in der Absicht, das Mannigfaltige objektiv zu bestimmen.
KrV B 74; vgl. KrV B 146 f.: »Sinnliche Anschauung ist entweder reine Anschauung (Raum und Zeit) oder empirische Anschauung desjenigen, was im Raum und der Zeit unmittelbar als wirklich, durch Empfindung, vorgestellt wird.« 15 KrV B 50: Die Zeit ist laut der Kritik der reinen Vernunft »die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt«. 16 KrV B 121 f.; vgl. auch KrV B 160: »Zuvörderst merke ich an, daß ich unter der Synthesis der Apprehension die Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung verstehe, dadurch Wahrnehmung, d. i. empirisches Bewußtsein derselben (als Erscheinung), möglich wird. / Wir haben Formen der äußeren sowohl als inneren sinnlichen Anschauung a priori an den Vorstellungen von Raum und Zeit, und diesen muß die Synthesis der Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung jederzeit gemäß sein, weil sie selbst nur nach dieser Form geschehen kann.« 14
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Die Intelligenz, als die das denkende Ich existiert, »die sich lediglich ihres Verbindungsvermögens bewußt ist«, weiß sich »einer einschränkenden Bedingung, die sie den inneren Sinn nennt, unterworfen« und kann folglich »jene Verbindung nur nach Zeitverhältnissen« anschaulich machen.17 Um in der Anschauung gegebene Vorstellungen begleiten zu können, entwirft das denkende Ich Funktionen, durch die es Mannigfaltiges unter Voraussetzung der »Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit« verknüpft (KrV B 165). Erkennen ist verknüpfende Vergegenwärtigung zeitlich gegebener Vorstellungen, die durch Anschauung noch nicht objektiv bestimmt sind.18 Das denkende Ich ist als Selbstbewußtsein zugleich Selbstgegenwart, die sich aber nicht selbst begleiten kann, sondern auch im Blick auf sich selbst der sinnlichen Vergegenwärtigung bedarf.19 Nachdem sinnlich Gegebenes durch Anschauung in die Zeit gebracht und durch Einbildungskraft vergegenwärtigt ist, bringt das Denken, in dessen Vollzug es »durchgegangen, aufgenommen und verbunden« wird, Synthesis hervor, geistige Vergegenwärtigung von Zeitlichem (KrV B 102). Eine Vorstellung, die ich als denkendes Wesen in meiner Selbstgegenwart nicht begleiten kann, »würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein« (KrV B 132). Sofern das reine Selbstbewußtsein, »das die Vorstellung: Ich denke, hervorbringt«, von keiner anderen Vorstellung begleitet werden kann, ist es an sich selbst unerkennbar, ist seine Möglichkeit nicht objektiv bestimmbar.20 Trotzdem muß es unbestimmt vorausgesetzt werden.21 KrV B 158 f. Der Kontext dieser Stelle ist die Unerkennbarkeit des Ich als Ding an sich, seine Erkennbarkeit nur als Erscheinung; vgl. KrV B XV–XVIII; B 59.160.203 f., 209 f. 18 KrV B 34; vgl. KrV B 147: »Folglich sind alle mathematische Begriffe für sich nicht Erkenntnisse, außer so fern man voraussetzt, daß es Dinge giebt, die sich nur der Form jener reinen sinnlichen Anschauung gemäß uns darstellen lassen.« 19 KrV B 132: »Diese Vorstellung aber ist ein Actus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden. Ich nenne sie die reine Apperception, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperception, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, in dem es die Vorstellung: Ich denke, hervorbringt, die alle andere muß begleiten können und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann.« 20 KrV B 132; vgl. Teichner: Kants Transzendentalphilosophie. Grundriß, bes. 58: »So begegnet das Ding an sich im Blick auf seine Gewußtheit allein in der Weise einer Voraussetzung für die Ermöglichung und Begrenzung der Gegenstandserkenntnis a priori.« Vgl. ebd. auch 59. 21 Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, 640. Laut Cohen droht »die unausweichliche 17
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Da »mein eigenes Dasein nicht Erscheinung (vielweniger bloßer Schein)« ist, kann »die Bestimmung meines Daseins nur der Form des inneren Sinnes gemäß nach der besonderen Art, wie das Mannigfaltige, das ich verbinde, in der inneren Anschauung gegeben wird, geschehen«.22 Da diese »Vorstellung […] ein Denken, nicht ein Anschauen« ist, »bin ich mir meiner selbst in der transscendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt […] bewußt«, aber »nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin.«23 Das denkende Ich, wie es an sich selbst sein mag, zeigt sich, da es nicht objektiv erkennbar ist und doch vorausgesetzt werden muß, als Problem im Sinne einer notwendigen, theoretisch aber unlösbaren Aufgabe.24 Weil die Synthesis, die das denkende Ich hervorbringt, als »Actus der Selbstthätigkeit« gedacht werden muß, entwirft die Vernunft, die »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden« sucht, den problematischen Vernunftbegriff eines unbedingten Subjekts.25 Weil das Dasein der Erscheinungen in einem denkenden Ich Empfindung voraussetzt, entwirft die Vernunft die problematische Idee eines unbedingten Objekts, das in der Erscheinung erscheint (KrV B XXVI f.; B 379). Weil das Denken endlicher vernünftiger Wesen nur Gegebenes verbinden, nicht aber Gegenstände erzeugen kann, entwirft die Vernunft den »Inbegriff aller möglichen Prädicate überhaupt«, den Kant als »Ideal der reinen Vernunft« bezeichnet,26 das »auf einer natürlichen und nicht bloß willkürlichen Idee gegründet« ist (KrV B 609). Beziehung ›auf etwas ganz Zufälliges‹ […] alle Gewissheit der Erkenntnis relativ zu machen, und allen Grund der Dinge zu entwurzeln«, so daß »auch der kritische Philosoph dem Gerüchte vom ›Ding an sich‹ das Ohr leihen« müsse. Vgl. dazu auch Fischer: Transzendenz, 77–83. 22 KrV B 157 f.; vgl. KrV B 156: wir müssen zugestehen, »daß wir dadurch uns selbst nur so anschauen, wie wir innerlich von uns selbst afficirt werden, d. i. was die innere Anschauung betrifft, unser eigenes Subject nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an sich selbst ist, erkennen.« 23 KrV B 157. Mit dem Wegfall von Wesensaussagen liefert Kant die theoretische Grundlage der Existenzanalytik. 24 KrV A VII; vgl. dazu Fischer: Metaphysik, 98 –101; 110 –112. 25 KrV B 364 (»das Unbedingte finden« im Sinne von: ›erfinden‹); KrV B 379. Zu ›Prosyllogismus‹ (›regressive Synthesis‹) und ›Episyllogismus‹ (›progressive Synthesis‹) vgl. Fischer: Metaphysik, 96. 26 KrV B 601 f.; vgl. Teichner: Kants Transzendentalphilosophie, 62: »Damit reduziert sich für Kant der Gehalt der tradierten Metaphysik Welt, Mensch, Gott auf das Wissen
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In dieser als »Principium der durchgängigen Bestimmung« entworfenen Einheit,27 ist nicht nur »die Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis)« gedacht, sondern auch der »Allbesitz der Realität«, die absolute virtuelle Gleichzeitigkeit alles Möglichen in einem einzigen Wesen (KrV B 604). Laut Kant wird es deshalb »das Urwesen (ens originarium), so fern es keines über sich hat, das höchste Wesen (ens summum), und so fern alles als bedingt unter ihm steht, das Wesen aller Wesen (ens entium) genannt« (KrV B 606 f.). Auf dem Wege regressiver Synthesis verbindet die Vernunft in diesem Ideal alles Erkennbare, das der Zeitbedingung unterworfen ist, indem sie ihr Ideal als den »Grund«, als den »unbeweglichen Felsen des Absolutnothwendigen« anspricht und alle Ungleichzeitigkeit, alles zeitliches Nacheinander, radikal aus ihm entfernt: folglich hat das im Ideal gedachte Wesen auch als »ewiges« zu gelten.28
2. Zum Zeitbezug in Kants Frage: »Was kann ich wissen?« Im transzendentalen Ideal werden alle wirklich gegebenen und alle möglichen Vorstellungen, die das denkende Ich begleiten können muß und die es in seiner Selbstgegenwart verbindet, zur höchsten denkbaren Einheit gebracht. Was unter der Bedingung der Zeit stand, wird nun in diesem Ideal als dem absoluten Grund zeitfrei vereinigt.29 Der Weg der Synthesis des Gegebenen bis zum Unbedingten führt gleichsam zu einer Betrachtung sub specie aeternitatis, aber nicht zu objektiver Erkenntnis eines höchsten Wesens, sofern das Ideal der Vernunft »ein bloßes Selbstgeschöpf ihres Denkens« ist (KrV B 612), eine bloß »projectirte Einheit« (KrV B 675),30 deren Deduktion
von der Objektivität des Objekts, von der Subjektivität des Subjekts und von der Subjekt-Objektivität des Erkentnnisbezuges.« Dennoch bleibt es für Kant notwendig, einen intellectus archetypus im Unterschied zu einem intellectus ectypus zu denken. 27 KrV B 600; vgl. KrV B 364: »der eigenthümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt« fordert, »zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu fnden, womit die Einheit desselben vollendet wird.« 28 KrV B 607 f.; vgl. auch KrV B 612; dazu Teichner: Kants Transzendentalphilosophie, 19 f.,38 f.,110. 29 Vgl. dazu KrV B 670 ff. mit dem Abschnitt: »Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft«. 30 Vgl. Feuerbach: Das Wesen des Christentums (ursprünglich geplanter Titel: »Kritik der unreinen Vernunft«; vgl. Vorbemerkung der Hrsg., V). Kant nimmt Feuerbachs
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nur soweit möglich ist, als sie »systematische Einheit ins Erkenntnis« bringt (KrV B 678).31 Das denkende Ich entwirft dieses Ideal als regulative Idee, um die Einheit des sinnlich gegebenen Mannigfaltigen denken zu können, das durch Einbildungskraft vergegenwärtigt wird.32 Da Mannigfaltiges stets in der Form der Zeit angeschaut wird, ist seine Einigung auf dem Wege des Denkens auch als zunehmende Vergegenwärtigung des Zeitlichen zu erfassen, die umgekehrt als der Vorgang einer fortschreitenden Entzeitlichung des Gegebenen begriffen werden kann.33 Weil diese Entzeitlichung des sinnlich Gegebenen durch die Formen des Denkens ermöglicht ist, nennt Kant das Verfahren »gleichsam ein System der Epigenesis der reinen Vernunft« (KrV B 167).34 Ansonsten wären die Denkformen nicht unabhängig von der Erfahrung und besäßen nicht die für jede Erkenntnis erforderte Allgemeinheit und Notwendigkeit.35 Die reine Vernunft muß die kritischen Punkt vorweg, weiß zudem um die Unlösbarkeit der sich stellenden Probleme, und bedenkt überdies von vornherein die Aufgaben der reinen praktischen Vernunft. 31 Vgl. Zocher: Der Doppelsinn der kantischen Ideenlehre. Gleichwohl kommt den regulativen Ideen heuristische Funktion und problematische Geltung zu, die auch die Grundlage für den »doctrinalen Glauben« abgibt (KrV B 854 f.); vgl. Fischer: Die Transzendenz in der Transzendentalphilosophie (Kurztitel: Transzendenz), bes. 134–143. 32 KrV B 799: »Die Vernunftbegriffe sind, wie gesagt, bloße Ideen und haben freilich keinen Gegenstand in irgend einer Erfahrung, aber bezeichnen darum doch nicht gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände. Sie sind bloß problematisch gedacht, um in Beziehung auf sie (als heuristische Fictionen) regulative Principien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung zu gründen. Geht man davon ab, so sind es bloße Gedankendinge, deren Möglichkeit nicht erweislich ist, und die daher auch nicht der Erklärung wirklicher Erscheinungen durch eine Hypothese zum Grunde gelegt werden können.« 33 KrV B 182: »Das reine Bild aller Größen (quantorum) vor dem äußern Sinne ist der Raum, aller Gegenstände der Sinne überhaupt aber die Zeit.« Das Bild des focus imaginarius, das so gedacht wird, als ob die Ausfaltung des Lichtes ins Mannigfaltige in ihm eingefaltet enthalten sei (KrV B 672), spielt mit dem neuplatonischen Gedanken (complicatio; explicatio); vgl. dazu Nikolaus von Kues: De docta ignorantia z. B. 1,22 und 25. 34 So wird die Idee eines göttlichen Verstandes notwendig (KrV B 145; 596); vgl. auch intuitus originarius (KrV B 72); zur Unterscheidung von intellectus archetypus und intellectus ectypus vgl. KrV B 723 und KU B 350 f.; dazu Kants Brief an Marcus Herz vom 21. Febr. 1772 (= AA 10,130). 35 Die Vorstellung von einem »Präformationssystem der reinen Vernunft«, die vielleicht auf den Gedanken der prästabilierten Harmonie bei Leibniz anspielt, weist er hier zurück; vgl. KrV B 167.
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transzendentalen Schemata erzeugt haben, die »einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen« (KrV B 177). Gleichartigkeit mit der Kategorie und der Erscheinung findet Kant in der Zeit als der Form des inneren Sinnes.36 Weil die Schemata der reinen Vernunft epigenetisch entspringen, sind die Schemata als Verzeitlichungen der Kategorien zu begreifen.37 Kant erklärt demgemäß: »Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen nach der Ordnung der Kategorien auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände.«38 In der Entzeitlichung des Sinnlichen durch Gesetze und der Verzeitlichung des Intellektuellen durch Schemata tritt Kants Antwort auf die Frage hervor, was ich wissen kann. Die Antwort ist negativ im Blick auf die zwei Fragen, »die das praktische Interesse der reinen Vernunft angehen […], nämlich: ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?«39 Denn vom Zweck dieser Fragen sind wir laut Kant »eben so weit entfernt geblieben, als ob wir uns aus Gemächlichkeit dieser Arbeit gleich anfangs verweigert hätten« (KrV B 833). Was wir wissen können, ist vor allem das, was wir objektiv erkennen können, also sinnlich Gegebenes, das wir unter die Einheit des Denkens zu bringen vermochten. Immerhin können wir zusätzlich wissen, unter welchen Voraussetzungen das objektiv Erkennbare erkennbar war. So haben wir einerseits synthetisches Wissen von Gegenständen der Erfahrung, andererseits transzendentales Voraussetzungswissen, das aber keine direkt objektive Bedeutung für uns hat.40 KrV B 177 f.: »Die Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes, mithin der Verknüpfung aller Vorstellungen, enthält ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung. Nun ist eine transscendentale Zeitbestimmung mit der Kategorie (die die Einheit derselben ausmacht) so fern gleichartig, als sie allgemein ist und auf einer Regel a priori beruht. Sie ist aber andererseits mit der Erscheinung so fern gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist.« 37 Vgl. Teichner: Kants Transzendentalphilosophie, 38: »Das Verfahren der reinen Einbildungskraft, d. h. der reinen Versinnlichung der Kategorien, kann nach den Vorgaben nur das ihrer reinen Verzeitlichung sein, das Verfahren der ›transzendentalen Zeitbestimmung‹ (A 138).« 38 KrV B 184 f., vgl. die Erläuterung der Schematisierung KrV B 182 ff.; vgl. auch KrV B 300 f. 39 KrV B 831; vgl. auch KrV B 295: »Wir haben nämlich gesehen: daß alles, was der Verstand aus sich selbst schöpft, ohne es von der Erfahrung zu borgen, das habe er dennoch zu keinem andern Behuf, als lediglich zum Erfahrungsgebrauch.« 40 Zur indirekt objektiven Deduktion der transzendentalen Ideen vgl. KrV B 670–696. 36
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Was wir erkennen können, liegt laut Kant im »Land des reinen Verstandes«, im »Land der Wahrheit«, von dem er gegen Ende der transzendentalen Analytik sagt, daß wir es »nicht allein durchreiset und jeden Theil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt« haben.41 Die Karte dieses Landes ist sowohl im Blick auf ihre innere Struktur bestimmt, in der Anschauung und Denken die grundlegenden Funktionen erfüllen, als auch im Blick auf ihre äußeren Grenzen. Struktur und Grenzen des Landes der Wahrheit legen den Zeitbezug in Kants Beantwortung der Frage offen, was ich wissen kann. Sofern das Land sich als Insel erweist, die »durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen« ist (KrV B 294), ist das mögliche Wissen unverlierbarer Besitz. Kant bezeichnet seine Entdeckung, die Transzendentalphilosophie, als Schatz, den er »der Nachkommenschaft mit einer solchen durch Kritik geläuterten, dadurch aber auch in einen beharrlichen Zustand gebrachten Metaphysik zu hinterlassen« gedenkt.42 Die Bestimmtheit der inneren Struktur läßt neue Erkenntnisse zu und erhellt die Wege, auf denen sie gewonnen werden können; dennoch bestanden die Grenzen der Erkenntnis, die sich nur durch Analyse ins Bewußtsein heben lassen, schon immer auf Grund der ›Natur unserer Vernunft‹.43 Obwohl in den Wissenschaften immer neue Erkenntnis, neues Wissen, erworben werden kann, erwartet Kant keine wirklich neue Antwort auf die philosophische Frage, was ich wissen kann. Unverrückbar steht für ihn zum Beispiel fest, daß die Metaphysik zwar »nicht die Grundfeste der Religion sein« kann, »doch jederzeit als die Schutzwehr derselben stehen« bleibt (KrV B 877). Was ich wissen Damit nimmt Kant Nietzsches Antikritik den Wind aus den Segeln, der ihm einen »unbewußte[n] Dogmatismus« unterstellt; was Kant wolle, sei eine »Naivetät«, nämlich »die Erkenntniß der Erkenntniß« (vgl. Nachgelassene Fragmente; KSA 12,264). 41 KrV B 294. vgl. die Funktion des Kosmographen bei Nikolaus von Kues: Compendium, cap. 8. 42 KrV B XXIV. Diese Perspektive, die sich vor allem auf die »Logik der Wahrheit« bezieht (KrV B 87 und 170), ist Kant nach der Ausarbeitung der Prolegomena möglich geworden; vgl. auch Pollok: Einleitung, IX–XI. 43 KrV A VII, B XV; weiter B 384.393.397.502.642.697.739.771.880. Nietzsche hat das Problem gesehen, aber echtes Fragen mit bloßem Spott überdeckt; vgl. Jenseits von Gut und Böse. Erstes Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen 11. (KSA 5,24; vgl. 25): »Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? fragte sich Kant, – und was antwortete er eigentlich? Vermöge eines Vermögens: leider aber nicht mit drei Worten«.
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kann, ist durch die Natur der Vernunft bedingt, die sie nicht selbst entwirft, die a priori – also schon immer – gilt, deren Begriffe sich nur analytisch ins Bewußtsein heben lassen. Damit ist Kant genötigt, vom Schicksal der menschlichen Vernunft zu sprechen (z. B. KrV A VII). Indem Kant die Kritik als Analytik vorausgesetzter Bedingungen durchführt, beantwortet er die Frage, was ich wissen kann, in Form einer Vergegenwärtigung von Vergangenem.44
3. Zum Zeitbezug in Kants Frage: »Was soll ich tun?« Im dritten Widerstreit des Hauptstücks zur »Antinomie der reinen Vernunft« untersucht Kant die Frage, ob es lediglich die »Causalität nach Gesetzen der Natur« oder ob es zusätzlich auch »Causalität durch Freiheit« gebe (KrV B 472 ff.). Er gelangt zur Einsicht, daß »Freiheit nicht zu retten« wäre, wenn »Raum und Zeit Formen des Daseins der Dinge an sich selbst« sind (KrV B 563 f.). Die Unterscheidung zwischen zeitfreien Dingen an sich und Erscheinungen, die unter der Zeitbedingung stehen, bringt die »transscendentale Idee der Freiheit« ins Spiel, auf die sich später »der praktische Begriff derselben« gründet (KrV B 561). Diese Auflösung des dritten Widerstreits könnte dazu verleiten, die Frage, was ich tun soll, so zu beantworten: Tun soll ich als empirisches Wesen, was der reine Wille unabhängig von Naturkausalität im Bewußtsein des moralischen Gesetzes vorschreibt (vgl. auch KpV A 183). Da ein reiner Wille nicht unter der Zeitbedingung steht, ist er nicht von Neigungen bestimmt, die nur den empirischen Willen beherrschen, sondern will das notwendig, was er als vernünftiger Wille will: die Befolgung des moralischen Gesetzes.45 Denn ein reiner Wille steht als Ding an sich, das
Die Spontaneität des Denkens ist Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis, aber nicht selbst objektiv erkennbar. Treffender und gründlicher als Nietzsches Invektive ist die Bemerkung von Levinas: Totalité et Infini 99: »Sa propre spontanéité est comme une surprise pour le sujet, comme si le moi surprenait ce qui se faisait en dépit de sa pleine maîtrise de moi.« 45 Vgl. RGV B 14 = AA 6,25: »Die eine oder die andere Gesinnung als angeborene Beschaffenheit von Natur haben, bedeutet hier auch nicht, daß sie von dem Menschen, der sie hegt, gar nicht erworben, d. i. er nicht Urheber sei; sondern, daß sie nur nicht in der Zeit erworben sei (daß er eines oder das andere von Jugend auf sei immerdar). Die Gesinnung, d. i. der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein, und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit«. 44
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als Unerkennbares vorausgesetzt werden muß, als das, was in der Erscheinung erscheint, nicht unter der Bedingung von Zeit und Kausalität.46 Die Frage, wie sich ein reiner Wille zur Zeit überhaupt verhalten mag, zum Beispiel, ob er als Ding an sich etwas wollen kann und etwas zu zeitigen vermag, ist damit nicht beantwortet. Bestünde das, was ich tun soll, in der Wahl von Maximen, die der zeitfreie Wille eines Noumenon vorschreibt, so richtete sich die Forderung des reinen Willens an den empirisch affizierten Willen endlicher Vernunftwesen, die auch anderes wollen können, als der reine Wille notwendig will. Von der Forderung, seine Maximen dem moralischen Gesetz gemäß zu wählen, kann nur ein denkendes, von natürlichen Neigungen affiziertes Ich im Bewußtsein des moralischen Gesetzes betroffen sein. Sobald ich Maximen des Willens zur Bestimmung meines Handelns entwerfe, meldet sich – als »ein Factum der reinen Vernunft« – das Bewußtsein des moralischen Gesetzes (KpV A 53 und 56). In diesem Bewußtsein weiß ich als empirisches Wesen, daß meine Maximen dem Gesetz Genüge tun sollen, obwohl ich von Natur aus andere Maximen favorisiere, da mein Wille von Neigungen affiziert ist, die auf dem »Princip der Selbstliebe« beruhen.47 Dem Willen eines Naturwesens, der zunächst von Neigungen bestimmt ist, begegnet im Bewußtsein des moralischen Gesetzes unversehens und insofern plötzlich eine systemwidrige Forderung, die laut Kant seiner natürlichen »Selbstliebe Abbruch thut«, seine Eigenliebe einschränkt und seinen Eigendünkel sogar niederschlägt (GMS BA 16 = AA 4,401 Anm.; KpV 129 f.). Nähme ich an, alles Geschehen überhaupt stünde unter der Zeitbedingung, so wäre Freiheit nicht denkbar, weil dann jeder Zustand nach einer Regel notwendig aus vorherigen Zuständen folgte. Praktische Freiheit, die mit der Zurechenbarkeit der Maximen verbunden ist, kann also nur unter der Voraussetzung der Nichtunmöglichkeit der transzendentalen Freiheit angenommen werden. Weil sie sich aber nur »durchs moralische Gesetz« offenbart, bleibt sie theoretisch unerkennbar (KpV A 5). Ihr Wesen kann also kraft theoretischer Vernunft weder positiv noch negativ bestimmt werden (vgl.
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Vgl. Heinrichs: Das Problem der Zeit in der praktischen Philosophie Kants, bes.
4 ff. Mit »Natur« ist hier »der subjective Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt« gemeint, der »aber immer wiederum selbst ein Actus der Freiheit sein« muß (RGV B 6 = AA 6,21); vgl. auch KpV A 47. 47
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TG A 115 = AA 2,367). Daß der Wille frei sei, ist ein theoretischer Satz, der als solcher zwar nicht erweislich ist, aber angenommen werden muß, »so fern er einem a priori geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt« (KpV A 220). Obwohl Kant nur zwei Postulate der reinen praktischen Vernunft explizit entfaltet hat, nämlich das von der Unsterblichkeit der Seele und das vom Dasein Gottes, nennt er im Rückblick drei Postulate: Die »Postulate sind die der Unsterblichkeit, der Freiheit, positiv betrachtet (als der Causalität eines Wesens, so fern es zur intelligiblen Welt gehört), und des Daseins Gottes«.48 Das nebenbei erwähnte Postulat der Freiheit müßte wohl die »Voraussetzung der Unabhängigkeit von der Sinnenwelt und des Vermögens der Bestimmung seines Willens nach dem Gesetze einer intelligiblen Welt« rechtfertigen (KpV A 238 f.). Da es die positiv betrachtete, praktische Freiheit betrifft, hätte es im Kern zu lauten: Ein vernünftiges Wesen, das kategorisch gebietende Imperative befolgen soll, muß die Maximen seines empirisch affizierten Willens, obwohl diese unter der Zeitbedingung stehen, so bestimmen können, daß seine besonderen Maximen zurechenbare Wirkungen der Freiheit sind.49 Dieses Postulat verknüpft das Bewußtsein des moralischen Gesetzes, das in der Maximenbildung auftritt, mit dem theoretischen Satz, der mir ohne die Möglichkeit theoretischer Einsicht erklärt, daß ich kann, was ich soll. Ich soll aber in der Gegenwart der Forderung des moralischen Gesetzes folgen, das als unableitbares Faktum auftritt, das den Kausalnexus meiner neigungsbestimmten Maximen unterbricht50 und mir vorschreibt, nach moralisch KpV A 238; vgl. KrV B 831 f.: »Die Frage wegen der transscendentalen Freiheit betrifft bloß das speculative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig bei Seite setzen können, wenn es um das Praktische zu thun ist, und worüber in der Antinomie der reinen Vernunft schon hinreichende Erörterung zu finden ist.« 49 Wenn der reine, vernunftbestimmte Wille will, was die Vernunft befiehlt, der empirische, neigungsbestimmte Wille das will, was das Gesetz der Natur vorschreibt, vernunftet die Vernunft, naturt die Natur. Unklar wäre dann, an wen sich eine Forderung richten könnte. Es käme zu einer manichäischen Lösung, die eine Trennung des Reinen vom Unreinen erstrebt. Laut Augustinus gefährdet diese aber die Identität des Ich (vgl. Confessiones 7,5; 8,20–24). Ein ähnliches Problem tritt bei Platon auf: der Seelenwagen hat deshalb nicht nur zwei Instanzen (das gutartige und das schlechte Pferd), sondern auch den Wagenlenker, der auf beide Pferde bezogen ist (vgl. Phaidros 246a–247e). 50 Laut Levinas begegnet die Epiphanie des Anderen – ohne vorgängig auf Gott zu rekurrieren – als Urteil, das den Willen unter das Urteil Gottes stellt ; vgl. Totalité et Infini, 222. Das Unendliche, das im Anderen begegnet, paralysiere das Vermögen des Subjekts, das zunächst getrennt und atheistisch existiert, durch seinen unendlichen Widerstand 48
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gebotenen Maximen zu handeln.51 Weil das, was ich soll, nicht in meine Erwartung gestellt ist, kann ich mich weder auf es einstellen, noch seiner in sorgender Vorwegnahme gewärtig sein, sondern es nur in der Gegenwart befolgen oder mich ihm versagen. Sofern der Imperativ meine naturhaften Neigungen durchkreuzt und in einer Gegenwart auftritt, deren ich nicht gewärtig war, fordert er ursprüngliche Maximenbildung. Das moralische Gesetz gebietet nämlich unbedingt: »wir sollen jetzt bessere Menschen sein« (RGV B 60 = AA 6,50). Auf Grund wirksamer Maximen, die mir zur zweiten Natur geworden sind, bin ich von Vergangenem bestimmt;52 im Vorblick auf (173): »L’infini paralyse le pouvoir par sa résistance infinie«. Die Eigenliebe, die dem Verlangen dient, selbst glücklich zu sein, ist laut Kant ein »subjectiv nothwendiges Gesetz« (KpV A 46). Die Vernunft eines einzelnen Vernunftwesens kann sich nicht aus eigener Spontaneität von der Geltung dieses Gesetzes lösen; insofern ist die Selbstgesetzgebung der Vernunft ein Schicksal, das ihr erst durch »das einzige Factum der reinen Vernunft« auferlegt ist (KpV A 56). 51 Zum Problem der Veränderlichkeit der Grundmaxime vgl. RGV B 14 = AA 6,25; RGV B 35 = AA 6,37; zu ihrer Änderbarkeit in der Zeit; RGV B 39 Anm. = AA 6,39; zur Problematisierung: RGV B 40 f. = AA 6,39; vgl. RGV B 43 = AA 6,43 »Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser That fragen«. Kant kennt die Aporetik (RGV B 49 = AA 6,44 f.): »Wie es nun möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen?« Dennoch hält er fest (RGV B 50 = AA 6,45): »unerachtet jenes Abfalls, erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden«. Vgl. auch RGV B 53 = AA 6,46: »zwischen der Maxime und der That ist noch ein großer Zwischenraum«. Zu fragen wäre, ob das stimmt: eine Maxime ist kein Wunsch, sondern innere Tat, die das Verhalten bestimmt. Vgl. RGV B 53 = AA 6,47: »Daher wird Tugend in diesem Sinne nach und nach erworben«; es geht um »allmähliche Reformen« des Verhaltens, nicht um »Herzensänderung«, sondern um eine »Änderung der Sitten«. Schließlich bleibt Kant bei der moralisch fundierten Auffassung RGV B 55 = AA 6,48: »ein fürs Gute empfängliches Subject« wird »nur in continuirlichem Wirken und Werden ein guter Mensch«, »auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Bessern«. 52 Zu natürlichen Handlungsursachen vgl. KrV B 579 Anm.; dazu MST A 48 = AA 6,407: »Fertigkeit (habitus) ist eine Leichtigkeit zu handeln und eine subjective Vollkommenheit der Willkür. – Nicht jede solche Leichtigkeit aber ist eine freie Fertigkeit (habitus libertatis); denn wenn sie Angewohnheit (assuetudo), d. i. durch öfters wiederholte Handlung zur Nothwendigkeit gewordene Gleichförmigkeit, derselben ist, so ist sie keine aus der Freiheit hervorgehende, mithin auch nicht moralische Fertigkeit. Die Tugend kann man also nicht durch die Fertigkeit in freien gesetzmäßigen Handlungen definiren«. Zur zweiten Natur vgl. auch KU B 126; SF 50 f. = AA 7,39.
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zukünftige Folgen handle ich aus Klugheit.53 Nur in einer reinen Gegenwart kann ich Maximen meines Willens frei bestimmen.
4. Zum Zeitbezug in Kants Frage: »Was darf ich hoffen?« Im Bewußtsein des moralischen Gesetzes gebieten kategorische Imperative, die auf dem Faktum des Daseins anderer vernünftiger Wesen beruhen, weil diese als Zwecke an sich selbst existieren und als solche geachtet werden sollen.54 Obwohl das moralische Gesetz der »Selbstliebe Abbruch thut« und die Eigenliebe einschränkt, setzt es die praktische Freiheit ein, führt es mich zu »meinem unsichtbaren Selbst«, zu »meiner Persönlichkeit«, stellt es »mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat«, und erhebt es »meinen Werth, als einer Intelligenz, unendlich durch meine Persönlichkeit«.55 Diese »Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind«, verschafft uns jedoch keinen Zugang zur Beantwortung der unvermeidlichen Fragen, die aus der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft entspringen. Die Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft fordert »unnachlaßlich« Heiligkeit, also »die völlige Angemessenheit des Willens […] zum moralischen Gesetze«.56 Da vernünftige, endliche Wesen unvermeidlich danach streben, glücklich zu sein (KpV A 45), kann das gebotene Ziel »nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden« (KpV A 220). Wer das Ziel der Heiligkeit preisgäbe, weil es im Endlichen nicht verwirklichbar ist, hätte das Gesetz laut Kant also »gänzlich Handle ich im Vorblick auf die Folgen der Handlung (kluge Voraussicht, providentia), dann liegen die Motive nicht in der Pflicht oder dem moralisch Gesollten, sondern im klugen Umgang mit der zu erwartenden Wirklichkeit. 54 KpV A 135: »Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen.« Vgl. Fischer: Metaphysik, 171 ff. 55 Vgl. GMS BA 16 = AA 4,401; KpV A 129 f.; KpV A 289. 56 KpV A 220 f. Die Forderung des moralischen Gesetzes, der notwendigerweise eine eschatologische Dimension zukommt, legt Kant im Anschluß an das Neue Testament auch im Sinne des Gebotes aus (KpV A 147): »Hiemit stimmt aber die Möglichkeit eines solchen Gebots als: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst ganz wohl zusammen. Denn es fordert doch als Gebot Achtung für ein Gesetz, das Liebe befiehlt, und überläßt es nicht der beliebigen Wahl, sich diese zum Princip zu machen.« Vgl. auch MST A 122 = AA 6,451. 53
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abgewürdigt, indem man es sich als nachsichtlich (indulgent) und so unserer Behaglichkeit angemessen verkünstelt« (KpV A 221). Trotz aller Strenge geht es demnach nicht um die Befolgung eines »idealischen«, sondern des »wahren Vernunftgebots« (KpV A 221). Denn seine Würde verlöre das Gebot auch durch eine falsche Idealisierung.57 Da »vernünftigen, aber endlichen Wesen […] nur der Progressus ins Unendliche von niederen zu den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit möglich« ist, gebietet reine praktische Vernunft, zu hoffen, daß der ins Unendliche weisende Weg, »selbst über dieses Leben hinaus«, zu Ende geführt werden kann (KpV A 221 f.). Die Annahme der Fortdauer der Existenz über den Tod hinaus spielt aber noch im Rahmen der Frage, was ich tun soll. Denn sie erfüllt keine menschlichen Wünsche und zielt also auch nicht darauf, was ich hoffen darf. Vielmehr schreibt hier das Gesetz selbst vor, was ich annehmen soll, damit es sein Ziel erreichen kann. Die erste Hoffnung richtet sich demnach nicht auf einen zukünftigen Zustand, sondern ist der schon in der Gegenwart gebotene Inhalt einer Maxime, die dazu dient, die Abwürdigung des moralischen Gesetzes zu vermeiden. Die »Zumuthung der Selbstbesserung« in solch einem unendlichen Progressus führt insofern zur Idee eines endlichen Wesens, das auf dem Weg zur Tugend fortgeschritten ist und nach Heiligkeit strebt.58 Auf Grund dieser Idee führt das moralische Gesetz nun auch zum Postulat vom Dasein Gottes als des höchsten ursprünglichen Guts, »ebenso uneigennützig wie vorher, aus bloßer unparteiischer Vernunft« (KpV A 223 f.). Denn die asymptotisch angezielte Tugend, die auf der Achtung der Anderen und auf uneigennützigem Wollen dessen gründet, was ich tun soll, ist »die Würdigkeit glücklich zu sein« (KpV A 198; vgl. auch KrV B 834 ff.). Tugend ist keine besondere Fertigkeit, die durch Übung zu erlangen wäre, sondern die Überwindung der strikten Kausalbindung an die Selbstliebe: dieser Verzicht auf eigenes Glück aus Wohlwollen für Andere läßt den frei Verzichtenden würdig werden, glücklich zu sein. Weil Tugend also die Würdigkeit ist, Vgl. Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, bes. 88: Weiterhin Fischer: Tugend und Glückseligkeit, 9 f. Vgl. dazu MST A 176 = AA 6,485; weiterhin Anth A 252 = AA 7,282. 58 RGV B 61 = AA 6,51. Im Kontext geht Kant auf den Ursprung unlauterer Religionsideen ein: »Wider diese Zumuthung der Selbstbesserung bietet nun die zur moralischen Bearbeitung von Natur verdrossene Vernunft unter dem Vorwande des natürlichen Unvermögens allerlei unlautere Religionsideen auf (wozu gehört: Gott selbst das Glückseligkeitsprincip zur obersten Bedingung seiner Gebote anzudichten).« 57
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glücklich zu sein, soll ich glauben, daß die »Verknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit«, daß also »das ganze und vollendete Gut« möglich ist, auch wenn alle »bisherigen Coalitionsversuche« gescheitert sind (KpV A 198.200. 203). Wäre »das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich«, müßte das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.«59 Indem das Gesetz unbedingt gebietet, gebietet es zugleich zu glauben, daß es nicht phantastisch und auf leere Zwecke gestellt sei.60 Dieser praktisch notwendige Glaube ist verbunden mit dem Ausblick auf eine Zukunft, auf die ich hoffen darf und die sowohl vom »verhofften völligen Erwerb der Heiligkeit des Willens« (KpV A 221) als auch von einer der »Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit« bestimmt ist (KpV A 223). Was wir in diesem praktischen Glauben hoffen dürfen, ist ein Zustand, dessen Verwirklichung »nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt« wird.61 Da es in der praktischen Philosophie um die »eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld)« geht, liegt in Kants Überzeugung, daß uns die Moralität, »selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen« bleibt, eine gravierende Frage (KrV B 579 Anm.). Der Sinn des moralischen Gesetzes wäre ja vernichtet, wenn unser moralischer Zustand, den wir in der Zeit selbst nicht kennen, uns nie offenbar würde. Wir bedürfen also eines Gesetzgebers, der »auch ein Herzenskündiger sein muß«,62 des Richters, der
KpV A 205. Ich soll also glauben, daß das moralische Gesetz keine mentale Determinante ist, sondern mich auf den Weg der Moralisierung und der Gründung eines eigenen moralischen Charakters verweist. 60 Damit wird der Verdacht zurückgewiesen, das moralische Gesetz sei nur eine mentale Determinante analog den natürlichen Instinkten der Tiere. 61 KpV A 232. Was wir hoffen dürfen ist das, wozu uns Erlaubnis zuteil wird; zur Fraglichkeit des Dürfens vgl. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, bes. 216. 62 RGV B 139 = AA 6,99: »Also kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen, zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen; welcher daher auch ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen«. Im Hintergrund ist KrV B 579 Anm. zu beachten. Vgl. weiter EaD A 501 f. = AA 8,329 f.: »Denn welcher Mensch kennt sich selbst, wer kennt Andre so durch und durch, um zu entscheiden, ob […] vor dem allsehenden Auge eines Weltrichters ein Mensch seinem innern moralischen Werthe nach überall noch irgend einen Vorzug vor dem andern habe, und es so vielleicht nicht ein ungereimter Eigendünkel 59
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unser wahres Selbst kennt.63 Indem der Sinn des moralischen Gesetzes den Menschen antreibt, auf etwas zu hoffen, »was nicht in seinem Vermögen ist« und allenfalls »durch höhere Mitwirkung ergänzt werden« kann,64 führt er zur Verknüpfung von anabatischer und katabatischer Christologie. Weil nämlich allein die Menschheit »in ihrer ganzen moralischen Vollkommenheit« »eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Rathschlusses, und zum Zweck der Schöpfung machen kann« (RGV B 73 = AA 6,60), ist der »Gott wohlgefällige Mensch«, der »von Ewigkeit her« in Gott ist, in dem Gott »die Welt geliebt« hat, der letzte Grund menschlicher Hoffnung (RGV B 74 = AA 6,60). Denn »nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen können wir hoffen, ›Kinder Gottes zu werden‹« (RGV B 74 = AA 6,61). Nur durch ihn kann der »Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden« (RGV B 76 = AA 6,62). Folglich sind wir durch den Sinn des moralischen Gesetzes auf eine Zukunft bezogen, auf die wir »mit Furcht und Zittern« hoffen dürfen (RGV B 87 = AA 6,68), wenn wir getan haben, was wir tun sollen.65 5. Zum zeitlichen Sinn von Kants Beantwortung der Frage: »Was ist der Mensch?« In Beantwortung der Frage, was der Mensch sei, nennt Kant in der Religionsschrift die Anlagen »für die Thierheit des Menschen, als eines lebenden«, für seine »Menschheit […] als eines lebenden und vernünftigen« und für »seine Persönlichkeit, als eines vernünftigen, und zugleich der Zurechnung fähigen sein dürfte, bei dieser oberflächlichen Selbsterkenntniß zu seinem Vortheil über den moralischen Werth (und das verdiente Schicksal) seiner selbst sowohl als Anderer irgend ein Urtheil zu sprechen?« Augustinus denkt Gott als »cordis ipsius et intimae uoluntatis inspector«; vgl. Enarrationes in Psalmos 85,3: »interior inspector est deus«; zur Abgrenzung vgl. De mendacio 36: »homo non est cordis inspector«. 63 Vgl. demgegenüber die kongeniale Plotin-Vergegenwärtigung von Beierwaltes: Das wahre Selbst, 84 –122, bes. 101. Charakteristisch für die Differenz zu Kant ist der »›mystische‹ Imperativ« Plotins (86): a3fele pa1nta. 64 RGV B 62 = AA 6,52. Damit beantwortet Kant die Frage nach der Gnadenbedürftigkeit des Menschen. 65 Weil es notwendig mit Furcht und Zittern geschieht, ist keine Berechnung möglich; die Proportioniertheit des Glücks an die Tugend läßt keine Berechnung zu, sondern ist die moralisch notwendige und insofern vernünftig begründete Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit, die für den Einzelnen gerade nicht nach seinen Wünschen ausschlagen kann.
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Wesens«.66 Sofern das Wesen des Menschen nicht als Inbegriff naturhafter Eigenschaften, sondern lediglich als Anlage besteht, die unterschiedliche und sogar gegensätzliche Möglichkeiten in sich enthält, ist es zu seiner Entfaltung zeitlicher Vollzüge bedürftig, durch die ein Mensch allererst werden kann, was er sein soll: eigentlicher Grund seiner Persönlichkeit.67 Wenn immer Menschen die Verwirklichung ihrer Anlagen zugerechnet werden kann, liegt das formale Ziel ihrer Vollzüge in der besonderen moralischen Bestimmtheit einzelner Personen.68 Das inhaltliche Ziel der Verwirklichung seiner Anlagen ist jedem Menschen laut Kant »durch seine Vernunft bestimmt«, nämlich »in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren«.69 Dieses Ziel des menschlichen Lebensvollzugs hängt folglich mit den drei Fragen zusammen, in deren Beantwortung sich der Mensch als Wesen der Metaphysik, der Moral und der Religion erweist. Ein Wesen der Metaphysik ist der Mensch, sofern er nach den Bedingungen der Möglichkeit des Gegebenen fragt, bis hin zum Unbedingten. Ein Wesen der Moral ist der Mensch, sofern er unter dem unbedingten Anspruch des moralischen Gesetzes steht. Ein Wesen der Religion ist der Mensch, sofern er sich in Metaphysik und Moral auf die Wirklichkeit Gottes bezieht. RGV B 15 = AA 6,26. Vgl. die vorsokratische Lehre von den drei Funktionen der Seele (Döring: Sokrates, 158): »1. Als Träger des Lebens, 2. Als dasjenige ›Organ‹, in dem das Empfinden und Denken angesiedelt ist, 3. Als Träger der ethischen Verantwortung«. Sokrates habe die Lehre zugespitzt (158): »Das Leben an sich hat […] dann nur einen geringen Wert. Einen wirklichen Wert hat allein das sittlich gute Leben; es hat sogar den höchsten Wert, den es für Menschen gibt, denn allein indem sich der Mensch im Tun des Guten verwirklicht, gelangt er zur Eudämonie (eu2daimoni1a), zum Lebensglück.« 67 Das Wesen des Menschen ist nach Kant ein Seinkönnen; vgl. dazu Heidegger: Sein und Zeit, bes. 144: die »›Essenz‹ des Daseins« gründet »in seiner Existenz« (117). Kant betont die Möglichkeiten, die der Mensch als freies Vernunftwesen hat (RGV B 15 ff. = AA, 6,26 ff.). Zu beachten ist, daß der »formale Grund der bösen That« ein Gattungsmerkmal ist: zwar kann insofern gesagt werden, daß der Mensch »von Natur« böse ist (RGV B 26 = AA, 6,32); nicht böse ist dadurch aber der einzelne Mensch. Er qualifiziert sich moralisch durch zeitlichen Vollzug. 68 RGV B 19 = AA 6,28: »Der Mensch kann die zwei ersteren zwar zweckwidrig brauchen, aber keine derselben vertilgen.« 69 Anth A 321 = AA 7,324: das gilt, »wie groß auch sein thierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr thätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen«. 66
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In der metaphysischen Frage, die sich, ohne zu einem dogmatischen Resultat gelangen zu können, auf die Möglichkeit und die Grenzen des Wissens richtet, vergegenwärtigt das denkende Ich die Vergegenwärtigung des Gegebenen als den Weg zur objektiven Erkenntnis. Sie ist insofern als Vergegenwärtigung von Vergangenem zu verstehen. In der moralischen Frage nach dem Gesetz, dessen Forderung der Wille, ohne Blick auf die Folgen der Handlung, entsprechen soll, geht es um die Modifikation des Willens in gegenwärtigen Situationen, um die Vergegenwärtigung von Gegenwärtigem. In der religiösen Frage geht es um die von Menschen allein nicht überbrückbare Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll,70 der nur durch Hoffnung auf einen Zustand zu begegnen ist, den endliche Wesen nicht selbst verwirklichen können, durch die Hoffnung auf göttliche Gnade. Sie zielt demnach auf eine Vergegenwärtigung von Zukünftigem. In der Metaphysik aus theoretischer Vernunft, die gleichwohl auf einem Impuls der praktischen Vernunft beruht, ist die Aufgabe der transzendentalen Analytik der Erkenntnis zu lösen, wobei Vermögen vergegenwärtigt werden, deren Grenzen durch die Natur der Vernunft bestimmt sind. In der Moralphilosophie stellt sich die Aufgabe, die Reinheit des Gesetzes jenseits des Wirkungsbereiches der Naturkausalität zu erfassen, also die Reinheit des Gesetzes, dessen Forderung je in der Gegenwart dazu verpflichtet, eine Kausalreihe ohne Zeitbedingung von selbst anzufangen. In der philosophischen Religionslehre ist die Hoffnung zu vergegenwärtigen, die mit dem Zweck verbunden ist, der aus der Moral hervorgeht. Diese Hoffnung, der ein moralisch denkender Mensch »ganz parteilos« seine Zustimmung gäbe (vgl. RGV B IX = AA 6,6), hängt dem praktischen Gesetz unzertrennlich an, ist durch menschliches Handeln aber nicht zu verwirklichen. Der Mensch ist gemäß den drei Fragen, in denen sich das Interesse der menschlichen Vernunft vereinigt, als Zeitwesen zu denken, das sich vergegenwärtigend auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausstreckt. Die Spontaneität seiner Vernunft kann der Mensch als Zeitwesen zunächst erfolgreich entfalten, indem er sinnlich Gegebenes unter die Formen von Anschauung und Denken bringt.71 Das Marx: Frühschriften (Marx’ Brief an seinen Vater vom 10. November 1837), 3 (vgl. auch 7): »Vor allem trat hier derselbe Gegensatz des Wirklichen und Sollenden, der dem Idealismus eigen, sehr störend hervor«. 71 Sie schafft sich eine panoramahafte Perspektive, in deren Zentrum sie steht, vgl. Levinas: Totalité et Infini, z. B. XVII, 195, 266. Levinas geht es wie Kant um den Bruch mit der natürlichen Perspektive (vgl. 268). 70
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Erkenntnisgeschehen beginnt der »Zeit nach« (KrV B 1) mit der zeitlichen Ordnung der Empfindungen, fährt mit der Verzeitlichung des Denkens durch Bildung und Schematisierung der Kategorien fort und endigt vorläufig in der projektierten Beständigung des flüchtigen Gegebenen. Wer in der Perspektive der theoretischen Vernunft verharrt, mag Kant zwar nachsprechen, »daß wir von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« (KrV B XVIII); den positiven Sinn der so erreichten Begrenzung unseres Wissens wird er aber noch nicht verstehen. Denn Kant sieht den »reinen (praktischen) Vernunftgebrauch« (KrV B XXV), auf den sein Denken von Anfang an zielt, durch unser »Verhalten in Beziehung auf den höchsten Zweck« bestimmt.72 Der höchste Zweck läßt sich aber nicht als »Entwurf« begreifen, in dem die spontane Vernunft Mannigfaltiges unter die Einheit des Denkens brächte. Das vernünftige Subjekt kann sich nicht durch sich selbst aus dem Bannkreis der Klugheit und Geschicklichkeit verabschieden – und kann die Preisgabe der ihm eigenen Perspektive auch gar nicht wollen, sofern diese Verabschiedung unmittelbar seiner natürlichen Selbstliebe schadet (vgl. Reflexion 7171 = AA 19,263). Durchs moralische Gesetz offenbart sich die Idee der Freiheit, wird »entdeckt, was man nicht suchte und doch bedarf«, kommt eine Zeit ins Spiel, die weder vorhersehbar noch ableitbar war und die trotz der Inversion der Aktivität die Autonomie der Vernunft einsetzt und rechtfertigt.73 Indem die Gegenwart des Anderen achtunggebietend die Perspektive der theoretischen Vernunft stört und in sie einbricht, erhält die transzendentale Freiheit nun praktischen Sinn, sofern sie das Subjekt herausfordert, seine Zentralposition aufzugeben. Diese erste, moralische Inversion der Aktivität lenkt den Blick des vernünftigen Subjekts auf eine reine Gegenwart, die es auf Grund seines Wissens um die Zeitbedingungen des Geschehens nicht vorwegnehmen kann. Sie schafft Platz für eine zweite Inversion der Aktivität, die das Tor zur Religion öffnet. Indem sich die Fragen der Metaphysik, der Moral und der Religion auf die Anthropologie beziehen, zeigt sich der Mensch als Wesen
KrV B 829; weil dies der Fall ist, »so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt.« 73 KpV A 5.193. Levinas spricht zwar von Heteronomie in der Grundlegung der Moral, aber von privilegierter; vgl. Totalité et Infini, 60: »La présence d’Autrui – hétéronomie privilégiée – ne heurte pas la liberté, mais l’investit.« 72
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metaphysischer, moralischer und religiöser Fragen, als Wesen, das sich durch diese Beziehung so auf das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige erstreckt, daß die Zeit auch laut Kant als Erstreckung des Geistes zu verstehen ist, in tiefgehender, hier nur angedeuteter Verwandtschaft mit Augustins Bestimmung der Zeit als »distentio animi«.74
Vgl. Augustinus: Confessiones 11,30.33.39. Zwar hat Kant den Namen Augustins kaum einmal erwähnt. Unbekannt scheint ihm dessen Untersuchung der Zeit aber nicht gewesen zu sein; vgl. UDG A 79 = AA 2,283 f.: »Augustinus sagt: Ich weiß wohl, was die Zeit sei, aber wenn mich jemand frägt, weiß ichs nicht.« Aber auch ohne historische Beweisführung läßt Kant sich denkerisch als Bindeglied zwischen Augustinus und Heidegger verstehen. Vgl. z. B. Heidegger: Des heiligen Augustinus Betrachtung über die Zeit. 74
Gott als Horizont oder Grund des Ich? Von Kants praktischer Metaphysik zu Fichtes Metaphysik des Einen Seins von Edith Düsing
1. Einleitung a) Fichtes Denkweg im Horizont des Atheismusstreits In der Zeit von 1792–1799 hat Fichte seine Philosophie wesentlich als Vollendung der Kantischen verstanden; Kants Philosophie sucht er systematisch strenger zu fassen. Fichtes Anknüpfung an Kant soll in der vorliegenden Studie auf die Kantische Postulatenlehre eingegrenzt bleiben. So sind nach der Einleitung zunächst Kants Postulate abzuleiten, in denen Gottes Dasein, die Ewigkeit der Seele und die Realität der Freiheit angenommen werden. Dabei soll die Frage nach der sachlichen Beziehung von theoretischer Gottesbeweiskritik und praktischem Gottespostulat bei Kant durch die Unterscheidung von negativer und positiver Theologie bestimmt werden, die bei Fichte implizit wiederkehrt. Im Schlußteil ist Fichtes Umdeutung dieser Postulate darzulegen, und zwar in Abhebung der späten von der frühen Lehre Fichtes.1 Ward Kant zu Recht der Vollender der in ihrer Metaphysikkritik milde gesonnenen deutschen Aufklärung genannt – vergleicht man sie z. B. mit einer englischen und französischen Freigeisterei –, so läßt sich Fichte für die Erkenntniskritik als Messias der spekulativen Vernunft (Jacobi), für die praktische Philosophie als Denker radikaler Autonomie betiteln, die Jacobi als prometheisch geißelt.2 Vorliegende Studie möchte ich Dr. phil. Friedrich Diergarten zu seinem besonderen Geburtstage widmen. – Fichtes Werke werden zitiert nach der von I.H.Fichte besorgten Gesamtausgabe: SW I – XI und nach der Historisch-kritischen Fichte-Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften: F GA. 2 Fichtes originäre frühidealistische Einsicht lautet: Das freie Selbstbewußtsein, das reine oder absolute Ich, ist eine Ur-Tat, erste Thesis des Philosophierens, schlecht1
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Jeden Betrachter mag das Geistesdrama bewegen, worin Fichtes Seelenund Charaktergröße verborgen liegt, daß der vom Atheismusstreit verwundete Denker Fichte sich nicht verbittern läßt, sondern den Weg von einer aufgeklärten Position des Idealismus der Freiheit gleichsam bis zum Beginn des Mittelalters zurückwandelt. Denn für seine Neubestimmung des Verhältnisses von Ich und Absolutem lenkt Fichte Schritt um Schritt von seinem ersten Entwurf absoluter Freiheit des denkenden und handelnden Ich über Descartes’ egologischen Gottesbeweis bis hin zu einer Augustinischen Position zurück. Ich nenne diesen gewaltigen Umbruch in Fichtes Denken seine ›Augustinische Wende‹; in dieser Wende zeigt sich, nachdem in Fichtes Frühphase das Kantische Gottespostulat nur das letzte Horizontbewußtsein des Ich ausmacht, wie statt des Ich schließlich Gott es ist, der alles Sein fundiert und erfüllt, und daß Gott von dem so entmächtigten Ich als sein eigener letzter Grund anerkannt wird. In der Kant nahen Frühphase gehört für Fichte die Erzeugung der Gottesidee zu den praktisch notwendigen Bedingungen des in sich vollendeten selbstbewußten Ich. Ab 1800 aber wird von Fichte das Ich als Prinzip entthront; alle meine wahren Gedanken sind, wie bei Malebranche, in Gott gedacht, und Gott ist mir in meinem Bewußtsein klarer gegenwärtig, als ich es mir selbst bin. Der späte Fichte kennt eine mystische Gottinnigkeit, in der das Selbst in der Gottesliebe ganz versinket. Etwas ewig Gültiges selbst zu sein und aus sich zu entbergen, vermag nur das Gott liebende Ich; wie für Augustin gilt für den späten Fichte: Allein die Liebe kennt die Wahrheit und die Ewigkeit. Das Einsenken des Liebesmotivs in die Fundamente des Seins, worhinniger Neuanfang, das Setzen von etwas, das – als rein geistige lebendige Aktuosität – zuvor nicht war oder vorlag. Das Ich ist kein vorgegebenes Seiendes, keine res cogitans, sondern unablässig schöpferisches Handeln: Tathandlung als Hervorbringen seiner selbst aus Freiheit und aller Seinsbestimmungen durch die unbewußt schaffende Einbildungskraft. Das absolute Ich ist für Fichte zunächst vordisjunktiv theoretische und praktische Spontaneität, göttlich-unendliche und menschlich-endliche Noesis und Poiesis. Emphatisch erklärt Fichte in einer Einleitung in die Wissenschaftslehre, seine gesamte Philosophie sei nichts anderes als eine »fortlaufende Analyse der Freiheit«. Vgl. F GA I/4,251 f.: »Darin besteht das Wesen des transzendentalen Idealismus [...], daß der Begriff des Seins gar nicht als ein erster und ursprünglicher Begriff angesehen, sondern lediglich als ein abgeleiteter, und zwar durch Gegensatz der Tätigkeit abgeleiteter, also nur als ein negativer Begriff betrachtet wird. Das einzige Positive ist dem Idealisten die Freiheit; Sein ist ihm bloße Negation der ersteren.« Objektsein ist für Fichte also bloß Negation, Widerständigkeit bzw. graduelles Aufgehobensein von der Möglichkeit nach unbegrenzter Tätigkeit des Ich. – Vgl. dazu Heimsoeth: Fichte.
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aus alles Seiende entspringt, hat im Sinne der sich schenkenden Agape-Liebe Johanneischen, im Sinne des Eros, der des Vollkommenen, auch des ganz Anderen bedürftig ist, Spinozanischen Hintergrund: Amor Dei intellectualis. Der späte Fichte erklärt herb und klar: »Wir können Gott nicht denken, ohne uns, als ein Zufälliges, denkend zu vernichten«!3 Der unbildliche »Gott ist nicht durch das Denken, sondern an ihm vernichtet sich das Denken« (SW IX,563). An der Grenze allen möglichen Erkennens, die Kantisch gezogen ist, wird Liebe das Einheit stiftende Band zwischen Ich und Absolutem; Liebe tritt als Erkenntniskraft in die Bresche, wo die Verstandesreflexion in ihrer Kompetenz enden und versagen muß. Der diese Thesen lehrt, kann nicht mehr derselbe sein, der das schlechthin sich selbst setzende Ich verkündet hat, das als erstes Axiom der Philosophie Deduktionsgrund bilden sollte für Wahrheit, Religion, Recht, Moralität. Verstört von Jacobis bitterem Atheismus-, Egoismus, Nihilismus-Vorwurf, daß Fichtes absolutes Ich, statt Gottes, eigentlich sich selbst anbete und für ein solches Ich alles außer dem Ich Nichts sei, bestimmt Fichte das rein autonome Ich als bloßen Traum von einem Traume (SW II,245), mithin als ohne Substanz. Fichte erörtert 1800/ 1801, souverän auf Jacobis Spur, weshalb autarke Selbstbegründungsversuche des Ich zum Scheitern verurteilt sind. Das Ich, bleibt es ohne Bezug zum Absoluten, ist in sich grundlos, abgründig, im Sich-selbst-Setzen der Nichtigkeit des Vergänglichen anheimgegeben. Wahrheit und Freiheit finde das Ich allein durch sein In-Gott-Sein und im Einstimmigsein mit Gottes Willen. Es geht Fichte um freie Selbsthingabe des Ich, um das Transzendieren allen eignen Wissens, Wünschens und Hoffens im Angesicht der in positiven Begriffen nicht mehr aussagbaren erhabenen Majestät Gottes, des evn a3rrhton. An die Stelle eigenen Sichverstehens des Ich aus dem Urgrunde seiner schöpferischen Freiheit tritt sein leidenschaftlich freiwilliges Sichbilden zum Bilde Gottes. Denn nur Eines, so klingt Spinozas Gott als causa sui an, ist schlechthin durch sich: Gott; und das Ich »soll sich sehen als Schema des göttlichen Lebens« (Wissenschaftslehre von 1801).
Dies Wort erinnert an Plotin, der das Sich-leer-Machen von allen eigenen Gedanken als Voraussetzung für das Einleuchten des göttlichen überseienden Einen fordert. Die Seele muß frei sein von allen Qualitäten, ja auch ihr Wissen von sich selbst auslöschen, soll sie sich mit der ersten Wesenheit erfüllen können bzw. um in die Schau des Einen einzutreten und mit ihm sich zu vereinen. Zu Plotin vgl. Beierwaltes: Denken des Einen. 3
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Das alles begründende selbstbewußte Ich kennt Gott und Gottes Dasein, so der frühe Fichte, maximal als äußersten Horizont für seine ureigene absolute Selbstgewißheit und autonomen Weltentwürfe; deshalb kann von einem Primat des Ich vor dem Absoluten gesprochen werden (1792–1799). In der mittleren Phase erweist Fichte – wie Descartes in seiner dritten Meditation – das im ego cogito verankerte Wissen um ein korrelatives Verhältnis des sich selbst als endlich und unvollkommen begreifenden Ich zu dem als unendlich und vollkommen einleuchtenden Gott (1800/1801). In der Spätphase Fichtes wird das Ich seiner ursprünglichen Begründungsfunktion enthoben (1804 –1813). Die um 1801 noch methodisch konkurrierende Gleichrangigkeit von Ich und Absolutem, je archimedischer Punkt zu sein, wird von Fichte nun entschlossen und energisch in einen Primat des Absoluten, des absoluten Einen Seins oder Gottes vor dem Ich überführt.
b) Kants Postulate im Kontext des Verhältnisses von negativer und positiver Theologie Kants Kritik der Gottesbeweise und Kants Lehre vom praktischen Postulat des Daseins Gottes stehen vor dem Hintergrund klassischer Theorien zum Verhältnis von negativer und positiver Theologie. Die Frage erhebt sich, wie der theoretische Begriff Gottes als des Wesens aller Wesen (ens entium) oder des transzendentalen Ideals mit dem praktischen Begriff Gottes als des moralischen Welturhebers und damit: wie Gottesbegriffe der negativen und der positiven Theologie bei Kant untereinander vereinbar sind. Kants Konzeption des Verhältnisses von negativer und positiver Theologie steht auf unreflektierte Weise sehr wohl in der Tradition christlich-neuplatonischer Theorien, so z. B. der Cusanischen über das Verhältnis des unbegreifbaren deus absconditus zum positiv faßbaren deus revelatus. – Mit Bestimmungen unsres Verstandes können wir nicht begreifen, so Kant, wie Gott das »All der Realität« oder Vollkommenheit zukomme. Der »metaphysische Gott« bleibt »ein leerer Begriff« (FM A 126.131 = AA 20,302.304; vgl. 303); denn wir können ihn nicht bestimmen. Dies ist die Position einer negativen Theologie, die Kant selbst in der Kritik der reinen Vernunft einmal angedeutet hat (KrV B 640 f.). Gleichwohl – und auch dies gehört essentiell zur Position einer negativen Theologie – ist die Konzeption eines solchen letzten Urgrundes oder Gottes sinnvoll und nötig. Kant nennt Gott ein ›absolut-nothwendiges Wesen‹
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(KU B 341); dies ist kein Bestimmen durch eine Modalkategorie, sondern zeigt die Überlegenheit an über den für uns unausweichlichen Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit; es ist eine analogische Bestimmung dieses Urgrundes aus unserer Perspektive, daß er absolut notwendig existiert. Nach diesem göttlichen Urgrund von allem zu suchen, ist bleibende Aufgabe der Vernunft, und zwar der theoretischen ebenso wie der praktischen. Ein intuitiver, göttlicher Verstand, in dem Anschauung und Denken und damit Wirklichkeit und Möglichkeit nicht getrennt sind, würde Einsicht in die Seinsweise und die inhaltlichen Bestimmungen dieses Urwesens haben; ja es ist letztlich Gott selbst, der sich in dieser Weise intellektuell-intuitiv erkennt und der sich damit in seinen Ideen als seinen Bestimmungen und in der ihm gemäßen Seinsweise erfaßt.4 Die Vernunft strebt mit ihren Ideen und zuhöchst mit der Idee des absolut notwendig existierenden Gottes solche noematische intellektuell-intuitive Erkenntnis an, bleibt aber für das Denken derartiger Inhalte an den endlichen Verstand gebunden. Unser endlicher, auf sinnliche Anschauungen angewiesener Verstand, der nur sinnlich Gegebenes durchgehen und synthetisieren kann, ist jedoch zu solchen Vorstellungen nicht in der Lage. Ihm bleibt die für die Vernunft unentbehrliche Idee eines absolut notwendig existierenden Urgrundes von allem Sein ein »unerreichbarer problematischer Begriff« (KU B 341), d. h. etwas inhaltlich Undenkbares, das er in dessen eigenen Bestimmungen nicht erfassen kann. Vertraten die Neuplatoniker eine negative Theologie des Urprinzips als des undenkbaren und unaussagbaren ›Einen‹, dessen positives Pendant die mystische Schau dieses ›Einen‹ war, so konzipiert Kant eine negative Theologie ohne Mystik. Das durch unser begriffliches Denken unerreichbare höchste Prinzip oder der Urgrund ist in solcher Unerfaßbarkeit nicht schlechthinniges Nichts; es erfährt von anderer, gleichwohl menschlich-vernünftiger und allgemein zugänglicher, keineswegs mystischer Seite eine neue subjektive Legitimation, und zwar durch die praktische Vernunft in ihrer Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Gutes. Die praktische Vernunft konzipiert ganz neuartige Bestimmungen dieses Urgrundes oder Gottes, zu deren Aufstellung die theoretische Vernunft keinen hinreichenden Grund Vgl. hierzu Kant: Metaphysik Pölitz; AA 28.1,306 ff. Leibniz’ göttlicher Intellekt, der mögliche Welten von unsrer wirklichen unterscheidet, ist nach Kants Maßstäben anthropomorphistisch gedacht. Vgl. Klaus Düsing: Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand. 4
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hat, die aber nur aus unserer Perspektive entworfen werden und daher nur analogische Bedeutung haben. Die positive Theologie als das Pendant zur negativen ist somit eine Theologie der praktischen Vernunft von subjektiver Bedeutung, deren positive Bestimmungen die theoretisch unüberwindliche negative Theologie nicht aufheben. Kants negative Theologie setzt die positive nicht außer Geltung und umgekehrt. 2. Kants positive Theologie der praktischen Vernunft im Horizont der negativen Theologie a) Kants negative Theologie in der Kritik der reinen Vernunft Der negativen Vernunftkritik, wie Kant selbst sie nennt, die im Erweis der Unzulänglichkeit spekulativer Vernunft liegt, über die Grenze aller Erfahrung hinaus »jenen transscendenten Vernunftbegriff des Unbedingten« zu bestimmen (KrV B XXI), spricht er gleichwohl die nicht unbedeutende positive Funktion zu, den Freiraum für dasjenige in sich widerspruchsfrei Denkmögliche zu gewinnen, der daraufhin durch ›Data praktischer Erkenntnis‹ ausfüllbar ist. Kant nimmt einen »schlechterdings nothwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft« (den moralischen) an, in dem die Vernunft sich rechtmäßig über die Grenzen der sinnlichen Welt erweitert, ohne spekulativer Beihilfe zu bedürfen oder aber deren ›Gegenwirkung‹ befürchten zu müssen, die den Vernunftgebrauch – etwa durch Widerstreit von Spekulation und Moralität – in Widerspruch mit sich selbst stürzen könnte (KrV B XXV). »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXIX f.). Der Verlust der spekulativen Vernunft, der bloß einen »eingebildeten Besitz« betreffe, soll durch praktische Erkenntnis aufgewogen werden, ganz im Sinne des höchsten Interesses des Menschen, der sich »durch das Zeitliche« allein noch nie zufriedengestellt finden konnte und der deshalb die »Hoffnung eines künftigen Lebens« sucht und zum Glauben an einen »weisen und großen Welturheber« geneigt ist (KrV B XXXI ff.). Diesem Interesse kommen die zwei ›Cardinalsätze‹ unserer reinen Vernunft entgegen: »es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben«. Sie sind theoretisch nicht demonstrierbar, während es apodiktisch gewiß ist, kein ›Freigeist‹ könne jemals das Gegenteil beweisen: es gebe kein höchstes Wesen, und die menschliche Seele sei keine substantielle ›immaterielle Einheit‹; die zwei ›Cardinalsätze‹ sind also auch nicht ›wegdemonstrierbar‹ (KrV B 769 f. und 781).
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Das von der ›negativen‹ Vernunftkritik erwirkte grenzenlos gewordene, spekulative Nichts-wissen-Können, das in der Gottesfrage an Sokrates oder Cusanus gemahnt, eröffnet im Prinzip ein Feld unbegrenzter Hypothesen-Bildung im Bereich des Denklichen, Denkmöglichen, sofern die Art und Weise des Fürwahrhaltens sich statt des Behauptens auf ein Meinen einschränkt. Die wahrhaft legitime Uridee, welche die praktische Vernunft entwirft, ist die des höchsten Gutes (KrV B 838 f.): »Ich nenne die Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, so fern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit glücklich zu sein) in genauem Verhältnisse steht, das Ideal des höchsten Guts. Also kann die reine Vernunft nur in dem Ideal des höchsten ursprünglichen Guts den Grund der praktisch nothwendigen Verknüpfung beider Elemente des höchsten abgeleiteten Guts, nämlich einer intelligibelen, d. i. moralischen Welt, antreffen.« Demnach bilden für Kant Gottes Sein und ein zukünftiges Leben der menschlichen Seele Voraussetzungen, die von der Vernunft gesetzt werden müssen und die nicht abtrennbar sind von der Verbindlichkeit, die uns reine sittliche Vernunft selbst auferlegt.5 Eine ›Moraltheologie‹ der reinen Vernunft ist es, die für Kant – was spekulative Theologie nicht vermag – konsequenterweise auf den Begriff eines »einigen, allervollkommensten [...] Urwesens« führt; ein solches Urwesen, so werden nun dessen praktisch-notwendige Eigenschaften deduziert, muß als Herrscher der Natur und deren Beziehung auf sittliches Wollen über einen allgewaltigen Willen verfügen, in allwissendem Verstand »das Innerste der Gesinnungen« durchschauen und kennen, muß allgegenwärtig sein, um immerzu das Weltbeste fördern zu können (KrV B 842 f.).6 Wenn nun praktiDies gehört zu Kants früherer Theorie des höchsten Gutes, nach der das höchste Gut und die Ideen von Gott und Unsterblichkeit selbst zum Bereich der Ausführung und Verwirklichung des Sittlichen gehören. 6 In der Metaphysik Pölitz, AA 28.1,321.324 f. – die nicht originär Kants kritische Position belegt, sondern, kritisch gesagt, zum ›moralischen Welturheber‹ gehört, der systematisch erst nach der Erörterung des höchsten Guts als dessen Ermöglichungsbedingung dargelegt werden kann, dessen Prädikate nur analogisch gelten – bestimmt Kant den Gottesbegriff im Rahmen einer theologia naturalis als Begriff einer »vollkommenen Ursache der Natur und einer höchsten Intelligenz«, während im Rahmen der theologia moralis der Begriff von Gott der eines »summi boni und eines heiligsten Wesens« ist. Vollkommenheiten als solche, wie Stärke, Verstand, machen noch keine »Bonitäten« aus; denn »Bonität ist die Intention des wahren Zwecks«, die Gesinnung, 5
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sche Vernunft diesen ›hohen Punkt‹ erreicht, so darf sie sich nicht anmaßen, sie habe sich, in einer Art mystischen Schau,7 »zur unmittelbaren Kenntniß neuer Gegenstände emporgeschwungen« (KrV B 846 f.). Der wahrhaft moralische Glaube an das Zustandekommen des höchsten abgeleiteten Gutes ist moralisch, insofern es ihm zuerst auf den guten Lebenswandel ankommt, darauf, wie es mit religiösem Pathos einmal heißt, sich dem Sittengesetze »von ganzer Seele« zu »weihen« (KpV A 231 f.), und er ist Glaube im Sinne einer nicht wankenden Gewißheit, die mit dem Meinen eine gewisse »Bescheidenheit in objectiver Absicht« teilt, wohl aber in subjektiver Hinsicht festes ›Zutrauen‹ ist (KrV B 855 f.). Die Überzeugung, um die es in dem reinen Vernunftglauben geht, ist keine logisch-spekulative, sondern eine moralisch-praktische Gewißheit, die »auf subjectiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht«, so daß es weniger sinngemäß ist, zu sagen: ›es ist‹ moralisch gewiß, daß ein Gott sei, als vielmehr – dies bekundet Augustinisches Innerlichkeits-Ethos: ›ich bin moradas Gute rein als solches zu beabsichtigen. Leibniz’ Kompossibilitätsanforderung an göttliche Vollkommenheiten nachgehend, erörtert Kant die Vereinbarkeit von Güte und Gerechtigkeit Gottes durch Hinsichtenunterscheidung: Die Güte betrifft Gottes »Vorsorge« in physischer und in moralischer Hinsicht, etwa Beihilfe zur mangelnden sittlichen Vollkommenheit des Wollens; Gerechtigkeit betrifft die Zusammenstimmung von Wohlverhalten und Glück; »die Gerechtigkeit ist also eine Güte, die restringiert ist durch [...] die Bedingung des heiligen Gesetzes«. Aus der moraltheologischen Eigenschaft, daß Gott ein »gütiger Regierer« ist, folgt die naturtheologische Eigenschaft, daß er allmächtig sein muß; denn sonst könnte er uns das nicht erteilen, was uns fehlte; ja, er muß nicht bloß raum-zeitlich allgegenwärtig und allwissend sein, um wahrhaft helfen und ein gerechter Richter sein zu können, sondern muß, als allweiser Herzenskündiger (scrutor cordium: Hebr 4,12) »uns innigst gegenwärtig seyn«. Auch in Kants Opus postumum findet sich der Gedanke: »Die Idee von einem Wesen, das alles weiß, was alles vermag, alles moralisch gute will und allen Weltwesen innigst gegenwärtig (omnipraesentißimum) ist, ist die Idee von Gott.« (AA 21,91 f.) Das Verstehen Gottes mit Bezug auf das Innerlichste des Ich steht Augustins Bestimmung des deus interior intimo meo nahe. Vgl. dazu Fischer: Augustins Philosophie der Endlichkeit. 7 Als Verfallsweisen der ohnehin gebrechlichen Spekulation brandmarkt Kant, sich in »theosophische Träume« zu verlieren, ein Anklang wohl an Swedenborg, ferner Obscurantismus und Fanatismus, wobei Kant abgesehen vom spekulativen Abseits, in das Vernunft verfällt, ein Hinfallen treuen Strebens moniert, das ›strenge‹, ›wahre Vernunftgebot‹, das Sittengesetz, zu befolgen. Beharrlichkeit ohne Schwärmerei aber sei vonnöten, da uns ein ›unendlicher Progressus‹ in Richtung moralischer Selbstvervollkommnung auferlegt ist (KpV A 221 f.), ähnlich wie Calvin erklärt hat (Institutio Christianae Religionis): »Ad perfectionem sunt infiniti gradus«.
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lisch gewiß!‹ Der Glaube an Gott und an eine andere Welt ist für Kant so eng verwoben mit der eigenen Gesinnung, daß meine Gefahr, das erste einzubüßen, dem Entrissenwerdenkönnen des zweiten korrespondiert. Kein Mensch sei bei diesen letzten Fragen ›frei von allem Interesse‹. Kierkegaards existentielle Analysen einer Flucht des Menschen vor Gott vorwegnehmend, erwägt Kant: Ist ein Mensch seines Ferneseins von wahrer sittlicher Gesinnung inne, so bleibt für ihn an Reflexion ›genug übrig‹, um sich dahin zu bringen, daß er Gottes Dasein und eine Zukunft der Rechenschaftsablegung fürchte,8 deren mögliche Realität zu widerlegen er außerstande ist; er kann keine Gewißheit des Nichtseins Gottes und des Ausbleibens des zukünftigen Lebens des Ich ›vorschützen‹ (KrV B 857 f.). Das Ideal theoretischer Erkenntnis ist apodiktische Gewißheit oder Einsicht in das schlechthin Notwendige (KrV A XV). Die moralische Gewißheit ist eine andere Art von certitudo,9 so daß der moralische Vernunftglaube nicht bloß eine herabgestimmte Notlösung im vagen Mittelfeld zwischen Wissen und Nichtwissen ist. Gegenstände der Sinne füllen ohnehin nicht das »ganze Feld aller Möglichkeit« aus. Manches Übersinnliche läßt sich »von Widersprüchen frei« denken, wenn es sich auch nicht, als ein so oder anders Bestimmtes und als solches Existierende, erkennen läßt, zentral das Dasein Gottes als moralischen Welturhebers (WDO A 311.321 = AA 8,136 f.,142). Sehe ich mich aber, so argumentiert Kant, aus einem fundamentalen Interesse der Vernunft selbst veranlaßt, eine spekulative Aussage über etwas objektiv weder Beweisbares noch Widerlegbares zu treffen, so kann ich es in der logischen Form einer Meinung wagen, die durch einen bloß subjektiven Grund des Fürwahrhaltens ausgewiesen wird. In der dritten Kritik weist Kant den Hypothesenbegriff für die Annahme Gottes und damit jeden möglichen Grad Zu Kants Explikation der Angst des beunruhigten Gewissens vgl. MST A 99 ff. = AA 6,438 f. Tiefsinnig ist Kants Bemerkung: »Ein lebendes Gewissen ist, wenn sich der Mensch Gebrechen vorwerfen kann. Es gibt aber auch ein schwermütiges Gewissen, wo man sich in seinen Handlungen Böses vorzuwerfen sucht, wozu wirklich kein Grund ist«. Denn das Gewissen »soll in uns kein Tyrann sein« (Eine Vorlesung Kants über Ethik, 168). 9 Vgl. Wundt: Kant als Metaphysiker, 316. Wundt sieht entwicklungsgeschichtlich bei Kant eine gesteigerte Betonung, der Glaube an die Welt des Intelligiblen sei auch eine theoretische Überzeugung, was sich an Kants Wortwahl zeige, die zunächst vom »moralischen Glauben«, dann lieber vom ›vernünftigen Glauben‹ redet (vgl. z. B. GMS BA 126 f. = AA 4,462) und schließlich die »moralische Gewißheit« des Übersinnlichen dezidiert als »praktische Erkenntniß« anspricht. 8
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theoretischen Fürwahrhaltens als unstimmig zurück, und zwar zugunsten eines exklusiven praktischen Fürwahrhaltens und Annehmens (KU B 448–454). In seiner Preisschrift nennt Kant es ›ungereimt‹, Wahrscheinlichkeits-Argumente für Gottes Dasein zu führen, da es in metaphysicis in der mathematischen Bestimmung der Modalität des Fürwahrhaltens keine Approximation geben kann (FM A 118 = AA 20,299). Ein Verzichten aber auf die nach dem Ewigen fragende Vernunft läuft auf den dogmatischen Vernunftunglauben hinaus, der ohne Beweisgründe etwas bestreitet, über das gar kein positives oder negatives Erkenntnisurteil gefällt werden kann. Kant nimmt eine Dialektik der Aufklärung vorweg, des näheren deren nihilistische Selbstauflösung im Werk Nietzsches, indem Kant zu bedenken gibt, daß Denkfreiheit, verfährt sie unabhängig von allen Gesetzen der Vernunft, schließlich sich selbst zerstört!10
b) Kants Gottespostulat in der Kritik der praktischen Vernunft Kant unterscheidet vom Spinozanischen Gottesbegriff, in welchem Gott als Substanz, die Welt bloß als Akzidens gilt und in dem die Freiheit nicht zu retten wäre, da alle unsere Handlungen göttlicher alleinwirksamer ›Fatalität‹ unterliegen,11 einen Gottesbegriff der ›Schöpfungstheorie‹, in der geschaffene
WDO A 325 ff. = AA 8,144 ff. Freiheit zu denken als spontanes Selbstdenken, das zuerst mit sich einstimmig sein muß (Anth A167 = AA 7,228 f.), bedeutet ein Sichhalten der Vernunft allein an die Gesetze, die sie sich selbst gibt. Im Gegensatz hierzu steht die Maxime eines gesetzlosen Vernunftgebrauchs, sei es in Gestalt freier Schwünge des Genies, das sich für sein hohes Denken besonderer Eingebungen rühmt, sei es als Maxime freigeisterischer Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis, metaphysische Postulate anerkennen zu wollen. 11 Das Verhältnis von Gott und Welt gemäß der Kausalitäts-Kategorie läßt sich für Kant auf zweierlei Weise vorstellen, nämlich so, daß Gott Urheber der Welt ist entweder »durch die Nothwendigkeit seiner Natur, oder durch Freiheit«; gemäß der Notwendigkeit unterscheidet Kant vom neuplatonischen Systema emanationis das Systema inhaerentiae, den Spinozismus, »wo die Welt ein Ganzes von Bestimmungen der Gottheit ist«. Kant aber spricht sich für das »Systema creationis oder productionis liberae« aus, wo Gott freier Urheber der Welt ist, und zwar des näheren als creator ex nihilo, so daß Gott nicht nur, wie bei Plato, ordnender Urheber der Formen, sondern auch Schöpfer der Substanzen ist. Religion Pölitz; AA 28.2.2,1092 ff. zum Spinozismus vgl. auch Reflexion 6119; AA 19,461; Reflexion 6229; AA 18,517; Reflexion 6284; AA 18,550 f. 10
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freie Substanzen angenommen werden; Gott gilt als Urgrund, Weltwesen als seine Hervorbringungen. In diesem Zusammenhang hebt Kant in der praktischen Absicht, Freiheit zu wahren, die Bedeutung der Allgenugsamkeit als Prädikat Gottes hervor: »Gott als allgemeines Urwesen sei die Ursache auch der Existenz der Substanz (ein Satz, der niemals aufgegeben werden darf, ohne den Begriff von Gott als Wesen aller Wesen und hiemit seine Allgenugsamkeit, auf die alles in der Theologie ankommt, zugleich mit aufzugeben)« (KpV A 180 f.). Bestand für Leibniz das eine der beiden Labyrinthe der Philosophie im Spannungsverhältnis göttlicher und menschlicher Freiheit, so betitelt Kant nun seine eigene Dialektik, die sich in der Antinomie der reinen Vernunft im Hinblick auf die reale Ermöglichung des höchsten Gutes auftut, als ›Labyrinth‹.12 Dieses Labyrinth aber nennt Kant »die wohlthätigste Verirrung«, da sie die Vernunft dazu antreibt, den Lösungsschlüssel zu suchen, mit dessen Finden sie die ersehnte metaphysische Dimension aufschließt, nämlich eine Aussicht in eine »höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge«, in der wir – wie im Johannes-Evangelium – »schon jetzt sind« (KpV A 193). Dazu paßt der ›Beschluß‹ der zweiten Kritik über die »Bewunderung und Ehrfurcht«, die den spectator coeli angesichts des Sternenhimmels ›über‹ ihm und des Sittengesetzes ›in‹ ihm beseelt; diesem zeigt sich in der über die sinnliche Welt hinaus reichenden Reflexion auf seinen Ort im Kosmos sein ewig gültiges, auf die Bedingungen zeitlicher Existenz nicht eingeschränktes Selbst, das im Wollen des Guten auf gesetzmäßige Weise mit sich selbst einstimmig ist und das im praktischen Postulat durch Gott geschenkte Unvergänglichkeit hoffen darf (KpV A 288 ff.).13 Der »bestirnte Himmel über mir« symbolisiert kosmologisch, wie die Existenz des ihn Schauenden mit dem Licht »wahrer Unendlichkeit« umleuchtet wird, die allein vom Sittengesetz in mir und von dessen postulatorischen Folgebestimmungen eröffnet ist. Beide Dimensionen des Unendlichen, die äußere raumzeitlich-physikalische und die innere moralische, die im Nachsinnen mit dem »Bewußtsein meiner Existenz« verknüpft Vgl. dazu Klaus Düsing: Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie. 13 In der Preisschrift systematisiert Kant drei transzendente Ideen des Übersinnlichen, die von der Vernunft hervorgebracht werden (FM A 105 ff. = AA 20,295): 1) »das Übersinnliche[n] der Weltwesen«, das uns in uns gegeben ist: die Freiheit; diese umfaßt, als Autonomie, ja Autokratie, »Glaube an die Tugend, als das Prinzip in uns, zum höchsten Gut zu gelangen«; 2) »Gott, das allgnügsame Princip des höchsten Gutes über uns«; 3) Unsterblichkeit, »die Fortdauer unsrer Existenz als das Übersinnliche nach uns«. 12
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sind, enthalten bei Kant das fascinosum und das tremendum in sich, nämlich zum einen das Über-sich-Hinausgehobensein der Seele in die Sphäre des Unermeßlichen und göttlichen Ewigen und zum andern ihr Niedergeworfenwerden im Bewußtsein eigener Unbedeutsamkeit im unendlichen All bzw., gravierender, im Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit im Vergleich mit dem göttlich heiligen, vollkommen guten, unbedingt Gesollten.14 Im Mich-Verstehen als Mitglied des mundus intelligibilis ist mir das einzig Zugängliche die Qualität meines eigenen Wollens, das ich in der Zielperspektive als heiligmäßig vollkommenes hervorbringen soll, dem entsprechend vollendete Glückseligkeit erhoffbar ist. Solches Wollen als Bedingung des höchsten Gutes ist in mir Kristallisationskern der erhofften besten aller möglichen Welten, des summum bonum derivativum. Als horizonthaft mitintendiertes Ganze bleibt mir die beste Welt unverfügbar; praktisch habe ich »nur auf das zu sehen, was meines Thuns ist« (KU B 462 Anm.). Schon bei der Selbstprüfung sittlichen Wollens ist die beste Welt in dem Gedanken der Allgemeingesetzlichkeit latent gegenwärtig. Deren Hoffendürfen ist nötig für die Konsistenz und den mutbeseelten langen Atem meines sittlichen Wollenkönnens im Angesichte einer Sisyphus-Gestalt.15 Da nun reine Vernunft für sich und durch sich selbst praktisch sein kann und es durch sittliche Selbstgesetzgebung wirklich ist; da es zudem eben dieselbe Vernunft ist, die zum einen theoretisch, zum andern praktisch nach je eigenen Prinzipien a priori urteilt; und da Kant, insofern alles Interesse der Vernunft »zuletzt praktisch« sei, zum Zweck der Vermeidung eines Widerspruchs in der Bestimmung des höchsten Gutes eine Unterordnung der theoretischen unter die praktische Vernunft annimmt, kann Gottes Dasein als Postulat der reinen praktischen Vernunft aufgestellt werden (KpV A 223 ff.). Vgl. dazu Heimsoeth: Astronomisches und Theologisches in Kants Weltverständnis, 93.95.107 f. 15 Die Vermeidung eines absurdum, sei es practicum, morale, logicum oder pragmaticum, erörtert Kant im Horizont der Frage nach dem Dasein eines weisen Welturhebers, das der konsequente »Bösewicht« zu bestreiten trachtet; vgl. Metaphysik Pölitz; AA 28.1,291 ff. Indem Gott Konstrukt und Adressat eines reinen Glaubens wird, »dringt der moralische Beweis« für die praktische Notwendigkeit des Daseins Gottes »in die innerste Quelle der Thätigkeit«; denn wir werden durch diesen Beweis nicht nur »überführet vom Daseyn des heiligsten Wesens«, sondern auch innerlich »gebessert« (ebd. 293 f.). Im Opus postumum wird die Vergegenwärtigung Gottes in ihrer ganzen Tragweite, wiewohl im Horizont der Erkenntnisrestriktion bestimmt (AA 21,142): »Gott ist eine bloße Vernunftidee, aber von der größten inneren und äußeren praktischen Realität.« 14
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Das Postulat der realen Möglichkeit des höchsten abgeleiteten Gutes, der von Kant moralisch-praktisch aufgefaßten Leibnizschen besten Welt, enthält in einem das »Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes« (KpV A 226). Die Realisierung des höchsten Gutes, das auf adäquater Zusammenstimmung von Glückswürdigkeit und Glück beruht, findet nur unter der Bedingung von Gottes Daseins statt. Die Deduktion der subjektiv-praktischen Realität des Begriffs des höchsten Gutes lautet sonach:16 Weil es mit unsrer Pflicht unzertrennlich verknüpft ist, das höchste abgeleitete Gut zu intendieren, ist es für Kant moralisch notwendig, Gottes Dasein anzunehmen.17 Genauer: In einem intellektuellen Akt gilt es, Gott als Annahme der theoretischen Vernunft zu bejahen, und im Sinne des Vernunftbedürfnisses in praktischer Absicht gilt es, das Dasein Gottes anzuerkennen. Dieses praktische Anerkennen, daß Gott ist, ist laut Kant mit Anklang an Platonische und christliche Pistis »Glaube, und zwar reiner Vernunftglaube« (KpV A 226 f.). Das ›und zwar‹ zeigt die Differenz zum christlichen Glaubensverständnis, da für Kant in Lessings Geiste Vernunft, nicht Offenbarung, die Quelle ist, woraus dieser Glaube entspringt. Kant geht es um ein freies Fürwahrhalten, um die Annahme eines theoretischen Sachverhalts aus rein praktischen Gründen. Reine Vernunft, die ihr spekulatives Erkennen gezügelt und sich im Primat ihrer praktischen Dimension zugleich einen Alleingang zugebilligt hat, muß darauf insistieren, daß unser Erkennen zwar durch praktische Vernunft in Richtung auf einen Gotteserweis »wirklich erweitert« wird, derart, daß, Man kann hierin Kants moraltheologisch-praktische Umdeutung von Leibniz’ Vorstellung einer Harmonie von Reich der Natur und Reich der Gnaden sehen. 17 Moraltheologisch wird hier nicht mehr, wie noch in der Kritik der reinen Vernunft, Gott als höchstes Gut und eine erhoffte andere Welt als erforderliche Triebfeder sittlichen Tuns angenommen: Wir sollen durch Befolgung des Sittengesetzes das höchste Gut als Harmonie von Sittlichkeit und Glückseligkeit anstreben, wozu wir aber nur motiviert sind, insofern uns »Verheißungen und Drohungen« eines höchsten Wesens antreiben (KrV B 839 ff.). Gemäß der Kritik der praktischen Vernunft bedarf es aber sehr wohl noch dieser metaphysischen Dimension zum Zwecke einer Vervollständigung der moralischen Prinzipienlehre: Es besteht eine »nothwendige Verbindung« zwischen sittlichem Bewußtsein und einer nicht ins Leere gehenden »Erwartung« einer der erworbenen Moralität adäquaten Glückseligkeit (KpV A 214). – Zur argumentativen Entwicklung des praktischen Gottesbeweises aus dem Problemkreis des höchsten Gutes vgl. Klaus und Edith Düsing: Negative und positive Theologie bei Kant. Kritik des ontologischen Gottesbeweises und Gottespostulat. 16
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»was für die speculative [Erkenntnis] transscendent war, in der praktischen immanent« ist, daß diese Erweiterung aber in bloß praktischer Absicht gültig ist: Denn wir erkennen dadurch weder das Wesen unserer Seele noch die intelligible Welt noch das höchste Wesen, nach dem, was sie an sich selbst sind, sondern haben nur die Begriffe von ihnen »im praktischen Begriffe des höchsten Guts vereinigt« (KpV A 240). In allen drei Kritiken findet sich das neuplatonische Motiv negativer Theologie wieder, nämlich das Wort vom unfaßbaren verborgenen Gott. In der ersten Kritik betont Kant den »wahre[n] Abgrund«, den Gott, das allerrealste Wesen, für die menschliche Vernunft in ihrem Unvermögen, ihn zu fassen, bedeutet (KrV B 640 f.).18 In der zweiten Kritik hebt Kant die schlechthin unaufhebbare Unergründlichkeit der Ideen von Gott und der Seele für den menschlichen Verstand hervor (vgl. KpV A 240 f.). Und in der dritten Kritik gilt ihm Gott als nicht nur nicht erkennbar, sondern als nicht einmal aussagbar (vgl. KU B 339 ff.). Kant spricht eindrücklich, ja geheimnisvoll, mit Bezug auf die als unsterblich gedachte Seele und auf das postulierte Dasein Gottes von den »sonst gänzlich für uns verborgenen Wesen« (KU B 466). Das ›sonst‹ hebt hier ab auf die verzweifeln müssende Spekulation, die sich nämlich immer mit dem Deus absconditus und mit dem homo absconditus oder homo abyssus begnügen muß, »Die unbedingte Nothwendigkeit [...] als letzten Träger aller Dinge« anzunehmen, wird von Kant als »der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft« bezeichnet, der ängstigt und im Gemüt einen »schwindlichten Eindruck« hervorruft (KrV B 641). Die sich selbst prüfende spekulative Vernunft bzw. der Erkenntnis suchende Verstand kann sich aber auch nicht über diesem seinem eingestandenen »Unvermögen beruhigen«; der immerhin wahrgenommene Abyssus beunruhigt ihn nachhaltig. Hier ist offensichtlich ontotheologisch mehr angesprochen als das transzendentale Ideal, nämlich der religiös erhabene Gott, der die Seele mit einem numinosum und tremendum affiziert. Welche rein philosophische Bedeutung ein solcher verborgener Gott, der im Denken maximal berührt, aber weder erkannt noch adäquat gedacht werden kann, in einer ethisch fundierten Religionsphilosophie erhalten kann, wird von Kant hier noch nicht bedacht und erörtert. – Vieles bleibt unerforschlich, schließt Kant an sein Wort von Gott als Abgrund an (KrV B 640f): Naturkräfte, das »transscendentale Object« als Grund der Erscheinungen, womit hier generell das Ding an sich gemeint ist, der Grund der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit, nämlich warum wir räumlich-zeitlich anschauen. Nicht unerforschlich – nach der KU doch – aber ist das Vernunftideal als vollendete synthetische Einheit alles Realen; denn dies ist in seiner Notwendigkeit und in seinem Sinn als transzendentales Ideal, dem für sich keine Existenz zukommt, der Vernunft rein immanent, wie man in Kants Entwicklung des transzendentalen Ideals vom Einzig möglichen Beweisgrund an zeigen kann. 18
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da sie sich nach Kants Vernunftkritik weder an eine Seelenlehre wagen darf als Pneumatologie noch an eine Theologie als Theosophie (KU B 440.443). Ein Unterschied hinsichtlich der Unergründlichkeit von Seele und Gott wird von Kant selbst erhoben: die Seele ist, als einfache Substanz, begrifflich-metaphysisch denkbar, Gott letztlich nicht. In praktischer Absicht sind laut Kant aber notwendige Prädikate Gottes als des höchsten ursprünglichen Guts und des Garanten des höchsten abgeleiteten Guts zu entwerfen, nämlich: Er ist »der heilige Gesetzgeber (und Schöpfer) der gütige Regierer (und Erhalter) und der gerechte Richter«. Wenn diese maßgebenden Eigenschaften einer moralisch zu nennenden Bonität entworfen sind, durch die Gott ganz zu Recht Adressat religiöser Verehrung ist, fügen sich jenen die metaphysischen Vollkommenheiten: summum ens, ens originarium, perfectissimum, Allwissen, Allmacht, »von selbst [!] in der Vernunft hinzu«, d. h. diese Prädikate ergänzt Vernunft spontan als sinngerechte Wesensbestimmungen Gottes (KpV A 236 f. Anm.; vgl. 250 ff.).19 Also sind metaphysische Prädikate Gottes nur als Folgebestimmungen moralischer Prädikate legitimierbar. Festzuhalten bleibt zum ›Konkurrenz‹-Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft im Entwerfen der Realisierungsbedingungen des höchsten Gutes: Die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft erhält zwar wohl einen ›Zuwachs‹, der aber nur darin besteht, daß jene für sie sonst problematischen, bloß widerspruchsfrei denkbaren Begriffe, nunmehr assertorisch für Begriffe erklärt werden, denen »wirklich Objecte zukommen«, weil die praktische Vernunft das Dasein Gottes zur Möglichkeit ihres praktisch schlechthin notwendigen Handlungsziels, nämlich des höchsten Gutes, bedarf, und die theoretische Vernunft so berechtigt wird, sie vorauszusetzen (KpV A 242). Das Dasein Gottes wird so angenommen als Grund der Gewährung von Glück als Naturgegebenes, das der Sittlichkeit angemessen ist. Die Spekulation selbst erweitert sich dadurch nicht. Die hohe Gewichtung und besondere Gottes Intellekt und höchste Selbstgenugsamkeit als Seligkeit in sich ist für Kant die Ursache größtmöglicher Zufriedenheit in der Welt, und somit ist das summum bonum originarium »der Ursprung des summi boni derivativi« (Reflexion 6060; AA 18,440). Weiter heißt es in Reflexion 7202; AA 19,282: »Die Idee des allgemeinen Willens hypostasirt, ist das höchste selbständige Gut, das zugleich der zureichende Qvell aller Glückseeligkeit ist: das Ideal von Gott.« Nach Kant dürfen wir eine intelligible Welt »unter einem weisen Urheber und Regierer«, Leibniz’ Reich der Gnade, »als eine künftige« hoffen (KrV B 839 f.). Kant zeichnet in das ›höchste Gut‹ Leibniz’ beste Welt ein, die er praktisch als Aufgabe und postulatorisch als Hoffnung deutet. 19
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Aufwertung der praktischen Vernunft läßt sich an dem folgenden ›nur‹ der Hypothesenbildung ablesen. Reine spekulative Vernunft führt durch ihr Bedürfnis zur Selbstvervollständigung nur auf Hypothesen, reine praktische Vernunft aber auf Postulate (vgl. KpV A 256). Dieses Bedürfen erläutert Kant, um die Differenz zu sinnlicher Neigung klarzulegen, als Vernunftbedürfnis, das aus einem »objectiven Bestimmungsgrunde« des Willens entspringt, der dem Sittengesetz verpflichtet ist; zur Pflicht gehört, das höchste Gut nach unseren Kräften wirklich zu machen (KpV A 259 f. Anm.). Inwiefern ist ein solches Postulat von höherem Gewicht als eine erlaubte Hypothese? Es ist ein »Bedürfnis in schlechterdings nothwendiger Absicht« von der Art, daß der Rechtschaffene, der dem Sittengesetz zu folgen sucht, in einem transzendental-ethischen Voluntarismus20 mit Nachdruck ausrufen möchte und darf (KpV A 258): »Ich will, daß ein Gott [...] sei« und ich will, daß »meine Dauer endlos sei«!
c) Kants Preisschrift: Selbstläuterung der Vernunft als Metaphysik und freies Anerkennen Gottes Kant geht es um die vollständige Bestimmung des intentionalen Gegenstandes eines für sich schon als sittlich gegründeten Willens, den Inbegriff der moralisch guten Zwecke. Die Aussage, Gott müsse existieren als Bedingung des Ideals einer Weltvollkommenheit, ist keine quantitative WahrscheinDer religiöse Dezisionismus des späten Schelling knüpft wohl atmosphärisch an das Kantische Gott setzende Bewußtsein an. Für Schelling wird Inhalt eines grundlegenden Wollens, daß der Vernunft ein unvordenkliches Daßsein vorausgesetzt werde. Schelling befindet über den nicht streng beweisbaren, wiewohl lebendigen Gott: »Ich will das, was über dem Sein ist, was nicht das bloß Seiende ist, sondern mehr als dieses, der Herr des Seins« und sein Hüter! Vgl. Schelling: Sämtliche Werke 13,93; vgl. 11,564 ff.,569. Das Verlangen, Gott nicht bloß im Denken oder als Idee zu ›haben‹, entsteht dem Ich praktisch. Mit solchem Wollen beginnt die positive Philosophie, die offen steht für die rational nicht mehr begründbare Vorgegebenheit und Wahrheit der Offenbarung Gottes, die im christlichen Glauben verstanden und gedeutet wird. Im Überstieg zu dem unvordenklichen Daßsein liegt voluntativ und intellektuell der Übergang von der negativen zur positiven Philosophie, die Grundlage ist für ein vernünftiges Vernehmen der geschichtlichen Tat der Offenbarung des einen und einzigen Gottes in Christus. Vgl. Tilliette: Schelling. Band 2, 27–66, 297–345; Klaus Düsing: Vernunfteinheit und unvordenkliches Daßsein. 20
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lichkeitsaussage, sondern Überschritt in eine andere Art und Weise des Fürwahrhaltens der Vernunft, nämlich in den Glauben als Bejahen eines theoretischen Satzes durch praktische Vernunft. Das Geglaubte betrifft den Endzweck unseres Handelns, das ist die spätere Zusammenstimmung all unserer Bestrebungen, deren letztgültige moralisch-teleologische Verknüpfung zum höchsten Gut,– ein Effekt, den wir uns nicht anders als durch Voraussetzung der Existenz Gottes möglich denken können. Solcher Glaube, der Gott als seiend annimmt, ist kein einfaches rezeptives Hinnehmen der Daß- und Wasbestimmtheit von Etwas in der Weise der Noesis des antiken Nous, der Ideen als seiende, vorfindlich gegebene schaut und aufnimmt;21 Vernunftglaube heißt vielmehr: Durch »freyes Annehmen« und Für-wahr-Halten der Postulate verleihen wir den Vernunftideen: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit in praktischer Qualität freiwillig ihre praktisch objektive Realität. Das ›Credo‹ des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft umfaßt drei Artikel: »Ich In der Preisschrift (FM A 109 ff.,133.148 f. = AA 20,295 ff.,305.310) und im späten Opus Postumum betont Kant das Selbsthervorbringen von Ideen in praktischer Absicht, worin ein Fichte nahes idealistisch-schöpferisches Moment liegt. Zum Zwecke einer Erfüllung unserer praktischen Bestimmung stellen wir Nachforschungen über Dinge an, »die vielleicht außer unsrer Idee« – hier nähert sich Kant kühn der Projektionshypothese eines Protagoras und weist auf Feuerbach voraus –, »gar nicht existieren«, und deren ›Natur‹, also deren wesentliche Eigenschaften, »wir uns [...] selbst machen«. Kants Nachdruck liegt aber nicht auf dem womöglich illusionären Charakter solcher selbst hervorgebrachten Wesensbestimmungen und der Realität Gottes, sondern auf der »völligen Verzichtung« auf den Anspruch des theoretischen Erkenntnisurteils, dem in der Gottesfrage eine andere »Modalität unsers Fürwahrhaltens« entspricht; dieser Erkenntnisverzicht aber ist kein Agnostizismus, soll doch die sachlich nötige Selbstbescheidung in der Gotteserkenntnis gerade den Skeptiker zum Verstummen bringen (FM A 112 = AA 20,297). – Zur Problematik einer durch die Vernunft hervorgebrachten Gottesidee v.a. in OP vgl. Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie, 224–227.243. 245 f.,249.256 ff. Eine Antwort Kants auf die Frage, ob der Gottesbegriff nur eine Fiktion im Sinne von Feuerbach oder Nietzsche sei, liegt in Kants OP; AA 21,63: »Der Begriff (Gedanke) von einem solchen Wesen ist nicht ein Ideal (gedichtet) sondern eine nothwendig aus der Vernunft im hochsten Standpunct der Transsc. Phil. hervorgehend. Er ist keine Dichtung (willkührlich gemachter Begriff conceptus factitius), sondern ein der Vernunft nothwendig gegebener (datus)«, – zuletzt eine idea-innata-Abschattung. Wimmer erklärt ganz plausibel zu diesem Wort Kants, es sei eine »Scheinalternative«, wollte man das ontologisch-objektive Sein Gottes und die moralisch-praktische subjektive Notwendigkeit, den Gottesbegriff zu entwerfen, gegeneinander ausspielen; das praktische Entwerfen der Gottesidee kat6 a3njrwpon (FM A 135 f. = AA 20,306) ist eben kein Willkürakt. 21
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glaube an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck«; ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, zu dem höchsten Gut, so weit solches im Bereich meiner Einflußsphäre liegt, zusammenzustimmen, – also glaube ich an die Realität meiner Freiheit; ich glaube an ein künftiges ewiges Leben als der Bedingung einer »immerwährenden Annäherung« an das höchste Gut (FM A 115 = AA 20,297 f.; vgl. AA 20,342).22 Der Glaube an die Postulate der reinen Vernunft enthält als Moment ein in Denkfreiheit ›freiwillig‹ Denken eines Gegenstandes: Gott, der nicht in der Welt ist, und zwar ist dies ein Denken durch das zur Moralität hin ›geneigte Gemüth‹ (KU B 417 f.), bzw. durch ein gewährtes ›freies Annehmen‹. Solches freie Annehmen hat für sich schon einen ›moralischen Wert‹ und es wirkt zurück auf die Maximenbildung im Ich, das sonach die sittliche Orientierung des Ich bestärkt (FM A 115 f. = AA 20,298 f.). Dogmatismus, Skeptizismus, Kritizismus sind nach der Preisschrift historisch und systematisch zu durchlaufende Stadien der Metaphysik,23 denen Kant sein eigenes Werk als ganzes zuordnet. Einem ›theoretisch-dogmatischen Fortgange‹ der Metaphysik folgt ihr ›skeptischer Stillstand‹, und diesen beiden Epochen die ›praktisch-dogmatische Vollendung‹ des Weges der Metaphysik, die Kant selbst einzulösen beabsichtigt. Damit der Überschritt vom sinnlichen Bereich in den des Übersinnlichen kein ›gefährlicher Sprung‹ sei, etwa so wie Jacobis salto mortale in den Glauben an einen persönlichen Gott, wacht eine ›Zweifellehre‹ als sinnvoll ›hemmende Bedenklichkeit‹ im Grenzgebiet zwischen sinnlicher und intelligibler Welt derart, daß phasenweise ein unbegrenztes Vertrauen der Vernunft in sich selbst abgelöst werden kann von ›grenzenlosem Mißtrauen‹ (FM A 21 = AA 20,272 f., 264). Der Skeptizismus dient so als Vorbereitung und als Reinigung der Metaphysik; vor dem Überschritt zum Übersinnlichen gilt es an der Grenze eine skeptische Disziplin walten zu lassen, nämlich die Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft. Der für Kant berechtigte wesentliche Gehalt solcher metaphysikkritischen Skepsis macht seine transzendentale Dialektik als eine Schlußlogik des Scheins aus. »Das ›Credo‹ in den drey Artikeln der reinen praktischen Vernunft« findet sich in der Preisschrift (FM 115 = AA 20,298 f.). Die praktisch gültige Restitution der ontologisch-metaphysischen Wahrheit, die in theoretisch-dogmatischer Hinsicht verloren ging, ist trefflich gefaßt in dem öfter hervorgehobenen ›freyen‹ Fürwahrhalten und Annehmen (ebd.). 23 Vgl. FM A 66 = AA 20,264.272 f.,281; vgl. KrV B 789. 22
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Die menschliche Vernunft hat sich in ihrem erfahrungsfreien Gebrauche, als reine Spekulation, stets neu mit sich selbst – von Kant argumentativ verdichtet und transzendental-philosophisch aufgelöst – in den Antinomien »entzweiet« (KrV A XII) und dabei ihre Ergebnisse selbst »zernichtet« (FM A 19 = AA 20,263). Denn in der Epoche vor Erscheinen der Kantischen Vernunftkritik vernichteten »Satz und Gegensatz sich unaufhörlich einander wechselweise« und stürzten die Vernunft »in den hoffnungslosesten Scepticism«, der für die Metaphysik ›traurig‹ ausfallen mußte (FM A 86 = AA 20, 287 f.). Deshalb ergeht an die Metaphysik Kants Aufforderung, die zugleich seinen ureigenen Kritizismus ausmacht, das schwierigste von neuem zu vollbringen, nämlich die Selbsterkenntnis der Vernunft (KrV B 773). Solches Sicherkennen der Vernunft ist nun als der Lösungsschlüssel zur Überwindung ihrer selbst hervorgebrachten Widersprüche einzusetzen; spekulative Vernunft ist in sich selbst dialektisch (KrV B XX f.). Solche Befassung der Vernunft mit sich selbst in ihrem reinen Denken bezeichnet Kant als den »Kern und das Eigenthümliche der Metaphysik« (Prol A 125 = AA 4,327). Ziel ist eine praktisch-dogmatische bzw. lehrhafte ›Doctrin‹, also eine positive metaphysische Konzeption (FM A 99 = AA 20,292): »Auf das Übersinnliche in der Welt (die geistige Natur der Seele) und das außer der Welt (Gott), also Unsterblichkeit und Theologie, ist der Endzweck gerichtet.« Schon im Einzig möglichen Beweisgrund erklärt Kant im Schlußsatz (BDG A 205 = AA 2,163): »Es ist durchaus nöthig, daß man sich vom Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht eben so nöthig« – und nach der ersten Kritik dann auch gar nicht möglich –, daß man es im Sinne eines strengen logisch-ontologischen Beweises, »demonstrire«. Thema der Preisschrift und der Kritik der Urtheilskraft ist: Es bedarf eines praktisch-dogmatischen Prinzips, um den Überschritt zu vollbringen zum Ideal der »Weltvollkommenheit«, zur Annahme einer »moralischteleologische[n] Verknüpfung« (FM A 140 = AA 20,306), die auf den Endzweck der Schöpfung, das ist das höchste abgeleitete Gut, hinausführt. Gottes Dasein – und des näheren, so hebt Kant in der Kritik der Urtheilskraft sowohl naturteleologisch als auch moraltheologisch markant hervor, die als sittlich gut postulierte Verfaßtheit des Urgrundes der Natur und des erhoffbaren Vollenders der Schöpfung – ist die der Vernunft gemäße Idee, die der Mensch sich selbst macht, um seine eigene moralische Praxis zu vollenden. Solche Theologie ist keine Erkenntnis des Wesens Gottes, wohl aber Einsicht in den »unerforschlichen Bestimmungsgrund unsers Willens«, den wir in uns selbst
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zur Erlangung des erhofften Endzwecks für unzulänglich finden und ihn daher, religionsphilosophisch, »in einem Anderen«, nämlich dem höchsten Wesen über uns, annehmen müssen (FM A 135 = AA 20,298 f.,305 ff.).
d) Über den moralischen Urgrund der Schöpfung, die keine Wüste sein darf, in Kants »Kritik der Urtheilskraft« In der Kritik der reinen Vernunft ist der Gottesgedanke als regulatives Prinzip, als bloß reine Vernunftidee Grenzbegriff des Erkennens. In der Kritik der praktischen Vernunft vergewissert Kant sich – mit Hilfe der Ur-Hypothese einer Übereinstimmung der Vernunft mit ihr selbst (Wundt) – des handlungsrelevanten Daseins Gottes. In der Kritik der Urtheilskraft wird die Beantwortung der Frage nach einem Urgrund der Zwecke in der Natur ergänzt um eine Gotteslehre, und zwar durch den praktischen Vernunftgebrauch (KU B 404).24 Kant unternimmt, in Abwehr ebenso gegen geisterseherische Träumerei, Schwärmerei, spekulativen Frevel, der phantastische ›Ungeheuer‹ erzeugt (KpV A 217 ff.) oder nur ›Spinnen‹ und ›Waldgeister‹ (FM A 150 = AA 20,310), wie gegen die skeptische Leugnung einer intelligiblen Welt: ›Materialism, Fatalism, Atheism‹, ›freigeisterischer Unglaube‹ (KrV B XXXIV), und schließlich gegen eine trostlos scheinende Tendenz seines eignen falsch verstandenen Kritizismus, einen Übergang zu bahnen vom Reich der Natur in das Reich der Zwecke, in das »corpus mysticum der vernünftigen Wesen« (KrV B 836) bzw. in die von Kant einmal wie nach ihm von Fichte so genannte ›Geisterwelt‹, deren Oberhaupt Gott ist.25 Das höchste Gut, die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, die Kant als wohlproportionierte Harmonie von Sittlichkeit und Glückseligkeit bestimmt, hat zu seiner ermöglichenden Bedingung die Realität der Postulate praktischer Vernunft: Unsterblichkeit individueller Handlungsträger, Gott als moralischen Welturheber, allweisen Herzenskündiger, gerechten Richter,26 existierend als ens extramundanum, und Freiheit der Einzelpersonen als Mitglieder im Reich der Zwecke. Als Vgl. Wundt: Kant als Metaphysiker, 316 ff.,372.387 f.,414 ff.,432 ff. Vgl. Metaphysik Pölitz; AA 28.1,296 ff.; zum ›Ganzen der Geisterwelt‹ als Gemeinschaft (TG A 45 = AA 2, 335 f.) 26 Weil die Harmonie von Sittlichkeit und Glückseligkeit proportional sein soll, muß der sie ermöglichende moralische Welturheber als gerecht gedacht werden. 24 25
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Postulat definiert Kant einen »theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz [...], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt« (KpV A 220).27 Postulate sind also theoretische Sätze, die in ihrer Geltung nur auf Grund der praktischen Vernunft einleuchten. Der Vernunftglaube ist das Fürwahrhalten eines theoretischen Satzes, z. B. Es ist ein Gott, durch praktische Vernunft, wobei Kant diesen Glauben nicht passiv, geschweige denn doktrinal, sondern aktiv als »Annehmung« einer Idee des daseienden Gottes und eines Ideals von zukünftig möglicher Weltvollkommenheit bestimmt, die der Mensch nach moralischen Prinzipien – bloß dem Anscheine nach, Feuerbachisch, sein innig Ersehntes aus dem Seelengrund heraus projizierend, – »sich selbst macht, gleich als ob er sie von einem gegebenen Gegenstande hergenommen« hätte (FM A 135 = AA 20,305). In der Kritik der Urtheilskraft ist Gott ein Begriff der reflektierenden Urteilskraft, in Kraft deren er zwar stimmig gedacht, nicht aber als seiend erkannt werden kann. Und was seine Wesensprädikate sind, also als was er an sich selbst bestimmt ist, kann nicht ausgesagt werden. Dies entspricht der erkenntnistheoretischen negativen Theologie der Kritik der reinen Vernunft. Der hier aufgegriffene moralische Gottesbeweis verleiht der PhysikotheoDas Verhältnis von Postulaten- und Prinzipienlehre der Ethik bestimmt Kant in der ersten Kritik noch eng: Ohne einen Gott und eine für uns jetzt noch nicht sichtbare, aber gehoffte Welt »sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung« (KrV B 841). Aber auch wenn diese Triebfeder-Funktion in der zweiten Kritik entfällt, bleibt die Moraltheologie komplementärer Teil einer vollständigen Ausführung der Ethik. Freiheit ist ratio essendi des Bewußtseins des Sittengesetzes; die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele sind nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes selber, sondern bloß notwendige Objekte eines durch dieses Gesetz bestimmbaren endlichen Willens, der hoffen dürfen muß, daß seine sittlichen Handlungen in der Welt nicht ins Leere gehen oder womöglich – wie bei Sisyphus – a priori zum Scheitern verurteilt sind; d. h. der sittliche Wille darf sich nicht einem absurdum pragmaticum verfallen sehen, insofern dem Augenschein nach allzu oft der Gerechte Unglück erleidet und Nichtswürdigen allerhand Glück zuteil wird, vgl. Metaphysik Pölitz; AA 28.1,318 f. Auf Grund der praktischen Realität des höchsten Gutes läßt sich denken und hoffen, daß dem sittlichen Willen und seinem ganzen tätigen Einsatz ein proportionales Gelingen und Gewürdigtwerden beschieden sein wird, das nicht bloß zufällig möglich oder unmöglich ist. – Zum Problem eines erhoffbaren Glücks auch im Angesicht der »Gebrechlichkeit« des eigenen »Persöhnlichen werths« (Reflexion 6872; AA 19,187); vgl. Eine Vorlesung Kants über Ethik, 157–160. 27
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logie rückwirkend eine neue Bedeutung.28 Die konjunktivische Redeweise einer Philosophie des ›Als ob‹ gewinnt vor dem Hintergrund des moralischen Gottesbeweises überraschend einen affirmativen Sinn: Wir betrachten die Natur so, als ob nichts in ihr ›umsonst‹ da sei, kann in kraft des moralischen Gottesbeweises positiv bejaht werden, ohne mit dieser Affirmation eine Erkenntnis des Seins der Natur zu beanspruchen. Gott ist für die reflektierende Urteilskraft29 gemäß Begriffen praktischer Vernunft bestimmbar (KU B 433). Neu ist in der Kritik der Urtheilskraft die Einordnung des Daseins des moralischen Subjekts in die Perspektive einer Teleologie der Natur, nämlich als Endzweck dieser Teleologie. Daß der Mensch Endzweck sei, besagt, daß er ein Zweck ist, der keines anderen als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf und dessen uneingeschränkter Wert unbedingt und schlechthin gilt (KU B 396). Und der Endzweck betrifft etwas, das der Mensch als Subjekt der Moralität ist. Mit dem Terminus ›Endzweck‹ wird von neuem das Wesen des Menschen als Person gefaßt, die zu der intelligiblen oder moralischen Welt als einer Gemeinschaft von Personen gehört, die wiederum als unter einem höchsten Gesetzgeber stehend gedacht wird. Durch die Anlage des Menschen, sich über die Leitung durch die Triebimpulse in ihm erheben zu können, gibt ihm die – als Leitfaden der Beurteilung angenommene – Teleologie menschlicher Natur eine Vorbereitung zur Freiheit als Fähigkeit, selbst erdachte und sich vorgesetzte Zwecke eigenaktiv zu vollbringen.30 Der letzte Zweck,31 den der Mensch im Rahmen seines NaZur Rückwendung der moralischen und moraltheologischen Betrachtung auf die Teleologie und Schönheit der Natur vgl. den Brief Hegels an Schelling von 1795 (Briefe 1,17): »Wenn ich Zeit hätte, so würde ich suchen, es näher zu bestimmen, wieweit wir – nach Befestigung des moralischen Glaubens die legitimierte Idee von Gott jetzt rückwärts brauchen, z. B. in Erklärung der Zweckbeziehung u.s.w., sie von der Ethikotheologie her jetzt zur Physikotheologie mitnehmen [...] dürften.« Vgl. dazu Klaus Düsing: Die Rezeption der Kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels, 73 ff. 29 Gott ist nur für die reflektierende Urteilskraft, nicht für die bestimmend-subsumierende; er ist ein diskursiv entworfener Vorstellungsinhalt, der weder Wesen noch Existenz des entsprechenden Seienden treffen muß. 30 Klaus Düsing: Die Teleologie in Kants Weltbegriff, 102 ff., 206–237. 31 Die Reihe der einander untergeordneten natürlichen Zwecke sind gemäß KU B 390 ff.: Der letzte Zweck der Natur ist die Kultur; der Endzweck ist: 1) das Dasein moralischer Wesen, 2) das höchste Gut, und zwar zum einen persönlich verstanden, zum andern intersubjektiv-allgemein, auf die Welt als ganze abzielend. 28
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turlebens hervorbringen kann, ist die Kultur und cultura animi; das Bestehen einer Kultur wiederum bereitet den Menschen auf den eigentlichen Endzweck seines Daseins vor, der selbst aber außerhalb der Natur liegt: die Moralität. Die Vorbereitung der Person zur Moralität gelingt durch sukzessive Befreiung des eigenen Willens vom »Despotism der Begierden« (KU B 392). Moralität zielt auf innere Vervollkommnung der Denkungsart und der Maximenbildung für Handlungen und auf die Gründung des sittlichen Charakters. Das Nichtvergönntsein anhaltenden Wohlbefindens ist wehetuender Stachel zur Gewinnung eines die Sinnlichkeit transzendierenden Maßstabs. In sittlicher Einsicht wird der naturhaft egoistische Lebensvollzug hinterfragt (IaG A392 f. = AA 8,19 f.), und die Perspektive hedonistischen Glücksstrebens in den Willen zur moralischen Schätzbarkeit der eigenen Person aufgehoben. Der zunächst naturgemäß eudaimonistisch empfindende, strebende Mensch konstituiert sich dann als sittliche Persönlichkeit. In teleologischer Betrachtung erscheint der Mensch als der höchste unter allen Naturzwecken. Denn er allein vermag sich bewußt einen Begriff von Zwecken zu bilden, etwas als zweckmäßig einzusehen und sogar selbst ein gestuftes System von Zwecken minderer und höherer Bedeutung aus sich hervorzubringen. So ist der Mensch als Naturwesen zwar ein Glied einer unabsehbaren ›Kette‹ von Mitteln und Zwecken in der Welt (KU B 399); doch kulminiert in ihm als intelligiblem Charakter die endlose, von der Natur her unabschließbare Zweck-Mittel-Verkettung, da der Zweck als solcher im Menschen ein bewußter und gewollter ist und zudem der Mensch als Subjekt der Moralität schon in seinem bloßen Dasein unbedingter Zweck an ihm selbst ist. Die Kette von Mitteln und Zwecken, die eine unendliche, unabschließbare und so zuletzt sinnlose Reihe darstellen könnte, wo eines für das andere und dieses für das nächste, nichts aber an ihm selbst zweckmäßig wäre, findet also einen Abschluß im Dasein des Menschen, der selbst nicht um eines anderen willen, sondern um seiner selbst willen existiert (vgl. KU B 388–395). Ohne den Menschen – mit diesem Argument setzt die Kantische Ethikotheologie (vgl. KU B 396–399 und 419–418) ein – würde »die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein«; das Dasein in der Welt gewinnt seinen Wert nicht durch theoretische Erkenntnis, damit irgend jemand da sei, der die Welt betrachten könne, erst recht nicht durch einen optimalen Lustgewinn; vielmehr gewinnt der Mensch ›absoluten Werth‹ durch etwas, das jede Person allein sich selbst zu verleihen vermag: die Güte seiner Willensrichtung; die Qualität seines Wollens macht seinen ganz ›per-
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sönlichen Werth‹ aus, worin die brennende Frage, »warum die Welt und der Mensch selbst da ist«, positiv beantwortbar wird (KU B 411 f., 472). Die teleologische Reflexion, die nach einem letzten Worumwillen des Daseins von Naturwesen fragt, führt also über die Naturbestimmtheit selbst hinaus, nämlich zum Menschen als dem Endzweck, der die Natur überschreitet, und zwar auf eine zweifache Weise. Zum einen erkennt der Mensch, er selbst sei eigentlich der Zweck der Natur, der über die Natur hinausführt, indem er Zwecke nicht nur des Genießens und Erkennens setzt, sondern unbedingte Zwecke, die nicht bloß gut um eines anderen willen sind, sondern die schlechthin Wert haben. Zum anderen ist der sich und andere seinesgleichen als Selbstzweck hochachtende Mensch das Gott setzende und diesen Gott sowohl als moralischen Urgesetzgeber sowie als moraltheologisch gedachten Schöpfer der Natur anerkennende Bewußtsein. So gilt der Mensch in seinem übersinnlichen Freiheitsvermögen, als intelligibler Charakter, als der Endzweck oder als dasjenige, was als letzter Zweck der Schöpfung anzuerkennen ist (KU B 398 f., 412 f.). Die Physikotheologie kann uns nach Kant nicht den Endzweck der Schöpfung eröffnen, da theoretische Naturforschung nie von der empirischen Einsicht in viel Vollkommenheit auch nur zu einem Begriff höchster Weisheit als deren Ursache vorzudringen vermag, die Gottes würdig sein könnte. Überdies läßt sich unabweislich, – was sich zuletzt auf die Theodizee-Problematik zuspitzt, – außer vielem höchst Zweckmäßigen auch durchaus Zweckwidriges in der Welt antreffen. Physikotheologie als physische Teleologie vermag nicht zuletzt wegen der im Hintergrund stehenden Theodizeefrage nur eine vorläufige Propädeutik zur Theologie abgeben, die zu ihrer Fundierung eines unanfechtbar und besser gegründeten anderweitigen Prinzips außerhalb der Natur bedarf. Es ist vergebliche Mühe, – wenn nicht gar, wie das Beispiel Nietzsches zeigt, gefahrenträchtig, – auf der Grundlage empirischer Daten die mangelhafte Vorstellung einer physischen Teleologie vom »Urgrunde der Zwecke in der Natur, bis zum Begriffe einer Gottheit«, oder bis hin zur Realität des existierenden Gottes »ergänzen« zu wollen, und zudem eines Gottes, der nicht nur allweise, sondern vor allem vollkommen gut und gerecht ist. Die in sich berechtigte Idee eines höchstvollkommenen Wesens, das der Theodizeefrage standhält, beruht für Kant auf einem vom theoretisch-empirischen ganz verschiedenen, nämlich auf dem praktischen Vernunftgebrauch.32 32
KU B 401.404 f.,408.410, vgl. 475 f. – Zur Theodizeefrage vgl. IaG und MpVT.
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Einer Explikation des Begriffs Gottes geht in der Kritik der Urtheilskraft Kants Darlegung des moralischen Existenzerweises voran. Des näheren bereitet Kants Ethikotheologie (KU B 410– 418) den moralischen Beweis von Gottes Dasein (KU B 418– 429) vor, indem sie für das Postulierenkönnen des existierenden Gottes – wiewohl nur aus unserer moralischen, an der Möglichkeit des höchsten Gutes orientierten Perspektive – Gottes notwendig anzunehmende Eigenschaften expliziert, die Kant in ihrem Bedeutungsgehalt auch schon in der zweiten Kritik entfaltet. Das Urwesen, von dem angenommen wird, daß es ein teleologisch geordnetes Weltganze verursacht hat, ist nicht bloß als Intelligenz und gesetzgebend für die Natur anzunehmen, sondern ebenso gesetzgebend als ›Oberhaupt‹ in einem moralischen Reich von Personen, die existierende Selbstzwecke sind. Dieses Urwesen müssen wir uns – zur Ermöglichung des höchsten abgeleiteten Gutes – denken als allwissend das »Innerste der Gesinnungen« ergründend, als allmächtig, allgütig, allweise und gerecht. Solche vor allem moralische Prädikationen Gottes dienen vorzüglich und allein der in sich stimmigen Möglichkeit des höchsten Gutes und sind von dorther motiviert. Die transzendentalen Eigenschaften ›Ewigkeit‹ und ›Allgegenwart‹ sind den moralischen als deren Ermöglichungsbedingungen anhängend. Durch dieses bloße Anhängen wahrt Kant seine theoretisch negative Theologie. »Auf solche Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel der Physischen, und gründet allererst eine Theologie.« Die erstere könnte für sich allein nur auf eine ›Dämonologie‹ hinführen, die keines hinreichend bestimmten Gottesbegriffs fähig ist und so kaum Nietzsches unmoralisch spielenden Gott ›jenseits von Gut und Böse‹ abzuwehren vermöchte (KU B 414 f.). Denn alle Zwecke in der Natur können »nicht, was schlechthin gut ist, enthalten« (KU B 408) und insofern keinen moralisch guten Gott verbürgen. Die in der Natur anzutreffende Dysteleologie fokussiert Kant eindrücklich im menschlichen Todeserleiden, sofern es nicht im Horizont der Hoffnung auf den moralischen Welturheber steht; und zwar am Beispiel des Rechtschaffenen, der sich »festiglich überredet hält: es sei kein Gott« und kein künftiges Leben! Jener wird, unangesehen seiner Würde glücklich sein zu dürfen, »durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln [...] und des unzeitigen Todes gleich den übrigen Thieren der Erde unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesammt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zu-
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rück wirft, aus dem sie gezogen waren« (KU B 428 f.). Kant hat hier wohl die französischen Materialisten im Visier. Sich nicht »auf den Weg der Zwecke« leiten zu lassen, und das heißt für Kant, nicht im sich ergänzenden Zusammenwirken von teleologischer Urteilskraft und moralischem Gottespostulat zum Glauben an den guten Schöpfergott zu gelangen, bedeutet insonderheit für den Menschen besten Wollens eine latent drohende Gefahr in eben dem Nihilismus der Sinnarmut zu versinken, den Kant an singulären Stellen divinatorisch als Problem vorweggenommen hat33 und den Nietzsche als ›Tod Gottes‹ im Gefolge des darwinistisch-biologistischen Zeitalters bestimmt. Gleichsam wie eine Replik auf Nietzsches bitter polemische Anti-Theodizee34 liest sich Kants markantes Wort: Der moralische Gottesbeweis, der das Dasein Gottes in praktischer Rücksicht der Vernunft beweist, würde selbst dann »noch immer in seiner Kraft bleiben, wenn wir in der Welt gar keinen, oder nur zweideutigen Stoff zur physischen Teleologie anträfen« (KU B 472 ff.). Mit der dritten Kritik rückt die Ethikotheologie ins Zentrum der philosophischen Erörterung von Gott, Welt und Seele, insofern nur unter ihrem Primat den pysikotheologischen Erwägungen nach verbesserter Methode wahre Bedeutung zugemessen werden kann. Der physikotheologische Gottesbeweis wird zwar, zusammen mit dem kosmologischen und ontologischen, hinfällig. Doch indem in kraft des moralischen Gotteserweises das endliche Ich sich Gottes Daseins vergewissert, geht die fiktionale Rede des ›Als ob‹, daß gemäß teleologisch reflektierter Weltbetrachtung, die Gott als höchsten Künstler eines Systems teleologisch geordneter Natur verherrlicht, »nichts in der Welt umsonst« da sei (KU B 402), und zwar für ein freies, praktisch begründetes Fürwahrhalten, in die mögliche Affirmation des göttlichen Weges der Zwecke und des Endzweckes der Schöpfung über. Die wahre Welt des Seienden, deren Sinnmitte die »wahre Unendlichkeit« ausmacht (KpV A 289), und der wahre Begriff vom Anfangsgrund und Urheber aller Dinge, so lehren alle drei Kritiken übereinstimmend, läßt sich nicht von dem mundus sensibilis, von der sichtbaren Natur aus, sondern nur vom Sittengesetz als konstituierendem Grund der intelligiblen interpersonalen Welt aus begründen. Das Sittengessetz als Gesetz schlechthin guten Wollens, wiewohl nicht in Form eines ImZu gewissen düster-pessimistischen Tönungen in Kantischen Erwägungen vgl. Heimsoeth: Studien zur Philosophiegeschichte, 290 f. 34 Vgl. die Monographie von Edith Düsing: Theologie – Darwinismus – Nihilismus. Nietzsches Denkweg. Teil III. 33
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perativs, umfaßt den heiligen göttlichen Willen oder die Art des Wollens des Oberhaupts im Reich der Zwecke. Vernünftige Beurteilung unseres eigenen Unvermögens und des Unvermögens der gesamten Natur, den höchsten allgemeinen Zweck, die Zusammenstimmung des guten Willens mit der von ihm intendierten Auswirkung auf das Weltbeste, erreichen zu können, nötigt uns dazu, »über die Welt hinaus zu gehen und zu jener Beziehung der Natur auf das Sittliche in uns« ein höchstes Prinzip zu suchen, das verständig und allvermögend ist, entsprechend der ›Nomothetik‹ unserer Freiheit, unserer moralischen ›inneren Gesetzgebung‹, eine moralische Teleologie im Weltganzen, also das höchste Weltbeste, zu erwirken (KU B 420).35 In einer solchen, allein durch den Welt-transzendenten Gott denkbaren optimalen ›Ordnung der Dinge‹ gemäß moralischen ›Ideen‹ wird die physische Teleologie – und Dysteleologie! – in der moralischen Teleologie als aufgehoben gedacht. Der Natur wird eine »nach moralischen Principien die Natur beherrschende Ursache« unterlegt (KU B 418 f.).36 Wie in der Kritik der praktischen Vernunft leitet Kant aus dem Postulat der Zusammenstimmung von Sittlichkeit als Würdigkeit, glücklich zu sein, und erhoffter Glückseligkeit die praktisch notwendige Annahme des existierenden Gottes ab (KU B 424): Wir müssen eine »moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns gemäß dem moralischen Gesetze einen Endzweck vorzusetzen; und, so weit als das letztere nothwendig ist, so weit (d. i. in demselben Grade und aus demselben Grunde) ist auch das erstere nothwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott.« Hier wird Gott zwar auch, aber nicht mehr nur zur Erwirkung von Glückseligkeit als Folge der Sittlichkeit gedacht wie in der Kritik der praktischen Vernunft. 36 Apagogisch verfährt der hier anschließende moralische Gottesbeweis. Bestünde die Welt nur aus leblosen Wesen oder aus lebenden vernunftlosen, würde das Dasein einer solchen Welt »gar keinen Wert« haben, da kein Wesen in ihr existierte, das einen »Wert« zu verstehen wüßte. Gäbe es aber Wesen mit Vernunft, die ihren und des Daseins Wert allein in ihr »Wohlbefinden«, also in ihr Verhältnis zur Natur in und außer ihnen setzten, so existierten zwar relative Zwecke in der Welt, aber kein absoluter Endzweck, weil das Dasein solcher vernünftigen Wesen »doch immer zwecklos« sein würde (KU B 422 ff.). Das Nichtkennen oder Verlieren eines unbedingten Zwecks, des Sittengesetzes, und des ihm anhängenden Hoffendürfens auf Gott als Weltvollender und eines Vertrauenkönnens auf die Annahme, ein »moralisches Wesen« sei »Urgrund der Schöpfung« (KU B 434), bedeutet für Kant offensichtlich ein der Sinnleere preisgegebenes Sein des Menschen. 35
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Dieses moralische Argument ist gemäß der negativen Theologie der rein theoretischen Vernunft kein objektiv-gültiger Beweis, der zwingend dem ›Zweifelgläubigen‹ seine Zweifel, »daß ein Gott sei«, aus der Hand schlüge, sondern eine Aufforderung an jeden, der moralisch konsequent zu denken beansprucht, er müsse das reale Dasein Gottes »unter die Maximen seiner praktischen Vernunft [...] aufnehmen«!37 Die Verwirklichung des Endzwecks, insonderheit Glückseligkeit als Folge der Sittlichkeit, allgemeiner: Weltvollkommenheit, liegt nicht in unserer Macht, muß aber geschehen können. Der Idee Gottes kommt subjektiv-praktische Realität zu, das heißt, die Wirklichkeit eines alles vermögenden Urwesens, das als die höchste sittlich- praktische Vernunft sowohl über ›Natureinsicht‹ als auch über ›moralische Weisheit‹ verfügt, ist auf den praktischen Vernunftgebrauch eingeschränkt. Theoretisch bleibt es dabei, daß nichts Bestimmtes über Wesen und Existenz Gottes aussagbar ist, also über die objektive Realität der Idee: Gott als moralischer Welturheber, ob Gott überhaupt sei und wie er beschaffen sei. Wenn wir praktisch gültig sein sollende Eigenschaften Gottes auszumachen suchen, so können wir diese nur nach der Analogie denken; eine spekulative Prädikation, die Gottes Natur zu erforschen sucht, ist in unzulässiger Weise ›überschwenglich‹ und bedient sich in der Art ihrer Vorstellung eines wenn auch verborgenen ›Anthropomorphism‹ (KU B 429, 434 ff., 445). Genauer dürfte man wohl sagen: Wenn wir Gott Gerechtigkeit, Güte, Allwissen zuschreiben, so könnte dies in objektiv-realer Verwendung wie ein unzuträglicher Anthropomorphismus aussehen; aber wir legen Gott solche Prädikate nur aus unserer Sicht der Ermöglichung des höchsten Gutes bei. Reflektiert man auf die Art, wie etwas für uns, gemäß der Beschaffenheit unserer Vermögen zu erkennen, Objekt unseres Vorstellens, – in theoretischer oder praktischer Absicht, – sein kann, so lassen sich mit Kant Sachen der »Meinung (opinabile), Thatsachen (scibile), und Glaubenssachen (mere credibile)« voneinander unterscheiden (KU B 454). Zu letzteren gehört die Vorstellung der Verwirklichung des höchsten abgeleiteten sowie die Annahme des höchsten ursprünglichen Guts. Beide sind keine möglichen Inhalte theoretischer Erkenntnis, müssen aber in Bezug auf den pflichtgemäßen Gebrauch der Vernunft als real vorgestellt und angenommen werden, wiewohl sie theoretisch überschwenglich sind. Sie sind, wie die Annahme »unserer ewigen Existenz« (KU B 444), insofern reine ›Glaubenssachen‹ oder besser ›res fidei‹, worin das 37
Vgl. KU B 425 Anm.
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von Kant gern hervorgehobene feste Zutrauen liegt. Den Begriff eines solchen Vertrauens nimmt die Vernunft frei auf von der christlichen Religion, deren Hintergrund die dialogisch-personale Dimension der für den biblischen Gott bezeugten Treue bildet. Solches Vertrauen der Vernunft, das seine Kraft atmosphärisch aus dem Christentum herleitet, zielt ab auf die von uns selbst in das Sittengesetz hineingelegte erhoffte Verheißung der Erreichbarkeit bzw. Gewährung des höchsten Endzwecks. Ein solcher Glaube wird von Kant als »beharrliche[r] Grundsatz des Gemüths« charakterisiert, und insofern eher als Habitus denn als Actus (KU B 457 f.,463 und Anm.). Einen ›dogmatischen Unglauben‹, der theoretisch in keiner Weise rechtfertigungsfähig ist, vertritt aber, wer jenen Vernunftideen kategorisch jede Realität abspricht. Nur Gegenstände der reinen Vernunft können durch ein »freies Fürwahrhalten« echte res fidei sein (KU B 464 f.), und zwar nicht der reinen spekulativen, sondern der praktischen Vernunft. Es handelt sich um Ideen, denen theoretisch keine objektive Realität zu sichern ist, die aber real sind im Hinblick auf den von uns zu bewirkenden Endzweck (das höchste abgeleitete Gut), durch den wir dessen würdig werden können, selbst, nämlich als Subjekte moralischen Tuns, Endzweck einer Schöpfung zu sein. Die erörterten Glaubensinhalte der reinen Vernunft gilt es anzunehmen, ihnen in kraft des Glaubens als freien Fürwahrhaltens Realität zu verschaffen. Die entscheidenden, ja für Kant die einzigen vernünftig legitimierbaren Inhalte der res fidei sind die Postulate des Daseins Gottes und der Seelen-Unsterblichkeit.38 Die Erkenntnisart der drei als seiend postulierten Objekte: Gott, ewige Seele und deren Freiheit ist weder Meinen noch Wissen von deren Dasein und besonderem Beschaffensein, sondern einzig deren praktisches Annehmen (KU B 458 ff.).
Zu dem Verhältnis von moralphilosophischem und christlichem Gottesbegriff sei bemerkt, daß Kant den moralischen Gottesbegriff rein vernünftig entwirft, nicht als Gott einer positiven geschichtlichen Offenbarungs-Religion, – was von Hegel dann kritisiert wird, – zugleich aber auch den christlichen Gott, typisch aufklärerisch, wie Lessing, philosophisch deutet, nämlich als moralischen Gott, dessen ›geoffenbarte‹ und ebensogut durch Vernunft legitimierbare Eigenschaften nur als analogisch geltend gedacht werden. Im übrigen vertritt Kant im großen Streit von aufklärerischen Naturalisten und traditionalen Supranaturalisten die aus seiner Vernunftkritik konsequent sich ergebende subtile Stellung: Sowenig Vernunft positiv ein Erkenntnisurteil über eine vielleicht geschehene Offenbarung zu treffen vermag, ebensowenig vermag Vernunft die prinzipielle Möglichkeit oder die beanspruchte historische Wirklichkeit solcher Offenbarung zu bestreiten. 38
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e) Kants positive Theologie der praktischen Vernunft – ohne christlichen Offenbarungsglauben? In der Frage nach dem Verhältnis von negativer und positiver Theologie bei Kant ging es darum zu klären, wie der Begriff des transzendentalen Ideals, als das für ihn der ›Gott‹ der Vernunft zu explizieren ist, und wie Kants These der ontologischen Unbegreifbarkeit Gottes zur Idee von Gott als moralischem Welturheber und Weltvollender steht. Die Cusanische Einheit und Differenz von deus absconditus und deus revelatus war Kant nicht vertraut, und es ging ihm auch nicht vorrangig, wie dereinst Pascal, um die Abgrenzung des lebendigen39 und zugleich unendlich erhabenen Gottes des Glaubens vom Gott der Philosophen, wiewohl Kants originär religiöses Interesse aus komplexesten Argumentationsgängen hervortritt. Aus dem Dargelegten sollte wohl deutlich geworden sein, daß und inwiefern durch die theoretische Unbegreiflichkeit Gottes nicht die Unmöglichkeit eines praktisch begründeten Gottesbegriffs folgt. Vielmehr wird von Kant, thomistisch gesprochen, allein per analogiam, der Begriff von Gott und Gottes Dasein konzipiert, und zwar in praktischer Hinsicht. Wie aber wandelt sich für Kant der Begriff Gottes als des transzendentalen Ideals oder des ens entium, realissimum, perfectissimum bzw. als in sich notwendigen Urgrundes zu dem praktisch gültigen Begriff eines heiligen, gütigen und gerechten Welturhebers? Kant selbst beantwortet diese Frage nirgendwo direkt; so galt es, aus seiner Konzeption die Grundlinien einer Lösung herauszuheben. Gott bleibt, gemäß der Kritik der Gottesbeweise, nicht nur für uns in seiner Existenz unerkennbar, sondern für unseren Verstand auch theoretisch unbegreiflich, ja letztlich unbestimmt und undenkbar, obwohl die Vernunft auf die Annahme eines ersten Urgrundes aller Dinge hintreibt. Ein Abgrund des Geheimnisses muß es nach Kant bleiben – so fügt er schließlich auch seine philosophische Ausdeutung der Lutherischen Lehre von der Rechtfertigung des Sünders in den Horizont einer negativen Theologie ein –, welcher Art Gottes gnädige Ergänzung unserer Unvollkommenheit sein mag (vgl. RGV B 210.267 = AA 6,139.174; KpV A 219 ff.).
In Kants Opus postumum finden sich, gewissermaßen problem-unbewußt, dicht beieinander Zusammen-gehörigkeit und Unterschiedenheit von »Gott« als Begriff von einer »Persönlichkeit«, die ein »ideales Wesen« ist, insofern sie von der Vernunft entworfen ist, von dem »Einen Gott«, an den wir glauben als an »einen lebendigen Gott (nicht an ein Wesen das blos Götze ist u. keine Person)« (vgl. AA 21,48). 39
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Die Position Kants kann man paradox kennzeichnen als negative Theologie ohne Mystik bzw. ohne mystische Schau. Die Vernunft drängt auf den Urgrund, das Unbedingte und in sich Notwendige, das der endliche Verstand nicht sachhaltig zu bestimmen vermag. Es ist, wie Kant schon in der ersten Kritik einmal andeutet, »der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft« (KrV B 641),40 das nicht nur in seiner Existenz Unerkennbare, sondern das einfach Unbestimmte, insofern das substantiell Unbegreifbare. Es ergibt sich nur negativ durch die Aufhebung des Unterschiedes von Möglichem und Wirklichem sowie von Begriff als Produkt des endlichen Denkens und sinnlicher Anschauung; es muß aber notwendig als letzter Vernunfturgrund angesetzt werden. Nicht einmal als Eines kann man es denken, wie die Neuplatoniker es versuchten; und schon gar nicht gibt es für Kant eine mystische Schau, in der sich die Realität jenes Einen erweist. Wenn in praktischer Hinsicht jener Urgrund als moralischer Welturheber gedacht wird, der Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes ist, wird die negative Theologie als Grundlage nicht verlassen. Die Vernunft drängt auf diesen göttlichen Urgrund, den wir in sich selbst nicht bestimmen können, den wir aber von unserer Perspektive der Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes aus analogisch und bloß relational als moralischen Welturheber fassen. Diese positive Auffassung einer Moraltheologie ist, wie gezeigt, gemäß der dritten Kritik (KU B 433) ein nur subjektiv gültiger Begriff der reflektierenden Urteilskraft. Aus moralischen Gründen müssen wir uns Gott in dieser positiven, uns angemessenen Weise vorstellen, nicht als begriffene oder gar erkannte objektive Realität, aber auch nicht als Fiktion, sondern in praktisch notwendiger, von unserer menschlichen Position aus vernünftig-sittlich zu rechtfertigender Perspektive auf den notwendig anzunehmenden göttlichen Urgrund und Weltvollendungsgrund. Diese Lehre Kants vertritt in paradigmatisch-klassischer Weise die aufklärerische Auffassung der Ungeschichtlichkeit einer reinen Vernunftreligion. Einer solchen Lösung muß aber, da die konkret existierende Person für sich sinnerfülltes Dasein und hochmotiviertes sittliches Tun im Horizont der Hoffnung des Ewigen sucht, das nicht allein ihr intellektuelles Begreifen, sondern ebenso ihr Vorstellen, Anschauen und Empfinden angeht,
Kausalität aus Freiheit, das All intelligibler Personen als Reich der Zwecke kann der Verstand inhaltsbestimmt denken, aber nicht erkennen, da es diesbezüglich für ihn keinerlei Anschauungsgegebenheit gibt, die er nach seinen Verstandesregeln verknüpfen könnte. 40
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die Frage nach der Geschichts-Dimension biblisch offenbarter Religion der Problemcharakter erhalten bleiben.41 Denn in Gottes Menschwerdung, die spekulativ-dogmatischem Interesse auf schier unabschließbare Weise Raum gibt, und in der auch erzählbaren Biographie des Gottmenschen Jesus kommen zugleich Geist und Gefühl zu ihrem guten Recht.
3. Kants Postulate im Spiegel von Fichtes Denkweg Die Idealisten heben die von Kant klar unterschiedenen Explikationsrichtungen im Begriff des höchsten Gutes weitgehend auf, nämlich: Ideal für den Einzelnen, Weltvollkommenheit als summum bonum derivativum, Gott als summum bonum originarium; sie verändern infolgedessen auch den Sinn der Postulate. Bei Fichte ist Gott die moralische Weltordnung selbst; für den frühen Schelling ist die intellektuelle Anschauung des Göttlichen im Ich Grund
Im Brief an Lavater vom 28. April 1775 nähert sich Kant in Hinwendung zum offenbarungsgläubigen Adressaten dem Ernstnehmen geschichtlich vermittelten Eintretens Gottes in die Zeit und bejaht die Annehmungswürdigkeit biblischer Offenbarung Gottes in Jesus Christus (AA 10,176): »Sie verlangen mein Urtheil über Ihre Abhandlung vom Glauben und Gebethe. Wissen Sie auch an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reineste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens und der es mit Hiob vor ein Verbrechen hält Gott zu schmeichlen und innere Bekenntnisse zu thun, welche vielleicht die Furcht erzwungen hat und womit das Gemüth nicht in freyem Glauben zusammenstimmt. Ich unterscheide die Lehre Christi von der Nachricht die wir von der Lehre Christi haben und, um iene rein herauszubekommen, suche ich zuvörderst die moralische Lehre [...] herauszuziehen.« Die letztere sagt ›nur‹, »was Gott getan, um unserer Gebrechlichkeit in Ansehung der Rechtfertigung vor ihm zu Hilfe zu kommen, die erstere aber, was wir tun müssen, um uns alles dessen würdig zu machen. Wenn wir das Geheimnis von dem, was Gott seinerseits tut, auch gar nicht wüßten, sondern nur überzeugt wären, daß bei der Heiligkeit seines Gesetzes und dem unüberwindlichen Bösen unseres Herzens, Gott notwendig irgendeine Ergänzung unsrer Mangelhaftigkeit in den Tiefen seiner Ratschlüsse verborgen haben müsse, worauf wir demüthig vertrauen können, wenn wir nur soviel tun, als in unsern Kräften ist, um derselben nicht unwürdig zu sein; so sind wir in demjenigen, was uns angeht, hinreichend belehrt [...] Und eben darin, daß unser desfalls auf Gott gesetztes Vertrauen unbedingt, d. i. ohne einen Vorwitz, die Art wissen zu wollen, wie er dieses Werk ausführen wolle, [...] besteht eben der moralische Glaube, welchen ich im Evangelio fand«. Und im Briefentwurf an Jung-Stilling schreibt Kant am 1. März 1789 (AA 11,10): »Sie thun auch dar41
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der praktischen Freiheit des endlichen Ich; im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus wird die Hegel und Schelling gemeinsame Intention in der Forderung zusammengefaßt: »Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen, und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen«.42
a) Fichtes Gottespostulat von der Offenbarungs-Kritik bis zur Bestimmung des Menschen Im Versuch einer Kritik aller Offenbarung von 1792 vertritt Fichte im wesentlichen die Kantische Position; nur sieht er das höchste Gut als solches im Sittengesetz enthalten, also geboten, so daß sich ein engerer Zusammenhang von Gott und Unsterblichkeit zum Sittengesetz ergibt. Soll »das ganze höchste Gut« mit Hinblick auf endliche Wesen nicht als unmöglich aufgegeben werden, erklärt Fichte, so müssen, damit der Endzweck des Moralgesetzes möglich ist, die Kantischen Postulate angenommen werden: »Es muß also ein ewiger Gott sein«, ein »ganz heiliges, ganz seliges, allmächtiges«, »alleingerechtes« Wesen, und »jedes moralische Wesen muß ewig fortdauern«.43 Wir entwerfen a priori den Begriff von etwas, das schlechthin recht ist, und das ist die »notwendige Kongruenz des Grades der Glückseligkeit« eines frei verantwortlichen Wesens »mit dem Grade seiner sittlichen Vollkommenheit« (SW V,43). In der Bestimmung des Gelehrten von 1794/1795 wird das höchste Gut einsinnig gefaßt. Das ideale Woraufhin des sittlichen Identitätsstrebens ist das absolute Ich, das in seiner Selbstbestimmung zugleich alles Nicht-Ich zu der besten aller möglichen Welten bestimmen würde, wäre es nur mit dem entsprechenden Schaffensvermögen ausgestattet. In De officiis bürdet Fichte der Strebekraft des endlichen Ich auf, was bei Kant allein Gott als allweiser Welturheber und Weltvollender zu gewähren vermag. Als Implikat der an sehr wohl, daß sie die letzte Befriedigung Ihres nach einem sichern Grund der Lehre und der Hoffnung strebenden Gemüths im Evangelium suchen, diesem unvergänglichen Leitfaden wahrer Weisheit, mit welchem nicht allein eine ihre Speculation vollendende Vernunft zusammentrifft, sondern daher sie auch ein neues Licht in Ansehung dessen bekömmt, was, wenn sie gleich ihr ganzes Feld durchmessen hat, ihr noch immer dunkel bleibt, und wovon sie doch Belehrung bedarf.« 42 In: Hölderlin: Sämtliche Werke 4, 1, 298. 43 SW V,40 ff.,117 f.; vgl. KpV A 219 ff.,236 Anm.
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Selbstzusammenstimmung des Ich mit sich betont Fichte die Gemäßheit aller Weltdinge mit seinen ethischen Begriffen von dem, was sie sein sollen. Das höchste Gut sei »die vollkommene Übereinstimmung« des Menschen mit sich selbst (SW VI,299). Fichte lehnt die Kantische ursprüngliche Verschiedenheit der praktischen Prinzipien: guter Wille (Glückswürdigkeit) und Glückseligkeit als höchstmögliche Erfüllung auch sinnlicher Neigungen ab, woraus bei Kant die Dialektik der reinen praktischen Vernunft und deren Auflösung durch die Vernunftideen in den Postulaten folgt. Das höchste Gut habe, wie Fichte erklärt, gar nicht zwei originär verschiedene ›Teile‹,44 sondern sei völlig ›einfach‹; denn es sei nichts anderes als »vollkommene Übereinstimmung eines vernünftigen Wesens mit sich selbst«, die für ein endliches Wesen, das nicht autark ist, nur zwei Momente impliziere: 1) die Übereinstimmung des empirischen »Willens mit der Idee eines ewig geltenden Willens, – oder – sittliche Güte«, 2) die Übereinstimmung der Dinge mit unserem Willen oder ›Glückseligkeit‹. – Da für Fichte das absolute Ich, von Gott real erfüllt, vom endlichen Ich als Vorbild erstrebt, die Idee vollständiger Selbstbestimmung umfaßt, die in solchem sittlichen Sichbestimmen zuletzt alles widerständige Nicht-Ich zum Besseren bestimmt, entfällt für ihn die bei Kant vom postulierten Gott zu erhoffende und garantierende Adäquation von Tugend und Glück. Diese Adäquation gerät bei Fichte unter die Kompetenz des endlichen Ich, das sich dem absoluten approximativ annähert. Der Weg zum höchsten Gut, das alles Widervernünftige aufhebt, muß durch »Annäherung ins Unendliche« erfolgen (SW VI,299 f.). Das absolute Ich steht vordisjunktiv vor der Unterscheidung in Unendlichkeit und Endlichkeit; vom endlichen Ich wird es durch praktische Anähnlichung erstrebt. Die singuläre Erfüllung des absoluten Ich wird als Gott vorgestellt, der für den frühen Fichte widerspruchsfrei gedacht, jedoch theoretisch nicht erkannt werden kann. Zur Charakterisierung des höchsten Gutes kommt Gott, dem Garanten eines Einklangs von Tugend und Glück, in Daß das höchste Gut nicht zwei ursprünglich heterogene Teile besitze, legt Fichte gemäß der von Kant als stoisch gekennzeichneten Position aus. Glück sei allein dem sittlichen Willen als ihm anhängend erschlossen. »Nicht das ist gut, was glückselig macht; sondern – nur das macht glückselig, was gut ist.« (SW VI,299) Eudaimonia wird als Folge-Phänomen der Tugend – unter Absehung von der sinnlichen Dimension des Glücks – aufgefaßt bzw. die auch für Kant hochbedeutsame intellektuelle Zufriedenheit des moralischen Bewußtseins wird von Fichte als das Ganze der Glückseligkeit verstanden. 44
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De officiis keine eigenständige Bedeutung zu; die durch den Gottesschwund aufgerissene Lücke wird von Fichte mühsam mit Leibnizschen Termini und in Anklängen an Kants Kritik der Urtheilskraft zugedeckt: »Daß aber das Bestimmtsein durch die Kausalität der Natur, und das Bestimmen durch Freiheit übereinstimme, welches zum Behuf einer moralischen Weltordnung [...] anzunehmen ist; davon läßt sich der Grund weder in der Natur, [...] noch in der Freiheit« annehmen, sondern nur in einem höheren, von beiden unterschiedenen Prinzip, das »beide unter sich fasse und vereinige«: »gleichsam in einer vorherbestimmten Harmonie der Bestimmungen durch Freiheit mit denen durchs Naturgesetz« (SW VIII, 414f: Creuzer-Rezension 1793). – In einem ›Glaubensbekenntnis‹ der Rückerinnerungen von 1799, einer Verteidigung gegen den Atheismus-Vorwurf, erklärt Fichte mit größerer Konzession an Kants theistischen Begriff des moralischen Welturhebers: Alle Ichwesen sind durch ein »freies intelligentes Prinzip« erschaffen, werden durch dasselbe erhalten (d. i. Augustins creatio continua) und ihrem letzten Zwecke, der Harmonie von Moralität und Glück, ›entgegengeführt‹ (SW V,366). Schon 1793 ersetzt Fichte Kants Postulat der praktisch-notwendigen Annahme Gottes als des Weltvollenders durch die moralische Weltordnung,45 verstanden als prästabilierte Harmonie zwischen sittlichem Wollen und dessen erfolgreicher Ausführung in einer durch andere Gesetzmäßigkeit durchwalteten Welt. Implizit hebt er damit die traditionelle Unterscheidung zwischen Gott als summum bonum originarium und einer durch ihn möglichen besten Welt als dem summum bonum derivativum auf und stuft beide – implizit religionskritisch – zu bloßen Momenten des unendlichen Strebens herab, worin das endliche, sich verunendlichende Ich uno actu sowohl absolute Einigkeit und sonach Vollendung in sich als auch Harmonie von empirisch-realer und seinsollender Welt intendiert. Allerdings geht Fichte nicht so weit wie Schelling, der in herber Ablösung von Kants Postulaten in seinen Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus die Idee von Gott als transzendenten, Tugend mit Glück lohnenden Wesen verwirft, eine ›Gottwerdung‹ im Ich postuliert und Unsterblichkeit als vom Menschen zu realisierende Aufgabe hinstellt.46 Jedoch tendiert Fichtes moralische Weltordnung als Gott zu Feuerbachs: die Einheit von Ich und Du sei Gott. SW VIII,415. Eingehend entfaltet er diesen Begriff in: Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung von 1798 (SW V,184–188). 46 Das Absolute, fordert er, soll aufhören, für mich nur »Objekt« zu sein. »Diese For45
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In den Vorlesungen über Platners Aphorismen (1795–1799) erwägt Fichte, es sei wohl möglich, daß der praktische Glaube an eine Kausalität der Vernunft, an das mögliche Gelingen guter Zwecke und daran, daß die Welt »durch Vernunft, Weisheit und Güte erzeugt« ist, nicht in jedem Menschen zu »Bewußtsein komme«. Feuerbachs rein innerliches Christentum vorwegnehmend, bestimmt Fichte Religion als eine »innere: des getrosten und muthigen guten Lebenswandels«. Gott wird – anders als bei Feuerbach – als wirklich und als ›Beförderer‹ des Vernunftzwecks insbesondere dort verstanden, wo endliche Wesen überfordert sind; deshalb muß Gott im praktischen Glauben, der den moralischen Welturheber postuliert, als der ›Allheilige‹ und der ›Allvermögende‹ existieren. Weitere Prädikate Gottes zu kennen, bedarf der Mensch nicht; geht er aber über die genannten zwei Prädikationen ›weiter heraus‹, so gerät sein Begriff von Gott in Widersprüche. So kritisch Fichte sich mit Platner gegen alle aus menschlicher ›Schwachheit‹ oder ›Aberglauben‹ gezeugten ›Personificationen‹ der Gottheit wendet, so nachgiebig läßt er sich auf Gedanken platonisierender Mystik ein. Das erste und höchste Objekt, das ich in mir antreffe, ›ist Er‹, Gott. »Der in mir selbst vorkommt: ohne den ich nicht lebe und webe (Auch die Mystiker denken so).« Wer sittlich handle, der bekenne damit praktisch einen Gott (FGA II/4, 302f).47 Dem Gottespostulat in Kantischem Geiste kontrastiert Fichte eine Darstellung des grausig fremden willkürhaften Schicksals, das nach unbekannten Regeln, ›im Ohngefähr‹ als Gebieter von allem unerbittlich waltet. Es sei die ›niederdrückendste‹ und ›schrecklichste Idee‹ für den Menschen, daß all’ sein ›Ringen, Arbeiten‹ gar nichts helfen kann, er selbst unter einem ›unerbittlichen Gebieter‹ steht und kein Mittel weiß, das Schicksal mit sich zu ›versöhnen‹ (FGA II/4, 292 f.). Wird Gott aber in Analogie zu menschlicher Willkür als ›blinde Willkür‹ verstanden, so heißt das für Fichte einen Götzendienst errichten, da jener fratzenhafte Götze niemals Gott ist (FGA II/4, 294). Als Prinzip dieser Überlegungen läßt sich eruieren: Was für eine Gottesauffassung man hat, hängt davon ab, welche Art von Ethik man vertritt. derung nun kann ich nur durch ein unendliches Streben, das Absolute in mir selbst zu realisieren – durch unbeschränkte Aktivität – erfüllen«. Insofern gelte für den Menschen der Imperativ: »Strebe nicht dich der Gottheit, sondern die Gottheit dir ins Unendliche anzunähern.« In diesem hypertrophen Imperativ einer radikal idealistischen Ethik könne der Mensch bleibende »Selbstheit« gewinnen. Schelling: Sämtliche Werke 1,335.329. 47 Zum Postulat der Seelenunsterblichkeit vgl. F GA II/4,332–349; ferner F GA IV/ 1,166 f.; F GA IV/1,438– 449.
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In der Wissenschaftslehre nova methodo deutet Fichte an, er plane, Kants Postulate auszuweiten.48 In der Bestimmung des Menschen hat Fichte diesen Plan ausgeführt, denn sie kann als eine Erweiterung praktisch-dogmatischer Metaphysik gelesen werden. Gott erscheint als ewiger Wille, dessen das Ich durch Befolgen seines Gewissens inne wird;49 Unsterblichkeit ist immanent in unserem sittlichen Willen enthalten, ist nicht mehr wie bei Kant als Postulat, das die Möglichkeit des höchsten Gutes vorstellt, vom Prinzip der Sittlichkeit, nämlich vom unbedingt guten Willen, getrennt. Das Unsterblichkeits-Postulat ist demnach nicht bloß ›anhängend‹, sondern konstitutiv zur Sittenlehre gehörig. Metaphysik ist hier noch, wie bei Kant, die des praktischen Glaubens. – Fichte nimmt um 1800 an, Unsterblichkeit sei individuell und über-individuell zu verstehen; Gott ist in uns, er ist der ewige Wille in uns; wir ›fließen ein‹ in ihn, er ›fließt‹ in uns über; dies ist sinnbildlich-analogische, das unaussagbare Eine umschreibende Rede einer neuplatonischen, ins Praktische übertragenen Metaphysik (SW II,289): »Die übersinnliche Welt ist keine zukünftige Welt, sie ist gegenwärtig«. Kant aber erklärt, wie selbstverständlich, wir müssen eine solche intelligible Welt unter einem weisen Urheber und Regierer samt dem Leben in ihr als eine ›künftige‹ ansehen (KrV B 839 f.). In Spannung zueinander stehen Fichtes Kant recht nahen theistisch-personalistischen Bestimmungen Gottes, der göttliche Wille sei ›Weltschöpfer‹ und ›Herzenskündiger‹, der die innere Gesinnung durchschaut (SW II,302 ff.), und Fichtes neuplatonisch-monistische wie: Ich habe Teil am ursprünglichen Einen, das da ist; und: an mir ist »nichts wahrhaft Reelles, Dauerndes, Unvergängliches« als »die Stimme meines Gewissens und mein freier Gehorsam« (SW II,298 f.). Daß Gott »selbst [...] dieses geistige Band der Vernunftwelt« ist (SW II,298), kann so gedeutet werden, daß moralische Weltordnung zu sein, für Fichte das von Gott einzig Erkennbare ist; ihm mögen ansonsten viele andere, ja unendlich viele Eigenschaften zukommen. Das Gesetz der intelligiblen Welt ist, als Gottes Wille verstanden, nichts bloß Bestehendes, sittlich Notwendiges, sondern aktuale geistige Willenstätigkeit, genauer: die lebendige Allgemeinheit des vollkommen spontan ohne Selbstnötigung in sich einstimmigen Willens, woraus Fichte folgert, die moralische Weltordnung sei Gott selbst, als geistiges vereinigendes Lebensprinzip der intelligiblen Welt. Kollegnachschrift von K.Chr.Fr.Krause 1798/99, 146. In der Appellation von 1799 heißt es – noch im Sinne Kants deutbar und mit Anklang an Joh 7, 17: »Erzeuge in dir die pflichtmäßige Gesinnung, und du wirst Gott erkennen!« (SW V,210). 48 49
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b) Systematisierungen der Kantischen Postulate in Fichtes Umbruchsphase von 1798 –1801. Oder: »Gott ist die moralische Weltordnung« als Anlaß zum Atheismusstreit um Fichte In einer Replik auf Jacobis schwerwiegenden Atheismus- und NihilismusVorwurf erklärt Fichte 1799 (SW XI,392): Die moralische Weltordnung ist ein ordo ordinans et creans, ist ›moralisches Prinzip‹ ebenso wie eine ›moralisch schaffende Macht‹. Fichte verteidigt seine allzu mißverstandene Position:50 allerdings »existiert Gott an sich selbst« nur als moralische Weltordnung. Dies sei die einzige Modalität, in der wir Gott als ›nicht leeren Begriff‹ erfassen und als etwas, worin wir mit ihm vereinigt ›leben‹ können! Sphären dieser lebendig schaffenden Macht des höchsten moralischen Gesetzgebers reichen ›bis herab auf die Sinnenwelt‹. Gott existiert aber weder als Natur, wie Spinoza lehrt, noch als ›System von Ichen‹ – was Fichte, wie man ihm vorwarf, als einen verkappten Atheismus gelehrt habe. Gott existiert vielmehr in jenen ›Ichen‹ nur, sofern er sich depotenziert und sie Gottes Erscheinung darstellen. Die Fundierungsordnung von Ich und Absolutem wird von Fichte, um weiterem Mißverstehen vorzubeugen, radikal zugunsten einer Letztbegründung von Einzel-Ich bzw. ›System von Ichen‹ im Absoluten festgelegt (SW XI,394). Aus der Aufforderung: Lasset uns selig sein in der »Treue gegen das Göttliche in uns« kann man bei genauerem Hinsehen die Einsinnigkeit des höchsten Gutes sowie eine komplexe Verschränkung der drei Kantischen Postulate eruieren: spontanes sittliches Handeln ist in sich und schon jetzt in diesem Äon glückselig; und der existierende Gott ist gegenIn: Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung von 1798 betont Fichte provozierend und mißdeutbar, für die Vernunft bestehe kein Anlaß, vom Begriff der moralischen Weltordnung auf ein »besonderes Wesen« als deren Ursache zurückzuschließen, der Begriff von Gott als einer »besonderen« –, also nicht (wie bei Spinoza) allgemeinen – »Substanz« sei in sich widersprechend (SW V,186 ff.). Fichtes Vorbehalt gegen den Begriff Gottes als besonderen, substantiellen und personalen Wesens fußt auf dem nicht zwingenden Spinozanischen Argument, ›Person‹ schließe Endlichkeit und Begrenzung ein. Der Sohn I.H.Fichte hat dem Gedanken der Persönlichkeit Gottes – den vor J.G.Fichte Leibniz und Kant, nach ihm Hegel und Kierkegaard festhalten und verteidigen – eine zentrale Stellung in seinem theistischen Lehrgebäude verliehen. Kant erblickt keinen Widerstreit zwischen dem Substanz- und dem Persongedanken; für ihn ist auf Grund von Leibniz’ Neu-Definition Substanz (:»un être capable d’action«) nicht notwendig mit bloß bestehendem Beständigsein oder Trägheit behaftet, wie Fichte insinuiert (vgl. SW I,440 f.). 50
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wärtig in jedem Ich, das in kraft seiner Ichheit Mitglied der moralischen Weltordnung ist. Ohne ontologisch und theologisch damit je zu Ende zu kommen, ringt Fichte 1801 um eine Systematisierung des Kantischen Reiches der Zwecke, d. i. um die begriffliche Durchklärung eines ›Systems der Geisterwelt‹, welches »unbegreiflicher RealGrund der Getrenntheit der Einzelnen« ist und zugleich als »ideales Band aller = Gott«; dies ist es, »was ich intelligible Welt nenne. Diese lezte Synthesis ist die höchste«. In der Bewußtseinsklarheit des Individuums taucht der Funken einer Lichtspur auf, die über die Brücke der interpersonalen Welt in den Lichtabgrund des Deus absconditus zurückreicht (FGA III/5,48f): »Jedes Individuum ist ein rationales Quadrat einer irrationalen Wurzel, die in der gesammten Geisterwelt liegt; und die gesammte Geisterwelt ist wiederum rationales Quadrat der – für sie, und ihr universelles Bewußtseyn, welches jeder hat, und haben kann – irrationalen Wurzel = dem immanenten Lichte oder Gott.« Fichte ringt darum, Einheit und Verschiedenheit, Identität und Differenz zu fassen 1) von Gott und Geisterwelt, 2) von Geisterwelt und Einzel-Ich, aufgrund solcher Vermittlungen in gewisser Weise sogar 3) von Gott und Ich.51 Der jeweilige Bezug der Wesen auf einander und auf das Ureine ist nicht in »rationalen Zahlen«, d. h. nicht durch Vernunftbegriffe aussagbar, bestenfalls approximierbar an ein Unsagbares. Dies erinnert an Argumentationen neuplatonischer negativer Theologie.52
In der Wissenschaftslehre von 1801, in der sich die 1804 ausgeführte Metaphysik des Absoluten anbahnt, zeigt sich ein hochkomplexes Beziehungsgefüge von a) GottesAnschauung, b) intellektueller Anschauung ›allgemeiner‹ bzw. ›unendlicher‹ Freiheit der Geisterwelt, c) Selbstanschauung individueller Freiheit in einem Individualitätspunkte. Daß ein einzelnes Ich sich zum intelligiblen ›Standpunkte‹ erhebt, heißt, daß es Mitglied der moralischen Welt wird und damit zu den Wesen aufrückt, die – ähnlich wie bei Malebranche, jedoch noch Kantisch im Kontext praktisch-dogmatischer Metaphysik – »sich und die Welt in Gott anschauen« (SW II,155 f.). Fichte nimmt hier noch eine Gleichrangigkeit von individueller und allgemeiner Freiheit an (vgl. SW II,143, 153), deutet aber schon auf eine Letztbegründung individueller und intersubjektiv wirksamer Freiheit in Gott hin. 52 Fichtes Religionsphilosophie oszilliert von 1800 an zwischen Neuplatonismus und Johanneisch aufgefaßtem Christentum; vgl. Edith Düsing: Sittliches Streben und religiöse Vereinigung. Fichtes Theologie verläßt dabei keineswegs den Theismus; der späte Fichte gebraucht – bei aller Vorsicht in seiner Wissenschaftslehre – für die Erscheinungslehre eine Vielfalt theistischer Bestimmungen: Gott muß Verstand und Wille zukommen, insofern er – hierin kommt Fichte dem teleologischen Weltbegriff Kants 51
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Vom System der Sittenlehre von 1798 an sucht Fichte zunehmend ein Durchschauen des kategorischen Imperativs auf den authentischen göttlichen Gesetzgeber. Wer auf das Ziel sieht, der sieht sich selbst nicht; so verliert sich im hingegebenen sittlichen Tun das Subjekt und ›verschwindet‹ gleichsam in dem von ihm gesuchten Endzweck. Kants Verständnis der Person als Selbstzweck und letzter Zweck, so betont Fichte, sei der ›Gesichtspunkt Gottes‹ (SW IV,255 ff.); d. h. Leibnizisch gesagt, steigt die Ethik auf bis zur Perspektive der Zentralmonade. Bei Kant ist das vernünftig-praktische Subjekt Urheber und Adressat des Sittengesetzes; bei Fichte hingegen ist das Ich ›Instrument‹53 des Sittengesetzes; es vergißt im Handeln ›gänzlich‹ sich selbst. Merkwürdig ist die Emphase, die Fichte auf eine Vergöttlichung des Ich legt, indem durch freie Wahl seine empirische Individualität ›aufgehoben‹ wird. Eine allzu kühne Konvergenz von Gottes- und Seelen-Unendlichkeits-Postulat spricht Fichte an einer Stelle, wohl mit Schelling-Anklang, aus (SW IV,255 f.): »Jeder wird Gott« durch solche Selbstbestimmung zur Aufopferung seiner selbst, nämlich im reinen Darstellen des Sittengesetzes in der Sinnenwelt. Des näheren wird jedem Individuum die Erreichung des höchsten Gutes ›aufgetragen‹ (SW IV,256). Kants Delegieren des vom Ich Unerreichbaren an den allmächtigen, allweisen gerechten moralischen Welturheber entfällt auch hier. Durchgängig prävalieren bei Fichte um 1800 noch solche Bestimmungen, die den Kantischen Autonomie-Begriff bewahren: Das ›eigentliche Ich‹54 sei das freitätige, das für sich über ›absolute Selbständigkeit‹, ja quasi göttliche ›Selbstgenügsamkeit‹ verfüge und das in immer wieder absolut anfangenden Akten der Freiheit sich das Bewußtsein seiner nahe – den höchsten Zweck des Daseins der Welt: die sittliche Bildung Aller entwirft und erwirkt (SW XI,83 ff., 193 f.); oft bemüht Fichte die göttliche Vorhersehung oder Gottes Weltenplan (z. B. SW VI,384 ff.); die göttliche Idee verfügt über Bewußtsein ihrer selbst (SW VI,372 f.). Die Personifikation Gottes, die Fichte in der Theorie für so problematisch erachtet, da sie für ihn Verendlichung durch Anthropomorphismen einschließt, gilt ihm im Bereich praktischer Metaphysik offenbar keineswegs als ›Überbleibsel des Aberglaubens‹ aus unaufgeklärter Zeit (vgl. F GA II/ 4, 302 f.). 53 Die Sinnverschiebung in Richtung auf Theonomie, die zwischen der Sittenlehre von 1798 und der von 1812 durch Fichte vorgenommen wird, läßt sich gut ablesen an der späten Aussage: Bestimmung des Menschen ist, »Werkzeug des Überirdischen«, also Gottes zu werden (SW XI,105). 54 Von etwa 1800 an wird dem Ich von Fichte kein ›substantiales‹ Eigensein mehr zugeschrieben, insofern es nämlich zunächst dem Absoluten koordiniert und schließlich subordiniert erscheint.
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Pflicht ›klar erhält‹ (SW IV,220.107.142.193). In unaufgelöster Spannung stehen dazu ab 1798 der Mystik nahekommende Akzente dahin, daß wir uns ›in Gott verlieren‹ sollen: Die ›Verschmelzung‹ der Individualität mit Gott sei letztes Ziel, dem wir uns allerdings nur in unendlicher Zeit – so klingt Kants Unsterblichkeits-Postulat an – annähern können (SW IV,151). Die vollkommene Moralität oder die moralische Weltordnung wird von Fichte im Jahre 1800 schließlich substanzialisiert zu einem eigenen Sein: Gott als Gesetz der geistigen Welt ist ein Wille, der durch sich selbst ›absolut frei‹ und der ›in sich selbst Gesetz ist‹ (SW II,297 f.). Eine Quasi-Substanzialisierung des moralisch guten Willens zu göttlichem Sein deutet sich schon ein Jahr früher in den Rückerinnerungen von 1799 an: Der Begriff Gottes lasse sich »überhaupt nicht durch Existentialsätze, sondern nur durch Prädikate eines Handelns« bestimmen (SW V,371). Eine Ableitung von Gottes Dasein aus materialen Bestimmungsgründen, daß er etwa deistisch als prima causa aus dem Dasein der sinnlichen Welt bewiesen werden könnte, hat Fichte schon in der Appellation energisch zurückgewiesen (SW V,216). Ja, er leugnet einen aus der wahrnehmbaren Welt ›abzuleitenden Gott‹ (ebd.), der überdies als ›übermächtiges Wesen‹ verstanden wird, das sinnlichen Genuß an seine willfährigen Diener austeilt. Der Glaube an einen spätmittelalterlichen WillkürGott in einem neuzeitlich verfeinerten Weltsystem des Eudämonismus schilt Fichte als den eigentlichen Atheismus, nämlich als Götzendienst gegenüber dem geheimen ›Gott dieser Welt‹, den Teufel. Für Fichte darf Gott lediglich als Regent der übersinnlichen Welt verstanden und verehrt werden (SW V,218– 223), der – gemäß dem Primat der praktischen vor der restringierten theoretischen Vernunft – allein im Zuge sittlichen Strebens ›umfaßt‹ werden kann. So erklärt Fichte mit Pascalischer respektive Jacobischer Emotionsfärbung (SW V,217): »Die Sphäre unserer Erkenntnis wird bestimmt durch unser Herz; nur durch unser Streben umfassen wir, was je für uns da sein wird.« Fichte hält in den Jahren 1792 bis 1800 atmosphärisch noch an der Kantischen Position fest, daß die Postulate als theoretische Annahmen bloß rein gedacht und allein durch praktische Vernunft im Glauben Realität gewinnen und bewahren. In der Bestimmung des Menschen heißt es: Das auf Grund von Gewissenseinsicht im Glauben Ergriffene ist »das erste Wahre und der Grund aller andern Wahrheit«. Dabei wird die Einsicht in unsere Pflicht durchsichtig auf das Gottespostulat, derart, daß der »Glaube an unsere Pflicht [...] eigentlich Glaube an Ihn, an Seine Vernunft und an Seine Treue« ist, an die Cartesianische veracitas Dei, welche dem Ich wahres Erkennen gewährt.
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Durchschauen wir unsre Pflicht auf den Urgesetzgeber hin, so finden wir in ihr Gott. Was ist das Wahre, das wir Mitglieder auch der Sinnenwelt glauben? Fichte antwortet (SW II,302): »Nichts anderes, als daß aus unserer treuen [...] Vollbringung der Pflicht in dieser Welt ein unsere Freiheit und Sittlichkeit förderndes Leben in alle Ewigkeit sich entwickeln werde.« Findet dies statt, so hat unsere Welt die einzige für endliche Ichwesen mögliche, moralisch notwendige Wahrheit.55 Hier verstärkt sich Fichtes Tendenz, daß er Kants Postulate einer Umdeutung ins immanente Selbstbewußtsein unterwirft und diese sich deshalb verwandeln in reine Implikate des treu erfüllten Sittengesetzes. Noch im Rahmen der Postulatenlehre, verstanden als Inhalt bloß eines vernünftigen Glaubens, tastet Fichte sich vom Jahre 1800 an zugleich in die atmosphärische Nähe einer Augustinisch geprägten Illuminationslehre sowie zum Cartesianischen egologischen Gottesbeweis vor, indem er sagt (SW II,303, 305): »Es ist sein Licht, durch welches wir das Licht und alles, was in diesem Lichte uns erscheint, erblicken« und: Gottes Realität sei der geistigen Schau des Ich in »hellerer Klarheit« gegenwärtig als das Bewußtsein seines eignen Daseins. Diese bei Fichte neue Gedankenlinie, die – aus der Einklammerung in eine Kantische bloß subjektiv-praktisch gültige Metaphysik sich herauslösend – auf eine Metaphysik des Absoluten hinausweist, in welcher der endliche Geist durch intelligible Schau alles Wahre in Gott findet und folgerichtig sich selbst als Ich in Gott gründet, hat Fichte in seiner Spätphilosophie weit ausgezogen. Die frühere Einschränkung, die Kant nahe war, allein einem Glauben stehe der Zugang zu metaphysischen Aussagen offen, wird von nun an fallengelassen.
Nicht durchgeklärt hat Fichte die Frage, ob eine Transzendenz Gottes gegenüber der Welt anzunehmen sei oder eine Immanenz des göttlichen Unendlichen im endlichen Ich bzw. auch ein Innestehen des endlichen im allein substantiell seienden unendlichen Intellekt oder Willen. In der Bestimmung des Menschen gibt es Hinweise zu beiden Positionen, zur Getrenntheit Gottes von der Welt ebenso wie zur ontologischen Durchdringung beider Welten (vgl. SW II,298 f., 303 f., 315 ff.). Prädikationen der Idee Gottes sind in der Bestimmung des Menschen, daß Gott – sowohl an die Überwindung der Kantischen Kluft in der Kritik der Urtheilskraft als auch an die christliche Versöhnung erinnernd – ›Vermittler‹ ist sowohl zwischen intelligibler und sinnlicher Welt als auch zwischen Personen. An die Providentia-Tradition anknüpfend, nimmt Fichte einen im göttlichen Willen entworfenen ›Weltplan‹ an (vgl. SW II,299, 303 ff., 313). 55
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c) Fichtes Augustinische Wende: Von der Wissenschaftslehre von 1804 zur Anweisung zum seligen Leben Der späte Fichte vertritt ab 1804 systematisch eine andere Konzeption als Kant: Das Eine Sein und Leben, dessen Bild das endliche Ich sei, also die metaphysisch umgewandelten Postulate: Gott und unsterbliche Seele sind – unabhängig vom Systemteil der praktischen Philosophie und dieser vorangehend – Lehrinhalte der Wissenschaftslehre. Das Eine Sein und Leben, dem Verstand und der Vernunft unzugänglich, leuchtet gleichwohl in der ›Wahrheitslehre‹ durch Überstieg des Ich, das sich von aller Begriffs- und Reflexionsform reinigt, intuitiv ein. Die ›Erscheinungslehre‹ behandelt Ich und Welt, so daß bei Fichte die Kantischen ethisch-praktisch begründeten Postulate: Gott, Unsterblichkeit, Freiheit dem Übergang vom absoluten Sein zum erscheinenden endlichen Selbstbewußtsein zugehören. Das sittliche Bewußtsein findet bei Fichte vorab seine metaphysische Verankerung, während bei Kant umgekehrt die metaphysischen Postulate im sittlichen Bewußtsein verankert sind. Fichtes die Sittenlehre betreffende Metaphysik ist also ab 1804 nicht mehr nur für die praktische Vernunft gültig, sondern ist selbst theoretische Wissenschaft. – Die Ethik Fichtes ab 1800 besitzt ihr Herzstück in der Realisierung des Verhältnisses des endlichen zum ewigen Willen. Fichte vollzieht – analog zur Primat-Verschiebung vom Ich zum Absoluten – die Akzentverlagerung von der autonomen zur theonomen Ethik. Nicht nur das Wollenkönnen des Guten, auch das Erkennenkönnen des Wahren gründet zuletzt im Verhältnis des endlichen Ich zum Absoluten. Die Moralität, wie Kant sie lehrt, wird 1806 als überwundene formale Freiheit zum untergeordneten Bestandteil der höheren Sittlichkeit, deren Prinzip die sich verschenkende, verströmende Selbsthingabe des Ich ist. Höchste Freiheit ist für Fichte dann – analog zu der Kenosis Christi – die Vollmacht, sein Eigenleben loslassen zu können. In solcher Selbstentäußerung ist Gott in uns wirksam und – in Abwandlung des Unsterblichkeitspostulates – die Ewigkeit der Seele aktuell gegenwärtig und real. Die von Fichte nahegelegte Einheit von autonomer und theonomer Ethik, die in der Anweisung zum seligen Leben in unterschiedliche Standpunkte der Weltansicht auseinanderbricht, sucht Fichte zu Zeiten so sehr, daß er vor keiner Paradoxie zurückschreckt: Jeder wahrhaft Sittliche betrachtet ›sein persönliches freies Leben‹ als bestimmt durch Gott. Der UnsterblichkeitsGedanke kommt zum Tragen: Nur diese eine, an meine Person geknüpfte
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»Seite des göttlichen Ratschlusses ist das wahrhaft Seiende an mir«, macht »das Unvergängliche und Ewige an mir« aus; »alles übrige, was ich mir noch beimesse, ist Traum, Schatten, Nichts« (SW VI,384 ff.). Die Unsterblichkeit ist aber kein Postulat als Bedingung der Möglichkeit des höchsten Gutes, sondern das Durchschlagen und die Erfüllung der theonomen Komponente inmitten der freien sittlichen Selbstbestimmung (SW VI,427): »Ein göttlicher Wandel ist der entscheidendste Beweis, den Menschen für das Dasein Gottes führen können.« Fichte fasziniert die Möglichkeit, Gott ›schauen‹ zu dürfen vermittels des sittlichen Lebens der Gott ›Ergebenen‹ (SW V,472). Insofern Die Bestimmung des Menschen zwischen autonomer Selbstgesetzgebung des praktischen Ich und ›gläubigem Gehorsam‹ (SW II,257) gegen den göttlichen Willen in der Mitte schwebend gehalten ist, zeichnet Fichte durch diese Ethik das korrelativ-gleichrangige Verhältnis von Ich und Absolutem seiner Wissenschaftslehre von 1801 vor. Im Jahre 1804 ist es die Wissenschaftslehre, in der Fichte eine Dominanz der theonomen Ethik vorzeichnet, die 1805/1806 erst entwickelt wird. In der Sittenlehre von 1812 zeigt sich der Versuch, eine neue Synthese von Kantischer Ethik, die 1806 zur zweiten von fünf Stufen zum seligen Leben herabgestuft war, mit der höheren Moralität und der Religiosität zu erzielen, also eine Synthese der drei mittleren Stufen der Anweisung. Gemäß Fichtes Berufung auf die Lehre Spinozas in der Wissenschaftslehre von 1804 geht alles Einzelseiende als ein an und für sich Gültiges und für sich Bestehendes ›verloren‹ und behält ›bloß Phänomenal-Existenz‹ übrig. Gott wird definiert als das Eine Sein, als das eigentlich Absolute, das ›lebendiges Licht‹ oder das in sich geschlossene ›Singulum‹ des Lebens ist. Die ›einige wahrhafte Existenz‹ des endlichen Ich gründet für Fichte im ›Anschauen Gottes‹ (SW X,146 f.). Das Grundaxiom der Wissenschaftslehre lautet ab 1804: Es gilt, sich zum absoluten Wissen als dem Standpunkt der Wissenschaftslehre zu erheben, und zwar dadurch, daß das Ich sich nicht als letztbegründend wie in der frühen Wissenschaftslehre, sondern als Bild des Absoluten ›setzt‹. So wandelt Fichte Kants Postulat der Seelenunsterblichkeit ab, indem er als den ›letzten Zweck‹, als höchstes Gut kennzeichnet, daß der Mensch zum ewigen Leben und dessen Freude und Seligkeit durchdringe. Das Absolute aber werden wir nie erkennen und erfassen können, wenn wir es nicht zugleich ›leben und treiben‹. Wenn dem Ich innerlich das Licht aufgeht – so grenzt Fichte die der Wissenschaftslehre adäquate Ethik gegen einen pragmatisierenden Eudämonismus und ein in ›Klugheitssittenlehre‹ verseichtigtes Christentum
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ab –, kann nicht anders als auch ›äußerlich zu leuchten‹ (SW X,288–292, 305). Das sich selbst durchdringende Sehen bedeutet sittlich-praktisch ein ›Sichvernichten‹ des Ich als selbständiges Wesen, ein Sichbilden zum Bilde Gottes (SW X,301). Von 1804 an sucht Fichte in immer neuen Angängen eine Metaphysik des Einen göttlichen Seins samt der Beziehung des endlichen Ich zu ihm zu entfalten. In der Konsequenz der Selbst-Enthebung des Ich aus seinem Prinzip-Charakter sucht Fichte, was bedeutsam für seine Ethik wird, auch die praktische Freiheit des Ich als Modifikation des Lebens Gottes zu erweisen. Der Aufstieg und Überstieg des Ich zu einem Sich-intuierend-Machen für das Einleuchten göttlichen Lichtes gemäß der Wissenschaftslehre von 1804 zeigt sich in der populären Anweisung zum seligen Leben nicht primär als intellektueller Gedankenfortschritt, sondern als Stufenfolge sittlicher Entscheidungen. Deshalb ähnelt Fichtes Konzeption des Weges der Seele zum Finden des Absoluten in fünf Grundstationen mehr Kierkegaards Stadienlehre in Entweder – Oder als Hegels Phänomenologie des Geistes. Daß die höchste und reinste Gestalt der Wissenschaft die »Liebe des Absoluten, oder Gottes« ist (SW X,127), die einhergehen muß mit stufenweiser sittlich-religiöser Läuterung, hat Fichte schon in der Wissenschaftslehre von 1804 betont, und er skizziert zum Schluß in einem systematischen Aufriß schon die zwei Jahre später dargelegten Hauptstandpunkte der Weltansicht. Unterhalb des höchsten Standpunktes der philosophischen Spekulation unterscheidet er vier Prinzipien: 1) das Prinzip der Sinnlichkeit als »Liebe zum Genuße des empirischen Selbst« oder überhaupt zur »bloßen Empirie« (SW X,126) – erinnernd an seine frühe Charakteristik von Materialismus bzw. Dogmatismus; 2) den Primat der moralisch freien und rechtlichen Persönlichkeit – erinnernd an den Idealismus bzw. Kritizismus in Fichtes früherer Theorie der PhilosophieWahl; 3) den Standpunkt der wahren Moralität, deren lebendiges reines Handeln im Gegensatz zum ›scheinbaren Leben‹ bloßer ›Zeitexistenz‹ – unmittelbar Kants Postulat der Seelenunsterblichkeit realisierend – fortgeht durch die ›unendliche Zeit‹; 4) den Standpunkt der Religion als »Glaube an einen in allem Zeitleben allein wahrhaft [...] lebenden Gott«; für den Religiösen ist das ihm gemäße sittliche Tun nur »göttliches Werk« als Ausfluß (emanatio) »des Einen göttlichen Lebens« (SW X,312 f.). Auf die drei mittleren der insgesamt fünf Weltansichtstufen verteilt Fichte die Kantischen Postulate: Der ›Glaube an die Freiheit‹ (SW V,516) bestimmt die zweite, das Unsterblichkeitspostulat die dritte, das Gottespostulat die religiöse vierte Stufe der Weltansicht. Das
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Prinzip der Freiheit, für den frühen Fichte die dem Ich sinnadäquate Wesensbestimmung, welches zur Wahl stand gegen die andere Eigengesetzlichkeit der Natur, wird 1804 –1806 in ein viergefächertes Spektrum ausgefaltet, das in der Sittenlehre von 1812 wieder synoptisch vereint ist. In der Anweisung zum seligen Leben wird Gott wesentlich neuplatonisch als das unnennbare Eine gefaßt: Das Absolute liegt – im Sinne negativer Theologie – ›schlechthin hinaus‹ über alle Reflexion (SW V,542). Offenes Problem bleibt, ob die ›erste Hypostase‹ des absoluten Seins die Synthesis der Geisterwelt oder das Individuum als Mitglied der intelligiblen Welt ist; das erste ist dominant von 1798 bis 1801, das letztere klingt von 1804 bis 1813 häufiger an.56 Die Wirklichkeit des unvergänglichen Individuums gründet – wiederum sowohl auf die Identität als auch Differenz57 von Gott, moralischer Welt und Einzel-Ich hindeutend – in einer Depotenzierung, des näheren ›Spaltung‹ des Seins in ein »zu vollendendes System von Ichen«. So wie »ursprünglich das Sein sich brach«, heißt es plastisch, »so bleibt es gebrochen in alle Ewigkeit«, so daß folglich, wie bei Leibniz’ Monaden, kein »wirklich gewordnes Individuum« jemals untergehen kann. So spaltet sich das Eine freie Ich,58 verstanden als »der göttliche Wille« oder das »innere Sein Gottes«, und entwickelt sich ins Unendliche fort (SW V,522, 530 f.). Unsterbliches Dasein des Ich gründet im ›lebendigen Ausströmen‹ des ursprünglichen göttlichen Seins in das endliche Ich (SW V,525, 528). Fichte gesteht eine Seligkeit auch jenseits des Grabes zu, aber nur, wenn ihr Beginn im Diesseits liegt. Die Annahme individuellen Fortbestehens in der Seelenunsterblichkeit bleibt so, wie Fichte In der Formulierung der Anweisung, das göttliche Sein spalte sich in die Individuenwelt liegt beides ineins. 57 Für die Erscheinungslehre 1804–1806 ist stärker als die Differenz ein Ineinanderfließen aller drei Dimensionen des Kantischen höchsten Gutes spürbar: Gott, Reich der Zwecke bzw. moralische Weltordnung und Ich gehen ineinander über. Exemplarisch ist die Äußerung: In der religiösen Liebe, dem »Band des reinen Seins«, also der intelligiblen Welt, ist Sein und Dasein, Gott und Mensch Eins, ja »völlig verschmolzen« und ineinander »verflossen«; Fichte kennt für die Erscheinungslehre als Religionsphänomenologie ein »Zusammenfallen« des Ich mit dem »Einen«. Johanneische und Spinozanische göttliche Liebe zusammenspannend erklärt Fichte: Da wir von uns aus nicht rein zu lieben vermögen, uns zuerst als ewig Geliebte erfahren müssen, ist unsere »Liebe zu Ihm« in Wahrheit »seine eigne Liebe zu sich selber« (SW V,461, 540 f., 518). – Zu Fichtes Mystik vgl. Janke: Vom Bilde des Absoluten, 335–345, 525–542. 58 Ähnlich bestimmt Luther in seiner Streitschrift gegen Erasmus die göttliche Freiheit als die einzig reale. 56
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sie begründet, doch problematisch;59 denn auf den höheren Stufen des seligen Lebens deutet das Ich sich als ›nichts Reales‹ für sich: in Gott einkehrend wird das Ich Selbstmanifestation göttlichen Lebens (vgl. SW V,487 f., 462). Den Begriff der Liebe in der Anweisung zum seligen Leben expliziert Fichte als den Grundtrieb des Endlichen zur Vereinigung mit dem absoluten Sein, als eine ›Sehnsucht nach dem Ewigen‹ (SW V,407), die das endliche Ich beseelt und überhaupt im Dasein erhält. Das unendliche Streben des praktischen Ich nach Selbstvervollkommnung und das Sehnen des theoretischen Ich nach wahrer Realität wird nun nicht mehr in Lessingschem Geiste verstanden, sondern in Augustinischem als das »inquietum est cor nostrum« (Confessiones 1,1), als Sehnen nach Gott. Überbrückt bei dem frühen Fichte das unendliche Streben den Hiatus zwischen dem sich als endlich und begrenzt erfahrenden Ich und dem sich als absolut wissenden Ich, so bindet hier sein Sehnen das erscheinende endliche Ich, das in Beängstigung hinlebt, unauslöschlich an das göttliche Sein und Leben. Die Differenz zwischen beiden Konzeptionen besteht darin, daß im frühern unendlichen Streben der autonome Wille es war, der selbstmächtige Entwürfe zur Realisierung brachte, während nun im Sehnen nach dem Absoluten das Ich auf ein grundsätzlich ihm Unverfügbares aus ist. Das endliche Ich wird nicht mehr bloß im Horizont des Absoluten gedacht, vielmehr wurzelt sein ganzes Dasein und Wesen in seinem ›Verhältnis‹ zum Unendlichen und Ewigen, wodurch allein es bewahrt wird vor einem Versinken in ›völliges Nichtsein‹ (SW V,407). Die im Religiösen gültig bleibende sittliche Einsicht in das unbedingte Sollen des Ich wird übertroffen durch dessen Innewerden, Bild des Absoluten zu sein. So gründet das endliche Ich prinzipiell im göttlichen Sein. Zwar nicht das Absolute an und für sich, wohl aber die Beziehung des Absoluten zum endlichen Ich enthüllt sich diesem vermittels des Innewerdens seines eigenen Bildseins. Wie bei Augustinus (Confessiones 7,11: »si non manebo in illo, nec in me potero«) wird bei Fichte auf der erfüllten Stufe religiöser Innerlichkeit Gott Aus Fichtes Konzeption folgt, daß zwar jedes Ich ewig ist, aber kaum in individueller Fortexistenz, wie Kant sie vor ihm und Kierkegaard sie nach ihm – in Einklang mit I.H.Fichte und Chr.H.Weisse – im Gedanken der ewigen Gültigkeit der einzelnen Persönlichkeit angenommen hat. Denn: »Etwas an sich«, so erklärt Fichte, ist das Ich »nur als Theil des Ganzen« (SW XI,71). Er lehrt die »Einheit des Seins« und bestreitet gegen Leibniz die Annahme einer »Vielheit des Seienden« (SW XI,399). Das Kantische intelligible Ich ist für Fichte nicht das individuelle, sondern ist »eigentlich das Eine«, die »Erscheinung Gottes« (SW XI,77). 59
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»begriffen als der Erklärungsgrund unserer selbst« (SW V,410), und zwar sowohl hinsichtlich unseres Daseins, daß wir nicht im ›Nichtsein‹ verblieben sind, als auch hinsichtlich unseres einzigartigen Soseins. Wenn ich nicht in Gott bleibe, darin ist Fichte mit Augustinus einstimmig, so werde ich aus mir selbst, das ist aus meinem wahren Zentrum, herausgeworfen. Stufenmäßig verteilt findet sich in der Anweisung sowohl eine ethischpraktisch gegründete metaphysische Einsicht, nämlich für die dritte und vierte Stufe, als auch, für die wissenschaftliche fünfte Stufe, eine reine Metaphysik. Denn der Sittliche gewinnt durch seine Selbstüberwindung eine Anschauung vom erscheinenden Gott als reiner Güte, und der Religiöse erringt durch sittlich-religiöse Selbstverleugnung eine Vorstellung von Gott, so daß er das »Heilige, Gute und Schöne« als Erscheinung Gottes kennt (SW V,470). Der Philosoph aber sucht im Begriff, also durch Spekulation, sich seines höchsten Inhalts, des Absoluten zu vergewissern, setzt jedoch, hierin scheiternd, sein Begreifenkönnen als unzulänglich ab und läßt sein denkendes Selbst verwandeln in Liebe zum Absoluten, die höher ist als alle zerspaltende Reflexion. Fichtes frühe Konzeption einer Geschichte des Selbstbewußtseins als Genesis der Freiheit des selbständigen Ich wandelt sich in der Anweisung zu einer gestuften Einkehr der Seele in sich, die im vertieften Erfassen ihrer selbst schließlich Gott als Grund auch ihrer selbst entdeckt. Die immanent verinnerlichende Bewegung der Einkehr des Sittlichen in sich selbst wird für den Religiösen die transzendierende Bewegung der Einkehrung und Selbstfindung in Gott. Nicht setzt das Ich schlechthin sich selbst und weiß sich als sich setzend, sondern es findet sich als von Gott gesetztes, dessen höchste Bestimmung dahin zielt, sein Gesetztsein als Bild Gottes anzuerkennen und als allein seliges Leben zu realisieren. Durch Fichtes neuen, vom Kantischen abweichenden Freiheitsbegriff60 läßt sich der Widerstreit göttlicher und menschlicher Freiheit mildern: Freiheit des endlichen Ich liegt in einer Partizipation an Gottes Freiheit. Wie für Luther dürfte für den späten Fichte die Autonomie des Gott Fernstehenden, der in eitlem Stolz seine Selbstmächtigkeit anbetet, Blendwerk sein (SW XI,46). Gott allein ist – und außer ihm nichts!61 Eindringlich fordert Fichte dazu auf: »Durchschaue, was dies Sterben In besonderer Nähe zu Kant hat er Freiheit 1792–1798 als spontanen Selbstanfang und sittlich rein sich bestimmende intelligible Kausalität gedeutet. 61 Der späte Fichte vertritt im Hinblick auf die Zentralstellung des Absoluten – vergleichbar darin mit Plotin oder mit Luther – eine paradigmatische Ontologie, der gemäß 60
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überlebet« – das »göttliche Leben«! So kommt für ihn alles darauf an, daß wir das Absolute in unserer persönlichen ›Ichform‹ verlebendigen (SW XI,358 f., 348).
d) Die Kantischen Postulate im Horizont göttlicher Liebe – Fichtes Sittenlehre von 1812 Die Dominanz der ›Liebe‹ bei dem späten Fichte verleiht sinngerecht der Selbst-Depotenzierung des Ichprinzips für Denken und Handeln Ausdruck. In der Anweisung zum seligen Leben integriert Fichte die dritte von fünf Stufen, das ist die höhere Sittlichkeit, in die vierte, die religiöse Stufe. Im System der Sittenlehre von 1812 vollzieht er – aus der Problemstellung der Ethik wohlmotiviert – die umgekehrte Bewegung, und zwar die Integration der religiösen in die sittliche Stufe der Weltansicht. Hierbei spricht er von ›religiöser Sittlichkeit‹ und, an Kants späte Religionsschrift anklingend, von ›sittlichem Glauben‹ (vgl. SW XI,36 f., 115 f.). Die in der Anweisung bedeutsame Johanneische Liebesethik findet, mit Bezug auf das Paulinische Hohelied auf die Liebe (1 Kor 13), einen Nachhall, insofern Fichte als entscheidenden Habitus des sittlichen Charakters dessen Liebe hervorhebt (SW XI, 94, 96 f.) In dieser späten Sittenlehre zeigt sich, inwiefern das ethische Bedeutungsspektrum für Fichtes sonderbar schroffes ›Sich-Vernichten‹-Sollen des Ich auf der Verbindungslinie zwischen der christlichen Metanoia und der Kantischen Revolution der Denkungsart verläuft. Es geht um die Umkehr der Gesinnung, um ein bereitwilliges Hingeben des ganzen Ich im sittlichen Entschluß (SW XI,88), worin, wie bei Kant, der Grund aller Maximenbildung im Ich erneuert und zum Wollen des Guten rein um seiner selbst willen verwandelt ist. alles Andere, außer dem höchsten Seienden (Sein), bloß in defizienter Weise existiert. Im Unterschied zu einer hiervon abzuhebenden universalistischen Ontologie, die – wie bei Kant – gleichmäßig für alles Seiende geltende oberste Bestimmungen aufsucht, zeigt solche paradigmatische Ontologie, welche ontologischen Bestimmungen in eminenter Bedeutung von einem exzellent Seienden, dem zuhöchst Seienden: Gott gelten, von anderem, defizienten Seienden aber nur indirekt, abgeleitet oder in reduzierter Weise. Bei Aristoteles und Hegel finden sich, in unterschiedlicher Kombination und Gewichtung, beide Grundtypen von Ontologie. Vgl. dazu Klaus Düsing: Ontologie bei Aristoteles und Hegel.
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Im System der Sittenlehre von 1812 findet sich eine weitere Fortführung der religiösen Stufe der Anweisung zum seligen Leben. Der Mensch, so heißt es in dieser Sittenlehre, könne rein von sich aus das Gute, Gott Wohlgefällige, ›nicht wollen‹, denn – so lautet die aufschreckende Begründung für das quasi eigene ›Prinzip der Unsittlichkeit‹, das an Kants Annahme eines Hangs zum Bösen gemahnt, – die ›selbständige Kraft‹ des Ich sei eigentlich nur die Kraft des ›Widerstandes‹, und zwar gegen Gott oder das Gute. In der frühen Sittenlehre von 1798 ist das Sich-Losreißen von der sinnlichen Welt und von der eigenen Trägheit Insignium des sittlichen Willens; nunmehr macht das von Gott Sich-›Losreißen‹ und »sich widerspenstig als ein Eigenes Hinsetzen des Ich« , um »Ruhm« für sich zu erringen, das sittliche Verderben aus. Wenn ein Mensch aber die »Macht« des göttlichen »Begriffs« als das »Leben eines Fremden und Andern« rein in sich walten läßt, so bleibt er kein in sich eingekrümmtes Wesen und kein nichtiges und ›leeres Bild‹ des Absoluten. Daß der Mensch, wie Fichte erklärt, durch sich selbst »Nichts thun« kann, gipfelt 1812 in einer Paraphrase aus Luthers Katechismus, »daß in uns als eigene Kraft gar nichts Gutes ist« (SW XI,45 f.). Mit seiner späten Wiederannäherung an Kant, insonderheit an dessen späte, die Erbsünde philosophisch deutende Religionsschrift, sucht Fichte in der Kennzeichnung des Unsittlichen als ›Sünde‹ strenger als Kant, der auch eine originäre Kraft zum Guten annimmt, Paulus und Luther zu folgen. Von sich her sei der Mensch deshalb ›Nichts‹, erklärt Fichte, weil seine Realität in der Erscheinung ›eitel‹ und lauter ›Sünde und Verderben‹ sei (Sittenlehre von 1812: SW XI,58). In beachtlicher Nähe zu Kants Postulat der Seelenunsterblichkeit formuliert Fichte 1812 die moralische »Notwendigkeit der Unsterblichkeit Jedes, der nur sittlich sich bildet« und der »ewig Gültiges«, einer »neuen Weltordnung« Gemäßes, aus sich entwickelt; solches künftig und ohne Aufhören fortdauernde Leben sei nur möglich durch bleibende ›Identität der Individuen‹ (SW XI,74). Was ein sittliches Ich in jedem Augenblick ist, so begründet Fichte das Unsterblichkeits-Postulat, hat nur ›Realität‹ im Bezug auf dessen ›unendliche Fortentwicklung‹. Der sittlich Handelnde muß sich »seiner Persönlichkeit ewiger Fortdauer« inne sein dürfen. Dem Gedanken schöpferischer Kausalität ist der Gedanke der Substantialität inhärent; theologisch gesprochen (1 Joh 2,17): Wer den reinen sittlichen Willen Gottes ausübt, der ›bleibt in Ewigkeit‹ (SW XI,55 f.). In wem aber das neue ewige Leben nicht ›zum Durchbruch‹ gelangt, der gar eine innere Erstorbenheit für das Gute in sich findet (so nimmt Fichte Kants Lehre vom Bösen mit Johanneischen Nebenklängen auf), dessen
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Leben ist schlechthin sterblich, todverfallen. Ob mit dem Nicht-in-sichFinden eines entschiedenen Willens zum Guten im Ich dessen endgültiges Verschwinden aus der Sphäre der Erscheinung einhergeht, läßt Fichte offen, behutsam sich für eine Allversöhnunglehre (a2pokata1stasiß pa1ntwn) aussprechend (SW XI,56–62). Theoretische Beweise für die Unsterblichkeit der Seele habe man vergebens gesucht, heißt es in Aufnahme der Kantischen Erkenntnisrestriktion. Doch könne jeder für seine eigene Person – offenbar durch intellektuelle Anschauung62 des intelligiblen Charakters, die Kant bestreitet – intuitiv wissen, wie es um ihn selbst und sein Seelenheil steht: »Sehe er hin, in sein Selbstbewußtsein«, ob er sich eines vorbehaltlosen Willens zu seiner Pflicht bewußt ist, oder nicht! Wer in ›Heiligung‹ seines Willens sich nach Unvergänglichkeit herzlich sehnt, dem gilt dies Sehnen zu Recht als ein ›Unterpfand‹ des Erhofften (SW XI,56). Für das Unsterblichkeits-Postulat teilt Fichte also mit Kant die Erkenntnisrestriktion für die theoretische Vernunft und unterstreicht durch das von ihm hervorgehobene Sehnen nach einem unverfälschten Sittlich-Gesinntsein das praktisch-sittliche Hoffen auf die von Gott zu schenkende Glückseligkeit. Für Kant bleibt dabei eine authentische Selbsterkenntnis –, die über eine Art Indizienbeweis anhand des sich reformierenden empirischen Charakters hinausführt, der Schema des intelligiblen ist, – problematisch. Selbsterforschung bleibt für Kant vom Stachel der Ungewißheit, ob ich die Revolution der Denkungsart wirklich oder nur scheinbar vollbracht habe, beunruhigt; deshalb kann für Kant – wenn es überhaupt möglich wäre – sittliche Selbstvergewisserung nie einen individuellen Beweisgrund für die persönliche Seelen-Unsterblichkeit erbringen. Mit ›Furcht und Zittern‹ dürfen wir hoffen selig zu werden (Paulus).
Das Ich ist wie in der frühen Lehre wesenhaft intellektuelle Selbstanschauung und sittlich-praktische Freiheit. Fichte definiert hier eindrücklich das Ich als die »freie Kraft«, der ein immerfort sie begleitendes »Auge«, nämlich nichtreflexiver wissender Selbstbezüglichkeit »eingesetzt« ist; solche »Identität des Schauens und Handelns«, ideales und reales Vermögen des Ich einigend, ist der »eigentliche Charakter« des Ich, seiner Freiheit und Geistigkeit (SW XI,17–20). – Vgl. dazu Tilliette: L’Intuition intellectuelle de Kant à Hegel. 62
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e) Über Fichtes neuplatonische, Spinozanische, Johanneische späte Metaphysik Die Seligkeitslehre in der Anweisung zum seligen Leben ist eine Wissenslehre, insofern das Leben im Geist als einer Lebendigkeit der Gedankenfülle liegt (SW V,410): »Wahrhaftig leben, heißt wahrhaftig denken und die Wahrheit erkennen.« Die Wahrheit des Unveränderlichen und Ewigen als Wahrheit der Metaphysik und Ontologie (SW V,416; SW XI,34 f.) kann für Fichte im Gedanken ›ergriffen‹ werden. Im klaren Begriff könne das göttliche Eine ›liebend umfaßt‹ werden (SW V,410 f.). Die Vereinigung des Ich mit Gott in einer Seligkeit des Denkens, die zurückweist auf Aristoteles’ Bestimmung der Theoria als in sich vollendeter, glückseliger Tätigkeit, stellt Fichte höher als »übersinnliche Entzückungen« im Medium des Gefühls (ebd.), dem keine substantielle Bestimmung des Ich zukommt. In solcher Gefühlskritik und der ihr korrelierenden Zentralstellung des Denkens ähnelt Fichtes religionsphilosophische Position derjenigen Hegels. – Anders als in Hegels Theorie der spekulativen Erkenntnis des Absoluten durch die konstruktive Macht des Begriffs wird für Fichte wie für Kant die intelligible Welt und ihr höchster Gegenstand, Gott, nicht in seinem Wesen durch Vernunft erkannt; Fichte geht über Kant hinaus, insofern er annimmt, Gott könne intuitiv vom Intellekt erfaßt werden. Das »absolut Wahre«, so erklärt Fichte, leuchtet, indem es gedacht wird, von sich her dem Denken ein und ergreift die Seele mit einer allen Zweifel überwindenden ›Evidenz‹ (SW V,438). In der Wissenschaftslehre von 1804 nämlich hat Fichte als Wurzel der theoretischen Vermögen des Ich die Intuition, es selbst als intuierend bestimmt, so daß er konsequenterweise von einer ›Intuition des Absoluten‹ spricht.63 Diese von Fichte geltend gemachte intuitive Erkenntnis metaphysischer Wahrheit wird von ihm – wiewohl auch nur in vereinzelten Aufschwüngen – gesteigert bis zur extremen Möglichkeit einer plötzlich und ohne unser Zutun wie ein Blitzschlag erfolgenden Einsicht. Die mystische Schau Gottes als Ergriffensein, ›Hingerissenwerden‹ über die Fassungskraft des eigenen Intellekts hinaus und ›Aufgehen‹ des Ich im reinen Licht64 charakterisiert Fichte zwar wohl in der Sprache der SW X,175; vgl. SW X,178 f., 276. – Diese Gottes-Intuition ähnelt Schellings intellektuellem Anschauen. 64 SW X,124, 148. – Das Überschreiten der eigenen Vernunft in der Ekstasis und Hinaufgerissenwerden in eine andere, höhere Weise des Sehens, bezeugt in der Geschichte 63
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Mystik; ihre prinzipielle Möglichkeit sucht er innerhalb seiner Konzeption zu lokalisieren. Zu den nach Fichte konstitutiven Grundannahmen einer vernünftigen, aber nicht wie bei Kant ausschließlich praktisch begründeten Glaubenslehre, gehören folgende Inhalte: »Gott allein ist, und außer ihm nichts« (SW V,470); Gott ist absolut »von sich, durch sich, in sich«, und über das Absolute als Absolutes kann durch unsere Denkform und Denkweise nur analogisch, »nur negativ« gesprochen werden (ebd.); das endliche Ich ist dazu bestimmt, Erscheinung oder Bild Gottes in der Welt zu sein; das im Grunde »absolut in sich selber seiende Sein« (SW V,442), Gottes Wesen erschließt sich dem Menschen, dessen Sehnen in ihn ganz durchdringender Liebe zum Ewigen zur Ruhe gelangt. Fichtes subjektive lebendige Religion kulminiert darin, daß der Mensch in einer visio intellectiva »Gott unmittelbar anschaue, habe und besitze« (SW V,418). – In seiner Charakteristik der Aktqualität religiöser Einsicht und Gewißheit verschmilzt Fichte Momente des Platonischen e2njousiasmo1ß mit dem christlichen testimonium internum: Das ›innere Sein‹ Gottes kann in der religiösen Sphäre nicht durch Überlieferung und Unterweisung an den Menschen herangetragen werden; authentisch ›erfaßt und erlebt‹ werden kann es vielmehr nur durch ureigene religiöse Erhebung des Menschen zu Gott; der ›von Gott Begeisterte‹ ist es, der Erkenntnis der geistigen Welt gewinnt; ohne eigene ›innere Offenbarung‹ jedoch kann niemand überhaupt darüber sprechen (SW V,525). Gott erschließt sich dem in der mystischen Schau und Einigung ›mit unaussprechlicher Liebe‹ Ergriffenen (SW V,532).65 neuplatonischer Mystik exemplarisch Plotin, den Augustinus aufnahm (vgl. Plotin: Enneade VI 9,7–11). Zum Hingerissenwerden des Ich in der unio mystica, die über die Kraft des Geistes hinausführt, vgl. auch Augustinus, Confessiones 7,23: »non stabam frui deo meo, sed rapiebar ad te decore tuo«; »inveneram incommutabilem et veram veritatis aeternitatem supra mentem meam commutabilem«. Weiterhin 10,11 (vgl. 10,23): »transibo vim meam«. 65 Daß Fichte an die Tradition religiöser Mystik anknüpft, wird in der Fichte-Forschung durchweg bejaht. Hirsch (Fichtes Religionsphilosophie, 48,119 f.,127 ff.; vgl. Fichte SW V,473 f.) grenzt Fichtes Mystik-Tendenz gegen jede ›schwärmerische‹, in unaussprechlichen Erlebnissen schwelgende Mystik ab und gegen eine rein ›kontemplative‹, bei der der Mensch in andächtiger Betrachtung über seinem eigenen Nichtssein passiv in die Gottheit versinkt. Dagegen intendiere Fichte das Bewußtsein der ›Gottesnähe‹ oder der ›Einheit mit Gott‹ als solches, wodurch ein tätiges sittliches Leben begleitet wird. – Stellt man, wie von Harnack, eine intellektualistische einer willensbetonten Bernhardisch-Scotistischen Richtung innerhalb der Geschichte der Mystik gegenüber
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Der Realitätsgehalt solcher religiösen Vereinigung der Seele mit Gott steht für Fichte aber unter dem kritischen Vorbehalt der in der Wissenschaftslehre von 1804 getroffenen Unterscheidung in Wahrheits- und Erscheinungslehre. An sich bleibt das göttliche Eine in Wahrheit – das macht Fichtes negative Theologie aus, der gemäß, wie bei Kant, die theoretische Philosophie nichts zum Erkennen Gottes beiträgt – in sich verschlossen und tritt nur gemäß der Erscheinungslehre aus sich heraus, das macht Fichtes sittlich-religiös fundierte positive Theologie aus, die im Unterschied zu Kants praktischer Metaphysik bis hin zum Anspruch mystischer Erfahrung des Einswerdens des Ich mit Gott hinführt. In der beseligenden Einigungserfahrung mit Gott, dem wir »uns hingeben, und anschmiegen, in inniger Liebe«,66 hebt Fichte zum einen das wirkliche religiöse Erfassen des Einen und Ewigen hervor, ja sogar – Augustinisch – die fruitio Dei, zum andern aber macht er deutlich, daß die Erfassung des Einen – und dies gilt für ihn ebenso für den Gipfelpunkt der unio mystica – lediglich eine Vorstellung des Seins67 gemäß der unaufhebbaren ›Grundform‹ des Selbstbewußtseins sei und daß das Ich ›in der Wirklichkeit‹ keineswegs zu dem Einen werden oder in dasselbe sich verwandeln könne bzw. Gott keineswegs »unser eigenstes Sein selber« werden könne; er schwebe uns nämlich vor »als ein fremdes« und ohne begrifflich bestimmbare Gestalt und Gehalt, nur als Prinzip, durch das »wir uns, und unsre Welt, denken, und verstehen«.68 In der religiösen Position wird der wirklich erfolgende Übergang vom in sich verborgenen deus absconditus zum erscheinenddaseienden Gott angenommen, ohne daß dessen Erscheinungscharakter als solcher thematisiert würde; entsprechendes gilt für die religiöse Erfahrung der unio mystica. Die weiter unten erörterte Willenseinigung und Wesens(Lehrbuch der Dogmengeschichte 3, 435– 447), so sucht Fichte sehr wohl mit dem ethisch-praktischen Moment das intellektuelle zu vereinen. 66 SW V,461. Hier klingt das neuplatonische Berühren des Einen in der evnwsiß an. – Vgl. Beierwaltes: Denken des Einen, 123–154. 67 Vgl. SW V,440ff, 461. – Im Vergleich mit Hegels Theorie religiöser Vorstellung kommt der religiösen Einsicht in Fichtes Konzeption offenbar eine geringere ErkenntnisKompetenz zu, da sie – sogar auf ihrer höchsten Intensitätsstufe – bloß die ontologisch nachgeordnete Erscheinung zu erreichen vermag. In Fichtes Begriff der Erscheinung, der wohl am ehesten Leibniz’ Konzeption des phaenomenon bene fundatum nahekommt, schwingt auch der religiöse Sinn der Epiphanie im Hintergrund mit. 68 SW V,461, 447. – Ausschließlich im »absoluten Wissen« – wie Fichte es in seinen Wissenschaftslehren von 1801 und 1804 nennt – »erscheint« das in sich verborgene göttliche Wesen, ohne seinen »Charakter der Absolutheit« zu verlieren (SW V,444).
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verwandlung des menschlichen in ein göttlich-vollkommenes Leben hat offenbar einen vorzüglich ethischen und religiösen Sinn. Das »Absolute als Absolutes« aber tritt allein im reinen Denken hervor (SW V,452), das – wie in Kants negativer Theologie – keine objektive Erkenntnis weder von Gottes Wesen noch von Gottes Dasein einschließt. Die wissenschaftlich-philosophische Stufe führt bei dem späten Fichte über die religiöse Stufe hinaus, insofern das Verhältnis des endlichen Ich zu Gott nicht nur faktisch erfahren, sondern im Denken ergriffen wird. Insofern ist auch die wissenschaftliche Stufe Religion, aber nicht einfach des Erlebens und Vorstellens, sondern des reinen Denkens, also philosophische Religion. Dies Denken aber ist ein Vernehmen und Empfangen; es wird analog der griechischen Noesis des Nous verstanden, dem die Ideen als ewige schon vorgegeben sind und die nicht von ihm – wie in der neuzeitlichen Subjektivitätstheorie im transzendentalen Modell Kants und im dialektischen Hegels – spontan hervorgebracht werden. Des späten Fichte philosophische Religion ist weder Vernunftreligion im Sinne Lessings oder Kants, der die Frage nach Dasein und Wesen Gottes in den Rahmen einer Ethikotheologie einzeichnet, noch die christliche Offenbarungsreligion wie bei dem späten Schelling oder bei Kierkegaard. Denn für Fichte ist der Gedanke des Erscheinens Gottes an kein geschichtliches Faktum einer bestimmten Offenbarung gebunden. In seiner philosophischen Gotteslehre verbindet Fichte Johanneische mit neuplatonischen69 und Spinozanischen Gedankenmotiven. Auf dem Höhepunkt der Gedankenentwicklung der Anweisung, in der Fichte wie in einer dialectica ascendens schließlich die Letztfundierung seiner Konzeption freilegt, erklärt er, den ›Grundstoff‹ für die Gestaltwerdung und Wesensform der Welt bilde die ›absolute Liebe‹ als ›Schöpferin des Lebens und der Zeit‹. In dem Gedanken der unbedingten Liebe als des tragenden Urgrundes aller Realität klingt der Johanneische Sinn der sich verschenkenden Agape hervor. In dieser alles Lebendige ins Dasein rufenden und es allezeit umfassenden göttlichen Liebe gelingt die Vereinigung des Menschen mit Gott, die Fichte als unio mystica intendiert (vgl. SW V,540 ff.). In Aufnahme von Spinozas Amor Dei intellectualis70 präzisiert Fichte die Idee der Wechselliebe dahingehend, Eine Affinität des späten Fichtes zu Plotin zeigt Baumgartner: Die Bestimmung des Absoluten. Vgl. weiterhin auch Schrimpf: Des Menschen Seligkeit. 70 Zum Gedanken der unendlichen geistigen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt, den Spinoza von Leone Ebreo aufnimmt, vgl. Gebhardt: Spinoza und der Platonismus. 69
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daß das Bewegtsein des Menschen durch Liebe zu Gott in Wahrheit nichts anderes als Gottes eigene Selbstliebe sei,71 an deren Rückbezüglichkeit auf sich der Mensch teilgewinnt. Es erhebt sich die Frage, ob nicht die Johanneische Sinnrichtung der Liebe gebrochen wird durch die Spinoza-Anleihe. Es widerstreitet nämlich der Gedanke einer gewissermaßen egozentrischen Liebe einer hingebungsvoll sich verströmenden Liebe. Deutlich unterscheidet sich die platonische und Spinozanische Gotteslehre von der christlichen dadurch, daß zwar in ihnen allen Gott von der menschlichen Seele sehnend-liebend gesucht wird, aber nur in christlicher Sicht der Mensch Adressat der ihn suchenden Liebe und Fürsorge Gottes ist.72 Die Reflexion aber »entfremdet« (SW V,543) den Menschen dem ihm gemäßen Leben in und aus Gott. Insofern die Erkenntnisweise der Reflexion – in ihrer Eigendynamik – ein Fremdwerden gegenüber dem Leben aus Gott nach sich zieht, also eine substantielle Gefährdung der religiösen Daseinsstufe darstellt, Reflexion aber das höchstrangige Niveau methodenbewußter Erkenntnis des Ich ausmacht, erscheint es konsequent, daß Fichte die philosophisch-wissenschaftliche Überschreitung und zugleich Bewahrung der religiösen Weltansicht als das Vollziehen und das wieder Außer-GeltungSetzen der Reflexion bestimmt. Das Problem des Verhältnisses von Liebe und Reflexion, beider Prioritätsstreit allerdings muß vor dem Forum der Vernunft geklärt und geschlichtet werden. Auf Grund transzendental-kritischer Besinnung auf die Kompetenzgrenzen der Ratio gelangt Fichte zu seiner These der Unbegreiflichkeit des Absoluten. Vermöge des vom Ich sich selbst auferlegten Verzichtes entledigt das Ich sich der ihm eigenen Begriffsform, anerkennt seine Endlichkeit im korrelativen Gegenüber zur Unendlichkeit Gottes73 Vgl. Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Teil V, Lehrsatz 36. 72 Siehe dazu die ideengeschichtlich pointierte Darlegung eines Unterschieds zwischen dem antiken und christlichen Liebesverständnis von Nygren: Eros und Agape. Gestaltwandlungen der christlichen Liebe. 73 Bemerkenswerte Ähnlichkeit zeigt diese Fichtesche Argumentationsfigur zu Descartes’ egologischem Gottesbeweis in der dritten Meditation, der u. a. im Bewußtsein der Korrelativität von Unendlichem und Endlichem verankert ist, ja im Wissen, daß der Begriff Gottes als unendlicher Substanz aufgrund seines höheren Realitätsgehaltes dem Begriff des endlichen Ich von sich vorausgeht (priorem esse); vgl. Descartes: Meditationes de prima philosophia, Meditatio III. Bei Fichte siehe SW V,439– 442: Die Selbsterfassung des Ich als eines endlichen Seins führt dieses konsequent zur Gegenüber-Setzung des absoluten Seins, dessen derivatives Dasein es selbst sei. 71
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und wird bereit zum Überstieg über sich und zur Erlangung von höherer, übervernünftiger Einsicht in das Sein des Absoluten. In Analogie zur Selbstentmachtung der Autonomie des praktischen Ich auf der Stufe der höheren Sittlichkeit entmachtet sich auf der Stufe des philosophischen Wissens der Geltungsanspruch der Reflexion des theoretischen Ich, und dies gelingt durch geistige Liebe als grenzüberschreitender, Erkenntnis aufschließender Kraft. Fichte nimmt einen engen Zusammenhang von Reflexions-Selbstaufhebung und Evidenz des Absoluten an, der über Kants Erkenntnisrestriktion hinausgeht und dabei die strenge negative Theologie Kants verläßt. Entscheidend für das lückenlose Gelingen des Argumentationsganges Fichtes ist die Bewährung seiner These,74 daß die Selbstbegrenzung des philosophischen Standpunktes der Reflexion für das endliche Ich zugleich eine Selbstüberschreitung in Richtung auf das Einleuchten des transzendenten Einen bzw. des göttlichen Absoluten impliziert. Diese These charakterisiert den höchsten Gesichtspunkt von Fichtes später Ontologie und Metaphysik und trifft den Kern von dem, was er »wahre Spekulation« nennt (SW V,542). Die wahre Spekulation gründet für Fichte in der Einsicht – die den Rangstreit zwischen Reflexion und Liebe entscheidet –, daß die uns über alles erkennbare und ›bestimmte Dasein‹, ja über »die ganze Welt der absoluten Reflexion« hinausführende Liebe weiter reicht als die Vernunft und daß deshalb der sich selbst bis zu letztmöglicher Klarheit durchdringende Begriff sowohl limitierend auf die »reine Negation aller Begreiflichkeit« als auch positiv eröffnend auf das Innewerden »ewiger Geliebtheit« hinführt (SW V,540). Über allen Zweifel innerhalb der Bewegung der Reflexion, die sich in sich selbst ›spaltet‹ und sich so mit sich selbst ›entzweit‹ und die »ins Unendliche fort von Reflexion auf Reflexion reflektiert« (SW V,456), also ein von Widerspruch und Realitätslosigkeit bedrohtes Ich repräsentiert, sei solche vernunftüberlegene Liebe erhaben. Wie bei Augustinus sucht die Liebe für Fichte das Unbedingte, Gott oder das ›reale Absolute‹, führt dabei über alle Weltentwürfe menschlich-endlicher Reflexion hinaus und führt hin zu dem jener Entfliehenden. Liebe dehnt die Reflexion aus – statt sich reflektierend im unendlichen Progreß leer bleibender Unendlichkeit zu verlieren – zu einer »lebendigen Ewigkeit« (SW V,541), die den lebendigen Gott bekundet. Vgl. Gloy: Der Streit um den Zugang zum Absoluten. Fichtes indirekte HegelKritik. Gloy hat zu Recht Fichtes These zum Verhältnis von Reflexionsaufhebung und Intuition des Absoluten als schwieriges Problem hervorgehoben. 74
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Insofern Fichte eine Rückverwandlung der Reflexion in dasjenige, dessen Vereinseitigung sie selbst nur ist, postuliert, nimmt er, wie man eruieren kann, offenbar eine Letztfundierung der Reflexion in der Liebe an. Um die letztgültige Selbstdurchklärung bzw. den Selbstüberstieg der Reflexion zu charakterisieren, verwendet Fichte Ausdrücke wie die, daß die Reflexion ›bis zu Ende‹75 getrieben werden müsse, daß sie sich selbst vernichte oder aber daß sie selbst zu göttlicher Liebe ›wird‹,76 nämlich vermöge ihrer sie verwandelnden Selbstaufhebung. So wandelt sich die über sich selbst vollständig klar werdende philosophische Reflexion in über sie hinausführende ›Liebe des Absoluten‹ als Fundament wahrer philosophischer Wissenschaft (SW V,542). Die Transzendenz des in der Liebe Berührten deutet Fichte in der Formulierung an, daß solche Liebe ›schlechthin‹ hinausliege über alle Reflexion (ebd.) und vom Begriff ›nur negativ‹ ausgedrückt werden könne (SW V,549). Im Scheitern der Reflexionsbemühungen trotz ihrer methodischen Sorgfalt wird positiv die Erhabenheit ihres eigenen höchsten und von ihr selbst nicht mehr aussagbaren Gedankens verstanden. So entwickelt Fichte einen eigenen Ansatz einer tendenziell neuplatonischen, wegen ihrer christlichen Nebenklänge an Augustinus gemahnenden spekulativen Religionsphilosophie der Liebe als Vereinigung des endlichen Ich mit Gott, und zwar durch reines Denken und intellektuelles Anschauen – zugleich auf der Kant nahen ethisch-praktischen Grundlage einer Stufenfolge sittlich-religiöser Gewissensentscheidungen, die jeder Mensch eigenverantwortlich treffen muß, der die Grenzen der Vernunft oder das Sehnen nach Vereinigung mit dem Ewigen oder beides zugleich erleidet. Eine »in sich zu Ende gekommene« Philosophie geht für Fichte aus vom Einen reinen göttlichen Sein und Leben. Und Jesus gilt Fichte in seinem letzten Schaffensjahr als maßgebender Wendepunkt und die ›Hauptperson‹ der Weltgeschichte (Staatslehre von 1813). Kants sittlich einzigartiger ›Lehrer des Evangelii‹ ist bei Fichte, mit Bezug auf die Paulinische Kenosislehre (Philipperbrief), vollkommnes Urbild einer Liebesethik, deren Kardinaltugend die freie Selbstentäußerung des Ich darstellt. Wie bei Augustin gewinnt Wissenschaftslehre von 1812: SW II,326. Vgl. SW V,542. Schrimpf (Des Menschen Seligkeit, 450 f.) deutet dieses ›Werden‹ so, daß aus spekulativer Vernunft praktische Vernunft »wird«; dies trifft wohl zu für die ethisch-praktische Dimension der Liebe, nicht aber für die durchaus von Fichte intendierte spekulativ-intellektuelle Bedeutungsdimension, der gemäß solche Liebe Quelle wissenschaftlicher, des näheren metaphysischer Wahrheit ist (vgl. SW V,541 f.). 75 76
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Liebe für Fichte, über die engere ethische Bedeutung hinaus, ontologische, ja erkenntnistheoretische Relevanz. Religiös läßt sich Fichtes grundstürzender Weltansichten-Wandel von der Autonomie zur Theonomie durch das Wort Jesu illustrieren: Als du jung warest, gürtetest du dich selbst und »wandeltest, wohin du wolltest«, später aber wird ein Anderer dich »führen, wohin du nicht willst« (Joh 21, 18). So hat Fichte die Erkenntnisrestriktion christlich-neuplatonisch überstiegen, wohingegen Kant seinen Ansatz negativer Theologie in aller Strenge festhält, ja in der dritten Kritik im Vergleich zur ersten noch verschärft und so das Geheimnis der Erhabenheit Gottes über alles menschliche Begreifen völlig gewahrt hat.
Das Verhältnis von Glauben und Wissen bei Kant und Hegel von Robert Jan Berg
Der junge Hegel versucht in seiner im Jahre 1802 publizierten Schrift Glauben und Wissen zu zeigen, daß die Frage nach dem Verhältnis von Wissen bzw. Philosophie auf der einen und Glauben bzw. Religion auf der anderen Seite dann falsch gestellt wird, wenn man sie als eine Alternative im Sinne des Entweder-Oder formuliert. Die wahre Bestimmung dieses Verhältnisses laufe vielmehr auf ein dialektisch vermitteltes Sowohl-als-Auch hinaus. Im Rahmen von Untersuchungen zu Kants Metaphysik und Religionsphilosophie verdient diese Schrift Hegels insofern Aufmerksamkeit, als Hegel in ihr dem fachphilosophischen Publikum erstmals seine Kritik an der Position Kants präsentiert. Dem Titel der Abhandlung ist bereits zu entnehmen, daß aus der Sicht Hegels die Transzendentalphilosophie Kants in der religionsphilosophischen Frage nach der kritischen – und damit auch wahren – Abgrenzung des philosophischen Wissens vom religiösen Glauben kulminiert. Der Verdacht liegt nahe, in dieser Hegelschen Perspektive auf Kants Werk eine einseitige Verengung des Interesses festzustellen, die engstens mit der Ausbildung des jungen Hegel zusammenhängt. Schließlich hat Hegel am Tübinger Stift neben der Philosophie auch Theologie studiert – und vor diesem Hintergrund könnte man fragen, ob seine Zugangsweise zu Kants Werk nicht eine genuin theologische ist, die die originär philosophischen Intentionen des Kantischen Werkes immer schon verfehlt. Dem ist jedoch zunächst entgegen zu halten, daß Hegel bereits nach seinem theologischen Examen 1793 von sich sagt, er sei zwar ausgebildeter Theologe, sein Ziel sei aber die Verbindung der Theologie mit der Philosophie. Darüber hinaus lassen sich jedoch auch gewichtigere sachimmanente Gründe für die religionsphilosophische Perspektive Hegels auf Kants Werk anführen: Ausgehend von den drei berühmten Fragen Kants1 läßt sich sein 1
KrV A 804 f./B 833 f.: »Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als
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transzendentalphilosophisches Unternehmen so strukturieren, daß die philosophische Rechtfertigung des Glaubens als das leitende Ziel seines Denkens erscheint: Auf die Frage »Was kann ich wissen?« antwortet Kant in der theoretischen Philosophie mit einer prinzipiellen Limitierung des wissenschaftlichen und philosophischen Wissens, um die theoretische Möglichkeit des Glaubens zu eröffnen. Die Frage »Was soll ich thun?« findet ihre Antwort in der praktischen Philosophie Kants, die allerdings keine reine Moralphilosophie bleibt, sondern gleichzeitig religionsphilosophische Implikate enthält, die das moralphilosophische Fundament des Glaubens begründen. Auf diesem moralphilosophischen Fundament stehend kann Kant in seiner Religionsphilosophie auf die dritte Frage »Was darf ich hoffen?« mit der Verhältnisbestimmung der transzendentalphilosophisch aufgeklärten Vernunft zum christlichen Glauben antworten. Folgt man dieser Lesart, so erscheint die religionsphilosophisch akzentuierte Perspektive des frühen Hegel alles andere als gezwungen und abwegig, da so tatsächlich die Religionsphilosophie den eigentlichen Gipfel des Kantischen Denkens bildet. Die Frage nach dem wahren Verhältnis von Wissen und Glauben durchzieht wie ein Leitmotiv die gesamte kritische Philosophie Kants, und zwar mit der Absicht, einen moralphilosophisch fundierten christlichen Glauben zu rechtfertigen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung folgen auch wir in unseren Ausführungen der Perspektive Hegels und fragen vergleichend nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen bei Kant und beim frühen Hegel. Diese Frageintention wird zusätzlich durch einen kurzen Blick auf das spätere System Hegels legitimiert, da auch hier die gleiche religionsphilosophische Frage, noch unverhüllter als bei Kant, ins Zentrum des Philosophierens rückt. Philosophie kulminiert auch für Hegel in der wahren Bestimmung des Verhältnisses von philosophischer Vernunft und religiösem Glauben. Beide, Philosophie und Religion, haben nur einen Inhalt: In der Sprache der ersteren heißt dieser Inhalt das Absolute, in der Sprache der letzteren Gott. Aber beide entfalten diesen gemeinsamen Inhalt in einer jeweils verschiedenen Form: die Religion in der Form der Vorstellung und die Philosophie in der Form des Begriffes. Da Hegel in seiner gesamten Philosophie nur über das Absolute bzw. Gott als den einen einzigen Inhalt nachdenkt, ist es sinnvoll, bei Hegel im Terminus Religionsphilosophie zwei Bedeutungsebenen zu das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich thun? 3. Was darf ich hoffen?«
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unterscheiden: In einem weiteren Sinn stellt seine gesamte System-Triade eine Religionsphilosophie dar: Im ersten Systemteil – der Logik – werden die reinen Bestimmungen des Absoluten dialektisch entwickelt; in der Sprache der Religion enthält die Logik die Gedanken Gottes vor der Schöpfung. Die beiden realphilosophischen Systemteile – nämlich die Philosophie der Natur und diejenige des Geistes, explizieren die gestufte Manifestation der reinen Bestimmungen des Absoluten in der natürlichen und menschlich-geschichtlichen Welt. Wiederum könnte man hier in religiöser Rede vom Gang Gottes durch seine Schöpfung sprechen. Die weltimmanente Manifestation des Absoluten ist für Hegel ein notwendiger und teleologisch gerichteter Prozeß, der in der durch den Menschen vermittelten Selbsterkenntnis des Absoluten sein abschließendes Ziel findet. Diese Selbsterkenntnis verwirklicht sich auf der Stufe des absoluten Geistes – also in der Kunst, der Religion und der Philosophie. In diesem Sinne trifft der Begriff der Religionsphilosophie auf Hegels gesamtes Denken zu, da die triadische Entfaltung seines Systems nichts anderes als den Versuch darstellt, die religiösen Inhalte Gott, Schöpfung und Versöhnung begriffsphilosophisch zu transformieren. Von diesem weiteren Begriff muß ein engerer Begriff von Religionsphilosophie bei Hegel abgegrenzt werden: Die Philosophie der Religion ist neben der Philosophie der Kunst und derjenigen der Philosophiegeschichte ein Teil des gesamten Systems; präziser ausgedrückt gehört sie als zweite Stufe zur abschließenden Sphäre der Geistphilosophie, dem absoluten Geist. Auch Hegel geht es hier um eine – wenn auch nicht mehr wie bei Kant moralphilosophisch fundierte – Rechtfertigung des christlichen Glaubens. Diese einleitenden Bemerkungen stützen die Annahme, daß die religionsphilosophische Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Glauben nicht von außen an das Denken Kants und Hegels herangetragen wird, sondern auf ein wesentliches Theoriestück in beiden philosophischen Konzeptionen verweist, da sowohl Kant als auch Hegel um eine Antwort auf diese Frage ringen, die eine philosophische Legitimation des christlichen Glaubens zum Ziel hat. Trotz dieses gemeinsamen Fragenhorizontes weichen ihre Antwortversuche an zahlreichen Stellen voneinander ab. Im folgenden kann selbstredend nicht die Fülle der religionsphilosophischen Differenzen zwischen Kant und Hegel exponiert werden; ungleich bescheidener soll hier die Kant-Kritik des Jenaer Hegel in ihren Grundzügen skizziert werden, um anschließend nach dem systematischen Rahmen dieser kritischen Distanzierung Hegels zu fragen. Unsere weiteren Ausführungen gliedern sich in drei Abschnitte: Im ersten
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Abschnitt werden die beiden Fragen formuliert, die unsere Darstellung leiten; im zweiten Abschnitt soll das Verhältnis von Glauben und Wissen bei Kant umrissen werden, auf dieser Grundlage wenden wir uns dann im dritten Teil Hegels Jenaer Abhandlung Glauben und Wissen zu.
1. Zwei systematische Ausgangsfragen: Religion – Wissenschaft – Philosophie Die religionsphilosophischen Gedanken Kants und Hegels entstehen in einer philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Situation, in der die christliche Religion ihren selbstverständlichen Anspruch auf Wahrheit bereits verloren hat. Es ist nur dann sinnvoll, an eine Religion zu glauben, wenn davon ausgegangen werden kann, daß das in einer Religion Geglaubte etwas Wahres über die Wirklichkeit aussagt. Im 18. Jahrhundert – dem Jahrhundert der Aufklärung – 2 wird aber gerade dieser Wahrheitsanspruch der christlichen Religion zweifelhaft, da das Erklärungsmodell der empirischen Naturwissenschaft mit dem Anspruch auftritt, den alleinigen Zugang zur Wirklichkeit zu besitzen. Die empirische Naturwissenschaft verdankt ihren Erfolg einem Wirklichkeitsverständnis, in dem die sinnlich wahrnehmbaren Phänomene vermittelt durch einen experimentellen Zugriff auf quantifizierbare Gesetze und Regeln zurückgeführt werden. Zu diesem Gesetzescharakter der neuzeitlichen Naturwissenschaft kommt ihr systematischer Theoriecharakter hinzu, d. h. die erfolgreiche Zusammenfassung von Gesetzen und Regeln zu übergeordneten Gesetzesgruppen, die untereinander in einem logisch-deduktiven Zusammenhang stehen. Neben diesem rationalen Moment ist aber das empirische Moment ausschlaggebend, denn die aus Gesetzen bestehenden naturwissenschaftlichen Theorien können prinzipiell jederzeit an der erfahrbaren Wirklichkeit überprüft werden. Der zentrale Gedanke des naturwissenschaftlichen Erklärungsmodells liegt also in der Subsumierbarkeit empirischer, singulärer Tatsachen unter allgemeine Gesetze, die in quantitativ-mathematischen Formeln artikuliert werden können. Ein weiteres Moment, das die erfolgreiche Subsumierbarkeit empirischer Tatsachen unter mathematisch faßbaren allgemeinen Gesetzen garantiert, ist die Annahme, daß die prozessualen EreignisVgl. hierzu Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus; Schneiders: Das Zeitalter der Aufklärung. 2
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folgen in der Welt im Sinne des Kausalitätsprinzips formuliert werden. Im Gegensatz zum Aristotelischen Erklärungsmodell verzichtet die neuzeitliche Naturwissenschaft auf ein teleologisches Verständnis der Naturprozesse. Dank des Kausalitätsprinzips erübrigt sich eine Fragestellung, die auf eine sinnvolle Zielgerichtetheit der Naturvorgänge abhebt. Alle Prozesse in der Welt können prinzipiell sinnfrei – analog zu einer mechanisch funktionierenden Maschine – durch in sich geschlossene Ursache-Wirkung-Relationen erklärt werden. Angesichts dieses naturwissenschaftlichen Welterklärungsmodells verliert die christliche Religion im Verlauf der Neuzeit zunehmend an selbstverständlicher Überzeugungskraft. Der Glaube an Wunder und göttliches Eingreifen – man denke nur an Glaubensinhalte wie die Jungfrauengeburt oder die Auferstehung – wird zumindest problematisch. Aber auch die christlichreligiöse Selbstinterpretation des Menschen wird durch die zunehmenden Erklärungserfolge der naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung herausgefordert. Müssen nicht notwendig hamartologische und soteriologische Begriffe ihren Sinn verlieren, wenn die Welt ein in sich geschlossener und kausal-determinierter Mechanismus ist? Die unbezweifelbare Größe Kants liegt nach unserem Dafürhalten in der umfassenden metatheoretischen Reflexion seiner Transzendentalphilosophie. Denn Kant verfällt weder einem unkritischen Szientizismus, der die naturwissenschaftliche Wirklichkeitsauffassung zu einem konkurrenzlosen und exklusiven Erklärungsmodell erhebt, noch flüchtet er sich in einen ebenso unkritischen Fideismus, der sich in einem rational nicht legitimierbaren und dadurch kommunikationslosen Glauben einschließt. In seiner theoretischen Philosophie bemüht sich Kant in einer reflexiven Wendung um den Nachweis, daß die zentralen Basisannahmen der empirischen Naturwissenschaft wie die Subsumierbarkeit der singulären Einzeltatsachen unter allgemeine Gesetze oder das Kausalitätsprinzip ihrerseits nicht mit den methodischen Mitteln der empirischen Naturwissenschaften expliziert werden können. Diese metatheoretische Reflexion generiert zunächst die Einsicht in die apriorischen Grundlagen aller empirischen Erklärung, sodann legt sie aber auch einen Fragebereich frei – nämlich denjenigen des moralisch qualifizierbaren Willens –, der prinzipiell nicht durch das naturwissenschaftliche Wirklichkeitsverständnis erfaßt werden kann. Auf dem Boden dieser reflexiven und metatheoretischen Besinnung kann nach Kant auch die Frage nach der Legitimität der christlichen Religion
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erneut formuliert werden. Vereinfacht und ein wenig plakativ läßt sich sagen, daß in der Transzendentalphilosophie Kants das Konkurrenzverhältnis zwischen der neuzeitlichen Naturwissenschaft und der christlichen Religion durch ein Verhältnis der Tolerierung und darüber hinausgehend der Koordinierung der Wirklichkeitszugänge der Naturwissenschaft, der Moral und der Religion abgelöst wird. Oder anders formuliert: Ein reduktionistisches und monodimensionales Wirklichkeitsverständnis weicht einem komplexen und polydimensionalen Wirklichkeitsverständnis. In dieser Hinsicht folgt auch der frühe Hegel Kant, er bleibt also insofern Kantianer, als auch er an dem Problembewußtsein der reflexiven und metatheoretischen Wende der Transzendentalphilosophie festhält und dem komplexen und polydimensionalen Wirklichkeitsverständnis folgt. Hegel weicht jedoch in der systematischen Begründung dieser Einsichten von der Theorieform, die Kant der Transzendentalphilosophie verliehen hat, an signifikanten Stellen ab. Um die Differenzen zwischen Kant und dem Jenaer Hegel im Einzelnen zu rekonstruieren, folgen wir zwei Fragen, die unsere Textlektüre leiten sollen: 1. Wie legitimieren Kant und Hegel das Deutungsmuster der Religion angesichts der Rationalität der neuzeitlichen Naturwissenschaft? und 2. Wie bestimmen beide das Verhältnis der philosophischen Rationalität zum Wirklichkeitsverständnis der positiven Offenbarungsreligion?
2. Kant: Der Weg zum Glauben durch das Wissen In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schlägt Kant, der nun selbst – wie Hermann Cohen in seinem Kommentar beobachtet – 3 zum Leser seines eigenen Werkes geworden ist, dem Leser eine produktive Leseweise vor, indem er hervorhebt, daß seine theoretische Philosophie entgegen den ersten Reaktionen die Metaphysik nicht zu destruieren versuche, sondern vielmehr das Unbedingte widerspruchsfrei zu denken ermögliche und darüber hinaus auch die Möglichkeit von Moral erweise. Kant denkt hier zweifelsohne an die prominente Kritik Moses Mendelssohns, der in der Kritik der reinen Vernunft nichts anderes als eine Destruktion der traditioCohen: Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, 2: »In der 1. Vorrede hat der Autor als Autor gesprochen; in dieser [der 2. Vorrede, Erg. v. Vf.] wird er selbst wieder zum Leser.« 3
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nellen Metaphysik sehen konnte, da Kant jede theoretische Erkenntnis des Unbedingten ausschließt. Dem hält Kant jedoch entgegen, daß die Restriktion aller theoretischen Erkenntnis auf das Feld möglicher Erfahrung nur dem Anschein nach ein nachteiliges Resultat für die Metaphysik gezeitigt habe.4 Das scheinbar negative Resultat des Antinomienkapitels in der Transzendentalen Dialektik, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne, verwandele sich nämlich in ein positives Resultat, wenn man die vorgeschlagene Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich akzeptiere. Denn die Einschränkung der theoretischen Erkenntnis auf das Gebiet der Erscheinungen lasse den Bereich der Dinge an sich offen, der seinerseits durch die praktische Philosophie ausgefüllt werden könne.5 Wird bei Kant die Kompetenz der theoretischen Philosophie vor allem auf die Explikation der apriorischen Bedingungen der Erkenntnismöglichkeit von Gesetzen der Natur eingeschränkt, so legt diese Einschränkung gleichzeitig ein Feld frei, in dem nach den Gesetzen der menschlichen Freiheit gesucht werden kann. Der positive Ertrag der Kritik der reinen Vernunft für die Metaphysik liege folglich in der Verteilung von Erkenntniskompetenzen: In der Sphäre der Erscheinungen stellt die Naturwissenschaft einen systematischen Zusammenhang von Naturgesetzen fest, denen alle einzelnen Tatsachen in der Natur gehorchen müssen, während die theoretische Philosophie in Form der transzendentalen Ästhetik und Analytik dieses Verfahren der Naturwissenschaften durch eine reflexive und subjekttheoretische Begründung legitimiert. In der Sphäre der Dinge an sich hingegen kann die praktische Philosophie Gesetze der Freiheit ausfindig machen, die nicht auf Naturprozesse appliziert werden können, sondern ihren ausschließlichen Geltungsbereich im moralisch qualifizierbaren Willen haben. KrV B XIX: »Aber es ergiebt sich aus dieser Deduction unseres Vermögens a priori zu erkennen im ersten Theile der Metaphysik ein befremdliches und dem ganzen Zwecke derselben, der den zweiten Theil beschäftigt, dem Anscheine nach sehr nachtheiliges Resultat, nämlich daß wir mit ihm nie über die Grenze möglicher Erfahrung hinauskommen können, welches doch gerade die wesentlichste Angelegenheit dieser Wissenschaft ist.« 5 KrV B XXI f.: »Nun bleibt uns immer noch übrig, nachdem der speculativen Vernunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abgesprochen worden, zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkenntniß Data finden, jenen transscendenten Vernunftbegriff des Unbedingten zu bestimmen, und auf solche Weise dem Wunsche der Metaphysik gemäß über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen. 4
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Kant kann dieses Resultat in seiner berühmten Formel aus der zweiten Vorrede zusammenfassen, er habe das theoretische Wissen aufheben müssen, um dem praktischen Glauben seinen berechtigten Platz einzuräumen.6 Der hier gemeinte Glaube ist also ein moralphilosophisch fundierter Glaube, der in den notwendigen Postulaten der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele gipfelt. Der Vorwurf, die Kritik der reinen Vernunft sei primär von einer negativen und destruktiven Intention getragen, bedarf vor diesem Hintergrund einer Differenzierung: Die reflexive Selbstbesinnung der Vernunft auf ihre Erkenntnismöglichkeiten zerstört die Monopolansprüche einer jeden dogmatischen Metaphysik, die vorgibt, über ein theoretisches Wissen transzendenter Gegenstände zu verfügen. Dogmatisch ist aber nicht nur eine Metaphysik, die die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Menschen theoretisch beweisen zu können glaubt; vielmehr ist auch die Gegenposition, die die Nicht-Existenz Gottes, die Sterblichkeit der Seele und einen durchgängigen Determinismus mit zwingenden Argumenten darlegen möchte, aus Kants Sicht nicht minder dogmatisch. Kant konstatiert hier eine Patt-Situation, über die innerhalb der Sphäre der theoretischen Philosophie nicht weiter entschieden werden kann. Gleichzeitig bemüht er sich jedoch, hervorzuheben, daß das unabweisliche Interesse der menschlichen Vernunft an metaphysischen Fragen dadurch keine Einbuße erleide, sondern im Gegenteil auf die Sphäre der praktischen Philosophie und des moralisch gestützten Glaubens verwiesen wird. Es ist nun weiter zu fragen, wie Kant diesen praktischen Vernunftglauben präziser zu bestimmen versucht. Im 2. Hauptstück seiner Transzendentalen Methodenlehre, dem Kanon der reinen Vernunft, unterscheidet Kant Meinen, Glauben und Wissen als drei verschiedene Weisen des Fürwahrhaltens. Alle drei Modi des Fürwahrhaltens werden dabei jeweils an zwei Kriterien gemessen: 1. der subjektiven Gewißheit und 2. der objektiven Wahrheit des Fürwahrgehaltenen. Das Meinen erfüllt beide Kriterien in einem unzureichenden Maße, Glauben ist eine Und bei einem solchen Verfahren hat uns die speculative Vernunft zu solcher Erweiterung immer doch wenigstens Platz verschafft, wenn sie ihn gleich leer lassen mußte, und es bleibt uns also noch unbenommen, ja wir sind gar dazu durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data derselben, wenn wir können, auszufüllen.« 6 KrV B XXX: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d.i. das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.«
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Form des Fürwahrhaltens, in der zwar das erste Kriterium, also die subjektive Glaubensgewißheit, zureichend erfüllt ist, die aber hinsichtlich des zweiten Kriteriums, der objektiven Wahrheit des Geglaubten, epistemologisch nicht abgesichert werden kann. Das Wissen schließlich ist die einzige Art des Fürwahrhaltens, die beiden Kriterien in einem genügt; das Gewußte – wie beispielsweise ein Satz der Mathematik – ist also prinzipiell sowohl in Bezug auf die subjektive Gewißheit als auch bezüglich der objektiven Wahrheit begründbar. Der Glaube erweist sich also in theoretischer Hinsicht als mangelhaft gegenüber dem Wissen, aber Kant weist darauf hin, daß der Glaube in praktischer Hinsicht die auschlaggebende Instanz des Fürwahrhaltens bleibt, da wir auch dann handeln müssen, wenn uns ein theoretisch absolut abgesichertes Wissen verwehrt bleibt. Hier sind nun wiederum drei verschiedene praktische Weisen des Fürwahrhaltens zu unterscheiden: 1. der pragmatische Glaube, der zum Beispiel dann vorliegt, wenn ein Arzt eine bestimmte Entscheidung bei der Heilung eines Patienten trifft, ohne die wahre Ursache seiner Krankheit endgültig diagnostizieren zu können. 2. der doktrinale Glaube, in dem zwar gewußt wird, daß aus der Ordnung und Gesetzlichkeit der Welt nicht zwingend auf die Existenz eines weisen Schöpfergottes geschlossen werden kann, in dem aber gleichzeitig das subjektive Vertrauen herrscht, daß die Einrichtung der Welt nicht ein Zufallsprodukt sein kann. Kant spricht hier von einer Bescheidenheit in objektiver und einer Festigkeit des Zutrauens in subjektiver Hinsicht.7 3. der moralische Glaube, bei dem die Existenz eines Gottes, vor dem wir unsere Handlungen verantworten müssen, und die Unsterblichkeit unserer Seele angenommen werden. Beide Annahmen des moralischen Glaubens seien zwar theoretisch nicht beweisbar, aber sinnvoll denkbar, da ihr Gegenteil ebenfalls nicht demonstriert werden könne, vor allem aber seien beide moralisch postulierbar. Die Unterscheidung der drei Weisen des Fürwahrhaltens, insbesondere derjenigen des Wissens vom Glauben, führt folglich in das Zentrum der Verknüpfung von Moral- und Religionsphilosophie bei Kant, die wir nun ins Visier nehmen wollen. Das Kernproblem der Moralphilosophie liegt nach Kant in der Suche nach einem Gesetz der Freiheit, wobei dieses Problem eigentlich zweigeteilt ist, denn KrV A 827/B 855: »Der Ausdruck des Glaubens ist in solchen Fällen ein Ausdruck der Bescheidenheit in objectiver Absicht, aber doch zugleich der Festigkeit des Zutrauens in subjectiver.« 7
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erstens ist die Existenz der Freiheit problematisch, und zweitens bleibt es auch dann, wenn die Existenz der Freiheit mit guten Gründen angenommen werden kann, fraglich, ob sie tatsächlich Gesetzen unterworfen ist. Kant versucht, beide Probleme durch den Grundsatz ›Du kannst, denn du sollst‹ zu lösen. Dieser Grundsatz läßt sich auch so formulieren: ›Du bist frei, weil dein Handeln immer schon durch ein moralisches Gesetz herausgefordert wird‹, oder logisch äquivalent umformuliert: ›Wenn dein Handeln von einem moralischen Gesetz herausgefordert wird, dann mußt du dich als ein freies Wesen denken‹. Kant postuliert folglich die menschliche Freiheit, weil ein moralisches Gesetz ohne Freiheit ein Widerspruch in sich selbst wäre.8 Problematisch bleibt dabei die Annahme, daß das moralische Gesetz ein nicht weiter begründbares Faktum der praktischen Vernunft sei.9 Freiheit kann zwar wegen der durchgängigen Gültigkeit des Kausalitätsprinzips nicht theoretisch bewiesen werden, aber sie kann gleichzeitig praktisch gefordert werden, da nur unter dieser Voraussetzung das Faktum des moralischen Gesetzes sinnvoll denkbar bleibt. Für Kant besteht zwischen dem Postulat der Freiheit und der in sich geschlossenen kausalen Determiniertheit der Naturprozesse kein Widerspruch, da er das Kausalitätsprinzip als eine notwendige Erkenntniskategorie auf den Bereich der Erscheinungen einschränkt. Das Postulat der Freiheit betrifft also nicht den Menschen, sofern er als Naturwesen der Erscheinungswelt angehört, sondern es betrifft ihn nur, sofern er als moralisches Subjekt in der intelligiblen Welt der Dinge an sich verortet werden muß. Es sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Hegels Kritik an Kant genau an dieser Stelle ansetzen wird, wo Kant aus der Sicht Hegels einen Gegensatz von phänomenaler und noumenaler Welt aufstellt, den er nicht wirklich aufheben kann. KpV A 53: »Also ist es das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt werden (so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen), welches sich uns zuerst darbietet und, indem die Vernunft jenes als einen durch keine sinnlichen Bedingungen zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der Freiheit führt.« 9 KpV A 82: »Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Factum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, gesetzt daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben könnte. Also kann die objective Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduction, durch alle Anstrengung der theoretischen, speculativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen und also, wenn man auch auf die apodiktische Gewißheit Verzicht tun wollte, durch Erfahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest.« 8
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Der angedeutete Gegensatz generiert bei Kant den moralphilosophisch relevanten Unterschied zwischen dem Willen, der allein das Prädikat des moralisch Guten verdient, und dem Handeln, das prinzipiell nicht moralisch positiv qualifiziert werden kann. Ein Handeln, das eindeutig gegen das moralische Gesetz verstößt, kann zwar moralisch negativ beurteilt werden, aber aus der Vereinbarkeit einer Handlung mit dem moralisch Gesollten kann nicht notwendig auf ihren positiven moralischen Wert geschlossen werden. Kants berühmtes Beispiel für diesen Sachverhalt ist der ehrliche Kaufmann, dessen Handeln zwar mit dem moralisch Gesollten im Einklang steht, aber deswegen nicht notwendig moralisch gut sein muß, weil es durch den geschäftlichen Erfolg motiviert sein könnte und nicht durch die Achtung vor dem Sittengesetz. Ein positiver moralischer Wert kommt nach Kant allein dem Willen zu, der aus der Achtung vor dem Sittengesetz handelt. Kants Moralphilosophie impliziert folglich einen Gegensatz zwischen der Äußerlichkeit des Handelns und der Innerlichkeit des Willens, der seine Wurzel in der Unterscheidung zwischen einer theoretisch beschreibbaren Welt der Erscheinungen und einer praktisch postulierbaren Welt der Dinge an sich hat. Von hier aus wird nun auch die moralphilosophisch fundierte Religionsphilosophie Kants verständlich. Denn die wichtigste moralische Aufgabe des Menschen könne nicht in seinen äußeren Handlungen gesehen werden, sondern allein in der sittlichen Bildung seines inneren Willens. Kant greift bei dieser sittlichen Bildung des Willens auf den religiös konnotierten Begriff der ›Heiligung‹ zurück. Das moralische Bilden und Gestalten unseres Willens offenbare sich als eine fortschreitende Heiligung unseres Willens. Dieser Prozeß werde durch ein endgültiges Ziel geleitet, das Kant in der Heiligkeit unseres Willens erkennt.10 Entscheidend ist, daß zwar ein Fortschritt bezüglich dieses Prozesses gedacht werden könne, jedoch kein im Verlauf des eigenen Lebens erreichbarer Abschluß, da das Endziel die Endlichkeit des menschliKpV A 58: »Diese Heiligkeit des Willens ist gleichwohl eine praktische Idee, welche nothwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht, und welche das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständig und richtig vor Augen hält, von welchem ins Unendliche gehenden Progressus seiner Maximen und Unwandelbarkeit derselben zum beständigen Fortschreiten sicher zu sein, d.i. Tugend, das Höchste ist, was endliche praktische Vernunft bewirken kann, die selbst wiederum wenigstens als natürlich erworbenes Vermögen nie vollendet sein kann, weil die Sicherheit in solchem Falle niemals apodiktische Gewißheit wird und als Überredung sehr gefährlich ist.« 10
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chen Daseins immer schon transzendiere und damit im Unendlichen liege. Hegel wird an dieser Stelle – wie wir noch sehen werden – die unaufgelöste Spannung zwischen dem Endlichen und Unendlichen bei Kant monieren. Kant findet jedoch in der Unabschließbarkeit dieses Heiligungsprozesses ein Argument für sein Postulat der Unsterblichkeit der Seele. Denn das Sittengesetz, das die Heiligung unseres Willens leitet, verlöre seine Absolutheit, wenn es an einem naturhaften Ereignis wie dem physischen Ableben die Grenze seiner Geltung fände. Die fortschreitende Heiligung unseres Willens als die eigentliche moralische Aufgabe des Menschen, die in diesem Leben prinzipiell nicht abgeschlossen werden kann, stünde vor einer absurden Konsequenz, wenn sie durch den Tod abgebrochen würde. Um dieser absurden Konsequenz zu entgehen, die nicht nur die Absolutheit des Sittengesetzes, sondern ebenso die Würde des moralisch strebenden Menschen außer Kraft setzte, glaubt Kant, der Fortschritt der Heiligung unseres Willens könne von der praktischen Vernunft über den Tod hinaus postuliert werden. Denn nur so könne der Unendlichkeitscharakter des Endzwecks der Heiligkeit des Willens gewahrt bleiben. Die oben erwähnte Verteilung der Kompetenzen zeigt sich hier in aller Deutlichkeit: Die theoretische Vernunft fällt einer Logik des Scheins zum Opfer, wenn sie die Unsterblichkeit der Seele mit zwingenden Argumenten beweisen will. Gleichzeitig muß aber die praktische Vernunft diese metaphysisch-transzendente Annahme mit Notwendigkeit postulieren. Auch dieses Spannungsverhältnis zwischen einer spekulativen und einer moralischen Vernunft bei Kant wird Hegel einer scharfen Kritik aussetzen. Kant geht in seiner Moralphilosophie noch einen Schritt weiter, indem er bekannterweise nicht nur die Unsterblichkeit der Seele, sondern auch die Existenz Gottes zu einem notwendigen Postulat der praktischen Vernunft erklärt.11 Sein Argumentationsgang hebt an mit dem Begriff eines höchsten Gutes, das als eine Vereinigung von Moralität und moralisch legitimierter Glückseligkeit zu denken ist. Zwar ist das oberste Gut für den Menschen die fortschreitende Perfektionierung des eigenen Willens, aber diese Perfektionierung begründet lediglich die Glückswürdigkeit des moralisch strebenden Menschen. Der Mensch vermag also als freies Wesen, die Glückswürdigkeit zu erlangen, aber die Garantie seiner tatsächlichen Glückseligkeit übersteigt Vgl hierzu das Kapitel »Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt« (KpV A 238 –241). 11
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seine Kompetenz. Diese Kompetenz muß nach Kant in einer anderen Instanz gesucht werden. Hier eröffnen sich grundsätzlich zwei Optionen: Entweder wird die tatsächliche Glückseligkeit des glückswürdigen Menschen von der weltimmanenten Natur, oder aber von einem welttranszendenten Gott garantiert. Die erste Möglichkeit ist kontraintuitiv, da ein unverstellter Blick zeigt, daß die Natur keine Rücksicht auf die geforderte Vereinigung von moralisch fundierter Glückswürdigkeit und Glückseligkeit nimmt. Es bleibt folglich, wenn der Begriff des höchsten Gutes absurderweise nicht unerfüllbar sein soll, nur die zweite Möglichkeit übrig: Es muß ein welttranszendenter Gott postuliert werden, der in seiner Macht und Weisheit die geforderte Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit garantieren kann. Die Existenz Gottes, die nach Kant auf dem Felde der theoretischen Philosophie nicht mit überzeugenden Argumenten demonstriert werden kann, muß auf dem Gebiet der praktischen Philosophie notwendig angenommen werden, da ansonsten das höchste Gut als das endgültige Ziel des moralischen Menschen absurderweise ohne Erfüllung bleiben müßte. Neben der Unsterblichkeit der Seele holt Kant auch hier eine metaphysisch-transzendente Annahme, die das spekulative Erkenntnisvermögen des Menschen schlechthin übersteigt, moralphilosophisch ein, um absurden Konsequenzen zu entgehen. Hegel wird auch hier eine Inkonsequenz entdecken, die ihre Wurzel im systematischen Zentrum der Transzendentalphilosophie Kants hat. Der Zusammenhang zwischen der Moral- und der Religionsphilosophie Kants ist nun evident: Die Religion darf zwar nicht zum Begründungsfundament der Moral werden, aber eine autonom begründete Moral führt notwendig zu Annahmen, die in den Disziplinenbereich der Religionsphilosophie gehören. Die theoretische Philosophie erweist nur die hypothetische Denkbarkeit der Existenz Gottes, nicht aber ihre Erkennbarkeit, die praktische Philosophie transformiert diese Hypothese zu einem notwendigen Postulat. Die Annahme der Existenz Gottes ist also kein objektivierbares Wissen, sondern ein auf einer subjektiven Gewißheit beruhender Glaube. Ein Glaube jedoch, der nicht in Opposition zur Vernunft steht, sondern gerade durch die praktische Vernunft begründet wird. Kant kann somit von einem moralisch legitimierten Vernunftglauben reden, der zwar keine Erkenntnisse offeriert, aber eine argumentativ gestützte Hoffnung zuläßt. Dieser reine Vernunftglaube bietet aus Kants Sicht ein Selektionskriterium für philosophisch annehmbare Inhalte der christlichen Religion an. Auf dieser Grundlage kann Kant zentrale theologische Begriffe wie beispielsweise denjenigen der Ursünde philosophisch rehabilitieren.
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Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, daß Kant das Verhältnis von Glauben und Wissen dank einer kritischen Verteilung von Kompetenzen bestimmt: Wissen im strengen Sinne bleibt auf den Bereich der objektivierbaren Gegenstände der Mathematik und der Naturwissenschaft sowie auf die transzendentalen Bedingungen dieser Objektivierbarkeit beschränkt. Glauben ist hingegen eine Weise des Fürwahrhaltens, die allein durch moralphilosophische Argumente ausgewiesen wird, es handelt sich dabei um kein demonstrierbares Wissen von erkennbaren Gegenständen, sondern um eine vernunftgestützte Hoffnung, die das moralische Streben des Menschen vor der Konsequenz einer radikalen Absurdität bewahrt. Die Philosophie steht vor der Aufgabe, in einer kritischen und reflexiven Form den gesamten Raum der menschlichen Vernunft zu erhellen, wobei sie sowohl das naturwissenschaftliche Wissen, als auch die menschliche Freiheit und den daraus resultierenden Glauben zu rechtfertigen vermag. Aus Hegels Perspektive bleibt diese Versöhnungsleistung systematisch unterbestimmt, da sie letztlich auf einem Dualismus von Glauben und Wissen beruht, der mit den Mitteln der Philosophie Kants nicht wirklich überzeugend vermittelt werden kann. Wir können nach dieser skizzenhaften Nachzeichnung der Gedanken Kants nun zu den kritischen Ausführungen Hegels schreiten.
3. Hegel: Die Aufhebung des Glaubens im Wissen Hegels Abhandlung Glauben und Wissen erschien im 1. Heft des II. Bandes des gemeinsam mit Schelling herausgegebenen Kritischen Journals für Philosophie, in dem die beiden Freunde in einer Reihe von Aufsätzen ihre eigene Position gegen die philosophischen Strömungen ihrer Zeit verteidigen wollten. Diese Intention erklärt den extrem polemischen, teilweise sogar aggressiven, Charakter der im Kritischen Journal publizierten Schriften. Das gilt uneingeschränkt auch für den Aufsatz Glauben und Wissen, so daß der Leser hier vergeblich nach einer hermeneutisch wohlwollenden Auseinandersetzung mit Kant suchen wird. Vielmehr geht es Hegel um eine pointierte Attacke, die den philosophischen Standpunkt des jeweiligen Gegners als unzulänglich herausstellen möchte. Neben der Position Kants werden in dieser Abhandlung auch die Positionen Jacobis und Fichtes unter dem Aspekt des Verhältnisses von Glauben und Wissen behandelt. Alle drei werden von Hegel als prominente Vertreter einer
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Philosophieform verstanden, die die endliche Subjektivität zum systematischen Prinzip erklärt. Die Philosophien Kants, Jacobis und Fichtes sind, so Hegel, der Höhepunkt der Aufklärung; aber in ihrer Vollendung der Intentionen des Aufklärungszeitalters kommt es zu einem dialektischen Umschlag, in dem die ursprünglichen aufklärerischen Intentionen sich in ihr genaues Gegenteil verkehren. Hegel ist davon überzeugt, daß die drei Philosophen nicht auf der Grundlage einer spekulativen Vernunft, sondern auf derjenigen eines reflektierenden Verstandes argumentieren. Dieser Reflexionsphilosophie der Subjektivität – wie es im Untertitel der Abhandlung heißt – fehle die Macht der Vereinigung; sie bleibe auf der Grundlage ihres systematischen Prinzips bei einem dualen Gegensatz zwischen einem vom reflektierenden Verstand gesetzten Unendlichen und Endlichen stehen. Der von ihnen fixierte Gegensatz zwischen einem Endlichen auf der einen und einem Unendlichen auf der anderen Seite erreiche in Wirklichkeit gar nichts Unendliches, da das Unendliche, das einem Endlichen entgegengesetzt werde, seinerseits zu einem anderen Endlichen depotenziert werde. Die Verteilung der jeweiligen Kompetenzen auf das Wissen einerseits und den Glauben andererseits zeitigt nach Hegel eine Position, die den orthodoxen Gegensatz von Glauben und Wissen nun in die Philosophie selbst verlegt. Bemühte sich die Orthodoxie darum, den Glauben zu einem Jenseits der philosophischen Vernunft zu erheben, so fällt die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in die Position der Orthodoxie zurück, indem sie das Wissen auf den Bereich der erfahrbaren Erscheinungen und ihrer apriorischen Bedingungen restringiert und die Existenz Gottes zu einem Postulat des moralphilosophisch begründeten Glaubens erklärt. Der vermeintliche Sieg der Aufklärung über die Orthodoxie erscheint so als die eigentliche Niederlage, da der Dualismus von Glauben und Wissen die auf sich selbst gestellte Subjektivität von innen her zu sprengen droht. Der von Kant initiierte Versöhnungsvorschlag ist für Hegel insofern insuffizient, als er sowohl die spekulative Vernunft als auch den wirklichen Glauben verliert. Hegel kann so die Religionsphilosophie Kants in einem ein wenig makaber anmutenden Bild als das ›Kind des Friedens‹ bezeichnen,12 das von zwei Leichnamen gezeugt wurde: einer toten VerGlauben und Wissen 288: »Der glorreiche Sieg, welchen die aufklärende Vernunft über das, was sie nach dem geringen Maße ihres religiösen Begreifens als Glauben sich entgegensetzt betrachtete, davongetragen hat, ist beim Lichte besehen kein anderer, als daß weder das Positive, mit dem sie sich zu kämpfen machte, Religion, noch daß sie, die 12
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nunft, die ihre spekulative Kraft verloren habe, und einem dürftigen Glauben, der seiner geschichtliche Positivität entkleidet worden sei. Innerhalb dieser Dialektik der Aufklärung bilden wiederum die Philosophien von Kant, Jacobi und Fichte eine dialektische Triade, da sie bei aller Gegensätzlichkeit dem gemeinsamen Prinzip der Subjektivität verpflichtet bleiben. So wird die Reflexionsphilosophie der Subjektivität von Kant über Jacobi zu Fichte in der Vollständigkeit ihrer Formen begriffen. In Anlehnung an die Konstruktionsmethode der Naturphilosophie Schellings versucht Hegel zu zeigen, daß sich in dem philosophiehistorischen Dreischritt Kant-JacobiFichte ein systematischer Dreischritt von These-Antithese-Synthese spiegelt. Der Objektivität des kategorischen Imperativs bei Kant setze Jacobi die Subjektivität des Gefühls entgegen, und Fichte bemühe sich um eine Vereinigung der sich widersprechenden Grundsätze, indem er das subjektive Moment des unendlichen Sehnens an ein objektives Sollen zurückbinde. Das hier in Stichworten Angedeutete sei nun am Beispiel der Kant-Kritik Hegels näher erläutert: Kants grundsätzlicher Fehler ist nach Hegel in dem Umstand zu sehen, daß seine Transzendentalphilosophie dem erkennenden Subjekt ein unerkennbares Absolutes entgegensetzt und damit die Sphäre des Endlichen und diejenige des Unendlichen als einen radikalen Gegensatz fixiert. Dieser Gegensatz durchziehe die gesamte Philosophie Kants, da selbst da, wo der reflektierende Verstand die unterschiedenen Gegensätze wieder zu verbinden versucht, die Verbindung nachträglich und äußerlich bleibe, während nach Hegel die spekulative Vernunft alle Gegensätze aus einer vorgängigen und ursprünglichen Einheit zu entwickeln versucht. Der Verstand fixiere einen Gegensatz, der einer vorgängigen Einheit entspringt, die Vernunft hingegen begreife den produktiven Prozeß, in dem die ursprüngliche Einheit sich in einer Binnendifferenzierung mit ihren eigenen Gegensätzen vermittelt. Appliziert man dieses allgemeine Verhältnis auf das spezielle Verhältnis von Glauben und Wissen, so wird nachvollziehbar, daß aus Hegels Sicht Kant die objektivierbare Welt der Erscheinungen dem Wissen vorbehält, der dann eine nur denkbare Welt der Dinge an sich gegenübergestellt wird, die allein dem moralphilosophisch gestützten Glauben zugänglich ist. So entsteht eine unvermittelbare Spannung zwischen der Realität des Endlichen und der gesiegt hat, Vernunft blieb und die Geburt, welche auf diesen Leichnamen triumphierend als das gemeinschaftliche, beide vereinigende Kind des Friedens schwebt, ebensowenig von Vernunft als echtem Glauben an sich hat.«
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Idealität des Unendlichen, die nach Hegels Dafürhalten die philosophisch unhaltbare Konstitution eines welttranszendenten Gottes zeitigt, der als ein unerkennbarer Gott spekulativ nicht begriffen werden kann. Der Dualismus zwischen Wissen und Glauben als zwei unterschiedlichen Weisen des Fürwahrhaltens bei Kant ist somit der Ausdruck eines unvermittelten Differenzverhältnisses zwischen Welt und Gott. Der Verzicht auf die spekulative Vernunft zugunsten des reflektierenden Verstandes führe zu einer Zerrissenheit des Bewußtseins, das im Wissen auf eine Welt des Faktischen und im Glauben auf eine kontrafaktische Hoffnung verwiesen werde. Die Versöhnung rückt somit bei Kant in einen jenseitigen Bereich, während Hegel eine Form des Philosophierens sucht, die die Versöhnung mitten im Streit der Gegensätze feststellt. Dies könne jedoch nur eine spekulative Vernunft leisten, die die absolute Identität als die Einheit der Einheit und der Gegensätze begreift. Erst dann gewinne die Philosophie Gott als ihren eigentlichen Inhalt wieder, um nicht allein die Spannung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, sondern auch diejenige zwischen dem Wissen und dem Glauben dialektisch zu vermitteln. Denn analog zur Identität Gottes mit der Welt müsse auch die Identität des Glaubens mit dem Wissen gedacht werden. Beide richteten sich auf denselben Gegenstand, allerdings habe der Glaube diesen Gegenstand in einer noch defizienten Form, während das philosophische Wissen diesen Gegenstand in der ihm wahrhaft adäquaten Form einhole. Werde also Gott nicht nur im Glauben vorgestellt, sondern auch im Wissen begriffen, so vermittele er sich auf der Grundlage seiner Identität mit der Welt mit sich selbst. Oder anders ausgedrückt: Im philosophischen Begriff gelange die religiöse Vorstellung zu ihrer eigenen Wahrheit, und damit werde auch die Versöhnung des Bewußtseins mit der Welt und mit Gott auf die höchste Stufe gehoben, weil es sich als ein Moment in der reflexiven Vermittlung Gottes mit sich selbst begreife. Im philosophischen Wissen gelange also nicht allein der Mensch zu einer Versöhnung, sondern letztlich versöhne sich Gott mit sich selbst. Bei der Lektüre der Hegelschen Abhandlung fällt dem Leser sofort auf, daß Hegel diesen spekulativen Höhenflug, der die Grundlage seiner Kant-Kritik bildet, an keiner Stelle explizit begründet, sondern vielmehr überall voraussetzt. Es muß hier kritisch gegen Hegel gefragt werden, ob seine Versöhnungsleistung nicht ein Rückfall in eine unbegründete und damit dogmatische Metaphysik darstellt. Ohne die subtilen Differenzen, die zwischen Hegel und Schelling in dieser Zeit bestanden haben mögen, leugnen zu wollen, liegt
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unseres Erachtens die Annahme nahe, daß Hegel hier überall die Identitätsphilosophie Schellings als das Fundament seiner kritischen Ausführungen voraussetzt. Wir erinnern uns daran, daß die eigentliche Intention des Kritischen Journals primär eine polemische und nicht eine systematisch-begründende war, so daß sich die Vermutung anbietet, in der Identitätsphilosophie Schellings das systematische Fundament der Polemik zu erkennen. Für diese Annahme spricht auch, daß sich die beiden Herausgeber des Journals als eine philosophische Einheit verstanden haben. Der jeweilige Autor hielt es nicht einmal für nötig, die eigenen Aufsätze als solche auszuweisen, so daß sich bald nach Hegels Tod ein lang andauernder Streit um die Autorenschaft der einzelnen Abhandlungen entzündete. Für die philosophische Nähe Hegels zu Schelling in den Jahren 1801/1802 spricht also eine Reihe von Indizien. Es mag vor diesem Hintergrund erlaubt sein, mit einem Seitenblick auf die philosophische Konzeption Schellings einzugehen, um die systematischen Voraussetzungen der Hegelschen Kant-Kritik angemessener verstehen zu können. Die fundamentale Intention der Identitätsphilosophie Schellings13 liegt in einer überzeugenden Vermittlung zwischen dem Einen Prinzip der absoluten Identität und der Subjekt-Objekt-Struktur des Selbstbewußtseins. Soll die absolute Identität, die jeder Differenz vorangeht, zum Gegenstand der Philosophie werden, so muß die identitätsphilosophische Konzeption dieses monistische Prinzip im Zusammenhang mit einer Form von absoluter Erkenntnis darstellen können. Die absolute Identität kann nur dann durch das spekulative Denken erfaßt werden, wenn die intellektuelle Anschauung Fichtes und des frühen Schelling aus ihrer transzendentalphilosophischen Bindung an die spontane Handlung des Selbstbewußtseins der endlichen Subjektivität herausgelöst wird. Diesen Schritt vollzieht Schelling in seiner Identitätsphilosophie, indem er die intellektuelle Anschauung nicht mehr an die subjektive Subjekt-Objekt-Struktur anbindet, sondern sie zu einer Erkenntnisform modifiziert, in der die absolute Identität unmittelbar durch sich selbst erfaßt wird. Der Gehalt des Einen Prinzips wird somit nicht durch ein endliches Subjekt erkannt, das in der Immanenz seines Selbstbewußtseins diesen Gehalt nur unter dem Index seiner Endlichkeit begreifen kann. Vielmehr partizipiert das endliche Subjekt in seiner Erkenntnis an einer absoluten Vernunft, in der sich die absolute Identität erkennend mit sich selbst vermittelt. Vgl. hierzu Berg: Objektiver Idealismus und Voluntarismus in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers, 142 –185. 13
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Diese absolute Selbstvermittlung impliziert nach Schelling eine Selbstdifferenzierung und Selbstexplikation der absoluten Identität durch eine zweigliedrige Konstellation, in der sie sich erstens in ihr Wesen oder ihr Sein und zweitens in ihre Form oder ihr Erkennen differenziert. Beide Momente, also Wesen und Form, sind trotz ihrer Entgegensetzung im Modus der Indifferenz miteinander verbunden und somit in einem durchgehenden Parallelismus inhaltlich identisch. In der Selbsterkenntnis der absoluten Identität durch die absolute Vernunft, die Schelling nun mit der intellektuellen Anschauung gleichsetzt, ist folglich jeder Gegensatz von Sein und Denken ausgeschlossen. Bereits diese knappen Andeutungen zeigen, daß Schelling sich mit seinem identitätsphilosophischen Programm von der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes zu emanzipieren versucht. Sowohl die Dualismen der Vernunftkritik Kants als auch der einseitige Ausgangspunkt vom Paradigma des Selbstbewußtseins bei Fichte sollen durch das Eine Prinzip der absoluten Identität aufgehoben werden. Schellings Identitätsphilosophie ist ihrem Selbstverständnis nach eine monistische Metaphysik des Absoluten, in der das Sein in allen seinen Grundstrukturen systematisch expliziert werden soll. Angesichts dieser philosophischen Konzeption wird es verständlich, daß Schelling nicht allein an der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes interessiert ist, sondern sich vor allem um eine produktive Aneignung des metaphysischen Rationalismus Spinozas und Leibnizens sowie der Platonischen Tradition bemüht. An diesen Grundgedanken Schellings orientiert sich auch Hegel, wenn er Kant vorwirft, in seiner Transzendentalphilosophie die wahre Absicht der Philosophie, die in der Erfassung des Absoluten liegt, verfehlt zu haben. Kants Philosophie bleibe so in einem Dualismus gefangen, ohne die absolute Identität als den Ursprung dieser Gegensätze zu erkennen. Stattdessen muß sie ihre letzte Zuflucht bei einem welt- und erkenntnistranszendenten Gott suchen, der zum Gegenstand einer moralisch motivierten Hoffnung degradiert werde. Hegel verortet einen solchen Dualismus religionsgeschichtlich im Protestantismus,14 in dem die subjektive Innerlichkeit ihre welttranszendente Reinheit im Glauben an einen philosophisch nicht explizierbaren Gott zu wahren versuche. Indem Kant aber nicht nur der protestantischen Glauben und Wissen 289: »Die große Form des Weltgeistes aber, welche sich in jenen Philosophien erkannt hat, ist das Prinzip des Nordens und, es religiös angesehen, des Protestantismus,– die Subjektivität, in welcher Schönheit und Wahrheit in Gefühlen und Gesinnungen, in Liebe und Verstand sich darstellt.« 14
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Religiosität gerecht werden will, sondern gleichzeitig die naturwissenschaftliche Rationalität der Aufklärung legitimieren möchte, entgöttert er auf der einen Seite die Welt und entweltlicht auf der anderen Seite die menschliche Subjektivität. Die Verinnerlichung der Religion führt dazu, daß das religiöse Subjekt im eigenen Herzen seinem transzendenten Gott ›Tempel und Altäre‹ errichtet,15 gleichzeitig aber den heiligen Hain in der Welt als eine bloße Ansammlung von Hölzern betrachtet. Angesichts dieser Spannung muß die Hoffnung auf Versöhnung in ein Jenseits extrapoliert werden. Demgegenüber möchte Hegel im Sinne eines ästhetischen Idealismus, den er in dieser Zeit mit seinen Tübinger Freunden Hölderlin und Schelling teilt, die Versöhnung als eine Anwesenheit des Absoluten in der Welt verstehen. In Anlehnung an platonisch-neuplatonisches Gedankengut erschaut er in der Welt das irdische Abbild des göttlichen Urbildes.16 Der grundsätzliche Dualismus der Kantischen Philosophie hat nach Hegels Ansicht ebenfalls entscheidende Konsequenzen für das Menschenbild: Wollte Kant mit seinem Ausgang von der menschlichen Subjektivität die Würde des Menschen retten, so schlägt seine ursprüngliche Intention insofern in ihr Gegenteil um, als der zwischen seinem moralischen Pflichtbewußtsein und seinen naturhaften Neigungen zerrissene Mensch »den Pfahl des absoluten Gegensatzes«17 in sich selbst tragen muß. Dagegen glaubt Hegel, die Würde des Menschen allein dann retten zu können, wenn die Philosophie vom Absoluten ausgeht, um dann den Menschen als einen »Abglanz der ewigen Schönheit« und als »geistige[n] Fokus des Universums« zu feiern.18 Nur wenn der Mensch zum Ort der absoluten Selbstvermittlung des Absoluten werde, erGlauben und Wissen 289 f.: »Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre, und Säufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hain als Hölzer erkennen würde.« 16 Glauben und Wissen 301: »[…] aber in der Idee ist Endliches und Unendliches eins und deswegen die Endlichkeit als solche verschwunden, insofern sie an und für sich Wahrheit und Realität haben sollte; es ist aber nur das, was an ihr Negation ist, negiert worden und also die wahre Affirmation gesetzt.« 17 Glauben und Wissen 299. 18 Ebd.: »Dieser Mensch und die Menschheit sind ihr absoluter Standpunkt, nämlich als eine fixe, unüberwindliche Endlichkeit der Vernunft, nicht als Abglanz der ewigen Schönheit, als geistiger Fokus des Universums, sondern als eine absolute Sinnlichkeit, welche aber das Vermögen des Glaubens hat, sich noch mit einem ihr fremden Übersinnlichen an einer und anderer Stelle anzutünchen.« 15
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halte er die Würde, die ihm gebühre. Bei Kant hingegen verliert der Mensch seine göttliche Schönheit und Harmonie, die nach Hegel auch nicht dadurch wiederzugewinnen ist, daß Kant in das gemeine Gesicht des Menschen ein ›wehmütiges Lächeln‹ einzeichnet,19 das die Hoffnung auf ein besseres Jenseits indiziert. Die unterschiedliche Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und Glauben bei Kant und Hegel kulminiert in der Beurteilung des ontologischen Gottesbeweises,20 den Kant destruieren, Hegel hingegen restituieren möchte. Die Vertreter des ontologischen Argumentes erheben bekanntermaßen den Anspruch, die Existenz Gottes ohne jeden Rückgriff auf empirische Daten demonstrieren zu können. Allein aus der Analyse des Inhaltes des Gottesbegriffes soll die Existenz Gottes erschlossen werden. Die richtige Bestimmung des Begriffsinhaltes garantiere folglich die reale Existenz des begrifflich bestimmten Inhaltes. Kant stellt in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft diesen Anspruch radikal in Frage, indem er zu zeigen versucht, daß die Existenz Gottes gerade nicht aus der bloßen Analyse des Begriffes Gottes gefolgert werden kann. Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis läuft folglich auf die Annahme einer Kluft zwischen dem intensionalen Inhalt eines Begriffes und seinem extensionalen Umfang. Im ontologischen Gottesbeweis werde der vergebliche Versuch unternommen, die Existenz als ein Prädikat aufzufassen, das notwendig dem Begriff ›Gott‹ zukommen muß. Kant hält dem entgegen, daß die bloße Prädikation eines Begriffes keinen Schluß auf die reale Position des durch den Begriff bestimmten Gegenstandes zulasse. Eine Aussage über den Inhalt eines Begriffes sage noch nichts über seinen Umfang. Um vom Begriffsinhalt auf den Begriffsumfang schließen zu können, muß nach Kant die Bedingung erfüllt sein, daß der betreffende Begriff zu einem Theoriekontext gehört, der auch empirische Beobachtungsbegriffe enthält. Genau diese Bedingung ist aber bei einem erfahrungsjenseitigen Gegenstand wie Gott nicht erfüllt. Der ontologische Gottesbeweis beruht aus der Sicht Kants auf einem nicht begründbaren Schluß von einer logischen Denknotwendigkeit auf eine ontologische Seinsnotwendigkeit. Hegel spielt gleich in den ersten Zeilen seiner Auseinandersetzung mit Kant auf das ontologische Argument an, indem er an Kant den Vorwurf richEbd. Vgl. hierzu die instruktiven Ausführungen von Röd: Der Gott der reinen Vernunft, 132–197. 19 20
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tet, bei ihm verkomme dieser Gottesbeweis zu einer ›leeren Grübelei‹ und einem ›bloßen Schulwitz‹.21 Die Kritik Kants an diesem Argument beruhe ihrerseits auf der unausgewiesenen Prämisse, daß zwischen dem Denken und dem Sein, also zwischen der Logik und der Ontologie, ein dualer Gegensatz bestehe. In dieser Andeutung, die Hegel an dieser Stelle nicht weiter ausführt, wird sein Versuch sichtbar, eine Logik zu konzipieren, die zugleich Ontologie bzw. Metaphysik ist. In einer spekulativen Logik müsse es darum gehen, wahrhafte Begriffe dialektisch auseinander zu entwicklen. Kant unterlasse es aber, diese wahrhaften Begriffe von bloßen Abstraktionsbegriffen zu unterscheiden. Anders als die Abstraktionsbegriffe des Alltagsdenkens und der empirischen Naturwissenschaften zeichnen sich für Hegel die Begriffe einer spekulativen Logik durch die Einheit von Begriff und Existenz, also von Denken und Sein, aus. Da ein näheres Eingehen auf den Zusammenhang von Hegels Logik und seinem Versuch, den ontologischen Gottesbeweis zu restituieren, den Rahmen des vorliegenden Beitrages sprengen würde, wollen wir abschließend auf die unterschiedliche Systemkonzeption bei Kant und Hegel eingehen. Die in einem polemischen Ton vorgetragene Kritik Hegels an Kant sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Transzendentalphilosophie Kants für Hegel ein Problembewußtsein erreicht hat, hinter das die Philosophie nicht mehr zurückfallen darf. Bei allen Abweichungen Hegels von Kant muß festgehalten werden, daß die Philosophie Hegels ohne die transzendentale Reflexion Kants nicht denkbar wäre. Wie bereits erwähnt, teilt Hegel mit Kant die reflexive Wendung, um sich so der eigenen Begründungsansprüche methodisch zu vergewissern. Das Begründungsfundament stellt sich jedoch bei Kant und Hegel jeweils anders dar: Kant geht von einer endlichen Subjektivität aus, um die formalen Bedingungen diverser Rationalitätsformen herauszustellen. Die Rationalität der Naturwissenschaften unterscheidet sich von derjenigen der Moral und des Glaubens, beide Rationalitätsformen können nur auf der Grundlage einer kritischen Unterscheidung koordiniert werden. Der frühe Hegel geht hingegen mit Schelling von einer absoluten Identität aus, um von dort die ontologische Rationalität des Seins und die logische Rationalität des Denkens zu prinzipiieren; spätestens seit der Phänomenologie des Geistes transformiert Hegel die absolute Identität in eine absolute Subjektivität. Rationalität bleibt also nach Hegel nicht auf die end21
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liche Subjektivität beschränkt, vielmehr ist die Welt der Natur und die Welt des menschlichen Geistes eine Manifestation der Rationalität Gottes. In der Philosophie wird die Rationalität Gottes adäquat begriffen bzw. auf den Begriff gebracht. Die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Kant und Hegel besteht darin, daß beide von einer apriorischen Kategorialstruktur ausgehen, die jede Form von Empirie begründet. Kant verortet jedoch, indem er nach den Kriterien richtigen Erkennens und Wollens fragt, diese Kategorialstruktur in einer endlichen Subjektivität. Auf dieser Grundlage wird dann die metaphysische Annahme der Existenz Gottes zu einem Glaubenspostulat. Die Existenz Gottes kann zwar durch keinen Beweis demonstriert werden, aber der Glaube an sie ist dennoch durch die praktische Vernunft legitimiert. Hegel verlegt die apriorische Kategorialstruktur in die absolute Subjektivität Gottes; die reale Welt der Natur ist nichts anderes als die Manifestation bzw. Offenbarung dieser Kategorialstruktur, die in der Welt des menschlichen Geistes reflexiv wiedererkannt wird. Auf die beiden Ausgangsfragen zurückkommend, können wir nun den Versuch einer Antwort wagen: 1. Die Legitimität der Religion gegenüber der Naturwissenschaft liegt bei Kant in einer formalen Zuweisung von jeweils verschiedenen Ansprüchen, da die Naturwissenschaften sinnfreie Kausalprozesse durch quantifizierbare Gesetze beschreiben, während die Religion nach dem letzten Sinn und Zweck menschlichen Handelns sucht. Für Hegel ist die Religion inhaltlich immer schon einen Schritt weiter als die Naturwissenschaft, denn sie erkennt, daß die Natur die Manifestation eines göttlichen Geistes ist; die Naturwissenschaft könne also mit ihren methodischen Mitteln die eigenen theologischen Voraussetzungen nicht einholen. Allerdings fehle der Religion die endgültige Form, da sie das Verhältnis zwischen dem göttlichen Geist und der Natur in bildhaften Vorstellungen und nicht in Begriffen zum Ausdruck bringe. 2. Kant stellt moralphilosophisch begründete Kriterien auf, um den Wahrheitsgehalt der positiven Offenbarungsreligion von ihrem mythologischen Restbestand zu sondern. Hegel hingegen kann den gesamten historischen Inhalt der positiven Religionen als einen Prozeß der Selbsterkenntnis des Absoluten deuten. Dieses Wahrheitsgeschehen vollende sich aber erst dann, wenn es in der Philosophie die Form des Begriffes erreiche. Philosophie werde damit zur Vollendung der Offenbarungsreligion, da erst in ihr die Rationalität des göttlichen Geistes sich in adäquater Form selbst erkenne.
»Man wird von der Philosophie den wirklichen Gott fordern, nicht die blosse Idee Gottes« Zur Kritik des späten Schelling an Kants Religionsphilosophie von Rudolf Langthaler
1. Vorbemerkung: Zu leitenden Motiven der Kant-Kritik beim späten Schelling Schellings berühmtes Bekenntnis: »Nichts soll durch mich verloren sein, was seit Kant für echte Wissenschaft gewonnen worden« (aus seiner Berliner Antrittsvorlesung 1841) und die daran geknüpfte Forderung, nichts könne »aufgestellt werden, das sich ganz vom Zusammenhange mit Kant losreiße« (EPO 634),1 sind auch mit Blick auf seine späte, religionsphilosophisch so bedeutsame Unterscheidung zwischen ›negativer‹ und ›positiver Philosophie‹ besonders relevant. Obgleich er die philosophische Theologie Kants in mancher Hinsicht als problematisch ansah (und vor allem auch Kants Kritik das Verfehlte der traditionellen Gottesbeweise eigentlich gar nicht getroffen habe), anerkannte Schelling stets – als das positive Resultat der Kantischen Kritik der rationalen Theologie – deren Einsicht, mit dem Begriff des ›Ideals der Vernunft‹ »Gott als den letzten, zum Abschluß der menschlichen Erkenntnis notwendigen Begriff bestimmt« (EPO 674), d. h. die Gottesidee als den »nicht zufällige[n], sondern […] notwendige[n] Inhalt der letzten, höchsten Vernunftidee« ausgewiesen zu haben. Deshalb markiere das Lehrstück
Schelling wird (mit den angezeigten Abkürzungen) zitiert nach F.W. J. Schelling: Ausgewählte Schriften in 6 Bänden. Frankfurt/Main 1985: Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie (EPO, in: Bd. 5); Zur Geschichte der neueren Philosophie (GNP, in: Bd. 4); Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie (EPM, in: Bd. 5). 1
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vom transzendentalen Ideal nicht nur die entscheidende Stelle im »Gebäude des Kantischen Kriticismus […], an den die spätere Entwicklung sich als eine notwendige Folge anschloß« (EPM 293 Anm. 1), sondern stelle auch in der ›negativen Philosophie‹ den ›höchsten Punkt‹ ihrer immanenten Denkbewegung dar, an dem die ganze ›rein rationale Philosophie‹ festzumachen sei. Jedoch darf solche Anerkennung nicht über das Zwiespältige von Schellings Anknüpfung an Kant hinwegsehen lassen;2 habe doch dessen ›Kritik‹ eben das der ›negativen Philosophie‹ aufgegebene »rationale System lediglich vorbereitet«, sei indes die eigentliche Vernunftwissenschaft noch schuldig geblieben. Desgleichen vermisse man bei Kant die der ›rationalen Philosophie‹ aufgegebene systematische Vermittlung und Explikation des Begriffs des ›Absoluten‹ und somit auch den daran geknüpften, von der eigentlichen ›Vernunftwissenschaft‹ zu erbringenden Aufweis desselben als »eine[r] aus der Natur der Vernunft selbst folgende[n] […] Idee«3 – nicht zuletzt fehle Zu Schellings Spätphilosophie als einer ›Weiterführung‹ der Kantischen Vernunftkritik vgl. Axel Hutter: Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings. Frankfurt/Main 1996; daß Schellings Spätphilosophie als »eine durchaus konsequente Fortführung Kants«, jedoch ebenso als ein – gewiß fragwürdiger – »Versuch, Kant zu überwinden« angesehen werden muß, hat Franz betont; vgl. Philosophische Religion. Eine Auseinandersetzung mit den Grundlegungsproblemen der Spätphilosophie F.W. J. Schellings. 3 Jedoch treten in Schellings Bezugnahmen auf das transzendentale Ideal durchaus widersprüchliche Einschätzungen dieses Lehrstücks zutage: Einerseits billigt Schelling Kant ja den Aufweis zu, daß diese »aus der Natur der Vernunft selbst [als deren ›notwendigem Inhalt‹] folgende Idee […] sich unwillkürlich zum Begriff eines solchen [vollkommensten] Wesens [d. i. des ›Vernunftideals‹] fortbestimmt« (EPM 294); dagegen macht er wiederum geltend, »daß der Begriff als der höchste und letzte erkannt, nicht bloß, wie bei Kant, angenommen oder vorausgesetzt war«, zumal Kants Kritik »Gott nur als notwendige Vernunftidee nachgewiesen hatte, was bei Kant allerdings nur versichert war« (EPO 675); vgl. auch ebd. 674: »Kant hatte Gott als den letzten, zum Abschluß der menschlichen Erkenntnis notwendigen Begriff bestimmt. Er hatte aber auch diese höchste Idee eigentlich nur aus der Erfahrung, aus der Tradition, aus dem allgemeinen Glauben der Menschheit, kurz nur als einen vorhandenen aufgenommen, er war nicht methodisch bis zu diesem Gedanken fortgeschritten.« Dem widerspricht schon Kants Hinweis auf die Vernunft-Notwendigkeit, sich einen Begriff von Gott selbst zu machen (vgl. VTP A 415 Anm. = AA 8,401); vielleicht noch deutlicher – jedenfalls auch gegenüber einem ›subtilen Anthropomorphismus‹ noch energischer als in der Kritik der reinen Vernunft – hat Kant in dieser späten Schrift betont (VTP A 412 ff. = AA 8,400), daß, »so abstract er auch ist«, der »transscendentale Begriff von Gott, als dem allerrealsten Wesen, […] in der Philosophie nicht umgangen werden« kann. 2
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freilich auch eine Erklärung darüber, wie denn jene beiden Vernunftbegriffe ›ens realissimum‹ und ›ens necessarium‹ »aneinander grenzen« (EPO 770). Damit geht der Vorwurf Schellings einher, Kant habe unkritischerweise den Begriff der omnitudo realitatis mit dem Gottesbegriff identifiziert und es nicht zuletzt auch verabsäumt, eine nähere Differenzierung des ›Ding an sich‹ (im Sinne der Unterscheidung des ›Übersinnlichen vor‹ und ›über‹ aller Erfahrung) zu leisten. Ebensowenig habe das kritische Programm Kants die Grenzen der ›negativen Philosophie‹ in Sicht gebracht oder diese etwa gar überschritten – auch hier müsse gelten: »er hatte den Anfang einer Sache gemacht, die zu Ende geführt werden mußte« (EPM 378). Erst seiner systematischen Explikation der ›negativen Philosophie‹ traute Schelling es offenbar zu, gleichermaßen der ›Ohnmacht der Vernunft‹ inne zu werden und sich in diesem Aufweis auch als ›negative Philosophie‹ zu bestimmen bzw. als solche begreifen zu können. Aufgrund dieser erheblichen Defizite4 ist nach dem Urteil Schellings jedoch nicht nur die Ausbildung der ›rein-rationalen Philosophie‹ ein von Kant unbewältigtes Problem geblieben. Zudem habe sein kritisches Programm die Philosophie – ungeachtet der ihm von Schelling zugebilligten Einsicht in die notwendige Scheidung von ›negativer‹ und ›positiver Philosophie‹ – auch lediglich »auf den Weg gebracht, sich als negative oder rein rationale abzuschließen und zu vollenden; aber zu einer positiven Philosophie hatte er durchaus keine Mittel gegeben« (EPO 686),5 vielmehr werde von Kant (in der ›praktischen Freiheit‹) das »Positive« doch lediglich »durch die Hintertüre wieder eingeführt« (ebd.). Mit der von ihm vorgenommenen »Grenzbestimmung der menschlichen Vernunft«, die sich in Wahrheit ohnehin schon mit einer
Diese (hier lediglich aufgezählten) vielschichtigen Einwände Schellings gegen Kants ›Kritik‹ und deren ›philosophische Theologie‹ können in diesem Aufsatz nicht näher verfolgt werden. Die folgenden Überlegungen müssen sich auf die Hauptaspekte von Schellings Kritik an Kants ›Ethikotheologie‹ (›Postulatenlehre‹) beschränken. 5 In einer gewissen Spannung zu dieser Argumentation Schellings steht die von ihm noch in seinen Vorlesungen ›Zur Geschichte der neueren Philosophie‹ Kant zugestandene (auch dem ›praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen‹ zugrunde liegende) Auffassung: »Wenn es eine wahre Metaphysik gäbe (diese Meinung gibt Kant überall zu erkennen), so müßte sie Gott als freien Urheber der Welt, sie müßte die moralische Freiheit des Menschen neben dem unverbrüchlichen Causalnexus in der Natur und die Unsterblichkeit des menschlichen Wesens dartun.« (GNP 501) Eben daran orientiert sich die von Kant angezeigte (vgl. Anm. 13) Korrelation dieser Vernunftideen. 4
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bloßen ›Grenzbestimmung des Verstandes‹ begnügte, bleibe hingegen die allein über den Aufweis der ›Ohnmacht der Vernunft‹ zu leistende (rechtens erst so zu nennende) ›Selbstbegrenzung der Vernunft‹ gleichermaßen uneingelöst.6 Damit mußte Kants kritisches Resultat erst recht das unabweisliche Problem der ›absoluten Transzendenz‹ Gottes verfehlen, das allein über jenen Erweis der ›Ohnmacht der Vernunft‹ zu vermitteln ist. Jener die ›negative Philosophie‹ abschließende Gottesbegriff demonstriere mit solchem ›Gott am Ende‹ – und zwar unbeschadet des in Kants Lehre vom ›Ideal der Vernunft‹ so eindrucksvoll bekundeten »tiefe[n] Gefühl[s] für die Erhabenheit dieses allem Denken zuvorkommenden Seins« – den wahren »Abgrund der Vernunft« – recht verstanden zugleich die Überforderung der Vernunft – und führe so unausweichlich auf die »Antinomie zwischen dem, was aus der Vernunft [als ›Gott am Ende‹] mit Notwendigkeit folgt«, und demjenigen, was »wir eigentlich wollen, wenn wir Gott wollen« (GNP 437). Freilich, noch in der über Kants ›Kritizismus‹ hinausweisenden Vernunftwissenschaft und den daran geknüpften unabweislichen Aufgaben sah Schelling einen »Abkömmling der sogenannten kritischen« (EPO 670 f.): »Sobald aber die erste Philosophie das Prinzip ermöglicht oder erzeugt hat, hat sie ihr Ende erreicht; denn sie kann das Prinzip nur erzeugen, nicht auch realisieren; daher sie auch die negative Philosophie zu nennen [ist], indem sie, so wichtig, ja unentbehrlich sie ist, doch in Beziehung auf das allein Wissenswerte und das aus ihm Abzuleitende nichts weiß; denn sie setzt das Prinzip nur durch Ausscheidung, also negativ, sie hat es zwar als das allein Wirkliche, aber nur im Begriff, als bloße Idee. Da sie, als das Prinzip suchend, erst die Möglichkeit einer Philosophie untersucht, ist sie die kritische, die Aufgabe Kants« (EPM 572). Letztendlich habe sich das kritizistische Resultat eben doch schon mit der bloßen Entlarvung einer ›dogmatistischen Metaphysik‹ begnügt, ohne über das Motiv der ›kritischen Transzendenz‹ hinaus zur Anerkenntnis des diesem ›apriorischen Vernunftbegriff‹ ›unvordenklich‹ (als ›bloß Existierendem‹) Vorausliegenden (und damit zur ›absoluten Transzendenz‹ Gottes) zu einer wahrhaft ›dogmatischen Philosophie‹ zu gelangen. Damit, so Schelling, sei eben auch dem von Kant zwar intendierten eigentlichen ›Endzweck der Metaphysik‹, d. i. »von der Erkenntniß des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten« (FM A 11 = AA 20,260), noch In der ›Selbstbegrenzung der Vernunft‹ sah bekanntlich Walter Schulz das Zentralmotiv des späten Schelling. 6
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keineswegs in angemessener Weise entsprochen.7 Dies gelte freilich ebenso für die »auf dem Kriticism der praktischen Vernunft gegründete wahre Religionslehre« Kants (SF A 94 = AA 7,59); auch sie war deshalb der unnachgiebigen Kritik Schellings ausgesetzt, bleibe der seiner Postulatenlehre zugrunde liegende Anspruch eines ›praktisch-dogmatischen Überschritts zum Übersinnlichen‹ (vgl. dazu FM A 100 ff. = AA 20,292 ff.) doch ebenfalls noch dem Denkrahmen der ›negativen Philosophie‹ verhaftet, ohne damit die Eigenart und den spezifischen Anspruch derselben im Verhältnis zur ›positiven Philosophie‹ begreifen zu können. Für das Verständnis und für eine angemessene Beurteilung von Schellings besonderen Einwänden gegen Kants Religionsphilosophie (Postulatenlehre, Ethikotheologie) scheint es gleichermaßen zweckmäßig, sich zunächst ein von Schelling aufgenommenes Grundanliegen der Kantischen Konzeption einer Vernunftreligion kurz zu vergegenwärtigen.
2. Kants ›Aufhebung‹ der Wissensansprüche im Vorblick auf Schellings Kritik an der Kantischen Religionsphilosophie Schon der berühmte programmatische Satz: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX), läßt Kants Absicht erkennen, zunächst einmal, in einer kritischen Sondierung und Differenzierung menschlicher Vernunftansprüche, den Ort der Gottesfrage bzw. der Religion in einer für den modernen Menschen angemessenen Weise zu bestimmen. Im Ausgang von der Frage, was es denn mit Blick auf die besondere Weltstellung des Menschen als ›vernünftiges Weltwesen‹ (so z. B.
Der »Endzweck der Metaphysik« setzt die »Ausmessung des Verstandesvermögens und seiner Principien« gemäß der zu wahrenden ›kritischen Transzendenz‹ voraus, »um zu wissen, von wo an die Vernunft, und mit welchem Stecken und Stabe von den Erfahrungsgegenständen zu denen, die es nicht sind, ihren Überschritt wagen könne.« (FM A 12 = AA 20,260) – Eine genaue Explikation dieser Kantischen Idee des »Endzweck der Metaphysik« wäre wohl im Ausgang von der Idee des ›höchsten metaphysischen Guts‹ (ens realissimum); vgl. FM A 126 = AA 20,301 f.; zu dessen Realisierung, Hypostasierung und Personifizierung vgl. jedoch KrV B 611 Anm.) über diejenige des ›höchsten ursprünglichen Guts‹ (und dessen Explikation als »Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck«; FM A 115 = AA 20,298) zu derjenigen des ›höchsten abgeleiteten Guts‹ (vgl. KpV A 226) und schließlich des ›obersten Guts‹ (KpV A 198 f.) zu leisten. 7
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KU B 414; 421) näherhin bedeute, sich im Denken und Handeln den differenzierten Rationalitätsansprüchen und dem ›Primat des Praktischen‹ gemäß zu ›orientieren‹, werde deutlich, daß jener im theoretischen Vernunftgebrauch zwar notwendig resultierende (weil auf ›Totalität‹ und somit auf den ›Gedanken des Abschlusses‹ abzielende) Begriff Gottes als ›fehlerfreies Ideal der Vernunft‹, der zwar (als omnitudo realitatis) »die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet« (KrV B 669), keinesfalls schon das letzte Wort bleiben kann.8 Das prinzipielle Ungenügen eines traditionellen metaphysischen Gottesbegriffes schlägt nach Kant jedoch insofern auf das menschliche Selbstverständnis zurück, als in solcher Beschränkung auf den bloß theoretischen Vernunfthorizont zweifellos auch die besondere Weltstellung des Menschen als ›copula von Endlichem und Unendlichem‹ – im Sinne der wichtigen Kantischen Unterscheidung zwischen ›Vernunftwesen‹ und bloß ›vernünftigem Wesen‹ (MST A 65 = AA 6,418) – nicht zureichend auszuweisen ist. Vor allem in solcher Absicht, d. h. mit Blick auf die moralisch-praktische Bestimmung des Menschen, kritisierte Kant auch die prinzipielle Unangemessenheit – weil Bedeutungslosigkeit – jenes »Begriffs von einem metaphysischen Gott«, bleibt doch der »Begriff von diesem metaphysischen Gott«, ungeachtet seiner spekulativen Unverzichtbarkeit als ›Gedanke des Abschlusses‹, noch »immer ein leerer Begriff« (FM A 131 = AA 20,304) und somit als »Ideal, welches lediglich ein Product der reinen Vernunft war, […] kümmerlich genug, und weit unter der Würde seines Gegenstandes« (KrV B 658). Dieser (mit Schelling gesprochen) zwar »letzte, alles abschließende Begriff der Vernunft« war auch für Kant ein bloßer »Gott am Ende« und macht so seine ausdrückliche Weigerung verständlich, an den Begriff eines letztlich doch bloß deistisch gedachten ›höchsten Wesens‹ den Begriff eines Gottes zu verschwenden (vgl. KU B 403); dies veranlaßte ihn sodann, über diesen bloß ›deistischen Begriff‹, Die von Kant bezüglich dieses Begriffs des ens realissimum ausdrücklich gestellte Frage: »soll ich mir Gott als Inbegriff […] aller Realitäten, oder als obersten Grund derselben, denken?«, wird von ihm selbst sodann – entschiedener noch als in der Kritik der reinen Vernunft – dahingehend beantwortet, daß doch lediglich das als ›Grund aller Realität‹ verstandene ens realissimum einen unkritischen Anthropomorphismus vermeiden läßt, überdies – und vor allem – der Vernunftbestimmung des Menschen ›in praktischer Rücksicht‹ allein angemessen ist und so auch eine bloß deistische Konzeption des ens realissimum zu überwinden vermag. – Zu dem von Kant wiederholt angesprochenen Unterschied zwischen einem bloß deistischen und einem ›theistischen‹ Gottesbegriff vgl. KrV B 660. 8
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d. i. die »Idee eines höchsten Wesens«, hinaus zur Idee »einer intelligibelen Welt« fortzuschreiten (Prol A 182 = AA 4,361). Eben in solcher Absicht ist Kants kritisches Vorhaben einer »auf dem Kriticism der praktischen Vernunft gegründete[n] wahre[n] Religionslehre« (SF A 94 = AA 7,59) zunächst als der Versuch zu verstehen, dem durch die Herausforderungen der Moderne in mannigfacher Hinsicht zu einem neuen Selbstverständnis gelangten Menschen die Gottesfrage als ein unabweisliches Vernunftproblem verständlich zu machen. Kants diesbezügliches Anliegen, das sich hierbei an einer Differenzierung der den Begriff des Menschen als eines ›vernünftigen Weltwesens‹ (dies ist offenbar Kants Charakterisierung des Menschen als animal rationale) definierenden ›Rangordnung der wesentlichen Zwecke‹ orientierte, zielte so primär darauf ab, die Hoffnungsfrage als eine ›vernunftgemäße‹ zu rechtfertigen und den ›postulatorisch‹ verankerten ›Hoffnungsglauben‹ – solche Kennzeichnung dürfte auch der Kantischen Bestimmung von ›fides‹ (Log A 105 Anm. = AA 9,69 Anm.) entsprechen – darin als einen unabweislichen Sinnanspruch menschlichen Daseins auszuweisen. Solche umfassende Daseinsorientierung liegt auch dem Kantischen ›Weltbegriff der Philosophie‹ als der »Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft« zugrunde.9 Soll der Mensch – eben nicht dem bloß theoretischen »Bedürfnis der forschenden Vernunft«, sondern dem seiner »praktischen Bestimmung« entsprechenden »Bedürfnis der fragenden Vernunft« (d. h. keineswegs von bloßem ›Wunschdenken‹ geleitet!; vgl. KpV A 259 Anm.) gemäß – sich in der Gottesthematik tatsächlich ›wiederfinden‹ können, so ist diese nach Kant zunächst einmal über eine entsprechende Differenzierung unabweislicher praktischer Vernunftansprüche, d. i. im Sinnhorizont der Freiheit, zu legitimieren. Allein im Bedürfnis der fragenden Vernunft dieses ›vernünftigen Weltwesens‹ und seiner Weltstellung sah Kant die Idee des ›höchsten Gutes‹ und damit die Gottesfrage verankert (vgl. RGV B 63 Anm. = AA 6,52); dergestalt resultiert der ›moralische Schon hier sei darauf hingewiesen, daß Schelling – ganz im Sinne von Kants Unterscheidung zwischen dem ›Schul‹- und ›Weltbegriff der Philosophie‹ – die ›negative Philosophie‹ vorzugsweise als eine »Philosophie für die Schule […], die positive [als] die Philosophie für das Leben« (so z. B. EPO 605) gekennzeichnet hat; ihm zufolge sollten in der Philosophie »jene großen, das menschliche Bewußtsein aufrecht erhaltenden Überzeugungen gewonnen werden, ohne die das Leben keinen Zweck hat, und darum aller Würde und Selbständigkeit entbehren würde« (ebd.). Erst die ›positive Philosophie‹ entspricht dem ›Weltbegriff der Philosophie‹. 9
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Vernunftglaube‹ und die ihm korrespondierende Gottesidee bekanntlich aus der Hoffnung auf das ›höchste Gut‹ als unseren praktischen Endzweck, garantiert doch allein dieses Gottespostulat die Sinnhaftigkeit dieser in einem praktischen Vernunftbedürfnis verankerten Hoffnung, weshalb »Moral […] unumgänglich zur Religion« führe (RGV BA IX = AA 6,6). Dahin weist auch die der Kantischen Postulatenlehre zugrunde liegende Auskunft, daß der für die Religion taugliche Gottesbegriff eben ausschließlich »ein Begriff von ihm als einem moralischen Wesen« sei: »Aus dem moralischen Gesetz, welches uns unsere eigene Vernunft mit Autorität vorschreibt, nicht aus der Theorie der Natur der Dinge an sich selbst, geht nun der Begriff von Gott hervor, welchen uns selbst zu machen die praktische reine Vernunft nöthigt« (VTP A 415 Anm. = AA 8,401 Anm.) – obgleich dieser Gottesbegriff nicht zur Begründung der Moral mißbraucht werden darf. Von solcher Absicht war offenbar auch Kants Kennzeichnung des »Endzwecks der Metaphysik«, d. i. deren »praktisch-dogmatischer Überschritt zum Übersinnlichen«, geleitet; darauf zielte ebenso sein bemerkenswerter Hinweis auf die in der ›Geschichte der menschlichen Vernunft‹ aufweisbare Korrelation des praktisch-sittlichen Selbstverständnisses des Menschen mit dem je bestimmten Gottesverständnis. Ausdrücklich insistierte Kant ja auf der unauflöslichen Korrespondenz der Bestimmung des Begriffs der Gottheit und »selbst unser[es] eigenen Dasein[s]« (KU B 474) in dem bestimmten Sinne, daß dem »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« ein »Fortschritt im Bewußtsein der Gottheit« entspricht;10 noch Kants später Rekurs auf die durch »hergebrachte fromme Lehren erleuchtete praktische Vernunft« (vgl. EaD A 515 = AA 8,336) ist wohl in solchem Sinne zu verstehen. Dies verdeutlicht, daß der metaphysische Gottesbegriff als ›fehlerfreies Ideal der Vernunft‹ für sich genommen nicht nur unbestimmt bleiben müsse, sonDies macht auch die von Kant konstruierte Kontroverse deutlich (SF A 66 = AA 7,46): »Einwurf: Als Offenbarung muß die Bibel aus sich selbst und nicht durch die Vernunft gedeutet werden; denn der Erkenntnißquell selbst liegt anderswo als in der Vernunft. Antwort: Eben darum, weil jenes Buch als göttliche Offenbarung angenommen wird, muß sie nicht blos nach Grundsätzen der Geschichtslehren (mit sich selbst zusammen zu stimmen) theoretisch, sondern nach Vernunftbegriffen praktisch ausgelegt werden; denn daß eine Offenbarung göttlich sei, kann nie durch Kennzeichen, welche die Erfahrung an die Hand giebt, eingesehen werden. Ihr Charakter (wenigstens als conditio sine qua non) ist immer die Übereinstimmung mit dem, was die Vernunft für Gott anständig [!] erklärt.« 10
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dern überhaupt erst der über den ›Primat des Praktischen‹11 und im Sinnhorizont einer ›Freiheit im Lichte der Hoffnung‹ (Paul Ricœur) vermittelte ›praktisch-dogmatische Überschritt‹ einen der Weltstellung des Menschen angemessenen »genau bestimmten Begriff Gottes« eröffne, weshalb es auch unumgänglich sei, »die mangelhafte Vorstellung einer physischen Teleologie, von dem Urgrunde der Zwecke in der Natur, bis zum Begriffe einer Gottheit zu ergänzen« (KU B 404). Gemäß dem »Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der speculativen« verbietet die Unbedingtheit der ›praktischen Vernunftansprüche‹ jedwede Unterordnung der praktischen Vernunft (KpV A 219), zumal dies, gemäß jenem zweifachen Vernunftbedürfnis, der offenbar auch Kant bewußten Antinomie zwischen dem, »was die Vernunft mit Notwendigkeit denkt, und dem, was wir eigentlich wollen, wenn wir Gott wollen« (GNP 21), zuwider liefe – in Kants Worten: »Da man unter dem Begriffe von Gott nicht etwa bloß eine blindwirkende ewige Natur, als die Wurzel der Dinge, sondern ein höchstes Wesen, das durch Verstand und Freiheit der Urheber der Dinge sein soll, zu verstehen gewohnt ist, und auch dieser Begriff allein uns interessiert« (KrV B 660 f.). Schellings Einwand, daß »der bloße Begriff des notwendig Seienden […] also nicht auf den lebendigen, sondern auf den toten Gott führen« würde (GNP 438), sowie sein Zweifel, »ob der Begriff des notwendig existierenden Wesens mit dem Begriff Gottes identisch sei« (GNP 438), hätte demnach durchaus Kants Zustimmung gefunden – denn nach dem ›lebendigen Gott‹ selbst verlangt der Mensch auch laut Kant, wenn es eben nicht »um bloß speculative Vernunft zu thun ist« (KrV B 729) –, soll doch gelten, daß »alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur beSchon hier ist an den höchst bedeutsamen – die Lehre »Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft« und die unterschiedlichen ›Vernunftinteressen‹ (KpV A 215 ff.) begründenden – Sachverhalt zu erinnern, daß dieses ›Ideal der Vernunft‹ nach Kant lediglich am weitesten »von der objektiven Realität entfernt zu sein« scheint (KrV B 596 f.); dieses »Übersinnliche in uns« offenbart sich nach Kant in dem »positiven Begriffe der Freiheit« (KpV A 52), worin ›reine praktische Vernunft‹ »ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That beweiset« (KpV A 3). Vgl. dazu Kants (vor allem auch bezüglich des Status des ›Ideals‹ interessanten) Hinweis auf diese »moralische, von der Menschheit unzertrennliche Anlage in uns« als dem »Gegenstand der höchsten Bewunderung, die, je länger man dieses wahre (nicht erdachte [!]) Ideal ansieht, nur immer desto höher steigt« (SF A 92 = AA 7,58 f.). Zu Kants Begründung des ›Primats der praktischen Vernunft‹ vgl. Fischer: Kants These vom Primat der praktischen Vernunft. Zu ihrer Interpretation im Anschluß an Gedanken von Emmanuel Levinas. 11
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dingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist« (KpV A 219)! Erst solche Unterscheidung läßt auch die unzureichende Bestimmung des Begriffs des ›transscendentalen Ideals‹ als eines »bloßen Aggregats von abgeleiteten Wesen« vermeiden und eröffne dagegen die Möglichkeit, auf kritische Weise (d. h. ohne Rückfall in einen vorkritischen ›Anthropomorphismus‹) die Idee eines ›Welturhebers‹ als eines Wesens zu denken, »das durch Verstand und Freiheit den Urgrund aller anderen Dinge in sich enthalte« (KrV B 659). Von jenem unabweislichen ›Bedürfnis der fragenden Vernunft‹ ausgehend, bestimmte Kant bekanntlich das Dasein Gottes als ein unverzichtbares ›Postulat der praktischen Vernunft‹ – als »einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz […], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt« (KpV A 220), zumal das ›höchste Gut‹ als Gegenstand menschlichen Hoffens (das ›ganze Objekt der praktischen Vernunft‹) doch allein unter der Voraussetzung des Daseins Gottes, einer ›Voraussetzung in notwendig praktischer Rücksicht‹ (vgl. KpV A 238), begründbar ist. Daß letzteres als ratio essendi des ›höchsten abgeleiteten Guts‹ verstanden wird, jenes hingegen als ratio cognoscendi der Kennzeichnung Gottes als ›höchstem ursprünglichen Gut‹ fungiert – diese Gedankenfigur hat Kant in seiner Lehre vom ›symbolischen Anthropomorphismus‹ näher expliziert.
a) Die daran geknüpfte kritische Konzeption eines ›symbolischen Anthropomorphismus‹ Kant hat bekanntlich die in seiner ›Grenzbestimmung der menschlichen Vernunft‹ leitende Absicht, Gottes Transzendenz vor den ›Spießen und Stangen‹ des endlichen Verstandes zu bewahren und die daran geknüpfte Distanzierung einer unhaltbaren ›suppositio absoluta‹ (als dem überschwenglichen Versuch einer ›dogmatistischen Metaphysik‹, erforschen zu wollen, was Gott »an sich für ein Wesen sei«)12 mit dem kritischen Motiv eines ›symbolischen
Kant verwirft dies bekanntlich als eine unkritische ›suppositio absoluta‹ (Prol A 178 = AA 4,359): »Wir gestehen dadurch: daß uns das höchste Wesen nach demjenigen, was es an sich selbst sei, gänzlich unerforschlich und auf bestimmte Weise [!] sogar undenkbar sei, und werden dadurch abgehalten, nach unseren Begriffen, die wir von der Vernunft als einer wirkenden Ursache (vermittelst des Willens) haben, keinen trans12
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Anthropomorphismus‹ verbunden. Über jene ›Grenzbestimmung der Vernunft‹ hinaus sollte dies eine kritische Rechtfertigung anthropomorpher Gott-Rede ermöglichen und eine entsprechende Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch begründen (Prol A 175 = AA 4,357; erste Hvh. v. Vf.): »Wir halten uns auf dieser Grenze, wenn wir unser Urtheil blos auf das Verhältniß einschränken, welches die Welt zu einem Wesen haben mag, dessen Begriff selbst außer aller Erkenntniß liegt, deren wir innerhalb der Welt fähig sind. Denn alsdenn eignen wir dem höchsten Wesen keine von den Eigenschaften an sich selbst zu, durch die wir uns Gegenstände der Erfahrung denken, und vermeiden dadurch den [unkritischen] dogmatischen Anthropomorphismus; wir legen sie aber dennoch dem Verhältnisse desselben zur Welt bei und erlauben uns einen symbolischen Anthropomorphism, der in der That nur die Sprache und nicht das Object selbst angeht«. Solche ›Grenzreflexion‹ ermögliche es, von dieser – als terminus a quo (›was nur der Verstand denkt‹) offenbar schon vorausgesetzten (vgl. 3.a) – theologischen Idee eines ›höchsten Wesens‹ als einem bloßen ›Verstandeswesen‹ (Gegenstand der ›natürlichen Theologie‹, als ein ›von der Welt ganz unterschiedenes Wesen‹) in behutsamer Wahrung der ›kritischen Transzendenz‹ eine »Kausalität durch Vernunft in Ansehung der Welt zu prädizieren«. So werde vermieden, jenem bloßen ›Verstandeswesen‹ »diese Vernunft an ihm selbst, als eine ihm anklebende Eigenschaft, beizulegen« (Prol A 177 = AA 4,358); dies sei nur in dem relativen Sinne erlaubt, daß »dieser Ausdruck nur das Verhältniß anzeigt, was die uns unbekannte oberste Ursache zur Welt hat, um darin alles im höchsten Grade vernunftmäßig zu bestimmen« (Prol A 178 = AA 4,359) und »zu diesem Behuf sich der Beziehung […] auf eine selbständige Vernunft, als der Ursache aller dieser Verknüpfungen, zu bedienen, hiedurch aber nicht etwa sich blos ein Wesen zu erdichten, sondern, da außer der Sinnenwelt nothwendig Etwas, was nur der reine Verstand denkt, anzutreffen sein muß, dieses nur auf solche Weise, obwohl freilich blos nach der Analogie, zu bestimmen« (Prol A 182 = AA 4,361).
scendenten Gebrauch zu machen«.– Die ›kritische‹ Funktion der transzendentalen Ideen hat Kant besonders deutlich auch in folgendem Passus der Prolegomena angesprochen (Prol A 186 = AA 4,363): »So dienen die transscendentale Ideen, wenn gleich nicht dazu, uns positiv zu belehren, doch die freche und das Feld der Vernunft verengende Behauptungen des Materialismus, Naturalismus, und Fatalismus aufzuheben, und dadurch den moralischen Ideen außer dem Felde der Speculation Raum zu verschaffen«.
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Dieserart soll solches ›kritisches‹ Denken von jenem bloß »deistischen Begriff des Urwesens« (Prol A 177 = AA 4,358) zu dem der praktischen Weltstellung des Menschen erst angemessenen Begriff von einem ›lebendigen Gott‹ (vgl. KrV B 661) fortschreiten und so vor Augen führen, wie bzw. wodurch »Gott ein Gegenstand der Religion wird« (KpV A 236 Anm.; Hvh. v. Vf.). In gebotener Rücksicht auf den Menschen als ›vernünftiges Weltwesen‹ sind die daraus resultierenden Gottesprädikate (als ›heiliger Gesetzgeber‹, ›gütiger Regierer‹ und ›gerechter Richter‹) nach Kant allein in kritisch-›anthropomorphistischer Brechung‹ aufzunehmen – also im Sinne einer ›symbolischen Darstellung‹ des ›höchsten metaphysischen Guts‹ (vgl. FM A 126 = AA 20,302) als »höchstes ursprüngliches Gut«, d. h. bloß quoad nos, also »gültig für Menschen, als vernünftige Weltwesen überhaupt, und nicht blos für dieses oder jenes Menschen zufällig angenommene Denkungsart« (FM A 136 = AA 20;306). In der durch diesen ›symbolischen Anthropomorphismus‹ gleichermaßen eröffneten wie auch ›kritisch gebrochenen‹ Gott-Rede ließ sich Kant offenbar von der kritischen Einsicht leiten, daß der von Gott sprechende Mensch recht verstanden eben tatsächlich stets von sich vor Gott spricht (Prol A 176 = AA 4,357 f.; letzte Hvh. v. Vf.): »Vermittelst dieser Analogie bleibt doch ein für uns hinlänglich bestimmter Begriff von dem höchsten Wesen übrig, ob wir gleich alles weggelassen haben, was ihn schlechthin und an sich selbst bestimmen könnte; denn wir bestimmen ihn doch respectiv auf die Welt und mithin auf uns, und mehr ist uns auch nicht nöthig.« Seinem kritischen Anspruch zufolge richtet sich dieser »nur die Sprache und nicht das Object selbst« angehende symbolische Anthropomorphismus ebenso gegen die ›Gottes Transzendenz‹ nivellierenden ›Hypostasierungen‹ wie auch gegen nicht weniger unkritische und sprachlose Fixierungen einer bloß negativen Theologie – gleichermaßen allerdings gegen pseudo-kritische Entlarvungen des religiösen Bewußtseins.
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3. Zu Schellings Kritik an Kants Postulatenlehre a) Die ›objektive Realität‹ Gottes – ein von Kant uneingelöstes Versprechen und die grundsätzliche Aporie in Kants ›symbolischem Anthropomorphismus‹ Während Kant also in diesem »nur die Sprache und nicht das Object selbst« angehenden ›symbolischen Anthropomorphismus‹ die Möglichkeit eines kritischen, dem ›Primat der praktischen Vernunft‹ angemessenen Gottesbegriffs begründet sah, blieb auch diese ›postulatorisch‹ vermittelte Hoffnungs- und Gottesfrage der Kritik des späten Schelling ausgesetzt. Denn genauer besehen übersteige auch die im Sinne der Postulatenlehre eingeholte Gottesthematik und der daran geknüpfte Anspruch des Aufweises der objektiven Realität dieser Vernunftidee keineswegs die bloße Vernunftwissenschaft; sie leiste – abgesehen von anderen Defiziten und einer offenkundig äquivoken Bestimmung der objektiven Realität13 – zuletzt doch nicht mehr als dies, vermittelst der moralischen Prinzipien der Vernunft und auf jenem Weg des ›symbolischen Anthropomorphismus‹ einen bestimmten ›Begriff von Gott‹ hervorzubringen, d. h. den bloß deistischen Begriff des ›höchsten Wesens‹ in die durch den ›symbolischen Anthropomorphismus‹ praktisch-bestimmbar gewordene Gottesidee überzuführen – gar nichts anderes bedeute also deren angebliche ›Realisierung‹. Dies scheint in der Tat jenen Einwand Schellings zu bestätigen, daß Kants kritische Konzeption ihr »Prinzip nur erzeugen, nicht auch realisieren« könne (EPM 572); auch sein anerkennenswertes Bemühen um die Wahrung der ›kritischen Transzendenz‹ Gottes und der darin begrün-
Dies zeigt sich darin, daß Kant mit ›objektiver Realität‹ immer wieder lediglich meint, »einen genau bestimmten Begriff dieses Urwesens« (KpV A 251), eben im Sinne einer ›sachhaltigen Bestimmtheit‹, anzugeben und so die Möglichkeit desselben (KpV A 4 f.) zu beweisen. – Unübersehbar korrespondieren Kants Begriff der ›transzendentalen Freiheit‹, der entsprechende ›Person‹ – sowie der Gottesbegriff der ›transzendentalen Theologie‹ auf der ›transzendentalen Begründungsebene‹ der ›negativen Philosophie‹; entsprechend dem (vom bloß ›negativen Begriff‹ unterschiedenen) ›positiven Begriff der Freiheit‹, der ›Freiheit im positiven Verstande‹ (der Freiheit, ›positiv betrachtet‹), – worin »diese Idee […] sich durchs moralische Gesetz« »offenbart« (KpV A 5), resultiert die ›objektive Realität‹ dieses Gottesbegriffs – freilich nur im Sinne eines »genau bestimmten Begriffs dieses Urwesens« (ebd.) – und die im praktischen Vernunftbedürfnis verankerte Forderung: »Ich will, daß ein Gott […] sei« (KpV A 258). 13
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dete ›symbolische Anthropomorphismus‹ müsse indes – trotz der Unverzichtbarkeit der ›negativen Philosophie‹ – die ›absolute Transzendenz‹ Gottes verfehlen. Was Schelling auch dieser Kantischen Version einer ›negativen Philosophie‹ entgegenhielt, war also vornehmlich dies, daß deren auf dem Weg der kritischen Ausscheidung ›via negationis‹ ›am Ende‹ gleichsam ›zu Tode gereinigter‹ Gottesbegriff in der daraus resultierenden Bestimmungs- und Sprachlosigkeit im Negativen verhallen müsse bzw. jedes ›reale Verhältnis‹ des Menschen zu Gott sich in der Folge in das widersprüchliche Programm einer ›Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ verflüchtige – eben deshalb sei diese auch bloße ›Kritik‹, d. h. noch ›nicht Philosophie‹ (EPO 756). Letztendlich bleibe gerade auch jene für eine kritisch-affirmative Gottrede von Kant legitimierte Gedankenfigur des ›symbolischen Anthropomorphismus‹ (sowie die daraus vermittelten Prädikate) hinter der Forderung einer ›positiven Philosophie‹, über die bloße ›Vernunftwissenschaft‹ hinauszugehen, zurück, weshalb das darin (jedenfalls dem Anspruch nach) gedachte ›religiöse Verhältnis‹ wohl eher eine Verlegenheit widerspiegle, keineswegs jedoch als eine angemessene Auflösung des Sachproblems gelten dürfe. Vielmehr bestätige jener von Kants Postulatenlehre beanspruchte Aufweis, wie »Gott ein Gegenstand der Religion wird«, und die daran geknüpfte kritische Vermittlungsfigur des ›symbolischen Anthropomorphismus‹ auch in dieser Hinsicht recht deutlich (obgleich unfreiwillig), daß die in der Kantischen Gestalt der ›Kritik‹ auftretende ›negative Philosophie‹ sich selbst gerade nicht als negative zu begreifen vermag, weshalb die in Kants Postulatenlehre zwar ausdrücklich erhobene »Forderung (dem Postulate, wie er sagte) des wirklich existierenden Gottes« (EPO 748) ein uneingelöstes Versprechen bleiben mußte (EPO 648): »Theoretisch war mit diesem negativen Resultat im Grunde alle wirkliche Religion aufgehoben; denn alle wirkliche Religion kann sich nur auf den wirklichen Gott, und zwar auf diesen nur als Herrn der Wirklichkeit beziehen; denn ein Wesen, das dieses nicht ist, kann nie Gegenstand einer Religion […] werden. Dies konnte aber nach dem negativen Resultat der Kantischen Kritik nie der Fall sein: denn war Gott als Herr der Wirklichkeit erkennbar, so gab es eine Wissenschaft, für die er Princip war, in der die Wirklichkeit von ihm abgeleitet werden konnte; aber dies leugnete Kant. – Noch weniger blieb ein mögliches Verhältnis der natürlichen Theologie zur geoffenbarten Religion übrig. Die geoffenbarte Religion setzt den sich offenbarenden, also den wirkenden und wirklichen Gott voraus. Von dem als existierend bewiesenen Gott, den die alte Metaphysik zu haben glaubte, war
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ein Übergang zu dem sich offenbarenden möglich; von dem Gott, der nur die höchste Vernunftidee ist, könnte nur in einem höchst uneigentlichen Sinne gesagt werden, daß er dem Bewußtsein sich offenbare, in einem ganz andern, als in dem der Offenbarungsgläubige von Offenbarung spricht«. Mehr noch: Dem späten Schelling zufolge blieb der von Kant intendierte Aufweis, wie dem »menschlichen Bewußtsein der Begriff Gottes praktisch entsteht« bzw. seine am ›symbolischen Anthropomorphismus‹ orientierte Begründung dafür, »wodurch Gott Gegenstand der Religion wird«, nicht nur einseitig, sondern begünstige geradezu selbst religionskritische Einwände anthropologischer Herkunft. Von der jenen kritischen ›symbolischen Anthropomorphismus‹ bestimmenden These, wonach der von Gott sprechende Mensch doch stets von sich vor Gott spricht, schien es Schelling offenbar lediglich ein kleiner Schritt zu der Auffassung, daß dieser in solchem ›Reden von sich vor Gott‹ letztendlich nur von sich selbst spricht. Schellings geradezu ›linkshegelianisch‹ anmutende Frage ist für diesen Verdacht wohl ein eindeutiges Indiz (EPO 756): »Wird man die andere Art, wie die ausschließlich negative Philosophie allein noch einen wirklichen Gott haben kann, besser finden? Ich meine die Ansicht, daß eben durch die Entwicklung des menschlichen Geistes, durch sein Fortschreiten zu immer höherer Freiheit, d. h. im Grunde zu immer höherer Negativität, Gott allein verwirklicht werde, d. h. daß Gott außer dem menschlichen Bewußtsein gar nicht da sey – der Mensch eigentlich Gott, und Gott nur der Mensch sey, was man nachher als Menschwerdung Gottes (der eine Gottwerdung des Menschen entsprach) sogar bezeichnete.« Auch gegenüber der unüberwindlichen Einseitigkeit jenes »bloß die Sprache und nicht das Objekt selbst angehenden« symbolischen Anthropomorphismus, der eben über ein (im Sinne des bloßen genitivus objectivus) einseitiges Verständnis der ›Darstellung Gottes‹ nicht hinauskomme, insistierte Schelling – gewissermaßen radikaler – geradewegs auf einem ›Anthropomorphismus Gottes‹ selbst: »Was er [Gott] auch ist, das ist er durch sich selbst, nicht durch uns«.14 So Schelling in seiner Replik auf die Anthropomorphismus-Kritik Eschenmayers (aus dem Jahr 1812; Schelling: Ausgewählte Schriften Band 4, 346). Schon der frühere Schelling hat demnach in Kants Lehre von dem ›symbolischen Anthropomorphismus‹ jene unüberwindliche Enge der ›Subjektivitätsphilosophie‹ Kants erkannt, die ihm den Zugang zu leitenden Motiven einer ›positiven Philosophie‹ verstellte: »Diese ganze Argumentation ist mit der Kantischen Philosophie zugleich veraltet, und sollte billig nicht mehr gehört werden. Wenn wir sagen: Gott darf nicht nach menschlichen Begrif14
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Nicht bloß das Vorläufige, sondern das prinzipiell Unzureichende, ja geradezu Verfehlte dieser spezifischen Ausprägung der Kantischen Religionsphilosophie wurde für Schelling – abgesehen von anderen Schwierigkeiten – demnach vor allem daraus erkennbar, daß die von Kant auf dem Weg seiner Postulatenlehre beanspruchte Möglichkeit »eines genau bestimmten Begriffs Gottes« zwar eine – lediglich äußerlich herangetragene – nähere (moralische) Bestimmung Gottes als ›Vernunftidee‹ ermöglichen mag, d. h. dem andernfalls völlig unbestimmt-›leeren‹ Gottesbegriff der Metaphysik ›objektive Realität‹ (in dem genannten Sinne) verleihe, jedoch nichts darüber hinaus. Gerade auch der nach Maßgabe praktischer Vernunftprinzipien zwar »genau bestimmte Begriff Gottes« reiche an die Wirklichkeit Gottes selbst nicht heran, zumal sich diese ›negative Philosophie‹ auch in einer solchen praktischen Akzentuierung mit einem »ideellen [d. h. theoretisch-rationalen] Verhältnis zu Gott« (EPM 569) – eben ›innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ – schon begnüge und auch jene im praktisch-dogmatischen Überschritt eröffnete symbolische Darstellung Gottes die – wahrhaft not-wendende – Wirklichkeit Gottes vollends verfehle (vgl. 4.a). Besonders deutlich tritt der Vorwurf Schellings, Kants ›Vernunftreligion‹ sei durch ein bloß ›einseitig-ideelles‹ Verhältnis – d. h. in Wahrheit: eine eigentümliche theoretische Verhältnislosigkeit15 – geprägt, auch in der These zutage, die ›negative Philosophie‹ könne fen gedacht werden, so machen wir die Beschaffenheit unserer menschlichen Begriffe ebenso – nur zum negativen Maß der Gottheit. […] Wenn also Gott selbstbewußt, selbsterkennend und persönlich ist, so ist dies für ihn ein Afficirtwerden durch die Begriffe unseres irdischen Verstandes […] und um dieses Afficirtwerden zu verhindern, muß er selbst auf Leben und Persönlichkeit Verzicht tun.« (ebd.) 15 Den Vorwurf eines bloß ›einseitig-subjektiven Tuns‹ hatte Schelling – allerdings in einem anderen Problemkontext – freilich auch gegen Kants Lehrstück vom ›Ideal der Vernunft‹ gerichtet. Zwar scheint es zunächst so zu sein, daß Kant zeige, wie »die Fortbestimmung zum Ideal wenigstens innerhalb der Idee selbst« vorgehe, wie diese »Idee […] sich unwillkürlich zum Begriff eines solchen Wesens fortbestimmt« (EPM 294) – jedoch erweise sich dies zuletzt »doch [als] unser Werk. Es ist uns nur natürlich, die Vorstellung eines Inbegriffs aller Möglichkeit zu realisieren, d. h. diesen Inbegriff als existierend uns vorzustellen, ihn ferner zu hypostasieren, d. h. zum einzelnen Ding ›zuzuspitzen‹, endlich weil eine wirkliche Einheit der Erscheinungen doch nur in einem Verstande zu denken ist, durch Personifikation bis zur höchsten Intelligenz zu erheben« (EPM 296). (Vgl. dazu den in Anm. 7 angeführten Passus Kants.) Ob Schellings diesbezüglicher Einwurf gegen Kant indes nicht doch dem recht nahe kommt, was dieser gelegentlich (FM A 130 = AA 20,349) einen »Fortschritt der Metaphysik durch die Hintertüre« genannt hat, sei hier nur als Frage angemerkt.
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Religion lediglich als »Religion der absoluten Subjektivität« und deshalb »nicht als objektive oder gar als geoffenbarte enthalten« (EPO 736). Mithin sei Kants Postulatenlehre eben genau dasjenige noch schuldig geblieben, was sie – fälschlicherweise – zu leisten vorgab, sofern »seine Philosophie mit der Forderung […] des wirklich existierenden Gottes, im Grunde also mit der Forderung einer positiven Philosophie, eines Hinausgehens über die bloße Vernunftwissenschaft endigte« (EPO 748; Hvh. v. Vf.). In Anknüpfung an jenen kritischen Hinweis Schellings, wonach »von dem Gott, der nur die höchste Vernunftidee ist, […] nur in einem höchst uneigentlichen Sinne gesagt werden« könne, »daß er dem Bewußtsein sich offenbare« (EPO 648), bleibt nun ja tatsächlich zu fragen, ob der von Kants ›symbolischem Anthropomorphismus‹ verfolgte kritische Anspruch, »Gott respektiv auf die Welt und mithin auf uns« zu bestimmen, im Grunde nicht doch an unausgewiesene Voraussetzungen geknüpft ist, die im Rahmen seines Kritizismus auch gar nicht gerechtfertigt werden können – schon deshalb nicht, weil, an kritizistischen Maßstäben gemessen, der in solcher ›Erkenntnis nach der Analogie‹ für dieses Verhältnis voraus-gesetzte ›terminus a quo‹, eben gar nicht in Bestimmtheit zu denken ist. Wie wäre denn nach Kant das »auf bestimmte Weise so gar undenkbar[e]« ›höchste Wesen‹ (Prol A 178 = AA 4,359; Hvh. v. Vf.), welches sich freilich bei ihm sogleich als die »uns unbekannte oberste Ursache« entpuppt (ebd.; Hvh. v. Vf.) als cogitabile auszuweisen – mit Blick auf Schelling: als ›Unvordenkliches‹ ›vor-zustellen‹? Tritt diese elementare Schwierigkeit bezeichnenderweise nicht auch in Kants Schwanken zwischen dem zu denkenden »Verhältnisse dieses Wesens [d. i. Gottes] zur Welt« (KU B 451)16 und dem (dann wiederum stillschweiIndes ist es eine andere Frage, ob es denn von Kants Voraussetzungen her erlaubt sein kann, von einem »moralischen Verhalten [!] Gottes zum menschlichen Geschlechte« zu reden (RGV B 211 = AA 6,140), ohne hierfür diesen bloß regulativen Status im Sinne einer bloßen suppositio relativa stillschweigend zu relativieren (bzw. relativieren zu müssen); wäre für diesen Fall nicht auch in diesem Punkt ein über Kant hinausweisender Anknüpfungspunkt zur ›positiven Philosophie‹ gegeben? Vgl. Prol A 182 f. = AA 4,361 f.: »›daß uns Vernunft durch alle ihre Principien a priori niemals etwas mehr, als lediglich Gegenstände möglicher Erfahrung und auch von diesen nichts mehr, als was in der Erfahrung erkannt werden kann, lehre‹; aber diese Einschränkung hindert nicht, daß sie uns nicht bis zur objectiven Grenze der Erfahrung, nämlich der Beziehung auf etwas, was selbst nicht Gegenstand der Erfahrung, aber doch der oberste Grund aller derselben sein muß, führe, ohne uns doch von demselben etwas an sich, sondern nur in Beziehung auf ihren eigenen vollständigen und auf die höchsten Zwecke gerichteten Gebrauch im 16
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gend) umgekehrten ›Verhältnis der Welt zu Gott‹ zutage? Auch dies scheint doch das entscheidende Problem zu indizieren, ob dieser für die Denkbarkeit des Verhältnisses ›Gottes zur Welt‹ als ›an sich‹ – nämlich im Sinne seiner ›anfänglichen Bestimmtheit‹ – voraus-gesetzte, d. h. zugleich gedachte und als unbestimmt bewahrte, unverzichtbare terminus a quo als der allein übrig bleibende bestimmungslose »Begriff von einem nichtsinnlichen Etwas […], welches den letzten Grund der Sinnenwelt enthalte [!]« (KU B 453) innerhalb des kritizistischen Rahmens, d. i. in dem von Kant eingeschlagenen ›praktischdogmatischen Überschritts‹ überhaupt gedacht werden kann? Unübersehbar kommt diese Schwierigkeit überdies in Kants eigenem Hinweis zum Ausdruck: »Aber nach der Analogie mit einem Verstande kann ich, ja muß ich mir wohl in gewisser anderer Rücksicht selbst ein übersinnliches Wesen denken, ohne es gleichwohl dadurch theoretisch erkennen zu wollen« (KU B 482; Hvh. v. Vf.). Freilich, für die nähere Bestimmung jenes von Kant vorausgesetzten – d. h. notwendig vor(aus)-gestellten – terminus a quo reicht jener Rekurs auf die für die Denkbarkeit der »größten systematischen Einheit des Weltganzen« vorausgesetzte ›regulative Vernunftidee‹ offenbar gerade nicht aus: »Ich denke mir nur die Relation eines mir an sich ganz unbekannten Wesens zur größten systematischen Einheit des Weltganzen, lediglich um es zum Schema des regulativen Princips des größtmöglichen empirischen Gebrauchs meiner Vernunft zu machen« (KrV B 707). Spiegelt sich dieses Problem bezeichnenderweise nicht auch in dem von Schelling intendierten ›Umkehr‹-Motiv des ontologischen Gottesbeweises wider, dem zufolge eben nicht vom ›Begriff des Absoluten‹ zur ›absoluten Position‹, sondern von dieser – als dem uneinholbar vorausgesetzten ›terminus a quo‹, dem bloß ›Existierenden‹ (dem bloßen ›Daß‹) – erst zum ›transzendentalen Ideal‹ zu gelangen sei, d. h. letzteres also schon als das »immanent gewordene Absolute« aufgefaßt werden müsse, was eben voraussetze bzw. darauf führe, daß »alles, was vom Denken herkommen möchte, niedergeschlagen wird« (EPO 763)? Schellings diesbezügliches – gewissermaßen meta-kritisches – Anliegen wäre in solcher Rekonstruktion demnach so zu akzentuieren, daß Kants ›symbolischer Anthropomorphismus‹ als Bedingung seiner Möglichkeit einerseits zwar die darin vorausgesetzte Denkbarkeit eines Verhältnisses des ›absolut Felde möglicher Erfahrung, zu lehren.« Dies vermag jedoch jene unverzichtbare Platzhalter-Funktion gerade nicht zu begründen, die für jenes Verhältnis »respective auf die Welt und mithin auf uns« schon vorausgesetzt ist.
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transzendenten Gottes‹ zur Welt (als ›weiser Welturheber‹) impliziert; eben dies kann jedoch kritischerweise – aufgrund seiner Bestimmung des als bloß ›regulatives Vernunftprinzip‹ verstandenen ›transzendentalen Ideals‹ (als ›Gedanke des Abschlusses‹) – nicht gedacht werden, zumal Kant »mit dieser Idee selbst nichts anfangen kann, diese Idee nie zum Anfang irgend eines Wissens machen kann« (so EPO 647 f.). Demnach scheint es für eine solche Kantische Perspektive unausweichlich, Schellings These: »Gott, was man wirklich Gott nennt, ist nur der, welcher Urheber sein, der etwas anfangen kann, der also vor allem existiert, der nicht bloße Vernunft-Idee ist«, zu negieren und sie zugleich als unverzichtbar vorauszusetzen, um so das jenem ›symbolischen Anthropomorphismus‹ zugrunde liegende Verhältnis des – darin eben (im Sinne Schellings: vgl. EPO 774) vor-gestellten – »Verstandeswesen[s] zur Welt« überhaupt denken zu können.17 Kant selbst wäre somit paradoxerweise zu Anleihen bei jener ›kosmotheologischen‹ Gedankenfigur genötigt, deren Kritik jedoch gleichermaßen das Fundament seiner einschlägigen Kritik ausmachte, soll doch gelten (KrV B 643 f; Hvh. v. V f.): »Dagegen mag ich einen Begriff von einem Dinge annehmen, welchen ich will, so finde ich, daß sein Dasein niemals von mir als schlechterdings nothwendig vorgestellt werden könne, und daß mich nichts hindere, es mag existiren, was da wolle, das Nichtsein desselben zu denken; mithin ich zwar zu dem Existirenden überhaupt etwas Nothwendiges annehmen müsse, kein einziges Ding aber selbst als an sich nothwendig denken könne. Das heißt: ich kann das Zurückgehen zu den Bedingungen des Existirens niemals vollenden, ohne ein nothwendiges Wesen anzunehmen; ich kann aber von demselben niemals anfangen.« Indiziert dies nicht tatsächlich ein von Schelling zu Recht angezeigtes, von Kant unbewältigtes Voraussetzungsproblem, über das auch seine kritische Lehre vom ›symbolischen Anthropomorphismus‹ allzu rasch hinweggeht?18 Wohlgemerkt, unter solchem Gesichtspunkt bleibt Schellings kritischer Einwurf als Problemhinweis aufzunehmen (GPN 504 f.): »Allein es verhält Indirekt (in der Sache aber besonders klar) ist diese Schwierigkeit auch in Schellings (schon zitiertem) Hinweis auf das nach Kant nicht zu denkende »mögliche Verhältnis der natürlichen Theologie zur geoffenbarten Religion« (EPO 648) angesprochen. 18 Kants Argumentation setzt hier offenbar genau jene von Schelling (in Bezugnahme auf Malebranche und damit indirekt auf ein Motiv des Thomas von Aquin) geltend gemachte ›begriffliche Unterscheidung‹ voraus (EPM 284): »die göttliche Substanz absolut genommen und sofern sie sich auf die Creaturen bezieht und durch sie participabel ist.« 17
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sich mit der Kantischen Kritik wirklich so, wie schon gesagt worden, daß sie alles Denken des Übersinnlichen aufhebt und unmöglich macht, indem sie nämlich […] alle Anwendung der Verstandesbegriffe auf dasselbe verbietet. Nun führt aber bekanntlich Kant selbst, nachdem er Gott aus der theoretischen Philosophie verwiesen, ihn dennoch durch die praktische wieder zurück, indem er wenigstens den Glauben an die Existenz Gottes als einen durch das Sittengesetz geforderten darstellt. Ist nun dieser Glaube nicht ein völlig gedankenloser, so ist Gott hier wenigstens gedacht. Nun möchte ich wissen, wie es Kant anfängt, Gott zu denken, ohne ihn als Substanz sich zu denken, freilich nicht als Substanz im Sinn des Spinoza, als ›id quod substat rebus‹, aber unstreitig denkt er Gott als absolut geistige und sittliche Persönlichkeit. Nun ist freilich in dem Begriff einer solchen Persönlichkeit mehr enthalten als in dem Begriff der Substanz. Gott ist insofern nicht bloße Substanz; wie z. B. auch ein Mensch dadurch nicht hinlänglich charakterisiert ist, daß man sagt, er sei eine Substanz. Aber ist er darum überall nicht Substanz? Ebensowenig sehe ich ein, was noch von dem Begriff Gottes übrig bleibt, wenn ich ihn nicht als Ursache denken darf. Kant hat also durch seine Kritik über sein eignes Ziel hinausgeschossen.« Ob Schellings einschlägiger Rekurs auf Platons ›Idee des Guten‹ sowie insbesondere auf die Aristotelische Substanzkategorie indes als ein gangbarer Weg gelten darf, ist freilich noch einmal eine andere Frage.
b) Das von Kant grundsätzlich verfehlte Problem der ›absoluten Transzendenz‹ bzw. das von ihm ignorierte Problem des ›Positiven‹ Mag es also, wie Kant versicherte, zwar durchaus so sein, daß praktische Vernunft »dem, was speculative Vernunft zwar denken, aber als bloßes transscendentales Ideal unbestimmt lassen mußte, dem theologischen Begriffe des Urwesens, Bedeutung (in praktischer Absicht, d. i. als einer Bedingung der Möglichkeit des Objects eines durch jenes Gesetz bestimmten Willens) als dem obersten Princip des höchsten Guts in einer intelligibelen Welt, durch gewalthabende moralische Gesetzgebung in derselben« (KpV A 240), d. h. ›objective Realität‹, verleiht. Ungeachtet dessen, so Schelling, führe auch die im Sinne der ›praktischen Erweiterung‹ verstandene Postulatenlehre über das lediglich negative – ›transzendenz-sichernde‹ – Resultat und damit
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über die ›negative Philosophie‹ keinesfalls hinaus. Im Grunde reduziere sich, wie erwähnt, die über den ›praktisch-dogmatischen Überschritt‹ in Aussicht gestellte ›objektive Realität‹ letztlich doch auf das dürftige Resultat eines »genau bestimmten Begriff[s] dieses Urwesens«, das jedoch keinesfalls mit dessen ›Existenz-Aufweis‹ gleichzusetzen sei und somit auch den beanspruchten Nachweis eben gerade nicht zu erbringen vermag, wie bzw. »wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird« (KpV A 236 Anm. Hvh. v. Vf.). In Wahrheit werde, aufgrund der unaufhebbaren Einseitigkeit dieses bloß ›subjektiv-äußerlichen Tuns‹ des Menschen, einem geschichtslos-abstrakten, d. h. jenseitig fixierten und somit leeren ›Unbedingten‹ nachträglich gleichsam ein Kranz von ›moralischen Prädikaten‹ angeheftet, was lediglich noch einmal das prinzipielle Manko bestätige, daß ein solches ›subjektiv-einseitiges‹ Verhältnis der ›Vernunftreligion‹ gar nicht als ein Verhältnis bezeichnet zu werden verdiente, jener kritische Rekurs auf das ›Ideal der Vernunft‹ jedoch nichts anderes erlaube. Trotz seiner Berufung auf den ›lebendigen Gott‹ bleibe die vermeintlich rettende Bestimmung jenes kritischen ›Anthropomorphismus, der bloß die Sprache und nicht das Objekt selbst angeht‹, auch schon Kants letztes Wort. Eine eingehende Kritik der über jenen ›praktisch-dogmatischen Überschritt‹ vermittelten Gottesthematik erwies sich für ihn – ungeachtet des Kantischen Rekurses auf den ›lebendigen Gott‹ – also schon deshalb als unverzichtbar, weil Kants Konzeption infolge solcher bloß einseitigen Verhältnisbestimmung, d. i. jenem bloß subjektiven ›Für-uns-sein‹, ein ›Aus-sich-heraustreten‹ Gottes selbst gar nicht zu denken erlaubt. Geradezu ein Abgrund trennt dies jedenfalls nach Schelling von dem erst einer ›positiven‹ als einer ›geschichtlichen Philosophie‹ zugedachten Aufweis, »daß die Gottheit […] selbst ein Gegenstand des Bewußtseins wird, […] in das Bewußtsein der Menschheit eingehe« (EPM 581). Das aus dem gewiß anerkennenswerten Bemühen um Sicherung der ›kritischen Transzendenz‹ motivierte Beharren auf dem symbolischen Anthropomorphismus, der bloß »die Sprache und nicht das Objekt angeht«, verfehle dagegen diese ›absolute Transzendenz‹ Gottes und demonstriere so sehr eindrücklich die in der Unmöglichkeit einer ›Vernunftreligion‹ zutage tretende prinzipielle ›Ohnmacht‹ und die ›Überforderung‹ der Vernunft. Freilich war die von Schelling geforderte ›Selbstbegrenzung‹ als Depotenzierung der ›negativen Philosophie‹ demgegenüber von dem besonderen Bestreben geleitet, die Vernunftwissenschaft vor ihrer Überforderung zu bewahren, denn (EPO 756): »Man wird von ihr [der Philosophie, die sich
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eben nicht auf bloße ›Kritik‹ reduziert] den wirklichen Gott fordern, nicht die bloße Idee Gottes. Wie wird sie diesen, der ihr als unerkennbar stehen bleibt, sich verschaffen? Sie wird zuerst vielleicht sagen, der Gott, der in der Vernunft, bloß Idee sey, müsse uns durch das Gefühl zum wirklichen werden.Wie nun aber, wenn einer, dem dieser Bankrott der Vernunft eben recht ist,weil es ihm recht ist, mit seinen Gedanken auf die Sinnenwelt beschränkt zu werden, wenn dieser die Berufung auf das Gefühl dazu benutzt, zu zeigen, der wirkliche Gott sey eben nur ein Geschöpf unseres Gefühles und des Herzens, unserer Einbildungskraft, er sei durchaus nichts Objektives, nicht nur dem Christentum – jeder religiösen Idee komme höchstens eine psychologische Bedeutung zu?« Eine naheliegende Folgerung aus Schellings einschlägiger Kant-Kritik war zweifellos dies, daß die jenen kritischen ›Anthropomorphismus‹ leitende These, wonach allein »aus dieser Idee [d. i. der Wirklichkeit der moralischen Freiheit als dem ›Übersinnlichen in uns‹] auf die Existenz und die Beschaffenheit jener sonst gänzlich für uns verborgenen Wesen geschlossen werden kann« (KU B 466), genauer besehen lediglich als eine Aussage über die Endlichkeit unseres Erkennens verstanden werden dürfe, keinesfalls jedoch an die Wirklichkeit und ›Verborgenheit‹ des ›deus absconditus‹ selbst heranreiche.19 Dafür biete nämlich auch jene Gedankenfigur des ›symbolischen Anthropomorphismus‹ kein tragfähiges religionsphilosophisches Fundament, zumal sich das philosophisch zu vermittelnde Verhältnis zwischen dem, ›was es an sich sei‹ und dem was es ›für uns‹ (›respektiv auf die Welt‹) in der angezeigten Weise doch stillschweigend auf ein äußerlich-nachträgliches – in grundsätzlicher Hinsicht aporetisches – ›Anwendungsverhältnis‹ reduziere. Demzufolge muß das von Kant angekündigte Vorhaben – d. i. zu zeigen, wie über die gebührende Beachtung des ›Primats des Praktischen‹ der Gottesbegriff erst »ein zur Religion tauglicher Begriff wird« – für Schelling als ein uneingelöstes Versprechen erscheinen.
Auf jene Kantischen Bestimmungen der Prolegomena geht Schelling freilich nicht ein; eine Kantische Meta-Kritik von Schellings ›positiver Philosophie‹ hätte wohl von dieser ›Grenzbestimmung der reinen Vernunft‹ auszugehen und dabei Kants Dialektik der Grenze in Verbindung mit seiner Lehre »Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena« (KrV B 294 ff.) zu analysieren und sodann die gewiß notwendige Differenzierung des Kantischen ›Ding an sich‹ und des ›Übersinnlichen‹ zu leisten. 19
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In eine grundsätzlich wohl ganz ähnliche Richtung weist die ebenfalls gegen Kant gerichtete Notiz Schellings (EPM 284): »Man kann gar nicht von Gott überhaupt reden, wenn man wirklich von Gott redet.« Denn »es gibt keinen solchen Beweis der Existenz Gottes überhaupt, […] es gibt keine Existenz Gottes überhaupt. Gottes Existenz ist gleich und unmittelbar eine bestimmte; vom unbestimmten Sein Gottes ist nicht fortzuschreiten.« Zweifellos, auch mit solcher Kritik widersetzte sich Schelling »einer Auflösung des religiösen Verhältnisses (und des Verhältnisses der Offenbarung im besonderen) in ein bloß »allgemeines und rationales Verhältnis«, weil, so darf man Schelling im Vorblick auf sein Programm einer ›geschichtlichen Philosophie‹ doch wohl verstehen, der aus der geschichtlich konkreten ›Positivität‹ herausgenommene Gott selbst ein bloßes Abstraktum darstellt, das lediglich und bestenfalls dem aus der ›Welt des Handelns‹ zurückgezogenen ›contemplativen Leben‹ zu genügen vermag. Vor allem bleibe Kants Religionsphilosophie20 – wie jedwede ›Vernunftreligion‹, die Offenbarung als bloße ›sinnliche Einkleidung‹ allgemeiner ›Vernunftwahrheiten‹ mißversteht – in prinzipieller Hinsicht hinter der Einsicht zurück, daß dem allein in konkret-geschichtlicher Religion lebendigen »realen Verhältnis des Menschen zu Gott« ein »reales Verhältnis Gottes zum Menschen« entspricht – und »göttliche Offenbarung«, so Schelling, ist eben ein ›reales Verhältnis‹ Gottes zum menschlichen Bewußtsein. Obgleich die Möglichkeit einer solchen Selbst-Offenbarung das menschliche Bewußtsein als ›gott-setzendes Prinzip‹ notwendig voraussetzt,21 ist ein solches »reales Verhältnis des menschlichen Bewußtseins zu Gott« im In Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft sah Schelling ›die Hauptgrundlage des vulgären Rationalismus‹; sie indiziere besonders deutlich die prinzipielle Verfehlung des ›Geschichtlich-Positiven‹. Gleichwohl ist zu fragen, ob dies nicht das Selbstverständnis Kants wenigstens insofern verfehlt, als er sein Programm einer ›Religion innerhalb der bloßen Vernunft‹ ausdrücklich von einer »Religion aus bloßer Vernunft ohne Offenbarung« (SF A VIII Anm. = AA 7,6 Anm.) abgehoben wissen wolle, erstere also (in Voraussetzung der geschichtlich-positiven Religionen) nur eine ›moralische Auslegung‹ der Religion bzw. des Christentums intendiere (jedoch auch solcherart möglicherweise reduktionistisch verfahre). Ob Schelling nicht das kritische VernunftPotential dieses ›innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ gegenüber allem ›Positiven‹ verkennt? 21 Schellings Aufweis des ›gottsetzenden Bewußtseins‹ begnügt sich freilich nicht mit dem bloßen ›anthropologischen‹ Rekurs auf den »äußern Umstand […], daß allein der Mensch von Gott wisse« (EPM 291), sondern verlangt die Begründung des Gottesgedankens »aus der Natur der Vernunft selbst« (EPM 294). 20
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Rahmen der Kantischen Postulatenlehre schon deshalb nicht begreiflich zu machen, weil in solcher Konzeption einer ›Vernunftreligion‹ nach Schelling eben gar nicht zu begründen sei, daß und wie ein solches ›reales Verhältnis‹ des menschlichen Bewußtseins zu Gott ein »reales Verhältnis Gottes zum menschlichen Bewußtsein« voraus-setzt – d. h. Offenbarung als »einen Actus außer dem Bewußtsein und ein Verhältnis […], das die freieste Ursache, Gott, nicht notwendig, sondern durchaus freiwillig sich zum menschlichen Bewußtsein gibt oder gegeben hat.« Schelling hätte vielmehr das vermeintliche Zugeständnis Kants, daß die »Lehren der Offenbarung« durchaus von »übernatürlich inspirierten Männern« herrühren mögen, als eine recht bezeichnende – obgleich unfreiwillige – Bestätigung dieses prinzipiellen Unvermögens der Kantischen Vernunftreligion gedeutet, worin sich in Wahrheit ein Grunddilemma der ›Vernunftreligion‹ eindrucksvoll verrät.22 Die dem ›Primat der praktischen Vernunft‹ verpflichtete Postulatenlehre Kants galt Schelling wohl als ein besonders lehrreiches Beispiel dafür, wie weit eine solche ›negative Philosophie‹ hinsichtlich einer ›philosophischen Theologie‹ im Sinne einer bloßen ›Grenzbestimmung der Vernunft‹ zu gelangen vermag. Jener ›praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen‹ und das darin begründete »rationale Verhältnis« bestätige lediglich, in durchaus unterschiedlichen Nuancen (vgl. 4.), jenen »Widerspruch zwischen der Vernunft und dem, was mehr als Vernunft ist, der eigentlichen, positiven Wissenschaft« (EPO 748). Auch gegen Kants ›Ethikotheologie‹23 war deshalb der So heißt es auch in der ›Urfassung‹ von Schellings Philosophie der Offenbarung: »Ich mache jetzt schon darauf aufmerksam, welchen Kontrast meine Ansichten mit denen des Kant in seiner Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft geben werden. Kant nimmt bloß das Moralische aus dem Christentum und sucht nur dieses unter das Volk zu bringen, und das Geschichtliche gänzlich verschwinden zu lassen. In jenem Werke ist das Christentum als Sache gänzlich verschwunden.« (Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Band I,17 f.; vgl. II, 417). 23 Jene Forderung Kants, »die mangelhafte Vorstellung einer physischen Teleologie, von dem Urgrunde der Zwecke in der Natur, bis zum Begriffe einer Gottheit zu ergänzen« (KU B 404), nimmt offenbar Schellings Kritik an dem Gottesbegriff eines bloß ›contemplativen Lebens‹ vorweg, worin das Ich sich mit »dem durch die Contemplation erlangten Gut« begnüge: »Allein nur ein ideelles Verhältnis hat es zu diesem Gott, es kann auch kein anderes zu ihm haben. Denn die contemplative Wissenschaft führt nur zu dem Gott, der Ende, daher nicht der wirkliche ist, nur zu dem, was seinem Wesen nach Gott ist, nicht zu dem actuellen. Bei diesem bloß ideellen Gott vermöchte das Ich sich etwa dann zu beruhigen, wenn es beim beschaulichen Leben bleiben könnte. Aber eben dies ist 22
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Vorwurf Schellings gerichtet, daß lediglich ein »contemplatives Leben, das sich aus der Unseligkeit des Handelns in sich zurückgezogen […], das Praktische aufgegeben hat«, sich mit jenem ideellen-essentiellen Gott einer ›negativen Philosophie‹ begnügen (d. h. beruhigen) könne; macht hingegen »die Wirklichkeit […] ihr Recht geltend, so muß gehandelt werden und diesem Menschen und seinem tätigen Leben gegenüber genügt dieser ideelle Gott als Prinzip eben nicht«.24 Solcher Wirklichkeitsanspruch und das damit verknüpfte Motiv der ›absoluten Transzendenz‹ verdanke sich freilich der erst in seiner ›positiven Philosophie‹ thematisierten unverzichtbaren ›Umkehr des Ich‹: »Mittelst der Contemplation jedoch konnte das Ich im besten Falle nur die Idee wieder finden, und also auch nur den Gott, der in der Idee, der in der Vernunft eingeschlossen, in welcher er sich nicht bewegen kann, nicht aber den, der außer und über der Vernunft ist, dem also möglich, was der Vernunft unmöglich« ist (EPM 576 f). Erst diese – wahrhaft so zu nennende – ›absolute Transzendenz‹ führe demnach auf einen wirklichen, d. h. »persönlichen Gott, [d. i.] ein höchstes Wesen, zu dem ein persönliches Verhältnis möglich ist, ein ewiges Du, das meinem Ich antwortet, nicht ein Wesen, das bloß in meinem Denken ist, in meinem Denken ganz aufgeht und mit diesem völlig identisch ist« (GNP 583). Dagegen überwindet erst die – frei gewordene! – »von sich selbst freie Vernunft« (EPO 767) die »Gefangenschaft des Denkens« (GNP 450) und wird so ›ekstatisch‹ zur Voraussetzung einer erst in der ›positiven Philosophie‹ zu vermittelnden ›philosophischen Religion‹ und deren ›activen Gott‹, worin die Konzeption einer ›Vernunftreligion‹, gewissermaßen als ein hölzernes Eisen, geradewegs verworfen wird (EPM 578 f.): »Das Verlangen nach dem wirklichen Gott und nach Erlösung durch ihn ist […] nichts anderes als das unmöglich. Das Aufgeben des Handelns läßt sich nicht durchsetzen; es muß gehandelt werden. Sobald aber das tätige Leben wieder eintritt, die Wirklichkeit ihr Recht wieder geltend macht, reicht auch der ideelle (passive) Gott nicht mehr zu« (EPM 569 f.). 24 Freilich erinnert auch diese Argumentation Schellings wiederum an das dem ›Primat des Praktischen‹ verpflichtete Anliegen Kants (KrV B 503): »Könnte sich aber ein Mensch von allem Interesse lossagen, und die Behauptungen der Vernunft […] bloß nach dem Gehalte ihrer Gründe in Betrachtung ziehen: so würde ein solcher, gesetzt daß er keinen Ausweg wüßte, anders aus dem Gedränge zu kommen, als daß er sich zu einer oder andern der streitigen Lehren bekennte, in einem unaufhörlich schwankenden Zustande sein. […] Wenn es nun aber zum Thun und Handeln käme, so würde dieses Spiel der bloß speculativen Vernunft wie Schattenbilder eines Traums verschwinden, und er würde seine Principien bloß nach dem praktischen Interesse wählen«.
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lautwerdende Bedürfnis der Religion. […] Ohne einen activen Gott (der nicht nur Object der Contemplation ist) kann es keine Religion geben – denn diese setzt ein wirkliches, reales Verhältnis des Menschen zu Gott voraus – sowie auch keine Geschichte, in der Gott Vorsehung ist. Daher es innerhalb der Vernunftwissenschaft keine Religion, also überhaupt keine Vernunftreligion gibt. Am Ende der negativen Philosophie habe ich nur mögliche Religion, nicht wirkliche, nur ›Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹. Sieht man im Ende der Vernunftwissenschaft Vernunftreligion, so liegt hierin eine Täuschung. Die Vernunft führt nicht zur Religion, wie denn auch Kants theoretisches Resultat ist, daß es keine Vernunftreligion gibt. Daß man von Gott nichts wisse, ist das Resultat des echten, jedes sich selbst verstehenden Rationalismus. Mit dem Übertritt in die positive Philosophie kommen wir erst in das Gebiet der Religion und der Religionen, und können auch jetzt erst erwarten, daß uns die philosophische Religion entsteht […], d. h. die Religion, welche die wirkliche Religionen, die mythologische und die geoffenbarte, reell zu begreifen hat, wobei nun auch am besten einzusehen, daß was uns philosophische Religion heißt mit der sogenannten Vernunftreligion nichts gemein hat. Denn gesetzt es gäbe eine solche, so gehörte sie einer ganz andern Sphäre an, nicht der, in welcher sich uns die philosophische verwirklicht.« Die sich hierfür offenhaltende (und insofern ›suchende‹) ›positive Philosophie‹ – und schon solches ›Suchen‹ impliziere zweifellos eine Selbstrelativierung bezüglich ihres Wirklichkeitsanspruches – sprengt freilich den engen Rahmen einer sich im Begriff des Absoluten und seiner systematischen Differenzierung immanent vollendenden systematischen ›philosophischen Theologie‹ sowie einer ›Vernunftreligion‹, die doch ein solches »freies Verhältnis Gottes zu der Welt« (EPO 734) gar nicht zu denken erlaube, und hebt damit zuletzt auch jenes Kantische Vernunft-Postulat des ›Daseins Gottes‹ auf. Dieserart indiziert jene – in seiner Entfaltung der ›negativen Philosophie‹ aufgewiesene – ›Ohnmacht der Vernunft‹ zugleich die Entlastung ›von sich selbst‹ und weist so die gewissermaßen von ihren eigenen Fesseln befreite ›reine‹ Vernunft, die (im zweifachen Sinne) nichts ›vernimmt‹ außer sich selbst, erst in Richtung Religion. Daran knüpfte Schelling sodann seine Forderung einer ›positiven Philosophie‹ als derjenigen, »deren erstes Prinzip sich nicht mehr apriori, sondern nur aposteriori erkennen lasse – und zwar deshalb, weil es ganz und gar objektiv und absolut positiv ist.« Erst die solcherart entlastete, weil gewissermaßen »von sich selbst freie Vernunft«, gleicherweise der darin vermittelte freiheits- und geschichts›geladene‹ (und übrigens
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gegen Kant gerichtete) »Erfahrungsbegriff« wären demnach imstande, ›wirkliche Religion‹ zu fundieren (EPO 648). Erfahrung, als »eine von der Vernunft unabhängige Quelle«,25 und keinesfalls ein bloß ohnmächtiger ›symbolischer Anthropomorphismus‹, hätte somit auch die unverzichtbare Aufgabe einer Kontrollinstanz gegenüber der Vernunftwissenschaft wahrzunehmen (EPO 664): »Denn daß das Construierte wirklich existiert, dies sagt eben nur die Erfahrung, nicht die Vernunft.- Die Vernunftwissenschaft hat also die Erfahrung nicht zur Quelle, wie die ehemalige Metaphysik sie zum Teil zur Quelle hatte, wohl aber hat sie die Erfahrung zur Begleiterin.«26 Dies setzt nun freilich eine ›Umkehr‹ des Gedankens voraus, wie diese ja bezeichnenderweise auch in Schellings Rekurs auf den umgekehrten ›ontologischen Gottesbeweis‹ und der darin vermittelten ›geschichtlichen Deshalb »ist dieses schlechthin Positive nur durch seine Tat erweisbar.« EPO 716; ebd. 731: »Es ist leicht zu sehen: nur Entschluß und Tat können eine eigentliche Erfahrung begründen. […] Umgekehrt alles, was nicht durch reines Denken zustande zu bringen ist, d. h. worin ich Erfahrung zulasse, muß ein durch freie Tat Begründetes sein«. Vgl. Schelling EPO 714 ff. »Mit der Vernunftwissenschaft ist eine Philosophie der wirklichen Geschichte unmöglich« (EPM 578 Anm. 1). 26 Bekanntlich hat Kant gegen Jacobi betont: »Der Begriff von Gott und selbst die Überzeugung von seinem Dasein kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden, von ihr allein ausgehen […], um nur zu urtheilen, ob das Gott sei, was mir erscheint, was auf mein Gefühl innerlich oder äußerlich wirkt, ich ihn an meinen Vernunftbegriff von Gott halten und darnach prüfen müsse, nicht ob er diesem adäquat sei, sondern bloß ob er ihm nicht widerspreche […] und alsdann könnten allenfalls gewisse Erscheinungen […] Anlaß zur Untersuchung geben, ob wir das, was zu uns spricht oder sich uns darstellt, wohl befugt sind für eine Gottheit zu halten« (WDO A 321 f. = AA 8,142 f.; Hvh. v. Vf.). Dagegen zeigt die von Schelling behauptete »Kontrollfunktion der Erfahrung« (EPO 664) eine eigentümliche Umkehr gegenüber jener Kantischen Forderung: »Die Vernunftwissenschaft nämlich, weit entfernt die Erfahrung auszuschließen, fordert diese vielmehr selbst. Denn eben weil es das Seyende ist, was die Vernunftwissenschaft apriori begreift oder construirt, muß ihr daran gelegen sein, eine Controle zu haben, durch welche sie dartut, daß das, was sie apriori gefunden, nicht eine Chimäre ist. Diese Controle ist die Erfahrung.« Diese ›positive Philosophie‹ überholt so noch »das letzte Resultat« jener Kritik Kants, »daß keine wirkliche Erkenntnis des Übersinnlichen möglich sei. Die eigentlichen metaphysischen Gegenstände sind ihm bloße Vernunftideen, die wie er sagt, in keiner möglichen Erfahrung vorkommen können. Aber in dieser Allgemeinheit und Unbestimmtheit, wie dies behauptet wird, ist es noch keineswegs ausgemacht, daß Gott kein Gegenstand der Erfahrung sei oder sein könne. Freilich nicht der Erfahrung, der er allein so nennt; allein er selbst statuiert doch außer der Erfahrung durch die äußern Sinne auch eine innere Erfahrung« (GNP 502 f.). 25
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Offenbarung‹ angesprochen ist, »die wir erkennen müssen als Geschehen quo maius nihil fieri potest«, worin also erst Gott sich selbst erweist – und zwar als derjenige, »worüber nichts Höheres mehr ist«.27 Auf dem Weg solcher Depotenzierung erfährt die durch Schellings Programm einer ›positiven Philosophie‹ (als einem recht verstandenen ›Empirismus‹: EPO 715)28 ihrer eigenen Ohnmacht innegewordene bzw. überführte ›reine Vernunft‹ zugleich ihre ›Wiederaufrichtung‹29 – und zwar derart, daß das in der ›negativen Philosophie‹ uneinholbare ›unvordenkliche Sein‹ eben nicht als eine die Vernunft nötigende anonyme ›Seins-Macht‹, sondern erst ›per posterius‹ als ›Herr des Seins‹ begreiflich zu machen ist, wenn doch die Bestimmung Gottes als ›Herrn der Gnade‹ auch für Schelling immer noch an den unumgänglichen Selbsterweis Gottes als ›Herrn des Seins‹ (EPM 581) geknüpft bleibt: ›Herr der Gnaden‹ (und damit auch ›Herr der Geschichte‹) kann dieser Gott doch nur als derjenige sein, der darin sich selbst als »wirklichen Herrn des Seins« offenbart und auch nur als dieser ein ›reales‹ und wirklich ›freies Verhältnis‹ zu begründen vermag. Solcherart sah Schelling sich genötigt, auch jene Aufhebung der Wissensansprüche, ›um zum Glauben Platz zu bekommen‹ (der indes keineswegs über die bloß ›negative Philosophie‹ hinausführe), noch einmal um der dieser Vernunft vor-gestellten Wirklichkeit Gottes (vgl. EPO 774 ff.) wie auch um willen der lebendig-konkreten, d. i. geschichtlichen Religion aufzuheben: »Nennen wir die Philosophie, welche den wirklichen Gott, und somit wohl überhaupt nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit der Dinge begreift – nennen wir diese die positive Philosophie so wird die Philosophie der Offenbarung eine Folge oder auch ein Teil von ihr« (EPO 743). Demnach erschöpft sich solche Aufgabe einer ›positiven Philosophie‹ keinesfalls in jenem – von Schelling zwar ausdrücklich geforderten, weil philosophisch unverSchelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung I,78. »Es ist unrichtig, den Empirismus überhaupt auf das bloß Sinnenfällige zu beschränken, als hätte er nur dieses zum Gegenstande, denn z. B. eine frei wollende und handelnde Intelligenz […] fällt als solche, als Intelligenz nicht in die Sinne, und doch ist sie eine empirische, ja sogar nur ein empirisch Erkennbares« (EPO 715). 29 Sie hat laut Theunissen (Vernunft, Mythos und Moderne, 53 f.) zugleich die Aufgabe, »Vernunft in Richtung auf Religion zu entlasten«. »Die von Schelling so genannte ›Wiederaufrichtung‹ der Vernunft […] müssen wir als Befreiung zum eigentlich Gewollten denken. […] Die ›Wiederaufrichtung‹ ist statt dessen in einer praktischen Restitution zu suchen, in der Vernunft durch ihre Freiheit von sich erst frei wird zu sich«. 27 28
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zichtbaren – Aufweis, wie jene beiden Vernunftbegriffe ›ens realissimum‹ und ›ens necessarium‹ ›aneinander grenzen‹ (vgl. 1.), sondern macht so überhaupt erst das Programm der ›positiven Philosophie‹ als einer wahrhaft ›geschichtlichen Philosophie‹ verständlich. Gleichwohl stellt sich das (von Schelling nicht hinreichend differenzierte) grundsätzliche Problem des Verhältnisses dieser beiden unterschiedlichen Aufgaben (bzw. Teile) in einer ›positiven Philosophie‹ zueinander und verweist damit erneut, innerhalb der ›positiven Philosophie‹, auf das ungelöste Problem des Verhältnisses von ›Metaphysik und Geschichte‹. Dieses klingt unüberhörbar auch in Schellings Unterscheidung zwischen ›negativen‹ und ›positiven‹ Gottesprädikaten an (vgl. EPO 774), womit er bemerkenswerterweise selbst ausdrücklich an zentrale Lehrstücke der thomistischen ›philosophischen Theologie‹ (deren Vermittlung des ›Daß‹ und ›Was‹ Gottes) anknüpfte. Über solche Schwierigkeiten kann wohl auch seine Auskunft nicht hinwegsehen lassen, daß durch die ›positive Philosophie‹ »erst der wahre Begriff und Inhalt der Religion gefunden« (EPO 736) werde.
4. Zu Schellings Kritik an dem von Kant geltend gemachten »Bedürfnis der fragenden Vernunft« Noch in einer anderen Hinsicht war Kants Konzeption des ›moralischen Vernunftglaubens‹ den prinzipiellen Bedenken Schellings ausgesetzt. Zwar anerkannte auch er jene mit Kants »Weltbegriff der Philosophie« verknüpfte Aufgabe, zunächst einmal jenen Freiraum zu ermitteln, in dem die Gottesfrage überhaupt angemessen zu thematisieren ist,30 gleichwohl zog solcher Anspruch ebenso Schellings unnachgiebige Kritik auf sich. Hatte doch Kant in der Tat jenen Rekurs auf Gott als praktisches Vernunftpostulat bisweilen damit begründet, daß für uns – und zwar aufgrund der Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens – die Möglichkeit des höchsten Gutes (als »eine für uns wenigstens zufällige Übereinstimmung« ; (ÜE BA 125 f. = AA 8,250 f.) anders gar nicht einzusehen und dieses natürlich erst recht nicht vom ›blinden Ungefähr‹, von Gnaden und Launen Fortunas, zu erwarten sei, weshalb Vgl. o. Anm. 9. »Wie hat sich die Welt der Philosophie durch Kant erweitert! Wodurch anders als durch die menschliche Freiheit, daß er, eher als sie, alles andere aufgeben zu wollen erklärte«; vgl. Philosophie der Mythologie, 204 – dies ist auch in diesem Kontext gut zu verstehen. 30
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allein das Dasein Gottes als ›moralische Weisheit‹ dieses (moralisch zwar zu ›befördernde‹, jedoch eben nicht zu ›verwirklichende‹) höchste Gut als den praktischen Endzweck des Menschen gewährleisten könne. Deshalb, so Kant, sei rechtens auch lediglich zu »sagen: daß, nach der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens, wir uns die Möglichkeit einer solchen auf das moralische Gesetz und dessen Objekt bezogenen Zweckmäßigkeit, als in diesem Endzwecke ist, ohne einen Welturheber und Regierer, der zugleich moralischer Gesetzgeber ist, gar nicht begreiflich machen können« (KU B 434). Wohl nicht zu Unrecht war solche Argumentation, die genauer besehen doch selbst die Weltstellung des Menschen sowie den Anspruch seines ›praktischen Vernunftinteresses‹ untergräbt, dem Einwand Schellings ausgesetzt (allerdings in einer anderen Hinsicht als Fichtes spöttischer Vorwurf, wonach Gott dieserart zum bloßen ›Diener der Begier‹ verkommen müsse): »Nach Kantischen Begriffen ist Gott überhaupt nur da, um der Vollstrecker – Executor – des moralischen Gesetzes zu sein. Wäre das moralische Gesetz nicht und wäre es nicht Postulat unserer praktischen Vernunft, daß die Glückseligkeit an die Erfüllung des moralischen Gesetzes geknüpft sei, so bedürfte es überall keines Gottes. Nur aus diesem Grunde war nach Kantischen Begriffen Gott selbst Postulat. Einen andern, als moralischen […] Zusammenhang zwischen Gott und dem sittlichen Wesen […] gibt es nach dieser Philosophie gar nicht«.31 Obwohl es gewiß ein Mißverständnis wäre, Kant auf jene offensichtlich reduktionistische Argumentation festzulegen, so hätte Schelling doch zu bedenken gegeben, daß das von Kant im Kontext der Bestimmung der Gottesidee geltend gemachte ›Bedürfnis in praktischer Absicht‹ dieserart nicht wirklich ausgewiesen wäre und ein solcher Aufweis im Rahmen der bloßen Postulatenlehre und der darin maßgebenden Vorstellung einer ›objektiven Realität‹ dieser Idee auch gar nicht gelingen könne.
31
Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung II,588.
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a) Schellings Einwand: Die von der Postulatenlehre verfehlte ›Individualität‹ des Menschen und die daraus resultierende ›Existenzvergessenheit‹ der Kantischen Religionsphilosophie Gegenüber der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung (und dem darin intendierten Aufweis der ›Ohnmacht der Vernunft‹ bezüglich des ›unvordenklichen Daß‹) läßt Schellings Kant-Kritik in der späten Philosophie der Mythologie noch einen anderen Aspekt einer solchen ›Selbstbegrenzung der Vernunft‹ in den Vordergrund treten, der die intendierte Überwindung des ›allgemeinen Vernunftstandpunktes‹ noch einmal auf eine besondere Weise akzentuiert. Damit findet jene gegen den ›abstrakt-allgemeinen Gottesbegriff‹, der auch kein ›reales Verhältnis‹ zu denken erlaubte, geäußerte Kritik Schellings nunmehr auf dem Boden der praktischen Vernunft eine bemerkenswerte Entsprechung. Derart kritisierte Schelling nämlich den von Kant erhobenen Anspruch, zu zeigen, »wie (praktische) Vernunft unumgänglich zur Religion führt«, als zu halbherzig, weil zu wenig radikal. Auch der im Ausgang von unabweislichen praktischen Vernunftansprüchen unternommene Aufweis Kants, wie »Gott ein zur Religion tauglicher Begriff« wird, erweise sich als unzureichend, »denn die Vernunft [im Unterschied zum Verstand] ist etwas bloß Wesentliches, Potentielles, sie ist etwas Allgemeines, Unpersönliches, wie der Instinkt bei den Tieren auch nicht etwas Individuelles, sondern Allgemeines in allen Individuen Gleiches ist« (EPO 720).32 Schon die an den Menschen aus der »Unpersönlichkeit des Gesetzes« gerichtete moralische Forderung, »sich dem Allgemeinen« zu unterwerfen, verrate ein schwerwiegendes Defizit, verfehle Kant damit doch erneut den »wahren Weg, dahin zu kommen, wohin er will. Es verläßt ihn hier sein kritischer Sinn« (EPM 564 f.
Schellings Einwand scheint hier allerdings Disjunktionen vorauszusetzen, für die es in Kants praktischer Philosophie kaum Anhaltspunkte gibt; diese werden schon durch Kants Rekurs auf das »Gesetz […], das wir uns selbst und doch als an sich nothwendig auferlegen«, relativiert – ein Gesetz, dem »wir unterworfen« sind, »ohne die Selbstliebe zu befragen; als uns von uns selbst auferlegt ist es doch eine Folge unseres Willens«(GMS BA 16 Anm. = AA 4,401 Anm.). Vgl. dazu auch Schellings Rekurs auf praktische Vernunft, Gewissen und Autonomie bei Kant (EPM 542) Schon Kants Kennzeichnung und Begründung der Religion als »Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote […], als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst […], von einem moralisch vollkommenen (heiligen und gütigen) […] Willen« (KpV A 233), dürfte Schellings Einwand wohl entkräften. 32
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Anm. 3). Demzufolge verblieb also nicht nur der Gottesbegriff der spekulativen Vernunft (im Sinne des Kantischen ›transzendentalen Ideals‹) lediglich ›im Allgemeinen‹ des Vernunftanspruches; ebenso müsse Kants praktische Akzentuierung der Gottesthematik die wahre menschliche ›Individualität‹ ignorieren bzw. verfehlen; auch solcher ›Unpersönlichkeit des Gesetzes‹ hielt Schelling unbeirrt entgegen: »Es spricht zwar zum Individuum, aber die Absicht des Gesetzes geht nicht auf den Einzelnen, sondern auf das Geschlecht« (ebd.). Dies bestätige erneut und in einer anderen Hinsicht, daß auch Kants Versuch einer ›Realisierung der Vernunftideen‹ im Ausgang vom praktischen Freiheitsgesetz den Grenzen einer bloß ›negativen Philosophie‹ verhaftet bleibe, während »alles wahrhaft Metaphysische aber ganz der […] positiven Philosophie anheimfällt« (EPO 753 Anm. 1). Während sich also auch Kants Postulatenlehre mit dem ›Allgemeinen‹ des im ›praktischen Vernunftgesetz‹ verankerten – nach Schelling ›ich-vergessenen‹ – ›praktischen Vernunftglaubens‹ schon begnüge, verlange hingegen »allein das Ich […] nach Gott selbst. Ihn, Ihn will es haben, den Gott, der handelt, bei dem eine Vorsehung ist, der als ein selbst tatsächlicher dem Tatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann, kurz der Herr des Seins ist (nicht transmundan nur, wie es der Gott der Finalursache ist, sondern supramundan). In diesem sieht es allein das wirklich höchste Gut.«33 In solcher Forderung tritt nun offensichtlich eine radikalisierte Version von Kants praktischer ›Thesis‹ entgegen (KpV A 258): »Ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Naturverknüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt […] sei«, der Schelling demnach auch allein die Auflösung jener Antinomie »zwischen dem, was aus der Vernunft mit Notwendigkeit folgt, und dem, was wir eigentlich wollen, wenn wir Gott wollen«, zutrauen wollte. Unüberhörbar klingt darin das die ›positive Philosophie‹ begleitende späte Bekenntnis nach: »Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache aller Dinge« (EPO 256), und formierte sich so näherhin EPM 576; vgl. dort weiter: »Welches aber der Wille ist, der das Signal zur Umkehrung und damit zur positiven Philosophie gibt, kann nicht zweifelhaft sein. Es ist das Ich, welches wir verlassen haben in dem Moment, wo es dem beschaulichen Leben Abschied geben muß und die letzte Verzweiflung sich seiner bemächtigt; […] noch ist es nicht befreit von der Eitelkeit des Daseins, die es sich zugezogen, und die es jetzt, nachdem es die Erkenntnis Gottes wieder geschmeckt hatte, nur um so tiefer empfinden muß.« Hier klingen freilich jene religionsphilosophischen Motive an, die Schellings Lehre vom ›Abfall‹ zugrunde liegen; sie sind hier nicht weiter zu verfolgen. 33
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zu dem (auch gegen Kant gerichteten) Vorwurf, die herkömmliche ›negative Philosophie‹ sei nicht so sehr ›seins‹-, sondern vor allem ›freiheitsvergessen‹ geblieben. Indes, Schellings Anliegen: Zu zeigen, »wie dem Ich das Bedürfnis, Gott außer der Vernunft (Gott nicht bloß im Denken oder in seiner Idee) zu haben, durchaus praktisch entsteht« – scheint in nuce schon in dem von Kant ausgewiesenen praktisch notwendigen Zweck des reinen Vernunftwillens angesprochen zu sein (KpV A 258), jedenfalls fügt dieses sich recht gut zu dem von Kant geforderten Aufweis der Genese des Gottesgedankens. Nun hat ja wiederum Schelling selbst diese Anknüpfung an thematische Vorgaben Kants ausdrücklich angezeigt – vermutlich stand ihm dabei jene praktische Thesis Kants: »Ich will, daß ein Gott […] sei«, d. i. Kants Variante des »Gottsetzenden Vermögens der Vernunft« vor Augen: »Das Ende der negativen Philosophie ist, daß das Ich die Umkehrung verlangt, die also zunächst bloßes Wollen ist (analog mit Kants Postulat der praktischen Vernunft, aber mit dem Unterschied, daß es nicht die Vernunft, sondern (das praktisch gewordene) Ich ist, das als persönliches selbst Persönlichkeit verlangt und sagt: ›Ich will, was über dem Seienden ist‹)«.34 In der Tat spricht einiges auch dafür, daß Schellings Hinweis: »Die positive Philosophie könnte möglicherweise rein für sich anfangen, mit dem bloßen Ausspruch: ›Ich will das, was über dem Seyn ist‹, und wir werden sehen, wie der wirkliche Übergang in sie in der Tat durch ein solches Wollen geschieht« (EPM 574), an jene ›praktische Thesis‹ Kants anknüpft, die bei ihm auf das Postulat Gottes, d. i. eines »theoretischen, als solchen nicht erweislichen Satzes« führte. So gesehen darf auch jene »Antinomie zwischen dem, was aus der Vernunft mit Notwendigkeit folgt, und dem, was wir eigentlich wollen, wenn wir Gott wollen«, durchaus als eine besondere Akzentuierung jenes Kantischen Anliegens »Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« gelesen werden – obschon dies bei Schelling auf eine Art und Weise geschieht, die den kritischen Sinn solcher postulatorisch vermittelten Gott-Rede letztendlich doch ›aufheben‹ dürfte. Jedenfalls scheint Kants ›praktische Thesis‹: »Ich will, daß ein Gott […] sei«, auch für Schelling den entscheidenden Punkt zu markieren, an dem Kant selbst den Rahmen seiner ›Kritik‹ – doch wenigstens ›tendenziell‹, wenn auch keineswegs systematisch vermittelt – überschreitet und, entsprechend Schelling: Übersicht über meinen künftigen Nachlaß, 671 f. (zitiert nach Baumgartner/Korten: Schelling, 216). 34
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zur kritischen Unterscheidung von ›transzendentaler‹ und ›positiver Freiheit‹, »das Positive, das er aus der theoretischen Philosophie ganz eliminiert hatte, durch die Hintertüre der praktischen wieder eingeführt« hat.35 Indes darf Schellings ausdrückliche Bezugnahme auf Kants »Forderung (dem Postulate, wie er sagte) des wirklich existierenden Gottes, im Grunde also […] der Forderung einer positiven Philosophie«, den – vor allem auch bezüglich Schellings Begründung des Stellenwerts des ›Positiven‹ – wichtigen Hinweis Kants nicht verdrängen, wonach jenes ›Ideal der Vernunft‹ (als ›Gedanke des Abschlusses‹) dem theoretischen Vernunftgebrauch zufolge zwar am weitesten »von der objektiven Realität entfernt zu sein« scheint, indes als »unentbehrliches Richtmaß der Vernunft« in der »Idee des vollkommensten Menschen«, »dieses göttlichen Menschen in uns« (KrV B 596 f.), eben als »Übersinnliches in uns« (FM A 107 = AA 20,295) – und allein so – auch wirklich ist (d. h. nicht bloß, im Sinne Kants, ›objektive Realität‹ hat). Nach Kant gehört es offenbar zur conditio humana, ist ihm zufolge also von der besonderen Weltstellung des Menschen unablösbar, daß ›das Unbedingte‹ sich für ihn als ›vernünftiges Weltwesen‹ eben ausschließlich darin als wirklich ›offenbaret‹ – im Unterschied zum regulativen ›Ideal der Vernunft‹ als ›Gedanke des Abschlusses‹ im theoretischen Vernunftgebrauch. Deshalb hätte Kant den angeführten Vorwurf Schellings wohl selbst noch einmal mit der skeptischen Erwiderung konfrontiert, ob denn jene von Kant angeblich, so Schellings Verdacht, insgeheim benützte ›Hintertür‹ eben nicht doch die einzige enge Pforte ins ›Positive‹ darstelle, andere Höhlen- und Notausgänge bzw. Rekurse auf das »allem Denken […] absolut Vorgestellte« (vgl. EPO 775) hingegen verschlossen bleiben müssen, zumal nicht zuletzt gegenüber Schellings ›Vorstellung‹ noch einmal gelten müsse: »Der kritische Weg ist allein noch offen« (KrV B 884). EPO 686; vgl. auch EPM 542. Damit nimmt Schelling offenbar den in seiner Freiheitsschrift formulierten kritischen Gedanken auf, daß Kant die »Freiheit«, die »einzige positive Bestimmung des an sich«, nicht weiter fruchtbar gemacht habe. Dabei denkt er vermutlich an Kants Rekurs auf die Freiheit als dem »einzige[n] Begriff des Übersinnlichen […], welcher seine objective Realität […] an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweiset« (KU B467). Auch erinnert Schellings Hinweis auf den für die ›Umkehr‹ entscheidenden »praktischen Antrieb«: »Von einem Entschluß, einer Handlung oder gar einer Tat weiß das reine Denken nichts« (EPO 775), wohl an jenen Passus aus der Vorrede zur KpV A 3: »Denn wenn sie [die Vernunft] als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich.« 35
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Ungeachtet dieser in der Sache unübersehbaren Bezüge auf religionsphilosophische Motive Kants ist jedoch der von Schelling betonte Unterschied dieses im Sinne Kants begründeten ›Vernunftbedürfnisses‹ von dem »lautwerdenden Bedürfnis der Religion« (EPO 578) nicht zu übersehen, weist doch der von Schelling damit verbundene Anspruch noch in einer anderen wichtigen Hinsicht über die »nicht nur logische, sondern praktische (ich bin gewiß)« Überzeugung (Log A 110 = AA 9,72), welche jenen ›praktischen Vernunftglauben‹ kennzeichnet, hinaus. Diesbezüglich zielte sein Einwand gegen Kants Postulatenlehre nämlich vorrangig darauf ab – und dies markiert nun einen besonderen Aspekt des Motivs der ›Selbstbegrenzung der (praktischen) Vernunft‹, der vor allem in Schellings spätesten Darlegungen seiner ›positiven Philosophie‹ in den Vordergrund tritt –, daß jenem Gottesbegriff der ›negativen Philosophie‹ (und damit auch dem unzureichenden moralischen Gottesbegriff Kants) eine ›Existenzvergessenheit‹, d. i. auch ein Verfehlen der ›menschlichen Individualität‹, korreliert, weshalb die ›Forderung des wirklich existierenden Gottes‹ auch jenes im Sinne Kants verstandene ›praktische Vernunftbedürfnis‹ und die darin fundierte ›objektive Realität‹ Gottes noch als halbherzig entlarvt. Solche religionsphilosophische Zuschärfung der Vernunftkritik sei, in einer gewissen Entsprechung zur ›Selbstbegrenzung des theoretischen Vernunfthorizonts‹, der Kantischen ›Kritik der praktischen Vernunft‹ völlig verborgen geblieben – auch hier verlasse Kant offenkundig »sein kritischer Sinn«. Der von Kant intendierte »praktisch-dogmatische Überschritt zum Übersinnlichen« erlaube es (als ein selbst bloß ›ideelles Verhältnis‹) demzufolge gerade nicht, zu einem »ursprünglich realen Verhältnis des menschlichen Wesens zu Gott« im Sinne eines wirklich »persönlichen Verhältnisses« zu gelangen. Deshalb sah Schelling sich vor allem auch gegen Kants Postulatenlehre zu dem Nachweis veranlaßt, »wie dem Ich das Bedürfnis, Gott außer der Vernunft (Gott nicht bloß im Denken oder in der Idee) zu haben, durchaus praktisch entsteht« (EPM 579), das so auch erst der ›Sehnsucht‹ Ausdruck verlieh: »Ich will das, was über dem Sein ist, was nicht das bloße Seiende ist, sondern mehr als dieses, der Herr des Seins« (EPO 695). Daß jene – in der Idee des ›höchsten ursprünglichen Gutes‹ freilich selbst schon symbolisch dargestellte – Idee des ens realissimum die not-wendende Wirklichkeit Gottes noch verfehlen muß, ist nach Schelling lediglich eine unvermeidliche Konsequenz aus dem auch in solcher Hinsicht zu wenig selbstkritischen Programm einer ›Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹, das
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somit auch für die menschliche Existenz und deren ›innere Not‹ blind bleiben müsse. In der Folge sei auf diesen von Kant beschrittenen – eben ›individualitätsvergessenen‹ – Wegen bezeichnenderweise auch die produktive Zweideutigkeit nicht fruchtbar zu machen, die jener Kantischen Version des ›Für-uns-seins‹ Gottes grundsätzlich zwar innewohnt: Gelte es doch, dieses ›Für-uns-sein‹ Gottes gleichermaßen als ein ›pro nobis‹ zu explizieren, das auch nur so das im Individuum begründete ›lautwerdende Bedürfnis nach Religion‹ und die für ein ›reales Verhältnis‹ des Menschen zu Gott konstitutive Forderung ›Person sucht Person‹ rechtfertigen könne. Folglich wäre es, im Bemühen um einen der ›praktischen Bestimmung‹ des Menschen angemessenen Gottesbegriff, nach Schelling wohl naheliegend gewesen, dieses – ihm als ›höchster Weisheit‹ freilich nicht äußerlich bleibende – ›Für-uns-Sein‹ eben nicht bloß in dem kritizistischen Sinne der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens und dem daraus resultierenden ›symbolischen Anthropomorphismus‹ aufzufassen, sondern diesem vielmehr – gegen Kants Verkürzungen! – gewissermaßen noch eine praktisch-existentielle Zuschärfung zu verleihen: »Es hat sich also gezeigt, wie dem Ich das Bedürfnis, Gott außer der Vernunft (Gott nicht bloß im Denken oder in seiner Idee) zu haben, durchaus praktisch entsteht. Dieses Wollen ist kein zufälliges, es ist ein Wollen des Geistes. […] Wie diese Forderung […] vom Denken nicht ausgehen kann, so ist sie auch nicht Postulat der praktischen Vernunft. Nicht diese, wie Kant will, sondern nur das Individuum führt zu Gott. Denn nicht das Allgemeine im Menschen verlangt nach Glückseligkeit, sondern das Individuum […] und so ist es auch das Ich, welches als selbst Persönlichkeit Persönlichkeit verlangt, eine Person fordert, die außer der Welt und über dem Allgemeinen, die ihn vernehme, ein Herz, das ihm gleich sei. Das Ich demnach ist es, welches sagt: Ich will Gott außer der Idee, und damit die oben erwähnte Umkehrung verlangt«.36 Dergestalt wird von Schellings ›positiver Philosophie‹ gegen Kant überdies das Motiv einer kritischen Depotenzierung der praktischen Vernunft (und somit des Begriffs der ›moralischen Freiheit‹) geltend gemacht – näherhin im Sinne der Befreiung der praktischen Vernunft bzw. der Freiheit von ihrer EPM 579 f. So ist es wohl zu verstehen, daß die »Vernunftwissenschaft über sich hinaus« führe und »zur Umkehr« treibe; ein »Wille« sei es, von dem diese »letzte Krisis der Vernunftwissenschaft« ausgehe. Kants Charakterisierung Gottes als des »allein Heilige[n], […] Selige[n], […] Weise[n]« (KpV A 236 Anm.) bzw. als ›Herzenskündiger‹ dürfte der diesbezüglichen Forderung Schellings doch genügen. 36
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eigenen Selbstverabsolutierung, d. h. gewissermaßen ›von sich selbst zu sich selbst‹. Diese die moralische Dimension des ›unpersönlichen Gesetzes‹ noch transzendierende – also gleichsam trans-moralische – ›existenzielle Dimension‹ des ›tätigen Lebens‹ und der ›wirklichen Religion‹ indiziert offenbar einen besonderen Aspekt jener ›Selbstbegrenzung praktischer Vernunftansprüche‹, worin jene Vernunftforderung nach dem ›außer ihr Liegenden‹ noch einmal eine besondere ›existentielle‹ Zuspitzung erfährt. Gegen die jenen Kantischen Vernunftpostulaten innewohnende ›Ich-und Existenzvergessenheit‹ war ja im Grunde auch schon der Einwand Schellings gerichtet (EPM 577): »Bei Kant, der auch über das Gesetz hinaus will, ist es nicht das Ich, sondern bloß die Philosophie und die Proportion, die über das Gesetz hinaus verlangt, nach einer also verdienten Glückseligkeit, die nicht in der Einheit mit Gott besteht, sondern etwas relativ Äußres ist und eigentlich bloß sinnliche. Ich verlange aber eine Seligkeit, worin ich aller Eigenheit, also auch der Sittlichkeit als eigener enthoben werde; die erwartete Seligkeit würde mir getrübt, wenn ich sie noch als (wenigstens mittelbares) Erzeugnis meines Tuns betrachten müßte. Wenn immer nur proportionierte Seligkeit, so wäre dies ein Grund ewiger Unzufriedenheit, und es wird also doch nichts andres bleiben und kein philosophisch sich dünkender Hochmut uns abhalten, dankbar anzunehmen, daß unverdient und aus Gnaden uns zuteil werde, was wir anders nie erlangen können«. Dabei anerkannte Schelling durchaus (und betonte dies offenbar vor allem gegen die auf Kant gemünzte Eudämonismus-Kritik Fichtes), daß nach Kant »Glückseligkeit nur das zweite Element des höchsten Guts [ist], was richtig ist, wenn das zweite das höhere. Nicht als Lohn der Sittlichkeit, sondern als das Höhere wird sie gesucht, jene befriedigt nicht« (ebd. Anm. 3). Aus den voranstehenden Überlegungen sollte deutlich geworden sein: Sowohl bezüglich jener über allen ›Begriff hinausführenden‹ – ›unvordenklichen‹ – Vorstellung des ›absoluten Prius‹ als auch der ›innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‹ uneinholbaren ›geschichtlichen Positivität‹ und nicht zuletzt mit besonderem Blick auf die individuell-existentielle Sinndimension des Menschen verfolgte Schelling gegen Kant das Motiv der ›von sich freien Vernunft‹ – in der Absicht bzw. mit dem besonderen Anspruch, dieserart mit dem differenzierten Programm einer ›Selbstbegrenzung der Vernunft‹ über Kants Vernunftkritik sowie über den in dessen Konzeption einer ›Vernunftreligion‹ maßgebenden Rahmen hinauszugelangen. Diese unterschiedlichen Aspekte und Akzente einer ›Selbstbegrenzung der Vernunft‹ bleiben
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daher allesamt auch in Schellings ›Forderung nach dem wirklichen Gott‹ zu beachten. Aus der für Schellings ›positive Philosophie‹ zuletzt bestimmenden Verknüpfung dieser existenziellen Sinndimension mit den vernunftkritischen Aspekten des Geschichtlichen resultiert so das Programm einer ›geschichtlichen Philosophie‹, die sich als aposteriorisches ›Nach-denken‹ des sich selbst in der Geschichte frei offenbarenden Gottes in bestimmtem, d. i. geschichtlich-konkretem gläubigen Bewußtsein der Menschheit erweist (EPO 774): »Gott seinem höchsten Selbst nach ist nicht offenbar, er offenbart sich; er ist nicht wirklich, er wird wirklich, eben damit er als das allerfreieste Wesen erscheine«.
5. Schellings Verkennung wichtiger religionsphilosophischer Motive bei Kant Indes, daß Kant wichtigen Motiven, die Schelling gegen ihn geltend gemacht hat, wohl kaum widersprochen hätte, dies belegen vor allem die vergleichsweise wenig rezipierten religionsphilosophischen Ausführungen in Kants späteren Schriften. Sie machen deutlich, daß sich auch Kants religionsphilosophische Konzeption aufs Ganze gesehen doch als differenzierter erweist als dies einschlägige Einwände Schellings vermuten lassen. So wird in Kants späteren religionsphilosophischen Bezügen vor allem auch Gott selbst nicht nur als zureichender Grund, sondern auch als eigentlicher ›terminus ad quem‹ menschlichen Hoffens behauptet, d. h. der Rekurs auf das Dasein Gottes wird so – wohl durchaus im Sinne von Schellings: »Person sucht Person« (EPM 576) – auch nicht mehr bloß äußerlich, in der Endlichkeit unseres Erkenntnisvermögens (im Sinne der für uns eben anders nicht zu denkenden Möglichkeit des ›höchsten Gutes‹), verankert. Wäre denn andernfalls bei Kant von einer ›Gottseligkeit‹ (RGV B 282) rechtens zu reden? Dies relativiert nicht nur Schellings Kritik der Kantischen Idee des ›höchsten Gutes‹, welches sich ja durchaus im Sinne des Schellingschen Motivs der ›Essentifikation‹ verstehen läßt – jedenfalls dann, wenn die Idee des ›höchsten Guts‹ selbst schon als ›symbolische Darstellung‹ der im Menschen als ›vernünftigem Weltwesen‹ (als unauflöslicher Einheit von homo phaenomenon und homo noumenon) zu denkenden Einheit von ›Natur und Freiheit‹ aufgefaßt wird. Auch Kants Kennzeichnung der Idee der »Glückseligkeit« als des »Zustand[s] eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen
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seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht« (KpV A 224; Hvh. v. Vf.), gewinnt offenbar im Sinne einer solchen ›symbolischen Darstellung‹ einen guten Sinn. Damit verliert vor allem (insbesondere in Erinnerung an den postulatorischen Stellenwert der Idee der ›Heiligkeit‹ bei Kant) auch der gegen ihn gerichtete Einwand an Gewicht, daß eben nicht die »praktische Vernunft […], wie Kant will, sondern nur das Individuum […] zu Gott« führt. »Denn nicht das Allgemeine im Menschen verlangt nach Glückseligkeit, sondern das Individuum«, weil jenes doch »nur das Allgemeine, die Vernunft in ihm befriedigen« könne und »nicht ihn, das Individuum« (EPM 579). Ebensowenig hätte Kant dem auf die prinzipielle – eben auch moralische – Unverfügbarkeit des höchsten Guts abzielenden Anliegen Schellings seine Zustimmung verweigert; auch ihm zufolge darf das ›höchste Gut‹ als ›terminus ad quem‹ des Hoffens gewiß nicht als ein solches mißverstanden werden, worauf ein (gar einklagbarer) Anspruch abzuleiten wäre – obwohl nicht zu leugnen ist, daß manche diesbezügliche Äußerungen Kants tatsächlich ein solches lohn-orientiertes Mißverständnis begünstigen. Jedenfalls erschöpft sich auch für ihn die ›vernünftige Hoffnung‹ keineswegs in der auf eine proportionierte Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit gerichteten ›Erwartung wohlgearteter Seelen‹. Kants ausdrückliche Einsicht, daß solche Hoffnung eben nicht auf göttliche Gerechtigkeit, sondern allein auf göttliche Güte gegründet sein kann, läßt sein klares Bewußtsein von der prinzipiellen Ausweglosigkeit menschlicher Existenz erkennen, was diese letzten Fragen ›Verdienst, Schuld, Erwählung und Verwerfung‹ betrifft: »Denn in einer göttlichen Regierung kann auch der beste Mensch seinen Wunsch zum Wohlergehen nicht auf die göttliche Gerechtigkeit, sondern muß ihn jederzeit auf seine Güte gründen: weil der, welcher bloß seine Schuldigkeit tut, keinen Rechtsanspruch auf das Wohltun Gottes haben kann« (MpVT A 200 Anm.).37 Daß diese späten religionsphilosophischen Motive Kants einschlägigen Anliegen Schellings weithin entgegenkommen,38 gilt wohl in besonderer Weise auch für Kants Einsicht in die notwendige »Entsagung (Resignation) »Die christliche Religion sagt: wir können niemals hoffen, durch eigen Verdienst die Würdigkeit zu erlangen. Sie fordert die größte Reinigkeit des Herzens« (Reflexion 6838; AA 19,175). Auch an Kants Abgrenzung des »höchsten Gutes« von demjenigen der »philosophischen Sekten« ist hier zu erinnern. 38 Damit ist nicht gesagt, daß Kants Position den Rahmen einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (und auch den ›reinen Vernunftglauben‹) überschritten habe; einschlägige Reduktionismen sind gewiß unübersehbar. 37
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in Ansehung des göttlichen Willens« als »unserer Pflicht« (Moralphilosophie Collins; AA 27.1,320): »Wir entsagen unserem Willen, und überlassen etwas einem anderen, der es besser versteht und es gut mit uns meint. Folglich haben wir Ursache, Gott alles zu übergeben, und den göttlichen Willen schalten zu lassen; das heißt aber nicht: Wir sollen nichts tun und Gott alles tun lassen, sondern wir sollen das, was nicht in unserer Gewalt stehet, Gott abgeben und das unsrige, was in unserer Gewalt stehet, tun. Und dieses ist die Ergebung in den göttlichen Willen«. Diese Kantische, unüberhörbar ›existenz-orientierte‹ (wohl noch von Leibniz inspirierte) Version des fatum christianum – darin ist mit der stoischen Idee des ›höchsten Guts‹ nun auch jenes fatum stoicum im Sinne jener durch die »hergebrachten frommen Lehren […] erleuchteten [gleichsam ›getauften‹] praktischen Vernunft« (EaD A 515 = AA 8,336) aufgehoben – hätte mit Schelling vermutlich auch die Überzeugung geteilt, daß »zwar […] das Ich sich nicht selbst den Beruf zuschreiben« kann, »ihn [»den Gott, der außer und über der Vernunft ist, dem also möglich, was der Vernunft unmöglich, der dem Gesetz gleich, d. h. von ihm frei machen kann«] zu gewinnen, Gott muß mit seiner Hilfe entgegenkommen, aber es kann ihn wollen, und hoffen, durch ihn einer Seligkeit theilhaftig zu werden, die, da weder das sittliche Handeln noch das beschauliche Leben die Kluft aufzuheben vermochte, keine verdiente, also auch keine proportionierte, wie Kant will, sondern nur eine unverdiente, eben darum incalculable, überschwengliche sein kann« (EPM 577; Hvh. v. Vf.). Indes, bleiben diese ›existenziellen Wendungen‹ Schellings von Kant her gesehen nicht selbst dem Verdacht bzw. dem Zweifel ausgesetzt, ob sie in mancher Hinsicht nicht nur überzogen, sondern überhaupt gegenstandslos sind? So ist doch jener erwähnte Schellingsche Rekurs auf das ›Wollen des Geistes‹ und die daran geknüpfte These, daß jene von ihm explizierte ›Krisis der Vernunft‹ vom ›Willen‹ ausgehe, offenbar selbst ein Gedanke, der auf Kants »praktisch-dogmatischen Überschritt zum Übersinnlichen« zurückverweist; gerade für ihn war dieses »Wollen […] kein zufälliges«, wenn sich das darin artikulierende Vernunftbedürfnis doch als ein solches erwies, das »aus einem objectiven Bestimmungsgrunde des Willens, nämlich dem moralischen Gesetze« entspringt (KpV A 259 Anm.). An diesen Rekurs auf das ›Wollen‹ (einer nicht bloß ›logischen‹, sondern ›moralischen Gewißheit‹, vgl. Log A 110=AA 9,72) war freilich bei Kant die unumgängliche Aufgabe geknüpft, den über die theoretische Vernunftperspektive der ›transzendentalen Theologie‹ hinausweisenden »praktisch-dogmatischen Überschritt« – der
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eben weder ›Sprung‹, noch ein bloßer »Schritt im fortgesetzten Gange« ist, sondern »um von einem Territorium zum andern zu kommen«39 – als einen solchen zu legitimieren, der in jenem unabweislichen »Bedürfnis der fragenden Vernunft« verankert ist, welches sich in der »Idee der Freiheit«, die »sich durchs moralische Gesetz offenbaret« (KpV A 108), begründet erweist, weshalb hierfür dieses allein wirkliche »Übersinnliche in uns« als die für jenen ›Überschritt‹ unentbehrliche Brücke fungiert. Daran knüpft sich sogleich eine kritische Rückfrage an Schellings ›Umkehr‹-Motiv: Wenn die ›negative Philosophie‹ es doch »nur mit dem Notwendigen zu tun« hat, während es sich in der ›positiven Philosophie‹ »um etwas außer der Notwendigkeit Liegendes, um etwas Gewolltes handelt« (EPM 577), dem indes weder Kants »praktisch-dogmatischer Überschritt« noch Jacobis ›salto mortale‹ genüge bzw. entspreche – wie ist denn solcher ›Entschluß‹ bzw. das ihm zugrunde liegende ›Wollen des Geistes‹ näherhin zu verstehen – und vor allem: worin ist dies begründet, wenn es doch als ein notwendiges »Wollen des Geistes« gelten soll? Ist dies von Schelling als ein legitimes, gar notwendiges auch zureichend ausgewiesen, oder ist solcher Ausgang von jenem ›Entschluß‹ letztendlich doch bloß ›ad hoc‹ gesetzt – d. h. gleichsam wie ›aus der Pistole geschossen‹? Erfolgt dies aus einer ›Umkehr des Ich‹ – worin ist letztere eigentlich begründet? –, so müsse es eben ein Wille sein, »der mit innrer Notwendigkeit verlangt, daß Gott nicht bloße Idee sey« (EPM 575), wenn es doch der »praktische Antrieb des Wollens« ist, der nach Schelling die Vernunftwissenschaft erst über sie hinausweisen soll. Wohl kaum werden solche Bedenken durch Schellings Rekurs auf den ›Vernunft-Entschluß‹ zerstreut: »Die Vernunft am Ende der negativen Philosophie außer sich gesetzt, gleichsam betroffen, weil sie sieht, daß sie in dieser Philosophie ihren wahren Inhalt nicht als einen wirklichen besitzen kann, entschließt sich vom Sein vor allem Denken auszugehen«.40 Ist solcher ›Entschluß‹ zuletzt etwa doch ›lediglich‹ auf jene von Schelling behauptete »erste Voraussetzung der Philosophie […], daß in dem Sein – in der Welt – Weisheit sei«, gestützt? 41 OP; AA 21,641. 40 Schelling: Andere Deduktion der Principien der positiven Philosophie, 787. 41 »Die Philosophie setzt ein Sein voraus, welches gleich anfangs mit Voraussicht, mit Freiheit, entsteht. Ich verlange Weisheit – heißt soviel – als ich verlange ein absichtlich gesetztes Sein. Die erste Erklärung der Philosophie setzt ein Sein voraus, welches gleich anfangs mit Absicht und Freiheit entstanden ist« (Urfassung 23). 39
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Mit nochmaligem Blick auf Kants ›ethikotheologische‹ Konzeption bleibt eine damit zusammenhängende Rückfrage auch an Schellings Kennzeichnung der ›positiven Philosophie‹ zu richten: »Die positive Philosophie ist die eigentlich freie Philosophie; wer sie nicht will, mag sie lassen, ich stelle es jedem frei, ich sage nur, daß wenn einer z. B. den wirklichen Hergang, wenn er eine freie Weltschöpfung usw. will, er dieses alles nur auf dem Weg einer solchen Philosophie haben kann. Ist ihm die rationale Philosophie genug, und verlangt er außer dieser nichts, so mag er bei dieser bleiben, nur muß er aufgeben, mit der rationalen Philosophie und in ihr haben zu wollen, was diese in sich schlechterdings nicht haben kann, nämlich eben den wirklichen Gott und den wirklichen Hergang und ein freies Verhältnis Gottes zu der Welt« (EPO 734). Dagegen erhebt sich nicht nur der Zweifel darüber, ob bzw. wie sich denn solche großzügige ›Freistellung‹ mit der angeführten Kennzeichnung jenes ›Entschlusses‹ als einem notwendigen »Wollen des Geistes« (EPM 579) und der von Schelling beanspruchten Anknüpfung an Kants ›Weltbegriff der Philosophie‹ verträgt; ist denn ein solches Zugeständnis mit dem Programm einer praktisch akzentuierten ›Selbstbegrenzung der Vernunft‹ auch wirklich vereinbar? Einer solchen freigestellten Aufnahme der ›positiven Philosophie‹ hätte Kant, am ›Primat der praktischen Vernunft‹ festhaltend, seine Zustimmung doch geradewegs verweigern müssen – und zwar schon aufgrund seiner unbeirrten Orientierung an unabweislichen, jenem ›Weltbegriff der Philosophie‹ immanenten und so über die ›Interessen der forschenden Vernunft‹ hinausweisenden Vernunftansprüchen. Darin war doch ausdrücklich von einem – offenbar in der conditio humana verwurzelten – notwendigen ›Interesse-nehmen‹ die Rede, weshalb Kant in dieser Hinsicht jenem ›praktisch-dogmatischen Überschritt‹ zu einer kritischtheistischen Gottesidee gemäß seiner Idee einer ›moralischen Teleologie‹ offenbar eine ungleich höhere Verbindlichkeit zuerkennen wollte, als dies wenigstens in der im letzten Schelling-Zitat eingeräumten Selbstbescheidung der Fall zu sein scheint. In solchem Sinne war bei Kant ja von der in ›praktischer Beziehung‹ unentbehrlichen »Voraussetzung eines höchsten und allgenugsamen Wesens, als oberster Intelligenz« (KrV B 668), bzw. von »Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht« (KpV A 238) die Rede – und so war es ja wohl zu verstehen, daß »auch dieser Begriff allein uns interessiert« (KrV B 661). Schellings Kritik, der zufolge die Kantische Ethikotheologie von einer verhängnisvollen ›Ich‹- bzw. ›Existenzvergessenheit‹ geprägt sei, hätte Kant wohl
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nicht nur mit dem Hinweis auf seine Leitfragen ›Was soll ich tun?‹ und ›Was darf ich hoffen?‹ sowie auf das ›eigentliche‹, ›unsichtbare Selbst‹ (z. B. KpV A 289) erwidert; damit wäre sodann noch, eingedenk jenes ›Übersinnliche in uns‹, die Aufforderung zu verknüpfen, Kants denkwürdigen Hinweis auf die »der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessene Proportion seiner Erkenntnißvermögen« (KpV A 263 f.) genauer – d. h. vor allem im Sinne einer jenem ›Primat des Praktischen‹ verpflichteten, selbstbegrenzungs-orientierten ›docta ignorantia‹ – zu lesen: Also nicht als den nüchternverdrossenen Befund über die uns bezüglich unseres Erkenntnisvermögens ›stiefmütterlich‹ versorgenden ›Natur‹, die uns als Mängelwesen diesbezüglich beschränkt läßt, sondern eher als Ausdruck der durch jenes ›Grenzwissen‹ eröffneten Zuversicht, »daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir [als vernünftige Weltwesen] existiren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zu theil werden ließ« (KpV A 266).42 Daß Schelling selbst in der ersten Vorlesung seiner Einleitung in die Philosophie der Offenbarung den Menschen als das ›Unbegreiflichste‹ bezeichnet hat, bietet für eine solche Erinnerung wohl einen naheliegenden Anknüpfungspunkt. Ebenso bleibt Schellings ›positive Philosophie‹, durchaus wiederum im Ausgang von Kants kritischem Programm, abschließend noch mit der grundsätzlichen Frage zu konfrontieren, ob die von ihm so genannte ›positive Wissenschaft‹ nicht selbst auf eine zuletzt unausgewiesene ›Selbstbegrenzung der Philosophie‹ gegenüber der geschichtlichen Religion hinausläuft, d. h. zuletzt doch stillschweigend den ›Sprung‹ in letztere vollzogen hat, worin nun auch jene ›Selbstbegrenzung der Vernunft‹ noch einmal (offenbarungs)theologisch ›aufgehoben‹ ist; wird diese ›philosophische Religion‹ so nicht selbst in den Vollzug konkreter gläubiger Existenz transformiert bzw. darin – gemäß jenem ›Umsturz des Ich‹ – aufgehoben? Letzteres – und nicht die ›philosophische Religion‹ – war es doch wohl, dem Schelling seine sehnsuchts-volle Stimme lieh: »Ich will das, was über dem Sein ist […], sondern mehr als dieses, der Herr des Seins« (EPO 695; Hvh. v. Vf.). Hat er damit aber nicht selbst einer unkritischen Einebnung bzw. Vermengung von Problemebenen wenigstens Vorschub geleistet – spiegelt sich diese Schwierigkeit zuletzt nicht auch in der seltsam anmutenden Aufgabe wider, die Schelling der ›philosophischen Religion‹ ausdrücklich zumutete – daß nämlich diese »Religion […] die wirkliche 42
Vgl. dazu auch den Schlußsatz aus GMS BA 128 = AA 4,463.
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Religionen, die mythologische und die geoffenbarte, reell zu begreifen hat« (EPM 578 f; Hvh. v. Vf.)? Ist so beim späten Schelling also nicht doch das religiöse Verhältnis, der gläubige Existenzvollzug selbst, zuletzt an die Stelle der reflexiv-theoretischen philosophisch-theologischen Vermittlung getreten?
»Muß ich wissen wollen?« – Schopenhauers Kant-Kritik von Margit Ruffing
Der folgende Beitrag befaßt sich im ersten Teil mit Schopenhauers Kant-Kritik in historischer Hinsicht, indem er ihre Rezeption nachzeichnet. Daraus erhellt bereits, welche Aspekte der philosophischen Auseinandersetzung Schopenhauers mit Kant in systematischer Hinsicht in der philosophischen Diskussion eine Rolle spielten und bis heute relevant sind – und daß diese Auseinandersetzung insbesondere für die praktische Philosophie noch zu führen ist. Hiervon handelt der zweite Teil, während der dritte einen Aspekt der Schopenhauerschen Kritik an Kants Ethik aufgreift, nämlich die am kategorischen Imperativ in seiner fundamentalen Funktion als moralphilosophisches Prinzip. Die Reflexion auf innere Zusammenhänge von Pflicht- und Mitleidsethik weist im kritischen Nachvollziehen der Schopenhauerschen Argumente zunächst die unterschiedliche Gewichtung kognitiver und intuitiver Momente der Moralphilosophie Kants und Schopenhauers auf, die sich an den scheinbar unvereinbaren Konzeptionen des Vernunftvermögens und des Gefühls festmachen läßt. Als grundlegende Übereinstimmung aber zeigt sich, daß Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit der Moralität in beiden Fällen nur als Einsicht ins eigene Wesen gedacht werden können, die mit Schopenhauer gesprochen ein ›gefühltes Wissen‹ ist. So kann die Diskrepanz aufgehoben werden in einem beiden Positionen gemeinsamen anthropologischen Moment: im Selbstverständnis des Menschen als eines rational wie emotional zu Moralität motivierten, im Sinne eines durch die Erkenntnis seiner selbst zu moralischem Handeln aufgeforderten Wesens. 1. Zur Rezeptionsgeschichte der Kant-Kritik Schopenhauers Bereits in der Vorrede zur ersten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung setzt sich Schopenhauer auf eine Art und Weise in Beziehung zu Kant, daß es für seine Leser und Interpreten nicht möglich zu sein scheint, diese zu
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ignorieren, d. h. Schopenhauers Denken unabhängig von Kants Philosophie zu betrachten: »Kants Philosophie […] ist die einzige, mit welcher eine gründliche Bekanntschaft bei dem hier Vorzutragenden geradezu vorausgesetzt wird«, heißt es da; und zwar in dem Maße, daß Schopenhauer empfiehlt, den Anhang zum Hauptwerk – die Kritik der Kantischen Philosophie – zuerst zu lesen. Folgerichtig wird Schopenhauer von den frühen Rezipienten bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts immer im Ausgang von Kant aufgefaßt; keine bedeutende Untersuchung unterläßt es, Schopenhauers Denken am Kantischen zu messen, seine Metaphysik zu relativieren oder die Kant-Kritik nachzuvollziehen. Thomas Weiner stellt diesen Sachverhalt in seinem Buch Die Philosophie Arthur Schopenhauers und ihre Rezeption dar, indem er die Standpunkte maßgeblicher Interpreten referiert, die entweder auf Schopenhauers Auseinandersetzung mit Kant gründen oder Kantische Fragestellungen an Schopenhauers Denken herantragen – legitimiert durch Schopenhauers eigenen Anspruch.1 Außer der impliziten, indirekten Rezeption der Schopenhauerschen KantKritik gibt es etliche Arbeiten unterschiedlicher Natur, die sie direkt thematisieren. Es liegt möglicherweise an Schopenhauers eigener Aufgeregtheit im Umgang mit Andersdenkenden, daß polemische Beiträge zu seiner Kritik an der Kantischen Philosophie, insbesondere der praktischen, eine gewisse Tradition haben. Gleichzeitig provoziert die Inanspruchnahme von ›Lebensweisheit‹ als Ertrag des Schopenhauerschen Systems weltanschauliche KommenSchopenhauer wird im folgenden zitiert nach der Zürcher Ausgabe [Zürich: Diogenes Verlag, 1977; = ZA]: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Bd. 1: 1. bis 3. Buch, Bd. 2: 4. Buch, Anhang: Kritik der Kantischen Philosophie [ = W I.1, 2]; Die Welt als Wille und Vorstellung II, Bd. 1: Ergänzungen zum 1. und 2. Buch, Kap. 1–28; Bd. 2: Ergänzungen zum 3. und 4. Buch, Kap. 29–50 [ = W II.1, 2]; Kleinere Schriften II: Über die Freiheit des menschlichen Willens; Über die Grundlage der Moral. – Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens. Aus dem handschriftlichen Nachlaß hrsg. von Volker Spierling. – Die erste bedeutende Darstellung des gesamten Schopenhauerschen Systems als eines eigenständigen, in sich abgeschlossenen transzendentalphilosophischen Reflexionsganges leistet Weiner zufolge Rudolf Malters umfangreiche Monographie Schopenhauers Transzendentalismus. Das System der Welt als Wille und Vorstellung werde hier erstmals nicht als Auseinandersetzung mit Kant aufgefaßt, sondern als Versuch einer philosophischen Pathologie und Soteriologie. Weiner schließt sich im ersten Teil seiner Arbeit Malters Interpretation an, die s. E. die entscheidenden Widersprüche im Denken Schopenhauers aufhebt. In einem zweiten Teil stellt er 14 Rezipienten – von Julius Frauenstädt bis Walter Schulz – vor, unterteilt in Befürworter und Gegner. 1
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tare, die Kantisches Gedankengut undifferenziert in die Willensmetaphysik integrieren; derartige Meinungsäußerungen sind zweifelsohne kulturhistorisch, nicht aber philosophisch bedeutsam.2 Im folgenden wird daher die um Sachlichkeit bemühte Diskussion nachgezeichnet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein erwachendes Interesse an der systematischen Bearbeitung der von Kant und Schopenhauer entwickelten philosophischen Standpunkte zu verzeichnen. Eine Reihe von Dissertationen wurde verfaßt, die angelegt sind entweder als Erklärungs- und Aufklärungsversuche von Mißverständnissen, wie sie Schopenhauers Kant-Kritik dokumentiert, oder in Form von um Neutralität bemühten Vergleichen, die zu einem Versuch der sinnvollen widerspruchsfreien Verbindung beider Ansätze hinführen.3 Es überwiegen die Arbeiten, die sich mit den theoretischen Grundlagen der menschlichen Erkenntnis, ihrer Objektivität und Apriorität beschäftigen, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft und Schopenhauers Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde sowie dem Anhang zum Hauptwerk Kritik der Kantischen Philosophie dargelegt sind. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen dabei die unterschiedlichen Auffassungen von Kausalität und die daraus folgende Konzeption der Verstandeserkenntnis und ihrer Funktion als Voraussetzung metaphysischer und transzendentalphilosophischer Reflexion. Im Bereich der praktischen Philosophie ist es vor allem die Freiheitsproblematik, die mit Bezugnahme auf Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sowie auf die Kritik der praktischen Vernunft und auf Schopenhauers Über die Freiheit des menschlichen Willens kontrovers diskutiert wird. Das größte Fachpublikum wird in dieser frühen Phase der Rezeption von Schopenhauers Kant-Kritik mit den Veröffentlichungen von M´scisl/aw Wartenberg in den Kant-Studien und Paul Deussen im Schopenhauer-Jahrbuch erreicht worden sein. Wartenberg befaßt sich in zwei Beiträgen mit dem Als Beispiele seien genannt Stehr: Kritisches zur Kritik Schopenhauers der Kritik Kants (1897); Lessing: Schopenhauer gegen Kant (1923–1925); Wittmer: Beiträge zur Weltanschauung auf Grundlage der Kant-Schopenhauer’schen Philosophie (1899; 1900). 3 So die Arbeiten von Neumark (Diss. Berlin 1896), Mayer (Diss. Halle 1897), Nobel (Diss. Bonn 1897), Friedlaender (Diss. Jena 1902), Tschauscheff (Diss. Bern 1906), Schneider (Diss. Heidelberg 1907), Wirtz (Diss. Bonn 1910), Tsanoff (Diss. Cornell Univ. 1911), Suckau (Diss. Gießen 1912), Ehrlich (Diss. Heidelberg 1920), Thieme (Diss. Leipzig 1924), Eder (Diss. Wien 1925), Bauminger (Diss. Wien 1935). 2
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Begriff des ›transscendentalen Gegenstandes‹ bei Kant und Schopenhauers Kritik desselben, quasi als Nachtrag zu seiner kurz zuvor erschienenen Monographie Kants Theorie der Kausalität. Es geht ihm dabei um eine ›Rechtfertigung Kants‹, wie es im Untertitel heißt, die auf Schopenhauers enggeführter Auffassung aufbaut, die Tätigkeit des Denkens, die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe geschehe nach Kant ausschließlich als Reflexion, in abstrakten (von der Anschauung abgezogenen) Begriffen (vgl. Teil II, 146 f.). Dementsprechend interpretiere Schopenhauer die Kantischen Kategorien als bloße Begriffe statt »als Funktionen oder Regeln der synthetischen Funktionen des Denkens« (ebd. 148). Wartenbergs Beitrag leistet insgesamt eine noch heute beachtenswerte Analyse des Problems der Erkenntnis objektiver Realität bei Kant und Schopenhauer anhand der für beide epistemologisch elementaren, aber unterschiedlich konzipierten Funktionen der Anschauung und des Denkens. Paul Deussen geht es in seinem Beitrag darum, dem Schopenhauer-Publikum Kants Kritik der reinen Vernunft als Grundlage der Schopenhauerschen Philosophie näherzubringen.4 Er folgt zusammenfassend und erläuternd dem Aufbau der Kritik, um einerseits die Kantische Argumentation nachzuvollziehen – und andererseits mit Schopenhauer kritisch Position zur transzendentalen Analytik zu beziehen, d. h. zur Kategoriendeduktion und dem Schematismus der Verstandesbegriffe, und sich auch von der Durchführung der transzendentalen Dialektik zu distanzieren, die auf eine unakzeptable Trennung von Verstand und Vernunft in »Vermögen des Urteilens und Vermögen des Schließens« zurückzuführen sei. Deussen wendet sich im SchopenhauerJahrbuch an die »Freunde Schopenhauers« und äußert die Hoffnung, »zum besseren Verständnis nicht nur der ›Welt als Wille und Vorstellung‹, sondern auch der […] ›Kritik der Kantischen Philosophie‹« beizutragen (87 Anm.*). Seine Ausarbeitung der Thematik im Kontext der »Allgemeine[n] Geschichte der Philosophie« macht deutlich, daß er Schopenhauer ausschließlich im Ausgang von Kant interpretiert und (wie jener selbst sich sah) als »Vollender Kants« auffaßt. Deussen ist der Überzeugung, die Philosophie Kants und Schopenhauers stellten eine »organische Einheit« dar, bildeten zusammen erst das »System des transscendentalen Idealismus«, so daß man in Zukunft Es handelt sich dabei um Vorarbeiten zu und den Vorabdruck eines Ausschnittes von Deussens mehrbändigem Werk Allgemeine Geschichte der Philosophie, in: 5. Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 1916, 87–135. 4
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von einem »allumfassenden, kantisch-schopenhauerschen System der Philosophie« zu reden habe.5 Deussens Prognose hat sich nicht bestätigt; statt der Weiterentwicklung der Positionen Kants und Schopenhauers zu einem allumfassenden System des transzendentalen Idealismus zeichnet sich in den folgenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Stagnation der Diskussion um Schopenhauers Kant-Kritik ab. Bis in die 60er Jahre finden sich nur vereinzelte Beiträge, die nach komparatistischen Methoden Einzelaspekte der Erkenntnistheorie oder der Ethik bearbeiten. Die Schopenhauer-Rezeption in Spanien und Italien setzt ein und nimmt weniger die theoretischen, epistemologischen Grundlagen, sondern verstärkt die Ethik, aber auch Religionsphilosophie und Ästhetik in den Blick (vgl. Payne 1948, Oroza Deuer 1950, Caramella 1954, Mazzantini 1965). In den 70er Jahren erscheinen ebenfalls nur wenige Arbeiten zur Philosophie Kants und Schopenhauers im Vergleich, und noch weniger dezidierte Auseinandersetzungen mit Schopenhauers Kant-Kritik – diese haben allerdings nicht an Aktualität verloren. Maßgeblich hinsichtlich der praktischen Philosophie ist Jörg Salaquardas Beitrag Erwägungen zur Ethik – Schopenhauers kritisches Gespräch mit Kant und die gegenwärtige Diskussion und hinsichtlich theoretischer Aspekte Johann Heinrich Königshausens Aufsatz Schopenhauers ›Kritik der Kantischen Philosophie‹. Salaquarda geht der Frage nach, »ob bzw. in welchem Maße Argumente und Problementfaltungen Schopenhauers in der zeitgenössischen philosophischen Diskussion wirksam sind«, ausgehend davon, daß sich »alle wichtigen Strömungen des heutigen Philosophierens« in Auseinandersetzung mit Kant entwickelten (51). Entscheidend für unsere Betrachtung scheint zu sein, daß er als Ergebnis seiner Ausführungen festhält, Schopenhauers Auseinandersetzung mit Kant sei in einigen grundlegenden Punkten ertragreich für ein »kritisches Philosophieren« (66); dazu gehören laut Salaquarda in erster Linie die sprachkritische Analyse der Terminologie Kants (vor allem die nicht eindeutig bestimmte Verwendung des Begriffes ›Vernunft‹), der ›Theologieverdacht‹ gegen die Kantische Moralphilosophie und der Nachweis, daß VerVgl. Deussen: Allgemeine Geschichte der Philosophie 2.3,378. In dieser Schrift ist auch das berühmte Wort von Schopenhauer als »philosophus christianissimus« (562) zu finden: nicht nur in bezug auf Kant, sondern auch »zwischen dem Fundamentaldogma des Christentums und der Lehre Schopenhauers« sieht Deussen eine »tiefe innere Übereinstimmung«, indem er behauptet, die Lehre von der Verneinung des Willens sei nichts anderes als ein Gottesbegriff (vgl. 572). 5
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nunftargumente gegen den menschlichen Egoismus ohne recht verstandenes Mitleid wirkungslos sind. Im Unterschied dazu zeigt Königshausen immanent den »von Schopenhauer nicht mehr überschrittene[n] äußeren Rahmen seiner Kantrezeption und Kantkritik« auf (192 ff.). Kant werde nicht von seinen »Intentionen und ursprünglicher Fragestellung her« verstanden, was weitreichende Folgen habe: die tiefgreifende Problematik und Mehrdeutigkeit des Unternehmens der Kritik der reinen Vernunft wird ignoriert, die »Selbstergründungsmöglichkeit der Vernunft« negiert. An den auf den (erkenntnis-)theoretischen Ansatz – d. h. auf die Kritik der reinen Vernunft – bezogenen Hauptmomenten der Schopenhauerschen Kant-Kritik, der Anschauungs-, Begriffs- und Kategorienlehre, wird detailliert nachgewiesen, daß und wie Schopenhauer die Argumentationsbasis wechselt zwischen Kritik an Vorgängern und eigener, positiv bestimmter Metaphysik. Königshausens Aufsatz bildet somit einen Einschnitt in die Debatte um die Legitimität der Kritik der Kantischen Philosophie in theoretischer Hinsicht (wenn nicht gar deren Abschluß), indem er ihre hinter kritischem Philosophieren zurückbleibende Apodiktizität als fatales Resultat der Ablösung der »in der Sache gegründeten Distinktionen und Problemformeln von der in diesen verhandelten Sachproblematik« ausweist.6 In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist die akademische Rezeption der Philosophie Schopenhauers in eine neue Phase eingetreten, die bis heute andauert. Dazu hat zweifelsohne Rudolf Malter wesentlich beigetragen: durch seine eigenen Arbeiten und seine Bemühungen um eine Vertiefung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Philosophie Arthur Schopenhauers in seiner Funktion als Herausgeber des Schopenhauer-Jahrbuchs (1984 – 1991).7 Die Bearbeitung der Schopenhauerschen Kant-Kritik als solcher ist Ebd. 203. Auch Schreiter und Dietzsch gehen in ihrem Beitrag Der letzte Kantianer? – Arthur Schopenhauers Relativierung der Vernunft (1987) darauf ein, daß Schopenhauers Kant-Kritik den »transzendentalen Charakter des menschlichen Apperzeptionsapparates« (244) verkenne und ignoriere, daß Kant im Wissen um die ontologische Identität von Ding an sich und Erscheinung ihre Unterscheidung »hinsichtlich ihrer verschiedenen Funktionen im Erkenntnisprozeß« (vgl. 246) trifft; im folgenden geht es den Verfassern darum aufzuzeigen, daß Kants Metaphysikkritik und Transzendentalphilosophie sehr wohl eine wissenschaftliche Betrachtung der Entwicklungsgeschichte der Menschheit erlaube, während Schopenhauers Denkansatz lediglich in eine Anthropologie münde und keine »Bewegung und Entwicklung der objektiven Realität« erkennen lassen könne. 7 Dazu gehört auch der von Malter zum 200. Geburtstag Schopenhauers durchge6
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mit der Fokussierung auf das System der Welt als Wille und Vorstellung in den Hintergrund geraten; es überwiegen dabei bis heute Untersuchungen, die systematisch isolierte Positionen Kants, Schopenhauers und eines weiteren Denkers vergleichen (z. B. Plato, Descartes, Schelling, Swedenborg, Wittgenstein). Inhaltlich zeichnet sich Schopenhauers Kant-Kritik betreffend eine Verschiebung des Forschungsinteresses zugunsten der praktischen Philosophie ab.8 Den aktuellsten Beitrag dazu leistet eine »kritische Dokumentation« (so der Untertitel) Margot Fleischers (Schopenhauer als Kritiker der Kantischen Ethik), die anhand der beiden Preisschriften zur Ethik Schopenhauers seine Kritik an Kants Moralphilosophie nachvollzieht und einen Überblick über die einzelnen Kritikpunkte und die relevanten Textstellen gibt.
2. Schopenhauers Kant-Kritik in systematischer Hinsicht Da »die wirkliche und ernstliche Philosophie noch da steht, wo Kant sie gelassen hat«, tut Schopenhauer kund, daß er »unmittelbar an ihn anknüpfe« – dieses Pauschalurteil spiegelt Schopenhauers Einschätzung der Bedeutsamkeit Kants und damit der eigenen wider; bei näherer Betrachtung finden sich aber nur vereinzelte Anknüpfungspunkte an Kant, denen ein weitaus größeres Maß an Abgrenzung bzw. »Fehler[n] und Schwächen« gegenübersteht, gegen die ein »schonungsloser Vertilgungskrieg« zu führen sei (W I.2,513 f.). In der Tat setzt Schopenhauer seine Kritik an der Philosophie Kants methodisch führte bislang größte wissenschaftliche Schopenhauer-Kongreß, der »Schopenhauer in der internationalen Diskussion« gewidmet war. 8 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Aufsätze von Arend Kulenkampff (1981), David Cartwright (1984) und Jean-Claude Wolf (1988). Das Schopenhauer-Jubiläumsjahrbuch 1988 bringt außer einem Beitrag von Günther Baum zu Schopenhauers Kant-Kritik mit Bezugnahme auf Jacobi und Schultze den Aufsatz von Cattaneo zu Schopenhauers Kritik der Kantischen Rechtslehre und einen Nachdruck von Schweppenhäusers Schopenhauers Kritik der Kantischen Moralphilosophie. Im 76. Schopenhauer-Jahrbuch 1995 untersucht Matthias Koßler den empirischen und intelligiblen Charakter von Kant über Fries und Schelling zu Schopenhauer, im 80. SchopenhauerJahrbuch 1999 untersucht Welsen das Fundament der Schopenhauerschen Moralphilosophie in der Auseinandersetzung mit Kants Ethik unter dem Titel: Schopenhauers ›Kritik der praktischen Vernunft‹. Hingewiesen sei auch auf die umfangreiche Monographie von Susanne Weiper zum Problem der sittlichen Motivation bei Kant, Schopenhauer und Scheler (2000).
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ein: Sie ergänzt die vier Bücher des Hauptwerks ex negativo und ermöglicht ihm, die Erörterung von Einwänden weitgehend aus der dortigen, straffen Argumentationsführung auszuklammern – unter Verweis auf den Anhang. In systematischer Hinsicht sind zwei Betrachtungsweisen zu unterscheiden: Als Kritik, auf deren Gegenstand (d. h. Kants Philosophie) bezogen, ist Schopenhauers Kant-Kritik nicht systematisch, auch wenn Schopenhauer äußerlich dem Aufbau der Kritik der reinen Vernunft folgt; im Gegenteil: dadurch, daß Kants Anliegen ignoriert wird, zu klären, ob und wie (wissenschaftliche) Metaphysik möglich ist, wird der für den kritischen Vernunftgebrauch notwendige Nachvollzug des Reflexionsganges und damit die sich für Kant aus jenem sich erschließende Systematik, die seine drei Kritiken widerspiegeln, geradezu negiert. Schopenhauers Anliegen ist nämlich ein ganz anderes, nämlich das »metaphysische Bedürfniß des Menschen« realiter zu befriedigen, was ihm zufolge auf unterschiedliche Weise geschehen kann: durch Religion(en) und (richtig verstandene) Metaphysik – wie eben die seine, die die traditionellen theologischen Inhalte überwinde.9 Die Frage nach ihrer Möglichkeit stellt sich dabei gar nicht (mehr), da die Erkenntnis des angeblich Unerkennbaren gewonnen zu sein scheint. In systematischer Hinsicht auf das eigene Denken bezogen sieht Schopenhauer sich dagegen bereits im Ansatz Kant verpflichtet. Folgerichtig beginnt er seine Kritik mit der Würdigung der ›drei Hauptverdienste‹ Kants, auf denen das eigene System aufbaut: Die Erkenntnistheorie, mit der das System der Welt als Wille und Vorstellung beginnen muß, basiert auf der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich; die Beseitigung christlicher Dogmatik aus dem philosophischen Denken schafft erstmals Raum für eine nicht-christliche, nicht von der spekulativen Theologie geprägten Metaphysik, die sich der Erkenntnistheorie anschließt; und schließlich ermöglicht Kants Darstellung der »unleugbare[n] moralische[n] Bedeutung Das philosophische System der Welt als Wille und Vorstellung zeichnet sich nach Ansicht seines ›Erfinders‹ zum einen dadurch aus, daß es ein philosophisches ist – also eine »Ueberzeugungslehre«, die im Gegensatz zur religiösen »Glaubenslehre« »ihre Beglaubigung in sich […] hat« –, zum anderen dadurch, daß es nicht im Rahmen eines Universitätsprofessorates entwickelt wurde, sondern in materieller Unabhängigkeit vom Staat. Diese Kriterien sind für Schopenhauer die entscheidenden für die Wahrhaftigkeit und den Erfolg alles metaphysischen Strebens, die er erfüllt zu haben glaubt. Vgl. Kap. 17 der »Ergänzungen zum Ersten Buch der Welt als Wille und Vorstellung«; hier: W II.1,191 f. 9
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menschlichen Handelns […] als etwas, welches das Ding an sich unmittelbar berühre«,10 Schopenhauer die Ableitung seiner eigenen Moralphilosophie, die ›gut‹ und ›böse‹ vom Grad der Erkenntnis des metaphysischen Prinzips her bestimmt.11 Das kritische Argument folgt sofort: Da Kants abstrakter Reflexionsgang nicht zum System der Welt als Wille und Vorstellung führte, müssen darin Fehler und Schwächen enthalten sein, die nachzuweisen und zu beseitigen sind. Der Anhang zum Hauptwerk nimmt daher die Form ›KantKritik‹ an, um den wichtigsten Einwänden gegen das eigene System vorab mit Nachdruck zu begegnen, der noch verstärkt wird durch die Bezugnahme auf den renommierten Vorgänger. Da Schopenhauer die Auseinandersetzung mit Kant vor der Darlegung des eigenen – mit Kants Transzendentalphilosophie letztendlich kaum vergleichbaren – Systems geführt hat, und sie auch nicht dort hineinholen kann, um die Argumentationsführung nicht zu stören, isoliert und instrumentalisiert er seine Kant-Kritik. Die ›drei Hauptverdienste‹ sind Impulse für den eigenen Erkenntnisprozeß, die weit zahlreicheren ›Fehler und Schwächen‹ fungieren indirekt als Aufhänger für die Widerlegung von Gegenargumenten – die nämlich gar nicht mehr angeführt werden können, weil sie die gleichen Irrtümer enthielten, denen schon ›der große Kant‹ erlag.12 Um welche ›Irrtümer‹ es sich handelt, wird im folgenden an den wichtigsten Aspekten der Kritik dargestellt; dabei zeigen sich übrigens auch die stilistischen Auswirkungen des uneingestandenen methodischen Primats am Wechsel von argumentativen und polemischen Passagen. Kritik der Kantischen Philosophie, W I.2,519. Die genannten Verdienste lassen sich dem ersten, zweiten und vierten Buch als Voraussetzungen bzw. Kantische »Übernahmen« zuordnen. Das dritte Buch der Welt als Wille und Vorstellung, das die Ideenlehre enthält, kann mit Recht als das problematischste des Systems angesehen werden: es gehört zum ersten, der Erkenntnistheorie, ergänzt das zweite und bereitet das vierte vor, wobei strittig bleibt, ob es systematisch notwendig oder eher aus Symmetriegründen hervorgegangen ist. Von Schopenhauer wird es als Erläuterung des intuitiven Zugangs zur Transzendentalphilosophie bezeichnet, die »man in abstracto durch die Kritik der reinen Vernunft [empfängt]« (W I.1,225 f.). Insofern scheint es nicht nur eine Schlüsselstellung innerhalb des Schopenhauerschen Systems einzunehmen, sondern auch Ausgangspunkt sein zu können für den Vergleich der »transscendentalen Auffassung der Dinge« bei Kant und Schopenhauer, die sich letzterem zufolge nur ihrer Genese, nicht ihrem Inhalt nach unterscheidet. 12 In diesem Sinne wird Schopenhauers Aussage gedeutet (W I.2,513): »Was ich in diesem Anhange zu meinem Werk beabsichtige, ist eigentlich nur eine Rechtfertigung der von mir in demselben dargelegten Lehre, insofern sie in vielen Punkten mit der Kantischen Philosophie nicht übereinstimmt, ja ihr widerspricht.« 10 11
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Der Grundgedanke der auf die theoretische Philosophie bezogenen Kritik besteht darin, daß Kants Forderung nach apriorischen Grundbegriffen und Grundsätzen jeglicher Metaphysik die äußere und innere Erfahrung als Quelle der Erkenntnis ausschließe; der Inhalt der Metaphysik sei aber keineswegs »in etwas von der Welt gänzlich Verschiedenem« (denn das heißt »über die Möglichkeit aller Erfahrung hinaus«) zu finden, sondern gehe »aus dem gründlichen Verständniß der Welt selbst« hervor (W I.2,525). Kants »sonderbares Wohlgefallen an der Symmetrie« führe dann dazu, daß er »alle Dinge der Welt und Alles was im Menschen vorgeht« entsprechend den anhand der Urteilstafel deduzierten Kategorien – »keine Gewaltthätigkeit scheuend« – ordnet, indem durch ihre Anwendung auf die Sinnlichkeit für den Verstand die Erfahrung, und durch Anwendung von Vernunftschlüssen auf die Kategorien die Ideen der Vernunft entstünden (ebd. 528 f.). Dabei bleibe außer Acht, daß sich alle Urteile letztlich immer auf Begriffe reduzieren ließen, die nach Schopenhauer im Unterschied zu den anschaulichen Vorstellungen das Wesentliche nicht unmittelbar erfassen können. Schopenhauers Polemik gegen die Kategoriendeduktion mündet in den Vorwurf, Kant habe das Verhältnis von Anschauung und Begriff nicht untersucht, und damit auch nicht das, worum es eigentlich geht: »Nicht bloß wie die reine und nur formale Anschauung a priori, sondern auch wie ihr Gehalt, die empirische Anschauung, ins Bewußtseyn kommt« (ebd. 530). Dieses ›Versäumnis‹ hat Konsequenzen: Die Konzeption der Vermögen des Verstandes als rezeptiv-passive und der Vernunft als spontan-aktive Erkenntnisfunktion des Bewußtseins führe zu einer »heillosen Vermischung der intuitiven und abstrakten Erkenntniß« (ebd. 538–540.). Diese wiederum zeige sich in der falschen Rede vom ›Gegebensein‹ des Gegenstandes als sinnliche Vorstellung und der Notwendigkeit der Annahme eines unerkennbaren Dinges an sich.13 Nach Schopenhauer entspricht der Reduktion der Verstandestätigkeit auf das Empfangen von Eindrücken die Überschätzung der abstrakten Erkenntnis, des Vernunftvermögens insgesamt. »Aufklärung über den Inhalt derselben [scil. der Anschauung], über die Art wie die empirische Anschauung in unser Bewußtseyn kommt« (W I.2,538), die »Erklärung der Anschauung der AußenÜbrigens geht Schopenhauer davon aus, daß seine Philosophie den materialen Gehalt der empirischen Anschauung sowie ihren ›Weg‹ ins Bewußtsein zu erklären vermag – die Gegenstände also nicht ›gegeben‹ sind, übersieht dabei aber, daß die Rede vom Ding an sich selbst (nicht von seiner Erkennbarkeit) ihren Sinn verlöre, wenn die Frage des Überganges beantwortet wäre. 13
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welt« (W I.2,542), das ist für Schopenhauer die Aufgabe einer Epistemologie, deren Resultat – wahre Erkenntnis – zugleich Aufschluß über das Wesen der Welt gibt, indem sie es erkennen läßt. Gerade das habe Kants Kritik der reinen Vernunft14 nicht leisten können, sie weise zwar die »allgemeinen Formen der Erkenntniß […] als a priori uns bewußt« nach, »vermöge welches Bewußtseyns wir ein unbedingtes Muß zum Voraus aussprechen können, gültig für alle mögliche Erfahrung« (W I.2,637). Kant zufolge entspringe aber »die Erkenntniß der ethischen Bedeutsamkeit des Handelns […] aus einem unbedingten Soll« (W I.2,637), denn das Vermögen der Vernunft verbürgt die notwendige Gültigkeit der Erkenntnis sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht. Hier zeigt sich für Schopenhauer in aller Deutlichkeit, daß Kants Fehler, innere und äußere Erfahrung als Quelle der Erkenntnis auszuschließen, insbesondere in Bezug auf die Ethik zu einem falschen Ansatz führen muß: Eine auf das Tun, das Praktische, gerichtete Philosophie kann nicht auf empirische Erkenntnis verzichten, ohne in Widersprüche zu geraten, wie es auch bei der Annahme eines unbedingrten Sollens der Fall sei. Um der Unvereinbarkeit von ›Muß‹ und ›Soll‹ Rechnung zu tragen, werde von Kant die praktische Vernunft eingeführt, die »sich schon in der Kritik der reinen Vernunft unangemeldet ein[findet] und […] nachher, in der ihr eigens gewidmeten Kritik, als ausgemachte Sache da[steht]« (W I.2,636). Der Grundgedanke von Schopenhauers Kritik an Kants praktischer Philosophie, die in den beiden Preisschriften zur Ethik, insbesondere der Über die Grundlage der Moral detailliert ausgeführt wird, findet sich demnach schon im Anhang zum Hauptwerk (W I.2,637): »Der Unterschied aber zwischen diesem Muß, dieser schon im Subjekt bestimmten, nothwendigen Form des Objekts, und jenem Soll der Moralität, ist so himmelweit und so augenfällig, daß man das Zusammentreffen Beider im Merkmal der nichtempirischen Erkenntnißart wohl als ein witziges Gleichniß, nicht aber als eine philosophische Berechtigung zur Identificirung des Ursprungs Beider geltend machen kann.« Die Kritik der praktischen Vernunft lobt Schopenhauer zwar wegen Seine Vorwürfe an Kant, falsch vorgegangen zu sein, belegt Schopenhauer mit zahlreichen kurzen Einzelstellen aus der Kritik der reinen Vernunft, die, wenn auch aus ihrem Kontext herausgelöst und aneinandergereiht, tatsächlich Widersprüche aufzeigen. Insbesondere den Kantischen Bestimmungen des Vernunft- und Verstandesbegriffes fehlt es nachweislich an Eindeutigkeit: Vgl. W I.2,530–533. Schopenhauer bezieht sich vor allem auf die 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, die im Vergleich zur ersten entscheidende Fehler und Unklarheiten enthalte; vgl. dazu W I.2,534–535. 14
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ihrer »Darstellung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Notwendigkeit«, die aber auch schon auf die Kritik der reinen Vernunft zurückgehe; ansonsten aber gebe sie zu erkennen, »was Kant eigentlich damit gewollt hat«: die Moraltheologie. Die Durchführung der Kritik in der Schrift Über die Grundlage der Moral orientiert sich deshalb weniger an der Kritik der praktischen Vernunft als an Kants Grundlegungsschrift, die »im Wesentlichen das Selbe« enthalte, wegen ihrer »konciser und strengerer Form« aber vorzuziehen sei.15 Die Metaphysik der Sitten, besonders die Tugendlehre, wird ganz abgetan: hier sei »der Einfluß der Altersschwäche überwiegend«. Die wichtigsten Vorwürfe seien kurz genannt: Die Rückkehr zu den Inhalten der traditionellen Metaphysik – die Kant deklariert als die »drei Cardinalsätze«, die uns »durch unsere Vernunft dringend empfohlen werden«, und deren »Wichtigkeit wohl eigentlich nur das Praktische [wird] angehen müssen«, da sie »uns zum Wissen gar nicht nöthig« sind (KrV B 826 – 827/A 799 f.) – mache aus der angestrebten Moralphilosophie eine Moraltheologie; verstärkt werde der theologische Charakter der Kantischen Ethik durch das imperativische Moment, das sich letztlich (sogar die Orthographie bestätige es) von dem ›Du sollst …‹ des Dekalogs herleite.16 Der Begriff des Sollens verliere seine theologischen Voraussetzungen nicht dadurch, daß er als ›unbedingt‹ und ›absolut‹ bestimmt werde; auch so gefaßt sei er nur denkbar in Beziehung auf Sanktionen (ebd. 162): »Jenes unbedingte Soll postulirt sich hinterher doch eine Bedingung, und sogar mehr als eine, nämlich eine Belohnung, dazu die Unsterblichkeit des zu Belohnenden und einen Belohner.« Damit gehe einher die Einführung des Eudämonismus, die »auf Glücksäligkeit ausgehende, folglich auf Eigennutz gestützte Moral […], welche Kant als heteronomisch feierlich zur Hauptthüre seines Systems hinausgeworfen hatte, und die sich nun unter dem Namen höchstes Gut zur Hinterthüre wieder hereinschleicht« (ebd. 164). Kristallisationspunkt der Kritik ist die Begründung der Kantischen Moralphilosophie durch den Kategorischen Imperativ, der »beim Licht betrachtet, nichts Anderes, als ein indirekter und verblümter Ausdruck des alten, einfachen Grundsatzes, quod tibi fieri non vis, alteri non feceris« sei (W I.2,640). Es sei ein unter Kantianern weit verbreiteter Irrtum, anzunehmen, es handle Vgl. Über die Grundlage der Moral (§ 3); hier 159. Vgl. Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral, § 4; hier: ZA, Kleinere Schriften II,162 f. 15 16
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sich dabei als Faktum der Vernunft um eine »Tathsache des Bewußtseyns«. In diesem Fall nämlich hätte man es mit einem anthroplogisch-empirisch – nämlich durch innere Erfahrung – begründeten Moralprinzip zu tun, wogegen Schopenhauer nichts einzuwenden hätte. Kant aber habe für die Grundlegung der Moralphilosophie die Forderung nach Apriorität aufgestellt und folgerichtig den kategorischen Imperativ »durch einen ›erfahrungsunabhängigen‹, subtilen Gedankenproceß« nachgewiesen. Einem auf abstrakte Begriffe gegründeten Moralgesetz aber spricht Schopenhauer Wirksamkeit, und damit Wirklichkeit selbst ab (ebd. 178; 182 ff.). Kein anderer Aspekt der Schopenhauerschen Kant-Kritik verdeutlicht besser die Spannung zwischen Intuition und Rationalität in der philosophischen Argumentation Kants und Schopenhauers, und zwar nicht nur zwischen den Positionen beider, sondern auch innerhalb ihrer jeweiligen Konzeptionen selbst. Denn es ist auch für Schopenhauer letztlich die Vernunfterkenntnis, die unsere menschliche Natur potentiell zu Moralität befähigt, d. h. die Diskrepanz zwischen Erkennen und Wollen kann im Moralischen aufgehoben werden, oder, wie Kant es ausdrückt, »die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, [ist] eigentlich nur aufs Moralische gestellt« (KrV B 828/A 800).
3. Der Mensch als mitleidiges Vernunftwesen oder Vernunft als Erscheinung des Willens Schopenhauers Kant-Kritik ist zu scharfsinnig, um sie zu ignorieren, und zu polemisch, um nicht gegen ihn selbst gerichtet zu werden. Sie kann daher als Anregung dienen, sich von einer kantimmanenten Argumentation zu distanzieren und einen externen Standpunkt zu entwickeln – der aber nicht zwangsläufig der Schopenhauers sein muß. Die Hinwendung zu einer philosophischen Anthropologie entspricht auch Kants Intention (Log A 25 = AA 9,24 f.). Sie soll hier verstanden werden als ein Ansatz, der auch nichtrationale Momente des spezifisch menschlichen Erkennens zu integrieren vermag und es in seiner Komplexität als Teil eines und Zugang zu einem spezifisch menschlichen Selbst- und Seinsverständnis betrachtet.17 Somit wird zugleich Kants Reflexion über ›Vernunftwesen‹ außerhalb der Gattung Mensch relativiert. 17
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Im Ausgang von Schopenhauers Kritik am kategorischen Imperativ lassen sich der Begriff der Vernunft, damit einhergehend die Rolle des Gefühls für das Erkenntnisgeschehen und die Bedeutung des Wissens im Sinne einer begründeten Verbindlichkeit für die Motivation zu moralischem Handeln so auslegen, daß der Mensch widerspruchsfrei als mitleidiges Vernunftwesen aufgefaßt werden kann. Schopenhauer beschränkt die Vernunfttätigkeit auf die Begriffsbildung und bestimmt sie als nachträgliches Reflektieren der Anschauung in Begriffen – im Gegensatz zu einer intuitiven Wesenserkenntnis, die allein originär ist.18 Die Bedeutsamkeit des Erkenntnisgeschehens wird von der ›reinen‹ Vernunft nicht eingeholt, nach Schopenhauer liegt sie im Übergang von der ›Empfindung‹, der bloßen Sinneswahrnehmung, aufgefaßt als bewußt-loser Reiz, zur Anschauung, ›Intuition‹, die die Wahrnehmung verbindet mit dem Bewußtsein der Kausalität: Diese ›Synthese‹, das Verstehen alles Wahrnehmbaren in seiner Relationalität als Ursache und Wirkung, leistet der Verstand – und nur hierin liegt Notwendigkeit. Die Grenze des Bewußtseins und der Ursprung jeglicher Erkenntnis ist daher bei Schopenhauer gebunden an den Leib: Wo er aufhört, gibt es kein unmittelbares Wissen mehr, kann die Welt nur vermittelt erkannt, von einem Subjekt für ein Objekt vorgestellt werden. Deshalb muß ›wahre‹ Erkenntnis nicht nur von der Erfahrung ausgehen – dem widerspricht auch Kant nicht –, sondern auch bei ihr bleiben.19 Von besonderer Bedeutung ist daher die innere Erfahrung, denn entscheidend dafür, ob das Erkennen das Wesentliche, die Bedeutung unseres In-der-WeltSeins erfaßt, oder ob es in der unendlichen Differenzierung von UrsacheWirkungsverhältnissen stecken bleibt, ist seine Nähe bzw. seine Distanz Vgl. dazu W I.2,555: »Ein wesentlicher Unterschied zwischen Kants Methode und der, welche ich befolge, liegt darin, daß er von der mittelbaren, der reflektirten Erkenntniß ausgeht, ich dagegen von der unmittelbaren, der intuitiven. […] Daher ist ihm die Philosophie eine Wissenschaft aus Begriffen, mir eine Wissenschaft in Begriffen, aus der anschaulichen Erkenntniß, der alleinigen Quelle aller Evidenz, geschöpft und in allgemeine Begriffe gefaßt und fixirt.« 19 Dem Anspruch an Allgemeinheit und Notwendigkeit wird nach Schopenhauer auch die empirische Erkenntnis gerecht: Das Subjekt ist kein »geflügelter Engelskopf ohne Leib« (W I.1,142), jedem Erkennenden kommt also ein Leib zu, was Allgemeingültigkeit des Vorstellens gewährleistet und nicht-menschliche Vernunftwesen als unhaltbare Spekulation kennzeichnet; ebenso wird die Notwendigkeit aus dem Urteil in die Sache verlagert – ›notwendig‹ ist allein das Wirken, das Kausalität-Sein selbst, was sich in abstracto in der unbedingten Gültigkeit des Satzes vom Grunde zeigt. 18
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zu der im Selbstbewußtsein aufgefundenen ›Bewußtseinstatsache‹ Wille. Je ausgeprägter die Identifizierung des Selbstbewußtseins mit dem Willen, desto schwächer ist die Erkenntnis, und umgekehrt. Die ›Erkenntnisqualitäten‹ des Bewußtseins sind graduell unterschieden, sie gehen ineinander über und hängen von der Intensität des Willens ab. Nur in seiner ›intensivsten‹ Erscheinung, dem menschlichen Individuum, kann die metaphysische Erkenntnis der Wesensidentität aller Dinge stattfinden, deren Inhalt immer schon unbegriffen, begrifflos, als ›gefühltes Wissen‹ im Selbstbewußtsein vorkommt (vgl. dazu W I.1, § 18–21). Dem Gefühl kommen nach Schopenhauer eigene Erkenntnisqualitäten zu; weit entfernt davon, ein spezifisches (Gefühls-)Vermögen anzunehmen, widmet er ihm im 1. Buch der Welt als Wille und Vorstellung einen Paragraphen im Kontext der Bestimmung des Wissens.20 Das als Gefühl bezeichnete ›negative Wissen‹ stellt eine (noch) nicht begriffene Bewußtseinstatsache dar; was als Gefühl erlebt wird, steht in direkter Beziehung zum Willen, ist aber bewußt, indem es unvollständig ›gewußt‹ wird. Inhaltlich kann es näher bestimmt werden (z. B. als Mitleid oder Liebe), aber unabhängig von Spezifizierungen wird Gefühl nicht als der abstrakten Erkenntnis, der Vernunft, gegenläufig oder abträglich verstanden, sondern als Ausdruck innerer Erfahrung, deren Reflexion potentiell zu Einsicht in das (eigene) Wesen bis hin zur Philosophie führt. Indem die Vernunft die Elementarerkenntnis zu abstraktem Wissen erhebt, schafft sie Philosophie (W I.1,123 f.). Allein Vernunft ermöglicht ›Besonnenheit‹: einen Zustand des Nichtwollens, in dem sich das Denken vom Willen maximal entfernt oder gar gelöst hat. Besonnenheit ist Bedingung für Moralität, weil nur aus ihr heraus ›Wahlentscheidungen‹ getroffen werden können: »Die Möglichkeit der also sich äußernden Freiheit ist der größte Vorzug des Menschen, der dem Thiere ewig abgeht, weil die Besonnenheit der Vernunft, welche, unabhängig vom Eindruck der Gegenwart, das Ganze W I.1,87: »der eigentliche Gegensatz des Wissens [ist] das Gefühl«; es bezeichne nämlich negativ »etwas, das im Bewußtseyn gegenwärtig ist«, aber »nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntniß der Vernunft sei«. Im 2. Buch wird der Anteil des Gefühls am Erkennen noch deutlicher: Im § 21 (154) ist die Rede von der »Erkenntniß […], welche in concreto Jeder unmittelbar, d. h. als Gefühl besitzt, daß nämlich das Wesen an sich seiner eigenen Erscheinung […] sein Wille ist, der das Unmittelbarste seines Bewußtseyns ausmacht […] auf eine […] Weise, in der man Subjekt und Objekt nicht ganz deutlich unterscheidet«. 20
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des Lebens übersehn läßt, Bedingung derselben ist.«21 Durch Besonnenheit befreit sich das Denken vom egoistischen Willen und sieht die Alternative zu egoistischer Motivation: Dann nämlich, wenn der »Egoismus, der jedem Dinge in der Natur wesentlich ist«, der auf der nichtreflektierten gefühlten Wahrheit beruht, daß jedes Individuum der »ganze Wille[n] zum Leben, das Ansich der Welt selbst« ist, als Täuschung durchschaut wird (W I.2,414). Mit der inhaltlichen Bestimmung der metaphysischen Erkenntnis geht Schopenhauer weiter als Kant – und muß wie dieser die genaue Erklärung des Vernunftaktes schuldig bleiben. Die moralphilosophische Konsequenz aber leuchtet sofort ein: Das ›Anderssein‹ der Erscheinungen außer mir, auch der ›anderen‹ Menschen, wird als Täuschung durch das principium individuationis durchschaut. Die Allgemeingültigkeit dieses Wissens liegt in der Sache, nicht im Begriff: das leibhaftige Individuum-Sein kommt jedem zu; alle Menschen sind gleichermaßen von der Situation betroffen, nicht ihrem Wesen gemäß in Erscheinung treten zu müssen. Und das eint und bestimmt das Handeln: »Da ich aber doch nicht in der Haut des Andern stecke, so kann allein vermittelst der Erkenntniß, die ich von ihm habe, d. h. der Vorstellung von ihm in meinem Kopf, ich mich so weit mit ihm identificiren, daß meine That jenen Unterschied als aufgehoben ankündigt.«22 Weiter unten wird dieses Geschehen als Mitleid bezeichnet, »die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe«. Die Tat erhält ihren moralischen Wert dadurch, daß sie aus dem gefühlten und reflektierten Wissen der Identität alles Lebendigen heraus vollzogen wird, wodurch ihr situationsbezogenes konkretes Motiv notwendig nicht-egoistisch ist, sondern im sympa1jein und mit Besonnenheit gewählt wird. Kant dagegen ist – wie Schopenhauers Kritik deutlich macht – auf die nachträgliche Unterscheidung in theoretisch-spekulativen und praktischen Vernunftgebrauch angewiesen, um der Vernunft alleine das Vermögen bedeutsamen Erkenntnisgeschehens zuzusprechen, denn eben nicht als spekulative, sondern als praktische Vernunft kann sie ihre »höchsten Zwecke erreichen« (vgl. KrV B 832/A 804). Die Handlung, d. h. das Praktische, fungiert
W I.2,499. Als Besonnenheit beschreibt Schopenhauer den Bewußtseinszustand des vernünftigen Wesens Mensch, das allein in der Lage ist, nicht von ›Triebfedern‹, d. h. von Neigungen und Begehren motiviert zu handeln, sondern ›selbstbestimmt‹ zu wollen, vgl. auch W II.2,452 f. 22 Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral, 248. 21
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gewissermaßen als Mittelbegriff, durch die praktische Vernunft mit dem Begriff des Willens in Verbindung gebracht wird (GMS BA 36 = AA 4,412): »Da zur Ableitung der Handlungen Vernunft erfordert wird, so ist Wille nichts anderes als praktische Vernunft.« Während Schopenhauer von der intuitiven Einsicht in das subjektive Willensmoment des Selbstbewußtseins ausgeht, das durch die Reflexion als metaphysisches Prinzip ›Wille‹ erkennbar wird, nennt Kant das Vermögen, nach der bloßen Vorstellung von Gesetzen zu handeln – das nur vernünftigen Wesen zukommt – ›Wille‹, und diesen wiederum setzt er gleich mit praktischer Vernunft, da sie es ist, die ihn bestimmt. Kant geht bei seinem Begriff des Willens zwar nicht von der Intuition aus, leitet ihn aber mit Bezugnahme auf die »gemeine sittliche Vernunfterkenntnis« im Ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten letztlich aus dem sogenannten ›gemeinen Menschenverstand‹ ab. Der aber kann hinsichtlich der geforderten notwendigen Allgemeingültigkeit mit gleichem Recht für philosophisch problematisch gehalten werden wie die begrifflose Anschauung bei Schopenhauer. Dafür muß – auch Kant zufolge – die Vernunft sorgen, die schon durch ihre Gattungshaftigkeit Geltung für alle Menschen besitzt (das Argument der Gattungshaftigkeit der Vernunft ist vergleichbar mit dem der durch den Leib vermittelten, insofern ebenfalls gattungshaften Erkenntnis bei Schopenhauer). Kraft der ihr eignenden Gesetzhaftigkeit bestimmt die Vernunft den Willen notwendig zu dem, was sie als gut erkannt hat. Die Bestimmung eines freien, sich selbst Gesetze gebenden Willens, wie Kant ihn konzipiert, kann dann logischerweise nur widerspruchsfrei gedacht werden, wenn die Vernunft nichts dem Willen Fremdes, sondern er selbst ist. Dann bleibt aber erklärungsbedürftig, wieso der Wille zugleich den »Gründe[n] der Vernunft […] seiner Natur nach nicht nothwendig folgsam ist« (GMS BA 37 = AA 4,413). Die Kritik Schopenhauers richtet sich interessanterweise weniger gegen die Identifizierung des Willens mit der Vernunft: Seine eigene Bewußtseinstheorie kennt ja das Zusammenwirken von Wollen und Erkennen, von Gefühl und Reflexion – wenn auch angelegt als komplementäre Elemente, so müssen doch ›Übergänge‹ angenommen werden.23 Schopenhauer wendet sich Es wäre eine weiterführende Untersuchung wert, derartige Übergänge zwischen Gefühl und Reflexion auch in bezug auf Kants Moralphilosophie nachzuweisen, wie es die Unterscheidung von intellektuell und sinnlich begründeten oder von der Vernunft hervorgebrachten moralischen Gefühlen vermuten läßt; ohne moralisches Gefühl wäre ein Mensch »sittlich todt«. (vgl. MST A35–42 = AA 6,399–403). 23
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vielmehr dagegen, daß durch diese Identifizierung de facto der Begriff der reinen Vernunft unzulässig erweitert werde auf das Praktische hin, und daß diese neudefinierte Vernunft ohne Rückgriff auf die Erfahrung, das konkrete Tun, das Fundament einer Moralphilosophie sein soll, indem sie einen Willen, der ihr per definitionem entspricht, dazu nötigen soll, ihr auch de facto zu entsprechen. Dieses ›vernunftinterne‹ Mißverhältnis, auf das Schopenhauer aufmerksam macht, geht letztlich auf die Problematik der spezifisch menschlichen Dipolarität zurück – ob sie nun als Widerstreit des Willens mit sich selber zum Ausdruck kommt oder in der Realität des Bürger-zweier-WeltenSeins ihren Niederschlag findet. Kant versucht die ›Vermittlung‹ im Praktischen durch das ›Sollen‹: es bezeichnet »das Verhältnis eines objectiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen […], der seiner subjectiven Beschaffenheit nach dadurch nicht nothwendig bestimmt wird« (GMS BA 37 = AA 4,413). Ein derartiges, den Willen nötigendes Vernunftgesetz, ›Gebot‹, läßt sich auf eine ›Formel‹ bringen, die Kant ›Imperativ‹ nennt. Schopenhauers oben erwähnte Assoziation des kategorischen Imperativs mit dem Dekalog greift sicher zu kurz; der ›Theologieverdacht‹ scheint ihm den Blick für einen sachlichen Reflexionsansatz zu verstellen. Der könnte folgendermaßen aussehen: Das im Selbstbewußtsein angelegte Sollen entsteht nach Kant aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem, was mittels der Vernunft als ›gut‹ gewußt werden kann und dem nicht durchgängig durch die Vernunft bestimmten menschlichen Willen. Die Bestimmung des Willens durch die Vernunft hängt demnach, wie bei Schopenhauer, vom Durchschauen des Willens ab. Zum moralischen Handeln bewegt, motiviert, auch bei Kant der Wille, verstanden aber als einer, der dem Gebot der Vernunft folgt: Das Wissen um das Vernunftgebot – das der ›Formel‹ oder Formulierung vorausgeht – bewirkt notwendig das Befolgen, da ein Gesetz per se den Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit hat; diesen Sachverhalt meint verkürzt ausgedrückt der ›kategorische Imperativ‹. Das Sollen läßt sich in vernunft-bewußtes Wollen auflösen, wird also subjektiv aufgehoben. Kant sagt (GMS BA 113 = AA 4,455): »Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.« Mit anderen Worten: Ich kann als menschliches Wesen auch unvernünftig wollen – als ›Glied einer intelligibelen Welt‹, meinem Selbstbewußtsein als erkenntnisfähigem Wesen gemäß, muß ich aber wissen wollen. In praktischer Hinsicht bedeutet das: als Handelnder prüfe
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ich die Maximen meines Willen durch die Vernunft und erkenne, was gut ist daran, daß es für alle gut ist, weil es dem Vernunftgebot entspricht; oder: ich treffe mit der Besonnenheit der Vernunft eine Wahlentscheidung für das, was für alle gut ist, weil alle dem Wesen nach gleich sind (W I.2, 371.373): »Zur Wirksamkeit der Motive ist nicht nur ihr Vorhandensein, sondern auch ihr Erkanntwerden erfordert«, da »die Erkenntniß, als das Medium der Motive, zwar nicht auf den Willen selbst, aber auf sein Hervortreten in den Handlungen [Einfluß hat]«. Bei näherer Betrachtung gibt es auch parallele Strukturen in der Konzeption der Wahlentscheidung für das stärkere Motiv und der Wahl der Maxime. Situationen der Wahlentscheidung stellt Schopenhauer so dar, als seien sie in sich abgeschlossen; daß das reflektierende, vernunftbegabte, besonnene Willenswesen Mensch aber immer auch nach Verhaltensregeln allgemeingültige bzw. auf andere, ähnliche Situationen übertragbare Grundsatzentscheidungen fällt, oder in anderen Worten: Maximen sucht, wird von ihm vernachlässigt.24 Gerade da aber setzt Kants kategorischer Imperativ an: Nur in Situationen, nämlich dann, wenn man sich Maximen gibt, wird man sich des ›moralischen Gesetzes‹ unmittelbar bewußt (KpV A 53). Das heißt sicher nicht, daß dann jedermann Kants Formulierungen im Bewußtsein hat (dann wäre Schopenhauers Frage ganz berechtigt, wieso denn nur Kant und niemand sonst diese ›entdeckt‹ habe), sondern das unmittelbar bewußte Gebotene ist es vielmehr, den andern als mir wesensgleich zu behandeln, ihn nicht egoistisch meinen Zwecken unterzuordnen. Die Forderung lautet (GMS BA 66 f. = AA 4,429): »die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel« zu brauchen. Während also Kant davon ausgeht, daß Moralität das Reflektieren der Situation voraussetzt, wobei am Ende die Formulierung einer Maxime stehen soll, erkennt Schopenhauer eine intuitive Entscheidung, die gefühlsmäßig motiviert ist, gleichermaßen als moralisch wertvoll an, unter der Bedingung, daß das principium individuationis durchschaut worden ist. Wie unterscheidet sich denn nun die Maxime, die aus dem Bewußtsein des »Tat twam asi« heraus,25 motiviert von dem sympa1jein, gefunden wird von der Maxime, die Schopenhauers Rechtsphilosophie (§ 62) fällt im Vergleich zur Kantischen kurz und oberflächlich aus. 25 Vgl. W I.2,464; Schopenhauer erläutert die Wesensidentität alles Lebendigen mit der vedischen Formulierung, die er übersetzt mit »Dieses« oder »das alles bist du!«. 24
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dem Vernunftgesetz entspricht, und die mittels des kategorischen Imperativs auf ihre Eignung geprüft ist, den Anderen als Zweck an sich gelten zu lassen? Wenn die Erkenntnis der Wesensgleichheit des Lebendigen eingetreten ist, ›wähle‹ ich die von dem in meinem Bewußtsein zu sich kommenden, sich selbst erkennenden Willen motivierte Tat, und das ist etwas anderes, als dem Egoismus verhaftet von individuellen Neigungen, Wünschen, Bedürfnissen bestimmt zu werden.26 Genau besehen enthält auch Schopenhauers Moralphilosophie einen kategorischen ( = unbedingt geltenden) Imperativ ( = nötigende Handlungsaufforderung): Sobald der Zusammenhang von Wollen und Leiden vollständig begriffen ist, entsteht ein ganzheitliches Bewußtsein aus Wissen (alles ist Eines) und Gefühl (Mitleid, d. i. Liebe). Aus ihm heraus wird gehandelt, d. h., es fungiert selbst als Motiv, wird nötigender Beweggrund. Je intensiver dieses Bewußtsein, desto klarer die Konsequenz für das Handeln; der Schopenhauersche kategorische Imperativ könnte demnach lauten: »Wolle nicht!« oder »Verneine den Willen!«. Auch er entsteht aus einem Spannungsverhältnis, aus dem Entzweit-Sein des Willens mit sich selbst, dem Zugleich-Sein von bewußtlosem und nach Erkenntnis strebendem Willen im Menschen, von Maximen, die dem egoistischen Wollen entsprechen, und dem Durchschauen desselben als unwesentlich, d. i. meinem eigentlichen Sein und Wesen nicht entsprechend und angemessen. Dieses Durchschauen äußert sich als Besonnenheit, der vernunftbestimmte Bewußtseinszustand des erkenntnisfähigen Wesens Mensch, das in der Lage ist, mit Kants Worten nicht durch ›Triebfedern‹, d. h. von Neigungen und Begehren motiviert zu handeln, sondern ›selbstbestimmt‹ zu wollen. Nach Schopenhauer kommt der natürliche Wille im Menschen auf der am weitesten entwickelten Stufe des Lebendigen zu sich selbst in der Selbsterkenntnis – die dann wesentliches Entzweit-Sein offenbart. So gesehen wird die Einheit wiederhergestellt, indem der Wille sich selbst verneint. Den Widerstreit mit sich selbst spiegelt auch Kants Vernunftwesen Mensch als »Bürger zweier Welten« (GMS BA 117 = AA 4,457): »[…] daß er sich selbst aber auf diese zwiefache Art [scil. als Ding in der Erscheinung und Aufgefaßt als konkrete Handlungsaufforderung kann Kants kategorischer Imperativ Besonnenheit im Schopenhauerschen Verständnis bewirken und eine differenzierte Anleitung zur bewußten Wahlentscheidung bieten, indem vor der – ›unbesonnenen‹ – Handlung von der Einzelsituation die Maxime abgenommen werden muß, um einen größeren Grad an Allgemeinheit durch Zusammenfassen von Entscheidungen unter subjektive Regeln zu erreichen. 26
Schopenhauers Kant-Kritik
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Ding oder Wesen an sich] vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft, auf dem Bewußtsein seiner selbst als durch Sinne afficirten Gegenstandes, was das zweite anlangt, auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken«. Dieses doppelte Selbstbewußtsein charakterisiert Kant im gleichen Kontext als Innewerden, zu verstehen als Einswerden (ebd.): »Nun wird er [scil. der Mensch] bald inne, daß beides zugleich stattfinden könne, ja sogar müsse.« Letztlich geht es Schopenhauer wie auch Kant um nichts weniger als um die komplexe metaphysische Frage, ob und wie der Mensch kraft seiner Erkenntnisvermögen die Bedeutung seines Daseins (das immer schon ein In-derWelt-Sein mit und In-Beziehung-Stehen zu anderen Menschen impliziert) verstehen kann, und wie diesem Verständnis gemäß zu handeln ist. Schopenhauer wie auch Kant gehen davon aus, daß die Vernunft die für diese Aufgabe geeignete Erkenntnis-, oder anders: Bewußtseinsfunktion, ist; und zwar nicht nur in metaphysisch-epistemologischer Hinsicht, sondern auch anthropologisch betrachtet. Schopenhauers Kant-Kritik sensibilisiert für die Problematik einer Vernunftkonzeption als das Vermögen metaphysischen Wissens (in spekulativer Hinsicht) und moralphilosophischer Begründungen (in praktischer Hinsicht) und versucht zu zeigen, wie ›Vernunft‹ den Menschen befähigt, sich selbst als reflektiertes moralisch handelndes Wesen zu verstehen. Dieses Selbstverständnis ist zugleich Ideal der Vernunft – es bestimmt sie im Sinne des Endzwecks, und sie selbst bringt es hervor als Handlungsmotiv. Für einen so verstandenen Endzweck der Vernunft scheint beiden Denkern der Begriff der Weisheit angemessen. Bei Kant heißt es (KpV A 255f; vgl. auch KpV, 5–7): »Speculative Einschränkung der reinen Vernunft und praktische Erweiterung derselben bringen dieselbe allererst in dasjenige Verhältniß der Gleichheit, worin Vernunft überhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann, und dieses Beispiel beweiset besser als sonst eines, daß der Weg zur Weisheit, wenn er gesichert und nicht ungangbar oder irreleitend werden soll, bei uns Menschen unvermeidlich durch die Wissenschaft durchgehen müsse«. Schopenhauer wird konkreter: »Die vollkommenste Entwickelung der praktischen Vernunft, im wahren und ächten Sinne des Worts, der höchste Gipfel, zu dem der Mensch durch den bloßen Gebrauch seiner Vernunft gelangen kann, und auf welchem sein Unterschied vom Thiere sich am deutlichsten zeigt, ist als Ideal dargestellt im Stoischen Weisen.«27 27
W I.1,128. Vgl. auch W I.1,122 ff.; W I.2,444 f., oder auch den letzten Abschnitt der
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Der einzig zweckmäßige Gebrauch der Vernunft »im Verhältnis der Gleichheit« und die »vollkommenste Entwickelung der praktischen Vernunft«28 führen den Menschen also notwendig zu Weisheit, die sich nach Schopenhauer zumindest als Besonnenheit äußert und bis zur dauerhaften Willensverneinung gesteigert werden kann. Ergänzend dazu eine (in bezug auf die »Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime des Gesetzes, mithin die Sittlichkeit interessiere« gemachte) Äußerung Kants (GMS BA 123 = AA 4,460; Hvh. vom Vf.): »Soviel ist nur gewiß: daß es nicht darum für uns Gültigkeit hat, weil es interessirt […], sondern daß es interessirt, weil es für uns als Menschen gilt, da es aus unserm Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst entsprungen ist […]« – dessen wir uns ›innewerden‹ müssen. So vermag das Reflektieren von Schopenhauers facettenreicher KantKritik sowie ihre Rückwendung auf sein eigenes Denken möglicherweise die Frage nicht befriedigend zu beantworten, wie der Mensch um sich und ›seinen‹ Willen wissen wollen muß, wie er gewissermaßen vom VernünftigSein des Willens selbst motiviert werden kann; vielleicht kann aber gerade die Beschäftigung mit den von Schopenhauer hervorgehobenen vermeintlich unvereinbaren Positionen seiner Philosophie mit der Kants erkennen lassen, daß der Mensch um seine Motive und um die Fähigkeit, seinen Willen zu bestimmen, wissen muß, um moralisch handeln zu können: er hat die moralische Pflicht der Selbsterkenntnis.
»Laudatio laudem philosophiae«, in: Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens, 60. 28 Schopenhauer betont im Kontext, daß es nicht um »praktische Vernunft« im Kantischen Wortsinn handelt; die Vernunft äußere sich praktisch überall dort, »wo das Thun von der Vernunft geleitet wird«; W I.1,127 f.
»Freiheit im Licht der Hoffnung«. Zu Paul Ricœurs Kantdeutung von Jean Greisch
Die zeitgenössische Kantrezeption in Frankreich zeichnet sich durch große Originalität aus, deren Bedeutung man keineswegs unterschätzen sollte. Allein über die Wiederentdeckung der dritten Kritik und des Erhabenen bei Jacques Derrida, Jean-François Lyotard, Eliane Escoubas, usw., ließen sich ganze Bände schreiben. Was die Beschäftigung mit Kants Religionsphilosophie anbelangt, verdienen die Schriften von Jean Nabert, Alexis Philonenko, Eric Weil, Emmanuel Levinas, Paul Ricœur, François Marty, sowie neuerdings die von Jocelyn Benoist und Alain Renaut eine besondere Beachtung. Im folgenden beschränke ich mich auf ein einziges Beispiel: Paul Ricœurs Kantdeutung, die sein Denken von Anfang an bis in die letzten Schriften unterschwellig begleitet. Blättert man in seiner intellektueller Autobiographie, die unter dem schönen Titel: Réflexion faite 1995 in der Library of Living Philosophers erschienen ist, um etwas über sein Verhältnis zu Kant zu erfahren, so fällt das Ergebnis auf den ersten Blick eher enttäuschend aus. Die Stadien seines Denkwegs, den dieser »neugierige und unruhige Geist« dort in seinem kurzen »Versuch einer Selbstverständigung« nachzeichnet,1 beginnen in Rennes in der Bretagne unter der Führung des Neothomisten und Maritain-Schülers Roland Dalbiez, einem eingefleischten Gegner der modernen Philosophie, insbesondere von Descartes und Kant. Seinem ersten Lehrer der Philosophie verdankt Ricœur, seinen eigenen Worten zufolge, nicht nur die frühzeitige Bekanntschaft mit Sigmund Freud, sondern auch seinen andauernden Widerstand gegen den Anspruch auf Unmittelbarkeit, Adäquatheit und Apodiktizität, die das cartesianische cogito und das Kantische »Ich denke« auszeichnet.2 Ricœur: Réflexion faite, 11. Alle Übersetzungen der französischen Zitate stammen vom Verfasser. 2 Ebd., 12. 1
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Jean Greisch
In religiöser Hinsicht kommen die von Schleiermachers Begriff der »schlechthinnigen Abhängigkeit«, Bergsons Thesen in Les deux sources und Karl Barths dialektischer Theologie ausgehenden Anstöße hinzu. Das damit abgesteckte spannungsreiche Problemfeld zwang Ricœur, seinem eigenen Eingeständnis nach, den gordischen Knoten von Glauben und Vernunft nicht in einem Gewaltstreich zu lösen, sondern von Waffenstillstand zu Waffenstillstand fortzuschreiten. Die erste Phase dieses Nichtangriffspaktes findet 1934 ihren intellektuellen Niederschlag in Ricœurs Diplomarbeit, die er dem Gottesproblem bei Lachelier und Lagneau widmet. In seiner Selbstdarstellung ist dies zugleich sein erster und letzter Beitrag zu einer philosophischen Theologie geblieben, da er in den letzten Jahren sich immer stärker zu einem philosophischen Agnostizismus hinsichtlich der Gottesfrage bekennt.
1. Die Reflexivität des Bewußtseins und die Selbstverständigung als Grundaufgabe der Philosophie (Jean Nabert) Ricœurs erster Zugang zu Kants Denken führt über die auf Maine de Biran zurückgehende Tradition der französischen Reflexionsphilosophie, deren letzter Vertreter Jean Nabert war, mit dem er sich in mehreren Aufsätzen intensiv auseinandergesetzt hat. Im Jahre 1934 verfaßte dieser eine erst vor kurzem veröffentlichte Besinnung unter dem Titel: Kann das Bewußtsein sich selbst verstehen?,3 die man ebenso gut auf Ricœurs Auseinandersetzung mit den Hauptvertretern der Reflexionsphilosophie beziehen könnte. Über dieser Frage liegt der Schatten derselben Unruhe, die ein Wesensmerkmal von Ricœurs Geisteshaltung ist. Sie verbietet uns, das Selbstverständnis als eine bloße Variante des sokratischen Imperativs der Selbsterkenntnis zu betrachten. Selbstverständigung, und nicht Selbsterkenntnis, ist der Endzweck des Bewußtseinslebens. Gleichsam als Echo auf das Augustinische Cogito sagt
Nabert: Le désir de Dieu, 381–446. Vgl. hierzu Greisch: L’inquiétude du comprendre et le désir de Dieu. Zu Ricœurs Verhältnis zu Nabert vgl. Stefan Orth: Das verwundete Cogito und die Offenbarung. Von Paul Ricœur und Jean Nabert zu einem Modell fundamentaler Theologie. Diese aus der Perspektive der Fundamentaltheologie geschriebene Untersuchung enthält viele wertvolle Einsichten bezüglich der religionsphilosophischen Problematik. 3
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Nabert, daß »das Bewußtsein sich selbst nur in der radikalen Unerfülltheit seiner Suche nach Erfüllung versteht«.4 Diese spezifische ›Unruhe des Selbstverständnisses‹5 ist nicht nur eine der Grundbedingungen aller Selbstverständigung, sie stellt auch das ›Selbst‹ radikal in Frage. Für Nabert (ähnlich wie für Heidegger und den späten Ricœur) bezeichnet das Verstehen eine »Seinsweise des Bewußtseins […], bei der das Wort Bewußtsein nahezu überflüssig ist«.6 Entsprechend offen ist auch der Status des Selbst, das diesen Akt begleitet. Nabert fällt keinerlei Vorentscheidung hinsichtlich der Frage, ob es sich um ein Subjekt, ein transzendentales Ego, oder ein personales Ich im Sinne des Personalismus handelt. Das bedeutet keineswegs, daß er das Selbst unmittelbar auf die Grundstruktur der »Sorge« beziehen würde, wie dies Heidegger tut. Der Vergleich der beiden Auffassungen des Selbst drängt sich umso mehr auf, als Nabert den Grundcharakter des Bewußtseins als »radikale Faktizität sowohl seiner selbst als seiner Inhalte« bestimmt, als eine Faktizität, die sich in ein »allgemeines Existenzgefühl« auflöst.7 Der springende Punkt in Naberts Besinnung ist die Einsicht, daß das »Selbstverstehen durch und durch ein Handeln ist«, dessen Grundakt in einer »Wiederholung sowohl der Subjektivität als auch der Objektivität besteht«.8 Auch wenn die Prekärität eines solchen Aktes auf der Hand liegt, entscheidet er dennoch über die Möglichkeit eines Fragens, das den Namen ›philosophisch‹ verdient. Nabert fordert die Philosophen dazu auf, sich der Tatsache zu stellen, »daß die höchsten Wahrheiten der Philosophie unzertrennlich mit der Bewegung des Selbstverständnisses verknüpft sind, welche die Philosophie selbst ausmacht«.9 Hierin besteht auch die Grundschwierigkeit allen Philosophierens: »Die Selbstbezüglichkeit des Selbstverstehens baut sich auf die jeweilige Position der Akte auf, aufgrund derer es sich selbst durchdringt«.10 Für unsere Überlegungen verdient noch ein letzter Punkt in diesem scheinbaren Exkurs zu Naberts Reflexionsphilosophie Beachtung: »Die keinen Bedingungen unterworfene Selbstbehauptung des Selbstverstehens ist 4 5 6 7 8 9 10
Nabert: Le désir de Dieu, 409. Ebd. Ebd., 412. Ebd., 413. Ebd., 415 und 416. Ebd., 417. Ebd., 420.
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[…] zugleich eine Art Beschwichtigung der Unruhe und eine Quelle, aus der sie immer aufs Neue entspringt«.11 Es ist der »Akt eines Fragenden, der über jede Antwort erhaben ist«, und »der es uns nicht erlaubt, die Tragödie des Lebens zu vermeiden«, indem wir uns von der »Ruhe des Seins« tragen lassen.12 Nabert beschreibt den Akt des Selbstverstehens als »Akt der Selbstentäußerung«, oder gar als eine »Arbeit der Selbsterschöpfung«.13 Manche Wendungen deuten darauf hin, daß ihm bei der Frage des Selbstverstehens bereits das Problem der Religionsphilosophie vor Augen schwebte. Im Grunde handelt es sich um die Frage, inwiefern durch einen reflexiven Akt der Umkehr das »Leben sich gegen sich selbst wenden kann«.14 »Mein Ziel ist folgendes«, lautet eine der nachdrücklichsten Formulierungen, »über den Weg der Frage: Ist das Bewußtsein imstande, sich selbst zu verstehen?, möchte ich letztendlich mit Hilfe einer kritisch auf das Bewußtsein selbst angewandten Methode der negativen Theologie, mich der radikalen, den religiösen Grundakt konstituierenden Urbejahung vergewissern.«15 Diese Bestimmung der Aufgabe der Religionsphilosophie aus dem Geist der Reflexionsphilosophie setzt einen bestimmten Freiheitsbegriff voraus, so zwar, daß »die Freiheit, um sich selbst zu verstehen, jede der Formen, in die sie ihre Unruhe zu investieren trachtet, hinter sich lassen muß«.16 Weil die Arbeit des Selbstverstehens nicht auf heterogene Instanzen verteilt werden kann, postuliert Nabert die grundsätzliche Identität des philosophischen und des religiösen Bewußtseins. Für die Philosophie bedeutet das, daß »philosophisches, religiöses und mystisches Bewußtsein streng genommen zusammenfallen, falls man das philosophische Bewußtsein so versteht, wie es verstanden werden soll, d. h. schlicht und einfach, falls das Bewußtsein in der Lage ist, sich selbst zu verstehen.«17 Daß diese Koinzidenzthese keineswegs selbstverständlich ist, zeigt die Definition des Mystizismus, der eine Art von »Invasion des Bewußtseins durch eine von Außen her auf dieses einwirkende Kraft« darstellt.18 Die mystische Einigung, in der die Seele sich 11 12 13 14 15 16 17 18
Ebd., 441. Ebd., 423 und 422. Ebd. Ebd., 422. Ebd., 424. Ebd., 423. Ebd., 426 f. Ebd., 427.
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nur versteht, indem sie sich in eine größere Wirklichkeit als sie selbst auflöst, die sie in sich »begreift« ist eher eine radikale Negation des Selbstverstehens als dessen Vollzug. Aber auch abgesehen von diesem Grenzfall erscheint die Hypothese einer Koinzidenz von Selbstverstehen und religiösem Bewußtsein problematisch. Zumeist ist das religiöse Bewußtsein darauf erpicht, die zahlreichen Fragezeichen, die den philosophischen Diskurs begleiten, erneut in Ausrufungszeichen zu verwandeln. Sie haben ihren Grund in der Gewißheit des religiösen Subjekts, Adressat einer endgültigen göttlichen Offenbarung zu sein. Dies führt Nabert dazu, zu unterstreichen, daß »keine sich auf eine objektive Wahrheit oder eine Offenbarung stützende Religion jemals Hilfe bei einer Philosophie sucht, in der das Bewußtsein mit dem Vermögen des Selbstverständnisses ausgestattet ist«.19 Eine Bewußtseinsphilosophie, die in nichts anderem als in einem ständigen »Anruf an das Bewußtsein besteht«,20 liefert der Religion noch weniger Schützenhilfe, als der zweideutige Beistand, die eine spekulative Philosophie ihr unter Berufung auf das »absolute Wissen« anbietet. Weil in Naberts Augen die Reflexionsphilosophie keine Auslegung der Wirklichkeit zu sein beansprucht, »nimmt sie die Gegenposition gegenüber allen Systemen ein, die das philosophische Bewußtsein mit dem absoluten Wissen gleichsetzen«.21 Der Konflikt zwischen dem religiösen und dem philosophischen Bewußtsein ist weder ein »Streit der Fakultäten« noch ein Streit der Weltanschauungen. Dies führt Nabert zu folgender These, die man gerade im Rahmen einer zugleich kritischen und hermeneutischen Religionsphilosophie beherzigen sollte: »Alles Kokettieren der Philosophie mit der Religion ist nutzlos, falls letztere als die Behauptung einer bestimmten Solidarität zwischen Bewußtsein und Universum verstanden wird. In den Augen des Theologen wird die Philosophie nie theologisch genug sein. In den Augen des Philosophen wird sie stets allzu theologisch sein.«22
19 20 21 22
Ebd., 428. Ebd., 435. Ebd., 435. Ebd., 441.
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2. Kants Frage: »Was ist der Mensch?« und die Aufgaben einer »Metaphysik des Daseins« (Martin Heidegger) Ehe ich mich Ricœurs Beschäftigung mit Kant zuwende, schalte ich noch eine zweite Vorüberlegung bezüglich Heideggers Verständnis von Kants vier Grundfragen: »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was darf ich hoffen?«, »Was ist der Mensch?« ein (Log A 25 = AA 9,25), die uns eine gute Kontrastfolie für die Charakterisierung von Ricœurs Kantrezeption liefert. Ich stütze mich hierbei nicht auf die bekannten Thesen des Kantbuchs, sondern auf die im Sommersemester 1929 gehaltene Vorlesung über den deutschen Idealismus.23 Im ersten Teil der Vorlesung gibt Heidegger eine Darstellung der philosophischen Grundtendenzen der Gegenwart, die um zwei Motive kreist: die »Tendenz zur Anthropologie« und die »Tendenz zur Metaphysik«. Beide Tendenzen sind in seinen Augen von Grund auf fragwürdig. Die Anthropologie, vermutet Heidegger, wurde zur Grunddisziplin der Philosophie erhoben, gerade in einer Zeit, wo man weniger als je weiß, was der Mensch ist.24 Für ihn läßt sich Kants Frage: »Was ist der Mensch?« keinesfalls durch einen philosophischen Kraftakt entscheiden, indem man die Anthropologie zur philosophischen Grunddisziplin und Königin aller Wissenschaften macht. Ganz im Gegenteil muß die Frage nach dem Menschen in einer Weise gestellt werden, die über die Grenzen der Anthropologie hinausführt. Der Sinn der Frage nach dem Menschen – und nicht nur deren Antworten – ist von Grund auf fragwürdig: »Denn nicht darin liegt die Fragwürdigkeit allein und zuerst, daß wir auf die Frage, was der Mensch sei, keine wesentliche und wirkende Antwort haben, sondern die Fragwürdigkeit des Menschen hat darin ihre ungeheuere, freilich nicht erkannte Schärfe, daß wir nicht einmal wissen, wie nach dem Menschen zu fragen sei.«25 Genau so unklar ist die Tendenz zur Metaphysik. Abgesehen davon, daß diese Tendenz sich öfters »in die anthropologische verkleidet«, ist sie »überhaupt als solche schwer zu sehen und zu fassen«.26 In dieser überaus verwor-
Vgl. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik ( = GA 3); ders.: Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel). ( = GA 28). 24 Heidegger: Der deutsche Idealismus, 16. 25 Ebd., 17. 26 Ebd., 21. 23
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renen Lage ist es Kants bleibendes Verdienst, in seinen vier Grundfragen das Problem einer Grundlegung der Metaphysik wahrgenommen zu haben, was, Heidegger zufolge, nicht verhindert, daß auch er »im Kern unsicher« war und »das zentrale Problem aus der Hand gegeben« hat.27 Von hier aus skizziert Heidegger eine Auslegung der drei ersten und der vierten Kantischen Grundfrage bezüglich der Interessen der Vernunft und der Philosophie in ›weltbürgerlicher Absicht‹. In seiner Deutung stecken die drei ersten Fragen den Bereich der Metaphysica specialis als eigentlicher Metaphysik ab, insofern sie sich auf Natur, Freiheit und Unsterblichkeit beziehen. Offenbar spielt diese Aussage an folgenden bekannten Passus der Kritik der reinen Vernunft an: »Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so daß der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlußsatz führen soll« (KrV B 395). Ihnen entsprechen, Kant zufolge, die drei »unvermeidlichen Aufgaben« »zu deren Auflösung alle Zurüstungen der Metaphysik als ihrem letztem und alleinigen Zwecke abzielen« (KrV B 7 und 396). Unter Klammern umschreibt Heidegger den Begriff ›Unsterblichkeit‹ als ›Seligkeit‹ und ›Vereinigung mit Gott‹.28 Offenbar versucht er damit den naheliegenden Einwand zu entkräften, daß die Frage: »Was darf ich hoffen?« nicht in den Bereich der natürlichen Theologie, sondern in den Bereich der Religion gehört. Damit ist bereits eine erste Vorentscheidung über das Verständnis der Frage: »Was ist der Mensch?« getroffen. Die drei modalen Verben: Können, Sollen, Dürfen versteht Heidegger als ebenso viele Spiegelungen der Grunderfahrung der Endlichkeit: »Alles Können, das sich fraglich ist, ist in sich endlich, durch ein Nichtkönnen mitbestimmt. Allmacht braucht nicht nur, sondern kann überhaupt nicht fragen, was sie kann, d. h. was sie nicht kann. Alles Sollen stellt vor Aufgaben, die unerfüllt sind, ein Noch-nicht. Das Dürfen schränkt ein im bestimmten Umkreis des Berechtigtseins und des Nichtberechtigtseins.«29 In diesen Sätzen klingt der Grundtenor von Heideggers Kantdeutung an: »Eine Vernunft, zu deren Wesen es gehört, so bezüglich ihrer zu fragen, ist in sich endliche, die ihrer eigenen Endlichkeit 27 28 29
Ebd., 32. Ebd., 36 f. Ebd., 37
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sicher werden will. Nach der Endlichkeit der Vernunft ist die Frage, was sie sei, nach dem Wesen der Endlichkeit des Menschen, auf deren Grunde er erst Mensch sein kann.«30 Dementsprechend relativiert Heidegger Kants Annahme, daß man die drei ersten Fragen auf die vierte zurückführen »könnte«. »Können« ist nicht gleichbedeutend mit »Müssen«! Der eigentliche Sinn der vierten Frage bleibt in der Schwebe: »Sehen wir auf das, was Kant sagt, dann Anthropologie – möglicherweise! Sehen wir auf das, was bei Kant geschieht, dann ist alles fraglich, sofern die Frage nach dem Menschen als Frage fragwürdig wird.«31 Was geschieht eigentlich – Heidegger zufolge – bei Kant? Im Können, Sollen und Dürfen entdeckt die Vernunft einen dreifachen »Index der Endlichkeit«, welche ihr innerstes Wesen ausmacht. Und nur »Weil diese Fragen in sich je das eine fragen: die Endlichkeit des menschlichen Wesens […], lassen sie sich auf die vierte zurückführen«.32 Entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut handelt es sich um keine Wasfrage, sondern um eine Werfrage. Das Erfragte der Frage betrifft das, »Wer er ist, wie er ist«.33 Es ist in der Terminologie, die Heidegger um diese Zeit bevorzugt, die »metaphysische Frage nach dem menschlichen Dasein«, welche nach einer Antwort verlangt.34 Dies ist die wahre Grundfrage der Philosophie. Anstatt daß damit die Anthropologie zur Königin der Wissenschaften erkürt wird, geschieht etwas ganz anderes: Die Anthropologie verwandelt sich in eine »Metaphysik des Daseins.«35 Drei Punkte verdienen besondere Beachtung für die folgenden Überlegungen: 1. Der erste Punkt betrifft Heideggers einseitige Betonung der Endlichkeit. Ist es von vornherein ausgemacht, daß Kants Entfaltung der drei ersten Fragen ganz und gar im Zeichen eines dreifachen »Indexes der Endlichkeit« steht? 2. Ferner kann man sich fragen, ob Heideggers Bestimmung der dritten Frage Kant voll gerecht wird, oder ob sie nicht von vornherein die religionsphilosophische Problematik ausblendet. Symptomatisch für diese Ausblendung ist die Tatsache, daß in Heideggers »Metaphysik des Daseins« kein Platz für Kants Besinnung auf das radikal Böse vorhanden ist, es sei denn, daß man 30 31 32 33 34 35
Ebd., 38. Ebd., 39. Ebd., 235. Ebd. Ebd. Ebd., 236.
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Heideggers Kommentar zu Schellings Freiheitsabhandlung als seine eigene Antwort versteht. Dieses Defizit einer Erörterung des Zusammenhangs zwischen dem Wesen der Freiheit und dem »radikal Bösen«, läßt sich besonders deutlich an den 1945 entstandenen Feldweggesprächen nachweisen. Das »radikal Böse« hat seine Wurzel nicht in der menschlichen Freiheit, sondern in der »Bösartigkeit« des Seins selbst.36 3. Man sollte auf die Folgerungen achten, die sich aus der Umstellung der Was-frage auf die Wer- und die Wiefrage ergeben. In Ricœurs Sprache würde ich sagen, daß die Frage, »Was ist der Mensch?« sich nur in Form einer »Hermeneutik des Selbst« entfalten läßt. Damit ergibt sich die Notwendigkeit eines systematischen Vergleichs zwischen Heideggers und Ricœurs Bestimmung des Selbst, die beide eine intensive Auseinandersetzung mit Kants Begriff der personalitas moralis voraussetzen. Heideggers Kantinterpretation liefert uns somit eine gute Kontrastfolie, anhand deren sich die Originalität von Ricœurs Kantinterpretation veranschaulichen läßt. Die Hautptunterschiede der beiden Interpretationen lassen sich meiner Ansicht nach in folgenden drei Punkten festhalten: 1. Ricœur entwickelt die Frage »Was ist der Mensch?« nicht im Zeichen eines dreifachen Indexes der Endlichkeit, sondern eines dreifachen Indexes der Fehlbarkeit. 2. Im Gegensatz zu Heidegger kommt Ricœur in seinem Denken immer wieder auf das »radikal Böse« zurück und versucht von hier aus einen Einstieg in die religionsphilosophische Fragestellung zu gewinnen, wobei er Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft als »philosophische Hermeneutik der Hoffnung« liest und das Subjekt der Religion als »fähiges Subjekt« (sujet capable) versteht. 3. In seiner »Hermeneutik des Selbst« ist Ricœur, ähnlich wie Heidegger, bestrebt, die Aporie der Subjektphilosophien sowohl in der cartesianischen Gestalt der Selbstsetzung des Cogito als in der Gestalt des Anticogito bei Nietzsche hinter sich zu lassen. Mit Heidegger geht er einig in der Annahme, daß der Weg einer »Hermeneutik des Selbst« über die Entfaltung der WerFrage führt. Im Unterschied zu Heidegger läßt er sich allerdings von der Fragestellung einer als »zweite Philosophie« verstandenen Besinnung auf die vielfachen Bedeutungen des menschlichen Handelns leiten, die Schritt um Schritt den Fragen: »Wer spricht?, Wer handelt?, Wer erzählt sich? Wer ist 36
Vgl. hierzu Guest: La méchanceté de l’être.
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das Subjekt der moralischen Imputation?« nachgeht. Letzterer Frage sind die Kapitel 6–9 von Das Selbst als ein Anderer gewidmet, in denen die Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie eine überaus wichtige Rolle spielt. Damit zeichnen sich zwei Hauptschwerpunkte in Ricœurs Beschäftigung mit Kant ab: einmal die 1960 erschienenen Doppelbände L’homme faillible und La symbolique du mal, anderseits der zweite Teil von Das Selbst als ein Anderer. Dazu kommen mehrere Einzeluntersuchungen, auf die ich, von drei Ausnahmen abgesehen, die direkt mit dem Problem der Religionsphilosophie zusammenhängen, in diesem Rahmen nicht weiter eingehen kann.
3. Endlichkeit oder Fehlbarkeit? Ricœurs Antwort auf Kants Frage: »Was ist der Mensch?« Versuchen wir zunächst, Ricœurs erste nähere Beschäftigung mit Kant in Augenschein zu nehmen und sie in Bezug zur religionsphilosophischen Fragestellung zu setzen. Auch wenn seine Diplomarbeit über Lagneau und Lachelier zur gleichen Zeit wie Naberts Manuskript über das Bewußtsein als Selbstverständigung entstanden ist, so bestimmt bis Ende der fünfziger Jahre nicht Kant, sondern das Doppelgestirn Gabriel Marcel und Edmund Husserl den Horizont seines Denkens. Während der Kriegsgefangenschaft kommt noch, durch Marcel vermittelt, als »stummer Gesprächspartner« Karl Jaspers hinzu. Diese Konstellation bildet auch den Hintergrund von Ricœurs 1950 erschienener Habilitationsschrift: Le volontaire et l’involontaire. Es handelt sich um einen Versuch, im Spannungsfeld von Reflexionsphilosophie (Nabert), Existenzphilosophie (Marcel, Jaspers) und beschreibender Phänomenologie (Husserl) die Grundstrukturen des Willensphänomens zu erschließen und so Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung eine ebenbürtige Phänomenologie des Wollens zur Seite zu stellen. Zug um Zug weist Ricœur nach, daß auf allen Stufen, angefangen vom praktischen Vorhaben (projet) bis zum Handlungsgrund und der konkreten Durchsetzung des Willens den verschiedenen Bekundungen des Willentlichen ebensoviele Aspekte des Unwillentlichen entsprechen. Ganz und gar unmotivierte Entscheidungen gibt es nicht. Auf Handlungen läßt sich das berühmte Distichon des Angelus Silesius über das »Ohne warum« der Rose nicht anwenden. Es wäre sinnlos zu sagen: »Das Handeln ist ohn warum / es
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geschiehet weil es geschiehet, es acht nicht seiner selbst, fragt nicht, ob man es siehet.«37 Ein gleiches gilt von den Beweggründen. Im Gegensatz zur Utopie der absoluten Spontaneität ist der Mensch ein Gewohnheitstier, dessen gute oder schlechte Gewohnheiten seine Handlungen mehr oder weniger stark beeinflussen. Spätestens dann, wenn der Kettenraucher auf seine Zigarette verzichten muß, wird er sich dieser Tatsache bewußt. Der eigentliche Nachdruck in Ricœurs Phänomenologie des Willens liegt aber auf dem dritten Grundakt des Willens: dem Akt der ›Einwilligung‹ (consentement), in dem wir uns mit den drei Grundgegebenheiten unseres Lebens abfinden: die Unabänderlichkeit unseres Charakters, die Vorgegebenheit unseres Lebens, d. h. die Tatsache, daß wir unsere Geburt nicht uns selbst verdanken, und das Unbewußte, das unserem bewußten Ich verbietet, sich als Herr im eigenen Hause, bzw. als Haustyrann aufzuspielen. Dieser Ansatz hat weitreichende Konsequenzen nicht nur für Ricœurs Anthropologie, sondern auch für sein Konzept der Ethik, das er allerdings erst Anfang der neunziger Jahre, im zweiten Teil von Das Selbst als ein Anderer entfaltet. Dieser große zeitliche Abstand von vierzig Jahren darf uns nicht übersehen lassen, daß die in Le volontaire et l’involontaire gefällten Entscheidungen bereits eine implizite Ethik enthalten, deren Grundtenor die Dialektik von Beherrschung und Einwilligung bildet, was selbstverständlich einen bestimmten Freiheitsbegriff impliziert. Im folgenden möchte ich nachweisen, daß sowohl hinsichtlich der Frage: »Was ist der Mensch?« als der Frage: »Was soll ich tun?« Kant für Ricœur ein unumgänglicher Gesprächspartner ist. Damit stellt sich von selbst die Frage, ob dies auch für Kants dritte Grundfrage, nämlich die in religionsphilosophischer Hinsicht entscheidende Frage: »Was darf ich hoffen?« zutrifft, eine Frage, die, wie bereits bemerkt in Heideggers Kantinterpretation völlig aus dem Blick gerät. Ehe wir uns dieser Frage zuwenden, gilt es, eine andere wichtige Konsequenz von Ricœurs Ansatz zu berücksichtigen. Die drei Grundgestalten des Unwillentlichen: Charakter, Unbewußtes und Leben lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, den der Begriff der Endlichkeit bezeichnen würde. Das eigentliche Paradigma der Endlichkeit liefert uns die Einseitigkeit und die Beschränktheit unseres Charakters. »Ich leide darunter, Es handelt sich um eine Paraphrase. Vgl. Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, 26. 37
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eine endliche und partielle Perspektive auf die Welt und die Werte zu sein; ich bin dazu verurteilt, die ›Ausnahme‹ zu sein: dieser und nicht alle, dieser und nicht jener«.38 Hier liegt die erste Wurzel dessen, was Ricœur die »Trauer der Endlichkeit« nennt: »Manchmal ist es unerträglich, ein unnachahmlicher Einzelner zu sein und dazu verurteilt zu sein, nur sich selbst ähnlich zu sein.«39 Ist es ein Zufall, daß das Wort »verurteilt« gleich zweimal in diesem Kontext auftaucht? Wohl kaum. Im Hintergrund dieser Formulierungen steht die stillschweigende Auseinandersetzung mit Sartres Vorstellung des Zur-Freiheit-Verdammtseins. Das Unbewußte, als zweite Grundgestalt des Unwillentlichen, bedeutet in der mehr phänomenologischen als psychoanalytischen Betrachtungsweise zweierlei: die Unmöglichkeit, sich selbst zu transzendieren und die ständige Bedrohung durch Mächte, die wir nicht beherrschen und die unser Bewußtsein überfluten können. Der Handelnde muß sich bewußt bleiben, daß er auf einem Pferd reitet, das ihn jederzeit aus dem Sattel werfen kann, und »daß jeder Selbstbesitz von einer Besitzlosigkeit umrandet bleibt, daß das Schreckliche vor der Tür steht und mit ihm die Unordnung und der Wahnsinn«.40 Läßt sich die Negativität des Charakters im Bild des Gefängnisses ausdrükken, so spiegelt sich die Bedrohung, die vom Unbewußten ausgeht, im Bild des Sturms auf dem Meer wider. Aus diesem Grund spricht Ricœur von einer »Trauer des Formlosen«. Die dritte Grundgestalt des Unwillentlichen ist das Leben, als Inbegriff alles dessen, was wir nicht gewählt haben, sondern in seiner Unabänderlichkeit hinnehmen müssen. Es ist, in Ricœurs Worten, die »Trauer der Vergänglichkeit«, die sich im Leiden, im Altern und in unseren inneren Wandlungen widerspiegelt, die nicht unbedingt auf die Einheit einer »narrativen Identität« hinauslaufen.41 Viele unserer Zeitgenossen empfinden das Leben eher als eine Kakophonie als eine einheitliche melodische Linie. Walter Benjamin hat daraus die Konsequenz gezogen, daß das Leben immer weniger erzählbar wird, eine These, mit der Ricœur sich im zweiten Band von Zeit und Erzählung ausführlich auseinandersetzt.42 Ricœur: Philosophie de la volonté 1. Le volontaire et l’involontaire, 420. 39 Ebd., 421. 40 Ebd., 422. 41 Ebd., 423. Zur »narrativen Identität« vgl. Ricœur, Temps et récit III, 355–359. 42 Vgl. Ricœur, Temps et récit II, 48; vgl. auch Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolaj Leskows, 438 ff. 38
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Für unsere Überlegungen sind besonders die Schlußthesen von Ricœurs Habilitationsthese wichtig, in denen er den Begriff einer »rein menschlichen Freiheit« entfaltet. Im Gegensatz zu Sartres Verabsolutierung des Freiheitsbegriffs, der im Akt der Auflehnung und der Revolte gipfelt, plädiert Ricœur für einen Freiheitsbegriff, dessen letztes und höchstes Wort das Fiat der Einwilligung ist. Eine solche Freiheit muß sich am experimentum crucis des radikal Bösen bewähren. »Vielleicht kann niemand bis auf den Grund der Einwilligung hinabsteigen. Das Böse ist der Skandal, der auf immer die Einwilligung von der grausamen Notwendigkeit unterscheidet. Vielleicht bedeutet das, daß der Weg der Einwilligung nicht nur über die Bewunderung der herrlichen Natur läuft, die der Begriff des absolut Unwillentlichen zusammenfaßt, sondern über die Hoffnung, die etwas anderes erwartet«.43 Meine Vermutung ist, daß diese These bereits ein Reflex ist auf Kants Frage: »Was darf ich hoffen?« Im Licht dieser Frage kann man auch den Begriff einer »Poetik des Willens« verstehen, der eine Perspektive eröffnet, die, manchen Interpreten zufolge, Ricœur später aufgegeben hätte. Entgegen Ricœurs Selbstinterpretation möchte ich die These vertreten, daß das Projekt einer »Poetik des Willens« niemals vollständig aus seinem Denkhorizont verschwindet, sondern sich unter ständig neuen Verwandlungen in den späteren Schriften durchhält. Zwei besonders nachdrückliche Formulierungen umreißen dieses Projekt. »Die Bewunderung sagt: Die Welt ist gut, sie ist die mögliche Heimat der Freiheit; ich darf zustimmen. Die Hoffnung sagt: Die Welt ist nicht die endgültige Heimat der Freiheit; ich gebe soweit als möglich meine Einwilligung, aber ich hoffe von der Last des Schrecklichen befreit zu werden und, am Ende der Zeiten, auf einen neuen Leib und eine neue Natur, die meiner Freiheit entspricht.« Die Hoffnung erscheint hier als der Schlüsselbegriff, um den sich das Projekt einer Poetik des Willens aufbaut. Hoffen und Einwilligen verhalten sich zueinander wie Seele und Leib: »Ist die Hoffnung die Seele der Einwilligung, so verleiht die Einwilligung ihr einen Leib.«44 1951, ein Jahr nach dem Erscheinen von Le volontaire et l’involontaire hält Ricœur vor der Société française de Philosophie einen Vortrag mit dem Titel: Die Einheit des Willentlichen und des Unwillentlichen als Grenzbegriff, in dem sich die Berührungspunkte mit Kant bereits deutlicher abzeichnen. Nebenbei bemerkt erscheint im selben Jahr in der Revue de métaphysique et 43 44
Ricœur: Philosophie de la volonté 1, Le volontaire et l’involontaire, 451. Ebd.
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de morale der berühmte Aufsatz von Levinas: L’ontologie est-elle fondamentale? 45 In seinem Vortrag beschäftigt Ricœur sich mit den ontologischen Implikationen seiner Phänomenologie des Willens. Unter Rückgriff auf Maine de Birans Formel: »homo simplex in vitalitate, duplex in humanitate« und auf Pascal, spricht er von einer »Ontologie der Disproportionalität«, die jenseits der Sackgassen des Monismus und des Dualismus Kants dritte Grundfrage: »Was ist der Mensch?« zu beantworten versucht.46 Eine rein eidetische Phänomenologie der Willensphänomene hält die Frage des faktischen Umgangs mit dem Willen nach zwei Seiten hin in der Schwebe. Einmal verbietet uns die methodologische Einstellung der phänomenologischen Reduktion, den guten oder schlechten Gebrauch, den wir von unserem Willen machen, zu berücksichtigen. Eine solche Besinnung gehört in das Gebiet einer Empirik des Willens, in welcher der ›böse Wille‹ sich in der Gestalt der Leidenschaften äußert, wobei Ricœur besonderen Nachdruck auf die von Kant herausgestellten typisch menschlichen Leidenschaften der Habsucht, Ehrsucht und Geltungssucht legt. Ferner muß die Phänomenologie es sich verbieten, Aussagen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines schöpferischen Umgangs mit dem Willen zu machen, d. h. sich auf das Gebiet einer »Poetik des Willens« im obigen Sinn vorzuwagen. Diese doppelte Ausklammerung von ›Schuld‹ und ›Transzendenz‹ muß einer neuen Betrachtung weichen, bei der Kant die Schlüsselfigur bildet. Nimmt man Ricœurs Aussagen in Réflexion faite beim Wort,47 so könnte man den Eindruck gewinnen, daß beide Projekte auf der Strecke geblieben sind. Was den ersten Teil anbelangt, so bliebe die Symbolik des Bösen auf der Schwelle einer Empirik der Leidenschaften stecken. Der zweite Teil, nämlich die Poetik der Transzendenz sei ganz und gar aufgegeben worden, mindestens insofern Ricœur weder eine Religionsphilosophie noch eine philosophische Theologie ausgearbeitet hat. Ich glaube, daß ich keine Sünde gegen das Prinzip der hermeneutischen Ehrfurcht begehe, die der Interpret dem Autor schuldet, wenn ich mir in dieser Hinsicht erlaube, Ricœur besser zu verstehen, als er selbst sich verstanden hat, bzw. ihn gegen seine übertriebene Bescheidenheit in Schutz nehme. Ricœur selbst weist ja darauf hin, daß der Gedanke einer 45 46 47
Vgl. Levinas: L‘ontologie est-elle fondamentale? Vgl. dazu Ricœur: L’unité du volontaire et de l’involontaire comme idée-limite. Ricœur: Réflexion faite, 26.
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»Poetik«, eines schöpferischen Umgangs mit der Tradition, seine sämtlichen späteren Schriften durchzieht. Es wäre erstaunlich, wenn die These: »Wollen ist nicht Schaffen« nur negativ zu verstehen wäre. In den zehn Jahren, die Ricœurs Habilitationsschrift von dem zweiten und dritten Band seiner Philosophie des Willens trennen, die 1960 (im selben Jahr wie Gadamers Wahrheit und Methode) unter dem Titel: L’homme faillible und La symbolique du mal erscheinen, beschäftigt Ricœur sich sehr intensiv in seinen Vorlesungen mit Kant. Dies läßt sich am deutlichsten an der in L’homme faillible entwickelten philosophischen Anthropologie nachweisen, einem Buch, von dem Ricœur selbst behauptet, daß es in einem »extrem Kantischen Tonfall« gehalten ist. In der Tat kann man es auf weiten Strecken als einen Versuch lesen, Kants Fragen: »Was kann ich wissen?« und »Was soll ich tun?« im Licht der Frage: »Was ist der Mensch?« neu zu entfalten. Das »radikal Böse« ist kein bloßer Grenzfall der Endlichkeit eines Wesens, das zum Tun und Erleiden verurteilt ist, sondern es handelt sich um ein geschichtliches Faktum, das als solches ernst genommen werden muß. Eine transzendentale Besinnung auf den Grund seiner Möglichkeit führt auf die Brüchigkeit und Fehlbarkeit des Menschenwesens zurück. In dieser Hinsicht läßt sich die Frage: »Was ist der Mensch?« kurz und bündig wie folgt beantworten: Der Mensch ist ein von Grund auf fehlbares und verletzliches Wesen, das dem Bösen bestimmte Angriffsflächen bietet. Diese Einsicht hinterläßt bereits Spuren auf der vorphilosophischen und präreflexiven Ebene in Form einer »Pathetik des Elends«. Unter den unzähligen Beispielen, die davon Zeugnis ablegen, bevorzugt Ricœur zwei Kronzeugen: Platon und Pascal. Platons mythische Schilderung der menschlichen Begierde als eines Zwitterwesens zeigt, wie schwer es fällt, die Idee der Fehlbarkeit gegenüber der Verfehlung zu unterscheiden. Demgegenüber illustrieren Pascals Pensées, in denen der Mensch als eine Mitte zwischen Nichts und Alles erscheint, die Gefahr, die Brüchigkeit, Verletztheit und Gefährdetheit des Menschen unmittelbar in die Sprache der Ontologie zu übertragen. Um dieser Gefahr zu entkommen, sucht Ricœur Rat und Hilfe bei Kant und dessen »genialer Einsicht«,48 daß die transzendentale Einbildungskraft eine vermittelnde Instanz zwischen der Rezeptivität der Sinnlichkeit und der Spontaneität des Verstandes darstellt. In diesem Punkt berührt sich Ricœurs Aneignung Kants mit Heideggers Kantlektüre, allerdings mit dem gewichti48
Ebd., 28.
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gen Unterschied, daß Ricœur sich nicht auf eine radikale Anthropologie der Endlichkeit festlegt. Für ihn besteht die ontologische Disproportionalität des Menschen gerade darin, daß er, in der Sprache der mittelalterlichen Denker, zugleich als »horizon« und »confinium« gedacht werden muß, dessen Wesen zwischen dem Pol der Endlichkeit und Unendlichkeit ausgespannt ist, aber ohne daß die Möglichkeit einer Aufhebung beider Pole in einer totalen Vermittlung im Sinne Hegels bestünde. Nur in einer systematischen Besinnung auf die Brüchigkeit der vermittelnden Instanzen läßt sich der Begriff der Fehlbarkeit als anthropologischer Grundbegriff entfalten. L’homme faillible ist Ricœurs Kantischstes Buch; man kann es geradezu als Versuch einer Wiederholung von Kants Grundfragen: »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?«, »Was darf ich hoffen?« lesen. Diese Arbeitshypothese habe ich im zweiten Kapitel meines Ricœurbuches systematisch durchgespielt. Sie scheint mir in dreifacher Hinsicht fruchtbar zu sein.49 Erstens wirft sie helles Licht auf Ricœurs anthropologische Grundentscheidungen, die den stillschweigenden Hintergrund aller seiner späteren Arbeiten bilden. Zweitens setzt Ricœur sich bereits hier deutlich von Heideggers Kantinterpretation ab. Drittens enthält sein Vorgehen eine scheinbare Beweislücke, die von unmittelbarer Relevanz für die Religionsphilosophie ist. Seine Bestimmung der »transzendentalen« und der »praktischen Synthesis« in den zwei ersten Teilen von L’homme faillible steht eindeutig im Zeichen von Kants Fragen: »Was kann ich wissen?« und »Was soll ich tun?« Daher würde man erwarten, daß er sich im dritten Teil der Frage: »Was darf ich hoffen?« zuwenden würde. Stattdessen kreist der dritte Teil des Buches um die affektive Verletzlichkeit des Menschen und um die Zwiespältigkeit seines Herzens. Bedeutet das, daß auch Ricœur die religionsphilosophische Fragestellung aus dem Blick verliert? Im ersten Schritt versucht Ricœur, die Fehlbarkeit des Menschen in dessen Erkenntnisvermögen nachzuweisen. Selbstverständlich ist dieses Vorgehen nicht, das der Frage: »Was kann ich wissen?« eine Vorrangstellung einräumt, umsomehr als Kants erste Kritik alles weniger als eine philosophische Anthropologie darstellt! Dennoch ist dieser Einstieg, Ricœur zufolge, unverzichtbar, weil wir zunächst durch eine kritische Besinnung auf den Bezug zu den Objekten die bleibende Disproportion zwischen der Rezeptivität der Sinnlichkeit Vgl. Greisch: Paul Ricœur: l’itinérance du sens, Kapitel II: La possibilité anthropologique du mal: la faillibilité humaine, 53–87. 49
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und der Spontaneität des Verstandes erkennen, die nur die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft miteinander verkreuzt. In dieser Hinsicht könnte man das transzendentale Ich als »Subjekt des Objektes« bezeichnen, bzw. – in der Sprache der Geheimdienstler – als einen bloßen »agent de liaison«.50 Übertragen wir Kants Thesen auf die Ebene der Bestimmung der Fehlbarkeit des Erkenntnisvermögens, so entspricht dem Pol der Endlichkeit die Perspektivität des Wahrnehmens, die ihrerseits in der Leiblichkeit verwurzelt ist. Es wäre allerdings ein verhängnisvoller Irrtum, wollte man die Leiblichkeit als Wurzel der Endlichkeit überhaupt ansehen. Nur in Grenzfällen der Krankheit erfahren wir unsern Leib als einen Kerker. Normalerweise ist er gerade das Medium unserer Weltoffenheit. In erkenntnistheoretischer Hinsicht spiegelt sich diese Offenheit in der Sprache wieder, die uns von der Perspektivität der Wahrnehmung befreit. Aufgrund der Sprache sind wir von vornherein für noch nicht gemachte Erfahrungen offen, wie wir auch über die Möglichkeit verfügen, im ›Ja‹ und ›Nein‹ des Urteilsaktes zur Welt überhaupt Stellung zu beziehen. Urteilen bedeutet nicht nur Feststellung einer propositionalen Wahrheit, sondern darüber hinaus, ein Einverständnis kundzugeben bzw. es zu verweigern. Der Gegensatz zwischen der Perspektivität des Wahrnehmens und der Unendlichkeit des Bedeutens läßt sich nur durch die Einbildungskraft überbrücken, was aber nicht auf eine totale Vermittlung hinausläuft. Gerade hier unterscheidet sich Ricœurs Kantinterpretation von der Heideggers, die wenig Platz für die von Kant so stark betonte Vernünftigkeit übrig läßt. Ricœur zufolge bedürfen wir einer »Synthesis von Endlichkeit und Vernünftigkeit«, anstatt beide gegeneinander auszuspielen.51 Einen ähnlichen Einwand gegen Kant hat auch Alain Renaut in seinem Buch: Kant aujourd’hui erhoben, wobei er allerdings keinen Bezug auf Ricœur und auf die französische Reflexionsphilosophie nimmt.52 Seine Auseinandersetzung mit Heidegger steht ganz im Zeichen des Davoser Streitgesprächs zwischen Heidegger und Cassirer, und er plädiert dafür, daß ein erneuerter Kritizismus von Cassirer und nicht von Heidegger auszugehen hat. Noch offenkundiger wird die Brüchigkeit des Menschen, wenn wir uns der Frage »Was soll ich tun?« zuwenden. Stand die Frage: »Was kann ich 50 51 52
Vgl. Benoist: Kant et les limites de la synthèse. Le sujet sensible, 71–90. Ricœur: Philosophie de la volonté 2, 61. Renaut: Kant aujourd’hui.
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wissen?« im Zeichen der radikalen Besinnung auf Möglichkeit und Grenzen des menschlichen Erkennens, so verlagert die zweite Frage das Schwergewicht auf die Ebene der Abschließbarkeit des menschlichen Handelns. Während in Le volontaire et l’involontaire der Charakter als eine der Grundgestalten des Unwillentlichen erschien, so bestimmt Ricœur ihn nun als das praktische Gegenstück der Endlichkeit der Wahrnehmung auf der Ebene des Erkennens. Damit bereitet er den Boden für seine späteren Analysen in Das Selbst als ein Anderer vor, wo der Charakter stellvertretend für die Selbigkeit im Gegensatz zur Selbstheit wird. Das bedeutet nicht unbedingt, daß der Charakter als eine zweite Natur betrachtet werden muß. Aber mindestens zwingt er uns dazu, im Hang eine Art Entsprechung zur Perspektivität der Wahrnehmung zu entdecken. Die Rezeptivität der Sinnlichkeit wandelt sich damit zur Passivität des Hanges, der unser Handeln in diese oder jene Richtung neigt: Es ist die Perspektivität des interessegeleiteten Begehrens, die sich auf bestimmte Objekte richtet und andere aus ihrem Horizont ausblendet. Ein Vergleich mit Heideggers Begriff der Befindlichkeit zeigt, daß Ricœur weitaus stärker als Heidegger die leibliche Dimension der Befindlichkeit und Gestimmtheit berücksichtigt. In ethisch-religiöser Hinsicht ist es wichtig zu beachten, daß der Hang als Selbstsucht bestimmt wird, d. h. als ›Selbstliebe in der Form des Blickpunktes‹. Diese Einsicht kleidet Ricœur in folgende schöne Formel: »Sobald mein Leben im Ganzen bedroht ist, sobald ich in Todesgefahr schwebe, staut sich alles Begehrenswerte in der Welt auf dieses ursprüngliche Begehrenswerte zurück, indem sich die implizite Selbstliebe in ein Lebenwollen verwandelt. Dann ruft meine Angst vor dem Sterben und mein Wille zu überleben mir zu: Bleibe doch, du lieber, du einziger, du unersetzlicher Blickpunkt.«53 Im Begriff der Gewohnheit verengt der praktische Gesichtswinkel sich noch um einige Grade. Während er sich unter dem Druck starker Emotionen erweitert, neigt die Gewohnheit dazu, unser Leben in denselben feststehenden Gleisen weiterlaufen zu lassen, auch wenn es sich für die meisten von uns um eine Schmalspurbahn handelt. Der Konflikt zwischen diesem Trägheitsgesetz und der Spontaneität des Lebens läßt keine absolut harmonische Auflösung zu. Das Leben selbst, wie Bergson immer wieder betont, braucht ein Minimum an Kontinuität und Stabilität. Aller Erneuerungssucht zum Trotz müssen wir bedenken, daß nichts ermüdender ist, als der Wunsch, jeden 53
Ricœur: Philosophie de la volonté 2, 72 f.
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Morgen in einer total neuen Welt aufzuwachen, in der wir uns erst zurechtfinden müssen. Damit liegt die Gefahr nahe, den Charakter, ähnlich wie den Leib, als ein Gefängnis zu verstehen, indem wir lebenslänglich eingesperrt sind. Manche philosophische oder außerphilosophische Charakterologien reduzieren das Problem der Selbstheit auf die simplistische Formel: »Zeige mir, was dein Charakter ist, und ich sage Dir, wer Du bist!«. Demgegenüber betont Ricœur sehr nachdrücklich, daß »gegenüber der Endlichkeit der charakterologischen Formel das Individuum unendlich ist«.54 Auch im Handlungsbereich gilt es daher, einen Raum für die Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit zu schaffen. Kants Besinnung auf die Glückseligkeit liefert uns hier den entscheidenden Fingerzeig. Die Idee der Glückseligkeit ist zwar nicht das Prinzip der Sittlichkeit, dennoch ist das Streben nach Glückseligkeit der notwendige Wunsch jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens (KpV A 45). Daß sich hier eine unendliche Aussicht eröffnet, ohne die das moralische Handeln sinnlos wäre, ändert nichts an der Tatsache, daß der Kontrast zwischen der Enge des Charakters als Ursprung meines Handelns und der Glückseligkeit als dessen endgültiger Horizont, bzw. zwischen dem Gefühl der Enge und dem Gefühl des Erhabenen, sich nicht vollständig ausgleichen läßt. Ricœur sagt: »Die Ereignisse, die uns vom Glück sprechen, sind jene Ereignisse, in denen Widerstände aus dem Weg geräumt werden und damit die Aussicht auf neue Landschaften der Existenz freigeben. Der Überschuß an Sinn, das Zuviel, das Überwältigende, dies sind die Zeichen, an denen wir erkennen, daß wir uns auf die Glückseligkeit zubewegen«.55 Die einzige Möglichkeit, diese Spannung zwischen der Enge des Charakters und der Weite des Glückseligkeitsstrebens mindestens partiell auszugleichen, besteht, Ricœur zufolge, in der Person als Gegenstand der Achtung. Die Achtung, das sittliche Grundgefühl bei Kant, liefert uns ein striktes Analogon zur Funktion der transzendentalen Einbildungskraft auf der Ebene des Erkennens. Jeder Mensch als partikulares Individuum hat einen eigensinnigen Charakter, der als solcher verächtlich ist. Dennoch ist er eine Person, deren Menschenwürde als solche Achtung verdient und mir verbietet, sich mir ihrer als bloßen Mittels zur Erreichung bestimmter Zwecke zu bedienen. In diesem Punkt trifft sich Ricœurs Deutung mit Heideggers Interpretation der 54 55
Ebd., 75. Ebd., 85 f.
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personalitas moralis, als eigentlicher Antwort auf die Frage nach dem ontologischen Status des Selbst.56 Aber auch hier gilt es, sich der Brüchigkeit dieser Vermittlung bewußt zu bleiben. Von Kant her gesehen, stehen wir hier an der Schwelle, wo der Übergang von der Frage: »Was soll ich tun?« zur Frage: »Was darf ich hoffen?« unumgänglich wird. Diese Schwelle überschreitet Ricœur noch nicht in seiner Anthropologie der Fehlbarkeit. Bedeutet das, daß er diese ›religiöse‹ Frage zugunsten der ›anthropologischen‹ Frage: »Was ist der Mensch?« ausblendet? Ich glaube nicht. Vielmehr haben wir es mit einer eigentümlichen Verzögerungstaktik zu tun, die mit Ricœurs These zusammenhängt, daß Kant nicht genügend zwischen dem transzendentalen Begriff der Fehlbarkeit und dem empirischen Begriff der Verfehlung unterscheide. Auf diese Weise schlage ich vor, den dritten Teil von L’homme faillible zu verstehen, der um das Motiv der Zwiespältigkeit des Menschenherzens kreist. Das biblische und urmenschliche Symbol des Herzens lädt uns dazu ein, den Überschritt vom Selbstbewußtsein als Person und als Gegenstand der Achtung zum Selbstgefühl Schritt für Schritt zu vollziehen, um zu zeigen, inwiefern das Selbstgefühl den eigentlichen Sitz im Leben aller Fehlbarkeit bildet. In einem ersten Schritt verlangt das, die spezifische Intentionalität der Gefühle zu klären, die paradoxerweise das Objektivste und das Subjektivste am Menschen sind. Gefühle ›überfallen‹ uns wie ein Wegelagerer, und zugleich legen sie unser wahres Wesen schonungslos offen. Damit stehen wir vor dem Paradox einer Intention, die zugleich eine Affektion ist.57 Hier zeigen sich auch die Grenzen jeder Wertphilosophie. Zwar haben alle Wertungen ihren Grund in Gefühlen; das bedeutet aber nicht, daß die Gefühle sich automatisch in das auflösen, was Charles Taylor ›starke Bewertungen‹ nennt. Ricœurs an Maine de Birans Formel: »homo simplex in vitalitate, duplex in humanitate« anknüpfende Überlegungen versuchen den Boden für eine Neubesinnung auf die alten Traktate der menschlichen Leidenschaften freizulegen. Dazu ist zunächst erfordert, daß man im Gegensatz von ›Lust‹ und ›Glück‹ einen dritten Ausdruck der Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit entdeckt. Dieser Gegensatz begründet die Unterscheidung zweier Haupttypen der Gefühle. Einerseits finden wir psychologische Überlegungen zur Rolle der 56 57
Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, 185–218. Ricœur: Philosophie de la volonté 2, 105.
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Gefühle im Gleichgewicht des Lebens. Gut gestimmt sein oder Trübseligkeit, bis hin zu den pathologischen Erscheinungen der Melancholie, sind Grundmöglichkeiten des menschlichen Lebens, die heutzutage einen ganzen Industriezweig ernährt, der sich mit der Herstellung von Psychopharmaka beschäftigt. Läßt man sich von der alten Bestimmung der eÙdaimoni´ a als ›geglücktes Leben‹ oder ›gutes Leben‹ leiten, dann rücken die ›geistigen‹ und ›ontologischen‹ Gefühle, wie das Zusammengehörigkeitsgefühl (coesse) oder das Gefühl der Teilhabe (inesse) am Reich der schöpferischen Kulturwerte in den Vordergrund. In der Annahme, daß es spezifische ontologische Stimmungen gibt, in denen gleichsam die »Stimme des Seins« selbst vernehmbar wird, geht Ricœur mit Heidegger einig. Im Unterschied zu Heideggers Analytik der Endlichkeit weigert er sich allerdings, diese Stimmungen insgesamt in der ›Sorge‹ zu verwurzeln. In seiner Anthropologie der Fehlbarkeit läßt sich die Polarität von Menschenherz und Sorge nicht überwinden. Dementsprechend läßt sich auch die Vorrangstellung der ›Angst‹ als Grundbefindlichkeit bei Heidegger nicht aufrechterhalten. Ricœur sagt: »Ist das Sein das, was die Seienden nicht sind, dann ist die Angst die Grundstimmung der ontologischen Differenz. Dennoch ist es die Freude, die bezeugt, daß wir in Verbindung mit dieser Abwesenheit des Seins gegenüber den Seienden bleiben. Deshalb bezeichnet die geistige Freude, der amor intellectualis, die Glückseligkeit, von der Descartes, Spinoza und Malebranche sprechen, unter verschiedenen Namen die einzige affektive ›Stimmung‹, die es verdient, ontologisch genannt zu werden. Die Angst ist nur deren Rückseite in Form der Abwesenheit und des Abstands«.58 Spätestens hier, im Gefühlsbereich, verdient die Disproportion den Namen des Konflikts, wodurch der Mensch aufgrund seiner Wesensverfassung als ein Konfliktwesen erscheint. Diese These entwickelt Ricœur unter Rückgriff auf Kants Analyse der drei grundmenschlichen Leidenschaften der Herrschsucht, der Habsucht und der Ehrsucht. Allerdings ist die Blickrichtung seiner Darstellung eine andere als die Kants: Während bei Kant das ›pathologische‹ Moment der ›Sucht‹ und der tatsächlichen Verfehlung im Vordergrund steht, bemüht sich Ricœur nachzuweisen, daß Herrschsucht, Habsucht und Ehrsucht Ausdruck eines authentischen und urmenschlichen Suchens sind, das nicht unbedingt als Sucht im Zeichen der Verschuldung verstanden wer58
Ebd., 122.
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den muß. Nur in einer manichäischen Weltansicht sind die Herrschaft als solche, der Besitz als solcher, Ehre und Ruhm als solche verwerflich und verderblich. Die ethisch-politischen Konsequenzen dieser These liegen auf der Hand. Die unzähligen Machtmißbräuche verhindern nicht, daß das Zusammenleben der Menschen durch Herrschaftsverhältnisse bestimmt ist. Auch wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse mehr als einmal im Zeichen der Ausbeutung und der Profitgier erscheinen, bzw. dessen was Viviane Forrester vor kurzem als wirtschaftlichen Horror bezeichnet hat, so ist die Arbeit und das Streben nach Besitz nicht von vornherein verwerflich. Dies gilt auch für die Sphäre der öffentlichen Anerkennung und Betätigung. Nicht alle ›Öffentlichkeitsarbeit‹ ist der Ausdruck einer pathologischen Geltungssucht. Sie kann auch eine Gelegenheit liefern, »von der Gunst der Anerkennung anderer zu leben«.59 Gerade in diesem dritten Bereich ist die menschliche Verletzlichkeit am deutlichsten spürbar. Das authentische Streben nach Anerkennung kann sich jederzeit in sein Gegenteil umkehren: die Abhängigkeit vom Bild, das andere sich von mir machen, oder vom Urteil, das sie über mich fällen. Im Grenzfall bin ich selbst dann, in Ricœurs Augen, nichts anders als ein »Satz des Andern«, was in etwa Heideggers »Diktatur des Man« entspräche.60 Kant bleibt auch in der Art und Weise Ricœurs Wegbegleiter, wie er den Begriff der Fehlbarkeit anhand der Kantischen Kategorien der Qualität: Realität, Negation und Beschränktheit bestimmt. Die Realität der Fehlbarkeit wurzelt in dem, was Nabert ›Urbejahung‹ nennt, und die sich in der dreifachen Gestalt der Unendlichkeit des Sprechens, dem Streben nach Glückseligkeit und dem Glücksgefühl widerspiegelt. Der Kategorie der Negation entspricht die existentielle Differenz in Gestalt der Perspektivität der Wahrnehmung, der Einseitigkeit des Charakters und der Punktualität der Lustgefühle. Die dritte Kategorie drückt die Fragilität der vermittelnden Instanzen aus: Einbildungskraft, Achtung, Leidenschaft: »Das Sich-verfehlen-können besteht in der Fragilität der Vermittlung, die der Mensch im Objekt, in der Idee, die er sich von der Menschlichkeit macht, und im eigenen Herzen herstellt«:61 Diese Schlußthese, in die Ricœurs Anthropologie der Fehlbarkeit ausmündet, liefert 59 60 61
Ebd., 137. Ebd.; Heidegger: Sein und Zeit,126. Ricœur: Philosophie de la volonté 2, 157.
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uns nicht nur eine Replik zu Heideggers »Metaphysik des Daseins«, sie lädt uns auch dazu ein, mit und gegen Kant die Frage nach dem radikal Bösen neu zu entfalten und ineins damit die Frage: »Was darf ich hoffen?« als Leitfrage einer kritischen Religionsphilosophie neu in Angriff zu nehmen.
4. Freiheit im Horizont der Hoffnung: ein neuer Zugang zu Kants Religionsphilosophie Ich begnüge mich mit einigen knappen Hinweisen. In seinen Überlegungen zu Kants Freiheitsbegriff betont Alexis Philonenko die Bedeutung von Ricœurs Beitrag zu einem vertieften Verständnis dieser Problematik. Für unsere Überlegungen ist der Aufsatz mit dem Titel La liberté selon l’espérance besonders aufschlußreich, sofern Ricœur gerade hier die Frage nach der »Qualität der Freiheit, die das religiöse Phänomen als solches auszeichnet«, aufwirft.62 Bezeichnenderweise entfaltet er diesen Begriff der »Freiheit im Horizont der Hoffnung« im Ausgang von Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, wobei er allerdings betont, daß es sich um einen Kantianismus handelt, der »paradoxerweise nicht in einer einfachen Wiederholung von Kants Thesen besteht, sondern erst noch zu erfinden ist.« In diesem Zusammenhang beruft er sich auf Eric Weils Formulierung eines »nachhegelschen Kantianismus«.63 Im Durchgang durch die Dialektik der reinen und praktischen Vernunft und die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft weist er nach, wie der Begriff der Freiheit sich zunehmend vertieft und immer stärker ins »Licht der Hoffnung« rückt. Gegenüber Hegel vertritt er mit Kant eine »Philosophie der Grenzen, die gleichzeitig eine praktische Verpflichtung der Totalisierung ist« und die uns somit die »engste philosophische Approximation der Freiheit im Sinne der Hoffnung« liefert. Auch wenn es sich um eine Gelegenheitsschrift handelt, so darf man diesen Aufsatz dennoch als missing link betrachten, der zeigt, daß Ricœur, im Gegensatz zu Heidegger, der Kantischen Frage: »Was darf ich hoffen?« nicht aus dem Wege gegangen ist. Ricœur selbst bekennt in Réflexion faite, daß er das Thema der Disproportion und der Fehlbarkeit in dieser Form nicht weiterverfolgt hat. Zugleich 62 63
Ricœur: La liberté selon l’espérance. In: Le conflit des interprétations, 393. Ricœur: Le conflit des interprétations, 403.
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aber unterstreicht er, daß der Sinn für die Fragilität alles Menschlichen ein Grundmotiv seines Denkens bildet und ihn besonders im Hinblick auf die politischen Gestalten des Übels ständig in Atem hält. So verstanden enthält L’homme faillible bereits den Keim einer Ethik, die allerdings erst in Soimême zum Tragen kommt.64 Von hier aus wäre zu fragen, inwiefern die drei Grundgestalten der Passivität-Alterität, die Ricœur im 10. Kapitel von Das Selbst als ein Anderer entfaltet, nämlich der Eigenleib, der ›Andere‹ im Sinne von Levinas und das Gewissen als Erscheinungen der Fehlbarkeit in gewandelter Gestalt erscheinen. Ricœurs Auseinandersetzung mit Kants Versuch über das radikal Böse ist auf weiten Strecken von Karl Jaspers bestimmt – und noch stärker von Jean Naberts Essai sur le mal, der um den Begriff des ›injustifiable‹ (das Nichtzurechtfertigende) kreist. Seine eigene »Symbolik des Bösen«, in der er den Überschritt von der Fehlbarkeit zur tatsächlichen Verfehlung vollzieht, kann auch als eine Auseinandersetzung mit Kant und den Grenzen einer rein moralischen Behandlung des Problems des Bösen verstanden werden. Im Schlußteil der Symbolik des Bösen findet man folgende lakonische Bemerkung: »Lachelier hat Recht: Die Philosophie kann alles verstehen, selbst auch die Religion«.65 Damit bekennt Ricœur sich ausdrücklich zur Möglichkeit einer Religionsphilosophie, auch wenn er keinen entsprechenden Traktat unter diesem Namen veröffentlicht hat. Es ist Aufgabe des Interpreten, aus den Einzeluntersuchungen, die Ricœur zu diesem Thema veröffentlicht hat, mühsam das Bild einer hermeneutischen Religionsphilosophie more gallico demonstrata zu rekonstruieren. Das Schlußkapitel meines Ricœurbuches ist diesem Versuch gewidmet, den ich unter anderen Gesichtspunkten auch im Schlußteil des dritten Bandes meiner Religionsphilosophie wieder aufgreifen werde. In einem vor einigen Wochen mit Ricœur geführten Gespräch wurde mir klar, wie gewagt dieser Versuch ist. Ein Punkt scheint mir allerdings unbestreitbar zu sein, und mit ihm möchte ich meine Analyse abschließen: Ricœurs wichtigen Aufsatz über Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, der kurz nach Das Selbst als ein Anderer erschienen ist, sollte man nicht nur als eine originelle Textinterpretation lesen, deren roter Faden die Idee einer »philosophischen Hermeneutik der Hoffnung« bildet, sondern 64 65
Vgl. Ricœur: Soi-même comme un autre; dt. Das Selbst als ein Anderer. Philosophie de la volonté 2, 480.
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auch als einen Versuch der Selbstverständigung: wenn Ricœur im radikal Bösen »das primum movens der Religion bei Kant« entdeckt, dann bestimmt er damit zugleich die Grundvoraussetzung seiner eigenen religionsphilosophischen Arbeiten, die man deshalb im Lichte von Kants dritter Grundfrage der Vernunft: »Was darf ich hoffen?« lesen sollte.66 Ricœur kennzeichnet Kants Unterfangen als »Versuch einer philosophischen Rechtfertigung der Hoffnung, ausgehend von einer philosophischen Auslegung der Symbolik des Bösen, und des Textes der Vorstellungen, der Glaubensformen und der Institutionen, die das Religiöse als solches umgrenzen«.67 Ich schlage vor, diese Kennzeichnung als eine Art Visitenkarte von Ricœurs eigener hermeneutischen Religionsphilosophie zu lesen. Dies bestätigen auch die drei Grundthesen, in die Ricœurs Textinterpretation ausmündet. Die erste These geht davon aus, daß die Philosophie eine Hermeneutik der Religion benötigt, insofern die Hauptthemen der Religion außerhalb des Bezirks der Philosophie angesiedelt sind: »die Undurchschaubarkeit des Bösen, der Ursprung der Christusvorstellung in unserem Herzen, das gläubige Bekenntnis zum ›Umsomehr‹ der Gnade; schließlich das Bestehen einer Institution, die dem Reich Gottes auf Erden eine Sichtbarkeit verleiht«.68 Die zweite These rekurriert auf die mögliche Komplementarität zwischen den kritischen Ansprüchen der Vernunft und den neuinterpretierten Glaubensinhalten. Eine kritiklose Interpretation der Religion ist ein Unding, weil jederzeit die Wahrheit der religiösen Haltung aus den Fesseln des radikal Bösen befreit werden muß, das sich im religiösen Bereich in der Gestalt des Afterdienstes zeigt. Die dritte These betont den Unterschied zwischen den zwei ersten Fragen Kants, die in den Bereich einer Kritik der reinen und der praktischen Vernunft gehören, und einer Hermeneutik der Religion, deren einziges Ziel darin besteht, ein Verständnis der Hoffnung zu begründen, in der diese als einzigartige Replik auf das Eingeständnis des radikal Bösen erscheint. Wenn man bedenkt, daß Ricœurs erste Beschäftigung mit dem Problem des Bösen ihren Ausgang mit einer Phänomenologie des Schuldbekenntnisses nimmt, dann versteht man noch besser, daß seine Lektüre der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zugleich als ein Plädoyer pro domo 66 67 68
Ricœur: Une herméneutique philosophique de la religion: Kant, 20. Ebd. Ebd., 40.
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und als Einladung verstanden werden kann, die Frage: »Was darf ich hoffen?« wieder in Angriff zu nehmen. Diese Interpretation wirft auch ein neues Licht auf die Frage: »Was ist der Mensch?« Auch und gerade in religiöser Hinsicht darf sich der Mensch nicht als unfähiges, sondern als fähiges Subjekt, als »sujet capable« verstehen.69
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Ricœur: Le destinataire de la religion: l’homme capable.
Kants Metaphysik und Religionsphilosophie in spanischen Arbeiten von Mario Caimi
1. Einleitung
Kants Metaphysik und Religionsphilosophie hat in den romanischen Ländern große Wirkungen entfaltet. Wir werden in der vorliegenden Untersuchung den metaphysischen Interpretationen der Philosophie Kants in spanischen Untersuchungen besondere Aufmerksamkeit schenken. Die hochentwickelte Kantforschung in französischer und italienischer Sprache sowie die bedeutenden Arbeiten, die in Portugal und in Brasilien der Kantischen Philosophie gewidmet sind, werden wir nur kurz behandeln.1 Obwohl es auch spanische Arbeiten gibt, in denen die praktische Metaphysik behandelt wird,2 möchten wir uns zudem auf die selteneren Arbeiten beschränken, die sich der theoretischen Philosophie und der speziellen Metaphysik widmen. Unter der »metaphysischen Deutung der Kantischen Philosophie« verstehen wir jene hermeneutische Strömung, die 1898 zunächst von Friedrich Paulsen eingeleitet wurde,3 die dann aber mit den Büchern von Max Wundt (1924) und Martin Heidegger (1929) ihren Höhepunkt erreichte. Nach dieser Auslegung, die sich zunächst mühsam gegen die neukantianische Kantinterpretation behaupten mußte, beschränken sich die philosophischen Absichten Kants in seinen theoretischen Schriften nicht auf die Grundlegung der physiko-mathematischen Wissenschaften, sondern zielen vielmehr auch auf die Begründung und auf den Aufbau einer kritischen Metaphysik, welche frei Exemplarisch stehen in der vorliegenden Publikation die Beiträge von Greisch und Esposito für diese Wirkung. 2 Zur praktischen Metaphysik Kants vgl. Fischer; Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Zur Grundlegung von Kants spezieller Metaphysik vgl. Fischer: Die Transzendenz in der Transzendentalphilosophie. 3 Vgl. Paulsen: Immanuel Kant. Funke: Die Wendung zur Metaphysik im Neukantianismus des 20. Jahrhunderts. 1
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sein sollte sowohl von dem blinden Vertrauen der dogmatischen Vernunft, als auch vom ebenso blinden Mißtrauen des gleichfalls dogmatischen Skeptizismus. Während sich die metaphysische Deutung der Kantischen Philosophie in Deutschland also zunächst mühsam gegen die herrschende neukantianische Auffassung behaupten mußte, durfte sie sich in Spanien von vornherein verhältnismäßig frei entwickeln, weil der Neukantianismus seine vorherrschende Stellung schon verloren hatte, als in Spanien die Studien ausgearbeitet wurden, die wir hier vorstellen und behandeln möchten. Das leichtere Spiel der metaphysischen Kantinterpretation in spanischer Sprache folgt aus der geschichtlichen Tatsache, daß sich der Kantianismus in Spanien ziemlich spät entwickelt hat. Gewiß finden wir einigen indirekten Einfluß Kants durch Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832), der auf den spanischen Philosophen Julián Sanz del Río (1814 –1869) sowie auf dessen Schüler Francisco Giner de los Ríos (1839 –1915) gewirkt hat. Aber der trostlose Bericht über die spanische Kantforschung, den Lutoslawski 1897 in den Kant-Studien veröffentlicht hat,4 zeigt, daß die spanischsprechende philosophische Gemeinschaft die Philosophie Kants erst sehr spät rezipiert hat.5 Gleichwohl finden wir schon 1877 unter den ersten Kantübersetzungen ins Spanische die indirekte, aus dem Französischen übersetzte Version der Vorlesungen über die Metaphysik (die sog. Metaphysik Pölitz): Metafísica. Lecciones publicadas en alemán por M. Poelitz.6 Schon 1873 gab es eine ebenfalls indirekte Übersetzung des ersten Teils der Metaphysik der Sitten: Principios metafísicos del derecho.7 Das Interesse für die Kantische Metaphysik scheint somit auch den zeitlichen Vorrang vor den anderen Aspekten der kritischen Philosophie gehabt zu haben. Es hat zumindest im editorischen Bereich auch die Rezeptionsgeschichte bestimmt (die Kritik der reinen Vernunft wurde erstmals 1883, und selbst dann noch unvollständig ins Spanische überVgl. Lutoslawski: Kant in Spanien. Martin Honecker erwägt als möglichen Grund dafür die »heftige Gegnerschaft«, die dem Kantianismus in Spanien von Seite der Katholischen Philosophen erwuchs »und zwar nicht erst nach der Indizierung der Kritik der reinen Vernunft (1827)«. Vgl. dazu Honecker: Immanuel Kants Philosophie in den romanischen Ländern, 142. 6 Aus dem Französischen von Juan Uña, Madrid: editorial Iravedra y Novo, 1877; nach Dulce María Granja Castro: Kant en español, 41. 7 Aus dem Französischen von Gabino Lizárraga. Madrid: editorial Victoriano Suárez, 1873; nach Granja Castro: Kant en español, 33. 4 5
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setzt).8 Das verhältnismäßig frühe Interesse für die Kantische Metaphysik, das sich in den Besonderheiten der Rezeptionsgeschichte dokumentiert und ihre weitere Entwicklung bestimmt hat, ändert aber nichts an der Tatsache, daß eine gründliche Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie im spanischsprechenden Bereich erst recht spät begann. Eine sachgemäße Beschäftigung mit Kants Denken findet in Spanien erst seit 1970 statt.9 Solche Verzögerung hatte auch eine positive Folge: der spanische Kantianismus, insbesondere die metaphysische Interpretation der Kantischen Philosophie, konnte sich nämlich frei von den Engführungen der neukantianischen Kantauffassung entwickeln, die am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa vorherrschte. Die spanischen Forscher konnten sich ungehindert der Bearbeitung von Themen widmen, für die sonst eine schwierige und mühsame Rechtfertigung vonnöten gewesen wäre. Auf dieser Weise läßt sich etwa die Vorliebe für die rationale Theologie erklären, die in den neueren Studien zur Kantischen Philosophie in Spanien festzustellen ist. Ungefähr seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zeichnet sich in den spanischsprechenden Ländern ein schnelles quantitatives Wachstum der Arbeiten über Kantische Philosophie ab. Die Mehrzahl dieser Schriften nimmt Fragen der Theologie bzw. überhaupt der Metaphysik zum Thema. Das möchte von kulturellen bzw. von geschichtlichen Umständen abhängen. Wie es auch immer sei, stellen die Monographien in spanischer Sprache eine eigenartige Entwicklung dar. Ihre Verfasser erforschen die metaphysischen, insbesondere die theologischen Fragen mit bemerkenswerter Originalität, gliedern sich dabei aber ohne Bruch in die Tradition der Kantforschung ein.
Vgl. Granja Castro: Kant en español, 29. Vgl. Molinuevo: La recepción de Kant en España, 99. Zur Kantforschung in Spanien in den sechzigen Jahren vgl. Falgueras: Kant en la filosofía española de los años sesenta (1960 –1970). Falgueras zieht die Arbeiten von Xavier Zubiri, von Antonio Millán Puelles und von Leonardo Polo in Betrachtung, in denen zwar Darstellungen der Kantischen Philosophie vorkommen, aber keine metaphysische Kantinterpretation getrieben wird. 8 9
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2. Das zu betrachtende Corpus
Die Reihe der erwähnten Werke beansprucht keine Vollständigkeit.10 Zudem haben wir die Schriften mehr oder weniger willkürlich in drei Gruppen eingeteilt. Die Absicht, die uns bei der Zusammenstellung geleitet hat, ist es dennoch, ein erhellendes Muster zu Anzahl und Vielfältigkeit der Arbeiten in spanischer Sprache vorzulegen, die sich mit der Kantischen Metaphysik beschäftigen. In die erste Gruppe setzten wir die Schriften, die sich auf die Kantische Philosophie im Ganzen beziehen und sie als Begründung einer Metaphysik auffassen. Der zweiten Gruppe gehören diejenigen Arbeiten an, die sich mit Themen der speziellen Metaphysik befassen. Endlich erwähnen wir in der dritten Gruppe einige Schriften über praktische Metaphysik. a) Metaphysische Kantinterpretation In der Kant-Bibliographie von Dulce María Granja Castro finden wir metaphysische Deutungen der Kantischen Philosophie und Werke, die sich auf Motive der allgemeinen Metaphysik in der Philosophie Kants beziehen. Dazu gehören in alphabetischer Folge die Werke von José Aleu Benítez (1970: zum Weg von Kant bis Marechal); von Silvia Bakirdjian de Hahn (zu Kant und Levinas; über die Unmöglichkeit einer theoretischen Metaphysik; 1981); zwei Arbeiten von Mario Caimi (über Kants Metaphysik; 1990; 1992); von Julián Carvajal Cordón (zur Begründung der Metaphysik nach Kant; 1985); von Alberto Constante (zur Wiederholung der Kantischen Begründung der Metaphysik; 1987); von Salvador de Broca i Tella (zur Metaphysik bei Kant; 1981); von Lourdes Flamarique Zarategui (zu zwei Momenten der Metaphysik in Kants Kritizismus; 1993); von José Gómez Caffarena (zur transzendentalen Metaphysik; 1970); von José Gómez Caffarena (Bemerkungen über Phaenomenon und Noumenon; 1967); von Juliana González (zu Kants Weg vom Transzendenten zum Transzendentalen; 1982– 1987); von G. Guzmán (zu Kant und dem Problem von Heideggers Metaphysik; 1987); von Guillermo Hoyos Vázquez (zur Grundhypothese in Heideggers Kantdeutung; 1983); von C. A. Iturralde Colombes (zu Kants Lehre vom Ding an sich; 1965); von Originaltitel und bibliographische Angaben stehen im abschließenden Literaturverzeichnis. 10
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Alejandro Llano Cifuentes (zu Erscheinung und Transzendenz; 1971 und 1973); von José López Hernández (zu Kants Metaphysik; 1985); von Milagros Manuela Mier Gutiérrez (zu Wissenschaft und Metaphysik bei Kant; 1978); von P. Oyanerer Jara (zur Möglichkeit einer Metaphysik bei Kant; 1982); von Encarnación Pesquero Franco (zu Kants Reform des metaphysischen Wissens; 1985); von F. Riu (zu Kritik und Metaphysik bei Kant; 1982); von Jacinto Rivera de Rosales Chacón (zur Wirklichkeit an sich bei Kant; 1988; zum Anfangspunkt der transzendentalen Metaphysik; 1993); Juan J. Rodríguez Rosado (Frage nach einer Krise der Metaphysik; 1974); von José M. Rubio Ferreres (zu einer Kantischen Begründung der Heideggerschen Metaphysik der Kehre; 1984); Mercedes Torrevejano Parra (zur transzendentalen Dialektik als Kritik der Metaphysik; 1982). b) Werke zur speziellen Metaphysik Ebenso zahlreich sind in der genannten Bibliographie die Werke, die von Themen der speziellen Metaphysik handeln. Zu nennen sind insbesondere: von Ana Maria Andaluz Romanillos (zur Zweckmäßigkeit der Natur bei Kant; 1990); von J. E. Blanco (zu Ursprung und Entwicklung von Kants theologischen Ideen; 1992); von Mario Caimi (zu metaphysischen Motiven in der Kritik der teleologischen Urteilskraft; 1993); von Adela Cortina Orts (über Gott in Kants Transzendentalphilosophie; 1978 und zweimal 1981); von Félix Duque Pajuelo (zu Kausalität und Teleologie bei Kant; 1989); von Arturo García Astrada (zur Wurzel der Endlichkeit in Kants Philosophie; 1983); Sebastián García Navarro (zum Gottesproblem bei Kant; 1964); von Luis F. García Onrubia (zur Entwicklungsgeschichte der transzendentalen Psychologie in der Kritik der reinen Vernunft; 1945); von José Gómez Caffarena (zu Kants Vernunftglaube, zu seinem moralischem Theismus und seiner Religionsphilosophie; 1981; 1984, 1991, zweimal 1992 und zweimal 1994); von J.M. Junoy García Viedma (zum Vernunftglauben und dem metaphysischen Wissen in Kants kritischer Philosophie; 1973); von Jacobo Kogan (zu Kunst und Metaphysik bei Kant; 1965 und 1969); von Francisco Lombardi (zum Gott der Philosophen und dem lebendigen Gott; 1960); von F. Longas Uranga (zur Theologie und Philosophie vereinigenden Vernunft bei Kant; 1992); von Antonio López Molina (zu Kontingenz und Teleologie bei Kant; 1992); von José Martínez Martínez (zu Freiheit, Seele und Gott in der Kritik der reinen Vernunft; 1987); von Carlos Másmela (zu metaphysischen Voraussetzungen
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in der Kritik der reinen Vernunft; 1996); von José Miguel Odero (zu Kants Interpretation des christlichen Glaubens; 1992, 1993); von Sergio Rábade Romeo (zu den Ideen und dem Ideal der Vernunft bei Kant; 1981); von Jacinto Rivera de Rosales Chacón (zu einer transzendentalen Überlegung über das Göttliche; 1993); von Roberto Rodríguez Aramayo (zur Gottesfrage bei Kant: Postulat und Hypothese; 1986); von Mariano Rodríguez González (zur Metaphysik der Naturzweckmäßigkeit: Kant, Schopenhauer, Nietzsche; 1994); Rogelio Rovira Madrid (zu Ethikotheologie und Vernunftglauben; 1985 und 1986). c) Werke zur praktischen Metaphysik Endlich finden sich Arbeiten, die sich mit der praktischen Metaphysik befassen. Wir haben schon erklärt, daß wir uns nicht ausführlich mit diesen Werken beschäftigen werden. Wir werden uns darauf beschränken, hier nur die wenigen folgenden von ihnen zu erwähnen: von José Aleu Benítez (zur Freiheit bei Kant; 1987); von Carlos Astrada (zur formalen Ethik und den Werten; 1938); von Isabel Cabrera (zum Verhältnis von Religion und Moral; 1993); von José L. del Barco Collazos (zu Kants Metaphysik der Postulate; 1988); von José del Río (zur Frage nach der Möglichkeit der Freiheit in Kants praktischer Philosophie; 1987); von Julia Valentina Iribarne (zur Freiheit bei Kant; 1981); von Carlos Iturralde Colombes (zur Freiheit und zu Kants Postulaten der praktischen Vernunft; 1961); von Alejandro Korn (zur schöpferischen Freiheit; 1922); von Oswaldo Market (zur Frage der Freiheit bei Kant; 1960); von Francisco Miró Quesada (zu Kants Theorie der Freiheit; 1944); von Fernando Montero Moliner (zur Begründung der moralischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft; 1989); von Carlos Pereyra (zu Freiheit und Notwendigkeit bei Kant; 1982–1987); von F.G. Ríos (zum Problem der Freiheit in Kants Philosophie; 1942); von Ramón Rodríguez García zur praktischen Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft; 1981); von Rogelio Rovira Madrid (zu Kants moralischem Katechismus; 1986). Die Arbeiten in diesem dreigliedrig aufgeführten Corpus sind von sehr unterschiedlicher Qualität. Natürlich können wir sie hier nicht alle in nähere Betrachtung ziehen. Deswegen werden wir einige von ihnen und zwar diejenigen zur Darstellung auswählen, die uns besonders repräsentativ erscheinen; sie dürften dem Leser dieser Seiten ein Bild davon verschaffen, was er zu erwarten hat, wenn er sich auf die erwähnte Literatur einläßt.
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3. Darstellung einzelner Werke
a) Metaphysische Interpretationen des transzendentalen Idealismus als eines Ganzen Wir wollen zunächst einige von jenen Werken betrachten, in denen die Philosophie Kants als das Streben nach der Begründung einer kritischen Metaphysik angesehen wird. a) Mercedes Torrevejano: Metaphysik als analogisches und symbolisches Wissen. In ihrer kurzen Abhandlung von 1982 untersucht Mercedes Torrevejano,
Professorin für Philosophie an der Universität zu Valencia, Spanien, den Kantischen Begriff der Metaphysik und seine mannigfachen Bedeutungen.11 Sie deutet die Aufgabe der transzendentalen Dialektik als die Begründung und Bewahrung von einem legitimen metaphysischen Wissen aus. Die Kritik der dogmatischen Metaphysik zielt laut ihrer Interpretation auf den Aufbau einer kritischen Metaphysik (16 f.): »Kant übernimmt eine Kritik der Vernunft in der Absicht, Möglichkeit und Grenzen der Metaphysik zu begründen.« Der Begriff der Metaphysik läßt laut Torrevejano mehrere Deutungen zu; erstens ist Metaphysik ein »reines Wissen von übersinnlichen Gegenständen« (17). Mercedes Torrevejano spielt auf Kants Fortschritte der Metaphysik an, wenn sie schreibt, daß hier der Grundsinn des Metaphysikbegriffs liegt, auf den alle übrige Auffassungen dieses Begriffs aufgebaut sind. Zweitens wird die Metaphysik als Transzendentalphilosophie bzw. als kritische Ontologie verstanden; drittens versteht sie Metaphysik als ein »praktisch-dogmatisches Wissen über Freiheit, Gott und Unsterblichkeit« (28). In einem vierten Sinn wird unter Metaphysik aus systematischer bzw. architektonischer Sicht schließlich der Inbegriff von Erkenntnissen und eine Wissenschaft verstanden, die sämtliche Erkenntnisse den wesentlichen Zwecken der Vernunft unterordnet (33). Die transzendentale Dialektik enthält nicht bloß eine Ablehnung der dogmatischen Metaphysik, Kant unternimmt in ihr auch die »Verdeutlichung des spekulativen Interesses der Vernunft« (40). Das führt zum symbolischen und Razón y metafísica en Kant. Sentido de la dialéctica trascendental como crítica de la metafísica. [Vernunft und Metaphysik bei Kant. Die transzendentale Dialektik als Kritik der Metaphysik]. Alle Zitate aus spanischen Werken sind vom Vf. übersetzt. 11
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analogischen Gebrauch der Ideen. Von den Gegenständen der Ideen dürfen wir eine suppositio relativa aufstellen. Kraft dieser relativen Annahme denken wir den Gegenstand der Idee durch ein Symbol und bestimmen wir (in Analogie mit anderen innerweltlichen Verhältnissen) sein Verhältnis auf Gegenstände der Erfahrung. Die Erfahrungsgegenstände erhalten dadurch eine weitere Bedeutung, indem sie in Beziehung auf das Übersinnliche gedacht werden. Darüber hinaus dient die Kritik der Metaphysik zur Verhütung solcher Problemverleugnungen, durch welche die Fragen der Vernunft übereilt entschieden werden. Die Kritik zeigt also zum Beispiel zwar die Unmöglichkeit eines theoretischen Gottesbeweises, sie zeigt aber zugleich die Unmöglichkeit eines Beweises dafür, daß Gott nicht ist, usw. Auf dieser Weise bewahrt die Kritik den eigentlichen Sinne der Metaphysik, der auf die in der dogmatischen Metaphysik verdorbene Möglichkeit zielt, das Unbedingte zu denken. b) Hohe wissenschaftliche Qualität erreicht José Gómez Caffarena mit seiner
Darstellung der Kantischen Philosophie. Dieser Verfasser schließt sich der metaphysischen Interpretation des transzendentalen Idealismus an. In der Einleitung seines Buchs El teísmo moral de Kant sagt er (22): »Ist also Kant ein Metaphysiker gewesen? Das auffallendste Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft scheint uns zu einer negativen Antwort auf diese Frage zu zwingen. Denn Kant behauptet, daß das Hauptstück der Metaphysik keine Wissenschaft werden kann, indem sie keine objektiv gültige synthetische Urteile a priori aufweisen kann. Das ist der Grund, weswegen man sich ein Kantbild verschafft hatte, das mit der Metaphysik unvereinbar oder ihr zumindest fremd ist. Aber um 1924 […] hat die Kantinterpretation eine Umwandlung gemacht. Heute gilt es als unleugbar, daß Kant ein Metaphysiker ist, wenn er der Metaphysik auch den Rang einer Wissenschaft nicht zuerkennt.« Den Grund für diese Umwandlung sieht Gómez Caffarena in der unleugbaren Tatsache, daß Kant sich ausdrücklich mit echten metaphysischen Fragen (wie etwa mit den Fragen nach Gott oder nach der menschlichen Freiheit) beschäftigt hat. Solche Fragen stellen keineswegs untergeordnete Probleme dar, sondern erweisen sich vielmehr als zentrale Fragen der Kantischen Philosophie. Ebenso unleugbar ist auch , daß Kants eigene philosophische Beweisführung eine Eigenart aufweist, die es unmöglich macht, sie mit denselben Maßstäben zu beurteilen, die für andere Bereiche des wissenschaftlichen Wissens gelten. Wir sind somit gezwungen, ihnen eine eigene Stellung und zwar eben den Rang einer Metaphysik einzuräumen.
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Eine nachkritische Metaphysik ist für Gómez Caffarena sehr wohl möglich, und zwar als eine solche, die den Kantischen Prämissen und kritischen Bedingungen Genüge leistet. Er sagt (23): »Die Kantische Kritik suchte nicht die Zerstörung der Metaphysik. Sie erstrebte vielmehr ihre Überprüfung, ihre Reinigung und ihre Neubegründung. […] Schon immer schwebte Kant das Projekt vor, ein System der Metaphysik zu schreiben, das den Vorbedingungen entspricht, die die Kritik aufgestellt hatte.« Die Kantische Metaphysik verzichtet also nicht auf das Unbedingte, wenn ihr auch das Absolute nur als Frage zugänglich bleibt. Sie erfüllt somit die strengen kritischen Bedingungen, ohne auf ihre eigentümliche Bestimmung zu verzichten, die sie dazu führt, das Absolute zu suchen. Gleichwohl (oder eben darum) bleibt die kritische Metaphysik auf den Menschen bezogen und drückt vor allem die Sicht vom Standpunkt des Menschen aus. Gómez Caffarena hebt diese anthropologische Seite der Kantischen Metaphysik hervor, indem er schreibt, daß die Metaphysik nur ein »Absolut von dem Menschen her« erreichen kann (24). Wir werden Gómez Caffarena auch im Zusammenhang der speziellen Metaphysik wieder treffen, denn er hat sich auch mit der transzendentalen Theologie beschäftigt. g) Jacinto Rivera de Rosales hat 1993 ein Buch über die transzendentale Metaphysik Kants veröffentlicht,12 in dem der Autor nicht an der Diskussion über das Kriterium für die Auslegung der Philosophie Kants teilnimmt, sondern stattdessen eine These über das Primat der praktischen Vernunft aufstellt. Laut Rivera de Rosales hängt nämlich die theoretische Vernunft bezüglich ihrer Möglichkeit vom metaphysischen Prinzip der Freiheit ab. Rivera de Rosales’ Auslegungen von Begriffen und Einzelheiten der Kantischen Lehre werden wohl einige Bedenken erregen. Besonders bedeutsam ist für unser Thema seine Behauptung, daß die theoretische Vernunft ihren Ursprung in einer ursprünglich freien Tat findet: »In dieser Tat der […] Freiheit hat […] auch die wissenschaftliche […] Reflexion ihren Ursprung« (274). Auf diesem ersten Grunde beruhen sowohl die Spontaneität der moralischen Handlung, als auch die Spontaneität des oberen Erkenntnisvermögens. Durch die freie moralische Tat begegnet uns eine absolute Wirklichkeit, die El punto de partida de la metafísica transcendental. Un estudio crítico de la obra kantiana [Der Anfangspunkt der transzendentalen Metaphysik. Eine kritische Betrachtung des Werkes Kants]; vgl. unsere Rezension in Kant-Studien, 89, 1998, 100 –104. 12
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ihrerseits mit der absoluten Grenze der theoretischen Erkenntnis identifiziert wird: nämlich mit dem Ding an sich. Das ist nun der Gegenstand der Metaphysik (294): »Die Realität an sich ist ein moralisches Problem und das moralische Gesetz ist die Heerstraße zur Metaphysik, ihr Ansatzpunkt.« Eine solche Metaphysik möchte Rivera de Rosales keinesweges nur als praktische, sondern vielmehr als eine theoretische Wissenschaft verstanden wissen. Am deutlichsten kommen die Thesen von Rivera de Rosales bei seiner Erklärung der Affektion zum Ausdruck. Dieses Verhältnis von Ding an sich und Erkenntnissubjekt wird von Rivera de Rosales als Selbsteinschränkung des Subjekts erklärt, durch die dieses seine eigene Endlichkeit erkennt (67): »Die intelligible Affektion ist kein Verhältnis zwischen Dingen; sie ist vor allem kein Verhältnis eines metaphysischen Dinges an sich zu einem metaphysischen Ich; auch nicht zu einem empirischen Ich mit dessen Sinnen; sondern [die Affektion] ist zuerst eine ideale Selbsteinschränkung des Ichs.« In dieser Selbsteinschränkung zeigt das Subjekt zugleich Passivität und Spontaneität; es eröffnet dadurch »ein Feld, in dem eine vom Subjekt unterschiedliche Realität zur Geltung kommen kann« (67). Diese fremde Realität lehrt das Subjekt, seine eigene Endlichkeit zu erkennen. Wir möchten den Interpretationsvorschlägen von Rivera de Rosales nicht zustimmen, sein Buch kann nichtsdestoweniger als Beispiel einer selbständigen Aneignung mancher Fragen der Kantischen Philosophie dienen. Der Verfasser kennt und bespricht ausführlich die einschlägige Literatur, was seinem Versuch, aus einem selbstständigen Standpunkt sich die Kantische Philosophie anzueignen, Festigkeit leiht. b) Abhandlungen über spezielle Metaphysik, insbesondere über transzendentale Theologie Viele Autoren spanischer Sprache haben Themen der speziellen Metaphysik erforscht. Insbesondere wird in diesem Kulturkreis die Kantische Theologie studiert. Aus den Untersuchungen, die wir anfangs genannt haben, möchten wir nun zwei Werke herausnehmen, die unseres Erachtens besonders repräsentativ sind. a) Die transzendentale Theologie nach Gómez Caffarena: Wir haben diesen
Autor im Zusammenhang der allgemeinen metaphysischen Kantinterpretation schon behandelt. Jetzt werden wir sein Buch über Kants moralischen
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Theismus in Betrachtung ziehen. Nachdem Gómez Caffarena den bekannten Passus der Kritik der reinen Vernunft angeführt hat, in dem Kant – wohl an Montaigne anspielend – sagt, er habe das Wissen aufheben müssen, »um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX) betont er, daß die Aufgabe, dem Glauben Platz zu verschaffen, für Kant keine untergeordnete Aufgabe darstellt, sondern ein fundamentales Stück des kritischen Vorhabens. Sie bildet eine der wichtigsten Leistungen der Kantischen Philosophie, denn sie begründe eine Umwälzung, die noch tiefer gehe als die Kopernikanische Wende in der Erkenntnislehre (115). Der moralische Theismus und speziell die Frage des Vernunftglaubens gewähren uns einen Einblick in einen metaphysischen Aspekt von Kants Auffassung der Vernunft: durch sie begegnet uns die »bedürftige Vernunft«, die sich nicht auf das Vermögen des Schließens und auch nicht auf das Vermögen der Ideen zurückführen läßt. Die bedürftige Vernunft ist sich ihrer Endlichkeit bewußt, »sie besteht zugleich, ihrer Beschaffenheit nach, im Streben nach der Überwindung solcher Endlichkeit« (133). Somit finden wir in der Vernunft selbst den Grund der Metaphysik. Mit dieser Interpretation meint Gómez Caffarena die echte Kantische Auffassung von der Vernunft getroffen zu haben. Die so charakterisierte Vernunft ist die menschliche Vernunft. Diese: die menschliche Vernunft ist es, die sich die Verwirklichung des höchsten Gutes vornimmt. Allerdings ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß dieses Vorhaben grundlos und chimärisch ist. Deswegen setzt der Glaube an seine Durchführbarkeit zugleich Vertrauen auf die menschliche Vernunft voraus (134): »Der Glaube an Gott […] ist zugleich und ursprünglich Glaube an den Menschen«. Die bisher vorgetragene Kantische Metaphysik gerät später in eine Krise, die sich im Opus postumum feststellen läßt. Gómez Caffarena findet im Opus postumum »die Spuren einer neuen Gottesauffassung« (143). Diese neue Auffassung wird in den Texten durch eine Umstellung gegenüber Spinoza gekennzeichnet. Ihr ist auch der Versuch eigen, das Dasein Gottes durch den Rückgriff auf das menschliche moralische Gewissen (statt auf das höchste Gut) zu beweisen. Somit wird Gott aus der Immanenz her und in der Immanenz aufgefaßt: in Ihm sind wir, in Ihm sehen wir alle Dinge. Diese Gottesauffassung bezeugt den Einfluß Spinozas. In der Tat finden wir im Opus postumum eine Bewertung der spinozistischen Philosophie. Kants Wiederentdeckung Spinozas führt Gómez Caffarena auf Kants Interesse an Lichtenberg zurück (144 f.). In
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Kants Spinozismus sieht er aber keinen Übergang zum Absoluten, sondern eher umgekehrt, anhand der Lehre Spinozas entwickelt Kant eine erweiterte Lehre des menschlichen Subjektes: die Transzendentalphilosophie legt dem menschlichen Geiste einige Eigenschaften bei, die Spinoza seinem Gott zuspricht (154). Dadurch erklärt sich der Satz Kants, der besagt (OP; AA 21,99): »Der Geist des Menschen ist Spinozens Gott«. In den Worten von Gómez Caffarena (155): »Der Mensch ist somit ein bescheidener Gott«, der wiederum den sozusagen ›echten‹ Gott voraussetzen muß, um seine eigene beschränkte Größe zu legitimieren. Der Mensch »erkennt etwas Göttliches in sich« (157). Er kann die transzendente Gottheit in ihrem An-sich-sein nicht erreichen, er kann sie nur in der Immanenz der eigenen Menschlichkeit denken. Nachdem Gómez Caffarena seine Gedanken über Kants moralischen Theismus dargestellt hat, betrachtet er den Theismus in seinem geschichtlichen und religiösen Zusammenhang. Er weist auf die Verwandtschaft von Kants Denken mit der christlichen Religiosität hin und kritisiert die Ablehnung der Kantischen Philosophie seitens des katholischen Denkens, die er für grundlos hält (230). Der Gläubige handele vielmehr nur richtig, wenn er anhand des ›Kantischen Prinzips‹ die rationale Grundlage seines Glaubens festzulegen versucht; denn die geschichtliche Religion sei mit dem Vernunftglauben sehr wohl vereinbar (234). Andererseits würdige die Kantische Religiosität die Barmherzigkeit und die Liebe Gottes nur ungenügend. Ihr fehle der Sinn für kontemplative Anbetung und vor allem fehle bei der Kantischen Religiosität die unmittelbare Verbindung des menschlichen Bewußtseins mit Gott. In diesen Hinsichten bleibe Kants Denken fern vom geschichtlichen Christentum. Soweit Gómez Caffarenas Auffassung der Kantischen Theologie, so wie seine Weiterentwicklung von Kants Denken. Wir haben sein Buch nur insofern dargestellt, als es für unser Hauptthema zweckmäsig ist; wichtige Teile des Werkes sind unberücksichtigt geblieben. b) Das bedeutende Buch von Gómez Caffarena wurde 1984 veröffentlicht.
Wenige Jahre später ist die Abhandlung eines jüngeren Autors erschienen, der mit bemerkenswerter Klarheit und Genauigkeit schreibt, nämlich das Buch von Rogelio Rovira über Kants Ethikotheologie.13 Obwohl dieses Buch sich mit Themen der praktischen Vernunft beschäftigt, behandelt es auch Teología ética. Sobre la fundamentación y construcción de una Teología racional según los principios del idealismo transcendental de Kant. [Ethikotheologie. Über die Be13
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manche Fragen, die für das Studium der theoretischen Metaphysik Kants aufschlußreich sind. Rovira widmet das vierte Kapitel ganz der Erörterung der Grundfragen der philosophischen Theologie. Er bezieht sich insbesondere auf Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre (in der Ausgabe von Beyer, Halle 1937). Der Begriff der moralischen Theologie wird dabei mit Hilfe der Analyse des Begriffes der rationalen Theologie gewonnen. Mehrere Seiten widmet er der Erörterung der theoretischen transzendentalen Theologie, der Kritik der rationalen Theologie und der Darstellung des physikotheologischen Gottesbeweises. Da dieser Beweis auf dem absolut unbedingten Interesse der Vernunft begründet ist, gewährt er uns trotz aller Einschränkungen doch einen Zugang zu der übersinnlichen Welt (168). Darauf gründet der Verfasser die Legitimität seines Versuchs, die moralischen Attribute Gottes darzustellen und zu erforschen (181–206). Aus den moralischen werden dann weitere Attribute gewonnen, die an sich nicht als moralische zu bezeichnen sind, die jedoch die Bedingungen der Möglichkeit jener moralischen Eigenschaften darstellen. Diese Attribute sind: Allwissenheit, Allmacht, Allgegenwart und Ewigkeit. Der Verfasser erkennt und benennt die Schranken dieser Art von Theologie: sie wird von einem menschlichen Standpunkt her formuliert, sie darf somit nur auf analogische Gültigkeit Anspruch erheben. Das bedeutet aber, daß die Aussagen einer solchen speziellen Metaphysik ein unvermeidliches anthropomorphisches Gepräge haben. Insofern diese Beschränkungen aber anerkannt werden, ist ihr Anthropomorphismus nicht mehr als dogmatischer, sondern als symbolischer Anthropomorphismus zu betrachten, der einen durchaus legitimen analogischen Gebrauch der Kategorien voraussetzt. Die analogische Anwendung der Kategorien auf die übersinnlichen Gegenstände erweist sich als die eigentliche Methode der Metaphysik überhaupt. Durch sie können wir eine gewisse Bestimmung des Gottesgedankens erreichen. Der Verfasser wendet diese Methode auch auf andere Fragen der speziellen Metaphysik an, wie etwa auf die Schöpfung ex nihilo oder auf die Theodizee. Das Buch von Rovira zeichnet sich durch Klarheit und wissenschaftliche Strenge aus. Wenn man auch nicht allen seinen Ergebnissen zustimmen kann, stellt es gleichwohl einen bedeutenden Beitrag zur kritischen Metaphysik dar. gründung und den Aufbau einer rationalen Theologie nach den Prinzipien des Kantischen transzendentalen Idealismus]. Vgl. unsere Rezension in Kant-Studien 79, 1988, 476–479.
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g) Zum Schluß möchte ich das umfangreiche Buch von José Miguel Odero zur Theologie des Glaubens bei Kant wenigstens erwähnen, das 1992 unter
dem Titel La fe en Kant erschienen ist. Odero spricht dem Glauben eine fundamentale Bedeutung als anthropologische Kategorie zu, er untersucht aber auch seine erkenntnistheoretischen und metaphysischen Bedeutungen. Wir werden uns auf diese Erwähnung beschränken und auf das Werk hier nicht weiter eingehen.14
4. Schlußbemerkungen
Wenn auch nachgewiesen worden ist,15 daß die Kantische Philosophie schon seit 1796 in Italien nicht unbekannt war,16 so können wir das Werk von Alfonso Testa als den eigentlichen Anfang des Kantianismus in Italien ansehen.17 Er schrieb Della Critica della ragion pura di Kant esaminata e discussa dall’abbate A. T. (drei Bände, 1843–1849). Die erste Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft ins Italienische erfolgte in den Jahren 1820–1826.18 Mit Carlo Cantoni (1840–1906) erreichte der ›Kantismo‹ dann seine endgültige Einbürgerung in Italien und fing auch seine selbständige Entwicklung an.19 Vgl. aber die Rezension von Daniel Leserre in Kant-Studien 89, 1998, 94–99. 15 Für das Folgende beziehen wir uns auf Honecker: Immanuel Kants Philosophie in den romanischen Ländern. Wir erlauben uns, auch auf unsere Arbeit La tradición kantiana hinzuweisen. 16 In den Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes, Leipzig 1796, Bd. II S. 206 berichtet der Herausgeber Ludw. Heinr. Jakob über den wohl frühesten Zeichen des Interesses für die Kantsche Philosophie in Italien. Ein gewisser Franceschini aus Vicenza habe sich nämlich an Kant gewandt, um nach Rat über die genaue Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft ins Italienische zu bitten. (Nach Honecker, a. a. O., 132). Kurz danach wurde Kant in 1798 zum auswärtigen Mitglied der Accademia Italiana di Scienze, Lettere ed Arti, in Siena ernannt; siehe dazu den Brief von der Accademia an Kant vom 4.4.1798, AA 12,239 f. 17 Als ersten italienischen Kantianer nennt Honecker den Ottavio Collechi (1773– 1847). Vgl. Honecker, a. a. O., 136. 18 Critica della ragion pura. Übersetzt von Mantovani, 8 Bde., Pavia 1820–1826 (nach Honecker, a. a. O., 133). 19 Carlo Cantoni: Emmanuelle Kant. I. La filosofia teoretica Milano, 1879; II. La filosofia pratica, 1883; III. La filosofia della religione, la Critica del giudizio e le dottrine minori, 1884. Cantoni steht unter dem Einfluß des deutschen Neukantianismus und vertritt keine metaphysische Interpretation der Kantischen Philosophie. Vgl. Honecker a. a. O., 137. 14
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Es folgten zahlreiche Interpretationen und selbständige Weiterentwicklungen der Kantischen Philosophie, die Reichtum und Tiefe der Gedanken sowie eine raffinierte Auslegungskunst aufweisen.20 Unter den neueren Arbeiten, die sich mit Fragen der Metaphysik und der Religionsphilosophie Kants befassen, ist insbesondere die kommentierte Ausgabe der Vorlesungen Kants über die Religionsphilosophie durch Costantino Esposito zu erwähnen.21 Wie sonst überall in den romanischen Ländern, waren auch in Frankreich zunächst die lateinischen Übersetzungen das Vehikel, durch das die Kantische Philosophie erst eingeführt wurde.22 Auszüge von Die Religion innerhalb der Grenzen des bloßen Vernunft wurden 1800 von Ph. Huldiger (Pseudonym für Tranchant de Laverne) übersetzt: Théorie de la pure religion morale considérée dans ses rapports avec le pur christianisme.23 Dann sind die zwar mangelhaften, aber wirkungsvollen Übersetzungen ins Französische von Cl. Jos. Tissot erschienen, darunter die Kritik der reinen Vernunft (1835) und die Vorlesungen über Metaphysik (1843). Die Einführung des philosophischen Kritizismus erfolgte durch Charles François Dominique de Villers, der schon 1798 und 1799 Aufsätze über die Kantische Philosophie in Le spectateur du Nord veröffentlichte.24 Am 12.5.1799 sandte er an Kant seine Zusammenfassung der Kritik der reinen Vernunft unter dem Namen Critique de la raison pure. Derselbe Autor veröffentlichte Philosophie de Kant ou principes fundamentaux de la philosophie transcendentale.25 Nach den Vorlesungen Siehe zu dieser Frage: La tradizione kantiana in Italia. Hrsg. von der Università di Messina. 21 Immanuel Kant: Lezioni di filosofia della religione a cura di Costantino Esposito, Napoli 1988. 22 Friedrich Gottlob Born: Kantii opera ad philosophiam criticam. 4 Bde., Leipzig 1796–1798. Neben der umfangreichen Übersetzung von Born sind bedeutenderweise solche Einzelschriften ins Latein übertragen worden, die schon im Titel den Begriff der Metaphysik tragen: Constitutio principiorum metaphysices morum. In latinum vertit M. J. C. Zwantziger, Lipsiae 1796; Prolegomena metaphysices futurae, lat. reddidit Kunhardt, Helmstädt 1797; Elementa metaphysica iuris doctrinae, latine vertit G. L. König, Amsterdam 1799 und Gotha 1800. 23 Erschienen im 2. Band von Le Conservateur ou recueil de morceaux d’histoire, de politique, de littérature et de philosophie, Paris, 1800. 24 Siehe Bernhard Braubach: Die Einführung der Kantischen Philosophie in Frankreich durch Charles de Villers. Ungedruckte Dissertation, Bonn, 1919. Angeführt von Honecker, a. a. O., S. 117, Anm. 36. 25 2 Bände; Metz und Paris 1801. Kant nahm von dem Werk von Villers Kenntnis, wie sich dem Billet vom 15.8.1801 entnehmen läßt (AA XIII, 523; vgl. dazu AA XII, 336, 20
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von Victor Cousin (gehalten zwischen 1816 und 1820) und von H. Ahrens (gehalten um 1831–1834) verbreitete sich Kants Lehre in Frankreich mit sich steigerndem Einfluß. Mit der Metaphysik haben sich intensiv Étienne Vacherot und Jules Lachelier befaßt. Auf die Religionsphilosophie bezogen sich vor allem der Berner Theologe Philipp Albert Stapfer, dann auch M. A. Vinet (1797–1847), Edmund Schérer (1815 –1889) und August Sabatier (1839 –1901). In der neueren Kantforschung sind für unser Thema besonders zu beachten die Bücher von Ferdinand Alquié,26 von François Marty27 sowie das Buch von Léo Freuler.28 Hans Vaihinger hat im dritten Band der Kantstudien über Kant in Portugal berichtet.29 Unter den neueren Autoren, die in portugiesischer Sprache zu Kants Metaphysik geschrieben haben, möchten wir erwähnen: Ernildo Stein mit einer Untersuchung zur Vorgeschichte der Fundamentalontologie Heideggers von Aristoteles bis Kant (A estratégia na formação dos conceitos da ontologia fundamental [Heidegger e a filosofia de Aristóteles a Kant]; 1992); Raul Landim Filho mit drei Arbeiten im Spannungsfeld von Idealismus und Realismus in der Ersten Philosophie im Blick auf Descartes und Kant (Idealismo ou Realismo na Filosofia Primeira de Descartes. Análise da Crítica de Kant a Descartes no IV° Paralogismo da CRP [A]; 1997; Do eu penso cartesiano ao eu penso kantiano; 1998; Juízos Predicativos e Juízos de Existência. A Propósito da Crítica Kantiana ao Argumento Ontológico Cartesiano in: Analytica; 2000); Guido Antônio de Almeida mit einer Abhandlung zu Grundfragen der Philosophie Kants, nämlich zu Kritik, Deduktion und Faktum der Vernunft (Crítica, Dedução e Facto da Razão; 1999); Zeljko Loparic mit Überlegungen zum Faktum der Vernunft (O Fato da Razão – uma Interpretação Semântica; 1999); Julio Cesar Ramos Esteves schließlich mit einem Aufsatz zur Vereinbarkeit von Natur und Freiheit in der kritischen Philosophie (Kant tinha de compatibilizar Natureza e Liberdade no interior da Filosofia crítica?; 2000). Brief 888a).: »Herrn Villers danke ich herzlich für Seine Bemühungen, um Ausbreitung einer ächten Philosophie, so wie im Voraus auch, für das mir zugesagte Exemplar Seiner gewiß recht schönen Exposition, und empfehle mich Seiner Freundschaft.« 26 La critique kantienne de la métaphysique. Paris 1968 27 La naissance de la métaphysique chez Kant. Une étude sur la notion kantienne d’analogie. Paris 1980. 28 Kant et la métaphysique spéculative. Paris 1992. 29 Kant-Studien 3, 1899, 479– 481.
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Es ist nicht möglich, über das alles in diesem Aufsatz zu berichten. Deswegen haben wir uns im wesentlichen auf Werke in spanischer Sprache beschränkt. Auch die erwähnten Werken sind nur ein Bruchstück dessen, was die neuere Kantforschung auf spanisch hervorgebracht hat. Die Bibliographie von Dulce María Granja Castro verzeichnet insgesamt 1634 Arbeiten über Kant auf spanisch bis 1997. Unter diesen haben wir diejenigen ausgewählt, die sich ausdrücklich mit metaphysischen Interpretationen bzw. Fragen der Philosophie Kants beschäftigen.
5. Übersicht über die Literatur zur Kantforschung in romanischen Ländern (Schwerpunkt auf Arbeiten in spanischer Sprache)
a) Allgemeine Literatur Lutoslawski, Wincenty: Kant in Spanien in: Kant-Studien 1, 1897, 217–231. Honecker, Martin: Immanuel Kants Philosophie in den romanischen Ländern in: Philosophisches Jahrbuch 37, 1924, 108–143. Dotti, Jorge Eugenio; Holz, Harald; Radermacher, Hans (Hrsg.): Kant in der Hispanidad. Bern, Frankfurt, New York, Paris, 1988. Darin: Dotti, Jorge Eugenio: Die Anfänge der Kantrezeption in Argentinien (1837–1930), 47–72. Falgueras, Ignacio: Kant en la filosofía española de los años sesenta (1960–1970), 73–96. López, A.: Consideraciones históricas del Kantismo en España. Primeras Manifestaciones, 137–156. Palacios, Juan Miguel: La filosofía de Kant en la España del siglo XIX, 171–207. Dotti, Jorge: La letra gótica. Recepción de Kant en Argentina, desde el romanticismo hasta el treinta. Buenos Aires, Facultad de Filosofía y Letras, 1992. Granja Castro, Dulce María: Kant en español. Elenco bibliográfico. México, Universidad Nacional Autónoma de México, 1997. Molinuevo, José Luis: La recepción de Kant en España in: Estudios sobre Kant y Hegel. Hrsg. von Cirilo Flórez; Mariano Álvarez. Salamanca, 1982, 99–114. Villacañas, José Luis (Hrsg.): La filosofía del siglo XIX. (Enciclopedia Ibero Americana de Filosofía, Nr. 23) Madrid, 2001. Caimi, Mario: La tradición kantiana. In: La filosofía del siglo XIX. (Enciclopedia Ibero Americana de Filosofía, Nr. 23). Hrsg. v. José Luis Villacañas. Madrid 2001, 359–380.
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b) Zur Grundlegung der metaphysischen Kantinterpretation Aleu Benítez, José: De Kant a Marechal hacia una metafísica de la existencia. Barcelona 1970. Bakirdjian de Hahn, Silvia: Kant y Levinas: La imposibilidad teórica de la metafísica. In: Stromata 37, Buenos Aires 1981, 165–171. Caimi, Mario: La metafísica de Kant. Buenos Aires, 1990. – : Consideraciones acerca de la metafísica de Kant. In: Revista latinoamericana de Filosofía 18, Buenos Aires 1992, 259–286. Carvajal Cordón, Julián: Kant y la fundamentación del discurso de la metafísica. In: Anales del seminario de Metafísica 20, Madrid 1985, 47–79. Constante, Alberto: La repetición de la fundamentación kantiana de la metafísica. In: Teoría. (Jornadas kantianas) 3. 3, México: Universidad Nacional Autónoma 1982–1987, 249–259. De Broca i Tella, Salvador: La metafísica en Kant. In: Universitas Tarraconensis 3, 1; 1981, 18–20. Flamarique Zarategui, Lourdes: Dos momentos de la metafísica en el criticismo kantiano. Pamplona: Cuadernos del Anuario Filosófico de la Universidad de Navarra 7, 1993. Gómez Caffarena, José: Metafísica trascendental. Madrid 1970. – : Notas sobre fenómeno y noúmeno. In: Pensamiento 23, Madrid 1967, 51–76. González, Juliana: Kant y la metafísica. De lo trascendente a lo trascendental. In: Teoría (Jornadas kantianas) 3, 3. Universidad Nacional Autónoma de México 1982– 1987, 283–289. Guzmán, G.: Kant y el problema de la metafísica de Heidegger. In: Franciscanum 29, Bogotá 1987, 89–100. Hoyos Vázquez, Guillermo: Hipótesis básica en la interpretación heideggeriana de Kant. In: Ideas y Valores 61, Bogotá, Universidad Nacional de Colombia 1983, 153–194. Iturralde Colombes, C. A.: ¿Puede haber intelección estricta de la cosa en sí según Kant? In: Sapientia 20,18, Buenos Aires 1965, 247–274. Llano Cifuentes, Alejandro: Fenómeno y trascendencia en Kant. Pamplona 1973. – : Fenómeno y trascendencia en Kant. In: Anales de la Universidad de Valencia 1971. López Hernández, José: Reflexiones sobre la metafísica de Kant. In: Anales de Filosofía 3, Universidad de Murcia 1985, 81–97. Mier Gutiérrez, Milagros Manuela: Ciencia y metafísica en Kant. México 1978. Molinuevo, José Luis: El tema de la trascendencia en Kant y el problema de la metafísica. In: Pensamiento 32, 128, Madrid 1976, 10–12. Oyanerer Jara, P.: Kant: El problema del cambio en la Crítica de la razón pura. Aproximación a la posibilidad de la metafísica, en Kant. In: Atenea 445, Santiago de Chile 1982, 57–73.
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Palencia, José I.: Kant y la metafísica. Crítica, práctica, objetividad y objetivación. In: Teoría (Jornadas kantianas) 3, 3, Universidad Nacional Autónoma de México 1982–1987, 271–281. Palomino Becerra, D.: Kant y la metafísica. In: Letras, 14, Lima 1948, 107–111. Pesquero Franco, Encarnación: Kant y la reforma del saber metafísico. In: Anales del Seminario de Metafísica 20, Madrid 1985, 82–112. Riu, F.: El mundo del espejo. Crítica y metafísica en Kant. In: Episteme, 2, 1–3, Caracas, Universidad Central de Venezuela 1982, 85–117. Rivera de Rosales Chacón, Jacinto: La realidad en sí en Kant (Dissertation). Madrid, Universidad Complutense, 1988. – : El punto de partida de la metafísica transcendental. Un estudio crítico de la obra kantiana. Madrid 1993. Rodríguez Rosado, Juan J.: ¿Crisis de la metafísica? In: Anuario Filosófico, 7, Pamplona, Universidad de Navarra, 1974, 293–311. Rubio Ferreres, José M.: Fundamentación kantiana de la metafísica de la Kehre heideggeriana. In: Estudios Filosóficos 33, 94. Valladolid 1984, 465– 483. Torrevejano Parra, Mercedes: Razón y metafísica en Kant. Sentido de la dialéctica trascendental como crítica de la metafísica. Madrid 1982.
c) Werke zur speziellen Metaphysik Andaluz Romanillos, Ana María: La finalidad de la naturaleza en Kant. Un estudio desde la Crítica del Juicio. Salamanca 1990. Blanco, J. E.: Sobre el origen y desarrollo de las ideas teológicas de Kant. In: Cuadernos de Filosofía Latinoamericana, 52, Bogotá, 1992, 17–30. Caimi, Mario: Motivos metafísicos en la crítica del juicio teleológico. In: José Sazbón (Hrsg.): Homenaje a Kant. Universidad de Buenos Aires 1993, 9–23. Cortina Orts, Adela: Dios en la filosofía trascendental de Kant. Salamanca 1981. – : La teología trascendental. El más elevado punto de vista de la filosofía trascendental kantiana. In: Anales del Seminario de Metafísica, 13, Madrid 1978, 47–66. – : El lugar de Dios en el sistema trascendental kantiano. In: Pensamiento 37, Madrid 1981, 401–416. Duque Pajuelo, Félix: Causalidad y teleología en Kant. In: Javier Muguerza y Roberto Rodríguez Aramayo (Hrsg.): Kant después de Kant. En el bicentenario de la Crítica de la razón práctica. Madrid 1989, 285–307. García Astrada, Arturo: Raíz de la finitud en la filosofía de Kant. In: Rivista Rosminiana di Filosofía 77, Novara 1983, 32–37. García Navarro, Sebastián: En torno al problema de Dios en Kant. In: Convivium 17, Barcelona 1964, 153 – 161. García Onrubia, Luis F.: Evolución de la psicología trascendental en la Crítica de la
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razón pura. In: Philosophia 2, 3, Mendoza, Universidad Nacional de Cuyo, 1945, 13–28. Gómez Caffarena, José: El teísmo moral de Kant. Madrid 1984. – : El teísmo moral en la tercera crítica kantiana. In: Miscelánea Comillas 49, Madrid 1991, 3–22. – : La filosofía de la religión de I. Kant. In: Manuel Fraijo (Hrsg.): Filosofía de la religión: estudios y textos. Madrid 1994, 179–205. – : Filosofía y teología en la filosofía de la religión de Kant. In: I. Kant: La contienda entre las facultades de filosofía y teología. Madrid 1992, IX–LXIX. – : La religión según Immanuel Kant. In: Memoria Académica del Instituto Fe y Secularidad. Madrid 1992, 51–63. – : Kant y la filosofía de la religión. In: Dulce María Granja Castro (Hrsg.): Kant. De la crítica a la filosofía de la religión. Barcelona 1994, 185–215. – : Fe racional y existencia de Dios. In: Revista de Filosofía 4, Madrid 1981, 159–178. Junoy García Viedma, J. M.: La fe racional y el saber metafísico en la filosofía crítica de Kant (Dissertation). Madrid 1973. Kogan, Jacobo: Arte y metafísica en Kant. In: Cuadernos americanos 28, Universidad Nacional Autónoma de México 1969, 84–102. – : La estética de Kant y sus fundamentos metafísicos. Buenos Aires 1965. Landim Filho, Raul: Idealismo ou Realismo na Filosofia Primeira de Descartes. Análise da Crítica de Kant a Descartes no IV° Paralogismo da CRP [A] in: Analytica, 2,2, Rio de Janeiro, 1997, 129–159. – : Do eu penso cartesiano ao eu penso kantiano in: Studia Kantiana, Nr. 1, Rio de Janeiro, 1998, 263–289. – : Juízos Predicativos e Juízos de Existência. A Propósito da Crítica Kantiana ao Argumento Ontológico Cartesiano in: Analytica, 5, 1, Rio de Janeiro, 2000, 83–108. Lombardi, Francisco: El Dios de los filósofos y el Dios vivo. In: Revista de Filosofía, Santiago de Chile 1960, 327–343. Longas Uranga, F.: Teología y filosofía. Kant: una razón integradora. In: Teología y vida, 33. Santiago de Chile 1992, 105–116. López Molina, Antonio: Contingencia y teleología en Kant. In: Roberto Rodríguez Aramayo; Gerard Vilar (Hrsg.): En la cumbre del criticismo. Simposio sobre la Crítica del Juicio de Kant. Barcelona 1992, 122–138. Martínez Martínez, José: Libertad, alma y Dios en la Crítica de la razón pura. In: Pensamiento 43, 172. Madrid 1987, 425–445. Másmela, Carlos: Presupuestos metafísicos de la Crítica de la razón pura. Una interpretación de la actividad trascendental del ánima en la deducción trascendental. Medellín, Universidad de Antioquía, 1996. Odero, José Miguel: La fe cristiana según Kant. In: Salmantincensis 40. Salamanca 1993, 341–377. – : La fe en Kant. Pamplona 1992.
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d) Werke zur praktischen Metaphysik Aleu Benítez, José: Filosofía y libertad en Kant. Barcelona, 1987. Almeida, Guido Antônio de: Crítica, Dedução e Facto da Razão in: Analytica, 4,1, Rio de Janeiro, 1999, 57–84. Astrada, Carlos: La ética formal y los valores: ensayo de una revaloración existencial de la moral kantiana orientado en el problema de la libertad. La Plata (Argentinien), 1938. Cabrera, Isabel: ¿La religión complementa la moral kantiana? In: Dianoia, 39, Universidad Nacional Autónoma de México, 1993, 59–73. Clavel Ortiz Repizo, Luis: Libertad y religión en la trascendencia de Kant. In: El hombre, inmanencia y trascendencia, Pamplona, Univ. de Navarra, 1483–1497. Del Barco Collazos, José L.: La metafísica postulativa kantiana. Antinomias y postulados prácticos. In: Estudios Filosóficos, 37, Valladolid, 1988, 53–100. Del Río, José A.: La pregunta por la posibilidad de la libertad en la filosofía práctica kantiana. In: Universitas Philosophica, 5, Bogotá, 1987, 75–85. Iribarne, Julia Valentina: La libertad en Kant. Alcances éticos y connotaciones metafísicas. Buenos Aires, 1981. Iturralde Colombes, Carlos A.: La libertad y los postulados kantianos de la razón práctica. In: Sapientia, 16, Buenos Aires, 1961, 271–281. Korn, Alejandro: La libertad creadora. La Plata (Argentinien) 1922. Loparic, Zeljko: O Fato da Razão – uma Interpretação Semântica in: Analytica, 4, 1, Rio de Janeiro, 1999, 13–55.
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Market, Oswaldo: El tema de la libertad en Kant. Madrid, 1960. Miró Quesada, Francisco: Teoría kantiana de la libertad. In: Letras, 10, Lima, 1944, 299–308. Montero Moliner, Fernando: Libertad y experiencia. La fundamentación de la libertad moral en la Crítica de la razón pura. In: Kant después de Kant. En el bicentenario de la Crítica de la razón práctica. Hrsg. v. Javier Muguerza und Roberto Rodríguez Aramayo. Madrid, 1989, 23–42. Pereyra, Carlos: Libertad y necesidad en Kant. In: Teoría (Jornadas kantianas) 3, 3. Univ. Nacional Autónoma de México, 1982–1987, 327–338. Ramos Esteves, Julio Cesar: Kant tinha de compatibilizar Natureza e Liberdade no interior da Filosofia crítica? in: Studia Kantiana Nr. 2, Rio de Janeiro, 2000, 53–70. Ríos, F. G.: El problema de la libertad en la filosofía kantiana. In: Sustancia, 10, Tucumán (Argentinien), 1942. Rodríguez García, Ramón: La libertad práctica: Un problema de la Crítica de la razón pura. In: Aporía 3, Madrid, 1981, 55–71. Rovira Madrid, Rogelio: El catecismo moral de Kant: una versión popular de la teología ética. In: Pensamiento, 42, Madrid, 1986, 225–233. Stein, Ernildo: A estratégia na formação dos conceitos da ontologia fundamental (Heidegger e a filosofia de Aristóteles a Kant) in: Racionalidade e Ação, Hrsg. von Valério Rohden, Porto Alegre, 1992, 114–123.
Gibt es eine kopernikanische Wende im Begriff des ›summum bonum‹? Zur Wirkung von Kants praktischer Metaphysik im angelsächsischen Raum von Peter Schulz
1. Einführung Einer geläufigen Wendung zufolge spricht man im Blick auf einschneidende Änderungen in der Geistesgeschichte von sogenannten Paradigmawechseln. Mit einem solchen Begriff will man in der Regel den Sachverhalt umschreiben, daß allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die zu bestimmten Zeiten plausible Lösungen für Problemstellungen anboten, durch Anomalien fragwürdig wurden und folglich neue Modelle der Problemlösungen forderten. Diesen neuen Paradigmen kommt die Funktion zu, bisher geltende Vorstellungen abzulösen und durch geeignetere Modelle zu substituieren.1 Im Blick auf Kants kritische Metaphysik, auf seine Moral- und Religionsphilosophie einen Paradigmawechsel im umschriebenen Sinn zu konstatieren, bietet sich nicht nur förmlich an, er wird oft genug auch nachgezeichnet und gelegentlich wird seine Moralphilosophie als das nach wie vor maßgebliche Paradigma der neuzeitlichen Ethik in Anspruch genommen. Für gewöhnlich macht man dabei geltend, daß Kant eine Radikalisierung einer Überlegung vornahm, die sich auch folgendermaßen umschreiben läßt: Als langbewährtes Paradigma, das erst durch Kant definitiv abgelöst wurde, steht jene moralphilosophische Position der Antike, die bei all ihren Modifikationen im Detail hinsichtlich eines entscheidenden Charakteristikums Kontinuität bewahrt Vgl. dazu die einschlägige Untersuchung von Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Kuhn hat freilich diesen Begriff von Wittgenstein übernommen und für seine wissenschaftshistorischen Untersuchungen fruchtbar gemacht. Vgl. dazu HWP 6, 74–81. 1
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hat: Es ist die Vorstellung eines Guten, eines summum bonum, das man in der Seinsordnung oder auch im Kosmos verankerte. Der entscheidende Paradigmenwechsel, wie er mit Kant Einzug in die Moralphilosophie hält, besagt demgegenüber, daß in der Neuzeit normative moralische Ordnungen ihren Ursprung im Willen des Menschen haben. Gewiß ist Kant nicht der erste, der eine solche Position ausdrücklich formuliert,2 aber er ist immerhin einer der wirkmächtigsten – und seine Position steht argumentativ für eine der schlüssigsten und stringent vorgetragenen Theorien pflichtgemäßen Handelns.3 Mit dieser moralphilosophischen Wende, die nach den Prinzipien und Vorschriften fragt, die das menschliche Handeln und Verhalten leiten, geht die neue Aufgabenstellung einher, die nunmehr der Moralphilosophie zuwächst: Anders als die ›eudaimonistische‹ Ethik, die Kant an manchen Stellen mit Spott überzieht, soll sich die ›neue‹ Moralphilosophie um die Bestimmung der Prinzipien des Handelns kümmern. Sie tut und erreicht dies unter anderem dadurch, daß sie für ihre Theorie des pflichtgemäßen Handelns ein eigenes Instrumentarium entwikkelt, das uns etwa Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eindringlich vergegenwärtigt: Es ist die Universalisierung als das maßgebliche Verfahren der praktischen Vernunft. Nun wird man Kants Moralphilosophie nicht gerecht, würde man aus ihr von vornherein den Bezug auf ein höchstes Gut ausklammern. Vor allem in den letzten Jahrzehnten gab es nicht nur im deutschen, sondern auch im angelsächsischen Sprachraum eine Reihe von Untersuchungen, welche die Präsenz des Begriffs des höchsten Gut in Kants Kritiken wie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eindringlich vergegenwärtigten.4 Dies im Einzelnen nachzuzeichnen würde hier zu weit führen. Statt dessen soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, wie in Publikationen jüngeren Vgl. Laut Augustinus (De libero arbitrio 1,26) gibt es für den Willen kein höheres Gut als das, was er allein durch sich hervorbringen kann: »sola […] voluntas per se ipsam«; vgl. 1,27: »melius nihil«. 3 Eine ideengeschichtliche Verortung hat Taylor in seiner wegweisenden Studie Sources of the Self. The Making of the Modern Identity (dt.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität) vorgenommen. 4 Für den deutschen Sprachraum sei verwiesen auf Klaus Düsing: Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie; Fischer: Tugend und Glückseligkeit. Zu ihrem Verhältnis bei Aristoteles und Kant. Vgl. auch Forschner, der in seinem Beitrag Moralität und Glückseligkeit in Kants Reflexionen vor allem Kants handschriftlichen Nachlaß mit seinen Reflexionen über die Glückseligkeit eindringlich auswertet. 2
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Datums im angelsächsischen Sprachraum Kants Lehre vom höchsten Gut der Aristotelischen Position der Strebensethik gegenübergestellt und mit ihr verglichen wurde. Ebenfalls mit berücksichtigt werden soll in einem zweiten Schritt die Auseinandersetzung um jene Problematik, die in der Diskussion um den Stellenwert einer eudaimonistischen Moralkonzeption häufig Drehund Angelpunkt bildete und noch bildet: die Selbstliebe. Daß es sich lohnt, auf den Zusammenhang von höchstem Gut und der Selbstliebe zu achten, spricht gleich mehreres (1). Ein gewichtiger Einwand seitens der von Kant geprägten Moralphilosophie gegen die herkömmliche Strebensethik lautet, daß mit dem Streben nach Glückseligkeit kaum etwas zum Thema wird als eine mehr oder weniger kaschierte Form des Egoismus (2). Nicht alle, jedoch einige wichtige Publikationen im angelsächsischen Sprachraum führen die Debatte um Kant und Aristoteles gerade auf dem Felde, wie es durch die Egoismus-Altruismus-Debatte abgesteckt wird. Es verwundert bei diesen Autoren kaum, daß in ihren Untersuchungen häufig eine These im Mittelpunkt steht, wonach die Aristotelische Ethik maßgeblich egoistisch angelegt sei. Sie belegen das insbesondere an den Aristotelischen Ausführungen über die Selbstliebe, wie sie in den sogenannten Freundschaftsbüchern der Nikomachischen Ethik behandelt wird. Das wiederum, so ließe sich behaupten, ist eine Fortsetzung der Kantschen Ablehnung eudaimonistischer Ethik mit anderen Mitteln. Es verdient (3) ferner Beachtung, wie Kant nahestehende, gleichermaßen von ihm ›inspirierte‹ Interpreten im angelsächsischen Sprachraum den Hauptvertreter der eudaimonistischen Ethik, nämlich Aristoteles, übersetzen, lesen und interpretieren. Dieser Punkt ist insofern interessant, weil er im wesentlichen ein Hauptmotiv der Kantschen Ablehnung der eudaimonistischen Ethik verdeutlicht, ein Motiv, das von den modernen Autoren immer wieder von neuem aufgegriffen wird. Bei Kant heißt dies: ausschließlich die Vernünftigkeit des moralisch Gebotenen selbst, ohne Rücksicht auf eigene Glückseligkeit, ist ausschlaggebendes Motiv, wenn moralisches Handeln gut ist. Bei einigen wichtigen, von Kant gleichermaßen inspirierten AristotelesInterpreten heißt das: die eudaimonistische Ethik ruht an zentraler Stelle gerade auf der eigenen subjektiven Wohlbefindlichkeit auf, und ist insofern wesentlich egoistisch motiviert; altruistische Handlungsgründe sind Aristoteles zwar nicht grundsätzlich fremd, doch spielen sie in zentralen Passagen keine maßgebliche Rolle. Kants Lehre vom höchsten Gut hat bis in die jüngste Zeit hinein im angelsächsischen Raum zu einer Gegenüberstellung mit der Aristotelischen
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eu2daimoni1a angehalten. Die Fronten sind aber im einzelnen nicht immer klar
zu ziehen. Wie Stephen Engstrom und Jennifer Whiting, die Herausgeber des 1996 bei der Cambridge University Press erschienenen Sammelbandes Aristotle, Kant, and the Stoics. Rethinking Happiness and Duty in ihrer Einleitung bemerken, findet man einerseits Autoren wie etwa McDowell und Jennifer Whiting, die Aristoteles mit den Augen Kants lesen, während andere wie Barbara Herman5 und Christine Korsgaard umgekehrt Kant aus der Sicht Aristoteles interpretieren. Nun ist diese Beschreibung keineswegs erst ein Markenzeichen der gegenwärtigen Situation. Man muß nicht lange suchen, um schon in der jüngeren Vergangenheit Belege für eine sehr ähnlich gelagerte Auseinandersetzung zu finden.6 Wenn sich freilich in der zeitgeVgl. Rules, Motives and Helping Actions. Versuche, Kant mit Aristoteles zu vergleichen, hat in den Vereinigten Staaten durchaus Konjunktur. Dabei weist eine solche Gegenüberstellung noch mehrere Ebenen auf: Als einen ersten Bezugspunkt bietet es sich an, darauf zu achten, wie manch ein Kantianer Aristoteles übersetzt. So gibt es eine Reihe von Aristoteles-Interpretationen, die bis in die Diktion hinein unter dem Einfluß Kants stehen. Nehmen wir als ein Beispiel den Aristotelischen Ausdruck o2rjo!ß lo1goß, der wörtlich übersetzt soviel bedeutet wie rechte oder richtige (angemessene) Vernunft. Bei einer der Standardübersetzungen, der Oxford-Ausgabe der Nichomachischen Ethik, die W. D. Ross besorgte, wurde für lange Zeit der entsprechende Ausdruck mit »right rule« bzw. »rational principle« wiedergegeben (NE 1138a10). Erst in der Überarbeitung von J. O. Urmson (New revised Oxford translation of the Complete Works of Aristotle) wird der Ausdruck angemessen mit ›right reason‹ übersetzt. Ein anderer zentraler Ausdruck ist das griechische de1on, was am besten im Deutschen wiederzugeben ist mit ›das Notwendige‹. In der bereits erwähnten Übersetzung ist in diesem Zusammenhang von ›moral obligation‹ die Rede, eine Übertragung, die übrigens von R. A. Gauthier und J. Y. Jolif in ihrem bekannten Kommentar zur Nikomachischen Ethik (Aristote: L’Ethique à Nicomaque, 573) ausführlich gerechtfertigt wird. Gewiß fehlt es auch nicht an Versuchen, in umgekehrter Richtung Aristotelische Begriffe und Topoi bei Kant aufzuweisen. Zwar lassen sich entsprechende Versuche der 1:1 Vergleiche weniger auf semantisch-lexikalischer Ebene durchführen, sie beziehen sich eher darauf, ähnliche Konnotationen in vergleichbaren Begriffen ausfindig zu machen. Erwähnt sei hier stellvertretend für andere O’Neill’s Versuch, in ihrem Beitrag Kant After Virtue darzulegen, daß Kants Verständnis der praktischen Vernunft weitgehend übereinstimmt mit der Aristotelischen Auffassung, oder, genauer gesagt, mit jener Interpretation der praktischen Vernunft, wie sie MacIntyre in seinem Buch After Virtue Aristoteles zugeschrieben hat. Andere Versuche, wie etwa jenen, Gemeinsamkeiten zwischen Aristoteles und Kant hinsichtlich ihrer Diskussionen der Affekte und Emotionen im Blick auf eine ethische Handlung ausfindig zu machen, können als Beleg für den durchaus zeitgenössischen Trend angeführt werden, beide 5 6
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nössischen angelsächsischen Kontroverse um die Kantsche Pflichtethik versus Aristotelische Strebensethik ein neuer Trend abzeichnet, so mag man diesen dahingehend charakterisieren, daß man eher darum bemüht ist, das Verbindende beider moralphilosophischen Ansätze herauszuarbeiten, und damit jene scharfe Juxtaposition zu überwinden, wie sie insbesondere durch die beiden Autoren Bernard Williams und Alasdair MacIntyre markiert wurde. Um diese bei allen zwischen Aristoteles und Kant bestehenden Differenzen auf Ausgleich bedachten Versuche im angelsächsichen Sprachraum soll es im folgenden gehen. Zunächst soll dabei in einem ersten Schritt der vorliegenden Ausführungen auf Kants Lehre vom höchsten Gut eingegangen werden, bevor zeitgenössische Autoren im angelsächsischen Sprachraum zu Worte kommen sollen, die hinsichtlich der Frage des summum bonum Kants Nähe zu Aristoteles in Betracht ziehen. In einem zweiten Schritt wird es dann um eine nähere Erörterung der Problematik der Selbstliebe gehen.
2. Zum Begriff des ›summum bonum‹ bei Kant Nach Kant gehören zum höchsten Gut als Gegenstand des reinen Willens sowohl Tugend als auch Glückseligkeit, die Tugend als »oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswerth scheinen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit« (KpV A 198), die Glückseligkeit als Ergänzung des höchsten Gutes, wodurch dieses erst zu einem ganzen und vollendeten Gut wird (KpV A 199). Beide sind miteinander verbunden, und zwar nicht analytisch im Sinne einer Identität, sondern synthetisch, im Sinne einer realen Verbindung durch Kausalität (KpV A 199 f.). In der Annahme, daß es sich bei Tugend und Glückseligkeit um eine analytische Verbindung handle, liegt nach Kant nun der grundlegende Irrtum der antiken Moraltheorien. Abzulehnen nämlich sei jene Vorstellung, nach der »die Bestrebung tugendhaft zu sein und die vernünftige Bewerbung um Glückseligkeit nicht zwei verschiedene, sondern ganz identische Handlungen wären« (KpV A 200). Gleich ob man – wie die Epikureer – als Grundbegriff die Glückseligkeit ansetzte oder ob man – wie die Stoiker – als Grundbegriff Konzepte einer Ethik einander anzunähern. Vgl. dazu auch Sherman: The Fabric of Character. Aristotle’s Theory of Virtue, 22 ff., sowie ihr jüngstes Buch: Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue.
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die Tugend annahm, der Fehlschluß beruht jeweils darin, daß man von einer Identität von Glückseligkeit und Tugend ausgegangen sei. Während den Epikureern zufolge das Gute prinzipiell in der Glückseligkeit beruhe und die Tugend darauf beruhe, daß man sich der Maxime bewußt ist, welche zur Glückseligkeit führt, sei für die Stoiker das Gute mit der Tugend gleichzusetzen, und die Glückseligkeit darauf zurückzuführen, da sie schlechterdings nur Bewußtsein der Tugend darstelle. In beiden Moraltheorien habe man jedoch verkannt, daß die der Glückseligkeit wie der Tugend zugrundeliegenden Maximen aufeinander irreduzibel, »ganz ungleichartig« sind und einander »in demselben Subjecte gar sehr einschränken und Abbruch thun« (KpV A 202). Unerachtet »aller bisherigen Coalitionsversuche« bleibe folglich die Frage offen, wie das höchste Gut möglich sei (KpV A 203). Es gilt in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, daß es Kant bei dieser Frage nicht um das höchste Gut in einem materiellen Sinne geht (»was das Gute ist«), sondern um dessen Maxime, also um einen Bestimmungsgrund des Willens, der dem Menschen eine »vollendete und ganze« Verbindung jener irreduziblen Elemente der Glückseligkeit und Tugend ermöglichen würde. Eine solche Verbindung ist nach Kant nicht aus der Erfahrung abzuleiten, die Begründung des Begriffs muß vielmehr transzendental erfolgen (KpV A 203). Die erste Antinomie der praktischen Vernunft entsteht nun vor dem Hintergrund der Annahme einer synthetischen Verbindung von Glückseligkeit und Tugend. Entweder müsse die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zur Maxime der Tugend sein, oder aber die Maxime der Tugend müsse die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein. Beides ist freilich unmöglich: zum einen können Maximen, die aus dem Verlangen nach Glückseligkeit hervorgehen, nicht moralisch sein und keine Tugend begründen; zum anderen richten sich die realen Folgen der Willensbestimmungen des Menschen nach vielem (Kenntnis der Naturgesetze, dem physischen Vermögen, sie zu nutzen, etc.), was freilich vom Willen unabhängig ist. Es besteht, wie die Antinomie der praktischen Vernunft folgert, folglich »keine nothwendige und zum höchsten Gut zureichende Verknüpfung« von Tugend und Glückseligkeit (KpV A 205). Wenn nun aber das höchste Gut ein a priori notwendiges, durch den Willen des Menschen zu bewirkendes Objekt ist und mit dem moralischen Gesetz unzertrennlich zusammenhängt, so folgt aus der Unmöglichkeit, das höchste Gut nach praktischen Regeln zu bewirken, die Unmöglichkeit des moralischen Gesetzes selbst. Soweit die Antinomie der praktischen Vernunft, die Kant im weiteren Verlauf dahingehend auflöst, daß er eine ihrer Voraussetzungen bestätigt,
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die andere hingegen einschränkt. Uneingeschränkt falsch ist die (erste) Behauptung, wonach das Streben nach Glückseligkeit Grund einer tugendhaften Gesinnung sein könne. Wer immer Glück, Zufriedenheit oder Annehmlichkeit sucht, der sucht damit keine Tugend. Jedoch bietet sich nach Kant eine Auflösung der Antinomie in einer Überprüfung des zweiten Satzes an. Nur bedingt ungültig ist nämlich nach Kant die zweite Behauptung, wonach Glückseligkeit durch Tugend erwirkt werden könne. Ungültig sei dieser Satz, sofern man dem Dasein des vernünftigen Wesens nur eine Existenz in der Sinnlichkeit zuschreibe. Wenn jedoch der Mensch nicht ausschließlich als durch seine Sinnlichkeit gedacht wird, er vielmehr im moralischen Gesetz einen intellektuellen Bestimmungsgrund seiner Kausalität und damit auch seiner Sinnenwelt finde, so könne die Sittlichkeit der Gesinnung in einem zumindest mittelbaren und notwendigen Zusammenhang mit der Glückseligkeit stehen. Mit anderen Worten: an sich betrachtet bewirkt die Tugend keine empirische Annehmlichkeit und kann deshalb auch nicht als Erscheinungsform der Glückseligkeit betrachtet werden. Jedoch steht nichts der Annahme entgegen, daß Tugend mittelbar auch Glückseligkeit hervorrufe, und insofern kann ein kausaler Zusammenhang zwischen Tugend und Glück aufrechterhalten werden. Man vermag also »in praktischen Grundsätzen eine natürliche und nothwendige Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit und der Erwartung einer ihr proportionirten Glückseligkeit, als Folge derselben, wenigstens als möglich denken […]; daß also das oberste Gut (als die erste Bedingung des höchsten Guts) Sittlichkeit, Glückseligkeit dagegen zwar das zweite Element desselben ausmache, doch so, daß diese nur die moralisch bedingte, aber doch nothwendige Folge der ersteren sei« (KpV A 214). Wir wollen an dieser Stelle nicht weiter auf die Auflösung der Antinomie eingehen, wie sie Kant in der Lehre von den Postulaten der praktischen Vernunft vertieft. Nur eine Präzisierung, die er in diesem Zusammenhang trifft, ist hier wichtig: zufolge dieser Präzisierung muß beim höchsten Gut nicht nur dessen innere Gliederung behandelt werden, wie sie im Vorhergehenden dargelegt wurde, nämlich in Tugend als höchste Bedingung und Glückseligkeit als deren Ergänzung. Darüber hinaus muß man nach Kant außerdem von dem abgeleiteten höchsten Gut ein ursprünglich höchstes Gut unterscheiden. Während ersteres mit der durch die Tugend bedingten Glückseligkeit oder der besten Welt ineinsfällt, ist das höchste ursprüngliche Gut mit Gott identisch (KpV A 226).
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3. Kant und die Aristotelische eu2daimoni1a Zu Beginn einer jeden Gegenüberstellung von Kant und Aristoteles hat eine Bestimmung des höchsten Gutes und der Glückseligkeit zu stehen. In seinem Beitrag Happiness and the Highest Good in Aristotle and Kant macht Stephen Engstrom, der Mitherausgeber des oben bereits erwähnten Bandes Aristotle, Kant, and the Stoics. Rethinking Happiness and Duty, zu Recht darauf aufmerksam, daß sich bei Kant eine weitere wie eine engere Begriffsbestimmung der Glückseligkeit findet.7 Einerseits gilt sie ihm als »das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet« (KpV A 40). Eine engere Definition liegt hingegen dort vor, wo Kant die Glückseligkeit in eine wesentliche Verbindung mit dem Willen und der Sittlichkeit bringt. So heißt es etwa in der Kritik der praktischen Vernunft (A 224): »Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht als auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens«. Auf dieser engeren Kantschen Bestimmung des höchsten Gutes baut Engstrom in der Folge auch seinen Vergleich der Kantschen mit der Aristotelischen Position auf. Der Begriff des höchsten Gutes in Kants Ethik »does provide the sort of unity that the conception of eudaimonia provides in Aristotle’s, namely, the idea of the highest good«.8 Ähnlich (wenn auch mit anderen Argumenten) wie Terence H. Irwin in seinem Beitrag zum selben Band9 plädiert auch Engstrom dafür, daß Kants Kritik am Eudaimonismus nicht auf das Fundament der Aristotelischen Strebensethik angewandt werden könne. Seine Begründung hierfür lautet: »Kant requires that the specification of the highest good be, not the basis for, but rather something that depends on, the specification of virtue. And Aristotle seems to honor this requirement in his account of the lives of contemplation and of ethical virtue«.10 Durch diese Einsichten kommt Engstrom in seinen weiteren Ausführungen zu dem Schluß, daß eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen
7 8 9 10
Engstrom: Happiness and the Highest Good in Aristotle and Kant, bes. 104 f. Engstrom: Happiness and the Highest Good, 128. Unter dem Titel: Kant’s Criticisms of Eudaemonism. Engstrom: Happiness and the Highest Good, 133.
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der Aristotelischen und Kantschen Konzeption des höchsten Gutes festzustellen sei. Engstrom bestreitet zwar nicht, daß Tugend in der sinnlichen Welt nicht notwendig zur Glückseligkeit führt. Diese Übereinstimmung gelte aber doch für den inneren und notwendigen Zusammenhang zwischen der Tugend und dem Wohlergehen des tugendhaften Subjekts. Kants Lehre vom höchsten Gut beruhe auf einer distinkten Einheit im praktischen Leben, die eine systematische Ordnung der Güter mit einer inneren Ordnung verbinde: Denn Tugend stelle sowohl die Basis für die Gutheit der Glückseligkeit wie die Ursache ihrer Realisierung dar. Vor dem Hintergrund der so behaupteten Nähe von Kant und Aristoteles scheint es angebracht zu sein, die Frage nach einer kopernikanischen Wende im Begriff des ›höchsten Gutes‹ bei Kant eindeutig mit nein zu beantworten. Freilich lassen Engstroms wie Irwins Ausführungen einen gewichtigen Punkt in der Kantschen Lehre des höchsten Gutes außer acht, der ihn doch in entscheidender Weise in Opposition zu Aristoteles bringt. Um diesen Punkt klarzustellen, gilt es zunächst daran zu erinnern, daß nach Kant Tugend und Glückseligkeit zusammen den »Besitz des höchsten Guts in einer Person« (KpV A 200) gewährleisten. Das Streben nach Glückseligkeit bestimmt für sich genommen, wie die aus ihr abgeleiteten Regeln, den Willen im unteren Begehrungsvermögen; sie kann folglich auch niemals ein Gesetz abgeben, das objektiv und in allen Fällen zutrifft. Ferner ist nach Kant der Begriff der Glückseligkeit nur ein »allgemeiner Titel der subjectiven Bestimmungsgründe« (KpV A 46).11 Sie kann damit auch in keinem Falle als praktischer Bestimmungsgrund des Willens in Frage kommen. Wie kann aber unter diesen Voraussetzungen die Glückseligkeit mit der Tugend ein Ganzes bilden? Eben dieser Begriff des ganzen und vollendeten Gutes12 liegt Engstroms Plädoyer für die Nähe von Kant und Aristoteles zugrunde, in ihm sieht er das Pendant zur Aristotelischen eu2daimoni1a. Die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit, die nach Kant synthetisch und a priori, mithin praktisch notwendig sein müsse, läßt freilich noch weitere Vgl. KpV A 46: »Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einem und demselben Subject auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den Abänderungen dieses Gefühls, und ein subjectiv notwendiges Gesetz (als Naturgesetz) ist also objectiv ein gar sehr zufälliges praktisches Princip, das in verschiedenen Subjecten sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann«. 12 Vgl. KpV A 198. 11
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Fragen offen. Zunächst erscheint Glückseligkeit bei Kant als eine recht amorphe und unbestimmte Größe. Man kann, wie Engstrom das auch tut,13 die Annahme vertreten, daß unter allen denkbar möglichen Befriedigungen und Annehmlichkeiten, die für Kant der Glückseligkeit zugrundeliegen, nur solche für die Verbindung mit der Tugend in Betracht kommen, die von der Tugend bedingt, durch sie geformt und folglich durch sie notwendig gemacht werden. Ein solcher Aspekt würde in der Tat auch einen Anhaltspunkt für eine Vergleichbarkeit mit Aristoteles hergeben, demzufolge das tugendhafte Leben zugleich auch das am meisten lustvolle ist.14 Freilich hat Aristoteles präzise Bedingungen formuliert, welche Bestrebungen nach dem Glück sich für die Verbindung mit der Tugend eignen, welche ihr hingegen entgegenstehen und folglich auch nicht durch sie bedingt sein können. Und er hat diese Unterscheidung nicht etwa von der Seite der subjektiven Befindlichkeit und Annehmlichkeit her eingeführt, sondern von bestimmten Aktivitäten des Subjekts, wie sie aufgrund entsprechender Fähigkeit und Tüchtigkeit ausgeübt werden. Gewiß: für Aristoteles ist der ethische Bereich – wörtlich: das was zum e3joß, zum Charakter gehört – umfangreicher als das, was unter die Kantsche Bestimmung der Moral fällt. Aristoteles zählt Stimmungen, Weisheit, Motive der Freundschaft, Freundschaftlichkeit als Beweggründe für ethische Handlungen hinzu. Darüber hinaus ist nach Aristoteles die Frage, was eine Handlung moralisch vertretbar macht, nicht durch einen Rückgriff auf Prinzipien zu lösen. Um ein angemessenes Urteil darüber zu fallen, was in einer bestimmten Handlungssituation als das Beste zu tun obliegt, sollte nach Aristoteles der Handelnde sowohl die Gemütszustände (›xiß) als auch ein rationales Urteil (lo1goß) des maßvoll Bedächtigen (fro1nimoß) einbeziehen. Der fro1nimoß repräsentiert dabei den maßgeblichen Gesichtspunkt der Erfahrung, und insofern kann man die Aristotelische Ethik dahingehend verstehen, daß sie sich auf einen »impartial point of view in the assessment of action« bezieht.15 Anders als für Kant ist für Aristoteles der maßgebliche Gesichtspunkt nicht der Gesichtspunkt des rational Handelnden im Allgemeinen, sondern jener der menschlichen excellence, der sich sowohl durch seine emotionalen als auch durch seine rationalen Fähigkeiten auszeichnet. Wenn Engstrom nun 13 14 15
Vgl. ebd. 133. Nikomachische Ethik 1156b22–24. Shermann: Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue, 123.
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argumentiert, es gebe zwischen Aristoteles und Kant eine bemerkenswerte Übereinstimmung hinsichtlich der Zuordnung von Tugend und äußeren Gütern, so wird eine wesentliche Frage, die sich an Kant richten läßt, dabei nicht ausreichend berücksichtigt: wie nämlich ein a priori gültiges Verhältnis zweier zunächst disparater Größen – Tugend und Glückseligkeit – zu bestimmen ist, wenn die eine von ihnen völlig unterbestimmt und scheinbar beliebig variabel ist.16
4. Selbstliebe und Egoismus Eine mit der übergreifenden Frage nach dem höchsten Gut im engen Zusammenhang stehende Problematik im Vergleich Aristotelischer und Kantscher Ethik bildet jene des Egoismus bzw. der Selbstliebe. Sie ist für die gegenwärtige angelsächsische Diskussion um Kant insofern von weitreichender Bedeutung, als sie ein wichtiger Prüfstein in der grundlegenden Debatte zwischen den sogenannten unparteiischem und parteiischem Standpunkt zu bilden scheint. Dem unparteiischen Standpunkt17 zufolge geht es darum, die eigene Person und deren Verpflichtungen und Verbindlichkeiten als eine unter anderen zu betrachten, und folglich den Interessen anderer Personen wenigstens genau das gleiche Gewicht zuzumessen wie den eigenen Absichten.18
Auf die allgemeinere Frage, welchen Stellenwert Emotionen inerhalb einer Moralphilosophie einnehmen, können wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen, obgleich sie mit zu den Kernpunkten der Auseinandersetzung zwischen Aristotelikern und Kantianern zu rechnen ist. Kant-Interpreten wie etwa Herman (vgl. On the Value of Acting from the Motive of Duty) plädieren dafür, daß nach Kant Emotionen durchaus eine wichtige Funktion innerhalb der moralischen Wahrnehmung einnehmen, daß sie gleichermaßen eine heuristische Funktion besitzen. Freilich ist das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Emotionen unmaßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob eine Handlung moralischen Wert besitzt oder nicht. Dagegen ist beispielsweise von Blum eingewandt worden (vgl. Friendship, Altruism and Morality), daß die geforderte Integration von Gefühlen keineswegs damit gleichzusetzen sei, daß sie in der moralischen Wahrnehmung keinerlei Funktionen ausüben. 17 Als Vertreter dieser ethischen Richtung seien hier erwähnt die Kant-Interpreten Herman: Rules, Motives and Helping Actions; Mutual Aid and Respect for Persons; Integrity and Impartiality und Darwall: Impartial Reason. 18 Laut KpV A 137 erscheint der Andere »in reinerem Lichte«; vgl. KpV A 144 Anm. mit dem Hinweis »auf die geheime und wundernswürdige Rücksicht«. Weiterhin 16
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Der parteiische Standpunkt19 vertritt demgegenüber die Behauptung, das Verpflichtungen und Verbindlichkeiten einer Person einer besonderen Beurteilung unter Berücksichtigung der jeweiligen Eigenarten bedürfen, und ohne diese das Leben an Wert und Bedeutung verlieren würde.20 Auf die Tragweite des parteiischen wie unparteiischen Standpunkts für die Gegenüberstellung von deontischer Ethik einerseits, der Strebensethik andererseits, wird später zurückzukommen sein. Zunächst lassen sich in einer Gegenüberstellung Kant und Aristoteles durchaus Anhaltspunkte dafür finden, daß beide Autoren sich der Problematik der Selbstliebe innerhalb einer Moraltheorie sehr wohl bewußt waren, die oftmals behauptete diametrale Entgegensetzung eher ein verbales denn ein sachliches Problem ist. Dies ist jedenfalls die zwei Publikationen jüngeren Datums zugrundeliegende Annahme. Allen Wood geht in seinem Beitrag zur Aristotelischen und Kantschen Konzeption der Selbstliebe davon aus,21 daß sich zwischen beiden Autoren überraschend viele Gemeinsamkeiten aufweisen lassen, und das obwohl man einen wichtigen Unterschied in ihrer Auffassung der menschlichen Natur feststellen könne. Die Gemeinsamkeiten beziehen sich zunächst auf den Umstand, daß Kant wie Aristoteles der Selbstliebe eine bedeutende Rolle innerhalb ihrer Moralphilosophie einräumen. Darüber hinaus kennen beide Autoren zweierlei Formen der Selbstliebe, wobei die depravierte Form einer moralischen Läuterung bedarf. Während Aristoteles von
MST A 13 = AA 6,385. Vgl. dazu auch Fischer/Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, 178–196, bes. 186 und 191. 19 Für diese Richtung stehen u.a. Blum (Friendship, Altruism, and Morality), Williams (Persons, Character and Morality), Cottingham (Ethics and Impartiality), Dancy (Moral reasons), McDowell (Virtue and Reason) sowie Oldenqist (Loyalties). Eine weitere einflußreiche Arbeit stellt Nussbaums Artikel dar (The discernment of perception: An Aristotelian conception of private and public rationality). 20 Es liegt auf der Hand, daß in diesem Zusammenhang die Diskussionen um den Stellenwert und das Verfahren der ›praktischen Vernunft‹ gegenüber dem Aristotelischen o2rjo!ß lo1goß ausgetragen wird. Nachdem über lange Zeit hinweg hier zwischen Aristoteles und Kant ein nahezu unüberbrückbarer Gegensatz gesehen wurde, haben Interpretationen zu Kants Kategorischem Imperativ, die in diesem ein Verfahrensmodell für eine Überprüfung der eigenen Maximen sahen, zu einer Erweichung der Fronten geführt. Den entscheidenden Anstoß hierzu gab O’Neills Buch: Constructions of reason, bes. Kap. 7. Als jüngste Veröffentlichung zu diesem Thema sei verwiesen auf Sherman: Making a Necessity of Virtue. 21 Vgl. Self-Love, Self-Benevolence, and Self-Conceit.
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einer Korrigierbarkeit der ›falschen‹ Selbstliebe ausgehe, scheint Selbstliebe nach Kant ein intrinsisch moralisches Problem darzustellen, die als solches nur schwerlich Grundlage für eine Lösung beinhalten könne. Nach Wood besteht für Kant das eigentliche Problem der Selbstliebe darin, daß sie grundsätzlich den Menschen dazu anhalte, sich selbst höher als andere Menschen einzuschätzen und die eigene Glückseligkeit stets im Vergleich mit anderen Menschen zu bemessen. Gerade diese Tendenz der Selbstliebe führe in der Folge dazu, daß die Selbstliebe in letzter Instanz zur Unzufriedenheit verleite. Anders als die ihm vorhergehende Tradition der Moralphilosophie ist Kant laut Wood der Auffassung, daß Selbstliebe in der Regel eine Selbsttäuschung beinhalte und infolgedessen auch nicht als Grundlage für das von Kant durchaus eingeräumte Erfordernis der Selbstachtung tauge. Zur selben Problematik findet sich im Band ein weiterer Beitrag von Jennifer Whiting,22 in dem die Autorin ausgehend von einer Passage in der Politik darlegt, das die Aristotelische Vernunft (nou5ß) durchaus im Sinne eines ›unparteiischen‹ Gesetzes interpretiert und damit Aristoteles für eine Lektüre im Sinne Kants fruchtbar gemacht werden kann. Das Selbstbewußtsein des Tugendhaften ist dieser Interpretation zufolge vergleichbar mit jener Selbstachtung, die ein Mensch erfährt, der nach dem moralischen Gesetz handelt. Wenden wir uns nun aber dem zu, was wir bei Kant zum Thema der Selbstliebe finden. Häufig wird sie gemeinsam mit der Glückseligkeit in einem Satz erwähnt,23 und man geht wohl nicht zu weit in der Annahme, daß nach Kant beides aufs engste miteinander zusammenhängt. Die Selbstliebe ist nach seiner Definition »ein über alles gehendes Wohlwollen gegen sich selbst (Philautia)«; sie wird auch »Eigenliebe« genannt (KpV A 129) oder als »Selbstliebe« bezeichnet, das heißt als ein »Hang, sich selbst nach den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des Willens überhaupt zu machen« (KpV A 131). Zwar ist, wie es an anderer Stelle heißt, das Interesse an der Glückseligkeit etwas vollkommen Vgl. Self-Love and Authoritative Virtue: Prolegomenon to a Kantian Reading of Eudemian Ethics viii 3. 23 Vgl. KpV A 40: »Alle materiale praktische Principien sind, als solche, ingesammt von einer und derselben Art und gehören unter das allgemeine Princip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit.« Vgl. auch KpV A 40: »Nun ist aber das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet, die Glückseligkeit, und das Princip, diese sich zum höchsten Bestimmungsgrunde der Willkür zu machen, das Princip der Selbstliebe.« 22
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Natürliches und Unvermeidliches; wenigstens indirekt ist die Sorge für die eigene Glückseligkeit nach Kant sogar eine Pflicht, da dauernde Unzufriedenheit das Streben nach Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit ständig beeinträchtigt (KpV A 166 f.; GMS BA 11 f. = AA 4,399). In der Wahrnehmung der eigenen Vollkommenheit oder doch wenigstens in der Erkenntnis des Fortschreitens zu ihr liegt eine Freude, die Kant auch als ›moralisches Gefühl‹ bezeichnet. Aber jede Theorie, die den Wert oder das Kriterium der Moralität in die Lust dieses moralischen Gefühls verlegt, reduziert sich auf eine eudaimonistische, egoistische Theorie, die nach Kant offenkundig moralisch ohne Bedeutung oder gar verwerflich ist. Was den Altruismus anbelangt, finden sich bei Kant ebenfalls, freilich nur einige wenige Stellen. So heißt es bei Kant, ein Interesse an der Glückseligkeit Anderer solle durchaus zu unserem Wesen gehören; er rechnet ›fremde Glückseligkeit‹ sogar unter die Tugendpflichten.24 Folgerichtig räumt er unmittelbar altruistische Handlungen ein. Wenigstens in einigen Menschen finde man ein solches Interesse als eine Art Disposition zum Wohlwollen. Freilich läßt er keinen Spielraum für ausgiebige Diskussionen um altruistische Beweggründe zu: Sein Argument dafür, daß wir für das Glück anderer Sorge tragen sollten, stützt sich nicht auf die angebliche Tatsache, daß wir dies bereits von uns aus tun. In der egoistischen und in der altruistischen Morallehre findet sich nach Kant genau dieselbe Schwäche: beide Lehren stützen sich auf wirkliche oder angebliche Tatsachen der menschlichen Natur. Kein Begehren, weder das der eigenen Glückseligkeit noch das der Glückseligkeit anderer, kann eine Pflicht begründen, das eine oder andere zu suchen. Kants Ausführungen zur Glückseligkeit und Selbstliebe sind als Teil seines Unterfangens zu verstehen, Anforderungen an unser Handeln aufzudecken, die eine Person verpflichten, vollkommen unabhängig davon, was sie wünscht, welche Gefühle sie hat und dergleichen. Nichtsdestoweniger müssen es freilich Anforderungen sein, deren Geltung impliziert, daß wir fähig sind, in Übereinstimmung mit ihnen motiviert zu sein. Eben dieser motivierende Faktor aber darf seinerseits nicht einer vorausgesetzten und die Forderungen ihrerseits bedingenden Motivation entstammen. Anstatt auf eine vorgängig verstehbare Motivationsstruktur zurückzugreifen, ist es vielmehr nach Kant die Ethik selbst, die eine Motivationsstruktur freilegt, die spezifisch ethisch 24
Vgl. MST A 13 = AA 6,385.
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ist. Nach Kant erfolgt unsere Bindung an moralische Imperative aus unserem Selbstverständnis als freie Wesen, die moralische Motivation findet ihre Erklärung jederzeit in der so hergeleiteten Aneignung des Gesollten. Nun hat man gegenüber diesem Unterfangen Kants häufig eingewendet, daß hier die Frage nach der Motivation zum moralischen Handeln nicht ausreichend berücksichtigt wird, die Frage also unbeachtet bleibt, warum wir überhaupt moralisch sein wollen. Die Behandlung dieser Frage, die in der Aristotelischen Strebensethik im Rekurs auf die eu2daimoni1a des Menschen angegangen wird, wird in den sogenannten Freundschaftsbüchern der Nikomachischen Ethik vorausgesetzt,25 wenn Aristoteles dort, im achten Kapitel des neunten Buches der Frage nachgeht, ob man sich selbst oder einen anderen am meisten lieben soll. Wie so häufig leitet Aristoteles auch die Erörterung der Selbstliebe zunächst durch eine Aufzählung kontroverser Ansichten ein. In einem ersten Abschnitt werden Argumente für jenes, zur Zeit des Aristoteles offensichtlich geläufige Verständnis angeführt, gemäß dem das Wort eine negative Wertung enthält, und statt dessen ein Verhalten empfohlen wird, in dem man den anderen mehr lieben solle als sich selbst.26 Unter Selbstliebe im pejorativen Sinne fällt u. a. die eigensüchtige Selbstbezogenheit, es werde damit, so Aristoteles, das Verhalten jener charakterisiert, die für sich übermäßig nach Gütern wie Geld, Ehre und sinnlich-leiblichen Genüssen verlangen. Von diesem umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes ›selbstliebend‹ unterscheidet Aristoteles im folgenden eine andere Bedeutung der Selbstliebe.27 Als ›selbst-liebend‹ etwa könne ein Mensch bezeichnet werden, der »für sich die schönsten Dinge und die höchsten Güter beansprucht, dem wichtigsten Element in sich Genugtuung verschafft und ihm in allem nachkommt«.28 Mit dem ›wichtigsten Element‹ ist hierbei die Vernunft (nou5ß) gemeint: umschrieben werden kann dies in etwa so: kraft seiner Vernunft ist der Mensch imstande, sich zu seinem emotional-volitiven Strebungen zu verhalten, und das sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber. In diesem Zusammenhang findet sich dann eine der ganz seltenen Paränesen der Nikomachischen Ethik, derzufolge der tugendhafte Mensch geradezu selbstliebend sein soll, »da er durch schöne Handlungen Nutzen davonträgt und anderen dient; ein schlech-
25 26 27 28
Das sind die Bücher XIII und IX. Vgl. 1168 a 29 –1168 b 11. Vgl. 1168 b 25 –1169 a11. Vgl. 1168 b 28 – 31.
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ter Mensch aber darf nicht selbst-liebend sein, da er sich selbst und denen in seiner Umgebung schaden wird, wenn er seinen schlechten Neigungen folgt. Beim Schlechten widerspricht das, was er tut, dem, was er tun sollte; der gute Mensch hingegen tut das, was er tun soll«.29 Der abschließende Abschnitt, gelegentlich auch als Panegyrikum, als Hohes Lied der Selbstliebe bezeichnet, greift nun ausdrücklich die Frage auf, ob und in welchem Sinne die genuine Selbstliebe des Tugendhaften einschließt, daß dieser sich selbst mehr als jeden anderen lieben solle: »Also soll der Tugendhafte eigenliebend sein (denn er wird selbst den Nutzen davon haben, wenn er Edles tut, und wird damit auch den anderen nutzen), der Schlechte aber darf es nicht sein (denn er wird sich selbst und seinen Nächsten schaden, da er schlechten Leidenschaften folgt). […] Der Tugendhafte tut, was er tun soll. Jeder Geist nun wünscht für sich selbst das Beste, und der Tugendhafte gehorcht dem Geiste. Aber von dem Edlen ist es auch wahr, das er für Freunde und für das Vaterland vieles tut und auch stirbt, wenn es sein muß. Er wird das Geld und die Ehren und überhaupt die umkämpften Güter fahren lassen und für sich selbst nur das Schöne beanspruchen. Er wird es vorziehen, während kurzer Zeit sich stark zu freuen als während langer Zeit mäßig; er wird lieber ein Jahr lang schön leben als viele Jahre beliebig, und lieber eine große und schöne Tat ausführen als viele kleine. Dies gilt wohl für jene, die für andere sterben. Denn sie wählen für sich ein Großes und Edles. Auch Geld wird jener opfern, damit seine Freunde mehr erhalten. Dann hat der Freund das Geld, er selbst aber das Edle, und so beansprucht er für sich das größere Gut. Dasselbe gilt für Ehren und Ämter. All das wird er dem Freund überlassen; denn dies ist für ihn selbst schön und lobenswert. Und so wird er mit Recht tugendhaft zu sein scheinen, da er allem anderen das Edle vorzieht. […] In allem Lobenswerten also scheint der Tugendhafte für sich selbst mehr am Schönen zu beanspruchen. In diesem Sinne also muß man, wie gesagt, eigenliebend sein, nicht aber, wie es die Leute meinen.«
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Vgl. Nikomachische Ethik 1169a11–17. Zitiert nach der Übersetzung von Gigon.
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5. Authentische und nichtauthentische Selbstbezogenheit Das voranstehende Zitat aus der Nikomachischen Ethik führt nun in die Mitte zwischen Kant bzw. Aristoteles nahestehenden Autoren. In dieser Mitte tritt das Problem einer authentischen und nichtauthentischen Selbstbezogenheit hervor. Diese Feststellung, derzufolge der rechtschaffene Mensch (spoudai5oß) für sich die größeren Güter beansprucht, dient nun unter vielen, von Kant herkommenden Aristoteles-Interpreten als entscheidender Textbeleg für die (egoistische) Selbstbezogenheit des Tugendhaften und damit ein entscheidendes Indiz für das Kantsche Verdikt der Eudaimonismusproblematik. Hier scheint eben die Rede zu sein von einem Menschen, der den letzten Beweggrund für sein tugendhaftes Handeln aus dem Bewußtsein bezieht, tugendhaft zu sein. Schließlich, so der Einwand, macht es einen großen Unterschied darin, ob man ein Opfer um eines anderen willen vollbringt, was tatsächlich als edel beschrieben werden kann, oder ob man etwas um eines anderen Menschen willen aufgibt in der Hoffnung, durch eine edle Handlung etwas Größeres zu erlangen. Im letzteren Falle scheint es, daß es nicht wahr ist, daß man um eines anderen Menschen willen ein Opfer gebracht habe. Dann würde freilich auch die Aristotelische Theorie der Freundschaft, in der es darum geht, den anderen um seiner selbst willen Gutes zu tun und zu wünschen, in sich widersprüchlich sein. In diesen und ähnlichen Einwänden gegenüber der Aristotelischen Bestimmung der Selbstliebe des Tugendhaften zeichnet sich bereits ab, wie die beschriebene Selbstbezogenheit des spoudai5oß vor die Frage nach der Begründetheit des ›parteiischen Standpunktes‹ führt. Ein durchaus häufig eingeschlagener Argumentationsgang, der geeignet ist, Aristoteles von seiner scheinbaren egoistischen Moralkonzeption zu befreien, verläuft dahingehend, daß man eine Umdeutung des Aristotelischen nou5ß ganz im Kantschen Sinne eines unparteiischen Standpunktes vornimmt. So etwa interpretiert Troels EngbergPedersen in einer bemerkenswerten Studie den Aristotelischen nou5ß dahingehend, daß dieser soviel bedeute wie die »universal and impersonal reason«.30 Darunter versteht Engberg-Pedersen näherhin: »[…] when a person ›pays no attention to himself‹, as opposed to doing everything for his own sake […], what he does is to leave out of account ›his own‹ desires. But the point is not that he pays no attention whatever to himself or neglects all his desires. What 30
Vgl. Aristotle’s theory of moral insight, 35.
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he does is just to take account of himself as one among others […]. Since the basic problem is that of how natural goods should be shared, reason can find no foothold for a criterion anywhere else than in properties that are impersonal; reason sees that initially all human beings have an equal claim.«31 Nun fällt es nicht einfach, auch wirkliche Anhaltspunkte für diese Interpretation des nou5ß im Text zu finden.32 Dennoch sind diese Darlegungen insofern aufschlußreich, als sie verdeutlichen helfen, welchen Weg mancher Autor ausgehend von Kant gefunden hat, um die moralphilosophische Gegenposition eines Aristoteles von dem naheliegenden Verdikt des Eudaimonismus zu befreien. Freilich wird dabei übersehen, daß es Aristoteles anstatt um Regeln, die der Tugendhafte in bestimmten Handlungskontexten zu beachten hat, um Handlungsdispositionen zu tun ist, die ihrer Natur nach nicht auf verallgemeinerbare Normen reduzierbar sind; es geht ihm mit anderen an dieser Stelle um Kann-Bestimmungen, als mögliche Fälle, in denen sich die erworbene Haltung zu zeigen vermag. Dieses zu übersehen und die Aristotelische Konzeption der Selbstliebe auf allgemeine Vernunftforderungen zu beziehen, käme dem Versuch gleich, sie ebenso als ein mögliches Thema der Gerechtigkeit zu erörtern. Im Gegensatz zu jener Lesart, die in dem beschriebenen Verhalten des spoudai5oß ein zweckrationales Handeln zu erkennen glaubt, scheint mir gerade in den abschließenden Ausführungen zu dem Verhalten des spoudai5oß jene Tätigkeiten des Menschen charakterisiert zu werden, die ›um seiner selbst willen‹ durchgeführt werden. Was kann in diesem Zusammenhang aber mit dem ›um seiner selbst willen‹ gemeint sein? Wie kommt es, anders gefragt, dazu, daß die Aufgabe und der Verzicht von Gütern tatsächlich zur Selbstverwirklichung bzw. Selbstbestimmung beitragen kann. In einem weiteren Zusammenhang kann diese Frage auch dahingehend gerichtet werden, daß es sich in der Gegenüberstellung von Selbstverwirklichung einerseits, Moralität andererseits nicht um ein Entweder – Oder handelt. Vielmehr besteht hier ein partiell analytisches Verhältnis, wonach gilt, daß der Rechtschaffene seine Verwirklichung und Vervollkommnung nicht anstelle der Moralität, sondern
Vgl. ebd. 44 f. Einen sehr guten Kommentar zu den Freundschaftsbüchern der Nikomachischen Ethik hat Pakaluk vorgelegt (Aristotle: Nichomachean Ethics. Book VIII and IX). Vgl. auch Schulz: Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles. Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität. 31 32
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als Moralität, und umgekehrt die Moralität als Vollkommenheit erstrebt. Will man folglich die Rede von dem ›größeren Gut‹, das der Rechtschaffene für sich behauptet, angemessen verstehen, so tut man gut daran, sie als eine Reflexion auf den entscheidenden Motivationszuwachs zu interpretieren. Diese höhere Motivation ist dort realisiert, wo eingesehen wird, daß es im höheren Sinne um uns selbst geht, nicht um uns selbst im Sinne des ungehemmten Verfolgens faktischer Lebensorientierungen, sondern vielmehr in der Hinsicht, daß ein jedes Handeln und Wollen eingefügt bleibt in eine vorgegebene, umfassendere teleologische Ordnung, die dem Handeln vorgegeben ist, innerhalb derer es sich verwirklicht und die nicht mehr zu seiner Disposition steht. Daß man die Kontroverse um Egoismus – Altruismus, wie sie im angelsächsischen Sprachraum häufig im Ausgang von Kant geführt wird, nicht in ihrer Tragweite zu unterschätzen hat, dafür mag abschließend noch ein Hinweis auf das vielbeachtete Buch von Christine Korsgaard mit dem Titel Sources of Normativity stehen. Der an der Harvard University lehrenden Autorin geht es im Wesentlichen darum zu zeigen, wie sich im Ausgang von Kant ein Bogen von der Autonomie des Subjekts über die Universalität zum Altruismus hin aufweisen läßt. Die Pointe ihrer Annahme ist darin zu sehen, daß die Autonomie des Subjekts notwendigerweise eine Universalität beinhaltet, die Universalität ihrerseits wiederum einen Altruismus notwendigerweise zur Folge hat. Ihre Lösung dieses Zusammenhangs, die sie ausdrücklich als eine Interpretation Kants dargelegt, läßt sich in Kürze so zusammenfassen: Kant argumentiert (1), daß wir unter der Voraussetzung unseres freien Willens zu handeln haben. In einem zweiten Schritt zeigt Kant (2), daß der freie Wille, wenn er überhaupt ein Wille ist, in Übereinstimmung mit einem Gesetz bestimmt wird. Wenn also (3) folglich der freie Wille von seinem eigenen Gesetz bestimmt werden muß, so folgt, daß der Kategorische Imperativ ein Gesetz des freien Willens ist. Auf den möglichen Einwand, daß die Ausübung des freien Willens nicht notwendigerweise ein Gesetz verlange, zieht Korsgaard einen Vergleich mit der Vorstellung der Verursachung. Die Verursachung impliziert zwei Komponenten, (1) die Vorstellung, daß etwas bewirkt wird sowie (2) die Vorstellung einer Gesetzmäßigkeit. Die Vorstellung einer Gesetzmäßigkeit ist insofern erforderlich, als wir einen Fall nicht als bewirkt identifizieren könnten, wenn anders wir ihn nicht unter einer bestimmten kausalen Gesetzmäßigkeit denken. Korsgaard erachtet folglich die Regularität als notwendig für die Identifizierung einer Verursachung. Des weiteren behauptet sie, daß Verursachung
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durch den Willen jeder anderen Form der Verursachung entspricht. Denn wenn ich kraft meines freien Willens handle, dann bin ich die Ursache meiner Handlung. Wenn dies freilich der Fall ist, dann muß ich ebenso in der Lage sein, zu unterscheiden zwischen mir selbst (der die Handlung verursacht) und meinem Wunsch oder Impuls, den ich in mir vernehme und der meinen Leib in Bewegung setzt. Korsgaard behauptet folglich, daß ich mich selbst als unterschieden von meinen Erstimpulsen und Wünschen vorzustellen habe. Damit nun die Handlungen tatsächlich auch meine Handlungen sind, d. h. daß sie von mir ausgehen und nicht einfach Ausdruck meiner unmittelbaren Wünsche sind, habe ich gemäß universaler Prinzipien zu handeln. Und infolgedessen entspricht das Gesetz, das ich mir selbst schaffe, dem Gesetz der Verursachung. Wir können Handlungen nicht als Handlungen eines Selbst verstehen, wenn anders sie nicht unter universalen Prinzipien erfolgen. Damit Handlungen tatsächlich als meine Handlungen gelten können und mir zugeschrieben werden können, muß ich infolgedessen ein gesetzgebender Handelnder sein. Und nur weil wir aufgrund universaler Prinzipien entscheiden und handeln, kann uns auch zugesprochen werden, daß wir überhaupt ein Selbst sind. Dieses Selbst, so Korsgaard, ist konstituiert gerade durch die universalisierbaren Entscheidungen. Auf eine eingehende Erörterung Korsgaards Überlegungen muß an dieser Stelle verzichtet werden.33 Sie abschließend erwähnt zu haben, scheint insofern angebracht, als in diesem anregenden Werk unter Berufung auf Kant eine eingehende Begründung einer genuin altruistischen Position vorgelegt wird, die ohne dessen kopernikanische Wende im Begriff des Guten nicht vorzustellen gewesen wäre.
33
Vgl. dazu neuerdings Searle: Rationality in Action.
Slavica sunt, non leguntur. Kant est, non legitur Zur Wirkung von Kants Metaphysik und Religionsphilosophie in den slawischen Ländern1 von Jakub Sirovátka
1. Einführung Slavica sunt, non leguntur. Diese mönchische Eintragung auf den Vorsatzblättern mancher alten Codices führt der österreichische (aus Prag stammende) Schriftsteller Johannes Urzidil ins Feld, um sich über das Fehlen des Wortes ›Böhmen‹ in der Goethe-Literatur seiner Zeit zu beschweren.2 Über die Rezeption der Philosophie Kants, geschweige denn seiner Metaphysik und Religionsphilosophie, in den slawischen Ländern ist nichts oder sehr wenig bekannt. Müßte also der Satz Slavica sunt, non leguntur für die slawischen Länder in den Spruch Kant est, non legitur umgeschrieben werden? Beruht das mangelnde Wissen um die Rezeption Kants im slawischen Sprachraum auf einer gegenseitigen Unkenntnis: einerseits der Texte Kants in den slawischen Ländern und andererseits der Texte von Denkern slawischer Sprachen? Dies sind die Hauptfragen, auf die dieser Beitrag Antworten suchen will. Zunächst gilt es festzuhalten, daß wir es, was Philosophie und die Möglichkeiten einer philosophischen Forschung anbetrifft, bei den slawischen Ländern mit einem höchst heterogenen Raum zu tun haben. Vergegenwärtigt man sich die Landkarte, sieht man, daß sich unter den slawischen Ländern kleine Staaten befinden wie Kroatien, die Slowakei, Slowenien, mittelgroße wie Serbien, Tschechien sowie große Staaten wie etwa Polen, die Ukraine Ich danke Frau Dr. Margit Ruffing für ihre fachkundige Hilfe bei der schwierigen Literatursuche. 2 Vgl. Urzidil: Goethe in Böhmen, 7f. 1
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oder Rußland. Kleine Nationen sind in ihren geisteswissenschaftlichen Forschungen entweder auf Übersetzungen oder auf die Notwendigkeit angewiesen, in fremden Sprachen zu lesen und zu schreiben, um auf der internationalen Bühne bestehen zu können. So ist es nicht verwunderlich, daß sich z. B. die tschechische und die deutsche philosophische Forschung nur schwer miteinander vergleichen lassen, was die Quantität (die in gewisser Hinsicht ein Nährboden für Qualität ist) der Publikationen, Bibliotheken, Forschungszentren etc. betrifft.3 Hinzu kommt, daß alle slawischen Staaten ohne Ausnahme unter dem Joch des Kommunismus zu leiden hatten, so daß ein freier wissenschaftlicher Austausch fast für vierzig Jahre oder länger unterbrochen worden ist, was möglicherweise einen weiteren Grund für die mangelnde Rezeption der Metaphysik und Religionsphilosophie Kants im slawischen Sprachraum darstellt. Rußland spielte und spielt bis heute eine besondere Rolle: es versteht sich in seiner Geistesgeschichte zwar zum europäischen Raum zugehörig, zugleich jedoch pocht es auf geistesgeschichtliche Eigenständigkeit (zu erinnern ist z. B. an die sogenannte ›russische Seele‹; an ein gewisses Mißtrauen gegenüber der Rationalität zugunsten der Intuition, des inneren Gefühls oder etwa an den Gedanken des russischen Volkes als eines auserwählten Volkes in einem zukünftigen theokratischen Reich). Etwas vereinfachend kann man eine deutliche Zäsur zwischen Rußland und dem übrigen slawischen Sprachraum ziehen. Daß eine solche Trennung gerechtfertigt ist, zeigt sich auch an der Wahrnehmung Kants als Metaphysiker und Religionsphilosoph. Die russische Philosophie scheint die einzige zu sein, die sich mit Kants Metaphysik und Religionsphilosophie in größerem Ausmaße auseinandergesetzt hat, wenn auch in ambivalenter Weise. »Einerseits ist die philosophische Entwicklung im Rußland des Silbernen Zeitalters [also des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts] ohne die Rezeption der philosophischen Ideenwelt von Kant, Hegel und Schelling nicht denkbar. Andererseits hat sich ein größerer Teil der russischen Philosophie sehr kritisch mit diesem Erbe auseinandergesetzt.«4 Die Geschichte der Bekanntheit, respektive Nicht-Bekanntheit eines Feldes von einer kleinen nationalen Kultur ist oft mit unerklärlichen Zufälligkeiten behaftet. Um noch einmal die Literaturgeschichte zu bemühen: aus der tschechischen Literatur z. B. sind die epischen Werke wesentlich bekannter als die Lyrik, obwohl die Lyrik von Fachleuten als deutlich gehaltvoller eingeschätzt wird. 4 Haney: Pawel Florenskij und Kant – eine wichtige Seite der russischen KantRezeption. 3
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2. Zur Rezeption Kants in den slawischen Ländern Auch wenn es, wie schon oben angedeutet, unter den verschiedenen Ländern erhebliche Unterschiede gibt, läßt sich allgemein sagen, daß Kant vor allem als ›Klassiker der Erkenntnistheorie‹ oder als Ethiker gesehen wird. Eine vielleicht nicht untypische Deutung von Kants Metaphysik und Religionsphilosophie besteht in der Auffassung, Kant habe die Religion auf eine humanistische, ethische Religion reduziert.5 »Die autoritäre Gottesidee von einem allmächtigen Gott als real existierendem Schöpfer, Gesetzgeber, Regenten und Richter wird aber in Kants Ethik zu einem regulativen Ideal vollendeter Tugendhaftigkeit entthront. In der humanistischen Religion wirkt Gott einerseits als moralischer Urheber zur Beförderung des menschlichen Wohlverhaltens, andererseits als seelischer Halt für die Menschen im Ringen um Tugend. Gottesdienst wird demzufolge zum moralischen Lebenswandel, zur Erziehung des gebrechlichen Menschen. [...] Im moralischen Kampf gegen eine falsche Überordnung der Neigungen über das moralische Gesetz und zur Stärkung des moralisch noch ungefestigten oder leicht irritierbaren Gemütes schreibt Kant der vernünftigen Religion und Gottesidee wichtige Aufgaben zu. Kurz gefaßt, die wahre und auch dem Menschen dienende Religion kann als Triebfeder zur Beförderung der Moralität und dadurch zur Vervollkommnung des Einzelnen und letztendlich der ganzen Menschheit beitragen.«6 Eine solche Interpretation würde bedeuten, daß es Kant eigentlich gar nicht um das echte Bedenken von Problemen der Metaphysik und Religionsphilosophie gegangen sei. Metaphysik und Religion würden somit ihre Berechtigung alleine aus ihrer dienenden Funktion für die Ethik erhalten. Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen soll eine kurze Skizze zu der Rezeption Kants in den einzelnen slawischen Ländern folgen, die jedoch keinen Anspruch auf einen erschöpfenden Überblick erheben möchte, sondern lediglich Schlaglichter werfen will. Die polnische Aufklärung besaß einen deutlich antimetaphysischen Impetus. »Ihre dominierende Position im polEs ist anzumerken, daß für eine solche Interpretation fast ausschließlich die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft verwendet wird und andere Schriften, wie z. B. die ersten zwei Kritiken keine Beachtung finden. 6 Koch: Kritik an der autoritären und Glaube an die humanistische Religion: I. Kants Religionsauffassung, 68. Auch wenn der Autor dieses Artikels aus Ungarn stammt, handelt es sich um eine exemplarische Sicht, die in den ost- und mitteleuropäischen Staaten verbreitet ist. 5
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nischen Geistesleben [...] erzielten die Denker der Aufklärungsepoche nach langen und mühsamen Kämpfen mit der im Schulwesen allherrschenden Scholastik. Daraus erklärt sich eine außergewöhnlich hohe Überempfindlichkeit für jeden Versuch des Kokettierens beziehungsweise jede Art von Sympathie gegenüber der Metaphysik.«7 Ihre Gegner hoben dagegen den Erkenntnis- und Moralwert der Metaphysik hervor. Das heutige philosophische Leben in Polen wird sehr stark von der sogenannten Warschau-Lemberger Schule geprägt, einer hervorragenden Formation logisch-analytischer Philosophie vor dem II. Weltkrieg.8 Dieser Tradition folgend wird Kant vor allem als Epistemologe wahrgenommen, mit der Konzentration auf die Kritik der reinen Vernunft. Lebhafte Rezeption erfuhr das Gedankengut Kants in der Ethik-Diskussion, vor allem seine zweite Kritik und die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten werden aufmerksam gelesen. In den Staaten ExJugoslawiens wird Kant vor allem rezipiert, indem seine Gedanken in andere philosophische Strömungen eingebaut werden; zur Entwicklung einer ihrem Selbstverständnis nach (neo)kantianischen Philosophie ist es nie gekommen. Die dort vorherrschenden Strömungen sind Neomarxismus, phänomenologisch-hermeneutische und angelsächsisch-analytische Philosophie. In den sechziger und siebziger Jahren erschienen alle wichtigen Werke Kants in kroatischen, serbischen und slowenischen Übersetzungen.9 Eine ähnliche Situation zeigt sich in der Tschechischen und Slowakischen Republik. Als erstes Werk wird 1910 Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ins Tschechische übertragen. Die zwei ersten Kritiken werden 1930 und 1944 und Kritik der Urtheilskraft 1975 übersetzt.10 In Rußland11 hat man zwar sehr früh Studien und Vorlesungskurse der Philosophie Kants gewidmet, zu einem Aufschwung der Kant-Forschung Vgl. Bal: Kant in Polen, 1208. 8 Außer auf Bal: Kant in Polen, beziehe ich mich auf schriftliche Mitteilungen des jungen Kant-Forschers Jakub Kloc-Konkolowicz. 9 Vgl. dazu Riha: Zur Kantrezeption im ehemaligen Jugoslawien und im heutigen Slowenien. 10 Vgl. Filosofický slovník (Philosophisches Wörterbuch), 458. 11 Vgl. dazu Motroschilowa: Kant in Rußland. Bemerkungen zur Kant-Rezeption und -Edition in Rußland anläßlich des Projektes einer deutsch-russischen Ausgabe ausgewählter Werke Immanuel Kants; Erich J. Solowjow: Sowjetische Kantforschung gestern und heute; Abramov: Kantianstvo v ruskoj universitetskoj filosofii (Kantianismus in der russischen Universitätsphilosophie); und den Sammelband: Kant i filosofia v Rossii (Kant und die Philosophie in Rußland). 7
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kommt es aber erst in den 60er bis 90er Jahren des 19. Jahrhunderts, mit zwei Höhepunkten in den 80er/90er Jahren des 19. Jahrhunderts und in den Jahren 1900 –1917. Die Kritik der reinen Vernunft erscheint in russischer Sprache 1867, 1879 erscheinen Kritik der praktischen Vernunft und Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kritik der Urtheilskraft 1898.12 Andere Schriften folgen.13 Neben den großen Denkern Wladimir S. Solowjow, Semen L. Frank, Pawel A. Florenskij, Nikolaj O. Losskij ist es v. a. Alexander I. Wwedenskij, dem große Verdienste um die Rezeption Kants zuzusprechen sind. Die russische Revolution von 1917 trifft auch die Kant-Forschung sehr hart. »In den Jahren 1917 bis 1953 verwandeln sich die Ausgaben von Kants Werken in bibliographisch rare und gleichzeitig ideologisch nicht akzeptable Veröffentlichungen.«14 Nach der Tauwetterperiode Ende der 50er und 60er Jahre (zu dieser Zeit dominiert das epistemologische Interesse an Kant – vor allem L. Abramjan, G. Tewsadse, aber es erscheinen auch einige Arbeiten zu Kants moralischer Metaphysik – z. B. W. F. Asmus) konnten in den 80er/90er Jahren stabile Zentren der Kant-Forschung etabliert werden (z. B. an der Universität Kaliningrad – früher Königsberg). In den 60er Jahren erscheint eine sechsbändige Ausgabe: Kants Gesammelte Werke (unter der Leitung von W. F. Asmus, A. W. Gulyga und T. I. Oiserman). Einen Meilenstein bildet das Jahr 1974, das Jahr des 250jährigen Kant-Jubiläums, mit dem eine neue ›Kant-Renaissance‹ einsetzt (daran beteiligt sind vor allem T. I. Oiserman und I. Narskij). Ab 1975 erscheint jährlich das Kant-Jahrbuch (Kantowskij sbornik; im Zeitraum von 1975 –1980 hieß das Jahrbuch Woprosy teoretitscheskogo nasledija Immanuila Kanta / Fragen zum theoretischen Vermächtnis von I. Kant).15 Seit 1994 erscheint eine zweisprachige (deutsch-russische) Ausgabe der wichtigsten Werke Kants mit ausführlichen und modernen Kommentaren.
Vgl. Motroschilowa: Kant in Rußland, 76. Ebd., 76. 14 Ebd., 79. 15 Diese Angabe stützt sich auf die schriftliche Mitteilung des Prof. Kurpakov aus Kaliningrad an Frau Dr. M. Ruffing. In den Jahren 1992, 1996, 1998 und 2000 ist aus technischen Gründen kein Jahrbuch erschienen. 12 13
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3. Wladimir Solowjow als exemplarisches Beispiel einer ambivalenten Rezeption der Metaphysik und Religionsphilosophie Kants Wladimir Solowjow (1853–1900)16 gehört zusammen mit Sergej Bulgakov (1871–1944), Nikolaj Berdajev (1874–1948) und Pawel Florenskij (1882–1937) zu den herausragendsten russischen Denkern des sogenannten ›Silbernen Zeitalters‹ (also des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts). Zu dieser Zeit wirkten auch die großen russischen Schriftsteller Lew Nikolajewitsch Tolstoj und Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, mit dem Solowjow eng befreundet war. Solowjow hat sich sein Leben lang mit der Philosophie Kants auseinandergesetzt, und es gibt keine größere Arbeit, in der er sich nicht mit Kants Positionen beschäftigt. Schon als Student übersetzt er Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die 1889 in überarbeiteter Fassung erscheint. Auch die Träume eines Geistersehers hat er übersetzen wollen, wozu es aber nicht gekommen ist.17 Die kritische Philosophie Kants stellt für Solowjow den »Hauptwendepunkt in der Geschichte des menschlichen Denkens« dar, so daß die ganze Philosophiegeschichte in eine vorkritische und eine nachkritische Zeit aufgeteilt werden müsse. Mit äußerster Knappheit formuliert Solowjow den positiven ›kopernikanischen‹ Kern der Philosophie Kants: »die Abhängigkeit der Erscheinungswelt vom Geiste und die absolute Unabhängigkeit des sittlichen Prinzips«.18 Er wendet sich dennoch auch gegen eine mögliche Überbewertung der Philosophie Kants: »Die Bedeutung Kants wird nur dann übertrieben, wenn man in seiner Lehre nicht eine Umstellung und Vertiefung der wesentlichen Aufgaben der Philosophie, sondern deren beste und nahezu endgültige Lösung erblicken will. Solch einer abschließende Rolle kommt Kant in Wirklichkeit »Bei Solowjow vereinigen sich äußere gedankliche Schärfe (ausdrucksfähig bester Sprache) und Intuition einer visionär geschauten Sophia sowie persönliche Erfahrung des verkörperten Bösen. Gerade das Intuitive ist – für den Westeuropäer schwer faßbar – das typisch Russische, das sich hier mit der ganzen Fülle verband, gleich einer Sternstunde geistiger Entwicklung Europas vor derem Niedergang.« So Gäntzel: Einleitung, 9. 17 Vgl. Solowjow: Deutsche Gesamtausgabe (DG), Bd. VI, Anm. 111, 654 f.. 18 Solowjow: Immanuel Kant, 236 in DG, Bd. VI. Diesen 50 Seiten umfassenden Artikel, der die komprimierteste Stellungnahme Solowjows zu Kant darstellt, schrieb Solowjow für die russische Enzyklopädie Brockhaus-Jefron. 16
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nur auf dem Gebiet der Ethik zu (und zwar in deren ›reinen‹ oder formalen Teil); auf allen übrigen Gebieten der Philosophie aber hat er nur das Verdienst, große Anregungen, nicht aber endgültige Lösungen der wichtigsten Probleme gegeben zu haben.«19 Kant ist laut Solowjow auf halbem Weg stehengeblieben. Bei der Gegenüberstellung der allgemeinen Prinzipien und der Wirklichkeit begnüge sich Kant mit der abstrakten Richtigkeit der Prinzipien, »ohne sich darum zu kümmern, ob sie die Wirklichkeit durchdringen und ihr einen Sinn verleihen«. Er sei auch die Antwort auf die für ein Bewußtsein wesentlichste Frage schuldig geblieben, »was denn eigentlich dieser aufbauende Geist [also das transzendentale Subjekt, das die Erkenntnis der Welt aufbaut] sei und in welchem Verhältnis er zum gegebenen empirischen Geist eines jeden Einzelmenschen stehe.«20 Solowjow erkennt zwar die Unterscheidung zwischen einem transzendentalen und einem empirischen Subjekt als richtig an, wirft Kant jedoch gleichzeitig vor, das Verhältnis der beiden zueinander und auch die Herkunft des transzendentalen Subjekts nicht aufgezeigt zu haben. Kant habe implizit eine Kluft zwischen der moralischen und der physischen Welt errichtet, oder genauer zwischen der Stellung des Menschen in der einen und in der anderen Welt. Solowjow dagegen sieht zwischen beiden einen inneren Zusammenhang: Die Stellung des Menschen in der einen Welt zeigt sich parallel zu der in der anderen. »Wenn ich als praktische Vernunft auf ethischem Gebiet den selbstgesetzlichen Schöpfer der sittlichen Ordnung darstelle und ich zugleich als sinnliches und böses Wesen mich dieser sittlichen Ordnung, als einem mir fremden Gesetz unterwerfen soll, so stehe ich in ganz analoger Weise auf dem Gebiet der Erkenntnis in der Funktion der reinen Vernunft – im Rahmen der mir eigenen Formen und Kategorien – als Schöpfer der ganzen Erscheinungswelt da und unterwerfe mich als ein empirisches Subjekt, das dieser Welt angehört, ihren Gesetzen oder dem natürlichen Lauf der Dinge als den äußeren und notwendigen Bedingungen meiner eigenen Existenz. [...] Das empirische Subjekt erkennt die Wahrheit nur in formaler Beziehung, genau wie das sittlich Gute für den empirischen, heteronomen Willen nur in Gestalt der Pflicht existiert. Die Welt der Erscheinungen lastet auf dem empirischen Subjekt als etwas Äußeres und Undurchdringliches in ähnlicher Weise, wie die sittliche Ordnung dem heteronomen Willen als äußeres und lästiges Gesetz erscheint. 19 20
Ebd., 195. Vgl. dazu ebd., 237.
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Folglich bedürfen wir zur wirklichen Erkenntnis der Wahrheit sowie zur wirklichen sittlichen Vervollkommnung einer gleichartigen Umwandlung: der empirische Geist hat sich die schöpferische Kraft des transzendentalen Ich anzueignen, das heteronome Wollen aber selbstgesetzlich zu werden, das heißt das Gute zum Gegenstand des eigenen selbstlosen Strebens zu machen. Diese zweifache Umwandlung hat offenbar unsere eigene Angelegenheit zu sein, das heißt von unserem Willen auszugehen, der sich die Wahrheit und das Gute als unbedingtes Ziel setzt.«21 Auch das zentrale Thema der Willensfreiheit finde bei Kant keine befriedigende Lösung. Laut Solowjow behauptet Kant, der empirische Charakter des menschlichen Geistes werde durch den intelligiblen Charakter frei erschaffen. Der Begriff der Erschaffung impliziere jedoch die Vorstellung eines zeitlichen Geschehens, so daß nach Solowjow zwei Zustände gedacht werden müssen: Der erste Zustand, als das Erschaffene noch nicht da war und der zweite, als es aufgetreten war. Unter diesen Bedingungen sei jedoch die Willensfreiheit undenkbar. Kant versuche sowohl die Willensfreiheit, als auch das Gewissen als etwas Wirkliches, Vorhandenes zu deduzieren, obwohl sie nach Kants eigenen Prinzipien unerkennbar sind.22 Solowjow wirft Kant vor, auch auf dem Gebiet der Ethik nicht einen einseitigen subjektiven Idealismus vermieden zu haben, obwohl seine Unterscheidung zwischen einem autonomen und einem heteronomen Element in der Sittlichkeit und die Formel des Sittengesetzes einen der größten Fortschritte des menschlichen Geistes darstellen. »Daß das reine sittlich Gute letzten Endes als höchstes Heilsgut, das heißt als Fülle der Befriedigung oder Seligkeit erfahren werden muß, das hat selbst der strenge Prediger des kategorischen Imperativs zugegeben. Aber der Weg, auf dem er zu der Einheit dieser zwei obersten Begriffe zu gelangen gedachte, kann keineswegs als zum Ziel führend angesehen werden.«23 Solowjow zeigt die vermeintliche Schwäche der Konzeption Kants am Phänomen des Gewissens. Kant finde im Gewissen eine Stütze für seinen ethischen Standpunkt. Solowjow ist jedoch der Meinung, die ethische Forderung des Sittengesetzes und die Stimme des Gewissens könnten jeweils unterschiedliche ›Verpflichtungen‹ auferlegen. Eine gute Handlung gegenüber 21 22 23
Ebd., 238 f. Vgl dazu ebd., 243 f. Solowjow: Die Rechtfertigung des Guten, DG, Bd. V, 240.
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einem Anderen könne zum Beispiel aus dem Gefühl des Mitleids heraus vom Gewissen geboten sein, auch wenn es sich nach der Theorie Kants nur um ein heteronomes Motiv handelt und deshalb von einem sittlichen Wert der Handlung nicht die Rede sein kann. Solowjow ist dagegen der Ansicht: »Das wirkliche Gewissen verpflichtet uns, uns in pflichtgemäßer Weise allem gegenüber zu verhalten. Ob aber dieses pflichtgemäße Verhalten die Form eines abstrakten Bewußtseins der allgemeinen Prinzipien annimmt oder ob es direkt in der Form eines unmittelbaren Gefühls wirkt oder, was das Beste ist, ob es das eine und das andere verbindet, das ist schon eine Frage nach Grad und Form der sittlichen Entwicklung, eine an sich sehr wichtige Frage, die aber für das Gewissen eine Nebenfrage ist [...].«24 Eine natürliche Neigung zum Mitgefühl ist nach Solowjow kein heteronomes Motiv, sondern das empirische Prinzip der Sittlichkeit. Die allgemeine Form des kategorischen Imperativs sei das formale Prinzip der Sittlichkeit, so daß sich beide nicht widersprechen, sondern sich als Komplementäre ergänzen können. Um der Unbedingtheit des Sittengesetzes willen und um der Kluft zwischen dem geforderten Guten und der tatsächlichen Nicht-Erreichbarkeit des Ideals vom höchsten Gut auf der Erde willen führe Kant die Postulate des Daseins Gottes und der Unsterblichkeit der Seele ein. Solowjow unterstellt Kant, er habe hinter »dem bestirnten Himmel über uns« Gott und hinter der Stimme des Gewissen eine unsterbliche Seele nach dem Gleichnis Gottes finden wollen. Der ›vernünftige Glaube‹ Kants sei weder Glaube noch vernünftig: »Hier handelt es sich um keinen Glauben, denn ein Glaube kann nicht Schlußfolgerung sein, auch ist hier wenig Vernünftigkeit, denn die ganze Erwägung dreht sich in einem circulus vitiosus: Gott und die unsterbliche Seele werden aus der Sittlichkeit geschlossen, die Sittlichkeit selbst aber ist durch Gott und die unsterbliche Seele bedingt.«25 Da jedoch nach der kritischen Philosophie diesen metaphysischen Postulaten keine beweisbare Gewißheit innewohne, bleibt somit – so Solowjows Schlußfolgerung – auch die Sittlichkeit ohne die nötige unbedingte Bedeutung. Daß die Sittlichkeit eigengesetzlich sein muß, darin gibt Solowjow Kant recht. Er lehnt jedoch seine Lösung ab. Oder besser gesagt: was Solowjow für die Lösung Kants gehalten hat, nämlich die unnötige Konstruktion der Verbindung des unbedingt geltenden Sittengesetzes mit den Postulaten der praktischen Vernunft. Laut Solowjow ist die 24 25
Ebd., 242. Ebd., 245.
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Sittlichkeit aber gerade deshalb eigengesetzlich, »weil ihr Wesen nicht eine abstrakte Formel ist, die in der Luft hängt, sondern weil sie alle Bedingungen ihrer Wirklichkeit in sich selbst enthält. Und das, was von einem sittlichen Leben notwendig vorausgesetzt wird – die Existenz Gottes und der unsterblichen Seele – ist nicht die Forderung nach irgend etwas anderem, was zur Sittlichkeit hinzukäme, sondern ist ihre eigene innere Grundlage. Gott und Seele sind nicht Postulate des Sittengesetzes, sondern direkte formende Kräfte der sittlichen Wirklichkeit.«26 Bei aller Wertschätzung der Ethik Kants – und obwohl Solowjow sich mit seiner These einer direkten Abhängigkeit der ethischen von der metaphysischen Frage in Übereinstimmung mit der Position Kants sah – 27 attackiert Solowjow Kants grundsätzliche Annahme, daß Moral nicht Religion voraussetze, sondern unausweichlich zu ihr führe.28 Letztlich wird Kant nicht die Tatsache vorgeworfen, daß er Gott ins Spiel gebracht habe, sondern daß er ihn nur als Postulat und erst nachträglich einführt. Für Solowjow muß Gott als Bedingung sine qua non der Sittlichkeit betrachtet werden. Er bekennt freimütig, daß seine Bestimmung des höchsten sittlichen Ideals »auf dem Begriff des Menschen als eines religiösen Wesens, auf der Anerkennung des göttlichen Prinzips im Menschen und in der Menschheit gegründet«29 ist. Woher jedoch die Gewißheit des Daseins Gottes kommt, wird von Solowjow nicht theoretisch begründet. Er beruft sich auf ein praktisches, intuitives Wissen. »Vorläufig (das heißt vor einer theoretischen Untersuchung der metaphysischen Fragen) wissen wir von der Substantialität der Seele wie auch von der Substantialität der Gottheit nichts; das eine aber wissen wir fest: Gott lebt, und meine Seele lebt; würden wir auf diese Grundlage verzichten, so würden wir aufhören, uns selbst als ein sittliches Wesen zu verstehen und zu behaupten; das heißt: wir würden uns vom Sinn unseres Seins selbst lossagen.«30 Die sittlichen Empfindungen des Menschen, die die empirische Grundlage der Sittlichkeit bilden, offenbaren in sich ein Prinzip, das höher ist, als sie selbst. Die Tatsache dieser sittlichen Gefühle ist für Solowjow der ›praktische‹ Beweis des metaphysischen Wesens Ebd., 246. Vgl. Solowjow: Kritik der abstrakten Prinzipien, DG, Bd. I, 306. 28 Vgl. RGV B X = AA 6,6: »Moral also führt unumgänglich zur Religion«; vgl. auch KpV A 233: »Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts [...] zur Religion«. 29 Solowjow: Kritik der abstrakten Prinzipien, 305. 30 Ebd., 248. 26 27
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des Menschen. Diese sittlichen Empfindungen sind letztlich vom religiösen Gefühl abhängig. Das Vorhandensein dieses religiösen Gefühls macht nach Solowjow die Wirklichkeit Gottes evident: »Die Wirklichkeit der Gottheit ist nicht eine Schlußfolgerung aus der religiösen Empfindung, sondern der Inhalt dieser Empfindung – eben das, was empfunden wird. Man entferne diese empfundene Wirklichkeit des höchsten Prinzips, und in der religiösen Empfindung bleibt nichts übrig. Sie selbst wird nicht mehr sein. Es gibt sie aber, und folglich gibt es auch das, was in ihr gegeben ist, das, was in ihr empfunden wird. Gott ist in uns, folglich ist er.«31 Solowjows Fazit zu Kants Metaphysik und Religionsphilosophie fällt ambivalent aus und lautet folgendermaßen: »Kants Behandlung der Religion ist durch seine Moralphilosophie bedingt. Er läßt nur eine ›moralische Theologie‹ zu und verneint eine ›theologische Moral‹, das heißt von seinem Gesichtspunkt aus soll die Religion sittlich sein oder auf Sittlichkeit beruhen, keinesfalls aber umgekehrt.«32 »Die Gewißheit, daß bestimmte metaphysische Wahrheiten, die keine Rechtfertigung in der theoretischen Vernunft haben, sich als notwendige Folgen gewisser sittlicher Forderungen auf die praktische Vernunft stützen können – diese Gewißheit hat eine sehr wesentliche Bedeutung für die ganze Philosophie Kants und stellt, so kann man sagen, seinen grundlegenden Irrtum dar.«33 Trotz seiner grundsätzlichen Kritik weiß jedoch auch Solowjow um die herausragende, positive Bedeutung Kants. Mit einer abschließenden Bemerkung in seinem großen Artikel über Kant für die russische Enzyklopädie Brockhaus-Jefron würdigt Solowjow Kants Beitrag auf dem Gebiet der Metaphysik und Religionsphilosophie. Mit dieser Bemerkung möchte auch ich meine Darstellung beschließen. Solowjow sagt: »Schließlich hat er durch seine dialektische Untersuchung der alten, dogmatischen Metaphysik das menschliche Denken von groben und unwürdigen Begriffen von der Seele, der Welt und Gott befreit und damit das Bedürfnis nach besseren Grundlagen für unsere Glaubenslehren geweckt. Insbesondere hat er mit seiner Kritik der pseudorationalen Scholastik auf dem Gebiet der Theologie der wahren Religion einen Dienst erwiesen, der in bedeutendem Maße die Einseitigkeit seiner eigenen moralisch-rationalistischen Deutung der religiösen Tatsachen wettmacht.«34 31 32 33 34
Ebd., 255. Solowjow: Kant, DG, Bd. VI, 231f. Solowjow: Kritik der abstrakten Prinzipien, DG, Bd. I, Anm. 4, 524. Ebd., 246.
Kritische Religionsphilosophie und Absolutes Nichts – Kant und die Kyo¯ to-Schule von Wolfgang Erb
1. Kant, der Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden »Nahen wir uns [… dem] Pandämonium [der Transzendenz], so gelangen wir durch zwei ›blinde Anschauungen‹, die selbst bekennen, daß sie nichts sehen und nichts geben, als durch Hüterinnen der Pforte in einen Vorhof, wo aufgehangene ›Schattentafeln‹ selbst bekennen, daß sie ›Objektlose Schemen‹ sind und nicht wissen, wie von Objekten abgezogne Worte auf sie zusammenflogen. Ein scharfer Zugwind von ›Paralogismen‹ führt uns sodann durch windige Kreuzgänge von ›Antinomien‹ in die leere Halle der ›leeren Vernunft‹, wo nach langer Erwartung der leere Schall, ›du sollt‹, aus dem Absoluten Nichts ertönet. Das Echo tönt das absolute ›Soll‹ rückwärts sehr vernehmlich im Worte ›Los‹ wieder; denn was durch übersinnlich-absolute Pflicht Bedingungslos gebunden ward, kann durch übersinnlich-absolute Freiheit Bedingungslos gelöset werden. Also gehen wir leer aus dem Tempel, aber zu übersinnlichen Gesetzgebern und Naturschöpfern im absoluten Nichts aus Vollmacht der objektlosen leeren Vernunft gewürdet. Stolzes Spiel! Traum der Träume!«1 Herder, dessen Auseinandersetzung mit Kant in seiner Metakritik von 1799 und der hier zitierten Kalligone von 1800 bekanntlich oft polemische Züge aufweist, ist stellvertretend für einige Zeitgenossen ausgewählt worden, die Kants Kritizismus offenbar als ungeeignet für das Gott-Denken in ihrer Gegenwart halten, als ›Stolzes Spiel!‹, als ›Traum der Träume!‹. Auch wenn Kant selbst dies gewiß anders sehen mag, bleibt es dennoch eine legitime AufHerder. Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800, 912 f.; zahlreiche Hintergrundinformationen zum Verhältnis zwischen Kant und Herder, sowie Hinführungen und einige Literaturhinweise speziell zu den beiden Werken Herders, die Kants KrV und KU zum Inhalt haben, bietet der Herausgeber Irmscher ebd., 1062 –1142. 1
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gabe, solchen Vorwürfen nachzudenken, insbesondere dem Vorwurf, der eine bestimmte Form des Nihilismus im Kantischen Kritizismus vermutet. Denn speziell die Problematik des Nihilismus kann als einer der möglichen Anknüpfungspunkte zur Philosophie der japanischen, vom Zen-Buddhismus her inspirierten Kyo¯to-Schule angesehen werden. Zwar gibt es eine japanische Kant-Rezeption,2 und es werden durchaus Verbindungslinien zwischen Kant und dem Zen-Buddhismus gezogen;3 doch hier wird von einem historisch formulierten Nihilismusvorwurf ausgegangen. Dieser Vorwurf wird zu einer weiter ausgreifenden Thematisierung des Nihilismus ausgebaut, vor allem im Zusammenhang mit der Kritik Nietzsches an Kants ›moralischem Gott‹. Die sich im Anschluß daran stellende Frage nach einer Überwindung des Nihilismus und nach einem in diesem Kontext stehenden Gott-Denken rekurriert nicht nur auf europäische Überlegungen zum Nichts, sondern auch auf Reflexionen Hisamatsus zum Absoluten Nichts. Als Abschluß dieses Gedankengangs werden dann einige Aspekte formuliert, die eine heutige Religionsphilosophie berücksichtigen müßte, wenn sie auch ostasiatische Denktraditionen miteinzubeziehen bereit ist. Historisch gesehen war der Ausgangspunkt dieses Nihilismusvorwurfs der durch Jacobis Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn von 1785 ausgelöste Streit. Kants Stellungnahme gegen die ›Pempelforter Schwärmerei‹ in seinem Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? von 1786 meint neben Jacobi auch Wizenmann. Letzterer reagiert ein Jahr später mit einem Artikel, in dem er Kants Vorwürfe der ›Schwärmerei und der gänzlichen Entthronung der Vernunft‹ (WDO A 305 = AA 8,134) zurückweist und umgekehrt Kants Vernunftglauben einen Bedürfnisglauben nennt, der letztlich nicht anders als schwärmerisch bezeichnet werden könne. In diesem Zusammenhang kommt es zu folgender Kritik an Kant: »Wenn Sie aus dem Bedürfnisse der Vernunft, den Begriff des Uneingeschränkten voraus zu setzen, das Bedürfniß folgern, das Dasein desselben anzunehmen, so treiben Sie, meines Erachtens, das Bedürfniß der Vernunft offenbar zu weit […]. Wenn, wie Sie sagen, ›weder das verbindende Ansehen, der moralischen Gesetze, noch die Triebfeder zu ihrer Beobachtung von der Existenz eines Gottes Vgl. dazu Kadowaki: Kants Philosophie in Japan; Yuasa: A Historical View of the Japanese Response to Kant’s Philosophy. 3 Vgl. dazu Olson: The Discipline of Freedom: A Kantian View of Moral Precepts in Zen Practice; Arifuku: Deutsche Philosophie und Zen-Buddhismus, 61–95. 2
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abzuleiten ist;‹ so muß ja, wie ich nicht anders begreifen kan, die Moralität feste stehen, ohne einen Gott. Wenn aber seine Existenz darum vorausgesetzt werden muß, ›um, wie Sie ebenfalls sagen, dem Begriffe vom höchsten Gut objektive Realität zu geben, d. i. zu verhindern, daß es zusamt der ganzen Sittlichkeit nicht für ein bloßes Ideal gehalten werde;‹ so wird ja die Moralität durch die Voraussetzung eines Gottes überhaupt erst möglich; dergestalt, daß die Realität der Sittlichkeit von der Voraussetzung eines Gottes, und die Realität eines Gottes von der Voraussetzung der Sittlichkeit abhängig gemacht wird. Kan denn nun aus wechselsweise also anticipirten Begriffen irgend ein Bedürfniß für die Vernunft entstehen, das eine oder das andere voraus zu setzen?«4 Diese Kritik von Wizenmann an der praktischen Philosophie Kants, daß es nämlich für die Vernunft gar kein Bedürfnis gebe, Gott zu postulieren, hält Obereit für gültig und schreibt daraufhin im selben Jahr 1787 zwei Abhandlungen über die ›verzweifelte Metaphysik‹ : »Seitdem die Welt gestanden ist, bin ich, die ewige Metaphysik, noch nie so äußerst weit auf grundloses Eis geführt worden, als von diesen zwei ungemeinen Männern […]. Der eine, der reine Moralität, reine Physik und Kritik der reinen Vernunft aufstellt, nimmt mir alle objektive Gründe des geistigen Anschauens, wie des übersinnlichen bloßen Denkens weg; der äußerst schaftlogische andre auch die subjektiven Gründe, die ein Kant zum Behuf eines sogenannten Vernunftglaubens für das höchste Wesen noch übrig gelassen. Nun, was bleibt mir übrig? Baar Nichts!«5 Die Suche der verzweifelten Metaphysik nun nach einem Orientierungspunkt führt sie dabei ganz kurz zum Denken im Nichts, doch dies wird noch einmal abgelehnt. In seiner zweiten Schrift jedoch ist Nachfolger der Metaphysik und Hauptakteur des ganzen Dramas der Nihilismus, in dem Obereit einen Weg aus der Krise der Vernunftreligion wie Phönix aus der Asche zu finden meint.6 Dieses zwar bei Obereit letztlich ins Positive umschlagende, mit dem Namen Nihilismus gekennzeichnete Unbehagen an der Situation des Gott-Denkens – nachdem Wizenmann kein echtes Bedürfnis einer theoretisch disziplinierten und wegen des kategorischen Imperativs autonomen praktischen Vernunft für die Existenz Gottes sieht – steht keineswegs isoliert da. Auch ein Jacobi, der Wizenmann: An den Herrn Prof. Kant von dem Verfasser der Resultate Jacobischer und Mendelssohnscher Philosophie, 139 f. 5 Obereit: Die verzweifelte Metaphysik zwischen Kant und Wizenmann, 11. 6 Vgl. Obereit: Der wiederkehrende Lebensgeist der verzweifelten Metaphysik. 4
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die Linie von Spinoza über Malebranche, Leibniz, Berkeley bis hin zu Kant und Fichte als den Weg fortschreitender Entsubstanzialisierung des Wirklichen sieht, erhebt gegenüber Kant, zu dem er ein wechselhaftes Verhältnis hat,7 den Vorwurf eines Nihilismus sowohl in dessen theoretischer wie auch praktischer Philosophie. Diesem Vorwurf jedoch liegt eigentlich eine Kritik an Fichte, dem Vollender der Transzendentalphilosophie, zu Grunde: Bereits Jenisch meint 1796, daß im Ansatz des Kantischen Kritizismus, den er einen ›bedingten Transcendental-Idealismus‹ nennt, durchaus der Gedanke des ›unbedingt transcendental-idealistischen Nihilismus‹ als Möglichkeit stecke, den allerdings nur die mehr als dogmatischen Schüler Kants durchführen.8 Und Jacobi schilt 1799 in seinem bekannten Sendschreiben Fichtes Wissenschaftslehre, daß es einen ›umgekehrten Spinozismus‹ darstelle, die Welt aus einem einzigen Prinzip (dem transzendentalen Subjekt) herzuleiten, da im Ich als der Tathandlung bereits alles gegeben und enthalten sein müsse und außerhalb nichts existieren könne, so daß dieser Idealismus ein Nihilismus zu nennen sei.9 Zwei Jahre später schreibt Jacobi in seiner Schrift Ueber das Unternehmen des Kriticismus (JW III,174 f.): »Ist eine Philosophie in ihren Fundamenten Empirismus, so ist zugleich aller apriorische Heiligenschein Nihilismus, und die Kanonisationsurkunde wird nur in einem Lande gelten, wo man, laut Bericht der dort erschienenen Druckschriften, an einen erwählten sichtbaren Statthalter der unsichtbaren philosophischen Kirche glaubt.« Während also Jacobi dem »blos theoretischen Theil des [Kantischen] Systems [… vorwirft], daß er zum Nihilismus führe, und zwar mit einer solchen allzerstörenden Kräftigkeit dahin führe, daß keine hintennach ersonnene Hülfe das ein für allemal Verlorne wiederbringen könne« (JW II,19), so heißt es an anderer Stelle (JW III,183 f.): »Die Größe des Bedürfnisses hebt nicht die Unmöglichkeit auf, gewissen Ideen objective Existenz zu verleihen, sobald die Subjectivität derselben außer allen Zweifel gesetzt ward […]. Der Mensch steht nach Kantischer Angabe, durch seine Vernunft, in einem ewigen Widerspruch zwischen seinen praktischen Postulaten und seinem Vernunftgebrauche […]. Gewährt die Philosophie
Vgl. Hammacher: Friedrich Heinrich Jacobis Kantkritik. Jenisch: Ueber Grund und Werth der Entdeckungen des Herrn Professor Kant in der Metaphysik, Moral und Aesthetik. 9 Vgl. Jacobi: Jacobi an Fichte, 44 (die Werke werden im folgenden mit JW sowie der Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert). 7 8
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nichts anders, als die Einsicht in diesen Zustand […], so ist sie die ärgste Feindesgabe, ein Fegfeuer des denkenden Geistes und eine Hölle der empfindenden Menschheit!– Gesteht es nur, ihr mit eurer Vernunft wider Vernunft postulirenden Philosophen, das ganze Gerüste eurer praktischen Lehre ist Nihilismus«. Diese Kritik also, daß die Postulate nach der Zurückweisung der illegitimen Ansprüche der Vernunftmetaphysik nur die Funktion eines Lückenbüßers hätten und Kants Philosophie so mit Notwendigkeit zum Nihilismus führe, ist ein Argument, das bis in die jüngere10 und jüngste11 Gegenwart hinein vorgebracht wird. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß der Nihilismus ein sehr vielfältiges Phänomen darstellt, das nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Theologie und in der Literatur, ebenso in der Soziologie und Politologie, ja sogar in der Psychiatrie, mehr oder weniger reflektiert wird; und selbst innerhalb der Philosophie wird der »Begriff ›Nihilismus‹ […] im Laufe seiner Geschichte zur Kennzeichnung für zum Teil sehr verschiedenartige […] Standpunkte und Richtungen verwendet, so für den philosophischen Egoismus bzw. Solipsismus, für Idealismus, Atheismus, Pantheismus, Skeptizismus, Materialismus und Pessimismus«.12 Der Terminus ›Nihilismus‹ taucht wohl zum ersten Mal bereits 1733 in Friedrich Goetzes Werk De Nonismo et Nihilismo in Theologia auf. Im Vorwort heißt es, man solle sich nicht über die neuen Ausdrücke ›Nonismus‹ und ›Nihilismus‹ wundern, aber diese seien ihm am geeignetsten erschienen, den Inhalt seines Werkes zu bezeichnen, in dem eine unglaubliche Materialfülle dessen dargeboten wird, was die Bisherigen unter ›non‹ und ›nihil‹ geschrieben haben – und zwar nicht nur innerhalb der Theologie, wie der Titel vermuten ließe, sondern auch in der Philosophie, Philologie, Historie, Jurisprudenz und Medizin. Da Goetze jedoch keine eigenständige denkerische Durchdringung der Problematik von ›non‹ und ›nihil‹ leistet, kann von hier aus kaum ein systematischer Ansatz zur Vertiefung des Nihilismus unternommen werden. Auch von den historisch früheren, vor allem theologischen Streitfällen, die eventuell Pate für den Ausdruck ›Nihilismus‹ gestanden haben könnten, kommt der Nihilianismus weniger in Frage, der die christologische Streitfrage betrifft, ob Christus qua homo persona sei oder ein aliquid bzw. ob Gott als Mensch nicht 10 11 12
Vgl. Bröcker: Der europäische Nihilismus und die kantische Philosophie. Vgl. Shibuya: Kant und das Problem des Wert-Nihilismus. Müller-Lauter: Nihilismus, 846.
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ein aliquid, sondern ein nihil sei. Ein schon eher vorhandener Zusammenhang besteht wohl mit der annihilatio, die ganz allgemein den radikalen Gegensatz zur creatio meint, also die totale Aufhebung eines Seienden oder der Schöpfung insgesamt. Doch im folgenden wird weder eine Untersuchung über die Etymologie des Wortes noch eine inhaltliche Entfaltung der Wortgeschichte zugrundegelegt, um den Nihilismusvorwurf gegenüber Kant zu reflektieren, sondern es wird von einem Definitionsversuch ausgegangen, der auf einer traditionellen Einteilung der Philosophie in Theorie (Erkenntnistheorie, Ethik, Ontologie) und Praxis beruht: Nihilismus ist »in theoretischer Hinsicht eine […] Haltung, die erkenntnistheoretisch eine objektive Wahrheit […], ethisch die Existenz allgemein-gültiger Normen und Werte leugnet [und] ontologisch […] keinen Standpunkt eines letztgültigen Seins [akzeptiert], sondern […] auf das Nichts als dem ersten Grundsatz [orientiert]. In moralisch-praktischer Hinsicht geht der Nihilismus von der absoluten Autonomie des vereinzelten Individuums aus, welches seine Sache auf Nichts gestellt hat […], nur aus den eigenen Trieben und Neigungen heraus handelt und dem alles erlaubt ist«.13 Legt man einmal diese Bestimmung von Nihilismus zu Grunde, dann scheint es auf den ersten Blick sehr deutlich zu sein, daß »man bei Kant auch nicht den Anflug eines Nihilismus« findet, wie der dänische Religionsphilosoph Løgstrup sagt.14 Denn Kant, der das Wort ›Nihilismus‹ offenbar selbst nur einmal im Zusammenhang mit der Wärmetheorie verwendet (PG; AA 9,251), versteht die Autonomie des Individuums nicht als bloße Selbstbestimmung nach beliebigen Kriterien, schon gar nicht als Selbstverwirklichung, sondern als Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft.15 Auch ontologisch wird ein letztgültiges Sein nicht nur akzeptiert, sondern die Begriffe von Gott und Unsterblichkeit, die in der theoretischen Vernunft als bloße Ideen ohne Halt sind und quasi in der Luft hängen, bekommen durch den Begriff der Freiheit als Schlußstein des Ganzen Bestand und objektive Realität (KpV A 4 f.). Ebensowenig kann von einem Leugnen der Existenz einer letzten Norm gesprochen werden, wenn man bedenkt, daß das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ein Faktum, wenn auch das einzige Faktum, der reinen Gerlach: Nihilismus, 947. Løgstrup: Der Mensch in der Perspektive des Nihilismus, 12. 15 Vgl. Fischer / Hattrup: Metaphysik aus dem Anspruch des Anderen. Kant und Levinas, 215. 13 14
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Vernunft ist (KpV A 56) und dieses moralische Gesetz objektive Gültigkeit beansprucht, insofern der Mensch – nicht nur ich selbst, sondern auch jeder andere – als Zweck an sich selbst anzuerkennen ist, was in der Formel des Kategorischen Imperativs aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten deutlich wird (GMS B 66 f. = AA 4,429): »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Und schließlich bestreiten die beiden Grundquellen des Gemüts, aus denen unsere Erkenntnis entspringt, nämlich Anschauung und Begriff, keineswegs eine objektive Wahrheit, sondern gerade die Rezeptivität der Sinnlichkeit, von Gegenständen affiziert zu werden, garantiert diese (KrV B 74 f.). Ist somit die Nihilismus-Kritik gegenüber Kant ad absurdum geführt? – Doch wie steht es beispielsweise mit der objektiven Wahrheit bei genauerem Hinsehen? In der Einleitung zur Logik unterscheidet Kant entsprechend den soeben genannten beiden Grundvermögen, aus denen unsere Erkenntnis entspringt, zwischen einer ästhetischen und einer vorrangigen, logischen Vollkommenheit der Erkenntnis (Log A 40–52 = AA 9,33–39). In den weiteren Entfaltungen dieser Vollkommenheiten nach der Kategorientafel (Quantität, Relation, Qualität und Modalität) wird die objektive Wahrheit als eine der Relation nach logisch vollkommene Erkenntnis (Log A 50 = AA 9,38) bestimmt, also gemäß der traditionellen Adäquationsformel als ›Übereinstimmung der Erkenntniß mit ihrem Gegenstande‹ (KrV B 82). Ein wichtiges Problem, das sich hierbei allerdings ergibt, ist die Tatsache, daß zwar sichere, allgemein subjektiv-formale und in der Anwendung brauchbare Kriterien (Log A 70 f. = AA 9,50) angegeben werden können, die – wenn auch nicht hinreichend für die objektive Wahrheit – doch wenigstens conditiones sine quibus non derselben sind (Log 72 = AA 9,51), nämlich ›der Satz des Widerspruchs und der Identität‹, ›der Satz des zureichenden Grundes‹ und ›der Satz des ausschließenden Dritten‹ (Log A 75 f. = AA 9,52 f.); aber offensichtlich ist ein allgemein objektiv-materiales Kriterium nicht möglich, sogar in sich selbst widersprechend (Log A 71 = AA 9,50). Ein von Kant angebotener äußerlicher Ausweg aus dieser Schwierigkeit besteht darin, das Fürwahrgehaltene anderen mitzuteilen und für jede menschliche Vernunft als gültig zu erweisen, da dann wenigstens vermutet werden kann, daß »der Grund der Einstimmung aller Urtheile, ungeachtet der Verschiedenheit der Subjecte unter einander, […] auf dem gemeinschaftlichen Grunde, nämlich dem Objecte, beruhen [werde], mit welchem sie daher
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alle zusammenstimmen und dadurch die Wahrheit des Urtheils« (KrV B 848 f.) bewiesen wird. Zwar müßte dies genauer in einer entsprechenden Wahrheitstheorie entfaltet werden, aber bereits in diesen wenigen Andeutungen scheint zumindest folgendes deutlich zu werden. Auf der einen Seite kann wohl dieser Weg der objektiven Wahrheitsfindung nicht allgemein gültig zu Ende gebracht werden. Denn wie ist ›die Einstimmung aller Urteile‹ zu bewerkstelligen? Doch andererseits wird man faktisch zu einem gewissen Stillstand gezwungen, wenn es darum geht zu handeln, vor allem wenn der kategorische Imperativ eine wie auch immer geartete Handlung in einer moralisch relevanten Situation notwendig einfordert. Wenn nun diese Notwendigkeit einer Handlung nicht unabhängig von, sondern im Zusammenhang mit der objektiven Wahrheit gedacht wird, dann muß dies auch Konsequenzen für das Verhältnis von der objektiven Wahrheitsfindung zu einer Handlung haben, von denen hier allerdings nur ein ganz bestimmter Aspekt formuliert wird. Auch wenn die Wahrheit weiterhin Maßstab für das Handeln ist, so wird sie dennoch eingefordert, bevor sie allgemeingültig und objektiv werden konnte. Dem Handeln scheint also eine ancilla Wahrheit, so wichtig diese ›Hauptvollkommenheit der Erkenntnis‹ (Log A 51 = AA 9,39) auch immer sein mag, in einer gewissen Weise untergeordnet zu sein, so daß man sagen könnte: »Wahrheit sei die Form, in der Menschen jeweils etwas für wahr halten, um ihren freien sittlichen Gewissen gemäß überhaupt handeln zu können.«16 Mit dieser Art einer Indienstnahme der Wahrheit von Seiten einer Handlungsnotwendigkeit geht nun doch ein Zerbrechen von Objektivität einher,17 das man einen Nihilismus hinsichtlich des Objektivitätsanspruchs durch das Primat des Handelns nennen könnte, auch wenn dies in eine andere Richtung weist als die historische Nihilismuskritik an Kant.
Simon: Die Krise des Wahrheitsbegriffs als Krise der Metaphysik, 249 f. Vgl. dazu Kaulbach: Philosophie des Perspektivismus. 1. Teil: Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche (1990); der zweite Teil ist wegen Kaulbachs Tod 1992 nicht ausgeführt. 16 17
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2. Überwindung des moralischen Gottes In diesem Zusammenhang sei die Frage nach der Herkunft des Nihilismus gestellt und mit Nietzsches bekanntem Fragment aus der Mitte der 80er Jahre gesprochen (2[127]. KSA 12, 125): »Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?«18 Die hier gegebene Antwort Nietzsches, in der er die Skepsis an der Moral als die entscheidende Ursache des Nihilismus diagnostiziert, ist weder die erste noch die einzige Reflexion Nietzsches dazu.19 Die in dieser Zeit angestellten Überlegungen Nietzsches zum Nihilismus stehen überwiegend im Zusammenhang mit dem literarischen Projekt Der Wille zur Macht, das von der gleichnamigen Textkompilation zu unterscheiden ist.20 Die Konzeptionen dieser geplanten Veröffentlichung sind zwar ein zentrales Thema in der Umwertungs-Zeit nach der Veröffentlichung von Zarathustra IV Anfang 1885 bis zu Nietzsches Zusammenbruch Anfang 1889 in Turin, aber sie haben verschiedene Gestaltungen erfahren. In all jenen Entwürfen und Aufzeichnungen, die in die Götzen-Dämmerung von 1889 und in Der Antichrist (Erstveröffentlichung 1895) einfließen oder Nachlaß (KSA 11–13) bleiben, reflektiert Nietzsche den in Religion, Moral, Philosophie und Kunst, aber auch in Naturwissenschaft, Politik, Ökonomie und Geschichtswissenschaft sich zeigenden Nihilismus und seine Herkunft. Die sogenannte Lenzerheider Abhandlung, datiert vom 10. Juni 1887 (5[71]. KSA 12, 211–217), trägt den Titel Der europäische Nihilismus, und Nietzsche scheint es in den ersten Absätzen zunächst einmal um eine Diagnose der Herkunft des Nihilismus zu gehen: Die bisherige Moral, so Nietzsche, sei das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus gewesen, weil sie u. a. dem Menschen einen absoluten Wert zusprach. Mit seiner Sittlichkeit unterschied er sich von der Naturkausalität, und sie verhütete, Zitiert wird Nietzsche nach: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Die Werke werden nach dem Siglenverzeichnis im Kommentar-Band 14, 220–235 mit Sigle. KSA (bei den Briefen KSB) sowie der Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. 19 Vgl dazu Kuhn: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, 133–198. Kuhn legt in ihrem Werk unter dem Kapitel ›Die Ursprünge und die Bereiche des Nihilismus‹ die verschiedenen Aspekte der Nihilismus-Diskussion bei Nietzsche dar. 20 Nietzsche: Der Wille zur Macht 1884/88. Versuch einer Umwerthung aller Werthe. Hrsg. von Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) und Elisabeth Förster-Nietzsche. Bände 9 + 10. Leipzig 1906; vgl. dazu Kommentar. KSA 14, 382–400. 18
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daß sich der Mensch als Mensch verachtete. Unter dem Schutz dieser Moral nun konnte auch die Wahrhaftigkeit als die Durchsichtigkeit sich selbst und anderen gegenüber heranwachsen: »einfach, durchsichtig, mit sich nicht im Widerspruch, dauerhaft, sich gleichbleibend, ohne Falte, Volte, Vorhang, Form« (11[115]. KSA 13, 54 f.) – entsprechend der Wahrhaftigkeit Gottes, der nach Descartes’ Vierter Meditation nicht täuscht! Doch diese ›gewöhnliche Wahrhaftigkeit‹, die nach Nietzsche auch nur eine Maske ist, allerdings ›ohne Bewußtsein der Maske‹ (1[20]. KSA 10, 13 f.), erkennt im Laufe der Geschichte als radikale ›Zucht zur Wahrheit‹, daß das ›Bedürfnis nach Glauben der größte Hemmschuh der Wahrhaftigkeit‹ ist (8[1]. KSA 12, 323). Für Zarathustra21 bedeutet deshalb Wahrhaftigkeit, d. h. Wille zur Wahrheit (Z II. KSA 4,133): »Wahrhaftig – so heisse ich Den, der in götterlose Wüsten geht und sein verehrendes Herz zerbrochen hat. Im gelben Sande und verbrannt von der Sonne schielt er wohl durstig nach den quellenreichen Eilanden, wo Lebendiges unter dunkeln Bäumen ruht. Aber sein Durst überredet ihn nicht, diesen Behaglichen gleich zu werden: denn wo Oasen sind, da sind auch Götzenbilder. Hungernd, gewaltthätig, einsam, gottlos: so will sich selber der Löwen-Wille. Frei von dem Glück der Knechte, erlöst von Göttern und Anbetungen, furchtlos und fürchterlich, gross und einsam: so ist der Wille des Wahrhaftigen«. Die unter den Fittichen der Moral flügge gewordene Wahrhaftigkeit zieht also eine Schlußfolgerung nach der anderen, einen Schlußstrich nach dem anderen und »am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst; dies aber geschieht wenn sie die Frage stellt ›was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?‹ [… und an] diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zu Grunde« (GM. KSA 5, 410). Denn dieser Wille zur Wahrheit stellt sich die Frage (JGB. KSA 5, 15): »Was in uns will eigentlich ›zur Wahrheit‹?« Er durchschaut nach Nietzsche, daß er sich als Wille im ›Dienste des Willens zur Macht entwickelt‹ (43[1]. KSA 11, 699) ; er durchschaut, daß er sogar ein oder der Wille zur Macht ist (9[36]. Da nach Nietzsche der historische Zarathustra »zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge« gesehen und diesen »verhängnissvollsten Irrthum, die Moral« geschaffen hat, deshalb muß der Nietzscheanische Zarathustra auch der erste sein, der diesen Fehler erkennt. Er ist also »wahrhaftiger als sonst ein Denker […]. Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – in mich – das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra« (EH. KSA 6, 367). 21
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KSA 12, 352): Dieser Wille wendet sich gegen die Moral, indem er deren Teleologie demaskiert. Dieses Entlarven der Interessen der Moral wirkt nun stimulierend in Richtung eines Nihilismus. Es entsteht nämlich ein Widerstreit hinsichtlich der Bedürfnisse: Gemäß Nietzsche erscheinen uns nämlich nach der Einsicht in die Absichten der Moral diese Bedürfnisse – Kantisch gesprochen z. B. das Bedürfnis der praktischen Vernunft hinsichtlich der Idee eines moralischen Weltherrschers (RGV B 211 = AA 6,139) – zwar als unwahr, aber es sind offenbar gerade diejenigen, woran das ganze Leben hängt: Das also, was wir uns gerne vorlügen möchten, dürfen wir nicht mehr schätzen, und das, was wir jetzt als wahr erkennen, schätzen wir nicht. Der Nihilismus, noch nicht gedacht als die Umwertung, sondern als die ›Entwertung der obersten Werte‹ (9[35]. KSA 12, 350), erscheint also jetzt nicht deshalb, weil die Unlust am Dasein (Pessimismus) oder eine ›seelische, leibliche oder intellektuelle Notsituation‹ (2[127]. KSA 12, 125) heute größer wäre als früher, sondern weil man im Namen der von Nietzsche skizzierten Wahrhaftigkeit gegenüber einem Sinn im Dasein überhaupt mißtrauisch geworden ist. Die Rücknahme des Objektivitätsanspruchs der Wahrheit durch eine Handlungsnotwendigkeit bei Kant führt also bei Nietzsche zu einer Indienstnahme von seiten eines Willens zur Macht. Für ein Gott-Denken angesichts des Nihilismus hat diese Analyse bei Nietzsche weitreichende Folgen: Da die bisher mit der Moral verbundene Hypothese ›Gott‹ sehr extrem war, kann sie auch nur durch eine extreme, aber eben umgekehrte Position abgelöst werden, nämlich durch einen Glauben an die absolute Zweck- und Sinnlosigkeit des Daseins – wieder einmal eine Art ›kopernikanische Wende‹? 22 Die mit der Entwertung der Werte einhergehende Entkräftigung Gottes bis zu dessen Tod überwindet zwar im Grunde nur den moralischen Gott, aber Nietzsche stellt sich angesichts der soeben geschilderten Situation natürlich die Frage (5[71]. KSA 12, 213): »Hat es einen Sinn, sich einen Gott ›jenseits von Gut und Böse‹ zu denken?« Auch wenn man in einem ersten Moment diese Frage möglicherweise zu verneinen und Nietzsche gleichsam als Gewährsmann für Kant anzusehen
Zum Begriff der ›kopernikanischen Wende‹ bei Kant vgl. Gerhardt: Die kopernikanische Wende. Gerhardt zieht eine Linie von Kuno Fischer über Russell und Blumenberg bis zu Kaulbach. Zum Vergleich dieses Begriffs bei Kant und Nietzsche vgl. Kaulbach: Kant und Nietzsche im Zeichen der kopernikanischen Wendung; weiterhin Gerhardt: Die kopernikanische Wende bei Kant und Nietzsche. 22
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geneigt ist, nämlich für das einzig sinnvolle Gott-Denken aus der Moral heraus, so weist jedoch nicht nur Jenseits von Gut und Böse (1886) als ›Vorspiel einer Philosophie der Zukunft‹ (6[4]. KSA 12, 234) in das andere Denken der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, dem ›circulus vitiosus deus‹ (JGB. KSA 5, 74 f.), sondern auch die Kritik Nietzsches an Kant deutet in eine andere Richtung. So ist nach Nietzsche die Kantische Philosophie durch ein ›moralisches Grundurtheil‹ bestimmt (5[50]. KSA 12, 203)23 und markiert innerhalb einer Geschichte seit Platon und dem Christentum vor dem ›grauen Morgen mit dem Hahnenschrei des Positivismus‹ (GD. KSA 6, 80) den Hohen Abend des philosophischen Gedankens, daß das ›Werthschätzen‹ (in Kantischer Terminologie der ›sittliche Anspruch‹) auf eine andere metaphysische Welt zurückoder hinabweise (2[190]. KSA 12, 161). Besonders in seiner Vorrede von 1886 zur neuen Ausgabe der Morgenröthe setzt sich Nietzsche unter diesem Aspekt mit Kant auseinander: Während Kant es unternimmt, »den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen, in welchem sich allerlei Maulwurfsgänge einer vergeblich, aber mit guter Zuversicht, auf Schätze grabenden Vernunft vorfinde« (KrV B 375 f.), versteht Nietzsche sich explizit als Maulwurf, der in die Tiefe stieg (M. KSA 3, 12): »ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, – immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte: ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben.« Den Grund für die seit Platon vergeblichen Versuche eines philosophischen Gebäudes sieht Nietzsche nicht wie Kant in dem Versäumnis, das Fundament zu prüfen, d. h. die oberen Erkenntnisvermögen zu untersuchen, sondern darin (M. KSA 3,13 f.), daß »alle Philosophen unter der Verführung der Moral gebaut haben, auch Kant – [… ja man konnte es] nicht tiefer, gründlicher, […] treiben als es Kant getrieben hat: um Raum für sein ›moralisches Reich‹ zu schaffen, sah er sich genöthigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches ›Jenseits‹, – dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nöthig! Anders
Vielleicht ist die Ethik als eines der zentralen Momente des chinesischen Denkens (vgl. Roetz: Die chinesische Ethik der Achsenzeit) der Grund, warum Nietzsche Kant auch den ›großen Chinesen von Königsberg‹ (JGB. KSA 5, 144) nennt oder vom ›Königsberger Chinesenthum‹ (AC. KSA 6, 177) spricht. Allerdings muß hier offen bleiben, was Nietzsche letztlich unter ›chinesisch‹ versteht (11[64]. KSA 13, 32; GM. KSA 5, 278). 23
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ausgedrückt: er hätte sie nicht nöthig gehabt, wenn ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wäre, das ›moralische Reich‹ unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen, – er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark!« Nachdem also Kant »das Wissen aufheben [mußte], um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV B XXX), mußte Nietzsche »die Moral aufheben, um [seinen] moralischen Willen durchzusetzen« (9[43]. KSA 10, 359). Wie auch immer nun der moralische Wille Nietzsches genauer zu interpretieren ist, so scheint zumindest deutlich zu sein, daß er im Namen einer Wahrhaftigkeit eine kritische Untersuchung des ›moralischen Werthgefühls‹ fordert (2[161]. KSA 12, 144), daß er versucht, »über Moral zu denken, ohne unter ihrem Zauber zu stehen, [da er] mißtrauisch gegen die Überlistung ihrer schönen Gebärden und Blicke« geworden ist (2[165]. KSA 12, 147). Für ihn bedeutet diese notwendige Heraufkunft des Nihilismus im Zusammenhang mit der Frage nach Gott (2[107]. KSA 12, 114): »Die Religionen gehn an dem Glauben der Moral zu Grunde: der christlich-moralische Gott ist nicht haltbar: folglich ›Atheismus‹ – wie als ob es keine andere Art Götter geben könne«. Doch woher ergibt sich ein Leitfaden für ein solch andersartiges Gott-Denken? – durch Überlegungen zur Überwindung dieses Nihilismus. Nietzsche selbst gliedert in einem Entwurf die geplante Publikation Der Wille zur Macht in die Teile ›Heraufkunft‹, ›Nothwendigkeit‹ und ›Selbstüberwindung‹ des Nihilismus (sowie in einen vierten Teil ›Die Überwinder und die Überwundenen‹)24 und versteht den Willen zur Macht sogar explizit als eine »Gegenbewegung […], welche in irgend einer Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch, welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann« (11[411]. KSA 13, 190). Damit ist deutlich, daß es nicht um eine Überwindung des Nihilismus von woanders her geht, sondern daß eine Selbstüberwindung des Nihilismus gefordert wird – oder eine ›Verwindung‹, im Anklang an ein Wort Heideggers.25 Nach der Veröffentlichung der Genealogie der Moral arbeitet Nietzsche ab Herbst 1887 sehr konzentriert an Der Wille zur Macht, rubriziert dazu 374 Aufzeichnungen (12[1]. KSA 13, 195–211) und schreibt in einem Brief vom 13. Februar 1888 an Köselitz von der ersten Niederschrift eines ›Versuchs einer Umwerthung‹ (Briefe. KSB 8, 252). Aus dieser Zeit nun stammt auch die erwähnte Gliederung (13[4]. KSA 13, 215). Erst Ende August 1888 wurde der Plan einer Publikation aufgegeben. 25 Vattimo versucht zu zeigen, wenn auch nicht speziell im Zusammenhang mit dem Nihilismus, daß die von Heidegger angemahnte Verwindung als ›Hinnahme-Genesung24
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Werden nämlich die Werte als Perspektiven der Nützlichkeit erkannt, dann wird damit ein Lebenswille ermächtigt, der an Stelle der alten nicht einfach neue Werte bejaht und einsetzt, sondern der quasi spielerisch oder tanzend damit umgeht. »So lebt das seiner selbst mächtige Dasein in einem selbst zugestandenen, aber unverzichtbaren Schein. Den Schein als solchen zu durchschauen, ohne doch im Leben daran zu zerbrechen, sondern vielmehr selig weiterzuleben, – das aber geht […] über das Maß der sterblichen Menschen hinaus und ist allein unsterblichen Göttern vorbehalten.«26 Die Verwirklichung gerade eines derart tragischen Denkens scheint ein fundamentaler Charakterzug Nietzsches zu sein, für den die Kunst die ›eigentlich metaphysische Tätigkeit des Menschen‹ darstellt (GT. KSA 1, 17) und der einen dionysischen Gott zu denken versucht. Der Unterschied zu Kant und dem moralischen Gott, d. h. der Unterschied im Gott-Denken aus dem Wollen oder Sollen heraus möge im folgenden Beispiel noch einmal deutlich werden (M. KSA 3, 12): »Es ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden: es war dies immer eine zu gefährliche Sache. Das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral soll eben, wie Angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird – gehorcht!« Die Frage nun, inwiefern Kant nicht nur auf die Stimme des Gewissens gehört, sondern auch dem ›dictamen rationis‹ gehorcht hat, soll hier nicht untersucht werden, weder im weiteren Zusammenhang einer Auffassung von Gewissen als dem Ort, der die ausgezeichnete Gegenwart Gottes in der Welt markiert (Jer 31,33 – Röm 2,15 – Gaudium et spes 16), noch im Blick auf den engeren Kontext der Kantischen Vorstellung eines Gerichtshofes (MS A 98–103 = AA 6,437– 440) und den Bezugnahmen darauf von seiten Hegels, Schopenhauers, Diltheys und Heideggers.27 Es wird lediglich darauf verwiesen, daß sowohl Kant als auch Nietzsche28 die Frage nach dem GeVerdrehung‹ der Sache nach bereits bei Nietzsche zu finden ist; vgl. Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie. 26 Schüßler: Zur Frage der Überwindung des Nihilismus bei Nietzsche und Heidegger, 26 f. 27 Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, 464–495; Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik, 526–531; Dilthey: Versuch einer Analyse des moralischen Bewusstseins, 1–55; Heidegger: Sein und Zeit, 267–301. 28 Aus der Spätphilosophie Nietzsches ist hier vor allem auf die zweite Abhandlung in der Genealogie der Moral hinzuweisen (GM. KSA 5, 291–337).
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wissen ernstnehmen, aber offenbar zu unterschiedlichen Antworten darauf gelangen. Kant setzt sich in seinem Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) zehn Jahre nach seinem ›Orientierungs‹Artikel noch einmal mit der Schwärmerei auseinander,29 genauer mit der »allerneuesten deutschen Weisheit […] durchs Gefühl zu philosophieren« (VTP A 416 = AA 8,401), und stellt sich gegen Ende der Schrift im Zusammenhang mit dem moralischen Gesetz die Frage (VTP A 418 = AA 8,402): »Was ist das in mir, welches macht, daß ich die innigsten Anlockungen meiner Triebe, und alle Wünsche, die aus meiner Natur hervorgehen, einem Gesetze aufopfern kann, welches mir keinen Vorteil zum Ersatz verspricht, und keinen Verlust bei Übertretung desselben androht; ja das ich nur um desto inniglicher verehre, je strenger es gebietet und je weniger es dafür anbietet?« Dieses undurchdringliche Geheimnis, das durch die sorgfältige und langsam fortschreitende Begriffsarbeit der Philosophie allmählich fühlbar wird – das Gefühl begründet eben nicht umgekehrt eine mystische Erkenntnis –, evoziert allerdings die weitere Frage, ob die Stimme des moralischen Gesetzes »von dem Menschen, aus der Machtvollkommenheit seiner eigenen Vernunft selbst, oder ob sie von einem anderen, dessen Wesen ihm unbekannt ist, und welches zum Menschen durch diese seine eigene Vernunft spricht, herkomme« (VTP A 423 = AA 8,405)? Auch Nietzsche, für den offenbar der Zauber des moralischen Gesetzes verflogen ist, weiß um das ›Gefühl: du sollst!‹ und er stellt sich ebenfalls die Frage ›Wer befiehlt da?‹ (2[192]. KSA 12, 162). Während nun Kant bei dieser Frage empfiehlt: »Im Grunde täten wir vielleicht besser, uns dieser Nachforschung gar zu überheben; da sie bloß speculativ ist, und, was uns zu tun obliegt (objektiv), immer dasselbe bleibt, man mag eines, oder das andere Prinzip zum Grunde legen« (VTP A 423 = AA,405), so gehört für Nietzsche die Behauptung eines kategorischen Imperativs in die ›Zeichensprache der Affekte‹ (JGB. KSA 5, 107). Während also Kant ein ›Verstummen der Vernunft‹ anmahnt – nicht etwa weil das Geheimnis gelüftet wäre, sondern weil die Frage ›so hoch gesteigert‹ wurde, daß sie offenbar keinen Höfliger meint in diesem Text bei Kant einen Ton von Nähe zum Mystagogen – weder heimliche Identität, noch reine Differenz – hören zu können (vgl. Vom Schweigen der Vernunft, 61), trotz der expliziten Position Kants z. B. im Prospectus in Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hinsicht auf die ihr beygelegte Aehnlichkeit mit dem reinen Mystizism. Zu dieser Problematik vgl. das Vorwort von Theis zum Nachdruck dieses Werkes (Hildesheim 1999, VII–XXIV). 29
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Sinn mehr habe (VTP A 396 = AA 8,393) –, so führen die Überlegungen Nietzsches, die nicht mehr unter der Faszination des moralischen Anspruchs stehen, schließlich dazu, überhaupt kein Sollen, sondern nur noch ein Wollen erkennen zu können (26[154]. KSA 11, 189 f.): »Ich habe überall hin geblickt – aber ein ›Du sollst‹ ist nicht mehr zu finden für Menschen wie mich […]. Einem höheren Geiste würde ich mich unterwerfen, in Betreff der Werthschätzungen: einstweilen sage ich ›ich will‹ ; und warte darauf, daß mir noch einmal ein höherer Geist über den Weg läuft.«
3. Intermezzo giapponese Was auch immer nun die zugrundeliegende Ursache für diesen offenbaren Wandel der Grunderfahrungen Kants und Nietzsches (von der Verehrung des moralischen Gesetzes hin zu einem Mißtrauen daran) sein mag, so bedarf ein Gott-Denken in Anbetracht der veränderten Situation eines Nihilismus als Ent- und Umwertung vielleicht eines anderen Ansatzes als bei Kant: Für uns, so Gadamer, hat die Widerlegung der Gottesbeweise »ein viel ernsteres Gesicht als für Kant, der die Erfahrungserkenntnis von der Natur wie den praktischen Vernunftglauben an Gott (ineins mit der Unbedingtheit des Sittengesetzes) durch seine Kritik gerade in Geltung hielt. Für uns ist der Nihilismus der spekulativen Vernunft seit Nietzsche zum totalen Nihilismus geworden. Nicht nur, daß Gott tot ist, auch Selbst und Welt ›sind‹ nicht mehr«.30 Einerseits kann man natürlich an Nietzsche die Frage richten, ob denn seine Analyse des Nihilismus und das aus der Selbstüberwindung des Nihilismus resultierende Gott-Denken das letzte Wort seien. So erwägt z. B. Heidegger in seiner Nietzsche-Vorlesung von 1940: »Vielleicht liegt das Wesen des Nihilismus darin, daß man nicht ernst macht mit der Frage nach dem Nichts«?31 Nietzsche erkenne zwar den Nihilismus als eine Bewegung vor allem neuzeitlicher europäischer Geschichte, aber da er das Wesen des Nichts nicht zu denken, weil nicht zu erfragen vermöge, deshalb könne er das verborgene Wesen des Nihilismus nicht erkennen. Heidegger geht noch einen Schritt weiter und kritisiert, daß Nietzsches Selbstüberwindung des Nihilismus sich sogar am meisten in einen Nihilismus verstrickt habe, weil er – wenn auch in 30 31
Gadamer: Kant und die Gottesfrage, 357. Heidegger: Nietzsche. Der europäische Nihilismus, 43.
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einer Gegenbewegung der Umwertung der Werte – immer noch in metaphysischen Kategorien denke. Das Eigentliche eines Nihilismus bestehe nämlich darin, nicht zu durchschauen, daß ein Denken in der Kategorie des Wertes vom Seienden her denke und nicht das ›Sein selbst‹, und deshalb in eine Geschichte der Seinsvergessenheit sowie eine Seinsgeschichte eingereiht werden müsse. Die gegen die metaphysische Deutung des Nihilismus (Nietzsche) ins Spiel gebrachte seinsgeschichtliche Deutung Heideggers32 könnte somit auf den Punkt gebracht werden, daß es ›mit dem Sein selbst in Wahrheit nichts sei‹.33 Andererseits steht diese Kritik Heideggers, die hier nicht weiter entfaltet wird, natürlich auch unter den allgemein hermeneutischen Schwierigkeiten, ob denn die je eigene Grunderfahrung des Nihilismus, aus der heraus der jeweilige Denker schöpft, bei jedem selbst nicht uneinholbar zu einem Ende gedacht wird, so daß dann auch eine Verwindung dieselbe Quelle nicht nur anders wieder einholt, sondern sogar einen anderen Ausgangspunkt in den Blick nimmt. Wenn es also bereits innerhalb des europäischen Kulturkreises in Frage steht, ob Nietzsche und Heidegger überhaupt vom selben Nihilismus sprechen, den es zu verwinden gilt, um wieviel fragwürdiger ist es dann, nicht nur ob z. B. Nishitani einen wiederum anderen Nihilismus als Nietzsche und Heidegger im Auge hat, sondern ob auch das, was Heidegger im Unterschied zu Nietzsche als Angelpunkt der Verwindung des Nihilismus ansieht, dasselbe Nichts ist, das Nishitani 無 nennt? Unter eher allgemeinen Gesichtspunkten wären an dieser Stelle nun Überlegungen zu Grundproblemen der Interkulturellen Philosophie angezeigt,34 nicht um fundamentale Dichotomien zwischen Kulturen erst künstlich aufzubauen und dann deren Überwindung zu problematisieren, sondern um eine möglichst reflektierte Grundstellung für ein in die Tiefe gehendes philosophisches Gespräch über Kulturräume hinweg zu gewinnen, damit man die philosophische Diskussion, wie sie thematisch und formal innerhalb eines Kulturraumes, wie z. B. Europa mit Einschluß Amerikas (man möge verzeihen!) über 2500 Jahre hinweg unter der Voraussetzung einer philosophia perennis offenbar selbstverständlich geführt wird, nicht allzu gedankenlos Vgl. Pöltner: Nihilismus – Grundzug der abendländischen Metaphysik?, 124. Heidegger: Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus, 341. 34 Statt einer Entfaltung der Thematik ›Interkulturelle Philosophie – Philosophie der Interkulturalität‹ sei verwiesen auf die zwölf Thesen von Elberfeld: Kitaro¯ Nishida (1870–1945). Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität, 268–286. 32 33
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auf die ganze Welt (world philosophy) ausdehnt. Zumindest andeutungsweise soll die eher unter inhaltlichen Gesichtspunkten stehende Problematik aufgegriffen werden, inwiefern der Nihilismus nicht nur eine ›Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes‹, sondern eine ›weltgeschichtliche Bewegung der in den Machtbereich der Neuzeit gezogenen Völker der Erde‹ ist35 und deshalb der japanische Philosoph Nishitani nahtlos in das philosophische Gespräch darüber einbezogen ist. Für Nishitani ist der Nihilismus ein sich-selbst-bewußt-Werden, ein dem Englischen ›realizing‹ entsprechend doppeldeutiges Realisieren einer überall und jederzeit erscheinenden grundlegenden und umfassenden Krise: Der Nihilismus ist das Fühlen (感ずる) der Grundlosigkeit des Lebens, das ›Gewahrwerden‹36 (自覚する) der Vergänglichkeit menschlicher Existenz. Gemäß Nishitani37 taucht in Europa aus dieser Betroffenheit heraus ein schöpferischer (創造的) oder bejahender (肯定的な) Nihilismus zur Überwindung der Krise auf, doch im Gegensatz dazu fehlt in Japan dieser ursprüngliche Wille (根元意志の回復), weil bei der Adaption des Westens38 gleichsam nur Kulturgüter, aber nicht die zugrunde liegende geistige Haltung (精神的基 盤 ) übernommen wird und darüber hinaus die eigene geistige Grundlage im Laufe der Meiji-Ära (1868 –1912) allmählich verloren geht, so daß die geistige Basis (精神的核心) Japans nicht ein erkämpfter Freiraum (闘い取られた空白), nicht eine dem Leben abgerungene Leere (生き抜かれた虚無) ist, sondern eher einer ausgewischten tabula rasa (空白) gleicht. Demgegenüber wäre gerade die östliche Tradition im allgemeinen und im speziellen die Leere (空 ) aus der buddhistischen Tradition ein Weg zu der von Nietzsche geforderten Selbstüberwindung des Nihilismus. Vgl. Heidegger: Nietzsches Wort »Gott ist tot«, 218. 36 Vgl. Nishitani: ›Kaku‹ ni tsuite (übers. ins Deutsche von Elberfeld: Über das Gewahren). 37 Vgl. Nishitani: Nihirizumu, 175–186 (übers. ins Englische von Parkes und Aihara: The Self-Overcoming of Nihilism; 173–181; im folgenden als Nishitani: Nihilism mit Angabe der Seitenzahl zitiert). 38 Japan schottet sich während des Sho ¯ gunats der Tokugawa-Familie (ab 1603) radikal von der Außenwelt ab, doch gesellschaftliche und politische Spannungen im Innern (vor allem in der Tempo¯ -Ära, 1830–1843), sowie die erzwungene Öffnung des Landes für den Handel durch die Amerikaner (1853) von Außen führen zu einem radikalen Wandel. Nachdem Reformversuche des Ancien Regime scheitern, legt Sho¯ gun Yoshinobu Tokugawa am 8.11.1867 seine Amtsgeschäfte förmlich nieder und es beginnt mit der offiziellen Proklamation der Machtübernahme durch Kaiser Mutsuhito am 3.1.1868 die 35
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Obwohl also Nishitani aus der von ihm selbst so skizzierten lebensweltlichen Krisensituation eines Nihilismus heraus philosophiert; obwohl sich Nishitani bereits in frühester Zeit mit Nietzsche auseinandersetzt, wie es in seinen Schriften Meine Jugendzeit (1950)39 und Der Ausgangspunkt meines Philosophierens (1963) heißt,40 und er sogar als ›Nietzsche Japans‹ bezeichnet wird;41 obwohl Nishitani Ende der 30er Jahre bei Heidegger in Freiburg studiert, als dieser sich selbst gerade intensiv mit Nietzsche beschäftigt;42 obwohl Nishitani wie andere japanische Intellektuelle in den 30er und 40er Jahren im Zusammenhang mit der Kritik an der eigenen Geschichte der Modernisierung sich der Frage nach der Überwindung der Europäischen Moderne widmet – hingewiesen sei in diesem Kontext auch auf seine Teilnahme an den beiden unter politischen Gesichtspunkten umstrittenen Symposien (1942/1943);43 obwohl es also genügend gemeinsame Ausgangspunkte zwischen Nietzsche, Heidegger und Nishitani gibt und das Problem des Nihilismus weitergedacht wird,44 muß doch auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß jeweils von unterschiedlichen Ansätzen ausgegangen wird, die einer tiefgehenden Auseinandersetzung sogar förderlicher sind als der die Gemeinsamkeiten aufsuchende Diskurs. Denn auch wenn für Nishitani die Selbstüberwindung des Nihilismus der Knotenpunkt für eine Wiederanknüpfung an die eigene Tradition zur Gestaltung der Zukunft ist, so scheint aber auch seine gegenüber den europäischen Denkern unterschiedliche Herkunft aus dem Zen-Buddhismus deutlich zu sein, wenn er das Nichts (無) als Leere (空) zu fassen versucht. Innerhalb des Buddhismus, der insgesamt seit dem 16. Jahrhundert eine im Vergleich zum Neo-Konfuzianismus (Shushigaku, Yo¯meigaku und Kogaku) eher untergeordnete Rolle in der Geistesgeschichte Japans spielt, existiert
sogenannte Meiji-Restauration, die vor allem eine unglaubliche Übernahme europäischer und amerikanischer Kultur auszeichnet. 39 Nishitani: Watashi no seishunjidai. 40 Nishitani: Watashi no tetsugakuteki hossokuten (übers. ins Englische: The Starting Point of My Philosophy). 41 Vgl. Thumfart: Der Leib in Nietzsches Zarathustra, 340. 42 Vgl. Pöggeler: Westliche Wege zu Nishida und Nishitani, 98 f. 43 Vgl. Heisig / Maraldo: Rude Awakenings; Kobayashi: Die Auflösung der Geschichte in die Ästhetik und das Nichts; Victoria: Zen at war (übers. ins Deutsche von Kierdorf in Zusammenarbeit mit Höhr: Zen, Nationalismus und Krieg). 44 Zur Unterscheidung eines ›gegenwärtigen‹ vom ›neuzeitlichen‹ Nihilimus vgl. Hase: Nihilism, Science, and Emptiness in Nishitani, 149–154.
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nun im Zen-Buddhismus45 – eine unter mehreren buddhistischen Schulen – ein gemeinsames Band für einige Denker, die als Vertreter der ›Kyo¯to-Schule‹ bekannt geworden sind.46 Als Väter dieser Schule oder dieses gemeinsamen Ethos gelten Nishida47 (1870 –1945), der von 1910 bis zu seiner Emeritierung (1928) Professor an der Kaiserlichen Universität Kyo¯to war, und Tanabe48 (1885 –1962), dessen Lehrstuhlnachfolger und einer seiner schärfsten Kritiker. Im folgenden beschränkt sich jedoch die Auseinandersetzung auf Vertreter der zweiten Generation der Kyo¯to-Schule,49 nämlich auf Hisamatsu (1889 –1981) und Nishitani (1900 –1990). Selbstverständlich ist die Kyo¯to-Schule weder die einzige Denktradition seit den Anfängen Japans,50 die die Selbstverständlichkeiten einer alltäglichen Weltinterpretation hinterfragt, noch das einzige philosophische Bemühen Japans seit der Meiji-Ära.51 Sie ist ein Unterfangen, das trotz der durchaus verschiedenen Ansätze und unterschiedlichen Schwerpunkte Gemeinsamkeiten aufweist, die aus einer japanisch buddhistischen Tradition zu schöpfen versuchen, auch wenn die Verschiebungen gegenüber einem orthodoxen, sich zu dieser Zeit aber ebenfalls in einer Umbruchsituation befindenden Buddhismus von diesem kritisiert werden: »In einer Randzone buddhistischen Philosophierens bewegte sich die Kyo¯to-Schule […]. Ihr Verbindendes war die nicht apologetische Auseinandersetzung mit dem Christentum und dessen Interpreten von der deutschen Mystik bis Hegel sowie westlicher Philosophie von Kant bis Heidegger. Diese Begegnung vollzog sich unter weitgehender Aneignung der traditionellem Buddhismus widersprechenden Motive des absoluten Gottes Vgl. Jaffe / Mohr: Editors’ Introduction. Meiji Zen, 1–10; die weiteren Artikel (11–218) befassen sich unter verschiedensten Aspekten mit dem Zen-Buddhimus in der Meiji-Ära. 46 Tosaka verwendet in seinem Aufsatz Kyo ¯ togakuwa no tetsugaku von 1932 zum ersten Mal den Namen Kyo¯to-Schule. 47 Jüngste deutschsprachige Publikation zu Nishida ist die Habilitationsschrift von Kobayashi: Denken des Fremden am Beispiel Kitaro¯ Nishida. 48 Zur Religionsphilosophie Tanabes vgl. Laube: Dialektik der absoluten Vermittlung; Unno / Heisig (Ed.): The Religious Philosophy of Tanabe Hajime. 49 Zur Kyo ¯ to-Schule vgl. Buri: Der Buddha-Christus als der Herr des wahren Selbst; Franck: The Buddha Eye; O¯hashi: Die Philosophie der Kyo¯to-Schule; Heisig: Philosophers of Nothingness. 50 Vgl. Brüll: Die japanische Philosophie; Pörtner / Heise: Die Philosophie Japans. 51 Vgl. Hamada: Japanische Philosophie nach 1868; Piovesana: Recent Japanese philosophical thought 1862–1996. 45
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und des Individuums. Buddhistische Inhalte erhalten somit andere Deutung. Durch die Idee des absoluten Gottes und dessen Identifikation mit der Leerheit sprechen Angehörige der Kyo¯to-Schule vom ›absoluten Nichts‹«.52
4. Vergöttlichung des Nichts Stimmt man der Überlegung zu, daß ein Gott-Denken angesichts des Nihilismus am Leitfaden der Selbstüberwindung dieses Nihilismus orientiert und diese Verwindung mit der Frage nach dem Nichts ernst machen muß, greift dann dieses Denken nicht zu kurz, wenn eben ein Absolutes Nichts der Kyo¯to-Schule gleichsam als Gottesname vereinnahmt wird – einmal abgesehen davon, ob Hisamatsu und Nishitani im speziellen und die Kyo¯to-Schule im allgemeinen in dieser Hinsicht interpretiert werden können? Und selbst wenn man diese Gleichung aufzumachen versucht, müßte man dann nicht auch deren Umkehrung bedenken: Bedeutet die Gleichsetzung des Absoluten Nichts als ein ostasiatischer Gottesbegriff nicht umgekehrt, daß dann ein europäischer Gottesbegriff Absolutes Nichts meint, Gott also nur ein Name für die absolute Abgründigkeit von Mensch und Welt ist? Eingedenk der Warnung also, beim Gott-Denken nicht allzu schnell Gleichungen aufzustellen, soll im folgenden ›die Sache mit dem Nichts‹ problematisiert werden: Spätestens seit dem sogenannten Lehrgedicht des Parmenides kennt die europäische Philosophie zwar die Alternative zwischen dem ei4nai und dem mh! ei4nai (B 2), aber eigentlich ist das für das Denken gar keine Alternative, denn der Weg des Nicht-Sein oder des Nichts ist nicht begehbar. Der einzig mögliche Scheideweg, die einzig mögliche Gabelung heißt für Parmenides offenbar e3stin hV ou2k e3stin – Sein oder Nicht-Sein; und hier scheint man notwendigerweise urteilen zu müssen, daß das mh! e2o1n weder erkenn- oder denkbar (a2no1hton) noch benennbar (a2nw1nymon) ist (B 8). Eine, wenn auch nicht alleinige europäische Tradition – erinnert sei an Gorgias’ Per> tou5 mh! o3ntoß53 – kommt nun auf diesem Parmenideischen Weg zu der Frage, die nach Aristoteles früher, jetzt und immer aufgeworfen und stets problematisch ist (Metaphysik 1028b 2– 4): Was ist das Seiende (o3n), und das heißt: Was ist die ou2s