Merkmale und Relationen: Diachrone Studien zur Nominalphrase des Deutschen [Reprint 2011 ed.] 9783110811353, 9783110166620

Der Struktur der Nominalphrase des Deutschen gilt seit Mitte der achtziger Jahre vor allem das Interesse einer generativ

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German Pages 381 [384] Year 2000

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Zur Struktur der Nominalphrase im Deutschen
1.2 Die DP-Hypothese
1.3 Zum Gang der Untersuchung
1.4 Empirische Grundlagen
2 Grammatische Merkmale und Relationen
2.1 Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen
2.2 Zum Forschungsstand
2.3 Der historische Befund
2.4 Morphosyntaktischer Wandel
2.5 Die Koordination von Nominalphrasen
2.6 Der expletive Artikel im Deutschen
2.7 Evidenz aus anderen germanischen Sprachen
2.8 Zusammenfassung
3 Possessivpronomina
3.1 Problemstellung
3.2 Der historische Befund
3.3 Possessiva sind im Nhd. keine Adjektive (mehr)
3.4 Die Entstehung von Possessivartikeln
3.5 Zur synchronen Variation
3.6 Die Analyse
3.7 Possessivpronomina in anderen germanischen Sprachen
3.8 Zusammenfassung
4 Attributive Genitivphrasen
4.1 Genitivattribute im heutigen Deutschen
4.2 Historischer Befund
4.3 Die Analyse
4.4 Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd
4.5 Weitere Evidenz: Die Entstehung von Genitivkomposita
4.6 Zusammenfassung
5 Die Modellierung diachroner und synchroner Variation
5.1 Diachrone Variation in der Nominalphrase
5.2 Sprachtypologie und Grammatikalisierung
5.3 Variation in der generativen Grammatik
5.4 Zu einem Modell syntaktischen Wandels
Quellen
Bibliographie
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Merkmale und Relationen: Diachrone Studien zur Nominalphrase des Deutschen [Reprint 2011 ed.]
 9783110811353, 9783110166620

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Ulrike Demske Merkmale und Relationen

W DE G

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann

56

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Ulrike Demske

Merkmale und Relationen Diachrone Studien zur Nominalphrase des Deutschen

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Demske, Ulrike: Merkmale und Relationen : diachrone Studien zur Nominalphrase des Deutschen / Ulrike Demske. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 (Studia linguisdca Germanica ; 56) Zugl.: Jena, Univ., Habil.-Schr., 1999 ISBN 3-11-016662-3

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort

Ausgangspunkt dieses Unternehmens war der Sächsische Genitiv im heutigen Deutschen. Obwohl bereits diese Benennung auf einen Unterschied zwischen voran- und nachgestelltem Genitivattribut verweist, ist dieser Unterschied bis heute kein Thema wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Erst die kontroversen Diskussionen um seine Analyse im Rahmen eines generativen Grammatikmodells haben deutlich gemacht, dass vor- und nachgestellte Genitivattribute im Gegenwartsdeutschen schwerlich durch eine Umstellungsbeziehung miteinander zu verknüpfen sind. Sprachhistorisch hat das Genitivattribut dagegen weitaus größere Beachtung gefunden: In früheren Perioden der deutschen Sprachgeschichte wird das genitivische Attribut vorzugsweise voran-, und nicht nachgestellt wie im heutigen Deutschen. Obwohl dieser Wortstellungswandel in der historischen Literatur einigermaßen Beachtung gefunden hat, fehlt bis zum heutigen Tag eine Erklärung fur diesen Wandel. Damit schien das Ziel meiner Untersuchung klar gesteckt: Nicht nur den Veränderungen in der Geschichte des Genitivattributs sollte auf den Grund gegangen, sondern auf der Basis des historischen Befundes sollte auch eine deskriptiv angemessene Analyse für den Sächsischen Genitiv und das Genitivattribut im heutigen Deutschen vorgeschlagen werden. Ziemlich rasch erwies sich diese Zielsetzung als zu eng. Um wirklich verstehen zu können, weshalb sich der fragliche Stellungswandel vollzieht, mussten andere historische Veränderungen im Rahmen der nominalen Wortgruppe in die Untersuchung mit einbezogen werden, Veränderungen, die allesamt die Erweiterungen auf der linken Seite des nominalen Kerns betrafen. Damit weitete sich der Gegenstand dieser Untersuchung auf Artikelwörter, Adjektive,

vi

Vorwort

Possessivpronomina, diskontinuierliche Nominalphrasen sowie Genitivkomposita aus. Wie sich die beobachteten Veränderungen in der Nominalphrase des Deutschen in einen Zusammenhang bringen lassen, der sich aufgrund der festgestellten zeitlichen Koinzidenzen der fraglichen Sprachwandelerscheinungen geradezu aufdrängte, wurde nun zur übergreifenden Fragestellung meiner Untersuchung. Entstanden ist diese Arbeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; dort wurde sie von der Philosophischen Fakultät im Sommersemester 1999 als Habilitationsschrift angenommen. Für ihre Unterstützung während der Fertigstellung dieser Arbeit ist vielen Kollegen und Freunden zu danken. Mein besonderer Dank gilt Peter Suchsland, der sich zunächst aus der Distanz, dann am gemeinsamen Arbeitsort Jena für meine wissenschaftlichen Projekte interessiert und mich gefordert hat. Danken möchte ich auch Marga Reis für ihr nicht nachlassendes Interesse und ihre Unterstützung meiner Arbeit. Dank für ihre hilfreichen Kommentare gebührt den Gutachtern der Habilitationsschrift ebenso wie einer Reihe von Kollegen, die in verschiedenen Stadien dieses Projektes meine Ideen mit mir diskutiert haben: Peter Suchsland, Jürgen Pafel, Michael Meng, Rosemarie Lühr, Thomas Lindauer, Jürgen Geilfuß, Peter Gallmann, Karin Donhauser, Josef Bayer und Markus Bader. Teile dieser Arbeit wurden auf wissenschaftlichen Tagungen in Göttingen, Berlin, Montreal, Ann Arbor, Halle und Ascona präsentiert. Den Zuhörern sei hier für ihre Anregungen gedankt. Bereits in einem sehr frühen Stadium meiner Arbeit wurde mir Unterstützung zuteil durch das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, das mir 1997 für mein Habilitationsprojekt den Hugo-MoserPreis zugesprochen hat. Für diese große Anerkennung möchte ich mich an dieser Stelle nochmals bedanken. Dank schulde ich schließlich den Herausgebern der Studia Linguistica Germanica für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Jena, im August 2000

Ulrike Demske

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Inhaltsverzeichnis Tabellenverzeichnis

ν vii xi

1

Einleitung

1

1.1

Zur Struktur der Nominalphrase im Deutschen

2

1.2

Die DP-Hypothese

9

1.2.1 Die Einfuhrung der funktionalen Kategorie D

9

1.2.2 Die DP im Deutschen

16

1.2.3 Problemstellung

22

1.3

Zum Gang der Untersuchung

26

1.4

Empirische Grundlagen

28

2

Grammatische Merkmale und Relationen

29

2.1

Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen

30

2.1.1 Nominale Flexionsmorphologie

30

2.1.2 Flexivische Merkmale in der Nominalphrase

36

2.2

44

Zum Forschungsstand

2.2.1 Derivationelle Analysen

44

viii

Inhaltsverzeichnis

2.2.2 Repräsentationelle Analysen

53

2.2.3 Zusammenfassung

58

2.3

59

Der historische Befund

2.3.1 Nominale Flexionsmorphologie im Ahd

59

2.3.2 Zur Distribution der Flexionsmerkmale im Ahd

66

2.3.3 Ein Vergleich mit anderen germanischen Sprachen

71

2.3.4 Die Distribution flexivischer Merkmale im Frnhd

75

2.4

81

Morphosyntaktischer Wandel

2.4.1 Zusammenfassung der diachronischen Veränderungen

81

2.4.2 Zu den Ursachen des Wandels

84

2.4.3 Die Analyse der Nominalphrase

90

2.5

Die Koordination von Nominalphrasen

100

2.6

Der expletive Artikel im Deutschen

104

2.6.1 Begriffliches

105

2.6.2 Historische Daten

112

2.7

Evidenz aus anderen germanischen Sprachen

120

2.8

Zusammenfassung

127

3

Possessivpronomina

132

3.1

Problemstellung

133

3.2

Der historische Befund

139

3.3

Possessiva sind im Nhd. keine Adjektive (mehr)

146

3.4

Die Entstehung von Possessivartikeln

150

3.4.1 Eigenschaften von Possessivpronomina - diachron

151

3.4.2 Die Reanalyse und ihre Voraussetzungen

155

3.5

164

Zur synchronen Variation

Inhaltsverzeichnis

ϊχ

3.5.1 Die Daten

164

3.5.2 Ökonomie vs. Explizitheit

170

3.6

Die Analyse

178

3.7

Possessivpronomina in anderen germanischen Sprachen

188

3.7.1 Possessivpronomina in der englischen Sprachgeschichte

188

3.7.2 Die Possessivpronomina der skandinavischen Sprachen

198

3.8

Zusammenfassung

201

4

Attributive Genitivphrasen

206

4.1

Genitivattribute im heutigen Deutschen

208

4.1.1 Charakteristika

208

4.1.2 Bestehende Ansätze

213

4.2

215

Historischer Befund

4.2.1 Die Geschichte des Genitivattributs - ein Stellungswandel? ...215 4.2.2 Andere Veränderungen, den attributiven Genitiv betreffend...223 4.2.3 Zusammenfassung

231

4.3

232

Die Analyse

4.3.1 Lexikalische Parametrisierung

232

4.3.2 Von der maximalen Phrase zum Kopf.

240

4.3.3 Attributive Genitive in den skandinavischen Sprachen

255

4.3.4 Zum possessiven Dativ

258

4.3.5 Zusammenfassung

265

4.4

268

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd

4.4.1 Die Verhältnisse im heutigen Deutschen

268

4.4.2 Der frnhd. Befund

274

4.4.3 Die Analyse der diachronischen Veränderungen

281

X

Inhaltsverzeichnis

4.4.4 Exkurs: (K)Eine partitive Konstruktion

294

4.5

297

Weitere Evidenz: Die Entstehung von Genitivkomposita

4.5.1 Nominalkomposita im Ahd

297

4.5.2 Gegen eine isomorphische Erklärung

300

4.5.3 Die Herausbildung des Wortbildungsmusters

305

4.5.4 Komposition als ein morphologischer Prozess

312

4.5.5 Genitivkomposita und die Struktur der Nominalphrase

315

4.6

Zusammenfassung

316

5

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

318

5.1

Diachrone Variation in der Nominalphrase

320

5.2

Sprachtypologie und Grammatikalisierung

321

5.3

Variation in der generativen Grammatik

326

5.3.1 Parameterwandel

327

5.3.2 Die Parametrisierung funktionaler Kategorien

331

5.4

339

Zu einem Modell syntaktischen Wandels

Quellen

345

Bibliographie

349

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1:

Substantivflexion im heutigen Deutschen

31

Tabelle 2:

Deklinationsklasse II der Artikelwörter

34

Tabelle 3:

Deklinationsklasse III der Artikelwörter

34

Tabelle 4:

Starke Adjektivflexion im Gegenwartsdeutschen

35

Tabelle 5:

Schwache Adjektivflexion im Gegenwartsdeutschen

35

Tabelle 6:

Gemischte Adjektivflexion im Gegenwartsdeutschen

35

Tabelle 7:

Substantivflexion im Ahd

61

Tabelle 8:

Starke Adjektivflexion im Ahd

62

Tabelle 9:

Schwache Adjektivflexion im Ahd

63

Tabelle 10: Das einfache Demonstrativpronomen im Ahd

64

Tabelle 11: Das Indefinitpronomen ein im Ahd

64

χϋ

Tabellenverzeichnis

Tabelle 12: Artikelwörter und adjektivische Flexionstypen in der Sprachgeschichte

82

Tabelle 13: Starke Adjektivflexion im Frnhd

85

Tabelle 14: Schwache Adjektivflexion im Frnhd

85

Tabelle 15: Der bestimmte Artikel im Gegenwartsdeutschen

88

Tabelle 16: Das Demonstrativpronomen im Gegenwartsdeutschen ...88 Tabelle 17: Distribution des Definitheitssuffixes in den skandinavischen Sprachen

126

Tabelle 18: Possessivpronomen, unbestimmter Artikel und Negativartikel imNhd

133

Tabelle 19: Possessivpronomen vs. Indefinitpronomen

137

Tabelle 20: Das Possessivpronomen im Ahd

139

Tabelle 21: Zusammengesetzte Demonstrativpronomen im Ahd

141

Tabelle 22: Demonstrativpronomen + Possessivpronomen + NP

149

Tabelle 23: Unbestimmter Artikel + solch- + NP

149

Tabelle 24: Eigenschaften von Possessivpronomina vom Ahd. bis zum Nhd

152

Tabellenverzeichnis

xijj

Tabelle 25: Der Possessivartikel im Gegenwartsdeutschen

154

Tabelle 26: Das Possessivpronomen im Gegenwartsdeutschen

154

Tabelle 27: Possessiv- und Kasussuffixe im Ungarischen

186

Tabelle 28: Possessiv- und Kasussuffixe im Finnischen

186

Tabelle 29: Possessivpronomina im Altenglischen

189

Tabelle 30: Possessivartikel und Possessivpronomen im heutigen Englisch

194

Tabelle 31: Eigenschaften des englischen Possessivpronomens diachron

195

Tabelle 32: Die Abfolge Genitivattribut - Nomen (1500-1540)

218

Tabelle 33: Die Abfolge Genitivattribut - Nomen (1609)

219

Tabelle 34: Die Abfolge Genitivattribut - Nomen (1667)

220

Tabelle 35: Erweiterung des Inventars von funktionalen Elementen

324

1 Einleitung

Gegenstand der folgenden Untersuchung ist die Struktur der Nominalphrase im Deutschen. Das wachsende Interesse generativ ausgerichteter Untersuchungen an der internen Struktur der Nominalphrase seit den 80er Jahren erklärt sich aus der Einfuhrung funktionaler Kategorien in die X-bar-Syntax generativer Grammatiken. Neben den funktionalen Kategorien C(omplementizer) und I(nflection) zur Analyse von Sätzen ist zur Klasse der funktionalen Kategorien auch die funktionale Kategorie D(eterminer) zu rechnen, die neben anderen von Kornfilt (1985), Szabolcsi (1983/84) und Abney (1987) für die Analyse von Nominalphrasen vorgeschlagen wird. Seitdem werden in generativ orientierten Arbeiten Nominalphrasen nicht mehr als Projektionen der lexikalischen Kategorie Nomen, sondern als Projektionen der funktionalen Kategorie D interpretiert. Auch neuere Beschreibungen der strukturellen Eigenschaften der Nominalphrase im Deutschen basieren auf dieser DPHypothese, nach der ein funktionaler Kopf D eine NP als Komplement selegiert: (1)

DP

NP die

Sprachgeschichte

Auch wenn diese Analyse Erklärungen für bestimmte Phänomene im Bereich der Nominalphrasensyntax liefert, wirft sie doch eine Reihe neuer, bis heute kontrovers diskutierter Fragen auf. Durch die Einbeziehung historischer Daten aus der deutschen Sprachgeschichte kann

2

Einleitung

die vorliegende Arbeit diese Fragen unter einer neuen Perspektive angehen; ihr Ziel ist es, auf der Grundlage des historischen Befundes zu einer Neubewertung der synchronen Verhältnisse zu gelangen, die in eine deskriptiv angemessene Analyse der fraglichen Strukturen münden soll. Funktionale Kategorien spielen außerdem unabhängig vom Grammatikmodell eine herausragende Rolle bei der Interpretation von diachroner und synchroner Variation. Eine detaillierte Untersuchung der Veränderungen in der Nominalphrase wird zeigen, wie tragfähig sich diese Modelle in Bezug auf die beobachteten Veränderungen in der Geschichte der Nominalphrase erweisen. Diese Arbeit hat sich demzufolge ebenfalls zum Ziel gesetzt, auf der erarbeiteten empirischen Grundlage bestehende Modelle zur Erklärung von diachroner und synchroner Variation auf ihre Adäquatheit zu überprüfen und gegebenenfalls ein eigenes Modell vorzuschlagen, das dem diachronischen Befund der vorausgehenden Kapitel gerecht wird. Dieses Kapitel beschäftigt sich zunächst mit der Struktur der Nominalphrase des Deutschen (1.1), bevor in Abschnitt 1.2 die DPHypothese eingeführt wird. In Abschnitt 1.2.1 geht es um die Argumente, die für die Einführung dieser Hypothese sprechen, im folgenden Abschnitt um die Anwendung der DP-Hypothese auf die deutschen Daten. Abschnitt 1.2.3 zeigt die Probleme der DP-Hypothese vor allem für die linken Erweiterungen in der Nominalphrase des Deutschen auf. Der Gang der Untersuchung findet sich in Abschnitt 1.3, bevor das Kapitel mit Bemerkungen zu den Daten schließt, die dieser Untersuchung zugrunde liegen (Abschnitt 1.4).

1.1 Zur Struktur der Nominalphrase im Deutschen Im Rahmen der generativen Grammatik verbindet sich vor allem der Name von Heinz Vater mit einer Reihe von Arbeiten über die Struktur der Nominalphrase im Deutschen (1963, 1967, 1984, 1986, 1991,

Zur Struktur der Nominalphrase im Deutschen

3

1993). Als Ausgangspunkt für die Einführung in die Struktur der Nominalphrase des Deutschen möge Vater (1986) dienen. Hier wird der hierarchischen Struktur von nominalen Phrasen erstmals durch die Anwendung des X-bar-Schemas Rechnung getragen, dessen Einführung im Wesentlichen auf die Arbeiten von Chomsky (1970) und Jakkendoff (1977) zurückgeht. Diesem Schema liegt die Idee zugrunde, dass Phrasen vom Typ NP, VP, AP und PP wichtige Struktureigenschaften teilen. Wir werden später auf den einheitlichen Phrasenaufbau von Phrasen verschiedener lexikalischer Kategorien zurückkommen. An dieser Stelle ist zweierlei wichtig: Zum einen, dass Phrasen Erweiterungen der lexikalischen Kategorien Nomen, Verb, Adjektiv und Präposition sind, wobei linke und rechte Erweiterungen des Kerns (oder Kopfes) zu unterscheiden sind. Zum anderen geht Vater in Anlehnung an Jackendoff (1977) von einer Dreierstufung aller Phrasentypen aus. Im Folgenden werden zunächst die rechten, dann die linken Erweiterungen des nominalen Kopfes besprochen. Zur untersten Stufe der NP gehören nach Vater die Komplemente des nominalen Kopfes, unabhängig davon, ob sie als Genitiv- (2a) und/oder als Präpositionalphrasen (2a, 2b) realisiert sind. Köpfe solcher NPn sind typischerweise deverbale Nominalisierungen wie Entwicklung und Ergänzung oder relationale Nomen wie Bürgermeisterin. Das NP- oder PP-Komplement kann wiederum komplex sein (2c). (2)

a. b. c.

die Entwicklung der Software durch Spezialisten die Bürgermeisterin von Tübingen die Ergänzung des Bestandes an Syntaxeinführungen

Die von Vater vorgeschlagene Struktur für die Nominalphrasen in (2) sei exemplarisch an (2a) vorgeführt:

Einleitung

4 (3)

N: Ν'

D



NP

PP

die

Entwicklung

der Software

durch Spezialisten

Die mittlere Stufe der NP umfasst restriktive Attribute, zu denen sowohl Relativsätze wie auch Adverbien und Präpositionalphrasen gehören, die nicht unter die oben genannten Komplemente fallen. Wie (5) zeigt, werden diese restriktiven Attribute unmittelbar von N " dominiert: (4)

a. b. c.

der Artikel, den ich heute gelesen habe die Vorlesung heute das Universitätshauptgebäude in Jena

N1

(5)

N:

der

N'

S

Artikel

den ich heute gelesen habe

Zur Struktur der Nominalphrase im Deutschen

5

Zu der obersten Stufe der Nominalphrase schließlich zählen appositive Relativsätze (6a) sowie lose Appositionen (6b). (6)

a. b.

(7)

Lotta, die ich immer auf dem Markt treffe die Rednerin, eine amerikanische Professorin

Ν'"

N"

S

N'

Τ

Lotta

die ich immer auf dem Markt treffe

Kommen wir nun zu den linken Erweiterungen der Nominalphrase, den Artikelwörtern, Quantoren, Adjektivphrasen und pränominalen Genitiven. Entscheidend für ihre Analyse ist die Beobachtung, dass sich Personalpronomina mit appositiven Relativsätzen und mit losen Appositionen, nicht aber mit restriktiven Attributen verbinden, wie der Grammatikalitätskontrast in (8) und (9) deutlich zeigt: (8)

a. b.

sie, die in der aktuellen Medienlandschaft eine große Rolle spielte wir, die Gruppe der Studierenden

(9)

a. *sie, die ich gestern kennen gelernt habe b. *wir in der Auswahlkommission

Daraus schließt Vater, dass Personalpronomina als Proformen von N " fungieren, so wie er parallel für Pronomina wie jemand, niemand, etwas und nichts nachgewiesen hat, dass sie Proformen von N' sind (Vater 1986:133f.). Die Ungrammatikalität dieser Pronomina in Verbindung mit Artikelwörtern, Quantoren, Adjektivphrasen und pränominalen Genitiven (vgl. (10)) veranlasst Vater dann dazu, diese Konstituenten des Nomens auf der untersten Stufe der NP anzusiedeln mit der

Einleitung

6

Konsequenz einer asymmetrischen NP-Struktur (s. (11)). Denn der Stufung der Attribute auf der rechten Seite des nominalen Kopfes entspricht keine derartige Stufung auf der linken Seite. (10)

a. b. c. d.

*die sie, *der jemand *eine sie, *ein jemand * intelligente sie, *fauler jemand *Jenas wir, * Jenas etwas

(11)

N'" N"

N'

S

Vaters (1986) Vorschlag stellt einen klaren Fortschritt gegenüber Arbeiten dar, die von einer vollkommen flachen Struktur der Nominalphrase ausgehen, wie etwa die Grundzüge (1984), die für die Nominalphrase eine Struktur wie in (12) annehmen (SbG = Substantivgruppe, Art = Artikel, PräpG = Präpositionalgruppe). (12)

SbG

die

überraschende

Berufung nach Paris

der er Folge leisten würde

Im Unterschied zu der flachen Struktur in (12) kommen in dem von Vater favorisierten X-bar-Schema die unterschiedlichen thematischen

Zur Struktur der Nominalphrase im Deutschen

7

Beziehungen zwischen Kopfnomen und Attributen durch die Schichtung in der X-Bar-Struktur klar zum Ausdruck: Dass die nachgestellte Präpositionalphrase in (12) enger mit dem nominalen Kopf verbunden ist, lässt sich daran ablesen, dass diese PP als Schwester von Ν erscheint (vgl. (3)), während ein appositives Attribut wie der Relativsatz in (12) als Tochter von N ' " aufgefasst wird (vgl. die Struktur in (7)). Trotz dieses offensichtlichen Fortschritts in der Strukturbeschreibung, der semantische Funktion und Komplexitätsebene korreliert, wirft auch dieser Vorschlag verschiedene Fragen auf: • Problematisch ist vor allem, dass auf der linken Seite des Kopfnomens Artikelwörter, Quantoren, Adjektivphrasen und pränominale Genitive ohne weitere Schichtung auftreten, und damit alle gleichermaßen den Status von pränominalen Modifikatoren erhalten. Artikelwörter scheinen jedoch allein mit pränominalen Genitiven und Possessivpronomina eine natürliche Klasse zu bilden, da die Distribution beider Konstituenten in der Nominalphrase komplementär ist (s. die Beispiele in (13)). Das gilt jedoch nicht für die Verteilung von Artikelwörtern, Quantoren und Adjektiven (vgl. (11)).' (13)

a. b. c.

das alte Haus Lottas altes Haus ihr altes Haus

Im Unterschied zu Quantoren, pränominalen Genitiven und adjektivischen Attributen können Artikelwörter nicht erweitert werden, sie haben folglich keinen phrasalen Status (s. Erben 1972:281, Haider 1992). Es ist außerdem dem Bedeutungsbeitrag des Artikelworts zuzuschreiben, dass dieses den Referenten der Nominalphrase identifiziert. Eine solche Bedeutung haben Modifikatoren jedoch nie. Das X-bar-Schema, wie es in Vater (1986) diskutiert wird, kann folglich auf der linken Seite des Kopfnomens nicht zwischen Spezifikatoren und Modifikatoren unterscheiden. Vater selbst hat die Analyse des Determinators als Vater (1984) plädiert fiir eine strikte Unterscheidung von Artikelwörtern und Quantoren mit dem Argument, dass Elemente beider Klassen miteinander verbindbar sind.

8

Einleitung

„nicht voll befriedigend" bezeichnet. Dennoch befindet er sich hier in Einklang mit einschlägigen Grammatiken des Gegenwartsdeutschen wie Heidolph et al. (1984) und Eisenberg (1986) sowie Arbeiten im Rahmen der Dependenzgrammatik. So gibt Tesniere (1959) folgende Struktur für die NP les grcmdes rivieres, die zwischen den abhängigen Elementen Artikelwort (les) und adjektivischem Attribut (grcmdes) strukturell nicht unterscheidet.2 (14)

rivieres

les

grandes

• Auch wenn das X-Bar-Schema zwischen Argumenten, restriktiven Modifikatoren und appositiven Modifikatoren differenzieren kann, kommen doch wichtige Unterschiede zwischen Argumenten einerseits und Modifikatoren andererseits nicht zum Ausdruck. Abgesehen von dem unterschiedlichen Stellenwert, den ihr Bedeutungsbeitrag für die Interpretation der Nominalphrase liefert, verhalten sich Modifikatoren anders als Argumente und auch Spezifikatoren, insofern allein Modifikatoren Rekursion erlauben. Während Rekursion auf der zweiten Ebene erlaubt ist, muss sie für die Ebenen eins und drei ausgeschlossen werden. Darüber hinaus ist fraglich, ob die Unterscheidung von Argumenten und Modifikatoren im Zusammenhang mit Nomina überhaupt sinnvoll ist. Von Higginbotham (1983) etwa wird dafür plädiert, dass Erweiterungen von Nomen nur Modifikatoren (oder Spezifikatoren) sein können. • Von Haider (1992) wird schließlich auf ein konzeptuelles Problem hingewiesen, das aus der vorgeschlagenen Dreierstufung der Nominalphrase resultiert. Demgegenüber haben die Phrasentypen VP, AP und

2

Ein ähnlicher Vorschlag findet sich bei Engel (1982). Vgl. dagegen den ebenfalls dependenzgrammatischen Ansatz von Eroms, der die Ansicht vertritt, dass sich Bezugssubstantiv und Artikelwort gegenseitig bedingen, die Abhängigkeiten folglich darzustellen seien als 'Art - Subst' (1988:292ff.)·

Zur Struktur der Nominalphrase im Deutschen

9

PP nur zwei Schichten, wie das Beispiel der Präpositionalphrase aus Haider (1992) unter (15) zeigen soll. Unter der Annahme, dass die verschiedenen Phrasentypen wesentliche Struktureigenschaften teilen, sollte die Nominalphrase aber keinen Ausnahmestatus in Bezug auf ihre hierarchische Struktur haben. (15)

a. b. c.

mit mit Lotta unmittelbar mit Lotta

Es wird im Folgenden gezeigt, wie die Reinterpretation der Beziehung von Nomen und Artikelwort im Rahmen der DP-Hypothese zu neuen Einsichten in die hierarchische Struktur der Nominalphrase verhilft.

1.2 Die DP-Hypothese 1.2.1 Die Einführung der funktionalen Kategorie D Seit den achtziger Jahren wird in linguistischen Arbeiten zunehmend die Ansicht vertreten, dass Nominalphrasen keine Projektionen der lexikalischen Kategorie Nomen sind, sondern als Projektionen einer funktionalen Kategorie D(eterminator) behandelt werden müssen. Zur Unterstützung der DP-Hypothese werden im Wesentlichen folgende Argumente angeführt: • In einer Reihe von Sprachen, zu denen auch die deutsche Sprache gehört, finden sich die morphologischen Genus- und Numerusmarkierungen nicht am Nomen, sondern an einem Artikelelement. (16)

a. b.

der alte Mann, das neue Buch die großen Wagen, die alten Fenster

Wie die Nominalphrasen in (16a) zeigen, wird das Genus ausschließlich am definiten Artikel ausgedrückt, weder Nomen noch pränominales Adjektiv weisen Genusmarkierungen auf. (16b) führt Nominalphrasen an, in denen die Flexionskategorie des Numerus nur am definiten Artikel zum Ausdruck kommt. Unter Verweis auf französische Daten

Einleitung

10

wie in (17) unterstreicht Ouhalla (1991:157) außerdem, dass die für die Kongruenzrelation zwischen Subjekt und Verb wichtigen morphologischen Markierungen in diesen Sprachen am Artikelwort und nicht am Nomen auftreten. Im Allgemeinen sind es aber die Köpfe von Phrasen, die in Kongruenzrelationen eintreten. (17)

a. b.

La port parole a 6t6 arret6e Les militants ont 6t6 condamnös ä mort

In (17) wird das Genus und Numerus der Subjekt-NPn am bestimmten Artikel ausgedrückt, in der Verbphrase ist es jeweils die infinite Form der Verben arreter 'verhaften' und condamner 'verurteilen', die diese Markierung trägt. • Auch die grammatische Kategorie des Kasus wird häufig nicht am Nomen selbst, sondern an einem Artikelwort realisiert. Das gilt auch für das Deutsche: (18)

a. b.

manche intellektuellen Frauen der Kater -

manchen intellektuellen Frauen den Kater

In (18a) geben Adjektiv und Nomen allein keinen Hinweis auf den Kasus der Nominalphrase. Erst das Auftreten eines Artikelworts schränkt die möglichen Kasus ein. Auch das Beispiel in (18b) scheint die Behauptung zu unterstützen, dass die Realisierung der Kasusmerkmale mit dem Artikelwort assoziiert ist. • Ein weiteres Argument für die DP-Hypothese liefert Vater (1993), insofern er referenzsemantische Unterschiede zwischen NP und DP in Koordinationsstrukturen aufzeigt: (19)

a. b.

Der Freund und Verleger sagte seine Teilnahme ab. Der Freund und der Verleger sagten ihre Teilnahme ab.

Vater führt aus, dass bei der Koordination von NPn wie in (19a) nur auf ein Individuum referiert wird, das gleichzeitig Freund und Verleger ist (i.e. ein bestimmtes Element der Schnittmenge der Menge aller Freunde und der Menge aller Verleger). Dagegen handelt es sich in (19b) um zwei Individuen, so dass die Referenten sich jeweils als ein bestimmtes Element der Menge aller Freunde sowie ein bestimmtes

Die DP-Hypothese

11

Element der Menge aller Verleger identifizieren lassen. Die referenzsemantischen Unterschiede in (19) kommen im Numerusunterschied der Verbflexion deutlich zum Ausdruck. • Zur Rechtfertigung der DP-Hypothese werden zudem die folgenden strukturellen Parallelen zwischen Nominalphrasen und Sätzen herangezogen. Wie Sätze können auch Nominalphrasen Subjekte und Objekte aufweisen, was sich im Fall von deverbalen Nomina wie in (20b) zeigen lässt: (20) a. b.

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• Die strukturellen Parallelen lassen sich des Weiteren an den Bindungsdaten unter (21) illlustrieren. In (21a,b) bindet das jeweilige Subjekt ein Reflexivum in einem präpositionalen Objekt, in (21c,d) jeweils ein possessives pronominales Subjekt. (21) a. b. c. d.

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• Ein weiteres Argument dafür, dass sich Sätze und nominale Phrasen wichtige Struktureigenschaften teilen, nimmt Bezug auf Passivkonstruktionen: Wie beim verbalen Passiv in (22a) wird in (22b) das interne Argument des nominalisierten Verbs zum Subjekt. (22) a. b.

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• Eine wichtige Rolle bei der Einfuhrung der DP-Hypothese haben schließlich Daten aus Sprachen wie dem Ungarischen gespielt (s. Szabolcsi 1983/4, 1987). In ungarischen Possessivkonstruktionen kongruieren Kopfnomen und Possessorphrase hinsichtlich Person und Numerus und anders als im Deutschen steht die pränominale Possessorphrase im Nominativ und nicht im Genitiv. Solche Daten suggerieren, dass NP-Projektionen wie Satzprojektionen auch über eine funktionale Ka-

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Einleitung

tegorie verfügen, die für die Nominativzuweisung verantwortlich ist.3 Das possessive Affix am Kopfhomen verhält sich analog zu verbaler Flexionsmorphologie. (23) a.

az έη-0 venddg-e-m das ich-NOM Gast-POSS-lSG

b.

'mein Gast' (a) Mari-0 vend6g-e-0 die Maria-ΝΟΜ Gast-POSS-3sG

'Marias Gast'

Aus Daten wie in (16) bis (23) wird der Schluss gezogen, dass Nominalphrasen wie Sätze über eine funktionale Kategorie verfügen, welche die Projektion der jeweiligen lexikalischen Kategorie (N oder V) nach oben abschließt.4 Die Unterscheidung zwischen lexikalischen und funktionalen Kategorien ist seit den achtziger Jahren in der generativen Grammatik etabliert (Chomsky 1986). Anders als bei den lexikalischen Kategorien Nomen, Verb, Adjektiv und Präposition liegt einer funktionalen Kategorie keine Wortart zugrunde. Funktionale Kategorien bezeichnen vielmehr strukturelle Positionen, denen grammatische Merkmale wie Tempus, Modus, Numerus und Genus zugeschrieben werden.5 Diese Merkmale können durch geeignete Trägerelemente realisiert werden. Typische Träger grammatischer Merkmale sind die Funktionswörter der traditionellen Grammatik, d.h. Artikelwörter, Konjunktionen und Auxiliarverben, die aufgrund ihres begrenzten Inventars 3

4

5

Auch das Türkische weist Kongruenzmorphologie am Kopfhomen auf; die pränominale NP trägt im Unterschied zum Ungarischen allerdings Genitivkasus (vgl. Kornfilt 1985). Szabolcsi (1987) nimmt an, dass für den definiten Artikel in der Nominalphrase eine der funktionalen Kategorie C vergleichbare Position angenommen werden muss, während in Analysen des Englischen vor allem auf Parallelen zwischen den funktionalen Kategorien I und D verwiesen wird. Das entscheidende Argument für Szabolcsi ist die Kookkurrenz von definitem Artikel und anderen Determinatoren: Der definite Artikel steht vor der Possessorphrase, die anderen alle danach. Außerdem ist der definite Artikel der funktionalen Kategorie C vergleichbar, insofern er die Projektion von INFL in die Lage versetzt, als Argument zu agieren. Wie im Satz ist INFL auch in der Nominalphrase für die Nominativzuweisung verantwortlich. Zimmermann (1991a) versteht unter dem Begriff die grammatischen Merkmale selbst.

Die DP-Hypothese

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eine geschlossene lexikalische Klasse bilden. Darüber hinaus fungieren auch morphologisch gebundene Elemente wie Klitika oder Affixe als Träger grammatischer Merkmale. Jeder lexikalischen Kategorie werden spezifische grammatische Merkmale zugeschrieben: Das sind beim Nomen Definitheit, Kasus und Numerus, beim Verb Modus, Tempus, Polarität, Aspekt und Diathese sowie Gradualität beim Adjektiv. Grammatische Merkmale sind relationale Merkmale, insofern sie Beziehungen zwischen Konstituenten einer Phrase oder eines Satzes anzeigen. So ist beispielsweise das grammatische Merkmal Numerus ein internes relationales Merkmal, dessen Markierung an Artikelwort, Adjektiv und Kopfnomen die internen Relationen in einer Nominalphrase zum Ausdruck bringt. Kasus dagegen etabliert als ein externes relationales Merkmal die Beziehung der Nominalphrase zum Prädikat des fraglichen Satzes. Grammatische Merkmale lassen sich außerdem referenziell interpretieren, insofern sie den Referenten einer Nominalphrase im jeweiligen Diskurskontext verankern. Funktionale Kategorien haben folglich keinen deskriptiven Gehalt wie lexikalische Kategorien. Von den grammatischen sind die kategorialen Merkmale [± N ] und [± V ] zu unterscheiden, mit deren Hilfe sich die lexikalischen Kategorien Nomen, Verb, Adjektiv und Präposition dekomponieren lassen. Erst die Bildung natürlicher Klassen von lexikalischen Kategorien erlaubt kategorienübergreifende Generalisierungen etwa im Hinblick auf die Stellung eines Phrasenkopfes relativ zu seinem Komplement.6 Kategoriale Merkmale treffen ontologische Unterscheidungen zwischen verschiedenen Sorten von Entitäten, wie Individuuen, Stadien, Arten, Orten, Ereignissen oder Propositionen. Einzelne Sorten von Entitäten können weiter differenziert werden; so lässt sich zum Beispiel die lexikalische Kategorie Nomen mit der Merkmalsspezifizierung [+ Ν, - V ] mit Hilfe der Merkmale [± femininum], [± abstrakt],

6

Beispiele für die Bildung natürlicher Klassen lexikalischer Kategorien mit gemeinsamen Merkmalsspezifizierungen finden sich unter anderem in Stechow & Sternefeld (1988:145ff.) und Borsley (1997:106fF.).

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Einleitung

[± belebt] und [± zählbar] in weitere Subklassen untergliedern. Die letzteren Merkmale sind inhärente Eigenschaften von Entitäten und deshalb den kategorialen und nicht den grammatischen Merkmalen zuzurechnen.7 Die Einführung funktionaler Kategorien in Chomsky (1986) beruht nun auf der Annahme, dass nicht nur kategoriale, sondern auch grammatische Merkmale projizieren. Wie die grammatischen Merkmale im Einzelnen mit funktionalen Kategorien zu korrelieren sind, ist Gegenstand zahlreicher Arbeiten in der Folge von Chomsky (1986) gewesen. Um nur zwei Positionen aus dieser Diskussion herauszugreifen: Abney (1987) wie auch Riemsdijk (1990) schlagen ein binäres Merkmal [± F] vor, das in Verbindung mit den kategorialen Merkmalen fur jede lexikalische Kategorie zu einer spezifischen funktionalen Kategorie führt. Jede funktionale Projektion wird als gleichzeitige Projektion ihres eigenen Kopfes und des Kopfes der entsprechenden lexikalischen Projektion aufgefasst, d.h. sie unterscheidet sich allein durch die grammatischen Merkmale von der lexikalischen Projektion. Da ein binäres funktionales Merkmal zwar zwischen lexikalischen und funktionalen Kategorien, nicht aber zwischen verschiedenen funktionalen Kategorien unterscheiden kann, wird in der Literatur auch vorgeschlagen, für jedes grammatische Merkmal eine eigene funktionale Kategorie anzunehmen (vgl. Ouhalla 1991; Zwarts 1992). So geht etwa Zwarts (1992:35) davon aus, dass fur Nominalphrasen neben der lexikalischen Kategorie Ν die funktionalen Kategorien Num für das Numerusmerkmal, D für das Definitheitsmerkmal sowie Κ für das Kasusmerkmal anzunehmen seien.8

7

'

Vgl. etwa Zwarts (1992) und Bierwisch (1967) zu diesem Punkt. Das Genusmerkmal ist nach Bierwisch (1967) und Zwarts (1992) den kategorialen Merkmalen zuzurechnen, vgl. oben.

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Die DP-Hypothese

Unabhängig davon, ob es sich beim Kopf der Phrase um eine lexikalische oder eine funktionale Kategorie handelt, wird seit Chomsky (1986) ein einheitlicher Phrasenaufbau angenommen.® (24)

XP

ZP

X'

WP

X'



YP

Die Phrase XP hat genau einen Kopf X, sie ist endozentrisch. Außer dem Kopf enthält die Phrase als maximale Projektionen ein Komplement (YP), ein Adjunkt (WP) und einen Spezifikator10 (ZP). Anders als bei der Verbindung eines Kopfes mit einem Komplement oder einem Spezifikator erhöht die Verbindung eines Kopfes mit einem Adjunkt die Komplexität der entsprechenden Phrase nicht. Und nur auf dieser Ebene ist Rekursion zugelassen. Wie diese Struktur im Einzelnen für lexikalische und funktionale Kategorien auszubuchstabieren ist, wird am Beispiel der DP-Struktur des Deutschen im nächsten Abschnitt vorgeführt.

9

10

Fukui (1986) und Abney (1987) gehen dagegen davon aus, dass sich lexikalische und funktionale Kategorien darin unterscheiden, dass nur letztere über eine Spezifikatorposition verfügen. Von Zimmermann (1991a) dagegen wird auch für die lexikalischen Kategorien V und Ν eine solche Spezifikatorposition angenommen. Die Spezifikator-Kopf-Beziehung im X-bar-Schema ist eine formal eindeutig definierte Relation, die klar von anderen Relationen wie Komplement-Kopf- und Adjunkt-Beziehung unterschieden werden kann. In Vennemann (1977) wird 'Spezifikator' als Oberbegriff für Komplemente und Attribute verwendet.

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Einleitung

1.2.2 Die DP im Deutschen Auch wenn Arbeiten zur Syntax der Nominalphrase im Deutschen bis in die achtziger Jahre typischerweise davon ausgehen, dass der Artikel als eine Art Attribut des Kopfnomens zu verstehen ist, so finden sich doch bereits in den siebziger Jahren Vorschläge, die den Artikel als das regierende Element in der Relation zwischen Nomen und Artikel auffassen. Aus Erben (1972:280) stammt der folgende Vorschlag zur Analyse der NP-Struktur: (25)

Artikel + Kasus- und Numeruszeichen

Und in dem kategorialgrammatischen Rahmen, in dem Vennemann (1977) arbeitet, errechnet sich die Kategorie des Artikels automatisch als Kopf des entsprechenden Terms mit dem regierten Nomen als Komplement, wie das folgende Beispiel aus Vennemann illustrieren soll: (26)

a. b.

das alte Buch das

alte

Buch

n/c

c/c

c

(c = common noun, η = Term)

η In die generative Grammatik hat die Idee, dass der Artikel der Kopf der nominalen Phrase ist, jedoch erst mit der Einführung der funktionalen Kategorien Eingang gefunden. Für das Deutsche verbindet sich die Einführung der DP-Hypothese vor allem mit den Arbeiten von Haider

Die DP-Hypothese

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(1988), Olsen (1989), Bhatt (1990) und Gallmann (1990). Nommalphrasen werden seit Ende der achtziger Jahre auch im Deutschen nicht mehr als Projektionen der lexikalischen Kategorie Nomen, sondern als Projektionen der funktionalen Kategorie D interpretiert. In dieser Determinansphrase ist D ein funktionaler Kopf, der die NP als Komplement kategorial selegiert. Es gehört zu den konstituierenden Eigenschaften funktionaler Kategorien, dass sie genau eine syntaktische Kategorie als Komplement selegieren (so wie D eine NP selegiert, selegiert der funktionale Kopf C eine IP, der funktionale Kopf I eine VP)." Die Art und mögliche Zahl der jeweils projizierten funktionalen Köpfe hängt dagegen von dem lexikalischen Element ab, mit dem sich diese Köpfe verbinden.

Die grammatischen Merkmale, die mit der funktionalen Kategorie D assoziiert werden, sind neben dem Definitheitsmerkmal relationale Merkmale, bei denen zwischen Kongruenzmerkmalen (interne relationale Merkmale) und Kasusmerkmalen (externe relationale Merkmale) zu unterscheiden ist. Das typische Trägerelement für diese grammatischen Merkmale ist das Artikelwort. Die Einführung der funktionalen Kategorie D ermöglicht es, von der vermeintlichen Asymmetrie der linken und rechten Erweiterungen eines nominalen Kopfes abzugehen, die eine differenzierte Stufung der "

Dieser Punkt ist jedoch nicht unstrittig: Tatsächlich ist gerade die Analyse verbaler Gerundien im Rahmen einer DP-Struktur ein wichtiges Argument für Abney (1987), die funktionale Kategorie D einzuführen. Und diese Analyse sieht vor, dass ein funktionaler Kopf D im Fall verbaler Gerundien kein NP-, sondern ein VPKomplement selegiert. Auf diese Weise ist es laut Abney möglich, gleichzeitig den externen nominalen und den internen verbalen Eigenschaften von verbalen Gerundien gerecht zu werden.

Einleitung

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rechten Erweiterungen annimmt, jedoch für die linken Erweiterungen nicht über die flache Struktur früherer Vorschläge hinausgeht. Das komplementäre Auftreten von Artikel und pränominalem Genitiv (vgl. 28) wird durch eine Struktur wie (29) erfasst, in welcher der pränominale Genitiv die Spezifikatorposition der funktionalen Kategorie D einnimmt. Kasuszuweiser ist ein abstraktes Merkmal [+ possessiv], das mit der funktionalen Kopfposition D° assoziiert ist. (28) a. *Lottas das alte Haus b. *Lottas dieses Haus

(29)

DP

SpecDP

D' D°

NP

N'

AP

N'



I a. b.

das Lottas

0

alte altes

Haus Haus

Mittels des Merkmals [+ possessiv] wird die Inkompatibilität von pränominalen Genitiven und Artikelwörtern dann wie folgt erklärt: Es wird davon ausgegangen, dass die grammatischen Merkmale des vorangestellten Genitivs mittels Kopf-Spezifikator-Kongruenz mit dem funktionalen Kopf abgeglichen werden, so wie das auch für indirekte Fragesätze angenommen wird: (30) a. b.

Welchen Film Lotta gesehen hat, (weiß er nicht), [Welchen Film [ 0 [Lotta gesehen hat]]]

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Das finite Verb kann in (30) nicht in der Position des funktionalen Kopfes erscheinen, weil diese Position durch die w-Phrase in der Spezifikator-Position für das Merkmal [+ interrogativ] spezifiziert ist, und das finite Verb kein Exponent dieses Merkmals sein kann. Damit erhalten wir auch eine Erklärung für die Ungrammatikalität von Beispielen wie (28). Bei Nominalkonstruktionen mit vorangestelltem Genitiv spezifiziert der Genitiv die funktionale Kopfposition als [+ definit]. Da die funktionale Kopfjposition durch den vorangestellten Genitiv außerdem für das Merkmal [+ possessiv] spezifiziert ist, kann der definite Artikel nicht Träger der grammatischen Merkmale in D° sein, da er kein Exponent dieses Merkmals sein kann. Adjektivische Modifikatoren werden an die Projektion N' adjungiert, wie in (29) zu sehen ist (vgl. Zimmermann 1991a).12 Ausschlaggebend für die flache Struktur der linken Erweiterungen war die Beobachtung, dass Pronomina nur mit rechten, nicht aber mit linken Erweiterungen auftreten können. Vater (1986) führt diese Asymmetrie im Verhalten der Pronomina in der von ihm vorgeschlagenen dreistufigen X-bar-Struktur darauf zurück, dass Pronomina sowohl Proformen von N " als auch N ' " sein können. In einer DP-Struktur mit der in (24) dargestellten Schichtung der linken Erweiterungen findet das Verhalten der Pronomina eine plausible Erklärung, wenn sie nicht als Proformen einer Projektion von N, sondern als Proformen der funktionalen Kategorie D aufgefasst werden. (31) a.

12

DP

b.



NP

der

Kater

DP

sie

Haider (1992) nimmt dagegen an, dass restriktive Modifikatoren an NP adjungiert werden. Ich denke, dass die Frage, ob restriktive Modifikatoren an X' oder XPProjektionen adjungiert werden, für die folgende Diskussion ohne Belang ist.

Einleitung

20

In (31) sind Artikel und Pronomina alternative Realisierungen des funktionalen Kopfes D°. Da Pronomina anders als Artikel kein NPKomplement haben, werden sie im Unterschied zu den transitiven Artikelwörtern als intransitive Träger der grammtischen Merkmale aufgefasst. Pronomina sind folglich inkompatibel mit Artikelwort und pränominalem Genitiv, weil sie selbst die Position D° besetzen, und die Positionen D° und SpecDP komplementär zu besetzen sind. Adjektivische Attribute sind ausgeschlossen, weil nur lexikalische, nicht aber funktionale Kategorien linke Adjunktionen von Modifikatoren erlauben. Funktionale Kategorien verfugen nur über eine linke Position, i.e. die Position ihres Spezifikators (vgl. Haider 1992). Mit der Einfuhrung der funktionalen Kopfposition gelingt es folglich, die systematischen Beziehungen zwischen Artikeln und Pronomina zu erfassen. (32)

a. *leichtgläubige wir b. wir, die wir alles glauben

AP

D'

D'

CP

leichtgläubige

wir

wir

die wir alles glauben

Wie der Grammatikalitätskontrast in (32) zeigt, sind Pronomina nur mit rechten Erweiterungen kompatibel. Das Beispiel (33b) illustriert einen appositiven Relativsatz, der rechts an D' adjungiert ist. Bleibt noch zu klären, wie nachgestellte Genitiv- und Präpositionalphrasen der Literatur zufolge in die DP-Struktur eingebunden werden. Postnominale Genitive werden als Komplemente des nominalen Kopfes N° analysiert, wie ihres Buches in (34a), präpositionale Erweiterungen als Adjunkte an die N'-Projektion aufgefasst (34b).

Die DP-Hypothese

(34) a.

DP



b.

21 DP

NP

NP

N'

N'

N'

PP

N° die

Lesung

ihres Buches

das

Haus

an der Nordsee

Die Einfuhrung der funktionalen Kategorie D ermöglicht die Differenzierung zwischen restriktiven und appositiven Modiflkatoren, insofern restriktive Modiflkatoren Adjunkte innerhalb der lexikalischen Kategorie sind, appositive Modiflkatoren aber Adjunkte innerhalb der funktionalen Kategorie DP. Das präpositionale Attribut in (37b) wird demzufolge als ein restriktiver Modifikator verstanden. Mit dieser Analyse entfallt erstens die Notwendigkeit zu erklären, weshalb der Artikel als Einzige pränominale Konstituente keine Erweiterungen zulässt, also als eine defektive phrasale Kategorie zu betrachten wäre. Vielmehr verhält sich der Artikel wie andere typische Träger grammatischer Merkmale, zum Beispiel Konjunktionen als charakteristische Exponenten des C-Merkmals [± interrogativ] oder die Auxiliarverben als Träger des I-Merkmals [± finit]. Keines dieser Funktionswörter ist erweiterbar. Die Reinterpretation der Beziehung zwischen Nomen und Artikel entspricht zweitens dem unterschiedlichen Bedeutungsbeitrag, den Modiflkatoren und Artikelwörter bei der Interpretation der Nominalphrase leisten: Modiflkatoren schränken die Extension der durch das Kopfnomen bezeichneten Menge von Entitäten ein; Artikelwörter dagegen identifizieren eine Entität aus dieser Menge. Weitere Unterstützung für die Einführung einer funktionalen Kategorie D in die Struktur der Nominalphrase im Deutschen liefert

Einleitung

22

schließlich eine Beobachtung von Schachtl (1989). Sie zeigt, dass die morphologische Markierung von Genitivkasus in der deutschen Gegenwartssprache primär den linken Erweiterungen der genitivisch markierten Nominalphrase (vor allem dem Artikelwort) und nicht dem Kopfhomen selbst zukommt. Nur wenn morphologischer Kasus an einer linken Erweiterung bereits overt markiert ist, kann auch der nominale Kopf kasusmarkiert sein. Gallmann (1990) weist nach, dass sich diese Beobachtungen auf die Markierung von Dativkasus übertragen lassen. (35) a. b.

die Verarbeitung von tropischem Holze/Holz-0 die Verarbeitung von *Holze/Holz-0

1.2.3 Problemstellung Ein Vergleich der Analyse von Vater (1986) sowie der DP-Hypothese zeigt, wie sich die angesprochenen Probleme in einer DP-Struktur lösen lassen: • Der Sonderstatus des Artikels unter den linken Erweiterungen wird durch seine Analyse als Exponent grammatischer Merkmale in der Position eines funktionalen Kopfes erfasst. • Dem Befund, dass allein Modifikatoren Rekursion erlauben, wird im X-Bar-Schema durch die Eigenschaften der Adjunktionsrelation Rechnung getragen. • Der einheitliche Phrasenaufbau gilt für alle lexikalischen und funktionalen Kategorien. Trotz dieser Fortschritte bleibt die linke Seite eines nominalen Kopfes auch im Rahmen einer DP-Analyse eine Herausforderung für die syntaktische Beschreibung nominaler Phrasen. Wenn der bestimmte Artikel der prototypische Träger der grammatischen Merkmale in der Nominalphase ist, wie verhält es sich dann mit Possessivpronomina und pränominalen Genitiven? Stellen auch diese linken Erweiterungen mögliche Trägeriemente der grammatischen Merkmale dar? In der Literatur wird diese Frage für die Possessivpronomina bejaht, strittig

Die DP-Hypothese

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ist allerdings, ob diese possessiven Elemente zu den Artikelwörtern gehören und damit wie der bestimmte Artikel in der Position D° zu situieren sind (Haider 1992), oder ob sie eher wie Pronomina zu behandeln sind und damit in einer Nicht-Kopf-Position der DP-Struktur wie der Spezifikatorposition erscheinen (Olsen 1989, Zimmermann 1991b). Eine neuere Analyse von Löbel (1996) interpretiert die Possessivpronomina als eine besondere Klasse von adjektivischen Modifikatoren und bringt damit eine dritte Alternative ins Spiel. Das Problem der Kategorisierung von Possessivpronomina ist allerdings kein theorieimmanentes Problem der generativen DP-Hypothese. Wie eine Übersicht in Löbels (1996) Untersuchung zeigt, stellt sich das Problem der Einordnung von Possessivpronomina in eine Wortartenklassifizierung auch in den einschlägigen Grammatiken des heutigen Deutschen (Erben 1972; Heidolph etal. 1984; Eisenberg 1986; Engel 1988). Auch die pränominalen Genitive werden als Träger grammatischer Merkmale verstanden. Allerdings veranlassen Daten wie (36) Haider (1992) zu der Frage, ob wir es tatsächlich mit nur einem funktionalen Kopf zu tun haben, oder von mindestens zwei funktionalen Positionen für die Struktur der Nominalphrase ausgehen müssen.13 Eine funktionale Projektion enthielte in diesem Fall das Definitheitsmerkmal, die andere Projektion die Kasus- und Kongruenzmerkmale der Nominalphrase. (36) a. b. c. d. e.

altes Brot ein altes Brot das alte Haus mein altes Haus Lottas altes Haus

In (36) sind allein (36a) und (36b) indefinit, (36c) bis (36e) aber definit zu interpretieren. Nur in (36c) trägt das Adjektiv die schwache, in den anderen Beispielen die starke Adjektivflexion. Es wird angenommen, dass nicht nur Funktionswörter als Träger grammatischer Merkmale 13

Andere Vorschläge gehen davon aus, dass alle grammatischen Merkmale selbstständig projizieren, vgl. beispielsweise Ouhalla (1991).

Einleitung

24

fungieren, sondern auch Flexionsmorpheme diese Funktion übernehmen können, in diesem Fall die Flexionssuffixe der starken Adjektivflexion. Und wie nun die Gegenüberstellung von (36a) und (36b) einerseits sowie (36d) und (36e) andererseits zeigt, sind Possessivpronomina und pränominale Genitive offensichtlich Träger des Definitheitsmerkmals, aber nicht der Kasus- und Kongruenzmerkmale.14 Im Hinblick auf Beispiel (36a) mit einem Massennomen als nominalem Kopf stellt sich die weitere Frage, ob die funktionale Kopfposition auch unbesetzt bleiben kann. Andere indefinite Nominalphrasen ohne Artikelwort sind pluralische Nomina wie in der Nominalphrase Bäume. Exponent der grammatischen Merkmale ist in diesem Fall laut Zimmermann (1991a) das NP-Komplement selbst, unabhängig davon, ob die Merkmale an einer Adjektivphrase overt realisiert werden wie in (36a) oder einem nominalen Kopf inhärent sind wie in Bäume. Wenn für solche Daten ein indefiniter Nullartikel angenommen wird (Zimmermann 1991a), muss allerdings entsprechend für Eigennamen von der Existenz eines defmiten Nullartikels ausgegangen werden (vgl. Chesterman 1991). Eine andere Möglichkeit der Analyse artikelloser Nominalphrasen, die Haider (1992) ins Spiel bringt, besteht darin, dass die Nominalphrase die grammatischen Merkmale trägt, ohne dass ein D-Kopf projiziert wird, wie (37b) gegenüber (37a) schematisch darstellt. (37)

a. b.

[dp 0 [NP]] [FP/NP]

Es lassen sich folglich drei Fälle in der Realisierung grammatischer Merkmale unterscheiden: (i) den protoypischen Fall des bestimmten Artikels, der alle grammatischen Merkmale trägt, (ii) den Fall, wo die grammatischen Merkmale an zwei verschiedenen Positionen in der 14

Ob der unbestimmte Artikel ein in (36b) zur Klasse der Artikelwörter zu rechnen ist, ist strittig: Gegen Vater (1984), der hier nur Lexeme mit dem Merkmal [+ definit] zulassen möchte, plädieren Olsen (1989), Bhatt (1990), Zimmermann (1991a) sowie Gallmann & Lindauer (1994) dafür, ein sowohl unter die Klasse der DElemente wie unter die Klasse der Quantoren zu subsumieren. Eine Auffassung, der ich mich im Folgenden ebenfalls anschließe.

Die DP-Hypothese

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nominalen Phrase realisiert werden, wie beispielsweise durch den pränominalen Genitiv und die starke Adjektivflexion sowie (iii) den Fall, wo außer dem Kopfnomen kein Trägerelement vorhanden ist. Wie eine Struktur für die Nominalphrase auszusehen hat, die nicht nur den prototypischen Fall (i), sondern alle drei Fälle gleichermaßen erfasst, ist Gegenstand dieser Arbeit. In einem dritten Fragenkomplex geht es um die lineare Abfolge der Konstituenten in nominalen Konstruktionen sowie die Möglichkeiten ihrer Extraktion und Extraposition. Die Frage nach phrasalen Umstellungsbeziehungen stellt sich in erster Linie für genitivische Attribute, die prä- und postnominal auftreten können. Dagegen stellen vorangestellte präpositionale Attribute und Relativsätze allenfalls eine markierte Option dar, obwohl (38a) ein echter Beleg ist; im Folgenden werden lineare Abfolgen wie unter (38) deshalb keine Rolle spielen. (38)

a.

[Im Rigorosumsraum die Luft] war zuletzt womöglich noch etwas dicker und stickiger geworden (Henscheid 28.8) b. ?Die das gesehen haben will, die Frau (aus Haider 1992)

In der Literatur wird angenommen, dass Genitive pränominal auftreten, wenn sie von ihrer postnominalen Grundposition in die pränominale Position SpecDP bewegt worden sind. Daten wie (39) sind Anlass dafür gewesen, diese Umstellungbeziehung kasustheroretisch zu begründen: (39) a. Lottas Überprüfung der Unterlagen b. *die Überprüfung [der Unterlagen] [Lottas]

Der Grammatikalitätskontrast in (39) wird damit erklärt, dass der nominale Kopf Genitivkasus nur unter Adjazenz an seine nominalen Attribute zuweisen kann. Diese Bedingung erfüllt das genitivische Attribut jedoch nicht; erst durch die Umstellung vor das Kopfnomen ist die Kasuszuweisung an beiden nominalen Attribute möglich. Die Annahem einer solchen Umstellungsbeziehung zwischen prä- und postnominale Genitiven ist jedoch nicht unproblematisch: Prä- und postnominale Genitive zeichnen sich im Gegenwartsdeutschen durch deutliche Unterschiede in ihren morphologischen, syntaktischen und semantischen

26

Einleitung

Eigenschaften aus. Darüber hinaus lassen sich Unterschiede zwischen vorangestellten Genitiven im Deutschen und entsprechenden Konstruktionen in anderen germanischen Sprachen feststellen. Diesem Befund wird die Standardanalyse pränominaler Genitive im Rahmen einer DP-Struktur nicht gerecht.15 Es wird folglich auch um die Frage gehen, wie die fraglichen Unterschiede angemessen erfasst werden können, genauer gesagt, ob das Auftreten prä- und postnominaler Genitive überhaupt durch eine Umstellungsbeziehung beschrieben werden kann.

1.3 Zum Gang der Untersuchung Wie die vorausgehende Diskussion gezeigt hat, wirft die Einführung der funktionalen Kategorie D(eterminator) im Rahmen von Arbeiten, die der Prinzipien-und-Parameter-Theorie verpflichtet sind, eine ganze Reihe von Problemen für die Analyse dieser Strukturen im Deutschen auf. Der methodische Zugang dieser Untersuchung unterscheidet sich von bisherigen Arbeiten zur Struktur nominaler Konstruktionen ganz entscheidend dadurch, dass aus einer diachronischen Perspektive argumentiert wird. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass die Einbeziehung historischer Fakten eine Neubewertung des Befundes in der Gegenwartssprache erlaubt und damit eine diesen Fakten angemessene Analyse für so unterschiedliche Phänomene wie die Steuerung der

15

Tappe (1989) und Zimmermann (1991a) gehen davon aus, dass vorangestellte Genitive in der Position SpecNP erscheinen. Da auch hier eine Umstellungsbeziehung zu Grunde gelegt wird, ergeben sich dieselben Probleme wie für eine SpecDP-Analyse des pränominalen Genitivs.

Zum Gang der Untersuchung

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Distribution von adjektivischen Flexionstypen, die adnominalen Possessivpronomina und die attributiven Genitive möglich wird. Die Frage nach den grammatischen Merkmalen in der Nominalphrase und deren möglicher Repräsentation in Form funktionaler Kategorien hängt wesentlich mit der Distribution flexivischer Merkmale in der NP und damit entscheidend mit der Steuerung der Adjektivflexion zusammen. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehen deshalb Kongruenzphänomene in der Nominalphrase des Deutschen. Darüber hinaus geht es um eine Ausweitung im Gebrauch des definiten Artikels, die mit den beobachteten Veränderungen in der Relation von Artikelwort und Nominalphrase korreliert. Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Analyse des Possessivpronomens. Unabhängig vom theoretischen Rahmen ist seine Zuordnung zu einer lexikalischen Kategorie und damit eine befriedigende Analyse bis heute strittig. Eine Einbeziehung der historischen Daten soll dazu beitragen, die offensichtlich widersprüchlichen morphosyntaktischen Eigenschaften der Possessivpronomina unter einer anderen Perspektive angemessen einordnen zu können. Der attributive Genitiv bildet den Fokus des 4. Kapitels. Die Standardanalyse im Rahmen derivationeller Grammatikmodelle geht davon aus, dass das Auftreten eines pränominalen Genitivs auf Umstellungsbeziehungen in der Nominalphrase zurückzuführen ist. Historische Fakten unterstreichen die in der Gegenwartssprache oft übersehenen Unterschiede zwischen prä- und postnominalen Genitiven ebenso wie die Unterschiede zwischen dem pränominalen Genitiv im Deutschen und anderen germanischen Sprachen. Veränderungen in der Produktivität von Genitivkomposita lassen sich als Epiphänomen des sich vollziehenden Wandels genitivischer Attribute darstellen. In Kapitel 5 wird es abschließend darum gehen, auf der empirischen Grundlage der diachronischen Veränderungen in nominalen Strukturen des Deutschen Modelle der Parametrisierung synchroner und diachroner Variation auf ihre Adäquatheit im Hinblick auf den beobachteten Wandel hin zu überprüfen und ein Modell vorzuschlagen, das die be-

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Einleitung

obachtete dichrone und synchrone Variation in der Nominalphrase angemessen beschreiben kann.

1.4 Empirische Grundlagen Die Untersuchung der in Kapitel zwei bis vier genannten Sprachwandelphänomene beruht in erster Linie auf der eigenen Auswertung historischer Quellen, die im Quellenverzeichnis am Ende der Arbeit aufgeführt sind. Die eigene Datenerhebung wird durch Daten aus einschlägigen historischen Grammatiken des Deutschen ergänzt. Da sich diese Arbeit nicht darauf beschränkt, diachrone Variation in angemessener Weise modellieren zu wollen, sondern auch den Anspruch erhebt, synchrone Variation angemessen erfassen zu können, spielen Daten vor allem aus anderen germanischen Sprachen ebenfalls eine wichtige Rolle. Die historischen Daten aus dem Englischen sind unter Rückgriff auf ein elektronisches Datenkorpus der englischen Sprachgeschichte, das so genannte Helsinki-Korpus, gleichfalls selbst erhoben worden. Die verwendeten Daten aus den skandinavischen Sprachen sind ausschließlich einschlägigen Referenzgrammatiken entnommen.

2 Grammatische Merkmale und Relationen

Grammatische Merkmale spielen eine entscheidende Rolle in der Diskussion um eine angemessene Analyse von Nominalphrasen und damit der Diskussion um den Kopfstatus von Det-Elementen. In diesem Kapitel wird es um die Merkmale Genus, Numerus, Kasus und Definitheit gehen. Ausgangspunkt ist die Markierung dieser Merkmale an Nomen, Artikelwörtern und adjektivischen Attributen im Gegenwartsdeutschen. Wie die Verteilung der Merkmale in Abhängigkeit vom theoretischen Hintergrund interpretiert wird, ist Gegenstand von Abschnitt 2.2. Der darauf folgende Abschnitt präsentiert dann die historischen Daten aus dem Althochdeutschen (Ahd.) und Frühneuhochdeutschen (Frnhd.), die eine vom Gegenwartsdeutschen jeweils verschiedene Distribution der flexivischen Merkmale belegen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der Steuerung der Adjektivflexion, die in einschlägigen Arbeiten zu historischen Sprachstufen des Deutschen widersprüchlich entweder als bereits dem Gegenwartsdeutschen Stand entsprechend dargestellt wird, wie in der Grammatik zum Mittelhochdeutschen (Mhd.) von Paul, Wiehl & Grosse (1989), oder als noch nicht dem gegenwartsdeutschen Stand entsprechend, wie in der Einführung ins Frnhd. von Philipp (1980:114). In Abschnitt 2.4 werden die historischen Veränderungen im Hinblick auf die Verteilung der grammatischen Merkmale zusammengefasst und als Wandel in der Struktur der Nominalphrase interpretiert. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels liefert Unterstützung für eine solche Interpretation der diachronen Daten, insofern sich zeigen lässt, dass sich die Ausweitung im Gebrauch des bestimmten Artikels auf Kontexte mit diesem strukturellen Wandel korrelieren lässt. Neben Daten aus der Sprachgeschichte des Deutschen spielen für die

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Grammatische Merkmale und Relationen

Argumentation in diesem Kapitel auch Daten aus anderen germanischen Sprachen eine wichtige Rolle.

2.1 Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen 2.1.1 Nominale Flexionsmorphologie Nomina werden im Deutschen im Hinblick auf Kasus und Numerus flektiert. Das vollständige Flexionsparadigma des Substantivs enthält acht Wortformen, je vier für die Kasus (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) sowie jeweils zwei für Singular und Plural. Da im Gegenwartsdeutschen einige dieser Formen zusammenfallen, umfasst ein Substantivparadigma im Allgemeinen keine acht unterschiedlichen Formen. Der Markierung von Kasus und Numerus dienen neben den Suffixen -e, -n, -en, -s, -es und -er auch Umlaut sowie endungslose Formen. Insofern die Flexionsendungen der Nomina Numerus und Kasus gleichermaßen markieren, sind sie Portmanteau-Suffixe. Wie der Formenbestand der Substantive in Flexionstypen einzuteilen ist, ist bis heute strittig.1 Ich folge hier dem Vorschlag von Eisenberg (1986), der ausgehend von den Formen des Genitiv Singular und des Nominativ Plural die folgenden Flexionstypen annimmt:

So besteht bereits keine Einigkeit hinsichtlich der Frage, ob Singular - und Pluralbildung gemeinsam oder getrennt zu betrachten sind. Letztere Auffassung vertreten u.a. Heibig & Buscha (1984) sowie in einer neueren Arbeit Gallmann (1996). Heibig & Buscha (1986) unterscheiden im Singular drei (vier), im Plural sogar fünf Flexionstypen nach den auftretenden Flexionssuffixen, kommen also auf insgesamt acht (neun) Flexionstypen. Nach Gallmann sind sechs Flexionstypen anzusetzen, darunter ein Flexionstyp für die Plural-, fünf für verschiedene Formklassen des Singulars. Der ersteren Auffassung schließt sich Eisenberg (1986) an. Für weitere Einteilungen von Flexionstypen s. Eisenberg (1986:151).

Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen

31

Tabelle 1: Substantivflexion im heutigen Deutschen Typ 2

Typ 1

Typ 4

Typ 3

Sg

PI

Nom Tisch

-

e

Gen

es

e

en

Dat

(e)

en

Akk

-

e

Sg

PI

-

en

en

es

(en)

en

(en)

en

Sg Mensch -

PI en

Staat

Sg

PI

-

en

en

-

en

e

en

-

en

-

en

-

en

Burg

Zu Flexionstyp 1, der sich durch ein s-Suffix im Genitiv Singular und ein «-Suffix im Dativ Plural auszeichnet, gehören die meisten Maskulina und alle Neutra bis auf das Nomen Herz. Es handelt sich hier um die starke Deklination.2 Wenn beide Formen auf (e)n enden, wie bei Flexionstyp 2, liegt der schwache Deklinationstyp vor, dem maskuline Substantive angehören. Neben Maskulina mit konsonantischem Auslaut {Bär, Held, Narr) sind das Substantive mit e-Auslaut wie Geselle, Bote, Affe, Hase, Erbe. Weisen entweder die Form des Genitiv Singular oder der Nominativ Plural das Flexionssuffix -{e)n auf, so spricht man von der gemischten Deklination, zu der Maskulina wie Neutra gerechnet werden. Substantive wie Ohr, Strahl, Fleck, See deklinieren nach diesem Typ ebenso wie die auf unbetontes -e oder -en endenden Substantive Ende, Buchstabe, Wagen, Regen. Eisenberg (1986) folgend werden die Femina des Typs 4 in Abweichung von der Grimmschen Differenzierung in starke und schwache Deklination im Gegenwartsdeutschen nicht in diese Klassifikation miteinbezogen, sondern als eigener Typ behandelt. Der Singular von femininen Substantiven wie Jacke, Wiese, Zeit, Frau weist charakteristischerweise keine Flexion2

Obwohl die von Jacob Grimm eingeführten Begriffe der starken, schwachen und gemischten Deklinationsklassen im Gegenwartsdeutschen nachweislich keine Grundlage mehr in der Flexionsmorphologie haben (s. Äugst 1979 und die dortigen Literaturhinweise), soll die Dichotomie 'stark' vs. 'schwach in Anlehnung an Eisenberg (1986) als reine Etikettierung beibehalten werden. Das ist meiner Ansicht nach möglich, ohne dass damit eine unangemessene Wertung der Flexionsformen in der Gegenwartssprache verbunden sein muss, wie dies Äugst (1979) offensichtlich annimmt.

Grammatische Merkmale und Relationen

32

Sendungen auf. Die Zuordnung von Substantiven zu Flexionstypen ist insofern willkürlich, als es keine eindeutige Korrelation von Flexionstypen und ontologischen Klassen von Entitäten gibt.3 Welchem Deklinationstyp ein Substantiv angehört, ist folglich eine lexikalische Eigenschaft einzelner Nomina. Für die Artikelwörter des Deutschen ist zunächst zu klären, welche Elemente diese Wortklasse umfasst. Traditionellerweise bereitet besonders die Abgrenzung von Artikeln und Pronomina Schwierigkeiten. Eisenberg (1986) versteht unter Artikeln allein diejenigen Elemente, die ausschließlich adnominal auftreten können, d.h. (1)

der, ein, kein, mein/dein/sein.

Determinativpronomina heißen nach Eisenberg solche adnominalen Einheiten, die auch pronominal erscheinen können, wie die Demonstrativ·, Possessiv- und Indefinitpronomina unter (2).4 Die Determinativpronomina sind in erster Linie Pronomina und erst in zweiter Linie Artikel. (2)

a. b. c.

dieser, jener, solcher unser, euer mancher, einiger, jeder

Ein anderer Ansatz zur Abgrenzung von Artikeln und Pronomina geht von dem Begriff des Pronomens aus: So fasst Engel (1988) unter Pronomina nur diejenigen sprachlichen Einheiten, die ausschließlich als Pronomina fungieren, wie die Personalpronomina {ich, du), das Demonstrativpronomen der, die Indefinitpronomen einer/keiner, das Possessivpronomen meiner sowie das Pronomen jemand. Eisenbergs Determinativpronomina gehören bei Engel zusammen mit den Artikeln in die Gruppe der Determinative. Wenn ich im Folgenden von ArtikelDamit soll nicht behauptet werden, dass hier keinerlei Zusammenhang besteht. So weist Eisenberg (1986) etwa daraufhin, dass Fremdwörter wie Philosoph, Katholik, Patriot nach Typ 2 deklinieren, weil es sich hier um maskuline Personenbezeichnungen handelt. Zu den Determinativpronomina gehören auch die die Possessivpronomina meiner, deiner und seiner. Im Unterschied zu den Possessivpronomina in (2b) können sie allerdings nie adnominal erscheinen.

Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen

33

Wörtern spreche, beziehe ich mich auf alle adnominalen Einheiten, unabhängig davon, ob diese auch pronominal auftreten können. Solange wir uns mit der Verteilung der flexivischen Merkmale in der Nominalphrase beschäftigen, spielt diese Abgrenzungsproblematik keine Rolle.5 Sobald die historischen Daten ins Spiel kommen, werden wir darauf zurückkommen. Aufgrund ihrer Flexionsparadigmen möchte ich die Artikelwörter drei Flexionstypen zuordnen: Der erste Typ umfasst die nicht deklinierten Determinatoren wie viel, allerlei, mancherlei, etwas, welch, zwei sowie pränominale Genitive. Inwieweit diese pränominalen Genitive zu der Klasse der Artikelwörter zu rechnen sind, wird Gegenstand des vierten Kapitels sein. An dieser Stelle möge als Begründung genügen, dass pränominale Genitive und Artikelwörter komplementär verteilt sind. Zu der zweiten Klasse von Determinatoren gehören der bestimmte Artikel, die Demonstrativpronomina dieser, jener und solcher, die Indefinitpronomina aller, jeder und mancher sowie das Interrogativpronomen welcher-, die dritte Klasse schließlich umfasst den unbestimmten Artikel ein, den Negationsartikel kein und die Possessivpronomina. Die Unterscheidung der drei Flexionstypen basiert also wie schon bei den Nomina auf dem Bestand der Flexionssuffixe: Der unflektierten ersten Deklinationsklasse steht die Klasse II mit den Endungen der starken Adjektivflexion gegenüber. Einziger Unterschied zu der Flexion der Adjektive sind die -es-Suffixe des Genitivs im Singular von Maskulinum und Neutrum. Die Artikelwörter der Klasse III unterscheiden sich von der starken Adjektivflexion durch die unflektierten Formen im Nominativ Singular von Maskulinum und Neutrum sowie im Akkusativ Singular des Neutrums.

5

Vater (1984) unterscheidet zwischen Determinatoren wie der, dieser, mein, derjenige, derselbe und Quantoren wie ein, kein, manch, einige, jeder und beide. Ich werde dieser Unterscheidung zwischen Determinatoren und Quantoren hier nicht folgen.

34

Grammatische Merkmale und Relationen

Tabelle 2: Deklinationsklasse II der Artikelwörter Singular Fem

diesMask

Neut

Plural für alle drei Genera

Nom

-er

-e

-es

•e

Gen

-es

-er

-es

•er

Dat

-em

-er

-em

-en

Akk

-en

-e

-es

-e

Tabelle 3: Deklinationsklasse III der Artikelwörter meinMask

Singular Fem

Neut

Plural für alle drei Genera

Nom

-0

-e

-0

-e

Gen

-es

-er

-es

-er

Dat

-em

-er

-em

-en

Akk

-en

-e

-0

-e

Wie bei den Nomina ist der Flexionstyp eine lexikalische Eigenschaft von Artikelwörtern. Adjektivische Attribute flektieren wie die Artikelwörter nach Genus, Numerus und Kasus. Im Unterschied zu Artikelwörtern und Nomina gehören Adjektive aber verschiedenen Flexionstypen an, d.h. der Flexionstyp ist keine lexikalische Eigenschaft von Adjektiven. Vielmehr wird die Wahl des Flexionstyps von der syntaktischen Umgebung determiniert. Darauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen. Zu unterscheiden ist nach Grimm (1837) zwischen dem starken und schwachen Deklinationstyp, dessen Flexionsmuster in den Tabellen 4 und 5 dargestellt sind:

Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen

35

Tabelle 4: Starke Adjektivflexion im Gegenwartsdeutschen Singular Fem

heiß Mask

Neutr

Plural für alle drei Genera

Nom

-er

-e

-es

-e

Gen

-en

-er

-en

-er

Dat

-em

-er

-em

-en

Akk

-en

-e

-es

-e

Tabelle 5: Schwache Adjektivflexion im Gegenwartsdeutschen Singular Fem

heiß Mask

Neutr

Plural für alle drei Genera

Nom

-e

-e

-e

-en

Gen

-en

-en

-en

-en

Dat

-en

-en

-en

-en

Akk

-en

-e

-e

-en

Neben den beiden genannten Deklinationstypen wird in den traditionellen Grammatiken im Allgemeinen ein dritter Flexionstyp unterschieden, die sog. gemischte Deklination, deren Paradigma in Tabelle 6 dargestellt ist. Tabelle 6: Gemischte Adjektivflexion im Gegenwartsdeutschen

Mask

Singular Fem

Neutr

Plural aller drei Genera

Nom

-er

-e

-es

-en

Gen

-en

-en

-en

-en

Dat

-en

-en

-en

-en

Akk

-en

-e

-es

-en

heiB

36

Grammatische Merkmale und Relationen

Neben starker Adjektivflexion wird in der Literatur auch von pronominaler6 oder determinierender Flexion gesprochen, und anstelle des Begriffs der schwachen Adjektivflexion werden häufig die Begriffe der nominalen oder determinierten Flexion verwendet. Ich halte hier bewusst an der Grimmschen Begrifflichkeit von starker und schwacher Adjektivflexion fest. Der ursprünglich wertende Charakter dieser Begriffe ist meines Erachtens vollkommen hinter dem einer eindeutigen Etikettierung von Flexionsparadigmen zurückgetreten. Gegen die von Solms & Wegera (1991) in ihrer Kritik favorisierten Begriffe determinierend vs. indeterminierend (vgl. Darski 1979) spricht erstens, dass sie unauflösbar mit dem funktionalen Aspekt verbunden sind, „die Markierung der gesamten Substantivgruppe in Abhängigkeit vom Markiertheitsgrad des sonstigen Substantivbegleiters und des Substantivs zu leisten" (Solms & Wegera 1991:57f.). Dies mag dem Befund im Gegenwartsdeutschen entsprechen, dem Befund früherer Sprachstufen werden diese Begriffe jedenfalls nicht gerecht, wie die folgende Untersuchung zeigen wird. Zweitens spricht gegen die Ersetzung der Grimmschen durch die Darskischen Begriffe, dass die Grenzen zwischen beiden adjektivischen Flexionstypen verwischt werden, wie in dem Beispiel der großen Wagen, wo laut Darski allein die Adjektivflexion für Disambiguierung sorgt. Traditionell zur schwachen Adjektivflexion zählende Flexionsendungen werden hier mit den starken Flexionsendungen zur determinierenden Adjektivflexion geschlagen. Das aber schafft unnötige Unklarheiten. 2.1.2 Flexivische Merkmale in der Nominalphrase Mit Kongruenz wird eine Relation zwischen zwei oder mehreren Konstituenten bezeichnet, die in Bezug auf ihre grammatischen Merkmale übereinstimmen. In der Nominalphrase besteht eine solche Relation 6

Diese Begriffe sind ebenfalls diachron motiviert: Nach Braune & Eggers (1987) sind die nominalen Formen durch Endungsschwund infolge der germanischen Auslautgesetze entstanden, während die flektierten Formen pronominale Neubildungen sind.

Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen

37

zwischen Kopfnomen, Artikelwort, adjektivischen Attributen und Appositionen. Die grammatischen Merkmale, die in der nominalen Kongruenz überhaupt eine Rolle spielen können, sind Genus/Nominalklasse, Numerus, Kasus, Definitheit und Possession. Das grammatische Merkmal Person bleibt dagegen auf die verbale Kongruenz beschränkt; in der nominalen Kongruenz tritt es nicht auf (s. Lehmann 1991), auch wenn das in verschiedenen generativen Arbeiten zur funktionalen Struktur der Nominalphrase im Deutschen angenommen wird (wie ζ. B. Olsen 1989, 1991; Vater 1991; Zimmermann 1991a). In der Nominalphrase des Deutschen kongruieren Artikelwort, adjektivische Attribute und Appositionen mit dem Kopfnomen hinsichtlich der Merkmale Genus, Numerus und Kasus, wie die folgenden Beispiele für die Relation von Nomen und Artikel wort (3 a), Nomen und Adjektiv (3 b) sowie Nomen und Apposition (4) illustrieren sollen: (3)

a. b.

der Hund - die Hunde - den Hunden trockenes Brot - trockene Brote - trockenen Broten

(4)

a.

[die Professorin] ^ ^ N0M, [eine international bekannte Wissenschaftlerin],^ SG [die Professorinnen],^ PL NOM, [international bekannte Wissenschaftlerinnen]reM PL NOM [den Professorinnen],^ PL DAT, [international bekannten Wissenschaftlerinnen],^ ^ DAT

b. c.

Im Unterschied zu Sprachen wie dem Hebräischen und Arabischen gehört das Merkmal der Definitheit nicht zu den Kongruenzmerkmalen des Deutschen.7 Ein Beispiel aus dem Hebräischen (Ferguson & Barlow 1988) zeigt, dass ein adjektivisches Attribut nicht nur bezüglich

7

In Löbel (1996) wird zwischen den syntaktischen Kongruenzmerkmalen Genus, Numerus und Kasus einerseits und den semantischen Merkmalen Definitheit und Person andererseits unterschieden. Letztere sind nach Löbel keine syntaktischen Merkmale, da sie für die Kongruenz irrelevant sind. Meines Erachtens ist es irreführend, die Merkmale Definitheit und Person in einen Topf zu werfen: Das Personenmerkmal ist kein Merkmal der nominalen Kongruenz, und das Definitheitsmerkmal gehört wie Genus, Numerus und Kasus auch zu den grammatischen Merkmalen der Nominalphrase, nimmt jedoch im Deutschen, anders als in Sprachen wie dem Hebräischen, nicht an einer Kongruenzrelation teil.

Grammatische Merkmale und Relationen

38

Genus und Numerus, sondern auch bezüglich Definitheit mit dem Kopfhomen kongruieren kann: (S)

a.

b.

isha tov-a axat Frau gut-FEM-SG eine-FEM-SG 'eine gute Frau' ha-isha ha-tov-a die-Frau-FEM-SG die-gute-FEM.SG 'die gute Frau'

Welche grammatischen Merkmale in nominalen Phrasen als Kongruenzmerkmale fungieren unterliegt offensichtlich einzelsprachlicher Variation. Obwohl es sich bei den Merkmalen Genus, Numerus und Kasus gleichermaßen um Kongruenzmerkmale handelt, haben diese Merkmale doch einen unterschiedlichen Status in der Nominalphrase. So herrscht in der Literatur Einigkeit darüber, dass es sich beim Genusmerkmal um ein inhärentes Merkmal des Nomens handelt (Bierwisch 1967; Eisenberg 1986). Nach Zwarts (1992) ist Genus deshalb nicht unter die Menge der grammatischen Merkmale zu subsumieren, sondern unter die Menge der kategorialen Merkmale wie [±N] und [±V]. Kategoriale Merkmale treffen ontologische Unterscheidungen zwischen verschiedenen Sorten von Entitäten, die im Fall von Nomina, also Entitäten mit der kategorialen Markierung [+N, -V], durch Merkmale wie Genus, Zählbarkeit, Belebtheit weiter subkategorisiert werden können. Dem Genusmerkmal entspricht keine Flexionsmorphologie am Nomen. Beim Numerus handelt es sich dagegen um ein grammatisches Merkmal, das an Nomina, Artikelwörtern und Adjektiven ausgedrückt wird. Wie Äugst (1979) beobachtet, besteht im Deutschen eine Tendenz, den Plural eindeutig zu kennzeichnen. Das gilt ganz besonders für die Femina (vgl. Typ 4 in Tabelle 1, S. 31). Evidenz dafür liefern seiner Ansicht nach Daten aus dem Spracherwerb, welche die Übergenerierung von Pluralmarkierungen durch den Sprachlerner zeigen. Beispiele aus Gawlitzek-Maiwald (1994:248) sind krankenwagens, unge-

Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen

39

heuers und löffeln. Artikelwörter, Adjektive, Appositionen und Kopfnomen stimmen in ihrer Numerusmarkierung überein. Kasus ist ein grammatisches Merkmal, das am Nomen selbst selten ausgedrückt wird. In einer jüngeren Arbeit fasst Gallmann (1996) eine Reihe von Beobachtungen (s. Eisenberg 1986; Schachtl 1989; Haider 1992) unter dem Begriff der syntaktisch gesteuerten Kasusindifferenz zusammen. Dieses Phänomen besteht darin, dass Nomen nur dann Kasussuffixe tragen können, wenn sie mit einem stark flektierten Artikelwort oder Adjektiv hinsichtlich des Kasus übereinstimmen. Das lässt sich gleichermaßen für das -ew-Suffix der schwach flektierten Maskulina im Dativ und Akkusativ sowie das Genitiv-^ und das fakultative Dativ-e der starken Flexion der Maskulina und Neutra zeigen (Gallmann 1996:289f.) (6)

a. von E.T.s rotem Planeten b. von E.T.s lila-0 Planet-0 c. *von E.T.s lila-0 Planeten

(7)

a. aus diesem/hartem Holz(-e) b. aus Holz-0 c. *aus Holze

(8)

a. die Verarbeitung dieses/ tropischen Holzes b. *die Verarbeitung Holz-0 c. *die Verarbeitung Holzes

Wie die angeführten Beispiele zeigen, ist die overte Kasusmorphologie an die Kasusmarkierung eines kongruierenden Artikelworts oder Adjektivs gebunden (s. (6) und (7)). Darüber hinaus besteht für die Realisierung von Genitivkasus am Nomen eine zusätzliche Bedingung, die besagt, dass eine Genitivphrase mindestens einen kasusspezifischen Kern haben muss (Gallmann 1996). Weil (8b) nur ein kasusindifferentes Nomen enthält, ist es wie das Beispiel (8c) auch ungrammatisch. Zu den grammatischen Merkmalen der Nominalphrase gehört schließlich das Merkmal der Definitheit, das der Identifizierung eines Referenten im Kontext dient. Wie bereits gesagt, etabliert dieses

Grammatische Merkmale und Relationen

40

Merkmal im Deutschen aber keine Kongruenzrelation zwischen einzelnen Konstituenten der Nominalphrase. Ebenfalls nicht auf Kongruenzeffekte zurückzuführen ist die Distribution der Flexionstypen des Adjektivs. Der Flexionstyp des Adjektivs wird im Unterschied zu Genus, Numerus und Kasus nicht in Übereinstimmung mit der Flexion des Nomens oder des Artikelworts bestimmt, sondern befindet sich in komplementärer Verteilung zum Flexionstyp des jeweiligen Artikelworts. Zum unflektierten ersten Flexionstyp, der ein stark flektiertes Adjektiv bedingt, gehören Artikelwörter wie manch und die pränominalen Genitive. (9)

a. b.

manch bedeutender Wissenschaftler Paulines rotes Haus

Schwach flektierte Adjektive finden sich nach Artikelwörtern wie dem bestimmten Artikel, dem Demonstrativpronomen sowie Artikelwörtern wie aller, mancher, jener, welcher, solcher, die wie die starken Adjektive flektieren. (10)

a. b.

dieser bedeutende Wissenschaftler solche ungenauen Angaben

Adjektive des gemischten Flexionstyps erscheinen nach dem unbestimmten Artikel ein, dem Negativartikel kein sowie dem Possessivpronomen auf. Auch diese Artikelwörter folgen in ihrer Flexion der starken Adjektivflexion mit Ausnahme des Nominativ Singular von Maskulinum und Neutrum sowie des Akkusativ Singular des Neutrums. In (1 la) erscheint die stark flektierte Form des Adjektivs nach der unflektierten Form des Nominativ Singular, in (IIb) findet sich die schwach flektierte Form des Adjektivs nach der stark flektierten Form des Artikelworts. (11)

a. b.

e i n - 0 rotes Haus einem bedeutenden Wissenschaftler

Die Distribution von schwacher und starker Adjektivflexion korreliert im heutigen Deutschen nicht mit dem grammatischen Merkmal der Deflnitheit. Die schwache Flexionsendung wird verwendet, wenn dem

Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen

41

Adjektiv ein Determinator mit starker Flexionsendung vorausgeht (12), andernfalls erscheint das starke Flexionssuffix am Adjektiv (13). (12)

a. b. c.

(13)

a. b. c. d.

der künstlerische Erfolg ihres künstlerischen Erfolges eines künstlerischen Erfolges 0 künstlerischer Erfolg e i n - 0 künstlerischer Erfolg ihr-0 künstlerischer Erfolg Lisas-0 künstlerischer Erfolg

Das Adjektiv wird in (12) schwach flektiert, unabhängig davon, ob das Artikelwort definit (wie in (12a) und (12b)) oder indefinit (12c) ist. In (13c) und (13d) erscheint die starke Adjektivflexion, obwohl das Possessivpronomen und der pränominale Genitiv die Nominalphrase als definit kennzeichnen.8 Der gegenwartssprachlichen Befund wird nun in den Grammatiken so interpretiert, dass die relationalen Merkmale, und damit sind die Kongruenzmerkmale Genus, Numerus und Kasus gemeint, irgendwo in der Nominalphrase ihren spezifischen Ausdruck haben müssen. Das ist im seltenen Fall das Nomen selbst - nach Darski (1979) beschränkt sich das auf die spezifischen Suffixe -s und -n des Genitiv Singular und Dativ Plural der starken Flexion von Maskulina und Neutra.9 Im Allgemeinen ist es das Artikelwort, das Genus, Numerus und Kasus zum Ausdruck bringt. In Fällen, in denen das Artikelwort keine overten morphologischen Merkmale trägt, wird das Adjektiv zum Exponenten der Kongruenzmerkmale, was sich in den Suffixen der starken Flexion widerspiegelt. Die Distribution der adjektivischen Flexionsklassen wird somit von Bedingung gesteuert, dass grammatische Merkmale sichtbar gemacht werden müssen (Duden 1984; Heidolph et al. 1984; Heibig & Buscha 1984). Dass nicht nur das Artikelwort, sondern auch Dennoch findet sich in Löbel (1996) die Auffassung, dass das Definitheitsmerkmal für die Distribution von starker und schwacher Adjektivflexion verantwortlich sei. Die Markierung grammatischer Merkmale ist auch bei adjektivisch deklinierten Nomina wie Beamter, Fremder eindeutig: der ßea/nie-SG.NOM vs. der BeamtenPL.GEN, die Fremde-SG.NOU/AKK

vs. die FreWen-PL.NOM/AKK.

Grammatische Merkmale und Relationen

42

das Nomen bei der Festlegung der Adjektivflexion eine Rolle spielt, wird bereits in Admoni (1982) und Schmidt (1967) hervorgehoben. Sie unterstreichen in diesem Zusammenhang Daten wie die folgenden, in denen das stark flektierte Adjektiv im Genitiv Singular des Maskulinums und Neutrums ein -en- und kein -(e)s-Suffix aufweist: Ihrer Ansicht nach macht die eindeutige Kasusmorphologie des Nomens das -(e)s-Suffix am Adjektiv unnötig (vgl. auch Eisenberg 1986). (14)

guten Mutes, alten Weines

Meines Erachtens ist es nicht plausibel anzunehmen, dass gerade die Kasusmorphologie des Nomens einen Beitrag zur Distribution der Adjektivflexion leistet. Dagegen spricht ja gerade das Phänomen der Kasusindifferenz. Die Beobachtung, dass das Adjektiv bei starker Deklination den Genitiv Singular nicht auf -{e)s sondern -(e)n bildet, kann synchron nicht mit der Kasusendung des Nomens erklärt werden. Eine solche Interpretation der Flexionsmorphologie ist meines Erachtens nur aus diachroner Sicht gerechtfertigt. Richtig ist, dass die starke Adjektivflexion vor dem Frnhd. den Genitiv Singular im Maskulinum und Neutrum mittels -s-Suffix markiert hat, und dass diese Flexionsendung im Verlauf der Sprachgeschichte des Deutschen durch das schwache Suffix -en ausgetauscht wird. Darauf wird in dem entsprechenden Kontext in den Abschnitten 2.3.1 und 2.4 im Detail eingegangen werden. Synchron gesehen gibt es jedoch genau drei unterschiedliche Flexionstypen des Adjektivs, dessen starkes Paradigma unter anderen Formen an der fraglichen Stelle das -en-Suffix enthält. Und es ist das Artikelwort, welches den jeweiligen Flexionstyp festlegt, was sich auch in (15) zeigt, wo das Adjektiv in Abhängigkeit vom jeweiligen Artikelwort und nicht vom Flexionstyp des Nomens stark oder schwach flektiert wird: (15) a. b.

dieser gute Mann vs. guter Mann (Nomen stark, Adjektiv schwach/stark flektiert) dieser gute Knabe vs. guter Knabe (Nomen schwach, Adjektiv schwach/stark flektiert)

Morphosyntax der Nominalphrase im heutigen Deutschen

43

Abgesehen von der Steuerung der Adjektivflexion scheint die Verteilung anderer flexivischer Merkmale der Nominalphrase nicht auf einer gerichteten Relation zu beruhen. So wird angenommen, dass Nomen, Artikelwort und Adjektiv im Hinblick auf die grammatischen Merkmale Numerus und Kasus kongruieren, d.h. in ihren Flexionsmerkmalen übereinstimmen. Dagegen basiert die Genusmarkierung an Artikelwort und Adjektiv nach Eisenberg (1986) auf einer Rektionsbeziehung: Das Nomen regiert Artikelwort und Adjektiv hinsichtlich des Genus, d.h. ein inhärentes Merkmal des Nomens wird am Artikelwort und/oder Adjektiv formal explizit gemacht. Dieser Unterschied zwischen Kongruenz- und Rektionsrelation wird bereits von Dal (1969) ausgeführt. Lehmann (1991) dagegen trifft diese Unterscheidung nicht: Kongruenzbeziehungen versteht er als asymmetrische Relationen zwischen Kontrolleuren und Kongruenten; grammatische Merkmale des Kontrolleurs werden am Kongruenten ausgedrückt. Ob diese Merkmale am Kontrolleur overt markiert sind, oder ob es sich wie beim Genus um eine inhärentes Merkmal des kontrollierenden Nomens handelt, spielt keine Rolle. Die Kongruenzrelation ist also eine gerichtete Relation. Dabei wird zwischen externer Kongruenz, die zwischen Subjekt bzw. Objekt und finitem Verb besteht, und interner Kongruenz, die in der Nominalphrase zu finden ist, unterschieden. Beide Typen von Kongruenz beruhen auf unterschiedlichen syntaktischen Relationen: Externe Kongruenz basiert auf einer Rektionsbeziehung zwischen Kontrolleur und Kongruent, die hier interessierende interne Kongruenz hingegen auf einer Modifikationsbeziehung. Auch generative Grammatiktheorien lassen sich danach unterscheiden, ob sie Kongruenzrelationen als gerichtete oder ungerichtete Relationen auffassen. Im folgenden Abschnitt werden einflussreiche Analysen aus zwei Schulen der generativen Grammatik, dem Prinzipien-undParameter-Modell und der Head-Driven Phrase Structure Grammar (HPSG), vorgestellt.

44

Grammatische Merkmale und Relationen

2.2 Zum Forschungsstand 2.2.1 Derivationelle Analysen Ein klassischer Ansatz zur Analyse der Nominalphrase im Deutschen im Rahmen der Prinzipien-und-Parameter-Theorie ist Olsen (1991).10 Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die grammatischen Merkmale Genus, Numerus und Kasus, die als AGR-Merkmale (d.h. Kongruenzmerkmale) zusammengefasst werden, mit der Position des funktionalen Kopfes D° assoziiert werden. Träger dieser AGR-Merkmale sind, wie im ersten Kapitel ausgeführt, sowohl Personalpronomina als auch Artikelwörter. Im Rahmen der hier interessierenden Kongruenzphänomene geht es um den zweiten Fall, wo ein funktionaler Kopf D° ein NPKomplement selegiert. Die Kongruenzrelation zwischen Artikelwort und Kopfhomen beruht demzufolge auf einer Kopf-KomplementRelation, wobei Kopf und Komplement in ihren grammatischen Merkmalen übereinstimmen müssen. Durch die bestehende Kongruenzrelation wird nach Olsen (1991) der Merkmalsgehalt des funktionalen Kopfes D° eingeschränkt. Die Selektionsbeziehung zwischen der funktionalen Kategorie und ihrem Komplement wird als eine Kongruenzkette verstanden, die mittels Indizierung der betroffenen Kategorien repräsentiert wird. Kongruenzkette Eine Kongruenzkette besteht aus einer ununterbrochenen Folge identischer Indizes, die auf der Basis der funktionalen Selektion entsteht, die zwischen einer AGR-Kategorie und ihrem Komplement erfolgt. Olsen (1991)

In (16) wird das NP-Komplement auf der Basis der funktionalen Selektion mit D° indiziert, während dieser Index innerhalb der NP mittels Perkolation übertragen wird. Das gilt auch für ein adjektivisches Attribut in der NP, das nach Olsen als Schwester von N' erscheint." 10

"

In Bierwisch (1967) ist nachzulesen, wie die Distribution der flexivischen Merkmale im Rahmen der Transformationsgrammatik beschrieben werden kann. Nach Olsen (1991:39) ist die Beziehung zwischen AP und NP als syntaktische Prädikation zu verstehen und erfordert somit Merkmalskongruenz.

45

Zum Forschungsstand

(16)

DP D'

NP1

DEf

das

AP'

N'

A1

N'

eindrucksvolle

Universitätshauptgebäude

Die Distribution der Flexionsmorphologie in der Nominalphrase wird durch die Interaktion der folgenden beiden Prinzipien geregelt: Prinzip der morphologischen Realisierung Grammatische Merkmale werden phonologisch sichtbar gemacht.

(Olsen 1991)

Prinzip der unsichtbaren Kategorie Eine geschlossene [funktionale] Kategorie Β mit einem Merkmal C darf durch eine Ableitung hindurch leer bleiben unter der Bedingung, dass C an einem phrasalen Schwesterknoten von Β morphologisch transparent ist. (Emonds 1985; nach Olsen 1991)

Das erste Prinzip verlangt, dass grammatische Merkmale morphologisch realisiert werden müssen; das zweite Prinzip beschränkt deren Realisierung auf den einmaligen Ausdruck und steuert damit die Distribution von schwacher und starker Adjektivflexion. Beide Prinzipien tragen somit der auch in der traditionellen Grammatik hergehobenen Tendenz Rechnung, dass die Kongruenzmerkmale in der NP nur einmal lexikalisiert werden. Wenn die Nominalphrase kein Artikelwort enthält, das als Träger der grammatischen Merkmale fungieren kann, tritt das Prinzip der Unsichtbaren Kategorie in Kraft. Diesem Prinzip zufolge kann ein funktionaler Kopf in einer Phrase unausgedrückt bleiben, wenn die mit dem Kopf assoziierten grammatischen Merkmale am Kopf seines lexi-

Grammatische Merkmale und Relationen

46

kaiischen Komplements realisiert werden.12 Auf diese Weise wird das Auftreten der starken Adjektivflexion in Nominalphrasen wie unter (9) erfasst, hier wiederholt als (17): (17)

a. b.

manch bedeutender Wissenschaftler Paulines rotes Haus

In (17) wird das Adjektiv zum Träger der grammatischen Merkmale promoviert, d.h. stark flektiert, da der funktionale Kopf D° leer bleibt (s. (18)). Das Nomen allein kann im Gegenwartsdeutschen die im Prinzip der Unsichtbaren Kategorie festgelegten Bedingung der morphologischen Transparenz nicht erfüllen, da einzig das grammatische Merkmal des Numerus am Nomen durch geeignete Flexionssuffixe ausgedrückt werden kann (s.oben). (18)

trockenes

12

Olsen verweist auf Sprachen wie das Lateinische, das durch seine reiche Nominalmorphologie ohne ein Artikelwort auftreten kann, das die grammatischen Merkmale realisiert. Sie bezieht sich dabei auf das weit verbreitete Erklärungsmuster, dass analytische Strukturen auf einer armen Flexionsmorphologie, synthetische aber auf reicher Flexionsmorphologie beruhen, wie die Geschichte der Markierung von grammatischen Merkmalen in der NP zeigt.

Zum Forschungsstand

47

Mit zwei Sets von Daten hat diese Analyse Probleme: Wie sind (i) diejenigen Nominalphrasen zu behandeln, in denen weder Artikelwort noch adjektivisches Attribut präsent ist, wie in (19), und (ii) diejenigen Nominalphrasen, in denen zwar ein Artikelwort auftritt, dieses aber nicht flexionsfähig ist, vgl. (20)? (19) a. b.

Bäume Brot

(20) a. b.

solch ein starkes Gewitter sein blaues Haus

Falls die Nominalphrasen in (19) auch als DPn mit einem funktionalen Kopf D° interpretiert werden, muss gezeigt werden, wie die leere Kopfposition im Rahmen der Theorie zu begründen ist." In (20) ist die Position des funktionalen Kopfes D° offensichtlich durch ein Artikelwort belegt, und das Adjektiv flektiert stark, weil keines dieser Artikelwörter ein Flexionssuffix trägt. Wie diese Fälle in Verbindung mit dem Prinzip der Unsichtbaren Kategorie zu behandeln sind, bleibt unklar. Es bleibt festzuhalten, dass die Kongruenzrelation zwischen Artikel wort und Nomen Olsen (1991) zufolge auf einer KopfKomplement-Relation beruht, die eine auch adjektivische Attribute einschließende Kongruenzkette etabliert. Das Auftreten der starken Adjektivflexion beruht auf der Interaktion des Prinzips der Morphologischen Realisierung und des Prinzips der Unsichtbaren Kategorie, die den einmaligen Ausdruck der grammatischen Merkmale bedingt. Einen anderen Weg der Analyse schlägt Gallmann (1996) ein. Er geht davon aus, dass die Kongruenz zwischen Artikelwort und Nomen mittels der Koindizierung von Spezifikator- und funktionaler Kopfposition zu beschreiben ist, ein Mechanismus, der in Chomsky (1986) für die Erfassung von Subjekt-Verb-Kongruenz (d.h. Koindizierung des funktionalen Kopfs I und seiner Spezifikator-Position) eingeführt wor-

13

Während Olsen (1991) davon ausgeht, dass es sich zumindest im Fall von (19b) um NPn und nicht DPn handelt, weisen Bhatt (1990) Vater (1991) die Unhaltbarkeit dieser Hypothese nach.

48

Grammatische Merkmale und Relationen

den ist. Es wird angenommen, dass die Kongruenzrelation auf Koindizierung beruht, wobei die Koindizierung anzeigt, dass sich zwei Positionen Merkmale teilen. Wie in der traditionellen Grammatik auch wird im Rahmen der Prinzipien-und-Parameter-ThQor\Q von der Asymmetrie der Kongruenzrelation ausgegangen: Der Kontrolleur der Kongruenz ist eine maximale Phrase in der Spezifikator-Position einer funktionalen Projektion, das Ziel der Kongruenzrelation der Kopf der fraglichen Projektion. In der Nachfolge von Chomsky (1986) haben eine Reihe von Autoren den Nachweis geführt, dass auch andere Kongruenzrelationen als die zwischen Objekt und Verb sowie zwischen Possessorphrase und Kopfnomen14 auf der Grundlage von SpezifikatorKopf-Kongruenz zu beschreiben sind.15 In Gallmann (1996) wird versucht, auch die Kongruenz in der Nominalphrase auf eine Kondizierung des Speziflkators und des Kopfes der DP-Projektion zurückzuführen.16 Im Einzelnen nimmt Gallmann an, dass Artikelwörter wie Adjektive zu behandeln sind, als solche auch maximale Phrasen bilden und die Position SpecDP einnehmen.17 Die Struktur (21) bildet die Gallmannsche DP-Struktur ab:

14

15 16

17

Das gilt unter anderem auch für die im ersten Kapitel besprochenen Possessorphrasen des Ungarischen und Türkischen. Vgl. Georgopoulos (1991) und die dort angeführten Literaturhinweise. Auf diesen Mechanismus wird auch in Arbeiten zur Struktur der Nominalphrase im Skandinavischen zurückgegriffen, vgl. etwa Sigurösson (1993:187). Nach Gallmann spricht für eine Analyse der Artikelwörter als Adjektive zum ersten ihre beinahe identische Flexion (s. oben), zum zweiten der zu beobachtende Wortartwechsel von Adjektiven wie folgend zur Klasse der Artikelwörter (das folgende wichtige Prinzip vs. Folgendes wichtige Prinzip).

49

Zum Forschungsstand

(21)

DP

AP

D'

NP

dieser

e

Schüler

Die Position des funktionalen Kopfes bleibt in dieser Analyse leer, angezeigt durch e für 'empty'. Die grammatischen Merkmale beider Positionen werden auf der Grundlage der Spezifikator-Kopf-Kongruenz abgeglichen. Auch die Kongruenzrelation zwischen Kopfnomen und attributivem Adjektiv wird von Gallmann mittels Spezifikator-Kopf-Kongruenz beschrieben. Adjektivische Modifikatoren werden gegenüber herkömmlichen Analysen der Nominalphrase im Rahmen der Prinzipienund-Parameter-Theorie nicht mehr als Adj unkte interpretiert, sondern in geeigneten Spezifikator-Positionen generiert. Eine Möglichkeit, diese Spezifikator-Positionen zu erhalten, sieht Gallmann in einer DPStruktur, die als weitere funktionale Projektion eine AgrNP enthält, die bei Auftreten mehrerer Adjektive rekurrierend generiert wird:"

18

Eine andere Möglichkeit, ausreichend Spezifikator-Positionen für adjektivische Modifikatoren zu erhalten, besteht nach Gallmann in der von Chomsky (1994) vorgeschlagenen Mehrfachspezifikation, in der nicht ganze Phrasen, sondern nur Spezifikator-Positionen einer AgrNP rekurrierend generiert werden. Vgl. Gallmann (1996) für weitere Literatur zur Rekursion von Phrasen.

Grammatische Merkmale und Relationen

50 (22)

DP

AP



D'



AgrNP

AP



AgrN'

AgrN 0

AgrNP

AP



AgrN'

AgrN 0

NP

N° dieses

e

schöne

e

harte

e

Holz

Der nominale Kopf N° wird Gallmann zufolge auf der Ebene der Logischen Form nach D° bewegt (und an D° adjungiert). Die sukzessive Bewegung des Kopfes durch die Kopfpositionen der einzelnen AgrNProjektionen vermittelt die Kongruenz zwischen Nomen und adjektivischen Modifikatoren." Die Distribution von starker und schwacher 19

Die Verteilung der Kongruenzmerkmale durch die Anhebung des Nomens nach D° zu beschreiben mag in Bezug auf die Merkmale Genus und Numerus plausibel erscheinen. Unklar bleibt jedoch, wie das Adjektiv das Kasusmerkmal erhalten soll, das ja der Nominalphrase insgesamt und nicht dem nominalen Kopf zugewiesen wird.

Zum Forschungsstand

51

Adjektivflexion erklärt Gallmann auf dieser Grundlage dann folgendermaßen: Es ist zu unterscheiden zwischen der Kongruenzrelation, die zwischen einer maximalen Phrase und einem Kopf, und einer, die zwischen zwei Köpfen besteht. Der erste Fall liegt in der ArtikelwortNomen-Kongruenz vor, in der der funktionale Kopf D° mit dem Artikelwort in der Spezifikator-Position kongruiert. Der zweite Fall stellt sich ein, wenn nicht das Artikelwort, sondern ein Adjektiv die starken Flexionsmerkmale trägt: D° kongruiert dann mit dem auf LF an den funktionalen Kopf adjungierten Kopfnomen. Beide Typen von Kongruenz bezeichnet Gallmann als primäre Kongruenz und legt fur die Verteilung von schwacher und starker Adjektivflexion fest: Starke Adjektivflexion Ein Adjektiv oder ein Artikelwort wird genau dann stark flektiert, wenn es primäre Kongruenzmerkmale trägt. Steuerung der Adjektivflexion Der flektierte Kern A° einer AP weist genau dann primäre Kongruenzmerkmale auf, a) wenn die AP in SpecDP steht und selbst mit D° primär kongruiert, b) wenn die AP in SpecAgrNP steht und N° mit D° primär kongruiert.

Ein attributives Adjektiv wird schwach flektiert, wenn die Kongruenzrelation zwischen D° und N° neben der Kongruenz von Artikelwort und D° sekundär ist. Kongruenzeffekte in ihrer gesamten Bandbreite auf eine einzige strukturelle Relation (Spezifikator-Kopf-Kongruenz) zurückzuführen, beruht auf dem Bestreben der generativen Grammatik nach einem möglichst einfachen und restriktiven Grammatikmodell. Wie die von Gallmann (1996) vorgeschlagene Analyse meines Erachtens deutlich zeigt, sind die Kosten immens, die eine derart reduzierte Behandlung von Kongruenz mit sich bringt:20 Die Annahmen über die Phrasenstruktur werden solchermaßen modifiziert, dass eine ausreichend große Menge von Spezifikatorpositionen generiert wird, um eine Spezifikator-Kopf-Beziehung zwischen den an der Kongruenz teilhabenden 20

Bereits in Georgopoulos (1991) findet sich eine Kritik an entsprechenden Modifikationen der Phrasenstruktur.

52

Grammatische Merkmale und Relationen

Konstituenten überhaupt etablieren zu können.21 Das macht es meiner Ansicht nach dringend notwendig, die Kongruenzrelation im Rahmen einer generativen Grammatiktheorie zu überdenken: Ist es nicht weitaus plausibler, interne von externer Kongruenz zu unterscheiden und dementsprechend von verschiedenen strukturellen Relationen auszugehen? Im Übrigen muss auch Gallmann das Konzept der SpezifikatorKopf-Kongruenz differenzieren in eine XP-Kopf- und eine X-KopfKongruenz. Und bei letzterer liegt zwischen D° und N° keineswegs eine Spezifikationsrelation vor, wie Gallmann (1996:302) behauptet, sondern eine Adjunktionsrelation. Ein weiterer Einwand gegen diese Analyse hat mit der Einführung der DP-Analyse zu tun: Ein wichtiges Argument in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung, dass sich Artikelwörter nicht wie phrasale Kategorien verhalten, vielmehr Eigenschaften mit anderen funktionalen Köpfen wie 1° und C° gemein haben. In der Gallmannschen DP-Struktur geht gerade diese Parallelität zwischen Satzstruktur und Struktur der Nominalphrase wieder verloren, und die Frage nach der Plausibilität einer DP-Analyse stellt sich hier berechtigterweise. Sowohl Olsen (1991) wie auch Gallmann (1996) gehen davon aus, dass die Kongruenzrelation eine gerichtete Relation ist, in der es eine Quelle und ein Ziel gibt. Bei Olsen ist der Ausgangspunkt der Kongruenzbeziehung der funktionale Kopf D°, der die grammatischen Merkmale sichtbar macht und über eine Koindizierung seines nominalen Komplements die Verträglichkeit der Merkmale im Einzelnen sichert. Nach Gallmann (1996) beruht die Kongruenzbeziehung nicht auf einer Komplementbeziehung wie bei Olsen, sondern er geht davon aus, dass

Dazu gehört neben den adjektivischen Attributen im Deutschen auch die Apposition wie in der Vortrag der ersten Rednerin, einer amerikanischen Professorin, auf die in dieser Untersuchung nicht weiter eingegangen werden soll. In Sprachen wie dem klassischen Arabisch kongruieren auch Relativsätze mit ihrem Kopfiiomen (hinsichtlich des Merkmals Definitheit, s. Ferguson & Barlow (1988)). Wie interne Kongruenz in einer formalen Grammatiktheorie darzustellen ist, soll in dieser Untersuchung exemplarisch an der Beziehung von Adjektiv und Nomen gezeigt werden.

Zum Forschungsstand

53

sich Kongruenz insgesamt als Spezifikator-Kopf-Kongruenz interpretieren lässt. Ausgangspunkt der Kongruenzrelation ist hier die Speziflkatorposition. Evidenz für die Direktionalität der Kongruenzrelation liefert laut Gallmann die Iteration von attributiven Adjektiven, da hier das jeweils erste Adjektiv ausschlaggebend für die Grammatikalität der Nominalphrase ist, wie die Beispiele in (23) und (24) deutlich machen (Gallmann 1996:296). (23) a. die Verarbeitung lilafarbenen brasilianischen Holzes b. *die Verarbeitung lila-0 brasilianischen Holzes c. die Verarbeitung schweren lilafarbenen Holzes d. die Verarbeitung schweren lila-0 Holzes (24) a. mit frischem schwarzem Kaffee b. mit irischem schwarzen Kaifee c. *mit frischen schwarzem Kaifee

Wie die Daten in (6) bis (8) bereits gezeigt haben, ist die Markierung von Genitivkasus am Kopfnomen aber nur möglich, wenn dem Kopfnomen entweder ein Artikelwort oder ein Adjektiv mit einer Genitivmarkierung vorausgeht. Das Beispiel (23b) ist ungrammatisch, weil das erste Adjektiv unflektiert ist, und erst das zweite Adjektiv eine Genitivmarkierung trägt. Auch die Daten in (24) weisen auf die Direktionalität der Kongruenzbeziehung hin: In Nominalphrasen ohne Artikelwort können beide Adjektive oder nur das erste Adjektiv stark flektiert sein, wie (24a) und (24b) zeigen. Ungrammatisch sind Nominalphrasen, in denen das erste Adjektiv schwach, das zweite stark flektiert ist (24c). 2.2.2 Repräsentationelle Analysen Auch im Rahmen einer deklarativen Grammatiktheorie wie der HPSG lässt sich ein wachsendes Interesse an der Struktur nominaler Phrasen konstatieren. So sind in jüngerer Zeit verschiedene Arbeiten in diesem grammatiktheoretischen Rahmen erschienen, die gleichfalls davon ausgehen, dass ein funktionaler Kopf D° ein NP-Komplement selegiert, vgl. unter anderen Svenonius (1993) für die skandinavischen Sprachen sowie Netter (1994) und Kiss (1995) für die deutsche Sprache. Im Un-

54

Grammatische Merkmale und Relationen

terschied zu der Prinzipien-und-Parameter-Theone bezieht sich die HPSG auf genau eine Strukturebene, auf der syntaktische, morphologische, phonologische und semantische Eigenschaften mittels geeigneter Merkmale und Merkmalsbündel parallel repräsentiert werden. Die folgende Darstellung der Kongruenzbeziehung in der HPSG wird sich auf die jeweils relevanten Eigenschaften beschränken und somit jeweils nur Ausschnitte aus Merkmalsrepräsentationen darstellen. Die Kopf-Komplement-Relation zwischen Artikelwort und nominalem Kopf basiert in der HPSG auf einem Selektionsmechanismus, der nicht nur kategoriale und semantische Selektion, sondern auch morphologische Selektion involviert (s. Pollard & Sag 1994). Die bestehenden Beschränkungen zwischen Artikelwort und Nomen werden in (25) exemplifiziert: (25) a. *ein Laub b. das Flugblatt

-

Laub *die Flugblatt

Wie (25 a) zeigt, bestehen zwischen Artikelwort und Nomen semantische Restriktionen, insofern der unbestimmte Artikel eine NP mit dem Merkmal [+zählbar] selegiert und sich aus diesem Grund nicht mit dem Massennomen Laub verbinden kann. Es bestehen zudem morphologische Restriktionen (25b), insofern das Artikelwort eine NP mit einem bestimmten Genusmerkmal (hier [+Neutrum]) selegiert. Die Kongruenzmerkmale werden in der Analyse von Kiss (1995) in dem Merkmalsbündel AGR zusammengefasst, das gleichermaßen dem Kopf wie dem Komplement zukommt. Formal werden Kongruenzeffekte mit Hilfe von identischen Indizes beschrieben, die anzeigen, dass die Werte des Merkmalbündels AGR für Kopf und Komplement identisch sind. In der HPSG spricht man hier vom Mechanismus des Strukturteilens (structure sharing), der sich an einem Beispiel folgendermaßen illustrieren lässt: (26)

einem [N+,V-, F+; AGR[1]; DECLs; SUBCAT]

In einer Analyse wie Kiss (1995), die fur die Struktur der Nominalphrase von einem funktionalen Kopf ausgeht, hat ein Artikelwort wie

Zum Forschungsstand

55

der unbestimmte Artikel einem die kategorialen Merkmale [N+, V-, F+], d.h. kategoriell unterscheidet sich der Artikel allein durch das positiv spezifizierte funktionale Merkmal von einem Nomen. Seine grammatischen Merkmale AGR tragen den Index [1], der hier die Merkmale [Maskulinum ν Neutrum], [Singular] und [Dativ] zusammenfasst. Auf das Merkmal DECL komme ich unten zu sprechen. Zunächst zu dem Merkmal SUBCAT: Dieses Merkmal nimmt als Wert eine Liste von Kategorien an, in diesem Fall eine NP, deren AGR-Wert mit dem AGR-Wert des Artikelworts identisch ist, d.h. den Dativkasus eines Maskulinums oder Neutrums im Singular bezeichnet. Die Ableitung der flektierten Formen aus Wortstämmen basiert auf lexikalischen Regeln, d.h. eine lexikalische Regel fügt ein Flexionssuffix an einen nominalen Stamm und spezifiziert so den AGR-Wert des jeweiligen Nomens. Die Relation zwischen attributivem Adjektiv und Kopfnomen wird als Modifikationsbeziehung aufgefasst. Dabei haben Adjunkte in der HPSG mit Köpfen gemeinsam, dass sie die Phrase, die sie modifizieren, mittels eines Merkmals MOD selegieren. Dieses Merkmal enthält wie das SUBCAT-Merkmal als Wert eine Liste von Kategorien, die ein Adjunkt modifizieren kann. Wie bei SUBCAT kann der Modifikator mittels der MOD-Liste das Kopfnomen auf bestimmte Merkmale festlegen, wie in (27) durch die identische Indizierung von AGR auf die Merkmale Neutrum Singular Nominativ. Kongruenzeffekte beruhen demnach in der Modifikationsbeziehung auch auf dem Mechanismus des Strukturteilens. (27)

blauen [N+, V+, F-; AGR [1]; DECL w; MOD aet maria ferde after [wes engles bodunge [to hire magan elisabe))] 'dass Maria nach des Engels Verkündigung zu ihrer Magd Elisabeth fuhr' (/EC Horn 1,13 200.33)

Nicht nur die Nominativformen von Maskulinum und Neutrum Singular (im Neutrum auch der Akkusativ Singular) sind unflektiert, sondern auch alle Formen der 3. Person Singular und Plural. Im Vergleich mit dem Ahd. bleiben also mehr Formen undekliniert (im Ahd. sind die ausschließlich unflektiert auftretenden Formen auf das Possessivpronomen ihr im Singular und Plural beschränkt). In allen anderen Fällen stimmt das Possessivpronomen mit dem Bezugsnomen in Genus, Numerus und Kasus überein, wie die Beispiele unter (83) zeigen sollen: (83) a.

b.

Drihten, hu micel and hu manigfeald is Herr, wie außerordentlich und wie vielfältig ist [seo mycelnes [)>inre swetnesse]] die Größe deiner G(lte-FEM.SG.GEN hihte ic [to [Q)inra handa] halgum daedum]] hoffte ich zu deiner Hände-FEM.PL.GEN heiligen Taten

(PPs (prose) 30.21) (PPs 91.3)

In (83a) findet sich Übereinstimmung des Possessivpronomens pin 'dein' mit dem Nomen swetness 'Güte', und in (83b) kongruieren Possessivpronomen und Bezugsnomen in Bezug auf die Kongruenzmerkmale Femininum, Plural und Genitiv.

Possessivpronomina

190

Das Possessivpronomen teilt im Ae. die Eigenschaft, mit dem Nomen in Genus, Numerus und Kasus zu kongruieren, sowohl mit den Adjektiven als auch den Artikelwörtern. Eine Reihe diagnostischer Kriterien sprechen dafür, das Possessivpronomen im Ae. als Adjektiv zu analysieren. So geht das Possessivpronomen dem Nomen im Allgemeinen voraus (84a); wie andere Adjektive des Ae. kann es dem Nomen aber auch folgen (84b). Die Stellungsvarianten des Ae. entsprechen in dieser Hinsicht denen des Ahd. (vgl. Abschnitt 3.2). (84) a. b.

öe [hiora öeninga] cuöen understondan on Englisc 'die ihr Messamt auf Englisch verstehen konnten' )>aet he t>e her worhte to me [of liöum minum] 'dass er mich hier von meinem Leiden erlöste'

(CP LetWaerf 13) (Gen 816)

Des Weiteren kann das ae. Possessivpronomen mit dem bestimmten Artikel kookkurieren, wie am Beispiel der Demonstrativpronomina in (85) gezeigt wird. (85) a.

b. c.

Hie Jja lasrde [se heora halga bisceop] sie dort lehrte der ihre heilige Bischof ' ihr heiliger Bischof lehrte sie dort' (LS 25 (MichaelMor) 88) [Jjes min gefea] is gefylled diese meine Freude ist erfüllt (Jn (WSCp) 3.29) And [j>as his anlicnesse] us bebead Drihten to habbenne und diese seine Ähnlichkeit uns bat der Herr zu haben (HomS 23 13)

In prädikativer Verwendung erscheint wie bei prädikativ verwendeten Adjektiven im Allgemeinen das stark flektierte Possessivpronomen, wie sich an der Gegenüberstellung von Possessivpronomina und Adjektiven in (86) vs. (87) ablesen lässt. (86) a.

b.

(87) a. b.

7 min-o alle öin-o sint 7 öin-o min-o sint und meine-ST alle deine-ST sind und deine-ST meine-ST sind (JnGl (Li) 17.10) sunu, JJU eart symle mid me, 7 ealle mine {ring synt [Jrin-e] Sohn, du bist immer mit mir, und alle meine Dinge sind deine-ST (Lk (WSCp) 15.31) 7 hi ealle wyrdon swiöe dreorig-e und sie alle wurden sehr traurig-ST Durh godes gife ge sind gehealden-e durch Gottes Gabe ihr seid gehalten-ST

(Gen (Ker) 44.13) (jEC Horn 1,7 114.10)

Possessivpronomina in anderen germanischen Sprachen

191

Wenn Possessivpronomina im Ae. gemeinsam mit anderen Adjektiven auftreten, gehen sie diesen im Allgemeinen voran, vgl. (88a). Es lassen sich aber auch Nominalphrasen belegen, in denen ein Possessivpronomen dem Adjektiv folgt (88b). (88) a. b.

7 laeda|) [eowerne gyngstan broöor] to me und führt euren jüngsten Bruder zu mir (Gen 42.34) |>a se abbod of inneweardre his heortan besceawode his agene reönysse 'als der Abt aus seinem innerstem Herzen seine eigene Unbarmherzigkeit betrachtete' (GD 1(H) 2.21.21)

Und wie sieht das Zusammenspiel von starker und schwacher Adjektivflexion und Possessivpronomen im Altenglischen aus? Wie im Ahd. korreliert das Auftreten von schwacher und starker Adjektivflexion mit der (In-)Definitheit des jeweiligen Artikelworts. Das sei an Beispielen mit dem einfachen Demonstrativpronomen se 'der' in (89a) und dem Indefinitpronomen sum 'irgendein' in (89b) demonstriert, die im ersten Fall die schwache, ansonsten aber die starke Adjektivflexion aufweisen, auch wenn das Indefinitpronomen selbst flektiert ist wie in (89b). (89) a. b.

[on Jione gren-an weald] in den grünen-WK Wald [sumne adlig-ne mannan] irgendeinen adligen-ST Mann

(Gen 840) (jECHom 11,39.1 295.243)

Nach dem Possessivpronomen erscheint in der Mehrzahl der Fälle die schwache Adjektivflexion (90a), aber auch die starke Adjektivflexion ist im Ae. belegt (90b). Während also Artikelwörter wie im Ahd. die Adjektivflexion steuern, kann das für die Possessivpronomina nur bedingt behauptet werden. Auch in dieser Hinsicht verhält sich das Ae. also wie das Ahd. (90) a. b.

Forhwan forwymdest |)u me [bass min-es agen-an yrfes] warum verwehrst du mir dieses mein eigenes-WK Erbe (HomS 3 75) [[min-es agen-es lifes] and [mines folces feores]] meines eigenen-ST Lebens und meines Volkes Seele (/Elf Horn Μ 14 251)

Aus Daten wie unter (83) bis (90) kann für das Possessivpronomen des Ae. der Schluss gezogen werden, dass hier wie auch im Ahd. ein adjektivisches Possessivpronomen vorliegt. Obwohl die unflektierten

Possessivpronomina

192

Formen deutliche Indizien für die pronominale Natur des possessiven Elements sind, kommt eine Analyse als genitivisches Pronomen nicht in Betracht: An die Stelle der als Possessivpronomina verwendeten Genitivformen des Personalpronomens treten Mosse (1969:81) zufolge bereits im Frühmittelenglischen Präpositionalphrasen aus of + dem Personalpronomen in einer obliquen Kasusform. (91)

[the love of hire] ne leste]) nowyht longe die Liebe von ihr währt nicht lange (Harley Lyr. xxxii 5; aus Mustanoja 1960:158)

Für das Possessivpronomen des Mittelenglischen (Me.) dagegen lassen sich ebenso wie für das Ae. die adjektivtypischen Eigenschaften des Possessivpronomens nachweisen. So kookkurieren auch die Possessivpronomina des Me. mit dem bestimmten Artikel (92a) und können dem Kopfnomen folgen (92b): (92) a. b.

Lauerd, I mustird [|>e myne dedis] Herr, ich zeigte die meinen Taten (BenRule 13.32) I sette |5ee [at tabel myne] For reuerence [of lorde fryne] ich setze sie an meine Tafel aus Ehrfurcht vor deinem Herrn (KAlex. 4193)

Was die flexionsmorphologischen Eigenschaften der Possessivpronomen angeht, so sind die Formen der 3. Person Singular und Plural wie schon im Ae. unflektiert. Anders als für das deutsche ihr (3. Person Singular Femininum und 3. Person Plural) wird im Englischen die Flexion dieser Formen nicht eingeführt, eine Entwicklung, die sicherlich mit dem allgemeinen Abbau der Flexionsmorphologie im englischen Adjektivparadigma zusammenhängt. Von diesem Abbau sind auch die flektierten Formen der ersten und zweiten Person des Possessivpronomens betroffen. Nur noch im frühen Me. lassen sich einige Flexionssuffixe der starken Adjektivflexion belegen, wie das -es-Suffix für den Genitiv Singular des Maskulinums und Neutrums, das -reSuffix für den Genitiv und Dativ Singular der femininen Form23 und das -ne-Suffix für den Akkusativ Singular des Maskulinums. Das gilt in 23

Auch das ra-Suffix zur Genitivmarkierung im Plural des Ae. ist im Me. zu -re abgeschwächt.

Possessivpronomina in anderen germanischen Sprachen

193

erster Linie für Texte aus dem Süden, während laut Fichte & Kemmler (1994:64) in den nördlichen und östlichen Dialekten Genus und Kasus als grammatische Kategorien bereits vollständig aufgegeben sind, und allein die Numerusunterscheidung zwischen - 0 im Singular und -e im Plural zu beobachten ist. Im späten Me. ist auch diese Numerusdistinktion verschwunden. Über diese Abbauvorgänge in der Flexionsmorphologie hinaus lässt sich im Me. beobachten, dass das -n im Auslaut von min und pin unter der Bedingung wegfallen kann, dass das folgende Kopfnomen mit einem Konsonanten (außer /h/) beginnt. Die Distribution der Allomorphe mi vs. min und pi vs. pin ist also phonetisch bedingt (s. dazu Jespersen 1961:399). Die folgenden Beispiele aus einem Text vom Ende des 14. Jh.s dienen der Illustration der unterschiedlichen Kontexte: (93) a.

b.

The centre ...hath but 24 holes, as [in myn instrument] das Zentrum (...) hat nur 24 Löcher, wie in meinem Instrument (Equato 36.215) the middel [of my thred] karf the meridional lyne the Mitte meines Fadens schneidet den Meridian (Equato 44.306)

Es ist plausibel anzunehmen, dass diese flexionsmorphologischen Veränderungen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es auch in der englischen Sprachgeschichte zu einer Spaltung im Flexionsparadigma der Possessivpronomina und damit zur formalen Differenzierung von Possessivpronomen und Possessivartikel kommt, wie wir das bereits in der deutschen Sprachgeschichte beobachtet haben. So lassen sich für die Possessivpronomina auf -r(e) seit dem 14. Jh. zunehmend besondere Pronominalformen auf -res belegen: Die pronominalen Formen hires, heres (3. Person Femininum), oures (1. Person Plural), youres (2. Person Plural), sowie heres, peires und patres (3. Person Plural) setzen sich gegenüber den adnominalen Formen deutlich ab: (94) a. b.

my gold is youre-s mein Gold ist deines it schal ben hire-s 'es soll ihres sein'

(Ch. CT Β Sh 1474) (Gower CA ν 4770)

Possessivpronomina

194

Nur das Possessivpronomen für die dritte Person Singular Maskulinum (his) lautet in beiden Umgebungen gleich, wie in den folgenden Paradigmen des heutigen Englisch zu sehen: Tabelle 30: Possessivartikel und Possessivpronomen im heutigen Englisch Possessiv artikel

Possessiv pronomen

Singular

Plural

Singular

Plural

1. Person

my

our

mine

ours

2. Person

your

your

yours

yours

3. Person

his/her/its

their

his/hers

theirs

Possessivpronomen und Possessivartikel unterscheiden sich wie im Deutschen durch ihre Distribution: So ist der Possessivartikel auf die adnominale Position beschränkt, während das Possessivpronomen Funktionen im Satz allein übernehmen kann. Das Possessivpronomen findet sich als Prädikativum, wie in (95) a. This is my book. b. This is mine. c. *This is my.

Des Weiteren kann das Possessivpronomen mine als Subjekt oder Objekt fungieren, wobei rechte Erweiterungen auftreten können, wie (96) das zeigt: (96) a. b.

Their latest movie was disappointing. [Ours that will start tomorrow] is going to be a great success, May I borrow your pencil, I lost [mine].

Fassen wir die Entwicklung des Possessivpronomens im Englischen zusammen (vgl. auch Tabelle 31), so zeigen sich Veränderungen im Flexionsparadigma, in der Verwendung, dem Stellungsverhalten und den Kookkurrenzeigenschaften der adnominal verwendbaren Possessivpronomina. Die Steuerung der Adjektivflexion ist im Englischen anders als im Deutschen nicht unter die diagnostischen Kriterien für die Festlegung der lexikalischen Kategorie von Possessivpronomina zu

Possessivpronomina in anderen germanischen Sprachen

195

rechnen. Dagegen spielt in der Geschichte des englischen Possessivpronomens die Stellungsfestigkeit im gegenwärtigen Englischen gegenüber der variablen Stellung in früheren Perioden der englischen Sprachgeschichte eine Rolle fur die Etablierung eines Possessivartikels; das gilt ebenfalls für die im heutigen Englisch nicht mehr mögliche Kookkurrenz von Possessivpronomen und Artikelwörtern. Zusammengenommen sprechen diese morphosyntaktischen Veränderungen dafür, auch für das englische Possessivpronomen die Reanalyse eines possessiven Adjektivs zum Possessivartikel anzunehmen. Tabelle 31: Eigenschaften des englischen Possessivpronomens - diachron Altenglisch

Mittelenglisch

heutiges Englisch

Flexionsparadigma

stark flektiert

stark flektiert

unflektiert

Verwendung

adnominal, prädikativ

adnominal, prädikativ

adnominal

Adjektiv > Poss

ja

ja

nein

Nomen > Poss

ja

ja

nein

Steuerung der Adjektivflexion

nein

nein

nein

Kookkurrenz mit Artikelwörtern [+def]

ja

ja

nein

Kookkurrenz mit Artikelwörtern [-def]

ja

ja

nein

Eine Analyse des Possessivartikels im gegenwärtigen Englischen, die allein auf dessen synchronen Kokkurrenzeigenschaften gründet (vgl. Haspelmath 1999), erklärt das Fehlen von Artikelwörtern in englischen Possessivkonstruktionen damit, dass pränominale possessive Elemente die fragliche NP bereits als definit markieren, so dass aus ökonomischen Gründen der definite Artikel nicht realisiert werden braucht. Solche Ansätze liefern keine Erklärung für die anderen Veränderungen, die sich auch in Verbindung mit dem Possessivpronomen des Englischen beobachten lassen, wie die Konsolidierung einer phrasen-

Possessivpronomina

196

initialen Position und die Entstehung einer eigenen Form für den pronominalen Gebrauch des Possessivpronomens. Im Deutschen hat die auch vom Possessivpronomen übernommene Steuerung der Adjektivflexion ein weiteres Argument für die Reanalyse des Possessivpronomens geliefert, das im Englischen aufgrund des Abbaus der Flexionsmorphologie im Adjektivbereich leider nicht zu verwenden ist. Eine weitere Erklärung für das Fehlen von Artikelwörtern vor dem Possessivpronomen im modernen Englischen wäre eine Beschränkung im Gebrauch des bestimmten Artikels auf die pragmatischen Definita. Doch wie Löbner (1985) am Beispiel des Englischen vorgeführt hat, unterscheidet auch die englische Sprache zwischen semantischen und pragmatischen Definita. Beispiele für semantische Definita aus Löbner sind in (97) gegeben. (97) a. b. c. d.

the air the prime minister the most successful president of the association He was the son of a poor farmer

Wie in Kapitel 2 am Beispiel des Deutschen ausführlich diskutiert, handelt es sich bei (97a) um ein einstelliges, bei (97b) um ein zweistelliges funktionales Konzept. Auch in (97c) liegt ein zweistelliges funktionales Konzept vor, das der Form nach im Unterschied zu (97b) komplex ist. In (97d) handelt es sich um einen Fall indirekter Referenz. In den genannten Kontexten fehlt jedoch im Ae. der bestimmte Artikel, wie die Belege eines einfachen und eines komplexen zweistelligen funktionalen Konzepts unter (98) stellvertretend zeigen sollen: (98) a.

b.

On J>am flotan waeron J)afyrmestanheafod-men, Hinguar and Hubba, 'in dieser Flotte waren die führenden Befehlshaber, Hinguar und Hubba, geanlaehte Jjurh deofol vereint durch den Teufel' (JELS (Edmund) 29) se waes Jjara cempena ieldest 'der war von denen der älteste Krieger' (Or 4 9.101.24)

Auch im Englischen beobachten wir also eine Ausweitung im Gebrauch des bestimmten Artikels und demzufolge auch eine Reinterpretation der Relation zwischen dem Artikelwort und dem Nomen. Ich

Possessivpronomina in anderen germanischen Sprachen

197

möchte die Entstehung des Possessivartikels im Englischen deshalb wie bereits im Deutschen mit der Veränderung dieser Relation in Zusammenhang bringen. Im Verlauf des Mittelenglischen wird in einem solchen Szenario also nicht nur die Relation zwischen dem Artikelwort und N' als eine morphologisch begründete Relation reinterpretiert, sondern auch das Possessivpronomen ist Teil dieser Reinterpretation. Die Voraussetzungen für die Reanalyse des Possessivpronomens als Artikelwort sind weitgehend die gleichen wie im Deutschen: (i) In der Mehrzahl der Fälle geht das Possessivpronomen dem Kopfnomen sowie anderen Adjektiven voran, und (ii) repräsentiert das Possessivpronomen selbst ein funktionales Konzept, das wiederum als Argument zweistelliger funktionaler Konzepte erscheint. Aus diesem Grund wird das Possessivpronomen im Zuge der Reinterpretation der Relation zwischen Artikelwort und Nominalphrase selbst als ein Artikelwort behandelt. Analog zum Deutschen erfasst eine merkmalsbasierte Analyse des Possessivartikels dessen konstituierende pronominale und artikelwortartige Eigenschaften in angemessener Weise, vgl. (75). Weitere Unterstützung für diese Interpretation der Genese des Possessivpronomens in der englischen Sprachgeschichte, liefert die Beobachtung, dass der Possessivartikel im modernen Englischen immer definit zu verstehen ist, während das Possessivpronomen auch indefinit verstanden werden kann. (99) a. b.

her sister a sister of hers

Während (99a) nur so verstanden werden kann, dass die genannte Schwester in dem geführten Diskurs eindeutig identifiziert werden kann, weil die Beziehung zwischen einer weiblichen Person und deren Schwester in einer gegebenen Situation eindeutig hergestellt werden kann, ist die Schwester, um die es in (99b) geht, nicht eindeutig identizierbar. Schwester repräsentiert ein relationales Konzept, das typischerweise eine Relation zwischen mehreren Objekten etabliert. Eindeutigkeit der Referenz ist nicht gegeben. Noch im Ae. braucht auch die Konstruktion aus adnominalem Possessivpronomen + Nomen den

198

Possessivpronomina

Referenten nicht eindeutig zu identifizieren. Dabei handelt es sich um nominale Konstruktionen, in denen neben dem Possessivpronomen ein stark flektiertes Adjektiv auftritt, vgl. (90b).

3.7.2 Possessivpronomina in den skandinavischen Sprachen Wie sieht die Situation nun in den skandinavischen Sprachen aus, die sich durch ihr Artikelsystem vom Deutschen und Englischen formal dadurch unterscheiden, dass sie nicht nur über einen freien definiten Artikel, sondern auch über ein Definitheitssuffix verfugen? Beginnen wir mit dem Isländischen. In dieser Sprache erscheint das Possessivpronomen im Allgemeinen postnominal, nur bei kontrastiver Betonung kann es auch pränominal stehen: (100) a. b.

Fyrirlestur minn Vorlesung mein MINN fyrirlestur meine (und nicht seine) Vorlesung

(Isländisch)

Wie im Deutschen und Englischen ist das Possessivpronomen aus den genitivischen Formen des Personal- und Reflexivpronomens entstanden (minn 'mein\pinn 'dein' und 'euer', sinn 'sein', vor 'unser') und kongruiert mit dem Kopfnomen in Genus, Numerus und Kasus. (101) zeigt eine typische Possessivkonstruktion des Isländischen. (101)

hann tok hatt-inn sinn er nahm Hut-DEF seinen

(Isländisch)

Das Possessivpronomen erscheint im Isländischen nie in Verbindung mit dem freien definiten Artikel. Wie das Beispiel in (101) zeigt, tritt es jedoch gemeinsam mit dem Definitheitssuffix auf. Aus diesen Daten zieht Sigurösson (1993) den Schluss, dass das Possessivpronomen im Isländischen postnominal generiert wird und nur dann pränominal erscheint, wenn die Position des funktionalen Kopfes nicht anders lexikalisiert ist. Seiner Ansicht nach werden sowohl Artikelwörter als auch die pränominalen Possessivpronomen in der Position des funktionalen Kopfes D° generiert. Ich möchte dagegen argumentieren, dass Possessivpronomina im Isländischen possessive Adjektive sind. Dafür spricht

Possessivpronomina in anderen germanischen Sprachen

199

zum ersten die Distribution von freiem definitem Artikel und dem Definitheitssuffix in Abhängigkeit vom Possessivpronomen: In Kapitel 2 ist das Isländische als eine Sprache typisiert worden, die in Bezug auf das Auftreten des freien Artikels einen Zustand widerspiegelt, der ahd. Verhältnissen entspricht, d.h. definite Nominalphrasen mit einem adjektivischen Modifikator können allein mittels der Adjektivflexion diese Definitheit anzeigen; und nur ein schwach flektiertes Adjektiv in der Nominalphrase lizensiert das Auftreten des ungebundenen bestimmten Artikels. In Possessivkonstruktionen tritt dieser Artikel nicht auf, weil Possessivpronomina immer stark flektiert werden. Und das Definitheitssuffix ist auf solche possessiven Konstruktionen beschränkt, in denen das Kopfnomen ein sortales Konzept repräsentiert. Wenn das Nomen relational oder funktional interpretiert wird, wie im Fall von Bruder oder Ansicht, fehlt dieses Suffix. Die Daten sind Sigurösson (1993) entnommen. (102) a. b. c.

penn-inn minn Füller-DEF mein b r ö ö i r - 0 minn Bruder mein s k o ö u n - 0 min Ansicht meine

Ich interpretiere die Daten in (102) so, dass ein Possessivpronomen allein die Nominalphrase nicht als definit auszeichnen kann. Während (102b) und (102c) aufgrund der Bedeutung des Kopfnomens funktionale Konzepte repräsentieren, muss in (102a) das Definitheitssuffix auftreten, um den eindeutigen Bezug auf den Referenten zu gewährleisten. Darin unterscheidet sich das Isländische deutlich von einer Sprache wie dem heutigen Deutschen, wo die Relation zwischen Kopfnomen und Possessivpronomen immer definit (also eindeutig) interpretiert wird. Dagegen teilt das Possessivpronomen im Isländischen mit dem entsprechenden Pronomen des Ahd. die Eigenschaft, dass es auch in indefinit interpretierten Nominalphrasen auftreten kann. Für die mögliche indefinite Interpretation des Possessivpronomens im Isländi-

Possessivpronomina

200

sehen sprechen meines Erachtens auch Daten wie die folgenden, die Einarsson (1945:117) entnommen sind: (103) a. b.

brefiö er fra minum gaml-a, goö-a vini, Sveinbimi (Isländisch) der Brief ist von meinem alten-WK guten-WK Freund Sveinbirni brefiö er fra goö-um, göml-um vini minum, Sveinbirni der Brief ist von einem guten-ST alten-ST Freund von mir, Sveinbirni

Wie die Beispiele zeigen, werden die Adjektive schwach flektiert, wenn die Relation definit interpretiert wird, vgl. (103a). Sie flektieren dagegen stark im Fall einer nicht-eindeutigen Beziehung zwischen Kopfnomen und Possessivpronomen (103b). Gegen eine Analyse des Possessivpronomens als Artikelwort ist nicht nur sein Auftreten in defmiten und indefiniten Kontexten anzuführen, sondern auch seine postnominale Position. Artikelwörter erscheinen im Isländischen aber pränominal. Offensichtlich ist das Possessivpronomen des Isländischen also nicht wie zum Beispiel im Deutschen oder Englischen im Verlauf der Sprachgeschichte reanalysiert worden, sondern possessives Adjektiv geblieben. Dieser Befund steht in Einklang mit dem auch in anderen Kontexten beobachteten konservativen Verhalten des Isländischen im Vergleich zu anderen germanischen Sprachen. Anders scheinen die Verhältnisse in den festlandskandinavischen Sprachen zu liegen. So tritt das Possessivpronomen im Schwedischen in pränominaler Position auf;" außerdem liegt weder Kookkurenz mit dem freien bestimmten Artikel noch mit dem Definitheitssuffix vor. Wie im Isländischen auch stehen neben den in Bezug auf Genus und Numerus flektierenden Formen min 'mein', din 'dein', sin 'sein' und 'ihr', vor 'unser', er 'euer' die undeklinierbaren Formen hans 'sein', hennes 'ihr', dess 'sein' und deras 'ihre'. Einschlägige Beispiele sind in (104) gegeben. (104) a.

24

Dina katter är gamla deine Katzen sind alt

Vgl. S. 171 für den Befund im Norwegischen.

(Schwedisch)

Possessivpronomina in anderen germanischen Sprachen

b.

201

Värt hus är stört unser Haus ist alt

Adjektivische Attribute werden nach dem Possessivpronomen immer schwach flektiert. (105) a. b.

min röd-a bil mein rotes-WK Auto ditt gaml-a hus dein altes-WK Haus

(Schwedisch)

Dass eine Nominalphrase aus Possessivpronomen und Nomen im Schwedischen anders als im Isländischen nicht indefinit interpretiert werden kann, lässt sich durch folgende Beobachtung unterstützen: Wie das Deutsche muss auch das Schwedische ein nachgestelltes Personalpronomen verwenden, wenn die Nominalphrase indefinit bleibt. Wie (106a) zeigt, verhalten sich das Schwedische und Deutsche in dieser Beziehung anders als das Englische, vgl. (106b), das hier ein nachgestelltes Possessivpronomen verwenden kann. (106) a. b.

Jag har träffat en släkting till dig ich habe getroffen einen Verwandten von dir I have met a relative of yours.

(Schwedisch)

Ebenso wie im Deutschen und Englischen ist folglich anzunehmen, dass auch in den festlandsskandinavischen Sprachen eher ein Possessivartikel als ein possessives Adjektiv vorliegt. Auch wenn das Schwedische ebenso wie das Isländische zwischen dem Possessivpronomen im eigentlichen Sinne und dem Possessivartikel/possessiven Adjektiv formal nicht unterscheidet.

3.8 Zusammenfassung Die abhängigen Possessivpronomina des Ahd. zeichnen sich durch ihre Nähe zu den genitivischen Formen der Personal- und Reflexivpronomina aus, aus denen sie hervorgehen. Flexionsmorphologische und syntaktische Eigenschaften der Possessivpronomina sprechen dafür, sie im Mhd. den Adjektiven zuzuordnen. Dass diese possessiven Adjektive

202

Possessivpronomina

im Verlauf des Frnhd. als Possessivartikel reanalysiert werden, steht in offensichtlichem Zusammenhang mit diachronischen Veränderungen, die wir in Bezug auf die Nominalphrase beobachten können, und die sich auf die Relation zwischen Artikelwort und dem spezifizierten Nomen beziehen. Die Reinterpretation dieser Beziehung resultiert nicht nur in der morphologischen Steuerung der Adjektivflexion, an der neben anderem Artikelwörtern auch die Possessivartikel teilhaben, sowie der Ausbreitung des definiten Artikels auf funktionale Konzepte, sondern auch in der Umkategorisierung des possessiven Adjektivs zum Possessivartikel. Der Zeitpunkt dieser Umkategorisierung lässt sich in etwa auf das 14. Jh. festlegen, als sich das unabhängige Possessivpronomen formal vom Possessivartikel zu lösen beginnt. Diese Genese des abhängigen Possessivpronomens lässt sich vom Deutschen auf das Possessivpronomen des Englischen übertragen, wenn sich dieser Wandel im Englischen aufgrund des völligen Abbaus der Adjektivmorphologie auch weniger deutlich in den morphosyntaktischen Eigenschaften des Possessivartikels niederschlägt als im Deutschen. Dieses Kapitel geht über bisherige Vorschläge zur Analyse des Possessivpronomens nicht allein dadurch hinaus, dass es durch seine Einbeziehung historischer Daten eine neue Perspektive auf kontrovers diskutierte Daten einnehmen kann, sondern auch dadurch, dass die Diskussion nicht auf die Kookkurrenzeigenschaften von Possessivpronomen beschränkt bleibt. Es ist ein Ergebnis dieses Kapitels, gezeigt zu haben, dass das Fehlen eines Artikelworts in Possessivkonstruktionen auf zweierlei Ursachen zurückzuführen ist, ein Umstand, den Analysen, die sich üblicherweise auf die Kookkurenzeigenschaften von Possessivpronomina beschränken, nicht erfassen können: So müssen wir unterscheiden zwischen Possessivkonstruktionen, deren Possessivpronomen als Possessivartikel reanalysiert worden ist (wie im Deutschen und Englischen), und Possessivkonstruktionen, die ohne definiten Artikel bleiben, weil der Gebrauch dieses Artikels auf pragmatische Definita beschränkt ist, wie etwa im Italienischen oder im Schwedischen (d.h. der freie Artikel).

Zusammenfassung

203

Es sind die besagten Kookkurrenzeigenschaften der abhängigen Possessivpronomina im Deutschen, die Plank (1992) dazu veranlassen, die Möglichkeit einer eindeutigen kategorialen Zuordnung von Possessivpronomina zu verneinen. Ausgangspunkt seiner Analyse ist die Beobachtung, dass abhängige Possessivpronomina im Gegenwartsdeutschen einerseits nicht mit dem definiten oder indefiniten Artikel, andererseits aber mit dem Demonstrativpronomen kookkurieren, wie in (107) zu sehen. (107) a. b.

dieses unser Land diese unsere Heimat

Im Unterschied zu anderen Adjektiven aber flektieren die Possessivpronomina in (107) nicht wie Adjektive nach dem schwachen, sondern nach dem starken Flexionstyp. Plank zeigt, dass dieser Unterschied zu anderen Adjektiven im Dativ Singular jedoch nicht besteht: Hier sind neben den stark auch die schwach flektierten Formen möglich: (108) a. b.

in diesem unserem Land in diesem unseren Land

Diese Alternation besteht auch für den Genitiv Singular und Plural sowie den Nominativ und Akkusativ Plural. Bei einer von Plank durchgeführten Informantenbefragung werden die stark flektierten Formen eher akzeptiert als die schwach flektierten Formen. Diese Akzeptanz erhöht sich, wenn dem schwach flektierten Possessivpronomen ein Adjektiv folgt, vgl. (109). Und das schließt auch die Formen des Nominativ Singular mit ein (110), wo die schwache Flexion des Possessivpronomens ohne nachfolgendes Adjektiv ausgeschlossen ist (110a). (109) a. b.

in diesem unserem schönen Land in diesem unseren schönen Land

(110) a. *dieses unsere Land b. dieses unser schönes Land c. dieses unsere schöne Land

Aus diesen distributioneilen und flexionsmorphologischen Fakten folgert Plank, dass Possessivpronomina sowohl die Funktion von Artikelwörtern als auch die Funktion von Modifikatoren haben können. Und

204

Possessivpronomina

weiter, dass die Unterscheidung zwischen Determinatoren und Modifikatoren keine Unterscheidung ist, die kategorial zu leisten ist. Artikelhaftigkeit und Modifikatorenhaftigkeit kommen Artikelwörtern, Demonstrativ- und Possessivpronomina auf einer Skala in unterschiedlichem Maße zu. Die einzige alternative Beschreibung dieser Fakten sieht Plank in der Variabilität des abhängigen Possessivpronomens im Hinblick auf seine Wortartzugehörigkeit, wobei eine zusätzliche Bedingung die möglichen Artikelwörter bei adjektivischem Possessivpronomen auf das Demonstrativpronomen einzuschränken hat. Vor dem Hintergrund der in diesem Kapitel eingeführten historischen Daten sowie einer Diskussion des semantischen Beitrags von abhängigen Possessivpronomina zu der Bedeutung der Nominalphrase findet sich meines Erachtens eine Erklärung der von Plank angeführten Daten, die erstens diesen Daten eher gerecht wird, und zweitens eine Aufhebung der Distinktion zwischen Determinator- und Modifikatorfunktionen nicht nur als unnötig ausweist, sondern darüber hinaus deutlich zeigt, dass wir auf diese Distinktion bei der Beschreibung der synchronen und diachronen Daten nicht verzichten können. Im Ahd. und Mhd. ist die Kookkurrenz von Artikelwörtern und Possessivpronomina eine Option, die nicht wie im Gegenwartsdeutschen auf bestimmte Artikelwörter, bestimmte Kasus oder das Auftreten von Adjektiven beschränkt ist, vgl. Abschnitt 3.2. In dieser Phase seiner Geschichte ist das Possessivpronomen ein possessives Adjektiv, das sich auch in Bezug auf andere Eigenschaften wie ein Adjektiv verhält. Im Gegenwartsdeutschen ist das gemeinsame Auftreten von Demonstrativund Possessivpronomen in einer Nominalphrase jedoch eine markierte Option, vgl. die Diskussion in Abschnitt 3.4.2. Das zeigt sich erstens in der Einschränkung auf das Demonstrativpronomen. Das Possessivpronomen repräsentiert in solchen Konstruktionen nämlich nicht gemeinsam mit dem Kopfnomen ein funktionales Konzept, sondern das Demonstrativpronomen zeigt an, dass Possessivpronomen + Nomen sortal zu interpretieren sind. Zur Erinnerung: Demonstrativpronomen verlangen sortale Konzepte, weil sie zwischen Entitäten derselben Art aus-

Zusammenfassung

205

wählen. Mit funktionalen Konzepten sind sie nicht verträglich. Diese indefinite Interpretation verlieren Possessivpronomina aber mit ihrer Reanalyse. Nach der Reanalyse wird das abhängige Possessivpronomen definit interpretiert; mit dem bestimmten Artikel teilt es die Eigenschaft, sich ebenfalls mit funktionalen Konzepten zu verbinden. Gegen Plank spricht weiter die Beschränkung der schwachen Flexion von Possessivpronomina auf wenige Kasus bzw. die Abhängigkeit vom Auftreten adjektivischer Attribute. Nach Aussage seiner Informanten sind in allen Fällen die Possessivkonstruktionen mit starker Flexion der Possessivpronomina weit akzeptabler, als die vergleichbaren Konstruktionen mit einem schwach flektierten Possessivpronomen. Damit, denke ich, liegt der Fall klar. Possessivpronomina, die gemeinsam mit Demonstrativpronomina auftreten, weisen Eigenschaften auf, die sie mit Possessivpronomina des Mhd. gemeinsam haben. Mit dem Unterschied, dass im Mhd. die schwache Flexion ebenso wie die indefinite Interpretation von Possessivpronomina systematische Möglichkeiten ohne jede Einschränkung sind. Die gegenwartssprachlichen Daten in (107) bis (110) sind dagegen markierte Konstruktionen, die den alten Sprachzustand widerspiegeln. Solche Konstruktionen aber sind typischerweise Restformen von ursprünglich produktiven sprachlichen Mustern.

4 Attributive Genitivphrasen

"[Es ist ein Fehler], wenn man den Artikel oder ein anderes Bestimmungswort des bestimmten Substantivs durch den Genitiv von demselben trennt: dieser des Todes Gedanke; bey solcher der Sache Beschaffenheit; nach reifer der Sache Überlegung; Skizzen von dem Verfasser der Adolfs gesammelten Briefe. Was für einen Geschmack und was für ein Geflihl musste wohl der Mann haben, der 1780 noch so schreiben könnte!" (Adelung, Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache 1782)

Die bestehenden Parallelen zwischen Sätzen (CP, IP) und nominalen Konstruktionen sind für Abney (1987) und andere Anlass gewesen, die Menge der funktionalen Kategorien auf die funktionale Kategorie D auszudehnen (vgl. Kapitel 1). Haider (1987) und Olsen (1989) und in der Folge Bhatt (1990), Löbel (1990), Vater (1991) und Zimmermann (1991a) liefern Argumente für eine Übertragung der DP-Analyse auf das Gegenwartsdeutschen Die Implementierung des attributiven Genitivs in eine DP-Struktur bereitet jedoch bis heute Probleme: Pränominale Genitive weisen im Gegenwartsdeutschen syntaktische und semantische Eigenschaften auf, die sich von den entsprechenden Formen in anderen germanischen Sprachen unterscheiden. Darüber hinaus zeichnen sich die prä- und postnominalen Genitive des Deutschen ebenfalls durch unterschiedliche morphosyntaktische und semantische Eigenschaften aus. Bisherige Analysen der DP-Struktur werden weder den Unterschieden zwischen den pränominalen Genitiven im Deutschen und Englischen noch denen zwischen prä- und postnominalen Genitiven gerecht, wenn sie davon ausgehen, dass der pränominale Genitiv im Deutschen wie im Englischen in der Spezifikatorposition der DP-Projektion steht, wie in (1) gezeigt. (1)

brDPg[D'D0NP]]

Attributive Genitivphrasen

207

Im folgenden werde ich diese weit verbreitete Annahme in Frage stellen und auf der Grundlage historischer Daten argumentieren, dass pränominale Genitive im Gegenwartsdeutschen keine maximalen Projektionen mehr sind, sich vielmehr wie andere Artikelwörter des Gegenwartsdeutschen auch verhalten. Ich schlage deshalb vor, die Relation zwischen einem pränominalen Genitiv und einem nominalen Kopf im Gegenwartsdeutschen als eine Spezifikator-Kopf-Beziehung zu interpretieren, vgl. (2). (2)

[np Ν8 N' ]

Die Diskussion der historischen Daten wird zeigen, dass die Struktur in (1) einem Stadium in der historischen Entwicklung des pränominalen Genitivs entspricht, in dem deutsche und englische pränominale Genitive tatsächlich ähnliche syntaktische und semantische Eigenschaften aufweisen. Während hinsichtlich des pränominalen Genitivs im Englischen keine weitere Reanalyse zu beobachten ist, wird der pränominale Genitiv des Deutschen als Artikelwort reinterpretiert. Die Diskussion der einschlägigen historischen Fakten wird die den Genitiv betreffenden Veränderungen in einen Zusammenhang mit dem bisherigen Befund stellen, d.h. diejenigen Veränderungen, die in Bezug auf die Relation von Artikelwort und Nomen sowie das Possessivpronomen beobachtet worden sind. Das Vorgehen in diesem Kapitel wird folgendermaßen sein: Im ersten Abschnitt präsentiere ich die Eigenschaften attributiver Genitive, um die genannten sprachinternen und sprachübergreifenden Unterschiede zwischen dem Deutschen und den anderen germanischen Sprachen deutlich machen zu können. Dieser Abschnitt umfasst außerdem einen Abriss gängiger Vorstellungen von der Analyse des attributiven Genitivs einschließlich der jeweiligen Probleme. Abschnitt 4.2 ist der Diskussion der historischen Daten gewidmet, genauer, dem Wandel in Bezug auf die Position des attributiven Genitivs relativ zum Kopfhomen (4.2.1) sowie den zunehmenden Beschränkungen hinsichtlich möglicher Erweiterungen pränominaler Genitivattribute und anderen

Attributive Genitivphrasen

208

diachronischen Veränderungen (4.2.2). In Abschnitt 0 wird eine Analyse des attributiven Genitivs vorgeschlagen, die mit den diachronen und synchronen Daten des Deutschen und anderen germanischen Sprachen verträglich ist. Gegenstand von Abschnitt 4.4 sind Distanzstellungen des attributiven Genitivs im Frnhd., aus denen sich der einschlägigen Literatur zufolge weiterer Aufschluss über eine angemessene strukturelle Beschreibung der Nominalphrase gewinnen lassen soll. Der Zusammenfassung in Abschnitt 4.6 geht schließlich in 4.5 eine Diskussion der Entstehung von Genitivkomposita in der deutschen Sprachgeschichte voraus, die weitere Evidenz fur die hier präsentierte Interpretation des historischen Befundes liefert.

4.1 Genitivattribute im heutigen Deutschen 4.1.1 Charakteristika Im Gegenwartsdeutschen kann eine genitivische Form einem Nomen vorausgehen, wie in (3) illustriert. (3)

a. b.

Lottas Vermutung Lottas Ernennung zur Professorin

Diese pränominalen Formen des sog. Sächsischen Genitivs befinden sich in komplementärer Verteilung mit Artikelwörtern. Wie (4) zeigt, ist das gleichzeitige Auftreten von pränominalem Genitiv und Artikelwort ungrammatisch, und die genitivische Form erscheint obligatorisch phraseninizial, wie der Grammatikalitätskontrast in (5a) und (5b) gegenüber (5c) anzeigt. Adjektivische Phrasen können zwischen Genitivformen und dem Kopfnomen intervenieren. (4)

a. Lottas Ausstellung b. die Ausstellung c. *Lottas die Aussstellung d. *die Lottas Ausstellung

Genitivattribute im heutigen Deutschen

(5)

209

a. Lottas letzte große Ausstellung b. deren neue sprachwissenschaftliche Bücher c. * letzte Lottas große Ausstellung

Wie Artikelwörter sind pränominale Genitive in Verbindung mit Individualnomina obligatorisch, niemals optional, wie in (6) zu sehen. (6)

a. Lottas Ausstellung war ein großer Erfolg b. * Ausstellung war ein großer Erfolg

Darüber hinaus teilen sich pränominale Genitive mit dem bestimmten Artikel und dem Possessivpronomen die Eigenschaft, die Definitheit der fraglichen NP anzuzeigen, wie in (7) illustriert, wo (7a) und nicht (7b) eine mögliche Interpretation für (7) darstellt. (7)

Lottas Ausstellung a. die Ausstellung von Lotta b. #eine Ausstellung von Lotta

Unterstützung für die gemeinsame semantische Funktion von bestimmtem Artikel und pränominalem Genitiv als Definitheitsindikator liefern die folgenden Extraktionsfakten, denn die Extraktion aus Nominalphrasen hängt von ihrer Spezifizität ab (vgl. Webelhuth 1992:170). Das wird in (8) am Beispiel von wA-Bewegung und in (9) am Beispiel von Scrambling dargestellt, wo der bestimmte Artikel und der pränominale Genitiv identische Grammatikalitätskontraste aufweisen. (8)

a. *[Von wem]j werden [die Bilder tj] veröffentlicht b. +[Von wem]j werden [Lottas Bilder tj] veröffentlicht c.

(9)

[Von wem]j werden [weniger Bilder tj] veröffentlicht

a. *Ich wünschte, dass [von Hans]; [die Bilder tj] veröffentlicht werden b. *Ich wünschte, dass [von Hans]j [Lottas Bilder tj] veröffentlicht werden c.

Ich wünschte, dass [von Hans]j [weniger Bilder tj] veröffentlicht werden

Das heutige Deutsche verhält sich in dieser Beziehung wie andere germanische Sprachen. So sind im Englischen wie im Deutschen die pränominalen Genitive komplementär zu den Artikelwörtern verteilt, vgl. (10).

210 (10)

Attributive Genitivphrasen

a. Lotta's exhibition b. *the Lotta's exhibition c. *Lotta's the exhibition

Entsprechend beobachten wir den Spezifizitätskontrast in Bezug auf die Extraktion aus Nominalphrasen im Englischen, exemplifiziert mittels wA-Bewegung in (11). (11)

a. *Whoj did you see [the picture of tj] b. *Who; did you see [John's picture of tj] c. Who, did you see [three pictures of tj]

Die pränominalen Genitive des Gegenwartsdeutschen unterscheiden sich von den englischen Konstruktionen jedoch in zweierlei Hinsicht: Erstens sind pränominale Genitive im Deutschen auf Eigennamen und eine geschlossene Klasse an Pronomen {deren, dessen) beschränkt, wie in (12) illustriert; Verwandtschaftsbezeichnungen können gleichfalls als Eigennamen fungieren (12b).1 (12)

a. b. c.

Lottas Ausstellung Großmutters Fahrrad deren Ausstellung

Individualnomen sind von dieser Position ausgeschlossen. Es existiert aber ein Grammatikalitätskontrast im Hinblick auf das Merkmal [±belebt]. Individualnomen mit dem Merkmal [+belebt] können pränominal erscheinen, obwohl diese Option deutlich markiert ist (13a), wogegen für Individualnomen mit dem Merkmal [-belebt] die pränominale Position ausgeschlossen ist, vgl. (13b). (13)

a. ?des Königs Krone b. *des Buches Eigentümer

Im Englischen können Individualnomen mit dem Merkmal [+belebt] dem Kopfhomen vorausgehen, ohne dass diese Stellung des nominalen Attributs markiert ist wie im Deutschen (14b). Individualnomen mit

Das gilt beispielsweise für Verwandtschaftsbezeichnungen wie Mutter, Vater, Großmutter und Großvater (einschließlich entsprechender Koseformen). Für andere Verwandtschaftsnamen ist die Verwendung als Eigennamen meines Erachtens nicht möglich, wie für Schwester, Tante, u.a.

Genitivattribute im heutigen Deutschen

211

dem Merkmal [-belebt] sind dagegen wie im Deutschen von der pränominalen Position ausgeschlossen (14c). (14)

a. Lotta's exhibition b. the women's dream c. *the table's legs

Zweitens gibt es im Deutschen eine wohlbekannte Restriktion, die besagt, dass pränominale Genitive postnominal nicht modifiziert werden können (vgl. Haider 1992, Vater 1986), wie in (15) dargestellt: (15)

a. *der Müllers aus der Theatergruppe Kinder b. *der Müllers, die seit gestern gegenüber wohnen, Kinder

Die Modifikation des pränominalen Genitivs resultiert in ungrammatischen Konstruktionen, unabhängig davon, ob es sich um eine Präpositionalphrase wie in (15a) oder einen Relativsatz wie in (15b) handelt. Diese Beschränkung hat nichts damit zu tun, dass pränominale Genitive Eigennamen sind, wie (16) zeigt, wo Eigennamen als postnominale Modifkatoren auftreten. Die postnominale Modifikation dieser Genitive ist grammatisch. (16)

a. b.

die Kinder der Müllers aus der Theatergruppe die Kinder der Müllers, die seit gestern gegenüber wohnen

Außerdem lassen sich für postnominale Genitivattribute keine semantischen Beschränkungen beobachten (17), sieht man von der Markiertheit von (17a) zunächst ab; (17)

a. ?die Ausstellung Lottas b. die Krone des Königs c. der Eigentümer des Buches

und Artikelwörter sowie postnominale Genitive sind nicht komplementär verteilt, vgl. (18). Gleichzeitig zeigt (18a) vs. (18b), dass Nominalphrasen mit einem postnominalen Genitiv auch indefinit sein können. (18) a. b. c.

der Eigentümer dieses Unternehmens ein Eigentümer dieses Unternehmens beide Eigentümer dieses Unternehmens

212

Attributive Genitivphrasen

Im Unterschied zum Deutschen ist die postnominale Modifikation von pränominalen Genitiven im Englischen und den skandinavischen Sprachen wohlgeformt, wie sich an Daten wie (19) für die Modifikation durch einen Relativsatz zeigen lässt. (19) a. b.

[The woman [I met yesterday]]'s sister Det er dem der ikke kom's egen skyld 'that is his who does not come own fault'

(Dänisch; Vater 1991)

Es ist darauf hinzuweisen, dass das .s-Suffix in dem englischen und dem dänischen Beispiel in (19) an das Ende des komplexen nominalen Attributs angehängt ist. Die systematischen Unterschiede in den Beispielen (3) bis (19) lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: • Pränominale Genitive gehorchen im Gegenwartsdeutschen einer semantischen Restriktion, insofern sie auf Eigennamen (einschließlich Verwandtschaftsbezeichnungen) und eine geschlossene Klasse von Pronomina {dessen, deren) beschränkt sind. Weder postnominal realisierte Genitivattribute im Deutschen noch pränominal realisierte Genitive im Englischen und anderen germanischen Sprachen weisen diese Restriktion auf. • Im Unterschied zum Englischen scheinen die deutschen pränominalen Genitive einer bislang unerklärten Adjazenzrestriktion hinsichtlich der Zuweisung von Genitivkasus unterworfen zu sein: Kein Modifikator des pränominalen Genitivs kann zwischen dem Genitiv und dem Kopfnomen intervenieren (vgl. Vater 1986; Haider 1992 ). Im folgenden Abschnitt werde ich einige Vorschläge zur Analyse des attributiven Genitivs im Rahmen der DP-Hypothese skizzieren mit speziellem Augenmerk darauf, wie sie die oben beschriebenen Unterschiede zwischen prä- und postnominalem Genitiv im Deutschen einerseits sowie die Unterschiede zwischen dem pränominalen Genitiv im Deutschen und anderen germanischen Sprachen erfassen.

Genitivattribute im heutigen Deutschen

213

4.1.2 Bestehende Ansätze In der Mehrzahl der Arbeiten zur DP-Struktur im Besonderen und den attributiven Genitiven im Allgemeinen, wird vorgeschlagen, den Genitiv in der Spezifikatorposition der DP anzusetzen, wie die Struktur in (20) nochmalig zeigt: (20)

[DPDPg[D.D°NP]]

Die bestehenden Ansätze unterscheiden sich hinsichtlich des Status, den sie dem pränominalen Genitiv einräumen: Während Haider (1988, 1992) und Olsen (1989, 1991) annehmen, dass der Genitiv in der Spezifikatorposition der Determinansphrase basisgeneriert wird, schlägt Bhatt (1990) vor, dass der pränominale Genitiv aus einer postnominalen Basisposition in die pränominale Position bewegt wird. Diese Annahme setzt voraus, dass prä- und postnominal realisierte Genitive nicht distinkt sind. Wie oben ausgeführt, bestehen jedoch fur pränominale Genitive eine Reihe von Beschränkungen, die keinerlei Bedeutung für die postnominal auftretenden attributiven Genitive haben. Aus diesem Grund muss jede Analyse scheitern, die von identischen Eigenschaften für beide Genitivpositionen ausgeht. Die bestehenden Analysen, die von einem in SpecDP basisgenerierten Genitiv ausgehen, können weiter differenziert werden im Hinblick darauf, wie sie die syntaktischen und semantischen Unterschiede sprachintern und sprachübergreifend in den germanischen Sprachen zu erfassen versuchen. Die Tatsache betonend, dass im Deutschen das sSuffix an einen lexikalischen Kopf tritt, wie das für Flexionssuffixe typisch ist, während sich das s-Suffix im Englischen vielmehr wie ein phrasales Affix verhält, sprechen sich Haider (1988) und Vater (1991) dafür aus, das s-Suffix im Deutschen als overte Genitivmorphologie zu analysieren, während es im Englischen und den anderen germanischen Sprachen den Status eines Possessivmarkers hat. Ihr Vorschlag lässt jedoch die offensichtlichen Unterschiede zwischen prä- und postnominalen Genitiven im Deutschen außer Acht. Eine andere Position vertritt Olsen (1989), insofern sie die Unterschiede zwischen prä- und postno-

214

Attributive Genitivphrasen

minalen Genitivformen im Deutschen unterstreicht und auf die gemeinsame semantische Funktion des pränominalen Genitivs im Deutschen und Englischen verweist. Deshalb unterscheidet ihre Analyse zwischen pränominalem possessiven und postnominalem Genitivkasus im Deutschen, wird aber den Unterschieden zwischen dem Deutschen und Englischen nicht gerecht. Von Zimmermann (1991b) wird schließlich angenommen, dass sich der pränominale Genitiv in der SpecNP-Position befindet.2 Ihre Repräsentation stellt sich dar wie in (21): (21)

[ D P SpecDP [ D · D° [ N P DPS [ N , N°]]]]

Im Rahmen von Zimmermanns (1991b) Analyse haben pränominale Genitive niemals eine dem bestimmten Artikel vergleichbare Funktion. Sie argumentiert auf der Grundlage von typologischen Daten gegen die Auffassung einer komplementären Verteilung von pränominalen Genitiven und Artikelwörtern im Deutschen und Englischen. Ihrer Ansicht nach werden attributive Genitive postnominal erzeugt und dann im Deutschen optional in die SpecNP-Position bewegt, motiviert durch ein Merkmal [+poss]. Im Deutschen wie im Englischen ist das phonetisch leere D° bereits im Lexikon durch das Merkmal [+poss] markiert, wogegen den overten Artikelwörtern dieses Merkmal fehlt, und diese deshalb die Bewegung eines postnominalen Genitivs nach SpecNP nicht lizensieren. Wie Bhatt kann Zimmermann jedoch die semantischen und syntaktischen Unterschiede zwischen prä- und postnominalen Genitiven im Deutschen nicht beschreiben. Zudem vernachlässigt ihre Analyse das unterschiedliche Verhalten der pränominalen Genitive im Deutschen und Englischen, indem sie einen gemeinsamen Mechanismus für die Bewegung der postnominalen Genitivphrase in die pränominale Position annimmt.

2

Laut Zimmermann (1991a) können nur Präpositionalphrasen aus von + NP in SpecDP erscheinen, wie das Beispiel Von Peter die Beschreibung der Stadt zeige. Meines Erachtens ist dieses Beispiel aber nicht wohlgeformt.

Genitivattribute im heutigen Deutschen

215

Eine synchron angemessene Analyse attributiver Genitive muss folglich zwischen drei unterschiedlichen Formen unterscheiden können: (i) dem pränominalen Genitiv des Deutschen, (ii) dem pränominalen Genitiv des Englischen und (iii) dem postnominalen Genitiv des Deutschen. Im nächsten Abschnitt werden die einschlägigen historischen Daten diskutiert.

4.2 Historischer Befund Diachronische Veränderungen im Zusammenhang mit der pränominalen Position von Genitivattributen sind in der historischen Sprachwissenschaft seit langem von besonderem Interesse. In der Literatur werden diese Veränderungen als Wortstellungswandel beschrieben, der sich in Abhängigkeit von den semantischen Eigenschaften der fraglichen Genitive vollzieht (Wagner 1905; Behaghel 1932; Carr 1933; Ebert 1986, 1988). Die Diskussion der historischen Fakten in diesem Kapitel wird zeigen, dass der diachrone Wandel in Bezug auf diese Position in der Nominalphrase des Deutschen nicht auf das Phänomen eines topologischen Wandels reduziert werden kann. 4.2.1 Die Geschichte des Genitivattributs - ein Stellungswandel? Noch im Frnhd. ist das Auftreten pränominaler Genitive nicht den semantischen Restriktionen unterworfen, die im Gegenwartsdeutschen zu beobachten sind. Eine Auswertung der im Hug Schapler (15. Jh.) auftretenden attributiven Genitive zeigt, dass nicht nur Eigennamen, sondern auch Individualnomina als Modifikatoren in der pränominalen Position auftreten. Die einschlägigen Daten sind unter (22) angeführt. (22) a. b. c.

des hertzogen von Burgundien diener der vinde vffsatz der sachen vrteiler

(HS 310.1) (HS 274.5) (HS 218.7)

Die Beispiele in (22) machen deutlich, dass keine semantischen Restriktionen das pränominale Erscheinen von Genitivattributen im

Attributive Genitivphrasen

216

Frnhd. steuern: Weder Individualnomen mit dem Merkmal [+belebt] noch Individualnomen mit dem Merkmal [-belebt] sind von der pränominalen Position ausgeschlossen.3 Stattdessen ist die pränominale Realisierung von Genitiven vollkommen produktiv; sogar partitive Genitive können ihrem Kopfnomen vorausgehen, vgl. (23). Wir werden in Abschnitt 4.4 auf diese partitiven Konstruktionen zu sprechen kommen, deren genauere Besprechung bis dahin zurückgestellt wird. (23) a. b.

der vinde etwa manchen durch der dieb einen

(HS 258.9) (HS 204.25)

Auch für attributive Genitive, die dem Kopfnomen folgen, bestehen offensichtlich keine semantischen Beschränkungen, wie die Belege in (24) nahe legen. (24) a. b. c.

zehilff der künigin (HS 258.14) das Hug vnser vindt in Burgundien kummen ist [mit lützel volcks] (HS 298.21) vnnd ryt hin [zu:o der porten des tempels] (HS 240.16)

Den Daten in (22) bis (24) zufolge scheint die Stellung des attributiven Genitivs in Bezug auf das zu modifizierende Kopfnomen im Frnhd. variabel zu sein. Der einschlägigen Literatur zufolge spiegeln die Daten in (22) und (23) jedoch ein Stadium in der Geschichte des Genitivs wider, das mit dem 15. Jh. zu Ende geht. Mit dem Beginn des 16. Jh.s sei das Auftreten eines unbelebten Individualnomens pränominal markiert, vgl. Beispiel (22c). Wie Carr (1933) zeigt, geht der attributive Genitiv im Ahd. dem Bezugsnomen unabhängig von der jeweiligen Semantik voraus. Er weist überzeugend nach, dass die wenigen postnominalen Genitive genau dann erscheinen, wenn es eine entsprechende Wortfolge in der lateinischen Vorlage gibt. Von dieser Generalisierung ausgenommen sind die partitiven Genitive, die laut Behaghel (1932) im Ahd. immer postnominal erscheinen. Ahd. Beispiele zur

3

Das führt dann auch zu Konstruktionen wie Das er die Cantzley [pp mit [lauter der Jesuiter Discipeln]] ersetzt (A 208.33), die im heutigen Deutschen ausgeschlossen sind.

Historischer Befund

217

Illustration der zu unterscheidenden Nomen sind in (25) gegeben; (25d) exemplifiziert einen nachgestellten partitiven Genitiv (Beispiele aus Carr 1933:467):" (25) a. b. c.

d.

thaz uuirdit ginemnit [gotes barn] 'man wird es (das Kind) Gottes Sohn nennen' fona dhes chrismen salbe von der Ölung Salbe fona paradises bliidhnissu von des Paradieses Freude 'von der Freude auf das Paradies' thü ni maht [ein här thes fahses] uuizaz gituon odo suarz 'du kannst kein einziges Haar weiß oder schwarz machen'

(T 3.7) (Is 3.2)

(Is 5.10) (T 30.4)

Erst zum Ende des Ahd. (mit Notker) lassen sich erste Veränderungen im Stellungsverhalten des attributiven Genitivs dokumentieren. Wie Carrs Auswertung (1933:473) verschiedener Notker-Texte zeigt, erscheinen unbelebte Individualnomen seit dem Ende des Ahd. zunehmend postnominal. Diese Entwicklung ist zu Beginn des eigentlichen Frnhd.5, also mit dem Ende des 15. Jh.s, abgeschlossen. Die pränominale Position bleibt Eigennamen und Individualnomen mit dem Merkmal [+belebt] vorbehalten. Ausgenommen von dieser Einschränkung sind stehende Verbindungen wie die von Ebert (1986:95) genannten des reichs sachen, des halßgerichts Ordnung, aus denen sich im Verlauf der frnhd. Sprachperiode die sog. Genitivkomposita entwickeln, auf die am Ende dieses Kapitels gesondert eingegangen werden soll (4.5). Beispiele wie (22c) und (23) sind demnach seit dem 16. Jh. markierte Einzelfälle. Die im ersten Drittel des 16. Jh.s bestehenden Stellungsvarianten hat Ebert (1988) auf der Grundlage eines Nürnberger Korpus ausgewertet. Seine Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle

4

5

Carr (1933) schließt sich Behaghel (1932) an, insofern er komplexe genitivische Attribute in seiner Statistik nicht berücksichtigt. Ich beziehe mich hier auf die von Schmidt (1984) vorgeschlagene Binnengliederung des Frnhd., i.e. (i) das ältere Frnhd. 1350 bis 1500 (ii) das eigentliche Frnhd. 1500 bis 1600 (iii) das jüngere Frnhd. 1600 bis 1650.

218

Attributive Genitivphrasen

zusammengefasst.6 Sie bestätigen im Wesentlichen die Befunde anderer Untersuchungen für diesen Zeitraum, wie Wagner (1905), Behaghel (1932) sowie Carr (1933) und lassen sich auch durch Belege wie in (26) illustrieren, in denen ein postnominaler Genitiv durch einen pränominalen Genitiv erweitert wird. Tabelle 32: Abfolge Genitivattribut - Nomen im 16. Jh. (1500-1540) Bedeutung des Genitivs

Genitiv < Kopfnomen

Kopfnomen < Genitiv

Eigenname/Titel

353 (93%)

27 (7%)

Individualnomen [+belebt]

155 (63%)

92 (37%)

Individualnomen [-belebt]

83 (13%)

569 (87%)

(26) a. b. c. d.

...waren bruoder [[der Preddeker] ordens] (P44) zehen stuck goldes[[ des selben landts] werung] (P44) auff so starckes anhalten/ [[des Churfilrsten [von Sachsen]] Abgesandten] (A 184.31) Tytel [[dises pu:ochleins] des ersten teyls] (Ehebüchlein 3.1)

Wie die Tabelle 32 zeigt, erscheinen im 16. Jh. belebte Individualnomen auch postnominal. Hier kündigt sich eine Entwicklung an, die der Literatur zufolge etwa 200 Jahre später abgeschlossen sein soll: die zunehmende Nachstellung belebter Individualnomina. Noch das 15. und 16. Jh. sind in dieser Hinsicht von großer Variation geprägt, was Carr (1933) durch die folgende Auswertung verschiedener Quellen unterstreicht. Die Zahlen zeigen an, wie hoch der Anteil belebter Individualnomina pränominal erscheindender Genitivattribute in den fraglichen Texten im Einzelnen ist:

6

Ebert untersucht die stilistische und soziale Variation dieses Wandels in Nürnberger Texten. Seine Tabelle differenziert aus diesem Grund entsprechende Textgruppierungen, die für unsere Fragestellung nicht weiter relevant sind. Nicht berücksichtigt werden stehende Verbindungen, wie Kirchennamen, Feiertage u. Ä.

Historischer Befund

219

Eyb

68%

Pontus und Sidonia

39%

Zwingli

68%

Trojas Zerstörung

32%

Murner

57%

Franck

30%

Faust

58%

Berthold

29%

Hutten

52%

Eulenspiegel

13%

Luther

40%

Hug Schapler

0%

Um 1700 sollen dann nach den unbelebten auch die belebten Individualnomina die Option verloren haben, vor dem Kopf der Nominalphrase zu stehen. Das bleibt im Gegenwartsdeutschen allein den Eigennamen vorbehalten. Die Nachstellung von Eigennamen im Frnhd. ist auf Nomina mit lateinischer Flexion beschränkt und daher in den einschlägigen Textsorten häufig belegt, wie die folgenden Beispiele aus Luthers Schrift An den Christlichen Adel deutscher Nation demonstrieren. (27)

das wort Pauli, das buch Machabeorum, im gesetz Mosi, der Spruch Salomonis

Die folgenden Tabellen illustrieren die Entwicklung im 17. Jh. auf der Grundlage von vier selbst ausgewerteten Zeitungsjahrgängen aus den Jahren 1609 und 1667.7 Tabelle 33: Die Abfolge Genitivattribut - Nomen (1609) Bedeutung des Genitivs

Genitiv < Kopfnomen

Kopfnomen < Genitiv

Eigenname/Titel

96 (91%)

10 (9%)

Individualnomen [+belebt]

76 (76%)

24 (24%)

Individualnomen [-belebt]

4 (5%)

126 (95%)

7

Das sind Aviso und Relation aus dem Jahr 1609 sowie Relation und Postzeitung aus dem Jahr 1667.

220

Attributive Genitivphrasen

Tabelle 34: Die Abfolge Genitivattribut - Nomen (1667) Bedeutung des Genitivs

Genitiv < Kopfnomen

Kopfnomen < Genitiv

Eigenname/Titel

50 (86%)

8 (14%)

Individualnomen [+belebt]

36 (30%)

82 (70%)

Individualnomen [-belebt]

2 (2%)

122 (98%)

Die skizzierten Veränderungen in der Stellung des attributiven Genitivs werden in der Literatur als ein zweistufiger Wandel in der Wortstellung interpretiert, der sich in Abhängigkeit von der Bedeutung des genitivischen Nomens vollzieht. Ebert (1988) wagt die Vorhersage einer weiteren Phase in dieser Entwicklung des Genitivs, deren Resultat die Nachstellung auch von Eigennamen und von als Eigennamen verwendeten Verwandtschaftsbezeichnungen sein soll. Noch im heutigen Deutschen beobachten wir jedoch, dass solche Eigennamen dem zu modifizierenden Nomen im Allgemeinen vorausgehen und sogar das pränominale Auftreten von belebten Individualnomen in markierten Fällen noch möglich ist. Problematisch ist bis heute die Erklärung dieses Wortstellungswandels in der Geschichte des Genitivs (vgl. Ebert 1986). Behaghel (1932:194) bezieht den fraglichen Stellungswandel auf das Gesetz der wachsenden Glieder und schreibt wie folgt: nichtpersönliche Substantive werden viel häufiger mit Bestimmungen, insbesondere mit adjektivischen, belastet als Personenbezeichnungen. Und unter diesen erfahren wieder persönliche Gattungsbezeichnungen leichter eine Ergänzung als die Personennamen. Ferner kann es kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Zahl solcher Ergänzungen in jüngeren Zeiten größer ist als in früheren Zeiten.

Die statistische Evidenz für eine Korrelation zwischen Länge und Position des genitivischen Attributs ist jedoch ausnehmend schwach: Nur Genitivphrasen mit mehr als einem Modifikator scheinen die postnominale Position zu bevorzugen (s. Ebert 1986). Weitere empirische Evidenz gegen diese Erklärung wird in den Abschnitten 4.2.2 und 4.4 angeführt.

Historischer Befund

221

Ein anderer Erklärungsvorschlag findet sich in Braunmüller (1982). Er schlägt vor, den Wortstellungswandel im Sinne einer typologischen Verschiebung zu interpretieren. Aufgrund dieser Verschiebung ändert sich die Rektionsrichtung von Nomina im Deutschen, so dass Nomen nicht länger nach links, sondern nach rechts regieren. Diese Erklärung ist jedoch ebenfalls mit verschiedenen Problemen behaftet: Die nähere Betrachtung anderer Wortstellungsveränderungen im Frnhd. zeigt, dass sich dort genau die umgekehrte Rektionsrichtung zu etablieren scheint (vgl. dazu auch Ebert 1986:97f.): Die Konsolidierung der Abfolge Komplement - Verb in eingebetteten Sätzen (OV/VO —> OV), die Konsolidierung der relativen Abfolge im Verbalkomplex in eingebetteten Sätzen C W V / V ^ —> V2V,), die Konsolidierung der Abfolge Adjektiv - Nomen in Nominalphrasen (AN/NA AN), die Entstehung von Postpositionen wie entgegen, entlang, gegenüber, gemäß, halber, wegen, zufolge, zuwider. Vor diesem Hintergrund kommt die vermutete Änderung in der Rektionsrichtung des Nomens vollkommen überraschend (NG/GN —• NG); die entsprechende Entwicklung im Lateinischen aber scheint sich tatsächlich im Rahmen einer typologischen Verschiebung erklären zu lassen (s. Bauer 1995:65). Eine dritte Hypothese vertritt Oubouzar (1992). Ihrer Ansicht nach hat das pränominale Genitivattribut im Ahd. eine artikelartige Funktion, die an der pränominalen Position der Genitivphrase abzulesen ist. Erst im Kontext der Ausweitung im Gebrauch des einfachen Demonstrativpronomens und seiner Entwicklung zum bestimmten Artikel verliere der Genitiv diese Funktion mit der Folge, dass das Genitivattribut seit der Etablierung des bestimmten Artikels gegen Ende des Ahd. nicht mehr voran-, sondern nachgestellt werde. Oubouzar unterscheidet in ihrer Untersuchung zur Ausbildung des bestimmten Artikels nicht die oben genannten Stadien in der Nachstellung des Genitivs. Für die Zeit, zu der ihrer Ansicht der definite Artikel im Deutschen ausgebildet ist, d.h. bei Notker, werden allein die unbelebten Individualnomen in großer Zahl nachgestellt. Eigennamen und belebte Individualnomen gehen gegen Ende des Ahd. dem Bezugsnomen voraus (s.

222

Attributive Genitivphrasen

oben). Gegen diese Hypothese spricht weiterhin, dass zwar die Kontexte, in denen der bestimmte Artikel erscheint, allmählich zunehmen, dass der bestimmte Artikel jedoch in diesen Kontexten nicht obligatorisch ist. Wie in Kapitel 2 argumentiert, ist die Entwicklung des Demonstrativpronomens zum bestimmten Artikel erst abgeschlossen, als die zunächst nur semantisch lizensierte Relation zwischen dem Artikelwort und N1 als eine auch morphologisch lizensierte Relation reinterpretiert wird. Und das lässt sich meines Erachtens an den Veränderungen, die hinsichtlich der Steuerung der Adjektivflexion zu belegen sind, vorzüglich ablesen. Es ist demnach Ebert (1986) zuzustimmen, dass Veränderungen in Bezug auf die Stellung des attributiven Genitivs bis heute keine überzeugende Erklärung gefunden haben. Dieser Stellungswandel ist schon allein deshalb von besonderem Interesse, weil hier offensichtlich gegen ein in der Literatur zur historischen Syntax wohl etabliertes Ordnungsprinzip verstoßen wird: Laut Fulda (1777-1778) geht das Bestimmende dem Bestimmten voraus, d.h. das Adjektiv dem Nomen, das Adverb dem Adjektiv und der Genitiv dem Nomen. Letzteres ist für die deutsche Sprache aber auf das Ahd. beschränkt. Dieses Prinzip ist seit Fulda in Arbeiten ganz unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung immer wieder neu ausbuchstabiert worden, wie von Wackernagel (1926), Behaghel (1932) sowie von Vennemann (1974), der ein Prinzip der natürlichen Serialisierung annimmt, das eine Kette von weiteren Wortstellungsveränderungen auslöst, wenn die Abfolge Operator Operand an einer Stelle im Sprachsystem verändert worden ist, bis wieder Konsistenz im Hinblick auf die jeweiligen Abfolgen hergestellt ist. Gerade dieser Zusammenhang lässt sich in Bezug auf die Nachstellung des Genitivs im Frnhd. jedoch nicht beobachten. Meines Erachtens scheitern die angesprochenen Erklärungsversuche, weil sie den Stellungswandel als ein isoliertes Sprachwandelphänomen in der deutschen Sprachgeschichte betrachten. Der beobachtete Wandel lässt sich meiner Ansicht nach erklären, sobald man ihn in den Zusammenhang der bereits untersuchten Veränderungen in der Struktur

Historischer Befund

223

der Nominalphrase stellt. Bevor jedoch eine Einordnung in diesem Sinne versucht wird, soll auf andere Veränderungen eingegangen werden, die sich im Zusammenhang mit dem attributiven Genitiv beobachten lassen, und die zum besserern Verständnis der Geschichte des attributiven Genitivs unabdingbar sind.

4.2.2 Andere Veränderungen, den attributiven Genitiv betreffend Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, lässt sich die Geschichte des attributiven Genitivs im Deutschen nicht auf die zunehmende semantische Beschränkung der pränominalen Position reduzieren, deren Resultat die im Gegenwartsdeutschen allein grammatischen Eigennamen in dieser Position sind. Vor- und nachgestellte Genitive teilen sich im Frnhd jedoch nicht nur semantische, sondern auch syntaktische Eigenschaften. Da ist zunächst die Option rechter und linker Erweiterungen, die im Frnhd. auch bei pränominalen Genitiven auftreten. Postnominale Modifikation des pränominalen Genitivs ist im Frnhd. unabhängig von der Komplexität dieses Modifikators grammatisch. Nicht nur Präpositionalphrasen wie in (28), sondern auch Relativsätze erscheinen zwischen dem pränominalen Genitiv und dem Kopfnomen, vgl. (29). (28) a. b.

[[deß Vvaivoda [pp in Siebenbürgen]] Bottschafft] (R 146.38) [[Der Frawen [PP zu vnseren Zeiten]] kunst] weyßheit vnd tugende ist (Ehebüchlein 83.15)

(29) a.

Dieser Tagen seyn allhie [[der Evangel. Fürsten vnnd Städt/ [ so zu Schwäbischen Hall jüngst beysamen gewest/]] Abgesandte]

b.

alherkomen (A 170.26) sol [[des Engellenders/ [ c p so vor diesem/ mit der Persianischen Botschafft auch allhie gewest/]] Bruder] seyn

(A 117.24)

Ganz offensichtlich bestehen keine Restriktionen in Bezug auf rechte Erweiterungen der pränominalen Genitive im Frnhd., so wie wir das im heutigen Deutschen beobachten, wo die den Belegen in (28) und (29) entsprechenden Beispiele ungrammatisch sind. In (30) sind die Beispiele aus Abschnitt 4.1.1 zur deutlicheren Kontrastierung wieder aufgenommen.

Attributive Genitivphrasen

224

(30) a. *[der Müllers [pp aus der Theatergruppe]] Kinder b. '"[der Müllers, [ c ? die seit gestern gegenüber wohnen,]] Kinder

Diese rechten Erweiterungen des Genitivs können im Mhd. und Frnhd. auch in Distanzstellung auftreten, wie die Daten in (31) und (32) für Präpositionalphrasen und Relativsätze zeigen: (31) a. b.

Sie ritten zu [[des einsiedeis tj huß]] [pp von Plaissie]j (PL 562.29) [[der Schlösser tj abtrettung] [pp auß gemelter Weiwodschaft]j (R 67 41.6)

(32) a.

myn mu:oter ist [NP [eins edelmans tj]J [NP dochter tj]] [CP der noch hüt by tag wonet zu:o Malonge]; vnder den sach er [[des Künigs von frießlandt tj wapen]/ [CP der genant was Hugwon von vanefis];

b.

(HS 261.11) (HS 243.6)

Daten wie in (31) liefern ein klares Argument gegen die Behagheische Erklärung des Wandels im Sinne des Gesetzes der wachsenden Glieder: Statt der Nachstellung des gesamten Genitivattributs ist es in früheren Sprachperioden des Deutschen offensichtlich möglich, präpositionale Erweiterungen des Genitivs allein in dieser Position zu haben. Doch im Gegenwartsdeutschen sind nicht allein die rechten Erweiterungen von pränominaler Genitive ausgeschlossen, sondern auch linke Erweiterungen. Wie der Grammatikalitätskontrast zwischen gegenwartssprachlichen und frnhd. Daten zeigt, sind die fraglichen Konstruktionen noch in der jüngeren deutschen Sprachgeschichte wohlgeformt, vgl. (33) vs. (34); die Belege unter (34) illustrieren sowohl eine nominale wie eine adjektivische linke Erweiterung des vorangestellten Genitivs. (33) a. *des alten Goethe(s) Faust b. *Pauls Vaters Verhaftung (34) a. b.

wider [[[des Keysers] Comissarij [zu Disteldorf!]] angeschlagenes Patent] (A 181.3) als [[eins tollen menschen] fiirnehmen] (Luther, Adel 414.10)

Wiederum kann die Ungrammatikalität des Beispiels aus dem Gegenwartsdeutschen nicht aufgrund der semantischen Beschränkung des pränominalen Genitivs auf Eigennamen erklärt werden, da Eigenna-

Historischer Befund

225

men, die dem modifizierten Nomen folgen, genau diese Erweiterungen aufweisen können, wie (35) zeigt. (35) a. b.

der Faust des alten Goethe die Verhaftung des Vaters von Paul

Ein weiterer entscheidender Unterschied zwischen den pränominalen Genitiven des Gegenwartsdeutschen und denen älterer Perioden der deutschen Sprache hängt mit dem Auftreten von Artikelwörtern zusammen: Im Gegenwartsdeutschen ist die Kookkurrenz von pränominalen Genitiven und Artikelwörtern ausgeschlossen, in früheren Stadien der deutschen Sprachgeschichte ist das nicht der Fall. Unter (36) sind Beispiele aus dem Ahd. angeführt, die das gemeinsame Auftreten von Artikelwörtern und pränominalen Genitiven belegen: (36) a. b. c.

in dhemu druhtines nemin in dem (des) Herrn Namen thiu götes kraft die Gottes Kraft thie mines fäter liuti die meines Vater Leute

(Is 4.3) (O IV.34.1) (O III. 10.24)

Auch im Frnhd. finden sich noch Belege für die mögliche Kookkurrenz. So erscheint der indefinite Artikel, auch wenn ein attributiver Genitiv dem Kopfnomen vorausgeht, wie die Beispiele in (37) illustrieren. (37) a. b.

das ir [ein des affochten koniges ritter] sind der nu lebet (PL 524.36) Sonst hat der Babst/ ein mandat publiciren lassen/ [keine des Babsts güldene oder silberne Müntzen]/ noch zanile Goldt zuuerschicken/ (A 13.7)

Trotz eines pränominalen Genitivs werden die Nominalphrasen in (37) indefinit interpretiert. Das ist auch der Fall, wenn das indefinite Artikelwort zwischen der Genitivphrase und dem Kopfnomen interveniert, wie sich an der positiven wie negierten Form des indefiniten Artikels zeigen lässt. Auf diese Stellungsvariante wird im Zusammenhang mit der Distanzstellung von Genitivattributen im Frnhd. noch genauer eingegangen (s. Abschnitt 4.4).

Attributive Genitivphrasen

226 (38) a. b. c.

Ich will [ir eren ein getrüwer hüter] syn (HS 305.6) das ist (lwer kindt Merie die [des künigrichs ein rechter erb] ist (HS 210.10) doch hat er [der begerten hilff keine Vertröstung] bekommen (R 191.8)

Auch das einfache und das zusammengesetzte Demonstrativpronomen erscheinen in Verbindung mit dem pränominalen Genitiv. Es sei an dieser Stelle unterstrichen, dass die komplementäre Verteilung von definitem Artikelwort und pränominalem Genitiv ein wichtiges Argument für die DP-Analyse von Nominalphrasen gewesen ist. Unter (39) sind frnhd. Belege angeführt. (39) a. b.

Nun [die anderen des graffen diener] wurden innen / das Ru:opert und Fortunatus tzu den hoffstuben giengen (Fortunatus 15.6) diese des Sonnengottes Aussprache (Ebert et al. 1993:336)

In (39a) geht das einfache Demonstrativpronomen dem pränominalen Genitiv voraus, in (39b) das zusammengesetzte Demonstrativpronomen. Auch die Distribution des qualifikativen Demonstrativpronomens solch- zeichnet sich im Frnhd. dadurch aus, dass es mit einem pränominalen Genitiv kookkurrieren kann. (40) illustriert den Gebrauch von solch- in frnhd. Nominalphrasen. Im Gegenwartsdeutschen sind pränominale Genitive in so/cA-Umgebungen ausgeschlossen (41a), im Frnhd. sind sie jedoch in diesen Kontexten belegt (41b,c). (40) a. b.

ist auch willens dieser Statt [ein solch gebiss] ein zulegen/ wie dann [in solcher zeit] beiderseits nichts thälichs solle vergenommen werden

(41) a. ""solch Lottas Saxophon b. solch Christi wunderwerk c. solichem des Türken fürnemen

(R 66.14) (R 31.26)

(Rössing-Hager 1990:417) (Ebert et al, 1993:336)

Diese Eigenschaft teilt der attributive Genitiv mit den Possessivpronomina. Und die possessiven Adjektive des Mhd. erscheinen in markierten Fällen auch im ausgehenden Frnhd. noch in Verbindung mit diesen Artikelwörtern, wie die Beispiele in (42) und (43) zeigen. (42) a. b. c.

diese seine Ankunffi bey dieser vnserer Versicherung diß jhr anmelden vnd Protestation

(A 194.5) (A 229.20) (A 90.15)

Historischer Befund

(43) a. b. c.

solcher mein radschlag solch vnser gnädigst begeren solche jre Christliche Religion

227 (Luther, Adel 440.8) (A 225.6) (A 224.21)

Noch in anderer Hinsicht verhält sich der pränominale Genitiv des Frnhd. wie das Possessivpronomen: Anders als im Gegenwartsdeutschen treten beide nicht obligatorisch phraseninitial auf. Adjektivische Modifikatoren können dem Genitiv und dem Possessivpronomen vorangehen. Dafür lassen sich nicht nur Beispiele aus dem Ahd. anführen (vgl. (44)), sondern auch aus dem Frnhd., vgl. (45) und (46). Für das Frnhd. ist auch ein Beleg angeführt, wo dem Genitiv ein Numeral vorausgeht (45c). (44) a. b.

(45) a. b. c. d. e. f. (46) a b.

in dhemu heilegin daniheles chiscribe 'in der heiligen Schrift des Daniel' dhera gotliihhun Christes chiburdi 'der göttlichen Geburt Christi'

(Is 5.5) (Is 3.1)

der by Emerichen [dem vngeraten der künigin von Franckreich bru:oder] manchen tag wider die heiden zu.o strit was gewesen (HS 224.4) In den aller vssersten vnd wytesten der werlt landen. (Wyle 24.26) da weideten zwo:elff des pfaifen schaaff (RB 136.35) vielfeltiges des Greffen bitten (A 35.18) auffgethanejre May. Werbung (R 131.30) aus dem schrifftlichen der Ständ sub utraque Begehren (A 150.7) andere jhre beschwerten in Justitien die vorige jhrige Confeßion

(A 135.20) (A 225.12)

Semantisch sind sowohl attributive Genitive wie auch Possessivpronomina Argumente des jeweiligen Nomens.8 Wenn diese Argumente definit sind, hängt das Auftreten eines Artikels in den fraglichen Nominalphrasen von der Bedeutung des Kopfnomens ab: Nur wenn dieses Nomen ein sortales Konzept repräsentiert, erscheint ein Artikelwort. Und genau solch ein Fall liegt beispielweise in (38b) vor. Auch in Nominalphrasen des heutigen Deutschen finden sich Genitivattribute in

Das zeigt sich auch daran, dass sich beide koordinieren lassen: solle bereit zwischen [[seinen vnd des Dampiers] Reutern] ein Scharmützel fürgangen sein (A 46.11)

228

Attributive Genitivphrasen

Verbindung mit Artikelwörtern, allerdings nur, wenn das Genitivattribut postnominal erscheint. (47) a. ein Mitglied dieses Bundestages b. *ein dieses Bundestages Mitglied (48) a. das kaputte Dach des Hauses b. *das des Hauses kaputte Dach c. Großvaters Pfeife

In (47a) erscheint der indefinite Artikel, weil das Nomen Mitglied ein sortales Konzept repräsentiert, und aus diesem Grund die Nominalphrase trotz des eindeutig referierenden Genitivattributs indefinit interpretiert wird. Wie der Grammatikalitätskontrast in (47) zeigt, ist diese Interpretation nicht möglich, wenn das Genitivattribut pränominal erscheint. Auch in (48a) wird auf ein bestimmtes Haus Bezug genommen; im Unterschied zu (47a) ist hier die Relation zwischen Argument und Nomen eindeutig, denn Dach ist inhärent eindeutig (im Normalfall hat jedes Haus genau ein Dach). Das Auftreten des definiten Artikels ist hier im Sinne von Löbner (1985) als eines semantischen Definitums zu verstehen. Diese Gebrauchsweise des definiten Artikels bildet sich, wie in Kapitel 2 gezeigt, im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte heraus. Dennoch ist sein Auftreten ungrammatisch, wenn der attributive Genitiv dem modifizierten Nomen nicht folgt, wie in (48a), sondern vorausgeht (vgl. (48b)). Wenn dem Nomen nur der Genitiv vorausgeht, wie in (48c), erhält die Nominalphrase eine definite Interpretation (vgl. Abschnitt 4.1.1). Auch in Bezug auf seine Kookkurrenzeigenschaften verhält sich der pränominale Genitiv des Frnhd. folglich wie der postnominale Genitiv des heutigen Deutschen. Wie in Verbindung mit Possessivpronomina können adjektivische Modifikatoren in Nominalphrasen mit pränominalen Genitiven deshalb schwach oder stark flektiert sein: (49) a. b.

und vermu:onte [[irs herren] großen«* tugende] (PL 44.10) darin [zu [[meines heiles] verneuendemsr jungbrunnen]] mir der weg ist verhauen (AB V. 19)

Historischer Befund

229

In Bezug auf eine Reihe von Eigenschaften verhalten sich Genitivattribute wie Possessivpronomen. Während Possessivpronomina aber immer definite Argumente ihrer Kopfnomen sind (d.h. deiktisch oder anaphorisch), können Genitivattribute auch indefinit sein. Noch im Frnhd. erscheinen auch diese Genitivattribute pränominal, wie die folgenden Beispiele aus dem Hug Schapler zeigen: (50) a. b.

myn mu:oter ist [[eins ritters] tochter] Sie giengent [[in eynes harnesch machers] huß]

(HS 261.10) (HS 262.7)

In (50) gehen dem Nomen genitivische Modifikatoren voran, die den belebten Individualnomen zuzurechnen sind. Damit weisen diese Beispiele aus dem ersten Drittel des 15. Jh.s genau die Abfolge auf, die aufgrund des in der Literatur diskutierten Stellungswandels zu erwarten ist. Sie unterscheiden sich von den bisherigen Genitivattributen dadurch, dass sie indefinit sind, und infolgedessen die gesamte Nominalphrase nicht determiniert ist. Im Rahmen der von Löbner vorgeschlagenen Analyse besteht jedoch auch in Beispielen wie (50) eine eindeutige Beziehung zwischen dem Argument und dem Kopfnomen. Im Unterschied zu definiten Genitivattributen ist in (50) jedoch das Argument nur indirekt mit einer Situation verbunden. Dennoch erscheint im Gegenwartsdeutschen in nominalen Konstruktionen mit einem indefiniten Genitivattribut der definite Artikel (vgl. (51)). Das lässt sich nach Löbner mit der eindeutigen Beziehung zwischen Argument und Nomen erklären. In vielen Ansätzen (s. Hawkins 1978; Heim 1982 u.a.), die das Konzept der Definitheit so verstehen, dass der Referent in einem absoluten Sinne determiniert sein muss, kann das Auftreten des definiten Artikels in diesen Umgebungen nicht erklärt werden. Wie das Argument zu einer Situation in Beziehung gesetzt wird, spielt nach Löbner jedoch fur das Konzept der Definitheit keine Rolle. Aufgrund der eindeutigen Beziehung weisen Beispiele wie (50) in historischen Sprachstufen des Deutschen keinen bestimmten Artikel auf. Damit lassen sich auch diese Konstruktionen in die Geschichte der Definitheitsanzeiger einreihen, anders ausgedrückt gilt auch für die Fälle indirekter Referenz wie für die anderen Instanzen semantischer Defi-

230

Attributive Genitivphrasen

nitheit, dass erst im Verlauf des Frnhd. der bestimmte Artikel obligatorisch wird.9 (51) a. b.

die Tochter eines Ritters das Haus eines Harnischmachers

Der Unterschied zwischen direkt und indirekt referierenden Nominalphrasen kann an folgenden Beispielen deutlich gemacht werden: (52) a. b.

Seine Mutter ist die Tochter eines Ritters, Seine Mutter ist eine Ritterstochter.

(53) a. b.

Er heiratet die Tochter des Ritters, Er heiratet die Ritterstochter.

Trotz des bestimmten Artikels führt die Nominalphrase in (52a) einen neuen Referenten in die Diskursdomäne ein. Obwohl die Beziehung zwischen Tochter und Ritter eindeutig ist, referiert die Nominalphrase referiert nicht auf eine bestimmte Frau. In dem Kompositum in (52b) wird die Indeterminiertheit dieser Nominalphrase mittels des indefiniten Artikels ausgedrückt. In (53) dagegen bezieht sich die Nominalphrase auf eine Frau, die bereits in den Diskurs eingeführt wurde; das Kompositum in (53b) weist deshalb folgerichtig den bestimmten Artikel auf. Im Gegenwartsdeutschen sind indefinite Genitivattribute pränominal ausgeschlossen. Auch wenn Eigennamen sich mit dem indefiniten Artikel verbinden können, ist das Auftreten eines solchen attributiven Genitivs ausgeschlossen. (54) a. Welcher aktuelle Schriftsteller hat schon das Format eines Thomas Mann? b. *Welcher aktuelle Schriftsteller hat schon eines Thomas Manns Format?

9

Es ist meines Erachtens wenig plausibel, indefinite Argumente eines Kopfnomens als pragmatisch markierte Option zu bezeichnen, wie Haspelmath (1999) das tut. Er meint, diese Behauptung mit einem Beispiel wie dem folgenden aus dem Rumänischen belegen zu können, wo seiner Ansicht nach in solchen Fällen auf syntaktisch markierte Muster ausgewichen wird: (i) portret-ul rege-lui Porträt-DEF König-DEF.GEN

(ii)

*un portret rege-lui ein Porträt König-DEF.GEN (iii) un portret al rege-lui ein Porträt DEF.GEN König-DEF.GEN

Historischer Befund

231

4.2.3 Zusammenfassung Die historischen Fakten im Hinblick auf die syntaktischen und semantischen Eigenschaften von pränominalen Genitiven im Frnhd. lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Attributive Genitive durchlaufen in der deutschen Sprachgeschichte einen Stellungswandel. Im frühen Ahd. gehen attributive Genitive ihrem Kopfhomen im Allgemeinen voraus; das gilt sogar für partitive Genitive. In Abhängigkeit von der Bedeutung des attributiven Genitivs werden seit Ende des Ahd. Individualnomen zunehmend nachgestellt. Dieser Wandel ist für Individualnomina mit dem Merkmal [-belebt] gegen Ende des 15. Jh.s abgeschlossen. Im nächsten Stadium der Geschichte des Genitivattributs erscheinen auch Individualnomen mit dem Merkmal [+belebt] immer häufiger nach dem Nomen. Dieser Wandel ist zum Ende des 17. Jh.s abgeschlossen. Andere wichtige diachronische Veränderungen, die sich in Bezug auf den attributiven Genitiv beobachten lassen, werden in der Literatur nicht thematisiert. So treten unabhängig von ihrer Komplexität rechte und linke Erweiterungen von pränominalen Genitiven im Frnhd. ausgesprochen häufig auf (cf. (28), (29) und (34)). Im Gegenwartsdeutschen sind solche Extensionen nur noch möglich, wenn das Genitivattribut postnominal steht. Des Weiteren teilen Genitivattribute bis zum Frnhd. eine Reihe von Eigenschaften mit den Possessivpronomina: Dazu gehören die Kookkurrenz mit Artikelwörtern bis zum Frnhd. und die Stellungsfreiheit in Bezug auf adjektivische Modifikatoren. Ersteres ist im Gegenwartsdeutschen wiederum auf postnominale Genitivattribute beschränkt und für die Possessivpronomina ausgeschlossen (vgl. Kapitel 3). Im Unterschied zu den Possessivpronomina können Genitivattribute sowohl definite als auch indefinite Argumente ihrer Nomen sein. Bis zum Frnhd. treten solche indefiniten Argumente auch pränominal auf. Wie diese Veränderungen strukturell zu interpretieren sind, ist Gegenstand

232

Attributive Genitivphrasen

des nächsten Abschnitts. Dort wird der beschriebene Wandel auch in einen erklärenden Zusammenhang gestellt.

4.3 Die Analyse Im Folgenden geht es darum, die diachrone Variation im Kontext genitivischer Modifikatoren hinsichtlich dreier Eigenschaften attributiver Genitive strukturell zu beschreiben. Bei diesen Eigenschaften handelt es sich um (i) den Stellungswandel, (ii) die entstehende Kookkurrenzrestriktion zwischen Artikelwort und pränominalem Genitiv und (iii) darum, dass Modifikatoren wie auch Spezifikatoren keine möglichen rechten oder linken Erweiterungen eines pränominalen Genitivs im Gegenwartsdeutschen darstellen. Bevor eine eigene Interpretation des diachronischen Befundes vorgestellt wird, soll auf einen Vorschlag von Ouhalla (1991) eingegangen werden, der im Rahmen des Prinzipienund-Parameter-Modells versucht, synchrone Variation in Nominalphrasen in Bezug auf die Eigenschaften (i) und (ii) zu erfassen. 4.3.1 Lexikalische Parametrisierung In Ouhalla (1991) wird vorgeschlagen, die Kookkurrenzrestriktion zwischen Artikeln und pränominalen Genitiven als Restriktionen hinsichtlich der kategorialen Selektion zu formulieren. Im Einzelnen lautet sein Vorschlag wie folgt: Für die Analyse der Nominalphrase führt er eine Struktur ein, in der Flexionselemente vollen kategorialen Status haben, insbesondere postuliert er für die Nominalphrase die funktionalen Kategorien D°, AGR°, NEG° und NOM°.10 Unter der Annahme, dass der kategoriale Status von Nominalphrasen nicht nur von Sprache zu Sprache variieren kann, sondern auch innerhalb einer Einzelsprache, 10

Diese funktionalen Projektionen werden für die Analyse von Gerundialkonstruktionen benötigt mit NOM als der Position für das Nominalisierungssuffix -ing und NEG für die in propositionalen Gerundien mögliche Negation: Marry worries about John not building a spacecraft.

Die Analyse

233

analysiert er auf der Grundlage des Englischen nur Nominalphrasen mit Artikelwörtern als Determinansphrasen, während Nominalphrasen mit possessiven Elementen AGRPn ohne eine DP-Projektion sind. Der AGR-Kopf enthält das von Abney (1987) eingeführte abstrakte AGRElement, das dem pränominalen Genitiv Kasus zuweist und als i-Suffix realisiert wird." Da dieses Element in DPn nicht vorhanden ist, ist die Kasuszuweisung an eine pränominale attributive Phrase dort ausgeschlossen. (55)

a.

AGRP

DP

Spec

N° DP destruction (of) the city

N° DP translation (of) the book

Das Subjekt Mary wird in (55b) von SpecNP in die Spezifikatorposition der AGRP bewegt, wo ihm unter Spezifikator-Kopf-Kongruenz von dem abstrakten AGR-Element Genitivkasus zugewiesen wird. Der postnominale Genitiv erhält im Englischen Kasus durch Vermittlung der grammatikalisierten Präposition of, die in (55a) und (55b) jeweils zwischen Kopfhomen und postnominalem Genitivattribut einzufügen ist. Da der funktionale Kopf D° im Unterschied zu AGR° kein Kasuszuweiser ist, kann er seine Spezifikatorposition nicht kasusmarkieren, "

In Ouhallas Analyse korrespondiert AGR° mit dem possessiven Affix an Nomen im Ungarischen und Türkischen. Nur in diesen Sprachen kann das Kopfhomen nach AGR bewegt werden, während in Sprachen mit abstraktem (und damit irgendwie defektivem) AGR0 wie Deutsch und Englisch diese Bewegung nicht lizensiert ist.

234

Attributive Genitivphrasen

s. (56a), so wie auch die entsprechende Projektion in der Satzstruktur (i.e. TNSP) unter (56b) kein Kasuszuweiser ist. Die Beispiele in (56) sind Ouhalla (1991) entnommen. (56)

a. *The army the destruction of the city b. *Mary said (that) John to leave

Doch nicht nur Subjekte können im Rahmen von Ouhallas Vorschlag in die Position SpecAGRP bewegt werden. Auch das postnominal generierte Objekt kann in sog. passiven Nominalisierungen in SpecAGRP erscheinen, vgl. (57b). Da das Subjekt in SpecNP nicht kasusmarkiert werden kann, wird es als Präpositionalphrase mit der Präposition by realisiert (57c). (57)

a. the army's destruction of the city b. the city's destruction by the army c. *the city the destruction by the army

Possessive Nominalphrasen behandelt Ouhalla wie interne Argumente des Kopfnomens. Sie werden postnominal erzeugt und erhalten entweder Kasus mittels der Präposition of oder durch das abstrakte AGRElement, wenn sie nach SpecAGRP bewegt worden sind.12 Beide Strukturen zeigt (58).

12

Ouhalla (1991:179) plädiert dafür, dass attributive Genitive interne Argumente sind, denen vom Kopfnomen eine thematische Rolle zugewiesen wird. Ein Argument dafilr soll sein, dass in Sprachen, in denen ein possessives Element als Klitik reanalysiert wird, das in Form eines Objektklitiks geschieht (to vivlio-mu 'das Buch mein', to vivlio-tis 'das Buch-ihr' aus dem heutigen Griechisch; die Beispiele sind aus Ouhalla).

Die Analyse

235

Übertragen in den Rahmen der von Ouhalla propagierten Lexikalischen Parametrisiernngshypothese, der zufolge sich parametrische Variation auf die Variation lexikalischer Eigenschaften von funktionalen Elementen reduzieren lässt, wird der unterschiedliche kategoriale Status von Nominalphrasen auf der Basis lexikalischer Eigenschaften funktionaler Kategorien erklärt. Genauer gesagt sind es die kategorialen Selektionseigenschaften der funktionalen Kategorie D, die fur die Inkompatibilität von Artikel und Possessivum verantwortlich gemacht werden: AGR° wird von dem funktionalen Kopf D° im Englischen nicht k-selegiert. Damit wird jedoch nicht ausgeschlossen, dass Nominalphrasen Projektionen von AGR° ohne eine D-Projektion sein können. Die typologische Variation von Sprachen hinsichtlich der Kompatibilität von Artikelwörtern und Possessiva wird dementsprechend mittels des sog. D-Parameters erfasst, d.h. einer Liste derjenigen Kategorien, die der funktionale Kopf D° in einer gegebenen Sprache kategorial selegiert. Der Parameter ist auszugsweise in (59) wiedergegeben (für die vollständige Fassung s. Ouhalla 1991:182).

236

Attributive Genitivphrasen

(59)

D-Parameter (i) D c-selects NOM13, NEG, NP etc. (English) (ii) D c-selects AGR-GEN, NOM etc. (Turkish) (iii) D c-selects NP etc. (Semitic)

Wesentlich fur unseren Zusammenhang sind die Varianten unter (i) und (ii). Während Sprachen wie das Englische sich durch Inkompatibilität von Artikel und Possessivum auszeichnen, Nominalphrasen also entweder DPn oder AGRPn sind (vgl. (55)), k-selegiert in Sprachen wie dem Türkischen die funktionale Kategorie D eine AGRP und lizensiert damit die im Englischen ausgeschlossene Kookkurrenz dieser Elemente. (60)

su ben-im stakoz-um dieser ich-GEN Hummer-I.SG.POSS

'dieser mein Hummer'

(Kornfilt 1985)

Entscheidend für die strukturellen Eigenschaften von Nominalphrasen sind im Rahmen der Lexikalischen Parametrisierungshypothese folglich die kategorialen Selektionseigenschaften der funktionalen Kategorie D, die darüber entscheiden, welche anderen funktionalen Kategorien gleichzeitig vorhanden sein können. Nur wenn D° eine AGRP kselegiert, ist das gleichzeitige Auftreten von Artikel und Possessivum möglich. Ouhalla interpretiert die variierenden Kookkurrenzmöglichkeiten von Artikelwörtern und possessiven Elemente folglich als Variation bzgl. der k-Selektionseigenschafiten des funktionalen Kopfes D° und damit dem strukturellen Aufbau der Nominalphrase. Darüber hinaus variieren Sprachen hinsichtlich der Position des attributiven Genitivs in Bezug auf das Kopfnomen. So unterscheidet Ouhalla zwischen drei typologischen Gruppen von Sprachen: (i) den SNO-Sprachen (germanische Sprachen, Ungarisch, Türkisch), (ii) den NSO-Sprachen (semitische Sprachen) und (iii) den NOS-Sprachen (romanische Sprachen, modernes Griechisch). Ein struktureller Unterschied differenziert zwischen den Sprachen der Gruppe (i) einerseits und den Sprachen der Gruppen (ii) und (iii) andererseits. Nur erstere 13

Vgl. Fußnote 10.

Die Analyse

237

verfügen über eine AGRP, während Ouhalla aus der Beobachtung, dass in romanischen und semitischen Sprachen nicht-pronominale Subjekte dem Nomen nicht vorangehen können, schließt, dass diese Sprachen keine AGRP aufweisen. Genitivkasus wird in Sprachen der Gruppe (i) dem pränominalen Genitiv durch ein abstraktes Element in AGR zugewiesen, während postnominale Genitive Genitivkasus durch das Kopfnomen erhalten, vgl. (55b). In Sprachen der Gruppen (ii) und (iii) weist die Nominalphrase eine identische Struktur auf. Unterschiede resultieren hier aus den jeweils verfugbaren Bewegungsoptionen. In NSO-Sprachen wird dem Subjekt Genitivkasus vom Kopfnomen zugewiesen, nachdem das Kopfnomen nach D bewegt worden ist, eine Position, die Kasuszuweisung unter Rektion erlaubt. Das Objekt erhält seinen Kasus durch Vermittlung des präpositionalen Ii- (vergleichbar dem englischen of). Diese Präposition erscheint nur dann, wenn ein Subjekt in der Nominalphrase lexikalisiert ist, vgl. (61a). Tritt nur das Objekt in der Nominalphrase auf, weist das Kopfnomen diesem Kasus zu, vgl. (61b) vs. (61c). Die von Ouhalla angenommene Struktur für die arabischen Beispiele in (61) ist in (62) gegeben. (61) a.

taijamat-u l-kaatib-i li-l-riwaayat-i Übersetzung-ΝΟΜ des Autors-GEN zu dem Roman-GEN 'die Übersetzung des Romans durch den Autor' b. tarjamt-u 1-kitaab-i Übersetzung-ΝΟΜ des Buches-GEN 'die Übersetzung des Buches' c. * tarjamt-u li-l-kitaab-i Übersetzung-ΝΟΜ zu dem Buch-GEN 'die Übersetzung des Buches'

(Arabisch)

238

Attributive Genitivphrasen

(62)

Spec

NOS-Sprachen wie das moderne Griechisch weisen eine Struktur wie die NSO-Sprachen auf. Der entscheidende Unterschied ist, dass der Genitivkasus des Objekts im modernen Griechischen vom Kopfhomen kommt, während Subjekte in der SpecNP keinen Kasus erhalten (und es auch kein AGR-Element gibt, das Kasus zuweisen kann, s. oben). Damit bleibt als einzige Realisierungsmöglichkeit die Präpositionalphrase, wie das Beispiel aus Ouhalla in (63) illustriert. (63)

I metasrasi tu vivliu apo ti Maria die Übersetzung des Buchs durch Maria

(Modernes Griechisch)

Die unterschiedliche Abfolge der genitivischen Attribute in NSO- und NOS-Sprachen resultiert folglich aus dem Fehlen eines Artikelworts in Sprachen wie dem Arabischen und dem Auftreten von Artikelwörtern in Sprachen wie dem heutigen Griechisch, das eine Bewegung des Kopfnomens nach D° ausschließen, weil die Position D° durch das entsprechende Artikelwort besetzt ist. Wie Ouhalla zeigt, lässt sich die Adjunktion von N° an D° aus kasustheoretischen Erwägungen ausschließen. Ouhallas Analyse ist aus verschiedenen Gründen nicht geeignet, die diachrone Variation im Deutschen zu beschreiben. Da ist zunächst die Kookkurrenzrestriktion. Ouhalla unterscheidet in seinem Vorschlag nicht zwischen phrasalen possessiven Elementen und solchen mit Kopfstatus. Damit kann er Possessivartikel im Rahmen seiner Analyse

Die Analyse

239

nicht beschreiben. Wie unten zu zeigen ist, schließt diese Beschränkung auf phrasale possessive Elemente auch die strukturelle Beschreibung von pränominalen Genitiven im heutigen Deutschen aus. Das zweite zu parametrisierende Phänomen ist die Stellung des attributiven Genitivs in Bezug auf das Kopfnomen: Ouhalla unterscheidet typologisch zwischen SNO-, NSO- und NOS-Sprachen. Wie lässt sich hier der Stellungswandel der Genitivattribute in der deutschen Sprachgeschichte einordnen? Man kann versuchen, den ahd. Befund so zu deuten, dass das Ahd. zu den SNO-Sprachen gehört. Dagegen spricht, dass Genitivphrasen dem Kopfnomen im Ahd. immer vorausgehen und folglich auch keine nominalen Konstruktionen bekannt sind, in denen zwei genitivische Modifikatoren, einer prä- der andere postnominal, auftreten. Die zunehmende Nachstellung von Individualnomen im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte könnte dann so gedeutet werden, dass die deutsche Sprache sich auf dem Werg von einer SNO- zu einer NOS-Sprache befindet. Denn wie im heutigen Griechisch erhält im Gegenwartsdeutschen nur das Objekt vom Nomen Genitivkasus, während der Kasus des Subjekts durch das Auftreten einer Präposition wie durch lizensiert wird. (64)

die Präsentation des Films durch den Regisseur

Um auch die Fälle pränominaler Genitive in der Ouhalla-Analyse zu erfassen, muss angenommen werden, dass sich im heutigen Deutschen neben einer Überzahl von NOS-Strukturen auch noch SNO-Strukturen finden, deren Nominalphrasen keine DPn, sondern AGRPn sind. Die Markiertheit dieser AGRPn Hesse sich dann daran ablesen, dass in der Spezifikator-Position der AgrP nur Eigennamen ohne Erweiterungen erscheinen können - unabhängig davon, ob es sich dabei um Subjekt, Objekt oder Possessivphrase handelt, die an unterschiedlichen Position in der Nominalphrase basisgeneriert werden (vgl. (55) und (58)). Es bleibt meines Erachtens unklar, weshalb gerade im Deutschen die Bewegung in die Position SpecAGRP auf diese Weise beschränkt sein

240

Attributive Genitivphrasen

soll.14 Solche Beschränkungen sind in den anderen germanischen Sprachen (nach Ouhalla ebenfalls SNO-Sprachen mit DPn und AGRPn) meines Wissens nicht zu beobachten. Aus diesem Grund plädiere ich dafür, die semantischen und syntaktischen Beschränkungen pränominaler Genitive im Deutschen aus der spezifischen Entwicklung dieser nominalen Attribute im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte zu erklären. Die charakteristischen Eigenschaften pränominaler Genitive im heutigen Deutschen sprechen meiner Ansicht eindeutig gegen jede Analyse, die von einer phrasalen Umstellungsbeziehung in der Nominalphrase ausgeht. Um die diachrone Variation angemessen beschreiben zu können, wird im Folgenden auch für die Nominalphrasen mit attributiven Genitiven eine Analyse im Rahmen der HPSG vorgeschlagen. 4.3.2 Von der maximalen Phrase zum Kopf Diese Analyse des diachronischen Befundes folgt Behaghel (1932:181), insofern für die Geschichte des attributiven Genitivs drei Stadien angenommen werden. Im Ahd. sind adnominale Genitive Komplemente ihrer Kopfnomen, denen sie im Allgemeinen vorausgehen, wie das in der Repräsentation in (65) dargestellt ist.

14

Auch Lattewitz (1994) versucht, die beiden Positionen für attributive Genitive in der Nominalphrase des Deutschen durch eine Umstellungsbeziehung miteinander zu verknüpfen. Die unterschiedlichen Eigenschaften will sie durch entsprechende Restriktionen für die Bewegung des postnominalen Genitivs in die pränominale Position erfassen. Kopfbewegung unterliegt meines Wissens im Allgemeinen aber nicht dem Bündel von semantischen, syntaktischen und morphologischen Beschränkungen, die für den pränominalen Genitiv im Unterschied zum postnominalen Genitiv festzustellen sind.

Die Analyse

241

Ν'

(65)

[COMPS ο ]

[COMPS ]

paradises bliidhnissa 'die Freude auf das Paradies'

(Is 5.10)

Das auf der Komplementliste des Kopfnomens bliidhnissa 'Freude' aufgeführte Komplement wird durch den attributiven Genitiv paradises 'Paradies' gesättigt, angezeigt durch den Index, den sich beide Konstituenten der Nominalphrase teilen. Die Merkmalsmatrix für das Kopfnomen in (65) ist im Folgenden gegeben: (66)

PHON CAT

HEAD noun [CASE nom] SPR

COMPS J PER 3rd INDEX [1] NUM sing _GEND fem_

SYNSEM|LOCAL

CONTENT RESTR

RELATION joy INSTANCE [1]

In (66) werden die anaphorischen Kongruenzmerkmale des INDEXWertes durch die RELATION joy beschränkt. Auch die Interpretation der Relation zwischen Kopfhomen und Genitivkomplement hängt von dem RESTR-Wert des Kopfnomens ab, d.h. das Genitivkomplement muss nicht nur den Werten des CAT-Merkmals genügen, sondern auch

Attributive Genitivphrasen

242

denjenigen des CONTENT-Merkmals: Werte des COMPS-Merkmals sind immer SYNSEM-Objekte.15 Diese Analyse stimmt erstens mit der Beobachtung überein, dass im Ahd. trotz eines pränominalen Genitivs ein Artikelwort in der Spezifikatorposition des Nomens erscheinen kann. Sie ist zweitens verträglich mit dem Befund, dass bei Kookkurrenz von Genitivattributen und adjektivischen Modifikatoren das Adjektiv dem Genitiv vorangehen kann. Wie bereits in Kapitel 2 ausgeführt, nehme ich an, dass Adjektive an N' adjungiert werden. In (67) werden die einschlägigen Beispiele aus dem vorherigen Abschnitt wiederholt: (67) a. b.

in dhemu heilegin daniheles chiscribe 'in der heiligen Schrift des Daniel' dhera gotliihhun Christes chiburdi 'der göttlichen Geburt Christi'

(Is 5.5) (Is 3.1)

Seit dem 16. Jh. erscheinen Genitive in Abhängigkeit von ihrer Bedeutung auf beiden Seiten des Kopfhomens: Individualnomen mit dem Merkmal [+belebt] und Eigennamen gehen dem Nomen voraus, Individualnomen, die sich auf unbelebte Entitäten beziehen, folgen dem Kopfnomen. Gleichzeitig ist die Kookkurrenz pränominaler Genitive mit Artikelwörtern nur noch in markierten Einzelfallen nachweisbar. Dieser Befund charakterisiert das zweite Stadium in der Geschichte des attributiven Genitivs, das ich so interpretiere, dass nominale Komplemente des Kopfnomens seit der Wende des 16. Jh.s rechts vom Nomen erscheinen, während Genitive auf der linken Seite des Nomens als Teil des Artikelsystems reinterpretiert werden. Das bedeutet aber, pränominale Genitive werden seit dem 16. Jh. nicht mehr als Komplemente, sondern als Spezifikatoren des Kopfhomens aufgefasst. Dafür sprechen auch die folgenden frnhd. Daten, bei denen der pränominale Genitiv einem lokalen Modifikator und dem Kopfnomen vorausgeht: (68) a. b.

15

deß Hertzogen von Saphoy vnd Cardinal Aldebrandino alda ankunffi auß der Marggraffschafft Saluzo (R 146.16) etliche von deß Stifts allhie Capitularen (R 153.8)

Sie sind keine SIGNS, wie noch in Pollard & Sag (1987) angenommen.

Die Analyse

243

Unter der Annahme, dass lokale Modifikatoren an N' linksadjungiert werden können, unterstützen die historischen Fakten in (68) eine Spezifikatoranalyse des pränominalen Genitivs, da Belege, in denen der lokale Modifikator dem Genitiv vorausgeht, meines Wissens nicht vorkommen. Im Einzelnen wird in Anlehnung an Pollard & Sag (1994:53) die Genitivmorphologie als ein ungesättigtes Artikelwort analysiert, das eine nicht-pronominale Nominalphrase subkategorisiert. Der Lexikoneintrag für das s-Suffix sieht in diesem Fall aus wie in (69).16 (69) PHON

ρ CAT

HEAD det SPECN': INDEX [1] RESTR [2] COMPS

SYNSEM|LOC

DET the CONTENT RESTIND

INDEX 3] RELN poss RESTR POSSESSOR^] •u[2] [POSSESSED[l],

In (69) erhält das s-Suffix das für Artikelwörter erwartete Kopfmerkmal SPEC. Im Unterschied zu anderen Artikelwörtern ist seine Komplement-Liste nicht leer, sondern enthält eine nicht-pronominale Nominalphrase. Deren INDEX-Wert erscheint dann als INDEX-Wert auch

16

Pollard & Sag (1994) gehen in ihrer Analyse der Artikelwörter davon aus, dass sowohl Artikelwörter wie every als auch possessive Phrasen wie her und Mary 's im Sinne der Montague-Semantik als Quantoren zu repräsentieren sind. Infolgedessen wird filr die lexikalische Repräsentation von Artikelwörtern das Attribut QSTORE eingeführt, das auf Coopers (1983) Speichermechanismus von Quantoren basiert, dessen Ziel es ist, die bei multiplen Quantoren auftretenden Skopusambiguitäten erfassen zu können. In der hier zu Grunde gelegten Interpretation von Artikelwörtern werden diese nicht als Quantoren aufgefasst, weshalb auf das Merkmal QSTORE in der Repräsentation verzichtet werden kann.

Attributive Genitivphrasen

244

des 5-Suffixes, eingeschränkt durch die Menge der Restriktionen, die das Kopfnomen selbst beisteuert ([2]) und denjenigen, welche die zweistellige possessive Relation liefert. Den SYNSEM-Wert für das nicht-pronominale NP-Komplement zeigt (70): (70)

PHON CAT SYNSEM|LOC

HEAD noun COMPSo

CONTENT «pro[INDEX [3]]

CONTEXT|BACKGR

RELN naming BEARER [3] LNAME Lotta

Insgesamt lässt sich die Repräsentation des pränominalen Genitivs Lottos dann darstellen wie in (71). (71) PHON

CAT

HEAD det SPEC Ν': INDEX [1] RESTR [2] COMPSo DET the

SYNSEMILOC CONTENT

RESTIND

CONTEXT|BACKGR

INDEX [3] RELN poss 11 RESTR | POSSESSOR^] r u [2] POSSESSED[l]Jj RELN naming BEARER [3] NAME Lotta .

Diese Analyse erfasst zum einen die Artikelhaftigkeit von pränominalen Genitiven im Frnhd., zum anderen wird sie dem phrasalen Status des pränominalen Genitivs gerecht: Ersteres wird durch das SPEC-

Die Analyse

245

Merkmal ausgedrückt, das der Genitiv mit anderen funktionalen Kategorien, also den Artikelwörtern oder auch den Komplementierern teilt. Dieses Kopfmerkmal wird durch das Head Feature Principle an den pränominalen Genitiv vererbt. Mittels des SPEC-Merkmals selegiert der pränominale Genitiv die nominale Schwesterkonstituente. Letzteres wird durch das NP-Komplement des ungesättigten Artikelworts zum Ausdruck gebracht. Auch wenn aus Gründen der Übersichtlichkeit die Analyse in (69) bis (71) am Beispiel eines Eigennamens vorgeführt wird, lassen sich auch erweiterte pränominale Genitive auf der Grundlage dieser Analyse erfassen. Einschlägige Beispiele, die pränominale Genitive mit adjektivischen (72a) und präpositionalen Attributen (72b) sowie Relativsätzen (72c) aus diesem Stadium der Geschichte des Genitivs zeigen, werden hier wiederholt: (72) a. b. c.

Dieser meyger hat [[des edlen künigs] wapen] an sich genummen (HS 284.11) [[deß Vvaivoda [ in Siebenbürgen]] Bottschafft] (R 146.38) Dieser Tagen seyn allhie [[der Evangel. Fürsten vnnd Städt/ [ c p so zu Schwäbischen Hall jüngst beysamen gewest/]] Abgesandte] alher komen

(A 170.26)

In diesem Stadium seiner Geschichte ist der pränominale Genitiv des Deutschen der entsprechenden Konstruktion im Englischen am nächsten: Auch im heutigen Englischen erscheinen Eigennamen und belebte Individualnomen pränominal, während unbelebte Individualnomen ausgeschlossen sind. (73) a. Lotta's books b. the professor's knowledge c. ^chemistry's knowledge

Wie im Frnhd. erscheinen im heutigen Englischen linke und rechte Erweiterungen: (74) a. b.

an old man's book the man with the whistle's book

Attributive Genitivphrasen

246

Eine charakteristische Eigenschaft des pränominalen Genitivs im Gegenwartsenglischen ist dabei die Position des s-Suffixes: Anders als ein Flexionssuffix erscheint das Suffix nicht köpf- sondern phrasenfinal, wie in (74b) zu sehen ist. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Frnhd. vom heutigen Englischen: Es sind zwar pränominale Genitive belegt, deren präpositionales Attribut im Unterschied zum Gegenwartsdeutschen ein s-Suffix trägt; dieses ist jedoch ausschließlich als Reflex von Genitivmorphologie am Kopfhomen belegt. Außerdem ist es auf solche Nominalphrasen beschränkt, in denen die Präpositionalphrase als Teil eines Eigennamens interpretiert werden kann. Allein oder an der rechten Peripherie von Relativsätzen wie im Englischen tritt es nicht auf, vgl. dazu (72c). (75)

a. b. c.

[[des künigs von franckrichs] rath] Asselin [[des hertzogen von burguns] sun] [[ViceKo:enigs zu Neapels] Sohn] von Meerräubern gefangen

(HS 192.20) (HS 295.6) (MR 111.26)

Grammatiken des Ae. zufolge (Quirk & Wrenn 1955:89; Weimann 1982:132) erscheint auch hier der attributive Genitiv vorwiegend pränominal, wie die Beispiele in (76) dokumentieren sollen: (76)

a.

b.

and Jjast he is soölice |)aes aelmihtegan godes sunu und dass er ist wahrhaftig dieses allmächtigen Gottes Sohn (/EC Horn 1,12 190.33) Witodlice swa swa Ionas w a s on ]jaes hwaeles innojje t>ry dagas tatsächlich, so wie Jonas war in des Wales Leib drei Tage (Mt (WSCp) 12.40)

Verglichen mit dem heutigen Englischen hat sich im Verlauf der englischen Sprachgeschichte vermutlich ein dem Deutschen ähnlicher Wandel vollzogen: Pränominale Genitive werden als Teil der Artikelmarkierung reinterpretiert, und attributive Nominalphrasen werden in der Folge nachgestellt. Der entscheidende Unterschied zum Deutschen liegt hier in der obligatorischen Einfügung der Präposition of.17 Postnominale Komplemente erhalten ihren Kasus allein durch die Ver17

Präpositionalphrasen erscheinen im Englischen wie im Deutschen (of respektive von). Moss6 (1979:90) schreibt die rasche Zunahme von Präpositionalphrasen auf Kosten von attributiven Genitiven im Englischen französischem Einfluss zu.

Die Analyse

247

mittlung der grammatikalisierten Präposition. Die gemeinsamen Eigenschaften von pränominalen Genitiven im Frnhd. und Gegenwartsenglischen legen es nahe, auch die pränominalen Genitive des heutigen Englischen (in der Literatur im Allgemeinen als Possessivphrasen bezeichnet) im Sinne des oben vorgestellten Vorschlags zu analysieren. Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Es sei daran erinnert, dass im Frnhd. die Relation zwischen Artikelwort und Kopfnomen uminterpretiert wird. Dieser Wandel hat Konsequenzen für die Genese des Possessivpronomens, das, wie in Kapitel 3 demonstriert, von einem possessiven Adjektiv zu einem Possessivartikel reanalysiert wird. Es liegt meiner Ansicht nach nahe, auch den Wandel in Bezug auf den attributiven Genitiv in diesen Zusammenhang zu stellen und anzunehmen, dass sowohl das Possessivpronomen als auch der pränominale Genitiv als Teil des Artikelsystems reanalysiert werden. Für diese Hypothese sprechen gute Gründe, insofern als genau diejenigen pränominalen Genitivattribute reanalysiert werden, deren inhaltliche Beziehung zum Kopfnomen auch durch ein Possessivpronomen ausgedrückt werden kann: Dazu gehören der genitivus possessivus, genitivus subjectivus und genitivus objectivus. Genitive, die aufgrund ihrer inhaltlichen Beziehung zum Kopfnomen nicht durch ein Possessivpronomen ersetzt werden können, wie der genitivus qualitatis, der genitivus explicativus und der genitivus definitivus, werden in der Folge nachgestellt, vgl. (77). (77) a. b. c. d. e. f.

Lottas Datsche Albertas Vermutung Pauls Ernennung ein Mann der Vernunft die Möglichkeit der Entspannung das Laster der Trunksucht

So findet der bis dahin unerklärte Stellungswandel des attributiven Genitivs im Kontext der diachronischen Veränderungen, denen das Artikelsystem des Deutschen unterworfen ist, eine natürliche Erklärung: Die Mehrzahl der unbelebten Individualnomina wird nachgestellt, weil sie nicht als eine possessive Relation im weiteren Sinne

248

Attributive Genitivphrasen

interpretierbar ist. Unbelebte Individualnomina sind zwar als Objekte deverbaler Nomina in der pränominalen Position zugelassen, sind aber im Frnhd. eher selten belegt. Auch die von Seils (1985:156) beobachtete semantische Einschränkung possessiver Phrasen im heutigen Englischen lassen sich vor diesem Hintergrund erklären und nicht, wie Seils vermutet, auf die Agentivität des Genitivs zurückfuhren.18 Wenden wir uns nun dem dritten Stadium in der Geschichte des Genitivs zu, das sich durch einen weiteren Stellungswandel gegenüber dem vorherigen Stadium auszeichnet: Seit dem 18. Jh. finden sich vor allem Eigennamen in der pränominalen Position, auch belebte Individualnomen werden nun nachgestellt. Meiner Ansicht nach lässt sich diese Entwicklung als die Fortschreibung der sich bis dahin vollzogenen Veränderungen interpretieren, insofern sich die pränominalen Genitive den Possessivpronomina weiter annähern: Der phrasale genitivische Spezifikator wird als Artikelwort interpretiert mit der Folge, dass linke und rechte Erweiterungen des pränominalen Genitivs nicht mehr möglich sind. Bezogen auf die für den pränominalen Genitiv des Frnhd. vorgeschlagene Analyse in (71), bedeutet die neuerliche Reanalyse des pränominalen Genitivs, dass nicht allein die Genitivmorphologie, sondern der pränominale Genitiv insgesamt als Artikelwort interpretiert wird." Der pränominale Genitiv im Gegenwartsdeutschen lässt sich repräsentieren wie in der Merkmalsmatrix unter (78) dargestellt:

18

19

Es ist meines Wissens ungeklärt, seit wann temporale Ausdrücke als pränominale Genitive auftreten können, vgl. yesterday 's newspaper, two years 'pay etc. Longobardi (m.K.) verweist auf den bestehenden Grammatikalitätskontrast zwischen diese meine Bücher vs. * diese Lottos BUcher. Er schlägt deshalb vor, pränominale Genitive im Deutschen als phrasale Elemente zu analysieren, die auf LF nach N° bewegt werden. Wie die historischen Daten jedoch gezeigt haben, treten sowohl Possessivpronomina als auch pränominale Genitive im Ahd. und Mhd. produktiv in Verbindung mit Demonstrativpronomina auf. Beide verlieren diese Eigenschaft im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte gemeinsam mit anderen adjektivtypischen respektive phrasentypischen Eigenschaften.

Die Analyse

249

(78) PHON CAT

HEAD det SPEC N': [INDEX [1] [RESTR [2]i COMPS

ο

DET the

SYNSEM|LOC CONTENT

RESTIND

Lottos ist ein Artikelwort, zu dessen Kopfmerkmalen wie bei allen funktionalen Kategorien ein SPEC-Merkmal gehört. Wie in Kapitel 2 ausgeführt, ist es durch das SPEC-Merkmal möglich, die Verteilung der adjektivischen Flexionstypen zu steuern. Dass auch der pränominale Genitiv im Deutschen den Flexionstyp eines nachfolgenden Adjektivs festlegt, zeigen die Beispiele in (79). (79) a. b.

Truffauts letzter Film auf Ottos neuer Platte

Trotz eines Definitheitsmarkierers erscheint in beiden Fällen die starke Adjektivflexion. Das ist genau dann zu erwarten, wenn angenommen wird, dass die Distribution der adjektivischen Flexionstypen morphologisch gesteuert wird, insofern als die starke Adjektivflexion erscheint, wenn die grammatischen Merkmale am Artikelwort selbst nicht realisiert werden. Diese Distribution wird über den Lexikoneintrag des jeweiligen Artikelworts geregelt (vgl. Kapitel 2). Neben den unflektierten Artikelwörtern wie ein, kein, welch, solch und den entsprechenden Formen der Possessivpronomina gehört dazu offensichtlich auch der pränominale Genitiv. Damit unterscheidet sich diese Analyse von Vorschlägen wie Olsen (1991) und Vater (1993), die da-

Attributive Genitivphrasen

250

von ausgehen, dass das s-Suffix nicht nur Träger des abstrakten Merkmals POSS, sondern auch der grammatischen Merkmale ist. Wenn aber die grammatischen Merkmale bereits durch das s-Suffix ausgedrückt werden, weshalb treten dann nach pränominalen Genitiven stark flektierte Adjektive auf? Weil das ί-Suffix einen anderen Status hat als die Flexionssufixe des Possessivartikels, der sich in Bezug auf die Steuerung der Adjektivflexion auch anders verhält, wie in (80) zu sehen: (80)

a. b.

sein letztes^ Hemd in seinem neuen^ Film

Nur wenn das Possessivpronomen keine Flexionsendung aufweist wie in (80a), erscheint die starke, andernfalls die schwache Adjektivflexion (80b). Die COMPS-Liste des pränominalen Genitivs entspricht im Gegenwartsdeutschen obligatorisch der leeren Liste, denn pränominale Genitive sind im heutigen Deutschen nicht durch einen zweiten Genitiv erweiterbar. Ebenso ist auszuschließen, dass ein pränominaler Genitiv durch Modifikatoren in Form von Adjektiven, Präpositionalphrasen oder Relativsätzen erweitert wird, eine Eigenschaft, die der pränominale Genitiv mit anderen funktionalen Elementen teilt. Wie diese Eigenschaft in den Lexikoneinträgen von funktionalen Kategorien zu verankern ist, soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Es sei indes nochmalig betont, dass der pränominale Genitiv im Frnhd. diese Eigenschaft nicht aufweist und in dieser Hinsicht den entsprechenden Konstruktionen in anderen germanischen Sprachen vergleichbar ist. Ein weiteres Argument für die Reanalyse maximaler genitivisch markierter Phrasen liefern die folgenden Daten: Im Frnhd. findet sich die Koordination pränominaler Genitive, die im heutigen Deutschen zumindest markiert, wenn nicht ungrammatisch ist, vorausgesetzt, es handelt sich bei dem gesuchten Objekt um eine und nicht um drei Entitäten. (81)

a.

Auß Florentz hat man Confirmation [[desselben Großhertzogen/ auch des Ertzbischoffs von Auignona vnnd Bischoffs di Pessare] ableiben]

Die Analyse

251 (R 39.31)

b. ?Lotta sucht Konstantins, Frederiks und Benedikts Haus.

Auch andere Artikelwörter lassen sich nicht koordinieren: (82)

Mieses, solches und das Haus

Die Reanalyse pränominaler Genitive beschränkt sich auf Eigennamen und Verwandtschaftsbezeichnungen, weil diese inhärent eindeutig sein können. Und Eindeutigkeit ist, wie in Kapitel 2 ausfuhrlich dargestellt, ein Teil der Bedeutung des bestimmten Artikels. Individualnomen dagegen repräsentieren im Allgemeinen sortale Konzepte, die erst durch den bestimmten Artikel als funktionale Konzepte kenntlich gemacht werden. Demzufolge wird die Reanalyse von Eigennamen und eigennamenähnlichen Verwandtschaftsbezeichnungen nur dadurch möglich, weil sie wie Possessivpronomina selbst funktionale Konzepte repräsentieren und aus diesem Grund ohne Artikelwort erscheinen. Wenn der sprachliche Kontext eine solche Interpretation des Eigennamens ausschließt, erscheinen auch Eigennamen in postnominaler Position, wie in (83), wo ein adjektivisches Attribut dazu beiträgt, dass sich der Eigenname nicht auf die Person des Malers Dürer selbst bezieht, sondern auf ein bestimmtes Zeitintervall in seinem Leben.20 (83)

a. *des jungen Dtlrer(s) Bildnis von Hans Sachs b. ein Bildnis des jungen Dürer von Hans Sachs

Damit kann die vorgeschlagene Analyse die Fragwürdigkeit von Beispielen wie (84) erklären, in denen ein Individualnomen als pränominaler Genitiv erscheint: Nach der Reanalyse wird der pränominale Genitiv als ein Artikelwort verstanden, das wie andere Artikelwörter auch keine phrasalen Eigenschaften mehr aufweist. Beispiele wie (84) stellen folglich im heutigen Deutschen Restformen aus der Geschichte des attributiven Genitivs dar. Laut Olsen (1991:49) sind dabei solche Konstruktionen weniger markiert, deren pränominaler Genitiv durch ein sSuffix markiert ist, als solche, die eine andere Genitivmarkierung tra20

Und damit repräsentiert der Eigenname hier auch kein funktionales, sondern ein sortales Konzept.

252

Attributive Genitivphrasen

gen, vgl. (84a) vs. (84b). Stilistisch markierte Beispiele dieser Konstruktion stellen keine Gegenbeispiele dar, vgl. (85a) aus Haider (1992) sowie (85b), den deutschen Titel eines Buches von Salman Rushdie. (84) a. ?des Königs Krone b. ?des Studenten Antrag (85) a. b.

des Teufels General des Mauren letzter Seufzer

Die Interpretation der diachronischen Veränderungen in Bezug auf den attributiven Genitiv impliziert die Abspaltung der pränominalen genitivischen Formen von den genitivischen Attributen. Während letztere im heutigen Deutschen dem Nomen folgen, haben sich die pränominalen Formen zu possessiven Artikelwörtern entwickelt. Neben den bereits mehrfach angesprochenen syntaktischen und semantischen Unterschieden zwischen den prä- und postnominalen Formen lassen sich auch morphologische Unterschiede zwischen beiden Elementen beobachten, die es über das bisher Gesagte hinaus nahe legen, im Hinblick auf die pränominalen Formen eher von Possessiv- als von Genitivmorphologie zu sprechen. So ist es im Gegenwartsdeutschen der Fall, dass Genitivkasus durch folgende morphologische Mittel angezeigt wird: -(e)s, -(e)«, -{e)ns bzw. durch das Fehlen jeglicher overten Markierung. Pränominale Nominalphrasen weisen jedoch allein das s-Suffix auf, dessen Erscheinen nicht auf maskuline Eigennamen beschränkt ist, sondern auch bei femininen Eigennamen auftritt. (86) a. b.

Pauls/Peters Auffassung Lottas/Großmutters Einstellung

Die Tatsache, dass wir in der pränominalen Position nur eins von vier möglichen Suffixen finden, um den Genitiv zu markieren, liefert guten Grund zu der Annahme, dass die Morphologie in der pränominalen Position keine Instantiierung von Genitivkasus darstellt, sondern ein lexikalisch markiertes possessives Affix ist. Dafür spricht auch, dass Eigennamen in pränominaler Position immer das s-, niemals das es-

Die Analyse

253

Suffix aufweisen, während die Verteilung dieser beiden Flexionssuffixe in der postnominalen Position prosodisch determiniert ist: -s ist auf Nomen mit zwei und mehr Silben beschränkt, deren letzte Silbe unbetont ist; und -es erscheint bei Nomina mit einer Silbe. Die Gegenüberstellung in (87) und (88) zeigt die Distribution der beiden Flexionssuffixe für Individualnomen und Eigennamen. Bei Eigennamen erscheint auch bei Einsilbern immer das -s-Suffix (88b). (87) a. b.

Lehrer - Lehrers, Märchen - Märchens, Schicksal - Schicksals Freund - Freundes, Kampf - Kampfes, Mann - Mannes, Tag - Tages

(88) a. b.

Stefan - Stefans, Nicola - Nicolas, Konstantin - Konstantins Ralf - Ralfs, Sue - Sues, Dirk - Dirks, Frank - Franks

Und Eigennamen mit s-Suffix erscheinen meines Erachtens nur pränominal; wenn sie dem Kopfhomen folgen, wird die genitivische Form durch eine Präpositionalphrase ersetzt. (89) a. b. c.

die erste Ausstellung *Lotta Wottkes/ von Lotta Wottke das Saxofon *Großmutters/ von Großmutter der letzte Film *Mastroiannis/ von Mastroianni

Eine genitivische Phrase ist postnominal nur dann möglich, wenn ein kasusmarkiertes Element wie der definite Artikel und/oder ein adjektivisches Attribut präsent ist, andernfalls ist die Wortstellung nicht wohlgeformt, vgl. (90c). (90) a. Lotta Wottkes erste Ausstellung b. die erste Ausstellung der Lotta Wottke c. *die erste Ausstellung Lotta Wottkes d. *die erste Ausstellung Lotta Wottke

Diese Bedingung gilt aber, wie Gallmann (1995) und andere vor ihm (Eisenberg 1986; Haider 1992) gezeigt haben, ganz allgemein fur die Realisierung von Genitivkasus, vgl. (91a) vs. (91b). Und wie (91c) zeigt, muss Genitivkasus realisiert werden. (91) a. die Verarbeitung dieses/tropischen Holzes b. *die Verarbeitung Holzes c. *die Verarbeitung Holz

254

Attributive Genitivphrasen

Damit aber verhält sich allein das postnominale Genitivattribut wie vorausgesagt, denn die fragliche Bedingung gilt nicht für das Auftreten des pränominalen s-Sufflxes - das, wie ausfuhrlich gezeigt, gar keine linken Erweiterungen haben darf. Damit aber liefern die Daten unter (90) und (91) ein weiteres entscheidendes Argument dafür, auch im Deutschen zwischen Possessivmarkierung und Genitivmorphologie zu unterscheiden. Insgesamt sprechen folglich syntaktische, semantische und morphologische Eigenschaften prä- und postnominaler Genitive im heutigen Deutschen dafür, eine Unterscheidung in postnominale Genitivattribute und pränominale Possessivmarker vorzunehmen. Der Blick auf die historischen Daten hat gezeigt, dass diese Trennung etwa im Ahd. noch nicht bestanden hat. Ihre Herausbildung im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte steht vielmehr in engem Zusammenhang mit diachronischen Veränderungen im deutschen Artikelsystem. Eine solche Interpretation der diachronen und synchronen Daten kann zum einen den diachronen Befund des Stellungswandels erklären, die bisherige Untersuchungen zum Genitivattribut schuldig geblieben sind. Sie kann zum anderen die synchron vielfach beobachtete Ungrammatikalität von rechten Erweiterungen pränominaler Genitive erklären: Pränominale Genitive sind im Gegenwartsdeutschen keiner Adjazenzrestriktion unterworfen, sondern haben anders als in früheren Sprachstufen des Deutschen keinen phrasalen Status mehr. Als kopfahnliche Marker verbieten sie sowohl linke als auch rechte Erweiterungen. Außerdem zeichnet sich dieser Vorschlag dadurch aus, dass er die sprachintern und sprachextern differierenden Eigenschaften genitivischer Formen besser erfasst: Die syntaktischen und semantischen Unterschiede zwischen prä- und postnominal realisierten genitivischen Formen im heutigen Deutschen werden mittels des unterschiedlichen Status erfasst, den diese Genitive in der jeweiligen Nominalphrase haben: Postnominale Genitive sind maximale Projektionen, die als Komplemente Genitivkasus von ihrem nominalen Kopf erhalten. Pränominale Genitivformen wiederum tragen ein possessives Affix, das sich mittels einer lexi-

255

Die Analyse

kaiischen Regel in erster Linie mit Eigennamen verbindet. Die Verbindung prä- und postnominaler Genitivformen durch Umstellungsbeziehungen verbietet sich im Rahmen dieser Analyse. Schließlich reflektieren die Unterschiede zwischen dem heutigen Deutschen auf der einen und dem Gegenwartsenglischen auf der anderen Seite die historischen Veränderungen, denen die Position des pränominalen Genitivs im Deutschen seit dem 18. Jh. ausgesetzt ist. Die Verhältnisse im heutigen Englischen gleichen dagegen mit gewissen Einschränkungen dem frnhd. Stand. Weshalb sich hier das Deutsche im Vergleich zum Englischen weiter zu entwickelen scheint, muss an dieser Stelle offen bleiben. 4.3.3 Attributive Genitive in den skandinavischen Sprachen Ein kurzer Blick auf die skandinavischen Daten soll zeigen, wie sich diese germanischen Sprachen im Hinblick auf den attributiven Genitiv verhalten. Ist hier eine größere Nähe zum Deutschen oder Englischen zu beobachten, und lassen sich Unterschiede zwischen festlandskandinavischen und inselskandinavischen Sprachen festhalten, wie das in Bezug auf die Possessivpronomina der Fall gewesen ist? Im Isländischen folgt der attributive Genitiv unabhängig von seiner Bedeutung dem Kopfnomen. (92)

a.

Allar Kessar Jjrjär nyju kenningar Jöns alle diese drei neuen Theorien Johns b. * Allar Jöns |)rjär nyju kenningar c. Fyrirlestur mälfraöingsins Vorlesung des Linguisten d. *Mälfraeöingsins fyrirlestur

(Isländisch)

Die im Deutschen alternative Realisierung der postnominalen Genitivdurch eine Präpositionalphrase ist im Isländischen ausgeschlossen: (93)

*Fyrirlestur(inn) af mälfraeöingnum Vorlesung-DEF von dem Linguisten

(Isländisch)

Der attributive Genitiv erscheint im Isländischen in Verbindung mit dem Definitheitssuffix, wenn das Kopfnomen ein sortales Konzept

Attributive Genitivphrasen

256

repräsentiert (94a), andernfalls fehlt das Definitheitssuffix, vgl. (94b) und (94c). (94) a. b. c.

penn-inn hans Jöns Füller-DEF sein Johns brööir (hans) Jöns Bruder (sein) Johns skoöun Jöns Ansicht Johns

(Isländisch)

Die Daten in (94) sind so zu interpretieren, dass der suffigierte Artikel im Isländischen nur bei pragmatischen Definita wie in (94a) auftritt. Bei semanischen Definita wie in (94b) und (94c) fehlt dagegen das Definitheitssuffix. Adjektive folgen in Verbindung mit attributiven Genitiven der schwache Adjektivflexion, wie der Grammatikalitätskontrast in (94) zeigt. Ein solcher Befund ist zu erwarten, weil die adjektivischen Flexionstypen in den skandinavischen Sprachen wie im Ahd. die (In-) Defmitheit einer Nominalphrase anzeigen. (95) a.

rauö-i hestur-inn hans Pals rotes-MASK.WK Pferd-DEF sein Pauls 'Pauls rotes Pferd' b. *rauö-ur hestur-inn hans Pals rotes-MASK.ST Pferd-DEF sein Pauls 'Pauls rotes Pferd'

(Isländisch; Einarsson 1945:117)

Meiner Ansicht nach sprechen die Daten in (92) bis (95) dafür, dass attributive Genitive im Isländischen postnominal auftretende Komplemente des Nomens sind. Wie bereits bei den Possessivpronomina gibt es auch im Fall der genitivischen Attribute keinen Grund anzunehmen, dass sie als Teile des Artikelsystems reanalysiert werden. In seiner Analyse hebt argumentiert Sigurösson (1993) für eine derivationelle Beschreibung nominaler Phrasen im Isländischen. Seiner Ansicht nach geht in der zu Grunde liegenden Abfolge das genitivische Attribut dem Kopfhomen voraus. Um die Standardabfolge Kopfhomen vor Genitivattribut abzuleiten, plädiert er dafür, das Kopfhomen aus seiner Positon heraus und in einen funktionalen Kopf K° zu bewegen, während der pränominal generierte Genitiv in der Spezifikator-Position

Die Analyse

257

der NP verbleibt. Das Nomen gehe nach K, um dort seinen Kasus zu überprüfen. Den Unterschied zwischen dem Deutschen und Isländischen in Bezug auf die Position des possessiven Genitivs erklärt Sigurösson damit, dass der funktionale Kopf K° im Isländischen mit starken, im Deutschen aber mit schwachen Merkmalen ausgestattet sein soll.21 Deshalb steht nach Sigurösson der possessive Genitiv im Deutschen anders als im Isländischen immer pränominal. Bereits ein genauer Vergleich mit den deutschen Fakten zeigt (s. die vorausgehende Diskussion zu diesem Punkt), dass der Unterschied zwischen dem pränominalen Genitiv des Deutschen und dem postnominalen Genitiv des Isländischen nicht auf einen topologischen Unterschied zu reduzieren ist. Der attributive Genitiv des Isländischen verhält sich vielmehr wie der postnominale Genitiv des Gegenwartsdeutschen Im Schwedischen dagegen geht der attributive Genitiv seinem Kopfnomen wie im Deutschen und Englischen voran, wie (96) illustriert. (96) a. b.

Svenssons ny-a bil Svenssons neues-WK Auto pojkarnas gaml-a mormor des Jungen alte-WK Großmutter

(Schwedisch)

Anders als im Deutschen, aber wie im Englischen stehen pränominal genitivische Phrasen, die Eigennamen sowie belebte Individualnomina umfassen.22 Am Kopfnomen tritt auch bei sortalen Nomen kein Definitheitssuffix auf. Wie die Beispiele in (96) obendrein zeigen, werden Adjektive in Verbindung mit attributiven Genitiven schwach flektiert, d.h. sie zeigen die Definitheit der Nominalphrase an. Wenn ein Name eine Erweiterung in Form einer Präpositionalphrase oder Nominalphrase einschließt, wird das 5-Suffix an das Ende des Namens angehängt. Die Beispiele sind Holmes & Hinchliffe (1994) entnommen.

21

22

Sprachspezifisch handelt es sich folglich entweder um overte Bewegung wie im Isländischen oder um LF-Bewegung wie etwa dem Deutschen. Anscheinend können im Schwedischen pränominal auch unbelebte Individualnomina auftreten: bilens nya däck 'neue Autoreifen'

258 (97)

Attributive Genitivphrasen

a. b. c.

Bo Jansson-s far Bo Jansson-GEN Vater Kungen av Danmark-s bröstkarameller König-DEF von Dänemark-GEN Hustenbonbons Karl den store-s rike Karl des Großen-GEN Königreich

(Schwedisch)

Die schwedischen Daten in (96) und (97) gemeinsam mit der Beobachtung, dass Possessivpronomina im Schwedischen offensichtlich auch als Possessivartikel reanalysiert werden (s. Kapitel 3), führen zu der Schlussfolgerung, dass der pränominale Genitiv des Schwedischen wie im Deutschen und Englischen als Teil des Artikelsystems reinterpretiert worden ist.23 Wie im Englischen (und im Frnhd.) ist der pränominale Genitiv des heutigen Schwedisch eine maximale Phrase, deren s-Suffix als ungesättigter Artikel ein NP-Komplement selegiert (vgl. die Analyse auf S. 244). Im Schwedischen gehen jedoch auch partitive Genitive dem Bezugsnomen voran, wie (98) demonstriert. Bei solchen Genitiven weist das attributive Adjektiv die starke Adjektivflexion auf. Ich deute diesen Befund so, dass partitive Genitive - trotz ihrer pränominalen Position - im Schwedischen nicht als Spezifikatoren reanalysiert werden, sondern Komplemente bleiben. (98)

a. b.

tre timmar-s mödosam-0 vandring drei Stunden-GEN mühsame-ST Wanderung ett trettiminuter-s läng-t program ein 30-Minuten-GEN langes-ST Programm

(Schwedisch)

4.3.4 Zum possessiven Dativ Viel häufiger als der Genitiv wird im Indoeuropäischen der Dativ mit dem Kasus zum Ausdruck possessiver Relationen assoziiert. Das gilt

23

Zu erklären bleibt, weshalb im Nordschwedischen der von Homberg (1987:12f.) beobachtete Kontrast besteht, d.h. dass pränominale Genitive anders als Possessivpronomina mit einem durch das Definitheitssuffix markierten Nomen kombiniert werden können. (i) huset-s taket 'Haus.DEF Dach.DEF' (ii) *min boken 'mein Buch.DEF'

Die Analyse

259

zum einen für den prädikativen Dativ, der sich unter anderem im Ahd., Lateinischen und Russischen findet.24 (99) a.

b.

c.

bithiu uuanta im ni uuas ander stat in themo gasthuse weil ihm war kein anderer Ort in dieser Herberge 'weil es für ihn keinen anderen Ort in dieser Herberge gab' mihi liber est mir das Buch ist 'das Buch gehört mir' u menja (est) kniga zu mir (ist) das Buch 'mir gehört das Buch'

(T 5.13)

(Lateinisch)

(Russisch)

Bei den possessiven Dativen lassen sich die externen von den internen Dativen unterscheiden.25 Externe possessive Dative (auch Pertinenzdativ) liegen vor, wenn der possessive Dativ vom Verb abhängig ist, wie in (100) dokumentiert. Es spielt dabei keine Rolle, ob die NP, zu der der Dativ in einer possessiven Relation steht, Subjekt, Objekt oder Adjunkt ist. (100) a. b. c.

Dem Kind schmerzt der Kopf. Der Arzt untersuchte dem Kranken den Magen. Er sieht ihr in die Augen.

Von den Konstruktionen in (100) ist der interne possessive Dativ zu unterscheiden, der im Deutschen zwar nicht in der Standardsprache, aber umgangssprachlich belegt ist (vgl. Henn-Memmesheimer 1986). In diesen Konstruktionen ist der possessive Dativ nicht von einem Verb, sondern vom Kopfnomen abhängig. (101)

Dem Großvater seine Pfeife liegt auf dem Tisch.

Während die externen possessiven Dative bereits für das Ahd. belegt sind, erscheinen die internen possessiven Dative nach Ebert (1986:91) erst im Verlauf des Frnhd. Belege aus der deutschen Sprachgeschichte für beide Dativ-Konstruktionen finden sich unter (102) und (103).26 24 25

26

Das lateinische wie das russische Beispiel stammen aus Ramat (1986:583). Vgl. Vergnaud & Zubizaretta (1992) für eine entsprechende Unterscheidung im Französischen. Die Belege (102a,b) sind Ramat (1986:582) entnommen. Für die internen possessiven Konstruktionen finden sich bei Behaghel (1923:638f.) frühere Belege wie

Attributive Genitivphrasen

260 (102) a.

b. c. (103) a. b. c.

du uuart [demo Balderes uolon] [sin uuoz] birenkit da ward dem Balders Fohlen sein Fuß verrenkt (2. Merseburger Zauberspruch) und jhener (...) sante yemer [dem konig] [synritter]wiedder (PL 470.13) daz [dem almehtigen gote] [sin eigener kneht] ungehorsam wart (BvR 22.3) wie Ulenspiegel [einem Frantzosem seinem Pferd] den schwantz usz zoch (Eulenspiegel 101.7) Es was einer under disen meisteren, der wolt [einem burger sein sun] das schererhandtwerck leeren (RB 116.15) Also bescheiß diser tro:ester [der beürin ir bet] (RB 115.6)

Beispiele wie (102a), die Bhatt (1990) unter Berufung auf Ramat (1986) anführt, um zu zeigen, dass von einem Nomen abhängige Dativphrasen bereits im Ahd. auftreten, sind meines Erachtens nicht als frühe Belege für Konstruktionen wie (101) zu verstehen, sondern gehören trotz der Adjazenz von possessivem Dativ und Possessivpronomen zu den externen possessiven Dativen. Dafür spricht vor allem, dass Nominalphrasen von solcher Komplexität vollkommen untypisch für die Texte des Ahd. wären. Erst mit dem Frnhd. entwickeln sich zunehmend komplexere nominale Strukturen (dazu Weber 1971). Nach Ebert (1986:91) stellen die im Frnhd. aufkommenden internen possessiven Dative eine weitere Ersatzform für den adnominalen Genitiv dar, dessen Rückgang ebenso wie der des verbalen Genitivs auf den Abbau der Nominalmorphologie im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte zurückgeführt wird (Behaghel 1923:534ff.; Ebert (1986:91). Das Auftreten des possessiven Dativs ist laut Ebert auf Quellen beschränkt, die dem Mündlichen nahe stehen. Es stellt sich jedoch die Frage, weshalb die Ausbreitung dieser Formen gerade seit dem 14./15. Jh. zu beobachten ist. Meiner Ansicht nach liegt der Zusammenhang mit der Geschichte des attributiven Genitivs auf der Hand: Ende des 15. Jh.s ist das erste Stadium dieser Geschichte beendet, insofern die Relation zwischen einer pränominalen NP und dem Kopfhomen immer possessiv interpretiert wird. Attributive Nominalphrasen im Genitiv,

meynthen deme riche syme slosze den bue und befestenunge abezunemene (1377: Friedberger Urkundenbuch).

Die Analyse

261

die eine solche Interpretation ausschließen, erscheinen seit dem 15. Jh. postnominal. Bedingt durch diese Reinterpretation pränominaler Nominalphrasen werden externe possessive Dative, die adjazent zu derjenigen NP auftreten, zu der sie in einer possessiven Relation stehen, als Teil dieser NP umgedeutet. Wie das Beispiel (102a) zeigt, lassen sich Adjazenz der beiden Nominalphrasen sowie das Possessivpronomen bereits im Ahd. belegen; erst mit den Veränderungen im Artikelsystem der NP aber erfolgt die strukturelle Reinterpretation des possessiven Dativs als vom Nomen und nicht vom Verb abhängig. Zwischen der dativischen NP und dem jeweiligen Kopfnomen besteht nach der Umstrukturierung eine Prädikationsbeziehung analog der possessiven Relation, die in Beispielen wie (98) explizit durch das Auxiliarverb sein ausgedrückt wird. In Ramat (1986:586) werden andere Sprachen aufgeführt, in denen die Possessivrelation allein durch Adjazenz der entsprechenden Nominalphrasen zum Ausdruck gebracht wird, ohne dass der Possessor durch Dativmorphologie markiert ist. Diese Beobachtung erstreckt sich auf Beispiele, die entsprechend dem deutschen adnominalen possessiven Dativ ein Possessivpronomen aufweisen, wie die Beispiele in (104) aus dem Norwegischen (vgl. Svenonius 1993:212), in (105a) aus dem gesprochenen Niederländischen, aber auch Beispiele ohne Possessivpronomen wie (106) zeigen (aus Ramat 1986). (104) a. b.

(105) a. b.

(106) a. b.

Steffen sine utslitte olabukser Stefan seine abgetragene Bluejeans den fiintskalla karen sitt krus der kahle Mann sein Krug mijn vader z'n huis meinem Vater sein Haus het huis van mijn vader das Haus von meinem Vater ladieumerci Gottes Gnade Rabat miizl Roberts Masern

(Norwegisch)

(gesprochenes Niederländisch) (Niederländisch)

(Altfranzösisch) (Jamaikanisches Kreol)

262

Attributive Genitivphrasen

Wie der pränominale Genitivrealisiert der adnominale Dativ ein Argument des Kopfnomens mit dem Unterschied, dass dieses Argument bereits durch das Possessivpronomen lexikalisiert wird. Nominalphrasen mit einem possessiven Dativ lassen sich deshalb Ramat (1986) zufolge französischen Konstruktionen wie (107) vergleichen, in denen ein Argument des Verbs nach links versetzt worden ist. (107)

Jean, sa mobylette, il y a les freins qui döconnent Jean, sein Motorrad, es hat Bremsen, die nicht funktionieren

(107) zeigt die Topikalisierung der Possessorphrase, und nach Ramat (1986) handelt es sich bei adnominalen possessiven Dativen ebenfalls um topikalisierte Possessoren, deren Relation zum Kopfnomen durch die Dativmarkierung angezeigt wird. Für die Topikalisierungshypothese spricht Ramat (1986:582) zufolge, dass der adnominale Dativ immer definit ist. (108) a. Hier steht dem Vater sein Fahrrad, b. *Hier steht einem Mann sein Fahrrad.

Der pränominale Dativ ist deshalb auch typischen Linksversetzungskonstruktionen des Deutschen vergleichbar, in denen eine nach links versetzte nominale Konstituente durch ein kasus-, numerus- und genusidentisches Demonstrativpronomen wieder aufgenommen wird. (109)

Den neuen Film von Rohmer, den hat Lotta gesehen.

Auch die Beschränkung adnominaler possessiver Dative auf die Umgangssprache teilt sich diese Konstruktion mit Linksversetzungskonstruktionen wie in (109). In Ausnahmefallen kann im Frnhd. auch ein possessiver Genitiv mit einem Possessivpronomen erscheinen (s. Ebert 1986:91). Nach Ebert handelt es sich hier um eine Mischung aus possessivem Dativ und pränominalem Genitiv. Diese Mischung der beiden Konstruktionen ist angesichts der Tatsache, dass Genitiv- und Dativkasus in vielen Fällen - vor allem im Femininum - zusammenfallen, leicht nachzuvollziehen, wie die mhd. Beispiele unter (110) illustrieren. Genitivbeispiele aus dem 17. und 18. Jh. zeigt (111).

Die Analyse (110) a. b. c.

(111) a. b.

263

Gahmuretes herze ouch (...) getwenget was von [der minnen ir hitze] (Parzival 297.11) des werdent [schoener vrouwen ir ougen] röt (Reinmar von Zweter 106.5) und das du ir sendest einen ritter uß dinem hofe, der [myner frauwen ir ere] behalt (PL 376.19) deß Großhertzogen sein Galleren dieses Herodes seinen Kopf

(R 208.2) (Wieland; Paul 1919:324)

Für eine Interpretation des adnominalen possessiven Dativs als einer pragmatisch motivierten Konstruktion sprechen auch Daten aus dem Frnhd., in denen einem vorangestellten Genitiv ein Demonstrativpronomen folgt, vgl. (112) vs. (109). (112)

an [des abgeleibten Hertzogen von Wtlrtemberg] [dessen] Sohn

(A 93.6)

In Anlehnung an Vorschläge wie Johnson (1988), der Topikalisierung auf Satzebene als Adjunktion an IP versteht, schlage ich vor, auch den adnominalen possessiven Dativ als ein Adjunkt zu analysieren, genauer gesagt, als ein linkes Adjunkt an NP. Wie in Kapitel 2 ausgeführt, selegieren Adjunkte die Nominalphrase, die sie modifizieren, mittels des Merkmals MOD. Darüber hinaus müssen im Falle des adnominalen possessiven Dativs die CONTENT-Werte beider NPs übereinstimmen, wie sich beispielhaft an der Realisierung des INDEX-Merkmals in (113) verdeutlichen lässt: (113) a. dem Jungen sein Fahrrad b. *dem Jungen dein Fahrrad

Nur wenn die INDEX-Werte von possessivem Dativ und Possessivpronomen identisch sind wie in (113a), ist die Nominalphrase grammatisch; in (113b) dagegen differieren die INDEX-Werte von Possessivpronomen und Dativ hinsichtlich des Merkmals PERSON. Und auch in Bezug auf das Merkmal RESTRICTION stimmen Dativ und Possessivpronomen überein, insofern beide die semantische Relation der Possession ausdrücken. Eine vereinfachte Repräsentation ist in (114) gegeben.

264

Attributive Genitivphrasen

(114)

NP

NP[M0D]

dem Jungen

[3]NP[SPRo, COMPSo]

[l]Det[SPEC[2]]

[2]N'[, COMPSo]

sein

Fahrrad

Auch wenn der Vergleich mit der Linksversetzungskonstruktion eher eine transformationelle Analyse des adnominalen possessiven Dativs zu suggerieren scheint, ist es doch ausgeschlossen, dass die topikalisierte Dativphrase in der Position des Possessivpronomens erscheint. (114)

*dem Jungen Fahrrad

Diese Analyse adnominaler possessiver Dative unterscheidet sich von bisherigen Vorschlägen wie Pafel (1995) und Lindauer (1995), die vorschlagen, Possessivpronomina wie Adjektive zu behandeln, die in Konstruktionen wie (113a) der NP Dativkasus zuweisen. Wie in Kapitel 3 argumentiert, gibt es gute Gründe, Possessivpronomina im heutigen Deutschen nicht mehr als adjektivische possessive Elemente zu analysieren. Außerdem kann eine Analyse im Sinne von Pafel (1995) und Lindauer (1995) nicht erklären, weshalb die possessiven Dative auf die Possessivpronomina der dritten Person beschränkt sind, vgl. (113)." Eine Analyse, die das Auftreten adnominaler possessiver Dative pragmatisch motiviert, kann diesen Grammatikalitätskontrast mit Verweis auf die funktionale Notwendigkeit einer Verdeutlichung in der

27

Im Norwegischen ist die Kookkurrenz von Possessorphrase und Possessivpronomen auf dessen reflexive Formen silsin!sittlsine beschränkt (s. Svenonius 1993), während alle anderen Possessivpronomina das gleichzeitige Auftreten einer possessiven Phrase verbieten.

Die Analyse

265

dritten Person interpretieren, die sich im Zusammenhang mit der ersten und zweiten Person nicht stellt.2' Frnhd. Beispiele, in denen das Possessivpronomen einem Genitiv vorausgeht (vgl. (116)), lassen sich im Unterschied zu den Konstruktionen in (110) als verdeutlichende Herausstellungen verstehen, da wir in demselben Text auch Beispiele wie (117) finden, und Konstruktionen wie (116) im Übrigen auch für das heutige Deutsche belegt sind, wie (118) zeigt.29 (116) a. b.

jhre des Königr. Sachen jhr der Catholischen Vermahnung nach Hören

(117)

vnd solle [er Clössel] der widerwertigst in dieser Sachen sein

(118) a.

und fhig sodann bei Greif an, wie diese heutige methodische Kalamität [seines, Greifs, Erachtens] zu überwinden sei. (Henscheid 31.20) Magsein, die damit verbundene Reverenz an die Schweiz war eine geheime an Schummetpeters Konstanzer Verein, mithin an uns, [seine, Greifs, Prüfungskombattanten] (Henscheid 41.20)

b.

(A 159.27) (A 273.6) (A 46.1)

4.3.5 Zusammenfassung Ausgehend von bisherigen Analysen attributiver Genitive, die entweder die Unterschiede zwischen prä- und postnominalen Genitiven im heutigen Deutschen oder aber die Unterschiede zwischen pränominalen Genitiven im Deutschen und anderen germanischen Sprachen nicht angemessen beschreiben können, ist es Ziel der vorausgehenden Diskussion gewesen, durch die Einbeziehung historischer Fakten aus der Sprachgeschichte des Deutschen eine neue Perspektive auf die gegenwartssprachlichen Daten zu gewinnen. Im Einzelnen hat sich gezeigt, dass die Geschichte des Genitivs in drei Stadien zu gliedern ist. Im ersten Stadium, das bis etwa 1500 andauert, gehen attributive Genitive 28

29

Das Fehlen formal distinkter Reflexiva in der 1. und 2. Person im Deutschen wird von Comrie (1998) ebenfalls in diesem Sinne gedeutet (vgl. mich, dich, sich). Von Erben (1980:233) wird ein vergleichbares Beispiel aus Thomas Mann zitiert: Dringend bitte ich übrigens den Leser, was ich da mit Gefiihl gesagt habe, durchaus auf meine, des Schreibenden Rechnung zu setzen.

266

Attributive Genitivphrasen

dem Kopfhomen ohne Einschränkung voraus. Genitive und Artikelwörter können gleichzeitig in einer Nominalphrase erscheinen. Im Zusammenhang mit dem in vorausgehenden Kapiteln diskutierten Umbau des Artikelsystems im Deutschen wird der vorangestellte Genitiv als Teil dieses Artikelsystems reinterpretiert mit dem Ergebnis, dass Genitivkomplemente dem Kopfnomen seit dieser Zeit folgen, und Artikelwörter und vorangestellte Genitive nicht mehr kookkurrieren. Pränominal entsteht eine Position, die auf solche Genitive beschränkt ist, die sich possessiv interpretieren lassen. Auch die frnhd. Entstehung des adnominalen possessiven Dativs lässt sich in diesen Zusammenhang stellen. Anders als im Englischen und den festlandskandinavischen Sprachen geht die Umstrukturierung des pränominalen Genitivs im Deutschen noch einen Schritt weiter: Der pränominale Genitiv wird seit dem 18. Jh. nicht mehr phrasal, sondern als Kopf interpretiert. Auf dieser historischen Grundlage lassen sich die genannten Unterschiede problemlos erklären: Im Englischen und in den festlandskandinavischen Sprachen handelt es sich bei den pränominalen Genitiven um maximale Phrasen, während im Deutschen der vorangestellte Genitiv keinen phrasalen Status hat. Dass die Genitivmarkierung dieses vermeintlichen Genitivs sich hinsichtlich einer Reihe von Eigenschaften von der Markierung postnominaler Genitivkomplemente unterscheidet, wird aus diesem Grund so gedeutet, dass es sich nur bei letzterem Genitiv um syntaktisch zugewiesenen Genitivkasus handelt, während im Fall der vorangestellten vermeintlichen Genitivformen ein Possessivaffix vorliegt, das sich historisch aus einem Genitivsuffix entwickelt hat. Umstellungsbeziehungen, wie sie in vielen Arbeiten zur Struktur der Nominalphrase zwischen prä- und postnominalen Genitiven angenommen werden, werden den tatsächlichen Verhältnissen in der Nominalphrase daher nicht gerecht. Auch postnominal setzen sich zunehmend Ersatzformen des Genitivs durch. Die Präpositionalphrase aus von + NP d , die eine ganze Reihe von inhaltlichen Beziehungen zwischen Genitiv und Kopf der Nominalphrase wiedergeben kann, erscheint in vielen Kontexten anstelle

Die Analyse

267

des Genitivs.30 Nach Behaghel (1923:ff.) und Ebert (1986:91) ist die Ausbreitung auch dieser Ersatzform durch den Abbau der Nominalflexion bedingt. Eine entsprechende Entwicklung von der synthetischen zur analytischen Form lässt sich im Englischen beobachten, wo postnominale Genitivphrasen durch obligatorische o/-Phrasen ersetzt werden (vgl. Donner 1986). Im Gegenwartsdeutschen ist die Präpositionalphrase mit von nur in solchen Fällen obligatorisch, in denen der Genitiv nicht overt markiert ist, wie bei singularischen Massennomen oder bei artikellosen Nomina im Plural (119a). Werden diese Nomina durch Adjektive modifiziert, kann alternativ der attributive Genitiv oder ein präpositionales Attribut stehen (119b), vgl. auch oben. (119) a. b.

eine Gruppe von Männern und Frauen eine Gruppe alter Männer/von alten Männern

Die Präpositionalphrase ist ferner bei der Nachstellung von Eigennamen obligatorisch, unabhäbgig von deren morpho-phonologischen Eigenschaften. (120) a. b.

die Museen von Paris/*Paris' die Spielsachen von Max/*Max'

(121) a. b.

die Museen von Rom/*Roms die Spielsachen von Paul/*Pauls

Der adnominale Genitiv befindet sich folglich ebenso wie der verbale Genitiv deutlich auf dem Rückzug," auch im Bereich des partitiven Genitivs, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden.

30

Nach Ebert (1986:91) ist hier auch mit französischem Einfluss zu rechnen (vgl. de + NP).

31

Zum Abbau des verbalen Genitivs vgl. Donhauser (1991) sowie Schrodt (1992).

268

Attributive Genitivphrasen

4.4 Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd. Nominalphrasen im heutigen Deutschen zeichnen sich durch eine ausgesprochen strikte Serialisierung aus. Das diskontinuierliche Auftreten von Nominalphrasen ist ein Phänomen, das im Gegenwartsdeutschen auf wenige Konstruktionen beschränkt ist.32 Bereits eine oberflächliche Überprüfung frnhd. Texte weist das Auftreten diskontinuierlicher Nominalphrasen in dieser Periode der deutschen Sprachgeschichte dagegen als ein ausgesprochen produktives Phänomen aus. Und da die Grammatikalität von diskontinuierlich auftretenden Phrasen im Rahmen der generativen Grammatik strukturell erklärt wird, sollte ein Vergleich der Verhältnisse im heutigen Deutschen mit den frnhd. Verhältnissen weiteren Aufschluss über die diachronischen Veränderungen in der Struktur der Nominalphrase des Deutschen geben können - solange eine solche strukturelle Erklärung für den diachronen Befund aufrecht erhalten werden kann. Es wird im Folgenden zunächst darum gehen, die Verhältnisse im Gegenwartsdeutschen in Anlehnung an den Überblick in Pafel (1995) zu präsentieren. Der folgende Abschnitt 4.4.2 stellt die historischen Daten aus dem Frnhd. vor, in dem partitive Attribute eine wichtige Rolle spielen. Gegenstand von Abschnitt 4.4.3 wird es sein zu überprüfen, ob die diachronischen Veränderungen im Sinne eines strukturellen Wandels zu beschreiben sind und gegebenfalls eine Revision der strukturellen Analyse der Nominalphrase nahe legen. 4.4.1 Die Verhältnisse im heutigen Deutschen Jede Diskussion diskontinuierlich auftretender nominaler Phrasen im Deutschen muss zumindest die folgenden Typen unterscheiden: (122) a. b. c. 32

[PP Von Truffaut] kennt sie [NP fast alle Filme ] [pp Von den Besuchern] ist [keiner ] früher gegangen [MP Museen] hat sie in Boston [einige ] besucht.

Auch in Bezug auf die Textsorten, in denen sich diese Konstruktionen finden, ist eine Beschränkung zu beobachten: auf Textsorten, die dem mündlichen Sprachgebrauch nahe stehen.

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd. d. (123) a. b.

[NP Alkohol] hat er seit Wochen [keinen Tropfen

269

] mehr getrunken.

Nie hat sie [einen Brief ] beantwortet [pp von Franz]. [Die Philosophie ] gibt es doch nur in Deutschland, findet Christa Müller, [CP dass man nicht öffentlich darüber sprechen kann, ob die Bundesbank ihre Expansionsplane hinreichend ausnutze]. (DIE ZEIT 1998, 47.82)

In (122a) und (122b) erscheint jeweils eine von der Präposition von regierte Nominalphrase an der linken Peripherie des Satzes mit dem Unterschied, dass der von-Phrase in (122a) die thematische Rolle des Agens zuzuschreiben ist, während (122b) eine partitive vow-Phrase ist. Im ersten Fall wird von PP-Extraktion gesprochen,33 im zweiten Fall von partitiven Split-Konstruktionen. Von diesen Konstruktionen unterscheiden sich (122c) und (122d) dadurch, dass hier eine NP an der Spitze des Satzes auftritt, die in Verbindung mit dem Artikelwort einige respektive der Mengenbezeichnung keinen Tropfen ebenfalls partitiv interpretiert wird. Solche Konstruktionen werden als NP-Split- und pseudopartitive Split-Konstruktionen bezeichnet. Neben diesen Beispielen, in denen eine vom Kopfnomen abhängige Konstituente links von diesem erscheint, treten Konstruktionen diskontinuierlicher Nominalphrasen auf, in denen diese abhängige Konstituente nach rechts verschoben scheint. In (123) ist dies am Beispiel der Rechtsverschiebung von Präpositionalhrasen und Sätzen illustriert. Als weitere Phänomene im Kontext diskontinuierlicher Nominalphrasen gelten die unter (124) Konstruktionen des was /wr-Split und des QuantorenFloating:34 (124) a. b.

[Was] haben damals [für Leute] protestiert? [Die Sänger] sind [alle] mit Blumen bedacht worden.

Der Fokus liegt im Folgenden auf Konstruktionen, in denen ein nominales oder präpositionales Attribut links vom Kopfnomen erscheint, vgl. (122). 33

34

Die Verwendung dieses Terminus suggeriert zwar eine derivationelle Analyse. Ob eine solche Analyse den Daten aber gerecht wird, soll jedoch erst in Abschnitt 4.4.3 entschieden werden. Vgl. Pafel (1995) für weitere Extraktionsphänomene.

270

Attributive Genitivphrasen

Für die einzelnen Konstruktionstypen diskontinuierlicher nominaler Phrasen lassen sich - abgesehen von den textsortenbedingten Restriktionen - eine Reihe unterschiedlicher Beschränkungen beobachten. Die erste dieser Beschränkungen ist formaler Natur: Nur Nominalphrasen mit Kongruenzkasus sowie Präpositionalphrasen können links von ihrem Kopfnomen erscheinen, für Nominalphrasen im Genitiv sowie satzwertige Attribute ist diese Position ausgeschlossen, wie der Kontrast zwischen (125) und (126) zeigt: (125) a. b.

[NP Französische F i l m e ] ^ kennt sie [NP eine Menge [pp Von seinen alten Filmen] hat sie [MP eine ganze Reihe

(126) a. * [NP Französischer Filme] gen kennt sie [NP eine Menge b. *[Cp Der das Buch gelesen hat] hat Anna [MP einen Freund

J ^ gesehen

angerufen

Beschränkt ist die Distanzstellung von Attributen zweitens im Hinblick auf die Funktion der jeweiligen Matrix-NP, die entweder als Subjekt oder als Akkusativobjekt fungieren kann. Bei dativischen und Präpositionalobjekten ist die Distanzstellung wohl in der Mehrzahl der Fälle ausgeschlossen, wie sich an Beispielen wie (127) und (128) ablesen lässt: (127) a. b.

[PP Von seinen ersten Schallplatten] liegen [MP einige ]„,„, in der Kiste [MP Rote R o s e n s hat sie [MP ein Dutzend gekauft

(128) a. *[PP Von ihren Fans] entgeht sie [NP etlichen ] dat durch ihr Verschwinden b. *[NP Neuen Kunden] rechnet sie [ PP mit einigen ]

Weitere Restriktionen betreffen die Bedeutung des Prädikats, wie Pafel (1995) beobachtet. Wie die Beispiele in (129) und (130) zeigen, sind diskontinuierliche Nominalphrasen als Subjekte ausgeschlossen, wenn es sich bei dem Prädikat um ein Eigenschaftsprädikat handelt. Diese Beschränkung gilt jedoch nicht für partitive Split-Konstruktionen, vgl.(131). (129) a. [MP Politiker] haben damals [NP viele ] protestiert b. * [NP Politiker] sind [NP viele ] korrupt (130) a. [NP Politiker] haben damals [NP eine Menge ] protestiert b. * [NP Politiker] sind [NP eine Menge ] korrupt

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Fmhd.

(131) a. b.

271

[PP Von den Politikern] haben damals [NP viele ] protestiert [PP Von den Politikern] sind [NP viele ] korrupt

Diesen Unterschied zwischen NP-Split und pseudopartitivem Split auf der einen und partitivem Split auf der anderen Seite beobachtet Pafel auch für eine syntaktische Eigenschaft von Verben: Die Distanzstellung des Attributs ist für die erste Gruppe ausgeschlossen, wenn es sich um die Subjekte transitiver Verben handelt. (132) a. *[NP Politiker] haben damals [MP viele ] diese Position vertreten b. *[NP Politiker] haben damals [MP eine Menge ] diese Position vertreten c. [pp Von den Politikern] haben damals [NP viele ] diese Position vertreten

Im Prinzipien-und-Parameter-Mode\\ der generativen Grammatik wird angenommen, dass NP-Aufspaltung durch die Bewegung einer Konstituenten aus ihrer Basisposition in die Topikposition des Satzes, also durch Extraktion, entsteht. Die thematische Beziehung zwischen Kopfnomen und extrahierter Konstituente spielt in diesen Analysen keine Rolle. Wie die folgenden Beispiele deutlich machen, lassen sich jedoch nicht nur für die partitiven Konstruktionen selbst (vgl. (129) bis (132)), sondern auch zwischen partitiven und nicht-partitiven Nominalphrasen unterschiedlich starke Beschränkungen feststellen. Denn nicht-partitive Attribute unterliegen weitaus mehr Restriktionen als partitive Attribute, wie im Folgenden illustriert. Wie das Beispiel der Distanzstellung nicht-partitiver Präpositionalphrasen in (133) zeigt, erlaubt nur ein Verb wie lesen diese Wortstellung, für Verben wie stehlen ist sie ausgeschlossen. Dieser Kontrast besteht jedoch nicht fur partitive Attribute, vgl. (134). (133) a. Über Fontane hat Lotta [NP einen Artikel b. *Über Fontane hat Lotta [NP einen Artikel (134) a. b.

] gelesen ] gestohlen

Literatur hat Lotta bereits [NP eine Menge ] gelesen Aschenbecher hat Paul bereits [NP eine Menge ] gestohlen

Des Weiteren sind diskontinuierliche Nominalphrasen mit nicht-partitiven Attributen durch die bekannte Definitheitsbeschränkung charakterisiert: Nur indefinite Nominalphrasen erlauben die Distanzstellung

Attributive Genitivphrasen

272

eines nicht-partitiven PP-Attributs, wie der Grammatikalitätskontrast in (135) illustriert. (135) a. [PP Über Fontane] hat sie [NP einige Artikel b. *[pp Über Fontane] hat sie [NP Lisas Artikel

] gelesen ] gelesen

Auch diese Beschränkung lässt sich meines Erachtens nicht auf partitive Split-Konstruktionen übertragen, wie (136) zeigt. Definite und indefinite Matrix-NPn sind gleichermaßen erlaubt: (136) a. b.

[PP Von dem italienischen Rotwein] hat sie [NP die Hälfte ] bereits getrunken [pp Von seinen Entwürfen] hat sie [np eine Menge ] bereits gekannt

Es sind vor allem Daten wie in (129) bis (132) gewesen, die Pafel (1995) dazu veranlasst haben vorzuschlagen, zwei Gruppen von diskontinuierlichen Nominalphrasen zu unterscheiden: Zu der ersten Gruppe gehören seiner Ansicht nach diejenigen Konstruktionen, die Beschränkungen hinsichtlich des einbettenden Prädikats aufweisen, also NP-Split-Konstruktionen, pseudopartitive Splitkonstruktionen und PP-Extraktion, während partitive Splitkonstruktionen der zweiten Gruppe von diskontinuierlichen Nominalphrasen zuzurechnen sind, weil sie eben diese Beschränkungen nicht aufweisen. Pafel interpretiert den Unterschied zwischen beiden Gruppen strukturell, anders gesagt nimmt er an, dass bei Extraktionsphänomenen der ersten Gruppe (NPSplit, Pseudopartitive-Split und PP-Extraktion) ein Element extrahiert wird, das von der Nominalphrase inkludiert ist, während bei Extraktionsphänomenen der zweiten Gruppe ein Element extrahiert wird, das in der Nominalphrase enthalten, aber nicht inkludiert ist. Unter der Annahme, dass maximale Projektionen nur eine Barriere für Elemente bilden, die sie inkludieren, kann dann erklärt werden, weshalb nur bei Extraktionsphänomenen der ersten Gruppe die NP eine Insel für Bewegung sein kann. Der strukturelle Unterschied zwischen beiden Gruppen wird von Pafel generalisierend wie in (137) dargestellt:

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd.

(137) a.

DP

b.

NP

A J

.XP...

273

DP

DP

J

j

XP

Auf der Grundlage von (137b) schlägt Pafel vor, partitive SplitKonstruktionen als Adjunktionen an DP zu analysieren, umso die relative Bewegungsfreiheit bei diesem Typ von diskontinuierlicher NP zu erfassen: (138)

[pp Von

unsJi hat [DP [dp niemand] [pp tj] den Film gesehen

Auf der anderen Seite werden NP-Split, pseudopartitiver Split und PPExtraktion im Sinne der Struktur unter (137a) analysiert. Genauer gesagt, nimmt Pafel die folgenden Strukturen für NP-Split, pseudopartitiven Split sowie PP-Extraktion an; die Mengenangabe keinen Tropfen in (139b) wird von Pafel als kompexes Artikelwort aufgefasst: (139) a. b. c.

[NP Sargents], haben wir in Boston [ DP einige [NP t j ] gesehen [np Weinjj hat er seit Wochen fop [keinen Tropfen] [»p t J] mehr getrunken [pp Von Truflaut]j kennt sie [oP fast alle [ w [np Filme] [PP t J] gesehen

Bemerkenswert ist hier in erster Linie Pafels Annahme, dass Präpositionalphrasen wie von Trujfaut in (138b) Adjunktionen an NP sind. Es handele sich nicht um Komplemente, da diese sich gegenüber Adjunkten durch ihre strikte Stellungsfestigkeit auszeichnen. Dafür gibt Pafel Beispiele folgender Art: (140) a. *[dp Wessen]; hat sich Lotta fop einen Film tj] angeschaut b. *[pp Nach der Uhrzeit], habe ich [DP eine Frage tj gestellt

Pafels Vorschlag, die unterschiedlich starken Beschränkungen im Hinblick auf das Prädikat, die sich für Typen von diskontinuierlichen Nominalphrasen beobachten lassen, strukturell zu erklären, ist meines Erachtens nicht unproblematisch. Denn diese Differenzierung vernachlässigt, dass partitiver Split, NP-Split- und pseudopartitive Split-

274

Attributive Genitivphrasen

Konstruktionen gleichermaßen auf einer partitiven Beziehung zwischen einem quantifizierenden Element in der Basisposition und einer Mengenbezeichnung in der Position vor dem finiten Verb in Verb-zweitStellung beruhen. Dennoch werden zwei verschiedene Strukturen angesetzt: Die extrahierte Präpositionaiphrase in den Konstruktionen des partitiven Split wird in der Basisposition als Adjunktionsstruktur analysiert, die extrahierte Nominalphrase aber als Komplement des funktionalen Kopfs D° aufgefasst. Hinsichtlich der allen Konstruktionen gemeinsamen thematischen Beziehung zwischen Kopfnomen und der Konstituente in Distanzstellung scheint mir diese strukturelle Differenzierung der partitiven Konstruktionen nicht gerechtfertigt. Bevor eine eigene Analyse dieser Daten vorgeschlagen wird, soll der Befund aus dem Frnhd. präsentiert und in die Argumentation einbezogen werden. 4.4.2 Der frnhd. Befund Wie bereits eingangs angesprochen, zeichnet sich das Frnhd. im Bereich der Nominalphrase durch eine größere Freiheit in der Wortstellung aus. Die Distanzstellung einzelner Konstituenten der Nominalphrase ist im Frnhd. häufig belegt. Beginnen wir mit den NP-Konstituenten der Nominalphrase. Es ist im Frnhd. zu beobachten, dass die Extraktion von genitivisch markierten Nominalphrasen eine hoch frequente Wortstellungsvariante ist, wie die Belege unter (141) und (142) illustrieren.33 (141) a. b. c. d.

35

das ist llwer kindt Merie die [ w des klinigrichs] [MP ein rechter erb ] ist (HS 210.10) der bracht [MP siner fhlnd] [NP ein groß volck ] gen pariss (HS 226.5) vnnd jederzeit [NP dieses Königreichs] [NP ein Mitgliedt ] gewesen (A 169.34) wiewol ich weiß, das ir [NP meines gunstes] [NP ein klein acht ] haben (RB 76.16)

Die im heutigen Deutschen ungrammatische Wortstellung ist bei Uhland noch belegt: Deines Geistes hab' ich einen Hauch verspürt (nach Duden 9:293). Vgl. auch den aktuellen Beleg: und [des Jammerns] wäre [kein Ende]. (DIE ZEIT 1999,2.1)

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd. (142)

275

wie der verretersche graff sauari [NP des künigrichs] [pp mit gewalt] [NP ein herr ] wo:elt syn (HS 214.2)

In den Beispielen unter (141) tritt ein attributiver Genitiv links vom Kopfnomen auf, genauer gesagt, der attributive Genitiv geht einem indefiniten Artikelwort voraus. In (142) ist das Kopfnomen ebenfalls indefinit, zwischen genitivischer NP und dem Artikelwort interveniert jedoch eine modale PP.36 Was die Funktionen der Matrix-NPn angeht, so handelt es sich in beinahe allen Fällen unter (141) und (142) um prädikative NPn der Verben sein und nennen, ausgenommen in (141b), wo die Matrix-NP ein Akkusativobjekt ist. Auch die Extraposition genitivischer Nominalphrasen ist im Frnhd. belegt. Die einschlägigen Beispiele finden sich in (143) bis (145).37 (143) a. b.

(144) a. b. c. d.

Ich meynet, die sententie sollten [NP der anfang ] sein [NP der jungen Theologen] (Luther, Adel 460.7) Sie sein auch [NP die heupter ] gewesen [NP diszes jamers zu Costnitz] (Luther, Adel 455.30) also daz allwegen vnkilschhait [NP ain wegefert] ist [MP seliges geltickes ] (Wyle 28.4) wilch nit [NP ein geringe Schmach ] ist [NP aller Christenheit] (Luther, Adel 433.4) die bewainen die todten/ die [pp in gewiser hofiiung ] sein [NP der vrsteend] (Spiegel 357.98) dass sich der Bapst enthalt, (...), sich [NP keynis titels ] unterwinde [NP des kunigreichs zu Neapel unnd Sicilien] (Luther, Adel 435.3)

Die genitivischen NPs folgen in den Verb-zweit-Sätzen unter (143) dem infiniten Verbteil, in den Verb-letzt-Sätzen in (144) dem finiten Verb. Für die Distanzstellung aller genitivischen Attribute gilt, dass sie postnominal interpretiert werden, auch wenn es sich bei diesen Beispielen aus dem 15. und 16. Jh. um Individualnomina handelt, die vor

36

37

Neben diesen relativ häufigen Beispielen für die Distanzstellung von genitivisch markierten NPn finden sich vereinzelt Beispiele possessiver Dative wie in [dem] wolt man [sin lehen] andern geben vnd vß dem künigrich vertriben (HS 291.27). Diese Distanzstellung findet sich gleichfalls im mhd. Prosalancelot: (i) wann er [man ] was gewesen [des koniges Aramundes] (PL 12 29) (ii) wann es hut [ein armer weise ] ist worden [synes vaters und synes großen gutes] (PL 46.5)

276

Attributive Genitivphrasen

allem im 15. Jh. dem Nomen noch vorausgehen konnten. Wie bereits im Fall der Extraktion von attributiven Genitiven handelt es sich auch bei den Extrapositionsstrukturen bei den Matrix-NPs zum großen Teil um prädikative Nominalphrasen, vgl. (143) und (144a,b). In (144c) liegt eine prädikative Präpositionalphrase vor. Und in (144d) ist ein nominales Attribut aus einem Genitivobjekt verschoben worden. Während sich die prädikativen Konstituenten in (143) und (144) auf das jeweilige Subjekt des Satzes beziehen, liefert (145) einen Beleg für den Bezug des Prädikativums auf das direkte Objekt des Verbs machen. (145)

die haben die Ro:emer [MP herrn

] gemacht [MP der weit] (Spiegel 345.24)

Auch partitive Genitive können dem Kopfhomen im Frnhd. vorausgehen. Solche Genitive zur Bezeichnung einer Teil-Ganzes-Beziehung erscheinen im Frnhd. in deutlich mehr Umgebungen als im heutigen Deutschen, wie die Beispiele unter (146) bis (148) zeigen werden. Im Frnhd. finden sich partitive Genitive nach Substantiven, die Maß oder Menge denotieren, und nach Zahlwörtern. (146) a. b.

ein stuck brots vff zwey tusent reysiges volcks

(RB 126.9) (HS 299.7)

Darüber hinaus erscheint der partitive Genitiv nach einer Reihe flexionsloser Formen von Quantitätsadjektiven, die substantivisch verwendet werden, wie viel, wenig, lützel und genug?1 (147) a. b.

darinn waren [vil gu:oter feister schaff und hemmel] mit lützel volcks

(RB 106.18) (HS 298.22)

Der partitive Genitiv tritt schließlich nach Indefinitpronomina wie etwas, was, nichts, etlich, keiner und mancher auf. (148) a. b. c. d.

38

hie sieht man wol [was mans] ir gwesen sint dann sy marckt, das [kein aufho:erens] da was von wo:elchen du [nichts gu:ots] thu:ost lernen wie sie denn [etlich jhrer Leut] zu Kutschen voran geschickt

(HS 271.24) (RB 78.13) (RB 77.34) (A 19.33)

Nach Paul, Wiehl & Grosse (1989:361) ist es unklar, ob viel tatsächlich auf ein Adjektiv zurückzuführen ist, oder ob der substantivische Gebrauch der älteste des Wortes im Germanischen ist.

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd.

277

Die Extraktion des partitiven Genitivs ist unabhängig vom Kopfnomen für alle partitiven Genitive belegt, wie in (149) gezeigt. (149) a. b. c. d.

vnd [MP der fu:ernemesten burger hie zu:o paryß] ouch [MP eins teyls ] (HS211.11) welcher jhme [MP seiner Söhn] [MP einen ] (...) aufihencken lassen (A 111.12) wie man dann [MP derselbigen] [MP nit wenig ] in Lottringen findet (RB 81.16) vnd hett [MP vnser] [MP keiner ] synen vatter nye gsehen (HS 269.14)

Ebenfalls für die Mehrzahl der belegten diskontinuierlichen Nominalphrasen lässt sich beobachten, dass der partitive Genitiv der Matrix-NP unmittelbar vorausgeht, während bei einer kleineren Anzahl von Beispielen der partitive Genitiv das Vorfeld besetzt: (150) a. b. c. d. (151) a. b. c.

Jr habent ob gott will [N? edler herrlicher gu:oter lüt] [MP genu:og ] (HS 229.10) das sie [MP der graffen] [NP dry ] erschlu:ogen (HS 276.2) das [MP ir] [MP ettlich ] darvon entritten (RB 56.18) begunden [MP ir] [MP eyns teyls ] sich vereinigen (HS 259.23) [MP Der heiden] ward wol [MP hundert mal tusent

] erschlagen (HS 337.13) dann [MP syner ritterschaft] was [MP vil ] erschlagen worden (HS 249.12) [MP Diser undanckbaren leiit] findt man noch [MP seer vil ] (RB 69.25)

In einigen Beispielen ist der partitive Genitiv so komplex wie in (152), ein weiteres Argument gegen eine Erklärung des genitivischen Stellungswandels im Sinne von Behaghels Gesetz der wachsenden Glieder, demzufolge schwere Konstituenten eher nach- als vorgestellt werden. (152)

[mp Des Türckischen Beegs/ [so als ein Geysei allhie ligt]/ Diener] [MP einer ] hat ein Soldaten/ so allda die Wacht gehalten/ allein vmb etlich wenig Gelt dahin gebracht/ das er Sodomiterey mit jhme getrieben (A 34.16)

Hinsichtlich der Funktion der Matrix-NP finden wir folglich Subjekte, Akkusativobjekte sowie prädikative NPs, wie der Übersichtlickeit halber nochmalig in (153) zu sehen. Für das Beispiel eines Passivsubjekts möge (151a) stehen.

Attributive Genitivphrasen

278 (153) a. b. c.

sie wurden vast betrübt das

ir] [NP etlich

] begunden weynen (HS 215.7) Sie fraget [MP der herren] [NP einen ] was das wer (HS 242.16) Symon der rieh metzger was [NP der erst] [NP einer ] nach dem mansandt (HS 214.12)

Insgesamt gesehen ist die Distanzstellung partitiver Genitive im Frnhd. ausgesprochen produktiv, was die Belege unter (149) bis (153) zu Genüge illustrieren. Entsprechendes gilt nicht für die Extraposition partitiver Genitive im Frnhd. Beispiele wie (154) sind aufgrund der Beleglage als markierte Einzelfalle zu verstehen. (154)

da warent die tysch in dem gezelt bereit vnd saß [NP menniglich ] zu:otysch [NP der graffe] (HS 265.18)

Als Einzelfalle haben auch Beispiele für die Extraposition von NPn zu gelten, die Kongruenzkasus tragen, wie in (155) exemplifiziert, wo die nachgestellte Nominalphrase Akkusativkasus trägt wie die Matrix-NP. (155) a. b.

Es wer ein schand/ er wo:elt [NP sinen vettern ] rechen [NP den graffen von Brantpre] (HS 276.7) Do der burger [NP den ritter ] hört [OT synen vettern] also sprechen (HS 196.19)

Der ausgesprochen produktiven Distanzstellung attributiver Nominalphrasen im Genitiv stehen weitaus weniger Belege gegenüber, in denen eine attributive Präpositionalphrase entweder links oder rechts vom Kopfnomen erscheint. Unter (156) sind Beispiele angeführt, in denen die attributive Präpositionalphrase links von der Matrix-NP auftritt. (156) a. b. c.

Also ward bald ein gantz lautprecht geschrey in der statt, wie [PP vonn der gu:oten frawen] were senff [pF im [NP gebliet ]] gewesen (RB 120.22) [pp von disen porten] so ist der heilig geist [NP ein portener ] (Tauler 206.22; Behaghel 1923:534) welches uns [pp von den vorigen] [^p eine Anzeigung ] geben könnte (Thomasius 3.23; Behaghel 1923:534)

Die Beispiele unterscheiden sich in der Position der linksversetzten Präpositionalphrase, die in (156a) und (156b) vor dem finiten Verb des

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd.

279

Satzes erscheint, in (156c) dagegen der Matrix-NP unmittelbar vorausgeht.39 (1S7) illustriert die häufiger belegte Nachstellung einer attributiven Präpositionalphrase i40 (157) a. b. c. d.

er wo:ell [NP in ] dar in erschlagen [pF mit allen den synen] (HS 299.13) Alle fenster an den hüsern vnd in den gassen lagent vol frouwen [NP den werden Hug ] zu:o sehen [PP in ktlniglichem wapen] (HS 287.29) (sie sollen) nit [NP aufmerckung ] haben [PP nach gunst der personen] (Spiegel 364.15) Jn dem kament ouch [NP die vier graffen ] zu:o der brücken [pp mit irem volck] (HS 274.15)

Die Präpositionalphrasen in (157a) bis (157c) erscheinen nach dem infiniten Verb; in dem Verb-zweit-Satz (157c) handelt es sich um ein einfaches Verb, weshalb die attributive Präpositionalphrase der letzten nominalen Konstituente folgt. Hinsichtlich der Funktionen der MatrixNP finden sich Akkusativobjekte (vgl. (157a) bis (157c)). Die Subjektfunktion ist durch das Beispiel (157d) belegt. Auch partitive Präpositionalphrasen erscheinen vor ihrer MatrixNP. Im Unterschied zu den partitiven Genitiven sind diese Beispiele aber im gesamten Frnhd. eher selten. (158) a. b.

Zu Florenz ist [PP von den jüngst eingebrachten .Indianern] [MP einer ] gestorben/ doch zu vor getaufft worden/ (A 236.17) vnd sind albereit [PP von diesen Strassenräubern] [NP 2. ] alhie eingezogen worden (R38.ll)

Diese partitiven Präpositionalphrasen stehen - so weit das Textkorpus diese Generalisierung zulässt - unmittelbar vor der Matrix-NP. In beiden Fällen unter (158) handelt es sich um passivische Subjekte. Beispiele für die Extraposition von partitiven Präpositionalphrasen sind mir nicht bekannt. 39

40

Obwohl die linksversetzte Präpositionalphrase auch in (156a) dem finiten Verb vorausgeht, handelt es sich hier doch nicht um einen Verb-zweit-Satz. Das satzeinleitende wie sollte eigentlich die Endstellung des finiten Verbs motivieren. Auch das folgende Beispiel illustriert die Nachstellung einer attributiven PP. Seine Einordnung erscheint problematisch, weil es im zu Grunde liegenden Textkorpus ein Einzelbeispiel ist. [NP die porten ] waren noch [PP an der bürg] beschlossen (HS 299.31)

Attributive Genitivphrasen

280

Was schließlich die Distanzstellung von satzwertigen Attributen betrifft, so sind die folgenden Extrapositionsbeispiele einschlägig (Extraktion ist wie im Gegenwartsdeutschen nicht belegt):41 (159) a. b. c.

mit der gedinge das ir ym [np den

] sendent [Cp der in ermordt hatt] (HS 251.24) liebe frouw mir ist ouch [np eynes herren vnd gemahel ] not [CP der herlich/manhafft/künsy] (HS 254.29) vnd das [np fünff iunger gesellen ] dar in kummen werent [CT die im aldo widersagten] (HS 270.14)

Erstaunlich häufig begegnet die Nachstellung von Relativsätzen auch in Verbindung mit der Extraktion von Nominal- und Präpositionalphrasen mit der Konsequenz, dass recht komplexe Nominalphrasen entstehen. Das ist vor allem für Wickrams Rollwagenbüchlin verwunderlich, das doch der kurzweiligen Unterhaltung bei langen Reisen in der Postkutsche dienen sollte.42 (160) a. b. c.

[pp Nit weit von Speir]k [pp in [[np ein wirdtshauß J j ]] sind die diener kommen, [Cp welches an der Straß lag]j (RB 12.7) vnnd schlug [np der vinde j ]k [np vii k ] zetode vff der brücken [cp die in nach geylet waren]j (HS 231.3) Da ranten die beyde huffen zu:o samen vnnd schlu:ogent vnd stochen das [np man vnd pferd j ]k [np vil k ] nider vielen [Cp die nummer mer vff stunden^ (HS 282.17)

Die Matrix-NPn in (159) und (160) verteilen sich über verschiedene syntaktische Funktionen: Sie sind Subjekte ((159c) und (160c)), Akku-

41

42

Ob in Beispielen wie dem folgenden der Relativsatz eine Modiiikation des Kopfes darstellt oder zu der Apposition zu rechnen ist, ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden: myn base hat [iren hußwürt den künig{\ ouch verloren [Cp der ein vßerwelter künig vndfiirstwas]( HS 227.1) Beispiele wie unter (160) liefern Evidenz gegen eine Analyse diskontinuierlicher Nominalphrasen, wie sie von Müller (1995) vorgelegt worden ist. Seiner Ansicht nach ist nur die Rechtsherausstellung von Konstituenten der Nominalphrase im Gegenwartsdeutschen unmarkiert. Diese Beobachtung erfasst er in einer Analyse, in der zwei Bewegungsoperationen miteinander verknüpft werden. Lizensiert ist eine solche Verknüpfung aber nur dann, wenn beide Bewegungsoperationen rechtsgerichtete Bewegungen sind. Wie die Beispiele in (160) klar zeigen, werden hier Links- und Rechtsbewegung miteinander verbunden.

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd.

281

sativ- ((159a) und (160b)), Genitiv- ((159b) und präpositionale Objekte (160a)). 4.4.3 Die Analyse der diachronischen Veränderungen Der detaillierte Vergleich des frnhd. Befundes mit den Daten aus dem heutigen Deutschen bestätigt tatsächlich den ersten oberflächlichen Eindruck weit reichender diachronischer Veränderungen in Bezug auf das diskontinuierliche Auftreten von Nominalphrasen und Präpositionalphrasen. Davon ausgenommen ist allerdings die Extraposition von satzwertigen Phrasen, die wie im heutigen Deutschen im Frnhd. auch satzgebunden zu sein scheint. Deutlich verschieden vom heutigen Deutschen sind jedoch die belegten Varianten von Distanzstellungen fur Präpositionalphrasen und Nominalphrasen in Texten aus dem 15. bis 17. Jh. Anders als im heutigen Deutschen ist die Extraktion von Konstituenten aus der Nominalphrase formal nicht auf Präpositionalphrasen und Nominalphrasen im Kongruenkasus beschränkt: Besonders häufig finden sich im Frnhd. genitivische Phrasen links von ihrem Kopfnomen, weitaus seltener sind Präpositionalphrasen in SplitKonstruktionen zu finden, Nominalphrasen im Kongrenzkasus sind im Textkorpus nicht belegt. Es stellt sich die Frage, ob auch die anderen Beschränkungen, die für das heutige Deutschen im Hinblick auf die Distanzstellung nominaler Attribute zu beobachten sind, für die diskontinuierlichen Nominalphrasen des Frnhd. Gültigkeit haben. Wie sich zeigt, verhalten sich die genitivischen Attribute im Frnhd. wie die präpositionalen Attribute des heutigen Deutschen: So lassen sich keine Beschränkungen den Typ des Prädikats betreffend beobachten, wenn die Matrix-NP als Subjekt fungiert, wie in (161) und (162) illustriert. Neben Subjekt-NPn unergativer Verben wie im heutigen Deutschen finden sich im Frnhd. SubjektNPn von transitiven Verben (162) sowie von Eigenschaftsprädikaten (163) in Distanzstellung.

Attributive Genitivphrasen

282 (161)

sie wurden vast betrübt das [NP ir] gen [NP etlich

(162) a.

vnd hett [NP vnser] gen [NP keiner

b.

(163)

]„,,„, begunden weynen (HS 215.7)

],„„, synen vatter nye gsehen

(HS 269.14) [NP Des Türckischen Beegs/ [so als ein Geysei allhie ligt]/ Diener] [NP einer ] hat ein Soldaten/ so allda die Wacht gehalten/ allein vmb etlich wenig Gelt dahin gebracht/ das er Sodomiterey mit jhme getrieben (A34.16) vnd wo [NP der gelider] gtn [NP ains abgethon werden

]„OM faul vnd vnnütz ist/ das sol (Spiegel 354.28)

Die Wortstellung in (162) und (163) ist im heutigen Deutschen nur möglich, wenn das partitive Attribut als Präpositionalphrase lexikalisiert ist. Eine weitere Beschränkung für die Distanzstellung von partitiven Attributen bezieht sich auf Matrix-NPn in der Funktion von Dativobjekten. Im Frnhd. ist die Distanzstellung auch in diesem Fall möglich, wie der Beleg in (164b) gegenüber dem ungrammatischen Beispiel in (164a) belegt. (164) a. *[MP Kritikern] gefällt der neue Film mit Bruno Ganz [NP etlichen ]D,T b. vnd wird deren] [[NP einem C O W des Monats 180. Thaler/ (...) geben (A 183.19)

Schließlich findet sich die Distanzstellung im Frnhd. auch dann, wenn die Matrix-NP in eine Präpositionalphrase eingebettet ist, wie an dem Beispiel unter (160a) abzulesen ist, das hier als (165) wiederholt wird:43 (165)

[pp Nit weit von Speir]k [pp in [[NP ein wirdtshauß diener kommen, [Cp welches an der Straß lag]j

J

j ]] sind die (RB 12.7)

Daneben ist weist das Frnhd. Serialisierungen wie die fügenden auf, in denen das partitive Attribut links an die NP adjungiert ist:

43

Beispiele wie daß [NP der vertriebenen Mohren] [NP bey 20000.

] nach Barbaria

abgefahren (R 192.19) sind keine Beispiele für die Extraktion aus Präpositionalphrasen, weil bey hier nicht als Präposition, sondern als Adverb mit der Bedeutung 'ungefähr' zu interpretieren ist.

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd. (166) a. b.

283

Solchs warde dem stattvogt [PP durch [MP [NP seiner diener]gen [einen von stund an zu:o wissen gethon (RB 51.14) wegen sie die Neapolitanischen Galleren [pp auß [NP [NJ> jhrer Meerhaven]gen einem ]d„]/ darinn sie sich Vngewitters halben Salvirt, außgetrieben hetten (R 120.7)

Der frnhd. Befund lässt sich wie folgt zusammenfassen: Allgemein scheint die Distanzstellung im Frnhd. weniger beschränkt zu sein als im heutigen Deutschen. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Perioden der deutschen Sprachgeschichte in Bezug auf Split-Konstruktionen besteht jedoch darin, dass es im Frnhd. genitivische partitive Attribute sind, die in einer Position links von der quantifizierenden Nominalphrase erscheinen. Und diese genitivischen Attribute des Frnhd. verhalten sich wie die präpositionalen Attribute des Gegenwartsdeutschen im Hinblick auf ihre Stellungseigenschaften und die für Stellungsvarianten bestehenden Beschränkungen. Dieser Befund steht in Einklang mit der aus der Literatur hinreichend bekannten Beobachtung, dass die Frequenz genitivischer Attribute zu Gunsten von nominalen Attributen mit Kongruenzkasus und von präpositionalen Attributen im Verlauf des Frnhd. kontinuierlich abnimmt (vgl. beispielsweise Ebert 1986). Arbeiten im Rahmen des Prinzipien-wnd-ParameterModells können diesen Befund jedoch nicht erklären. Denn die Stellungsfestigkeit genitivischer Attribute im Gegenwartsdeutschen wird in diesen Arbeiten darauf zurückgeführt, dass ein Kopfnomen strukturellen Genitivkasus nur an eine Schwesterkonstituente zuweisen kann, und die Vorfeldposition aus diesem Grund ausgeschlossen ist. Da sich genitivische Attribute im Frnhd. wie die präpositionalen partitiven Attribute des Gegenwartsdeutschen verhalten, wären sie gemäß Pafels Analyse für das Gegenwartsdeutsche als Adjunkte an DP aufzufassen, wie in (167) dargestellt. (167)

[Dp Diser undanckbaren !eüt]gen findt man noch [ DP [ DP seer vil]

^

Eine solche Struktur ist aber auszuschließen, weil sie die Zuweisung von Genitivkasus an das nominale Attribut nicht zulässt. Das ist nur möglich, wenn die genitivischen Attribute zum Kopfnomen in einer Komplement-Beziehung stehen. Die frnhd. Daten machen meiner An-

284

Attributive Genitivphrasen

sieht nach deutlich, dass die von Pafel vorgeschlagene Analyse von Split-Konstruktionen zwar wesentliche Aspekte der gegenwartssprachlichen Konstruktionen erfassen kann, aber die historischen Daten nicht beschreiben kann. Da seine Analyse außerdem die gemeinsame thematische Struktur der Split-Konstruktionen außer Acht lässt, möchte ich im Folgenden eine repräsentationeile Analyse vorschlagen, die beschreibungsadäquat sowohl im Hinblick auf die gegenwartssprachlichen als auch die frnhd. Daten ist. Die Beobachtung, dass das genitivische Attribut im heutigen Deutschen deutlich stellungsfester ist als im Frnhd. kann offensichtlich nicht auf der Grundlage der Kasustheorie erklärt werden, sondern muss andere Gründe haben. Im Sinne der bereits vorgestellten repräsentationellen Strukturen möchte ich auch für die frnhd. Extraktionsphänomene eine Analyse vorschlagen, die auf Identitätsbedingungen und der gemeinsamen Teilhabe an Substrukturen durch verschiedene Attribute der Struktur basiert, und die Beziehungen zwischen einer Lücke und ihrem Füller nicht auf der Grundlage von Transformationsmechanismen erklärt. Die Lücke in einer Konstituente wird als eine Eigenschaft dieser Konstituente verstanden, und die Beziehung zwischen der Lücke und ihrem Füller mittels des Mechanismus des Strukturteilens erfasst; Lücke und Füller teilen sich also bestimmte Merkmale. In Anlehnung an Pollard & Sag (1994:159ff.)44 schlage ich die in (168b) skizzierte Analyse für die frnhd. Split-Konstruktionen vor, in denen eine genitivisch markierte NP einem substantiviertem Numerale vorausgeht. Diese Konstruktion steht stellvertretend für andere diskontinuierliche Nominalphrasen des Frnhd. Die Repräsentation in (168) beschränkt sich auf die Darstellung der für unseren Zusammenhang relevanten Merkmale. (168) a.

44

das sie [MP der graffen] [NP dry

] erschlu:ogen

(HS 276.2)

In Pollard & Sag (1994:157) werden diese Konstruktionen den strong unbounded dependency constructions zugerechnet, denen außerdem Konstruktionen wie Topikalisierung, wA-Fragen, wfj-Relativsätze, »f-Kleft- und Pseudo-Spaltkonstruktionen angehören.

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd.

NP [LOCAL [1]]

285

VP [SLASH {[1]}]

der greifen NP [SLASH {[1]}]

NP LOCAL [1] SLASH {[1]} dry

erschlugen

Am unteren Ende der Repräsentation in (168) wird eine Abhängigkeit durch eine Spur eingeführt, die neben lokalen Merkmalen wie Kopfmerkmalen, Subkategorisierung und Inhaltsmerkmalen ein nichtlokales SLASH-Merkmal trägt.45 Nichtlokal meint die Eigenschaft von Topikalisierungskonstruktionen, prinzipiell unbeschränkt zu sein. Wie durch die geschweiften Klammern angezeigt, ist der Wert des SLASHMerkmals ein Mengenwert. In unserem Beispiel ist diese Menge einstellig;46 ihr einziges Element entspricht der lokalen Information des nominalen Komplements. Sowohl das SLASH-Merkmal als auch das 45

46

Der Name geht auf die Form der von Gazdar (1981) modellierten Beziehung zwischen Lücke und Füller als beispielweise NP/NP zurück, die besagt, dass einer Phrase der Kategorie NP eine Phrase derselben Kategorie fehlt (Schrägstrich = Slash). In Fällen multipler ungebundener Beziehungen, wie in dem folgenden Beispiel aus Pollard & Sag (1995), kann diese Menge mehr als ein Element enthalten: [A violin this well crafted]·,, even [the most difficult sonata]j will be easy to play j on

Attributive Genitivphrasen

286

Merkmal LOKAL gehören zu der Repräsentation einer phonetisch leeren Konstituente, d.h. einer Spur. Als Komplement eines lexikalischen Kopfes erhält diese Spur genau diejenige lokale Information, die der lexikalische Kopf, in diesem Fall das substantivierte Numerale, verlangt. Anders ausgedrückt, durch die Realisierung als Komplement wird der unterspezifizierte LOCAL-Wert der Spur mit den Forderungen des nominalen Kopfes identifiziert. Das wird durch den Mechanismus des Strukturteilens ausgedrückt: Wie in dem Schema in (168) mittels der einheitlichen Indizes in eckigen Klammern angezeigt, wird der Wert des LOKAL-Merkmals von dem nichtlokalen SLASHMerkmal geteilt. Die verarmte Struktur der Spur ist in (169) gegeben. (169)

PHON

ο LOCAL I

[1] CAT

HEAD noun [CASE gen] COMPS ο

SYNSEM NONLOCAL

[SLASH {[!]}]

Die lokalen Merkmale der Spur entsprechen im Hinblick auf die kategorialen Merkmale exakt den Erfordernissen des nominalen Kopfes. Die gesamte lokale Information einschließlich Kopimerkmalen, Subkategorisierung und Inhalt wird von der Lücke zu der Position des Füllers weitergegeben, wie das multiple Auftreten von entsprechenden Indizes in der Baumstruktur in (168) anzeigt. Der für diese Weitergabe verantwortliche Mechanismus ist ein Prinzip der Universalgrammatik, das von Pollard & Sag (1994) das Nonlocal Feature Principle genannt wird. Eine vereinfachte Version ist hier angeführt. Nonlocal Feature Principle The value of each nonlocal feature on a phrasal sign is the union of the values on the daughters.

Das Nonlocal Feature Principle bewirkt, dass jeder Knoten im Baum, der die Spur dominiert, genau diesen Wert in der Merkmalsmenge seines SLASH-Merkmals hat. Auf diese Weise wird das SLASH-Merkmal

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Fmhd.

287

von der Spur zum entsprechenden Mutterknoten weitergereicht, bis es durch Identifikation mit dem lokalen Merkmal der Füller-Phrase gebunden wird. Zur Lizensierung von Kopf-Füller-Strukturen benötigen wir das Schema in (170): (170)

F I L L E R - D T R | S Y N S E M | L O C A L [1]

WEADverb [ VFORM/jm] LOC| C A T

DTRS

HEAD-DTR|SYNSEM

SUBJ < N P > COMPSO

NONLOCI SLASH {[1]}

Das Phrasenstrukturschema in (170) illustriert, wie die VP sich mittels einer ungebundenen Spur mit einer Füllerphrase verbindet, deren lokale Merkmale mit denen der Spur übereinstimmen. Ein weiteres Prinzip der Universalgrammatik legt schließlich fest, wo in einer Struktur Spuren auftreten können, vgl. Pollard & Sag (1994:172). Trace Principle Every trace must be subcategorized by a substantive head.47

Diesem Prinzip zufolge sind Spuren lizensiert, wenn sie Komplemente lexikalischer Köpfe sind. Für die in diesem Abschnitt präsentierten frnhd. Daten heißt das, die Distanzstellung von Kopfnomen und Attribut ist lizensiert, solange dieses Attribut Komplementstatus hat. Und genau diese Relation besteht zwischen dem Kopfnomen und den genitivischen Attributen, wenn sie postnominal erscheinen (d.h. partitive

47

Pollard & Sag gehen davon aus, dass für Sprachen wie das Englische eine zusätzliche Beschränkung für das Auftreten von Spuren gilt, so dass das Trace Principle für das Englische die Form hat: 'Every trace must be strictly subcategorized by a substantive head.' Das wird dann so interpretiert, dass der SYNSEM-Wert der Spur nur ein nicht-iniziales Element auf der SUBCAT-Liste des fraglichen Kopfes sein darf. Damit können that-trace-EffzVXz korrekt vorhergesagt werden.

288

Attributive Genitivphrasen

Genitive und Genitive von unbelebten Individualnomen). Da auch Spezifikatoren von dem jeweiligen Kopfnomen subkategorisiert werden, sollten Spezifikatoren ebenfalls in Distanzstellung von der Matrix-NP auftauchen können. Wie die Belege nicht-partitiver extrahierter Genitiv-NPn aber zeigen, weisen die fraglichen Kopfnomen bis auf eine Ausnahme alle Artikelwörter auf, was eine Analyse dieser Genitive als Spezifikatoren meines Erachtens ausschließt. Denn die besagten Strukturen sind alle einer Phase des Frnhd. zuzuordnen, in der die Kookkurrenz von pränominalen Genitiven und Artikelwörtern nicht mehr möglich ist (s. oben). Sehen wir vom Problem der fehlenden negativen Evidenz für historische Textkorpora ab, so suggeriert der frnhd. Befund, dass Spuren in Spezifikator-Position wie im gegenwärtigen Englischen ausgeschlossen sind, und wir folglich die in Fußnote 47 für das heutige Englische angeführte Version des Trace Principle auch für das Frnhd. übernehmen müssen, um Spuren in der SpezifikatorPosition auszuschließen. Die Extraktion von Präpositionalphrasen im Frnhd. kann schließlich ebenfalls auf ihren Komplementstatus zurückgeführt werden und damit eine Analyse wie in (168) angenommen werden. Auf die Situation im heutigen Deutschen lässt sich der repräsentationelle Ansatz nicht so einfach übertragen. Wenn er auch den folgenden Grammatikalitätskontrast richtig vorhersagt, da nur Spuren mit Komplementstatus durch das Trace Principle lizensiert sind, vgl. (171a), während in (171b) eine Spur mit Adjunktstatus vorliegt. (171) a. Von Truffaut habe ich die meisten Filme b. *Mit Prädikat habe ich die meisten Filme

gesehen. gesehen.

Auch die Extraktion partitiver Präpositionalphrasen lässt sich im Rahmen der für die frnhd. Daten vorgeschlagenen Analyse erklären (vgl. (122b), (138)). Problematischer stellt sich dagegen die Analyse von Split-Konstruktionen dar, in denen eine NP-Konstituente in der Position vor dem finiten Verb erscheint. NP-Split-Konstruktionen stellen ein Problem für jeden Ansatz dar, der davon ausgeht, dass Nominalphrasen Komplemente eines funktionalen Kopfes sind. Denn dem Trace Prin-

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Fmhd.

289

ciple zufolge sind nur Spuren lexikalischer Köpfe lizensiert, folglich keine von dem funktionalen Kopf D° subkategorisierte Spur. Aber auch eine Analyse der NP, die Artikelwörter als Spezifikatoren versteht, lässt eine NP-Spur nicht zu, wenn sie als Spur eines Kopfes aufgefasst wird, denn Köpfe sind trivialerweise nicht subkategorisiert, vgl. (172). NP

(172)

SPR ο COMPSo

[1] Det [SPEC [2]]

[2]N SPR COMPSo

viele

Filmemacher

Wenn NP-Split-Konstruktionen so interpretiert werden, als ob ihnen eine Matrix-NP der Form (172) zugrundeliege, dann kann der vorgestellte Ansatz diese Konstruktionen nicht erklären. Vor dem Hintergrund der historischen Daten ist jedoch noch eine andere Struktur für Nominalphrasen denkbar, die sich aus einem Indefinitpronomen oder Quantitätsadjektiv und einem Nomen zusammensetzen: Beim historischen Vorläufer dieser Konstruktion handelt es sich um substantivierte Quantitätsadjektive und Indefinitpronomina, die ihrem nominalen Komplement Genitivkasus zuweisen, wie (173) am Beispiel des Quantitätsausdrucks viel zeigt: (173)

es werben [NP vil

alter eerlicher reicher mann]geiJnora umb mich (W-R 76.25)

Dass nominale Attribute im Verlauf des Frnhd. immer seltener als Genitivphrasen lexikalisiert werden, ist ein bekanntes Faktum der deutschen Sprachgeschichte. Doch nicht nur Präpositionalphrasen, sondern auch Nominalphrasen mit Kongruenzkasus treten zunehmend an die Stelle genitivischer Attribute, wie im Zusammenhang mit den partiti-

Attributive Genitivphrasen

290

ven Attributen von Mengensubstantiven noch zu zeigen sein wird. In Kontexten, in denen das genitivische Attribut nicht eindeutig markiert ist, bestehen vor diesem Hintergrund zwei Möglichkeiten der strukturellen Analyse, wie am Beleg unter (174) demonstriert: (174) a. b.

in welchem Scharmützel auch [ w viel Personen] vmbkommen (A 23.27) in welchem Scharmützel auch [mp viel [np Personen]gen]nom vmbkommen in welchem Scharmützel auch [mp [d* viel] [κ Personen],,^™,,,, vmbkommen

Während in (174a) das quantitative Adjektiv viel seinem partitiven Attribut Genitivkasus zuweist, liegt (174b) eine Interpretation zu Grunde, die viel als Artikelwort und das partitive Attribut als Kopfnomen versteht.48 Aufgrund dieser Reanalyse tritt zunehmend Kongruenz des quantitativen Adjektivs mit der Mengenbezeichnung ein, wie in (175) wiederum am Beispiel von viel illustriert.49 (175)

Zu:oletst so kumpt er [ PP zu:o [np vilen scho:enen und kostlichen stu:olen] d „] (W-R 181.19)

Plausibilität gewinnt dieses Szenario durch die spezifische Entwicklung im Flexionsparadigma der Indefinitpronomomina ein und kein in der deutschen Sprachgeschichte: Denn bis zum Beginn des Frnhd. ist flexionsmorphologisch nicht zwischen dem pronominalen und dem adnominalen Gebrauch zu unterscheiden, da im Nominativ Singular in allen Genera sowie im Akkusativ Singular des Neutrums stark flektierte und unflektierte Formen in beiden Verwendungsweisen austauschbar sind. Erst im Frnhd. lässt sich beobachten, wie sich entsprechend des Gebrauchs der Indefinitpronomomina zwei Flexionsparadigmen etablieren: Im Maskulinum und Neutrum Singular des adnomi48

49

Unterstützung für diese Entwicklung wird von den entsprechenden englischen Daten geliefert: Indefinitpronomomina verhalten sich entweder wie Artikelwörter (i) oder wie Kop&omen partitiver Konstruktionen (ii). Nur (i) hat zwei Lesarten, nämlich eine schwache Lesart in unbetonter Form und eine starke (partitive) Lesart in betonter Form (vgl. Diesing 1992, de Hoop 1992 für eine detaillierte Diskussion solcher Daten). (i) Some senators were acting strange. (ii) Some of the senators were acting strange. Paul, Wiehl & Grosse (1989:361) zufolge sind einzelne Beispiele für flektiertes viel bereits im Mhd. belegt.

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd.

291

nal verwendeten Indefinitpronomomens haben sich die unflektierten Formen gegenüber den stark flektierten Formen im 16. Jh. durchgesetzt,50 im Femininum tritt die stark flektierte Form an die Stelle der unflektierten Form. Die stark flektierten Formen von Maskulinum und Neutrum im Singular bleiben auf den pronominalen Gebrauch beschränkt. Und weil im Frnhd. flexionsmorphologisch nicht zwischen dem pronominalen und adnominalen Gebrauch der Indefinitpronomomina unterschieden wird, entstehen für Kontexte, in denen das genitivische Attribut nicht overt für diesen Kasus markiert ist, genau dieselben Mehrdeutigkeiten hinsichtlich der Strukturzuschreibung wie für das quantitative Adjektiv viel. Mit der Konsequenz, dass auch diese Konstruktionen so verstanden werden, dass hier ein quantitatives Artikelwort die Mengen- oder Substanzbezeichung determiniert. Ich vertrete nun die Ansicht, dass diese Reanalyse nur partitive Konstruktionen betrifft, in denen die Mengenbezeichnung und das fragliche Indefinitpronomomen, Numerale oder Adjektiv adjazent sind. In Fällen, in denen die Substanzbezeichnung dem Kopfnomen vorausgeht, findet die Reanalyse jedoch nicht statt. In diesem Fall kongruieren die beiden Nominalphrasen zwar auch im Hinblick auf Genus-, Numerus- und Kasusmerkmale, der quantifizierende Ausdruck behält jedoch seinen nominalen Charakter und wird nicht als Artikelwort reanalysiert. Daten wie in (176) und (177), in denen Indefinitpronomomina wie ein und kein die für die pronominale Verwendung charakteristischen Suffixe -er und -es aufweisen, erfahren auf diese Weise eine natürliche Erklärung, denn nur in den Beispielen (176b) und (177b) hat die Reanalyse des Indefinitpronomomens zum Artikelwort stattgefunden.51

50

51

Nach Häckel & Walch (1988) lassen sich die starken Flexionsendungen in adnominalem Gebrauch im 16. Jh. nur noch im Einzelfall belegen. In Beispielen wie (i) Brot mag er nur weißes. (ii) Brot mag er nur das weiße. sind die Verhältnisse anders als bei Indefinitpronomomina, denn in (i) und (ii) hängt die Adjektivflexion eindeutig von der Realisierung eines Artikelworts ab. In

292

Attributive Genitivphrasen

(176) a. b.

Flötist ist heute einer erschienen Heute ist e i n - 0 Flötist erschienen

(177) a. b.

Brot ist keines mehr da Es ist kein-0 Brot mehr da

Im heutigen Deutschen erhalten NP-Split-Konstruktionen deshalb eine Analyse, wie ich sie fur die frnhd. Daten vorgeschlagen habe: Die Mengenbezeichnung, die dem Kopfnomen in der Topikposition vorausgeht, wird als Füllerphrase einer Lücke in Komplementposition interpretiert. Dieser Vorschlag ist auch mit den anderen Eigenschaften von NP-Split-Konstruktionen wie beispielsweise der Distribution der adjektivischen Flexionstypen kompatibel: (178) a. b.

Lotta mag keine modernen Autos Moderne Autos mag Lotta keine

In der hier vorgeschlagenen repräsentationeilen Analyse von NP-SplitKonstruktionen legen Merkmale auf der COMPS-Liste des Kopfnomens den Kasus (Genitiv oder Kongruenzkasus) und die thematische Rolle der Spur fest (d.h. Identifikation der lokalen Merkmale von Kopf und Komplement). Die SLASH-Abhängigkeit wird durch das Nonlocal Feature Principle projiziert und durch Identifikation mit einer Füllerphrase abgebunden. Es ist an dieser Stelle zu unterstreichen, dass sich partitive Nominalphrasen mit einem NP-Komplement in der Vorfeldposition im heutigen Deutschen nur durch ihre Kasusmarkierung von den entsprechenden firnhd. Beispielen unterscheiden, eine historische Entwicklung, die dem Abbau von Nominalmorphologie in der deutschen Sprachgeschichte geschuldet ist. Die strukturelle Relation zwischen Kopf und Komplement ist in Split-Konstruktionen jedoch keinerlei Wandel unterworfen. Anlehnung an Analysen von Olsen (1987) und Fanselow (1988) nehme ich deshalb für diese Beispiele einen leeren nominalen Kopf an. Die Mengenbezeichnung ist allerdings auch in diesem Fall partitives Attribut, d.h. konkret von der Substanz 'Brot' als Ganzheit gliedert das Kopfnomen einen Teil aus (nämlich 'das WEIße Brot'). Leider fehlen Informationen darüber, wann diese Konstruktion zum ersten Mal in der deutschen Sprache belegt ist. Ich vermute aber, dass sie jüngeren Datums ist.

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Fmhd.

293

Die Analyse, die hier für NP-Split-Konstruktionen vorgeschlagen wird, lässt sich auf die pseudopartitiven Split-Konstruktionen übertragen: In beiden Fällen ist die NP-Lücke in Komplement-Position durch das Trace Principle lizensiert. Offen ist allerdings noch die Frage, weshalb die substanzbezeichnende NP, wenn sie genitivisch markiert ist, in pseudopartitiven Konstruktionen nicht in Distanzstellung zur Mengenbezeichnung auftreten kann, wie der Grammatikalitätskontrast in (180) zeigt: (179) a. b.

Lotta findet einen Stapel alte Bücher, Lotta findet einen Stapel alter Bücher.

(180) a. [np Alte Bücher]^ findet Lotta [einen Stapel b. *[mp Alter Bücher]gen findet Lotta [einen Stapel

J^k ^

Meines Erachtens hängt die Ungrammatikalität von (179b) mit der Markiertheit von Genitivkasus in adnominalen Kontexten zusammen, die sich an der Ausbreitung von Präpositionalphrasen und Nominalphrasen mit Kongruenzkasus in genitivtypischen Kontexten ablesen lässt. Deshalb kann ein adnominaler Genitiv nur noch adjazent zum Nomen partitiv interpretiert werden, aber nicht mehr in der im Frnhd. weit verbreiteten Distanzstellung. Markiert ist der partitive Genitiv auch deshalb, weil er in dieser Funktion im heutigen Deutschen nicht mehr frei vorkommen kann, wie sich noch im Frnhd. ein genitivus partitivus unabhängig von einem Kopfnomen belegen lässt: (181) a. b.

(er) tranck sich gar [voller weins] dass er geda:echte und [niemands] eynliesse

(RB 162.27) (RB 181.1)

Damit ist es aber für einen Sprecher im heutigen Deutschen nicht mehr möglich, eine genitivische Phrase partitiv zu interpretieren, wenn sie ohne Anbindung an ein entsprechendes Kopfhomen erscheint. Das gilt gleichermaßen für Genitivattribute, die links von ihrem Kopfhomen im Vorfeld auftreten, als auch für Genitivattribute, die ihrem Kopfhomen folgen. Die hier vorgestellte Analyse diskontinuierlicher Nominalphrasen kann sämtliche in diesem Abschnitt diskutierten Extraktionsphänomene

Attributive Genitivphrasen

294

in ihrer frnhd. und gegenwartssprachlichen Form erfassen. Die einheitliche Analyse von NP-Split, Pseudopartitive-Split und Partitive-Split im Sinne einer Lücke in der Komplement-Position einer Nominalphrase wird zudem der allen drei Konstruktionen gemeinsamen thematischen Beziehung zwischen dem Kopfhomen und dem partitiven Attribut gerecht. In dem Vorschlag von Pafel (1995), der für jede dieser Konstruktionen eine andere Struktur vorsieht, findet sich diese Entsprechung von thematischer Beziehung und syntaktischer Struktur dagegen nicht.52 Über die partitiven Split-Konstruktionen hinaus gilt die Analyse auch für nicht-partitive PP-Extraktionen, wie die Beispiele unter (171) gezeigt haben. 4.4.4 Exkurs: (K)Eine partitive Konstruktion Abschließend soll auf eine Konstruktion des Mhd. eingegangen werden, deren syntaktische und semantische Nähe zu den oben angeführten Partitivkonstruktionen nicht zu leugnen ist. Diese Konstruktion setzt sich zusammen aus ein, einfachem Demonstrativpronomen, Adjektiv im Superlativ und Nomen. Beispiele aus dem Prosalancelot sind unter (182) angeführt. (182) a. b. c.

Das was [ein der lustigste wait von Kleynen Brytanien] (PL 24.32) Werlich frauw, des bedorfft ich gar wol, wann ich [ein das unberatest mensch] bin das in der weit lebet; (PL 46.26) Das sagt uns die historia das Galaads mutter were [ein die schonst frauw] (PL 86.15)

Auch wenn in der Mehrzahl der Belege die dem Indefinitpronomen folgende Nominalphrase im Nominativ erscheint, kommen vereinzelt doch auch andere Kasus wie der Akkusativ vor:

52

Der thematische Zusammenhang ist auch in der von Löbel (1990) vorgeschlagenen Unterscheidung nicht mehr rekonstruierbar, in der sie für partitive Konstruktionen von einem partitiven präpositionalen Attribut und einer Mengenbezeichnung als Kopfhomen ausgeht, und fur pseudopartitive Konstruktionen annimmt, dass der Substanzbezeichnung der Status eines lexikalischen Kopfes N°, der Mengenbezeichnung aber der Status eines funktionalen Kopfes Q° zukommt.

Zu diskontinuierlichen Nominalphrasen im Frnhd.

(183)

295

das er [ein den kunsten ritter] zu gesellen hatt der hut von synem bette offgestunt (PL 302.5)

Von Partitivkonstruktionen nach dem Indefinitpronomomen ein (vgl. Abschnitt 4.4.2) unterscheiden sich die Konstruktionen in (182) und (183) dadurch, dass erstens die dem Indefinitpronomen folgende Nominalphrase nicht im Genitiv steht, und dass zweitens das Kopfhomen dieser Nominalphrase im Singular und nicht im Plural erscheint, wie aufgrund der Teil-Ganzes-Beziehung zwischen Indefinitpronomen und partitivem Attribut zu erwarten wäre. Beispiele wie (184) zeigen, dass beide Konstruktionen nichtsdestotrotz koordinierbar sind. (184) a.

b.

Da kam der hohste ritter, der under yn allen was, fur gesprungen und [[ein der stolczste und der rechtest] und [der wisten eyner]], der was genant Graiers (PL 220.30) Ir werdent sicherlich [[[ein der best] und [höhsten eyner]] von der weit] (PL 264.25)

In (184) finden wir eine Koordinationsstruktur, deren erstes Konjunkt die fragliche Konstruktion darstellt. Das zweite Konjunkt aber ist eine partitive Konstruktion, wie sie aus Abschnitt 4.4.2 bekannt ist: eine genitivische NP erscheint links von dem Indefinitpronomen einer. Überhaupt stellt sich die Frage nach der Funktion von ein in diesen Konstruktionen: Als Numeral ist es aus oben genannten Gründen offensichtlich nicht aufzufassen. Ebenso wenig aber als indefiniter Artikel, als der sich ein im heutigen Deutschen nicht mit inhärent eindeutigen Konzepten verbindet, dessen Interpretation vielmehr auf der Möglichkeit mehrerer Entitäten einer Art basiert. Aufgrund des Superlativs repräsentieren die fraglichen Nominalphrasen aber durchgehend funktionale Konzepte, insofern beispielsweise die Nominalphrase in (182a) auf den anmutigsten Wald in der Bretagne referiert. (185) belegt die Koordination der fraglichen Konstruktion auch mit dieser Variante. Ein Kopfhomen fehlt in beiden Konjunkten. (185) a. b.

das ich gern were [[ein der höhst von der werlt] und [der edelste]] (PL 264.33) er was [[ein das gütest kint] und [das miltest]] da man zu recht gut solt wesen. (PL 106.26)

296

Attributive Genitivphrasen

Diese Konstruktion ist meines Wissens im Frahd. nicht mehr belegt. Mir ist unklar, wann und in welchem Kontext diese Konstruktion entsteht, und weshalb sie wieder aus dem Deutschen verschwindet. Interessanterweise findet sie sich auch im Me., wie Fischer (1992) zu entnehmen ist. Fischer weist darauf hin, dass diese Konstruktion im Me. regelmäßig auftritt, während sie im Ae. kaum zu finden sei: (186)

oon the beste knyght 'the very best knight'

Ein drückt ihrer Ansicht nach in diesen Beispielen Einzigartigkeit aus, seine Position diene dazu, es besonders zu betonen. Seine Funktion kann auch als intensivierend bezeichnet werden. Trotz der engen Verbindung zu der Funktion von ein als Numeral argumentiert Mustanoja (1958), dass es sich hier nicht um partitive Konstruktionen handelt, obwohl die Nähe zu Konstruktionen wie (187) offensichtlich sei. (187)

oon of the beste knyghtes

Aufgrund seiner Nähe zu den partitiven Konstruktionen entstehen laut Fischer im späten Me. hybride Konstruktionen, die den partitiven Marker of in Verbindung mit einem Singular- anstelle eines Pluralnomens zeigen. (188)

Oon of the beste entecched creature one of the most gifted creature(s)

(Troilus V.832)

Nach Fischer ist es der ungewöhnlichen Form dieser Konstruktionen sowie der Nähe der weniger opaken Partitivkonstruktionen zuzuschreiben, dass Konstruktionen wie in (186) im Verlauf der englischen Sprachgeschichte aus der Sprache verschwinden. Eine entsprechende Erklärung lässt sich für das Verschwinden der Konstruktion im Deutschen vermuten.

Die Entstehung von Genitivkomposita

297

4.5 Weitere Evidenz: Die Entstehung von Genitivkomposita Die Teutschen haben die Freiheit, alle Tage neue zusammengesetzte Wörter zu machen (Aichinger, Versuch einer teutschen Sprachlehre 1754)

In der Literatur ist der Stellungswandel des attributiven Genitivs entweder im Kontext eines Gesetzes der wachsenden Glieder (Behaghel 1932) oder anderer Wortstellungsveränderungen in der deutschen Sprachgeschichte interpretiert worden (Braunmüller 1982). Von Oubouzar (1993) wurde demgegenüber vorgeschlagen, diesen Stellungswandel auf einen Verlust der Artikelfunktion des pränominalen Genitivs zu Gunsten des einfachen Demonstrativpronomens zurückzufuhren. Wie die vorausgehende Diskussion gezeigt hat, lässt sich tatsächlich ein Zusammenhang mit Veränderungen im Artikelsystem des Deutschen etablieren - wenn auch anders als von Oubouzar vermutet (vgl. Abschnitt 4.3.2). Dass dieser Stellungswandel seinerseits Auswirkungen auf einen weiteren Bereich der Grammatik hat, das sollen die folgenden Daten zeigen, welche den plötzlichen Anstieg der Produktivität von Genitivkomposita im Frnhd. im Zusammenhang mit den Veränderungen in der Nominalphrase interpretieren. 4.5.1 Nominalkomposita im Althochdeutschen Im Ahd. lassen sich zwei Typen von Nominalkomposita unterscheiden: Zum ersten Typ gehören Ν + N-Komposita, deren erste Konstituente ein Nominalstamm ist. Dieser Typ ist in (189) dargestellt: (189)

a. b.

man-a-houbit 'Knecht' tur-i-wart 'Türhüter' pir-o-poum 'Birnbaum'

tag-a-sterro 'Morgenstern' spil-i-hus 'Ringplatz' spil-o-man 'Spielmann'

teig-a-troc 'Teigtrog' slag-i-federa 'Schwungfeder' grab-o-hus 'Grabmal'

In (189) wird ein Kompositionsvokal wie -a-, -i- oder -o- verwendet, um ein Nominalkompositum zu bilden. In vielen Fällen entsprechen diese Kompositionsvokale nicht mehr dem Stammvokal der ersten

Attributive Genitivphrasen

298

Konstituente. Darüber hinaus finden sich Nominalkomposita, wo dieser Kompositionsvokal durch -e- ersetzt worden ist (190a) oder als Folge lautlicher Veränderungen vollständig verschwunden ist wie in (190b).53 (190)

a. b.

hov-e-stat 'Hofstatt' ambaht-0-man 'Verwalter'

tag-e-ding 'Übereinkunft' got-0-spel 'Evangelium'

got-e-dehti 'Frömmigkeit' win-0-blat 'Weinblatt'

Dieses Wortbildungsmuster ist ein aus dem Indoeuropäischen ererbtes Muster, das im Ahd. ausgesprochen produktiv ist. Der zweite Typ von Nominalkomposition im Ahd. umfasst Ν + NKomposita, deren erste Konstituente Genitivkasus aufweist und auf diese Weise eine syntaktische Relation zwischen beiden Konstituenten anzeigt, wie (191) illustriert. (191)

a. b.

senefes-korn 'Senfkorn' sunnun-tag 'Sonntag'

tages-lioht 'Tageslicht' hanin-fuoz 'Hahnenfuß'

wolves-miluh 'Wolfsmilch' hasin-ora 'Wegerich'

Bereits Grimm (1826:599) hat darauf verwiesen, dass es sich bei diesem zweiten Tp von Nominalkompositum um einen im Ahd. eher selten auftretenden Typ von Zusammensetzung handelt. Tatsächlich ist es in vielen Fällen schwer zu entscheiden, ob (192a) oder (192b) die dem vermeintlichen Kompositum zugrunde liegende Struktur ist. Diese strukturelle Mehrdeutigkeit entsteht durch die im Ahd. im Wesentlichen pränominal auftretenden Genitivattribute (s. Abschnitt 4.2.1). (192) Ab.

senefes korn [NP [NP senefes] korn] [NP senefes korn]

Die Abfolge senefes korn wird in (192a) als ein komplexes Nomen mit einem pränominalen Genitiv analysiert, während (192b) die Interpretation als Nominalkompositum repräsentiert. 53

Der Kompositionsvokal ist im Ahd. nur dann erhalten, wenn die erste Konstituente des Kompositums eine kurze Stammsilbe aufweist. Komposita wie heriberga und helliphorta zeigen, dass sich Ja-Stämme in dieser Hinsicht anders verhalten (vgl. Braune & Eggers 1987).

Die Entstehung von Genitivkomposita

299

Im Unterschied zum Ahd. (und auch Mhd.) entwickeln sich Genitivkomposita im Frnhd. zu einem ausgesprochen produktiven Wortbildungsmuster. Im 16., besonders aber im 17. Jh. steigt die Frequenz von Genitivkomposita sehr schnell an. Einige frnhd. Beispiele sind unter (193) angeführt. (193)

a. b. c.

Monats frist, Landtags Proposition, weibß kleider Elefanten Zeen, erenkranz Herrenstand, Bawren Auffruhr

Die Beispiele in (193a) zeigen das -(e)s-Suffix der stark flektierten Maskulina und Neutra. In (193b) repräsentiert das -(e)n-Suffix die Genitivmorphologie der schwachen Deklination im Singular und in (193c) den Plural des schwachen Flexionstyps. Bisherige Arbeiten zur historischen Wortbildung (Wegera 1984, Pavlov 1983, Henzen 1965, Paul 1920, Wagner 1905) sind sich darin einig, dass Genitivkomposita (i) aus lexikalisierten Phrasenstrukturen entstehen, und dass (ii) ihre Entwicklung mit der Nachstellung von attributiven Genitiven im Frnhd. in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang steht. Obwohl diese Annahmen deskriptiv adäquat sind, bleibt doch die genaue Natur der postulierten Beziehung zwischen der Entstehung eines Wortbildungsmusters und dem Wortstellungswandel des attributiven Genitivs weitgehend im Dunkeln. Außerdem bezieht sich die einschlägige Literatur ausschließlich auf die frnhd. Daten und vernachlässigt den Blick auf die entsprechenden Daten in älteren Perioden der deutschen Sprachgeschichte. Gerade die Einbeziehung auch älterer historischer Daten lässt die Frage nach der plötzlichen Produktivität des Wortbildungsmusters im Frnhd. aber in aller Deutlichkeit hervortreten. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass das fragliche Wortbildungsmuster tatsächlich erst im Frnhd. aufkommt, und dass ältere Belege im Sinne lexikalisierter syntaktischer Strukturen zu interpretieren sind. Des Weiteren wird zu zeigen sein, dass die Entstehung von Genitivkomposita nicht als Ergebnis konkurrierender Oberflächenformen zu verstehen ist, sondern sich aus den grundlegenderen diachronischen Änderungen ableiten lässt, welche die

Attributive Genitivphrasen

300

Genese der Nominalphrase im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte auszeichnen. Die Frage, ob Kompositionsprozesse als morphologische oder syntaktische Prozesse zu beschreiben sind, wird bis heute kontrovers diskutiert. Neuere Arbeiten beziehen sich hier vor allem auf das Phänomen der Verbalkomposita als ihrer empirischen Basis. Die Diskussion von Genitivkomposita fuhrt hier ein neues Set von Daten in die Diskussion ein. Und die historischen Daten werden zeigen, dass ein lexikalischer gegenüber einem syntaktischen Ansatz zu favorisieren ist. 4.5.2 Gegen eine isomorphische Erklärung Der einzige neuere Ansatz, der sich mit den Genitivkomposita des Fmhd. ausführlicher beschäftigt, ist Pavlov (1983). Seiner Ansicht zufolge ist deren Entstehung auf die Lexikalisierung von Nominalphrasen mit genitivischen Komplementen zurückzuführen, da die Lexikalisierung zu einer strukturellen Mehrdeutigkeit dieser Formen führen kann. Zwei Fälle unterscheidet Pavlov, in denen die erste Konstituente eine referenzielle oder eine generische Interpretation erhalten kann. Da Referenzfahigkeit eine Eigenschaft maximaler Phrasen ist, kann die mehrdeutige Struktur nur im ersten, nicht aber im zweiten Fall als eine syntaktische Phrase interpretiert werden. Der erste Fall von Mehrdeutigkeit betrifft laut Pavlov Strukturen mit einem Artikelwort, das sich entweder auf das Kopfnomen eines Nominalkompositums oder auf das pränominale genitivische Attribut einer syntaktischen Phrase beziehen kann, wie (194) und (195) illustrieren. (194) a. b.

wegen der Kirchen Ceremonien [[der Kirchen] Ceremonien] [der [Kirchen Ceremonien]]

a. b.

der pfaffen stand [[der pfaffen] stand] [der [pfaffen stand]]

(195)

Die Entstehung von Genitivkomposita

301

Wenn sich das Artikelwort auf die erste Konstituente bezieht, wie in der (a)-Interpretation angezeigt, wird diese Konstituente referenziell interpretiert, und (194) sowie (195) sind als Phrasenstrukturen zu verstehen. Wenn sich das Artikelwort wie in den (b)-Beispielen auf das Kopfhomen bezieht, erhält die erste Konstituente eine generische Interpretation. In diesem Fall handelt es sich bei (194) und (195) um Nominalkomposita. Der zweite Fall von Mehrdeutigkeit, den Pavlov diskutiert, betrifft Strukturen ohne ein Artikelwort. Dieses kann im Frnhd. wie auch im heutigen Deutschen bei indefiniten Pluralnomina fehlen, aber auch bei bestimmten Individualnomina, vgl. Kapitel 2. Beispiele einschließlich der möglichen Interpretationen sind in (196) und (197) gegeben. (196) a. b.

wyberlob [[wyber] lob] [wyber lob]

a. b.

fewres flamen [[fewres] flamen [fewres flamen]

(197)

Wie bereits bei den Beispielen unter (194) und (195) kann die erste Konstituente referenziell interpretiert und damit (196) und (197) als eine syntaktische Phrase aufgefasst werden. Morphologische Strukturen liegen im Fall einer generischen Interpretation von wyber respektive fewres vor. Pavlov nimmt nun an, dass es die Mehrdeutigkeit von Nominalphrasen wie in (194) bis (197) ist, die für die Entstehung von Genitivkomposita verantwortlich ist. Er beruft sich auf das universale Prinzip des Isomorphismus, das von einer eins-zu-eins-Beziehung zwischen Form und Bedeutung ausgeht (vgl. Vennemann 1978; Wurzel 1984 neben anderen). Und dieses Prinzip motiviert nach Pavlov die Entstehung von Genitivkomposita. Im Einzelnen geht er davon aus, dass im Frnhd. die folgenden Mittel zur Disambiguierung von Strukturen wie in (194) bis (197) verwendet werden: (i) eine konsequente orthographische Unterscheidung zwischen syntaktischen und morphologischen Strukturen,

Attributive Genitivphrasen

302

(ii) die Nachstellung des pränominalen Genitivs, und (iii) die Konsolidierung des Artikelsystems. Gegen Pavlovs Interpretation des historischen Befundes lassen sich eine Reihe von Argumenten anfuhren: Sicher ist es nicht die Lexikalisierung einer syntaktischen Struktur, die ihre Umdeutung als morphologische Struktur auslöst. Viele Beispiele lexikalisierter Phrasenstrukturen ließen sich an dieser Stelle anfuhren. So weist etwa Henzen (1965) auf lexikalisierte Phrasen aus Nomen + Adjektiv im Gegenwartsdeutschen hin: (198)

das Rote Meer

die deutsche Eiche

Ein anderes Beispiel lässt sich aus dem Französischen anfuhren, dessen Komposita laut Spencer (1991) eher lexikalisierte syntaktische als morphologische Stukturen sind. Einschlägige Beispiele sind (199)

parti ouvrier 'Arbeiterpartei'

toit-terrasse 'Dachterrasse'

Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen syntaktischen und morphologischen Strukturen besteht darin, dass syntaktische Strukturen transparent, morphologische Strukturen aber opak für syntaktische Regeln sind. So sind die Beispiele in (200) syntaktisch transparent, weil beide Konstituenten pluralisch markiert sind, wie die Pluralmarker -s respektive -x zeigen. (200)

hommes grenouilles 'Froschmänner'

les choux fleurs 'Blumenkohl (pl)'

Deshalb sind auch Beispiele wie unter (194) bis (197) eher Belege für lexikalisierte syntaktische Strukturen als für Komposita, da sich in vielen Fällen noch im Frnhd. die referenzielle Transparenz dieser Strukturen nachweisen lässt, wie an den folgenden Belegen zu zeigen sein wird: (201) a. b.

ausser dessen wollen sie (...) auch [deß vorigen Landtags schluss] weichen (R 213.2) vnd [seines Glaubens bekandtnuss] vor etlich 1000. Persohn gethan (R 120.30)

Die Entstehung von Genitivkomposita

303

Landtagsbeschluss ebenso wie Glaubensbekenntnis in (201) sind im heutigen Deutschen Nominalkomposita. Im Frnhd. jedoch handelt es sich in diesen Fällen eindeutig um lexikalisierte syntaktische Strukturen, abzulesen an dem pränominalen Adjektiv in (201a) und dem Possessivpronomen in (201b), die beide eine referenzielle Interpretation des pränominalen Genitivs bedingen. Die Referenzverhältnisse in (201) unterstreichen, dass hier eine syntaktische Struktur vorliegt.54 Die Phrasen in (202) enthalten jeweils einen Relativsatz, der sich auf den pränominalen Genitiv einer lexikalisierten Phrase bezieht. Wiederum schließt die syntaktische Transparenz eine Analyse im Sinne einer morphologischen Struktur aus. (202) a. b.

Nun wißt der wirt das sy zu nachtt [ain groß kertzen liecht] Hessen brinnen/ [die sy in sunderhait hetten lassen machen] (Fortunatus 73.10) was dann [landes werung] ist / [wo ainer mitt dem seckel ist] (Fortunatus 123.19)

Die prosodische Struktur syntaktischer und morphologischer Phrasen liefert ein weiteres Argument gegen die vermeintliche Mehrdeutigkeit von Phrasen wie in (194) bis (197): Während eine syntaktische Phrase in einem komplexen Nomen die Hauptbetonung auf der zweiten Konstituente trägt, werden Nominalkomposita im Allgemeinen auf der ersten Konstituente betont. Damit kann in der gesprochen Sprache die vermeintliche Mehrdeutigkeit gar nicht entstehen. Die Beschränkung seiner Datenbasis auf das Frnhd. ist meines Erachtens gleichfalls problematisch für die Pavlovsche Analyse. Denn wie oben gezeigt, besteht die von Pavlov postulierte strukturelle Mehrdeutigkeit bereits im Ahd. (vgl. die Strukturen in (192)). Wenn wir nun Pavlovs Analyse auf die ahd. Fakten ausweiten, stehen wir vor der Frage, warum wir Genitivkomposita im Ahd. nur vereinzelt beobachten, während sich das Frnhd. durch einen plötzlichen Anstieg dieses Wortbildungsmusters auszeichnet. Meines Erachtens hängt dieser Pro54

In der Umgangssprache finden sich viele Beispiele wie grüne Bohneneintopf, gelbe Erbsensuppe, roher Schinkenteller, bei denen das Adjektiv sich offensichtlich auf die erste Konstituente des Nominalkompositums bezieht. Vgl. dazu auch die Diskussion in Wunderlich (1986).

Attributive Genitivphrasen

304

duktivitätsanstieg mit den diachronischen Veränderungen zusammen, die sich in Bezug auf die Nominalphrase, genauer gesagt, auf die Relation zwischen Kopfnomen und den linken Erweiterungen beobachten lassen. Da diese Veränderungen unter bestimmten Bedingungen die Nachstellung genitivscher Komplemente zur Folge haben können, werden lexikalisierte Verbindungen aus vorangestelltem Genitiv und Kopfnomen im Frnhd. als Nominalkomposita reinterpretiert. Evidenz für diese Umdeutung wird im nächsten Abschnitt gegeben. Doch zunächst noch eine Bemerkung zu den Genitivkomposita des Ahd. Wie oben argumentiert, lässt sich die Abfolge Genitiv + Nomen im Sinne einer lexikalisierten Phrasenstruktur verstehen. Die wenigen Beispiele von Genitivkomposita im Ahd. und Mhd., bei denen eher eine morphologische als eine syntaktische Struktur vorzuliegen scheint, könnten das Ergebnis einer analogischen Ausweitung sein, d.h. das im Ahd. produktive Wortbildungsmuster, das zwei Nominalstämme ohne Flexion verbindet, wird auf wenige lexikalisierte Strukturen übertragen. Diese analogische Ausweitung motiviert jedoch nicht die Etablierung eines neuen Wortbildungsmusters, wie sich an der geringen Frequenz von Genitivkomposita im Ahd. und der im Vergleich damit hohen Frequenz im Frnhd. ablesen lässt. Diese Behauptung wird durch zwei Beobachtungen unterstützt: Es gibt Ν + N-Komposita im Ahd., bei denen die Unterscheidung zwischen den beiden Kompositionstypen schwer zu treffen ist, wie die Belege aus Splett (1984) in (203) illustrieren. (203)

helle-wazer 'Höllenwasser'

suone-tag 'Sühnetag'

Unter Einbeziehung der lautlichen Veränderungen, denen Vokale im Ahd. unterworfen sind, kann die erste Konstituente in beiden Beispielen entweder als ein unflektierter Nominalstamm oder als ein Nomen mit Genitivkasus interpretiert werden. Weiterhin beobachten wir die Kookkurrenz beider Typen in Fällen, in denen sie formal klar distinkt sind, wie in (204).

Die Entstehung von Genitivkomposita (204)

rep(a)-plat taga-sterro hunt-fliega

vs. vs. vs.

rebun-plat tages-stern hundes-fliuga

305 'Rebenblatt' 'Morgenstern' 'Hundsfliege'

Die Schlussfolgerung aus diesen Daten ist, dass Genitivkomposita im Ahd. isolierte Beispiele sind. Sie liefern keinen Grund dafür, die Etablierung eines neuen Wortbildungsmuster von Genitivkomposita bereits für das Ahd. anzunehmen. 4.5.3 Die Herausbildung des Wortbildungsmusters Im Frnhd. werden lexikalisierte Strukturen als Nominalkomposita reanalysiert mit dem Ergebnis, dass sich ein neues Wortbildungsmuster herausbildet. Abfolgen wie (205) werden nicht länger wie in (205a), sondern wie in (205b) analysiert. (205) a. b.

der Kirchen Ceremonien [[der Kirchen] Ceremonien] [der [Kirchen Ceremonien]]

Dieser Typ von Reanalyse ist als Verlust einer Wortgrenze zu beschreiben, schließt aber die strukturelle Reinterpretation ein, d.h. einer gegebenen Oberflächenstruktur wird vom Sprachlerner eine andere zu Grunde liegende Struktur zugeschrieben." Das sprachlernende Kind inferiert aus dem sprachlichen Input eine syntaktische oder morphologische Struktur, die mit den beobachteten sprachlichen Daten und universalen Prinzipien der Grammatik kompatibel ist. Bedingt durch Veränderungen in anderen Bereichen der Grammatik kann diese Struktur verschieden von der vom erwachsenen Sprecher angenommenen Struktur sein. Voraussetzung für ein solches Sprachwandelszenario ist allerdings, dass alte und neue Strukturen wesentliche Eigenschaften gemeinsam haben; oder anders ausgedrückt, Reanalyse ist nur möglich, wenn einer gegebenen Oberflächenstruktur mehr als eine zu Grunde liegende Struktur zugewiesen werden kann. Vor diesem Hintergrund 55

Ich folge hier der weit verbreiteten Annahme, dass Sprachwandel im Verlauf des Spracherwerbs geschieht; dazu ausführlicher Kapitel 5. Vgl. außerdem van Kemenade (1987:8) und Faarlund (1990:9), die sich auf Andersen (1973:767) beziehen.

Attributive Genitivphrasen

306

sind diachronische Veränderungen in Bezug auf die SyntaxMorphologie-Schnittstelle sehr plausibel, da syntaktische und morphologische Strukturen eine Reihe entscheidender Eigenschaften teilen. Das gilt ganz besonders für das Wortbildungsmuster der Nominalkomposita(s. Wunderlich 1986). So weisen Phrasen- ebenso wie Wortstrukturen eine binäre Struktur auf, wie in (206) dargestellt.

luten

schlaher

N'



N° hug schappels

sün

Wort- und Phrasenstrukturen sind gleichermaßen rekursiv: Komplexe Nominalkomposita erscheinen ebenso wie komplexe Nominalphrasen mit zwei pränominalen Genitiven. In beiden Beispielen haben wir es mit dreigliedrigen Strukturen zu tun. (207) a. b.

[[[Rad] + weg] + benutzer] [[[deß Hertzogen De Vinena] verstorbenen Sohns] Cörper]

(SZ 17.5.2000) (R 172.7)

Darüber hinaus sind sowohl Wort- als auch Phrasenstrukturen endozentrisch aufgebaut: Der Kopf der jeweiligen Kategorie determiniert Kategorie, Genus und Numerus der fraglichen Struktur. Und in der morphologischen wie der syntaktischen Struktur erscheint der Kopf rechtsperipher, wie aus (208) abzulesen ist.

Die Entstehung von Genitivkomposita

(208)

a.

b.

N[+NEUTR, +SG]

NP[NOM, -PL]

NP[GEN, +PL]

Ρ

N[+NEUTR, +SG]

neben

thürlin

307

N'

N[NOM,-PL]

der zwo:elff vetter

vrteil

In (208a) setzt sich das Nominalkompositum neben thürlin aus einer Präposition und einem Nomen zusammen. Die kategorialen und flexivischen Merkmale des Kompositums werden durch den Kopf des Kompositums, d.h. thürlin, festgelegt. Ebenso erhält die maximale Projektion in (208b) ihre Eigenschaften vom Kopfhomen vrteil. Diese struktuellen Gemeinsamkeiten von Nominalkomposita und Nominalphrasen sind eine notwendige Bedingung für die Reanalyse syntaktischer Phrasen, aber nicht, wie von Pavlov angenommen, ihr Auslöser. Wenn es nun tatsächlich der Fall ist, dass im Frnhd. lexikalisierte Nominalphrasen als Nominalkomposita reanalysiert werden, sollte es möglich sein, Evidenz für das Bestehen einer morphologischen Struktur zu finden. Es wird im Folgenden also um die Auswirkungen der Reanalyse gehen. Starke Evidenz für die postulierte Reanalyse liefert das den Genitivkasus markierende Suffix. In einer Nominalphrase subkategorisiert das Kopfhomen ein Komplement im Genitiv.56 Mit der Reinterpretation der Nominalphrase wird das Flexionssuffix als reines Fugenelement reanalysiert, ganz ähnlich dem im Ahd. beobachteten Kompositionsvokal des ersten Kompositionstyps. Als Folge der Reanalyse erscheint das Genitivsuffix -(e)s stark flektierender Maskulina und Neutra in solchen Genitivkomposita, wo es nicht zum Paradagima der ersten Konstituente 56

Aus Gründen der Übersichtlichkeit sehe ich in diesem Zusammenhang davon ab, zwischen Genitivkomplementen und Spezifikatoren mit genitivischer Kasusmarkierung zu unterscheiden. Zur Notwendigkeit dieser Unterscheidung s. Abschnitt 4.3.2.

Attributive Genitivphrasen

308

gehört, wie zum Beispiel bei femininen Nomina mit den Ableitungssuffixen -ung und -ion. Beispiele sind unter (209) angeführt. (209) a. b.

Befürderungs-sachen, von den Regierungs-Räthen, die Werbungsgelder, beschwerungs Articul, die verpflegungs-gelder Religions-sachen, Passions-Andacht, Ratifications Brief, die Gratulations-complimenten

Weitere Beispiele von Nominalkomposita, deren erste Konstituente ein 5-Suffix aufweist, obwohl es sich um Femina handelt, zeigt (210): (210)

Stadts=Räthe, wegen der Heyrahts Pacten, am Weyhnachtsabend, die Niederlags Verwandten

In Beispielen wie (209) und (210) werden die Fugenelemente ohne jeden Bezug zum Flexionsparadigma der ersten Konstituente verwendet. Einige dieser Fugenelemente gehen wieder verloren, wie das gegenartssprachliche Stadträte im Vergleich zu dem frnhd. Beleg unter (210) zeigt. Des Weiteren tritt das s-Suffix in Verbindung mit nominalen Konstituenten auf, die heute nicht mehr zum starken, sondern schwachen Flexionsparadigma gehören, so dass wir das η-Suffix der schwachen Nominalflexion erwarten würden, wenn das Fugenelement tatsächlich Kasusbezug hätte: (211)

der Bawers-man (trotz: des Bauer-n)

Andererseits finden sich Belege für Genitivkomposita, in denen statt des paradigmatisch zu erwartenden s-Suffixes das «-Suffix des schwachen Flexionstyps erscheint (212)

etlich Dolch-en-stich (trotz: des Dolch-s)

Die historischen Daten in (209) bis (212) können auf eine systematische Weise erklärt werden, wenn wir annehmen, dass die lexikalisierten syntaktischen Strukturen im Frnhd. als Wortstrukturen reinterpretiert werden, und die Distribution der fraglichen Affixe nicht mehr durch flexionsmorphologische Regeln gesteuert wird. Denn in diesem Fall ist der Wandel des kasusmarkierenden Affixes zum Fugenelement eine natürliche Konsequenz dieser Reanalyse: Als eine maximale Phrase wird der attributive Genitiv vom Kopfhomen subkategorisiert. Die

Die Entstehung von Genitivkomposita

309

Reanalyse der syntaktischen Struktur impliziert die Umdeutung der ersten Konstituente als Teil eines Ν + N-Kompositums. Kasus erhält das Kompositum dann als ganzes. Einen Hinweis darauf, dass es sich bei der Entstehung von Genitivkomposita im 16. Jh. um einen Sprachwandel im Verlauf handelt, liefert der folgende Beleg aus seiner Übersetzung der Bibel, in der Luther eine syntaktische Phrase einschließlich ihres pränominalen Genitivs in einer früheren Version durch ein Nominalkompositum in einer späteren Version ersetzt (1522 vs. 1546). Der Beleg stammt aus Arndt & Brandt (1987). (213) 1522: die zu euch komen ynn schaffs kleydern 1546: die in Schafskleidern zu euch komen

Der pränominale Genitiv erhält in dem Beleg aus dem Jahr 1522 eine generische und keine possessive Interpretation. Wie unbelebte Individualnomen auch sperren sich diese pränominalen Genitive einer possessiven Interpretation. Solche Nominalphrasen werden deshalb als morphologische Strukturen, d.h. als Nominalkomposita reinterpretiert. Allerdings ist auch im 17. Jh. das Wortbildungsmuster einschließlich der charakteristischen Verbindung mit Fugenelementen noch nicht fest etabliert, wie die folgenden Belege aus Luther (214a) sowie einer Zeitung vom Beginn des 17. Jh.s zeigen (214b). (214) a. b.

amptknecht, blutfreund, geschlechtregister, gerichtamt, ratherr Religion Artickul, Protestationschriffi, Appellation Rath

Das 17. Jh. zeichnet sich dann durch die schnelle Ausbreitung des Wortbildungsmusters Ν + Ν aus, wobei die einstige Genitivmorphologie der ersten Konstituente sich auch auf solche Instanzen des Wortbildungsmusters ausweitet, bei denen aufgrund des Flexionsparadigmas der ersten Konstituente jede Interpretation im Sinne von Genitivmorphologie ausgeschlossen ist, wie bei stark flektierten Feminina sowie

310

Attributive Genitivphrasen

den schwach flektierten Nomina." Im heutigen Deutschen finden sich einige dieser Fugenelemente ohne Bezug zu einem Flexionparadigma nicht mehr, andere erweisen sich als stabiler: Die Distribution dieser Fugenelemente im Gegenwartsdeutschen wird sowohl durch flexivische als auch prosodische Eigenschaften der ersten Konstituente bestimmt (vgl. Fuhrhop 1996). Lexikalisierte Phrasenstrukturen, deren erste Konstituente aus flexivischen Gründen keine overte Genitivmarkierung aufweist, stellen einen Spezialfall der Reanalyse dar, weil ihre Reinterpretation auch dadurch unterstützt wird, dass der Sprachlerner diese Muster nicht von dem aus dem Indoeuropäischen ererbten Muster unterscheiden kann. Auch semantische Argumente unterstützen die Annahme einer Reanalyse im Frnhd.: Seit dem 16. Jh. lassen sich zweigliedrige Strukturen belegen, deren erste Konstituente die Singularform aufweist; die Interpretation im Sinne einer Phrasenstruktur würde jedoch die Pluralform verlangen. In (215) sind den frnhd. Daten korrespondierende Daten aus dem heutigen Deutschen gegenübergestellt. (215) a. b.

weibß kleider, mynchs orden, wider ritters recht Anwaltskammer, Freundeskreis, Schiffsverkehr

In (215b) bezeichnet Anwaltskammer einen Verbund von Anwälten, Freundeskreis einen Kreis von Freunden, usw. Dennoch suggeriert das ί-Suffix, dass es sich hier um die jeweilige Singularform Anwalt, Freund usw. handelt. Entsprechendes gilt für die frnhd. Belege in (215a) sowie das Beispiel (216). (216)

Die Königl. Commissarii haben sich 15. Buchtruckers-Schrifften bemächtiget/ der König will nur eine gewisse Zahl derselben haben (Postzeitung 46.34)

Für die Interpretation von Kompositionsbildungen spielt ebenso wie die Interpretation von maximalen Phrasen nicht allein die Bedeutung der einzelnen Konstituenten eine wesentliche Rolle, sondern auch die 57

Dazu gehören nicht nur die femininen Nomina der starken Deklination, sondern auch maskuline und neutrale Nomina, bei denen im Fmhd. die Genitivmarkierung trotz Zugehörigkeit zum starken Flexionsparadigma fehlen kann.

Die Entstehung von Genitivkomposita

311

zwischen den Konstituenten kontextuell zu erschließende Relation. Einige der möglichen Beziehungen zwischen pränominalem Genitivattribut und Kopfhomen lassen sich auf die entsprechenden Nominalkomposita übertragen, andere Beziehungen wie die Lokairelation sind auf die Relation zwischen den Konstituenten eines Kompositums beschränkt, weil unbelebte Individualnomina seit dem Ende des IS. Jh.s dem Kopfhomen nicht mehr vorausgehen könen. Solche Beziehungen finden sich in den frnhd. Genitivkomposita. (217)

Brucken zoll

ku:echen prediger

Weitere Evidenz für die Reanalyse liefert das Aufkommen von Kopulativkomposita, deren Konstituenten im Unterschied zu den bisher betrachteten Beispielen in einem Koordinationsverhältnis zueinander stehen, da auch diese Relation nicht in einer entsprechenden syntaktischen Phrase mit einem attributiven Genitiv lexikalisiert werden kann. Frnhd. Beispiele sind unter (218) gegeben. (218)

der Bawersman, den armen Baursleuten, alle Manspersonen, ohne MannsErben, Leibs Erben

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es gute Gründe dafür gibt, von der Umdeutung lexikalisierter syntaktischer Strukturen als Wortstrukturen erst im Frnhd. auszugehen. Syntaktische, morphologische und semantische Argumente unterstützen diese Hypothese. Ein eher oberflächlicher Effekt der Reanalyse ist bis jetzt unerwähnt geblieben: Laut Wegera (1984) steigt die Frequenz von zusammengeschriebenen Nominalkomposita im Verlauf der zweiten Hälfte des 16. Jh.s stark an. Noch im 17. Jh. finden sich jedoch die folgenden Alternationen: (219)

Rechts Sachen, die Kohlen=Schiffe, der Heringsfang, durch MenschenHendt

Die diachronischen Veränderungen im Hinblick auf die Schreibung der fraglichen Strukturen sind meines Erachtens nur Ausdruck der tiefgreifenderen strukturellen Veränderungen. Sie stellen jedoch kein Mittel dar, um zwischen morphologischen und syntaktischen Strukturen zu unterscheiden, wie von Pavlov (1983) behauptet.

312

Attributive Genitivphrasen

4.5.4 Komposition als ein morphologischer Prozess Drei Stadien können bei der Herausbildung von Genitivkomposita unterschieden werden: Zuerst erscheinen Nominalphrasen mit einem pränominalen Genitivattribut. Solche nominalen Konstruktionen sind im Ahd. häufig vertreten. Im Verlauf der Sprachgeschichte werden einige dieser Konstruktionen lexikalisiert; noch sind sie aber syntaktisch transparent, insofern sie adjektivische Attribute ebenso wie Relativsätze als Modifikatoren der ersten Konstituente zulassen. Schließlich werden diese lexikalisierten Konstruktionen als morphologische Strukturen reanalysiert, die sich durch ihre Opakheit gegenüber syntaktischen Regeln auszeichnen. Diese Entwicklung lässt sich auf den Sonderfall von Genitivkomposita mit einem deverbalen Kopf übertragen, wie sie in (220) exemplifiziert sind: (220) a. b.

Flächenberechnung Vertragsratifikation

In der strukturellen Beschreibung dieser Komposita stehen sich zwei grundlegend verschiedene Analysen gegenüber: Syntaktische Ansätze wie Fabb (1984) und Sproat (1985) gehen davon aus, dass (219) eine Struktur wie (220) hat: (221)

[[Flächen + berechn] + ung]N

In (221) verbindet sich der Verbstamm berechn- in einem ersten Schritt mit seinem Komplement Flächen: Laut Sproat (1985) wird die thematische Rolle des transitiven Verbs berechnen via Thetaidentifikation gesättigt, das interne Argument des Verbs berechnen also mit dem externen Argument des Nomens Fläche identifiziert. Argumentsättigung mittels Theta-Markierung scheidet laut Sproat aus, da dieser Sättigungsmechanimus auf maximale Projektionen beschränkt sei. Erst in einem zweiten Schritt wird dann das deverbale Nomen Flächenberechnung durch die Suffigierung von -ung abgeleitet. Lexikalische Ansätze wie DiScullio/Williams (1987), Bierwisch (1989) oder Grimshaw (1990) nehmen im Gegenzug an, dass der Ableitungsprozess dem Kompositionsprozess vorausgeht, d.h. eine Struktur wie in (222).

Die Entstehung von Genitivkomposita (222)

313

[Flächen + [berechn + ung]]N

Hier verbindet sich der Verbstamm berechn- mit dem Suffix -ung zur Ableitung eines deverbalen Nomens, erst in einem zweiten Schritt erfolgt die Bildung des Kompositums. Anders als syntaktische Ansätze wird die Bildung von Genitivkomposita mit einem deverbalen Kopf in lexikalisch orientierten Arbeiten als ein morphologischer Prozess verstanden, der im Lexikon anzusiedeln ist. So behandeln DiScullio & Williams (1987) Affixe als Funktoren, welche die Argumentstruktur des Verbs als Wert haben, so dass es die abgeleitete Argumentstruktur des Nomens ist, die im Verlauf des Kompositionsprozesses zu sättigen ist. Wie syntaktische Ansätze auch, gehen sie davon aus, dass Affixe eine referenzielle Rolle R einfuhren. (223)

Ν

Ν1

Flächen

Ν «Ag,Th'>R>

berechn

-ung

Mittels funktionaler Komposition wird das Nomen Berechnung aus dem Verbstamm berechn- und dem w«g-Suffix abgeleitet. Die abgeleitete Argumentstruktur enthält die interne thematische Rolle des transitiven Verbs berechnen, die durch den Nicht-Kopf des Kompositums gesättigt wird, wie durch die Koindizierung angezeigt.58 Die für Genitivkomposita mit einfachem Kopfnomen beobachtete Entwicklung lässt sich auf die Genitivkomposita mit deverbalem Kopf 58

Es wird noch heute kontrovers diskutiert, ob der Nicht-Kopf deverbaler Nomen als ein Modifikator oder ein Argument des Nomens zu verstehen ist (vgl. aber die Diskussion in Kapitel 2 und 3). Sproat (1985) behauptet, dass Nomina keine Argumente lizensieren, während DiScullio/Williams (1987) dafür argumentieren, dass die Nicht-Köpfe verbaler Komposita Argumentstatus haben. Eine dritte Position nimmt Grimshaw (1990) ein, die nur für eine Subklasse deverbaler Nominalkomposita (ihre complex event nouns) den Nicht-Köpfen Argumentstatus zuschreibt.

Attributive Genitivphrasen

314

übertragen. Auch sie entstehen aus syntaktischen Phrasen mit einem pränominalen Genitivattribut. (224) a. b.

(...) vnd jhnen dardurch alle heimbligkeiten offenbart wieder [des Landts Ordnung] ausser dessen wollen sie von jhrer seßion, auch [deß vorigen Landtags schluß] weichen

(A 208.22) (R 213.2)

Das Artikelwort in (224a) bezieht sich offensichtlich auf den pränominalen Genitiv und unterstreicht so, dass Landts Ordnung in (224a) eine syntaktische und keine morphologische Struktur ist. Ebenso bezieht sich das Artikelwort sowie der adjektivische Modifikator in (224b) auf die erste Konstituente des Kompositums Landtags schluß und nicht auf dessen Kopfkonstituente. Erst seit dem 17. Jh. lassen sich auch hier eindeutig morphologische Strukturen finden. Adjektivische Modifikatoren und Artikelwörter beziehen sich auf das Kopfnomen und nicht auf die linke Konstituente des Kompositums: (225) a. b.

Kriegsverfassung, mit teglich speiß vnd leybs narung, der Lands Ordnung, von jhrer Stillstandshandlung Anstands Tractation, bey der Reichs Constitution, gute Friedensconditiones, grosse Kriegspreparation

Das Fugenelement -s breitet sich auch hier auf Komposita aus, deren erste Konstituente ein feminines Nomen ist, so dass das Suffix flexionsmorphologisch keine Berechtigung hat, vgl. (226). (226)

die Neutralities Versicherung, vor der Achts erklerung, ohne vorhergehende Religions Bewilligung, ein Böhm. Religions Rebellion

Diese historischen Fakten liefern meiner Ansicht nach ein starkes Argument für einen lexikalischen und gegen einen syntaktischen Ansatz bei der Analyse von Genitivkomposita mit deverbalen Kopf: Die spezifische Genese dieser Nominalkomposita aus Kopfnomen + pränominalem Genitivattribut und das Auftreten von Genitivmorphologie in den frühen Belegen dieser Komposita kann nur erklärt werden, wenn von der Verknüpfung zweier Nomina ausgegangen wird. Eine Analyse, die annimmt, dass zuerst die interne thematische Rolle des Verbs gesättigt wird, kann das Auftreten von Fugenelementen in der Form von

Die Entstehung von Genitivkomposita

315

Genitivmorphologie dagegen nicht erklären.59 Die Transparenz dieser Struktur geht im Verlauf der Konsolidierung des Wortbildungsmusters im Besonderen durch die weitere Entwicklung der Fugenelemente verloren mit der Konsequenz, dass die Struktur dieser komplexen morphologischen Strukturen im heutigen Deutschen mehrdeutig ist. 4.5.5 Genitivkomposita und die Struktur der Nominalphrase In der einzig ausführlicheren Untersuchung zur Entstehung von Genitivkomposita im Frnhd. interpretiert Pavlov (1983) den Zusammenhang zwischen Wortbildungsmuster und Stellungswandel des Genitivs so, dass Letzteres fur den frnhd. Sprecher ein Mittel sei, strukturell mehrdeutige Konstruktionen zu vermeiden. Der Stellungswandel wird also als eine Folge der zunehmenden Lexikalisierung bestimmter Sequenzen von pränominalem Genitiv und Kopfnomen verstanden. Demgegenüber legt es die Diskussion der diachronischen Veränderungen des attributiven Genitivs in diesem Kapitel nahe, diese Sprachwandelphänomene (und diese lassen sich ausdrücklich nicht auf den Stellungswandel reduzieren) in den Kontext der sich wandelnden Relationen in der Nominalphrase zu stellen. Die Reinterpretation des pränominalen Genitivs als einer Possessivphrase hat zur Folge, dass Genitivkomplemente seit dem Frnhd. nicht mehr prä- sondern postnominal erscheinen. Individualnomina mit einer generischen Interpretation werden ebenso wie

59

Deutlich verschieden von den Nominalkomposita mit einem deverbalen Nomen auf •ung/-ion sind Komposita, deren zweite Konstituente mittels -er abgeleitet ist, so wie Buchdrucker, Bierbrauer. Wilmanns (1896) zufolge scheinen sie tatsächlich Akkusativkasus aufzuweisen, vgl. die frnhd. Beispiele: (i) Fleischhacker, Weinhawer, stiffelmacher (ii) Fanenfitrer, Suppenfresser, Trummenschlager Diese Daten suggerieren eher eine syntaktische Analyse der er-Kasuskomposita. Auch bei Nominalkomposita auf -ung und -ion kann die erwartete Genitivmorphologie fehlen, wie in Roßfiitterung und Tax-commission. Das Fehlen der Genitivmorphologie lässt sich in solchen Beispielen jedoch phonetisch erklären. Wie die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Typen von Kasuskomposita historisch im Einzelnen zu deuten sind, muss einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben.

316

Attributive Genitivphrasen

Individualnomina mit dem Merkmal [-belebt] entweder als erste Konstituenten von Genitivkomposita reinterpretiert (bei entsprechender Lexikalisierung der Abfolge) oder sie erscheinen postnominal. Nur Genitivphrasen, die mit einer possessiven Interpretation verträglich sind, können vorerst weiter pränominal auftreten (vgl. Abschnitt 4.3.2). Zwei Sprachwandelphänomene, der Stellungswandel des attributiven Genitivs und die Entstehung von Genitivkomposita, lassen sich folglich auf einen abstrakteren Wandel in der Struktur der Nominalphrase zurückführen, der zuallererst die Reinterpretation der Relation zwischen Artikelwort und Kopfnomen betrifft, und dann andere pränominal auftretende Konstituenten der Nominalphrase wie die Possessivpronomina und die attributiven Genitive einbezieht.

4.6 Zusammenfassung Genitivische Attribute gehen im Ahd. ihrem Bezugsnomen voran. Im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte werden diese Attribute in Abhängigkeit von ihrer Bedeutung zunehmend nachgestellt. Im Vorausgehenden sind eine Reihe von in der Literatur gängigen Hypothesen zur Erklärung dieses Sprachwandelphänomens mit unterschiedlicher Begründung verworfen worden. Eine Unzulänglichkeit teilen alle diese Hypothesen: Keine kann erklären, weshalb dieser Stellungswandel sich in Abhängigkeit von der Bedeutung des Genitivattributs vollzieht. Das gilt für Behaghels Gesetz der wachsenden Glieder ebenso wie für die von Braunmüller vertretene Erklärung einer typologischen Verschiebung sowie die Hypothese, dass die Nachstellung die strukturellen Mehrdeutigkeiten zwischen morphologischer und syntaktischer Struktur abbauen soll (vgl. Pavlov 1983). Für andere bekannte topologische Veränderungen, wie beispielsweise der mehrfach erwähnte Wandel einer Sprache mit OV-Struktur zu einer Sprache mit VO-Struktur, ein Wandel, der für die englische Sprache ausführlich beschrieben ist, lassen sich ähnliche Abhängigkeiten nicht nachweisen. Im Zusammen-

Zusammenfassung

317

hang mit dem Stellungswandel des attributiven Genitivs wird diese Korrelation erst dann verständlich, wenn wir die Geschichte des Genitivs im Kontext weiterer diachronischer Veränderungen in der Nominalphrase interpretieren und dabei diese Geschichte nicht auf den topologischen Wandel reduzieren, sondern andere syntaktische Veränderungen ebenfalls berücksichtigen. Die Aufarbeitung der historischen Daten resultiert nicht nur in einem besseren Verständnis bestimmter Sprachwandelphänomene, die bis heute schlecht verstanden sind, sondern sie verschafft uns auch einen neuen Blickwinkel auf den gegenwartssprachlichen Befund: Kaum einzuordnende Eigenschaften des vorangestellten Genitivs wie die Unmöglichkeit seiner Erweiterbarkeit finden eine natürliche Erklärung, wenn wir diese Eigenschaft vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Relation zwischen dem Kopfnomen und seinen linken Erweiterungen sehen, die nicht nur die Natur dieser Relation betrifft, sondern auch die Possessivpronomina wie die pränominalen Genitive in das System der Artikelwörter integriert. Eine Folge dieser Veränderungen ist die Nachstellung genitivischer Komplemente sowie die Etablierung des neuen Wortbildungsmusters der Genitivkomposita. Veränderungen hinsichtlich der möglichen Distanzstellung von genitivischen Attributen lassen sich dagegen nicht auf den strukturellen Wandel in der Nominalphrase zurückfuhren: Weil sich die deutsche Sprache von einer Sprache mit einem eher synthetischen zu einer Sprache mit einem eher analytischen Sprachbau wandelt, wird der Genitiv zunehmend durch andere Formen von Attributen ersetzt, wie Präpositionalphrasen mit von und Nominalphrasen, die Kongruenzkasus aufweisen. Diese Ersatzformen finden sich auch im heutigen Deutschen noch in Distanzstellung zu Nomina, zu denen sie in einer thematischen Beziehung stehen. Der Genitiv dagegen kann aufgrund seiner Markiertheit nur noch adjazent zum Kopfnomen interpretiert werden, die Distanzstellung ist für ihn ausgeschlossen.

5 Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

Die Beschäftigung mit Funktionswörtern und Flexionsaffixen als typischen Exponenten grammatischer Merkmale hat eine lange Tradition in der historischen Sprachwissenschaft. So besagt etwa schon die Agglutinationstheorie von Franz Bopp (1816), dass die Verbalflexion im Indoeuropäischen von einst freien Morphemen abzuleiten sei, die an verbale Wurzeln angehängt wurden. Bopp und in seiner Nachfolge August Schleicher (1861/62) rekonstruierten das Lexem ma als Personalpronomen der ersten Person Singular, aus der sich die Verbflexion griechischer Verben durch Lautwandel entwickelt habe. Dieser Auffassung liegt das so genannte Wachstumsprinzip zugrunde, nach dem sich Sprachen vom isolierenden über den agglutinierenden zum flektierenden Typ entwickeln. Diese Theorie zur Entwicklung der Verbalflexion wie auch das Wachstumsprinzip wurden später durch die ausnahmslos geltenden Lautgesetze der Junggrammatiker erfolgreich widerlegt (vgl. u.a. Brugmann 1878). Die synchrone und diachrone Variation hinsichtlich der Trägerelemente von grammatischen Merkmalen spielt gegenwärtig im Rahmen von Sprachtypologie und Grammatikalisierungsforschung eine zentrale Rolle. Über die Form der Trägerelemente hinaus hat der Zusammenhang zwischen Funktionswörtern, Flexionsaffixen einerseits und den Wortstellungseigenschaften bereits früh das Interesse derer geweckt, die sich mit grammatischen Phänomenen von Einzelsprachen beschräftigt haben. So findet sich dieser Zusammenhang bereits in Johann Gottfried Herders Fragmenten über die neuere deutsche Literatur von 1766/67 hergestellt. Herder nennt die feste Wortstellung der französischen

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

319

Sprache als ein Beispiel dafür, dass nach dem Abbau der Nominalmorphologie Subjekt und Objekt positioneil identifiziert werden müssen.1 Man muß die Worte so ordnen, daß sie bei aller möglichen Kürze keine doppelte Beziehung der Abhängigkeit leiden: Diese Zweideutigkeit ist am ersten in Sprachen zu besorgen, die wenige Casus ζ. E. den Nominativ und Accusativ gleich haben; (...). Die erste Unvollkommenheit äussert sich bei der Französischen; (Herder 1766/67:234)

In der Folge ist der Zusammenhang von Flexionsmorpohologie und Serialisierung immer wieder Gegenstand linguistischer Untersuchungen zu synchroner und diachroner Variation gewesen. Er findet sich beispielsweise in Arbeiten jüngerer Zeit wie bei Vennemann (1974), der dieses Erklärungsmuster für diachronische Veränderungen in der Wortstellung des Deutschen verwendet, oder bei Weerman (1989), der Wortstellungsveränderungen in den germanischen Sprachen ebenfalls unter Rückgriff auf die jeweilige Flexionsmorphologie erklären möchte. Unter der Annahme, dass die Träger grammatischer Merkmale die Relationen einer Sprache markieren, muss davon ausgegangen werden, dass historische Veränderungen dieser Trägerelemente tatsächlich tiefgreifende Veränderungen in der Grammatik der jeweiligen Einzelsprache auslösen können, wie die angeführten Wortstellungsveränderungen andeuten. Ausgehend von den Sprachwandelphänomenen, die wir in Bezug auf die Nominalphrase im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte beobachtet haben (vgl. Kapitel 2 bis 4), sollen im Folgenden verschiedene Sprachwandelmodelle daraufhin überprüft werden, inwieweit sie die diskutierten Veränderungen in angemessener Weise erfassen und erklären können, und ein dynamisches Modell vorgeschlagen werden, das diachroner und synchroner Variation gleichermaßen gerecht wird.

Harris & Campbell (1995:24) finden in Literatur zur Wortstellung im Arabischen diesen Zusammenhang noch früher thematisiert, Ibn Khaldün (1332-1406).

320

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

5.1 Diachrone Variation in der Nominalphrase Gegenstand der vorliegenden Untersuchung war eine Reihe von historischen Veränderungen in nominalen Konstruktionen, so verschiedene Phänomene betreffend wie Kongruenzerscheinungen, die Steuerung der Adjektivflexion, Gebrauchsweisen des bestimmten Artikels, Possessivpronomina, genitivische Attribute, diskontinuierliche Nominalphrasen und Nominalkomposita. Diachron ausgerichtete Arbeiten zu diesen Phänomenen in der deutschen Sprachgeschichte liegen für die Gebrauchsweisen des bestimmten Artikels, die genitivischen Attribute sowie die Nominalkomposita vor. Mögliche Zusammenhänge zwischen den genannten Phänomenen werden, wenn sie überhaupt thematisiert werden, nur angedeutet: So vermutet Oubouzar (1992), dass die Nachstellung attributiver Genitive auf die Ausbreitung des bestimmten Artikels im Ahd. zurückzuführen ist, und Pavlov (1983) sieht in der zunehmenden Verwendung des bestimmten Artikels ein probates Mittel für den frnhd. Sprecher, mehrdeutige nominale Strukturen ([Genitivattribut + Nomen] vs. Genitivkompositum) zu disambiguieren. Weitere Hinweise auf mögliche Zusammenhänge zwischen den genannten Phänomenen lassen sich in der einschlägigen Literatur nicht ausmachen. Diese Arbeit hat versucht, die angeführten diachronischen Veränderungen in der Nominalphrase auf einen einzigen Wandel in der Struktur der Nominalphrase zurückzuführen: die Reinterpretation der Relation zwischen Artikelwort und Nominalphrase. Unter der Annahme, dass aus einer rein semantisch begründeten Relation im Ahd. eine auch morphologisch motivierte Relation im Gegenwartsdeutschen wird, lassen sich die Veränderungen in der Steuerung der Adjektivflexion sowie im Gebrauch des bestimmten Artikels auf eine systematische Weise erklären. Die Reinterpretation der Relation zwischen Artikelwort und Nominalphrase hat Auswirkungen auf andere linke Erweiterungen des Kopfnomens. Adjektivische Possessivpronomina werden als Possessivarti-

Diachrone Variation der Nominalphrase

321

kel mit einem vom Possessivpronomen distinkten Flexionsparadima reinterpretiert; ebenso wie andere Artikelwörter wird das Possessivpronomen in die morphologische Steuerung der Adjektivflexion mit einbezogen. Auch die genitivischen Attribute, die im Ahd. ausschließlich links vom Kopfnomen auftreten, sind von der Veränderung in der Relation zwischen Artikelwort und Nominalphrase betroffen: Vorangestellte Genitive werden als Spezifikatoren des Kopfnomens reinterpretiert - im Falle die semantische Beziehung zum Kopfnomen die Reinterpretation zulässt. Andernfalls werden die genitivischen Attribute unter Beibehaltung ihres Komplementstatus nachgestellt oder - bei entsprechend starker Ususalisierung der Verbindung - als Konstituente eines Genitivkompositums umgedeutet. Dieser Spezifikator hat erst phrasalen, später Kopfstatus. Es ist plausibel anzunehmen, dass diese Veränderungen auch mit dem Wandel des Possessivpronomens zusammenhängen, das sich mit dem vorangestellten Genitiv die thematische Beziehung zum Kopfnomen teilt. Der pränominale Genitiv wird Teil des Artikelsystem auch insofern, als er in die Steuerung der Adjektivflexion einbezogen wird. Ausgehend von diesem Szenario stellt sich nun die Frage, wie der Wandel in der Relation zwischen Artikelwort und Nominalphrase in geeigneter Weise zu modellieren ist. Verschiedene theoretische Vorschläge zur Beschreibung von synchroner und diachroner Variation sollen im Folgenden daraufhin überprüft werden, ob sie den geeigneten Rahmen liefern, das dargestellte diachronische Szenario erfassen zu können.

5.2 Sprachtypologie und Grammatikalisierung Der Begriff 'Grammatikalisierung' wird von Meillet (1912:132) eingeführt, auch wenn, wie angesprochen, das Thema der Herausbildung von Funktionswörtern und Flexionsmorphologie aus ursprünglich ungebun-

322

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

denen Morphemen sich zumindest bis zum Anfang des 19. Jh. in die Zeit vor den Junggrammatikern zurückverfolgen lässt.2 L'affaiblissement du sens et l'affaiblissement de la forme des mots accessoires vont de pair; quand l'un et l'autre sont assez avancös, le mot accessoire peut finir par ne plus 6tre qu'un 616ment ρπνέ de sens propre, joint ä un mot principal pour en marquer le role grammatical. Le changement d'un mot en öldment grammatical est accompli. (Meillet 1912:139)

Es geht also in der Grammatikalisierungsforschung darum, dass ein freies Morphem mit lexikalischer Bedeutung sich zunächst zu einem Funktionswort und schließlich zu einem gebundenen Morphem mit grammatischer Bedeutung entwickelt, d.h. der Grammatikalisierungsprozess impliziert eine Reduktion sowohl der Bedeutung als auch der Form des fraglichen Morphems.3 Ein klassisches Beispiel ist die Entstehung der französischen Futurmarkierung aus einer lateinischen Infinitivkonstruktion (Hopper & Traugott 1993), die den Übergang von einer analytischen zu einer synthetischen Konstruktion illustriert: Aus dem Auxiliarverb habere entwickelt sich das Flexionssuffix -ai. (1)

haec cantare habeo diese (zu) singen habe ich

>

chanter-ai ich werde singen

Der Grammatikalisierungsprozess umfasst die Klitisierung des Auxiliarverbs an das Vollverb, seine phonologische Reduktion sowie die semantische Schwächung. Grammatikalisierung ist folglich als ein Epiphänomen aufzufassen. Die morphologische Komponente ist inso-

2

3

Mit diesen frühen Arbeiten teilt die Grammatikalisierungsforschung auch die Auffassung, dass Grammatikalisierungsprozesse aus eher konkreten deutlich abstraktere Elemente machen. Das wird auch in folgendem Zitat aus Hopper & Traugott (1992:3) noch einmal deutlich: „Grammaticalization has been studied from two perspectives. One of these is historical, investigating the sources of grammatical forms and the typical pathways of change that affect them. From this perspective, grammaticalization is usually thought of as that subset of linguistic changes through which a lexical item in certain uses becomes a grammatical item, or through which a grammatical item becomes more grammatical."

Sprachtypologie und Grammatikalisierung

323

fern betroffen, als durch den Grammatikalisierungsprozess neue Flexionsmorphologie entsteht.4 Wie das Beispiel der Herausbildung der Futurmorphologie im Französischen zeigt, geht es der Grammatikalisierungsforschung also um diachronische Veränderungen in der Repräsentation nichtlexikalischer, d.h. grammatischer Bedeutungen, wobei die Frage nach der Gebundenheit der fraglichen Morpheme eine entscheidende Rolle spielt. Zwei Typen von Veränderungen sind prinzipiell denkbar: (i) die Entstehung neuer funktionaler Elemente und (ii) der Verlust funktionaler Elemente. Bereits aus der Definition von Meillet wird jedoch deutlich, dass der Fokus der Grammatikalisierungsforschung auf dem ersten Typ liegt. Neben der Herausbildung von Auxiliar- und Modalverben aus Vollverben (Bybee et al. 1994) bilden die Entstehung von Konjunktionen aus Nomina (Kortmann 1996) sowie die Entstehung komplexer Präpositionen (Schwenter & Traugott 1994, Meibauer 1995) weitere Schwerpunkte der Grammatikalisierungsforschung. Der Verlust funktionaler Elemente ließe sich beispielsweise am Verlust der Nominalflexion in der Sprachgeschichte des Englischen illustrieren (Schwenter & Traugott 1994). Sieht man jedoch von diesem zweiten Typ ab, der offensichtlich in der Grammatikalisierungsforschung nur eine untergeordnete Rolle spielt, dann führen Grammatikalisierungsprozesse zu einer Anreicherung des Inventars an funktionalen Elementen, wie an der folgenden, Haspelmath (1994) entnommenen Tabelle abzulesen ist:

4

Vgl. Fleischman (1982) sowie Hopper & Traugott (1992:69ff.) für eine detaillierte Diskussion dieses spezifischen Grammatikalisierungsprozesses.

324

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

Tabelle 35: Erweiterung des Inventars von funktionalen Elementen > > > > > > > > >

nouns

heads

verbs adpositions dependents

modifiers arguments

adjectives adverbs pronouns

adpositions subordinators auxiliaries, verbal affixes adpositions subordinators case affixes determiners applicative-markers agreement-affixes

Eingebettet sind die Untersuchungen hinsichtlich der Erweiterung des Inventars funktionaler Elemente in zwei zentrale Hypothesen der Grammatikalisierungsforschung: • Grammatikalisierungsprozesse sind unidirektional. • Grammatischer Wandel erfolgt graduell und nicht diskret. Gegen die erste Hypothese sind von Harris & Campell (1995:336ff.) zahlreiche Gegenbeispiele angeführt worden. Eines der Beispiele, das in direktem Bezug zu der Diskussion in Kapitel 4 steht, ist die Entwicklung der englischen Genitivmarkierung -s von einem Flexionssuffix zum Klitik:5 (2)

mid Godes fultume

>

with God's help

Ein anderes Beispiel, das von Joseph (1998:354) gegen die Unidirektionalität von sprachlichem Wandel angeführt wird, betrifft die Entwicklung von Postpositionen aus Kasussuffixen in einer Reihe von Varietäten des Lappischen, wo aus gebundenen Formen ungebundene Morpheme werden. Deshalb ist die Hypothese der Unidirektionalität sicher nur in einem schwächeren Sinne haltbar, insofern sie für die Mehrzahl der fraglichen Sprachwandelphänomene behauptet werden kann. Die zweite Hypothese, die Haspelmath (1994) als entscheidenden Vorteil von Grammatikalisierungsansätzen gegenüber generativen Bes

Dieses Klitik entsteht nach Ramat (1986) im 17. Jh. durch die Reinterpretation adnominaler Genitive als Ableitungen aus Beispielen wie father his house.

Sprachtypologie und Grammatikalisierung

325

Schreibungen von Sprachwandelphänomenen hinsichtlich der deutlichen Dichotomie von funktionalen und lexikalischen Kategorien hervorhebt, lässt sich laut Harris & Campbell (1995) ebenfalls entkräften. Ihrer Ansicht nach beruht die scheinbare Gradualität auf der Beobachtung, dass Sprecher für eine bestimmte Zeit über verschiedene Analysen einer einzigen Konstruktion verfügen. Graduell ist allein die Ausbreitung eines Wandels in der Sprachgemeinschaft. Dieser Einwand wird durch Ergebnisse von Arbeiten unterstützt, die sich mit Sprachwandel unter seinem Verlaufsaspekt beschäftigen, wie zum Beispiel Ebert (1988), Kroch (1989), Santorini (1989) und Pintzuk (1991). Wie lässt sich nun eine Einordnung des historischen Befunds dieser Untersuchung in einen Grammatikalisierungsprozess denken? Wie in Kapitel 2 im Ansatz thematisiert, hat sich im Rahmen der Grammatikalisierungsforschung auch Haspelmath (1994) mit der Entwicklung des bestimmten Artikels beschäftigt- Im Besonderen argumentiert er gegen die DP-Hypothese, da diese Hypothese davon ausgehe, dass es sich im Fall des bestimmten Artikels um ein Kopf-Element handele. Aus einer diachronen Perspektive hieße das nach Haspelmath, dass sich im Fall des bestimmten Artikels aus einem abhängigen ein unabhängiges Element entwickelt, was seiner Ansicht nach ausgeschlossen sein soll, vgl. Tabelle 35. Ich stimme mit Haspelmath darin überein, den bestimmten Artikel ebenso wie andere Artikelwörter nicht als Element mit Kopfstatus, sondern als abhängiges Element zu behandeln. Im Unterschied zu Haspelmath verstehe ich die Relation zwischen Artikelwort und NP aufgrund ihrer thematischen Ausprägung aber als eine Spezifikations- und nicht als eine Modifikationsbeziehung. Und diese Spezifikationsbeziehung liegt meines Erachtens sowohl im Ahd. als auch im heutigen Deutschen vor. Wenn der bestimmte Artikel einen Grammatikalisierungsprozess durchläuft, bedeutet das, seine grammatische Bedeutung nimmt zu, sein semantischer Gehalt nimmt ab. Die Folge einer solchen Desemantisierung ist eine Ausweitung im Gebrauch, die wir tatsächlich seit dem Ahd. beobachten. Was wir jedoch im Rahmen eines Grammatikalisie-

326

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

rungsprozesses nicht beschreiben können, sind die diachronischen Veränderungen in der Steuerung der Adjektivflexion. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der zunächst semantisch gesteuerten Distribution und der seit dem Frnhd. etablierten morphologischen Steuerung der Adjektivflexion und der Ausweitung in der Verwendung des bestimmten Artikels? Wenn wir annehmen, dass beide Veränderungen mit einem Wandel nicht des Artikelworts selbst, sondern der Relation zwischen Artikelwort und Nominalphrase zusammenhängen, ist es jedoch möglich, besagten Zusammenhang herzustellen und auch die fraglichen Veränderungen in Bezug auf das Possessivpronomen und den attributiven Genitiv zu erklären. Wie diese Sprachwandelphänomene unter Rekurs allein auf die zunehmende Grammatikalisierung des bestimmten Artikels oder durch die Grammatikalisierung von Possessivpronomen und attributivem Genitiv zu erklären wären, entzieht sich meiner Vorstellung. Vielmehr möchte ich mich der Kritik von Harris (1997) anschließen, dass das in vielen einschlägigen Arbeiten verwendete Konzept der Grammatikalisierung ohne eine Idee von Struktur nicht weit trägt. Und aus diesem Grund ist auch der Versuch, diachrone und synchrone Variation mittels einer formalen Parametrisierung der Träger grammatischer Merkmale zu erfassen, zum Scheitern verurteilt.

5.3 Variation in der generativen Grammatik Seit der einflussreichen Monografie Diachronic Syntax von Lightfoot (1979) ist das Interesse der theoretischen Sprachwissenschaft an historischer Syntax sprunghaft angestiegen. Im Rahmen des Prinzipien-undPara/we/er-Modells entstehen eine ganz Reihe von Arbeiten, die sich zum Ziel gesetzt haben, dieses an lebenden Sprachen umfassend getestete Grammatikmodell auch der Überprüfung durch die mehr oder weniger gut bezeugten Vorläufer dieser Sprachen zu unterziehen. Funktionale Kategorien spielen - bedingt durch den Entwicklungsstand

Variation in der generativen Grammatik

327

des grammatiktheoretischen Rahmens - in diesen Arbeiten zunächst keine Rolle. 5.3.1 Parameterwandel Im Rahmen des Prinzipien-und-Parameter-Mode\\s wird diachrone und synchrone Variation als Variation von Parameterwerten aufgefasst. Universal gültige Prinzipien beschränken die mögliche Variation. Das Programm für die Untersuchung historischer Veränderungen wird dabei weit gehend durch die Agenda der Untersuchung gegenwartssprachlicher Variaton bestimmt. Aus diesem Grund ist es vor allem die Geschichte der Verbstellung in den Einzelsprachen, die das Interesse der generativen Grammatik an historischer Syntax ausmacht. Syntaxwandel ist demzufolge an folgendem Standardbeispiel aus dem Bereich der Wortstellung zu illustrieren, das unter (3) das einschlägige Prinzip mit dem entsprechenden Parameter zeigt: (3)

a. b.

VP - » {V, NP,...} V steht links/rechts von NP

Prinzip der Universalgrammatik Parameter der Universalgrammatik

Während das Prinzip in (3a) zu den sprachlichen Universalien gehört, die den Aufbau von Phrasenstrukturen festlegen, ist die relative Abfolge von Verb und Komplement sprachspezifisch festgelegt (3b). Die Neusetzung dieses Parameterwertes, hat einen Wandel in der zugrunde liegenden Verbstellung zur Folge. Diese Entwickung von Objekt-VerbSprachen zu Verb-Objekt-Sprachen (OV —»• VO), ist für die germanischen Sprachen gut untersucht, vgl. van Kemenade (1987) zum Englischen, Santorini (1989) zum Jiddischen sowie Faarlund (1990) zum Norwegischen, um nur einzelne Arbeiten herauszugreifen. Die Neusetzung eines Parameterwertes beruht auf strukturellen Ambiguitäten oder, wie Lightfoot das ausdrückt, auf der Opakheit von Strukturen. In diesem Sinne sind die Belege unter (4) mehrdeutig hinsichtlich der zugrunde liegenden Wortstellung, insofern sie zum einen als OVStruktur mit einer nachgestellten NP (s. 4a), zum anderen aber als Be-

328

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

leg für eine VO-Struktur (4b) interpretiert werden können. Die jiddischen Beispiele sind Santorini (1994) entnommen. (4)

a. b.

ven der vatr nurt doyts levan kan wenn der Vater nur Deutsch lesen kann ven du mir meyn kop ab shneydst wenn du mir meinen Kopf abschneidest

(Anshel 11, ca. 1534) (Magen Abraham 2,1624)

Die Belege (4a) und (4b) sprechen eindeutig für eine zugrunde liegende Serialisierung Objekt vor Verb, da in (4a) der Infinitiv vor dem finiten Verb in satzfinaler Position erscheint, ebenso wie in (4b) die Verbpartikel ab dem finiten Verb am Satzende vorausgeht. Andererseits finden sich Belege wie (5), für die zwei zugrunde liegende Wortstellungen denkbar sind: (5) a.

ven er nit vevs eyn guti veyd wenn er nicht weiß eine gute Weide ven er nit tj vevs [eyn guti veyd],

b.

ven er nit vevs [eyn guti veyd]

(Sam hayyim 41, 1590)

Entweder zeigt der Beleg unter (5) eine von der Grundwortstellung in (4) abgeleitete Abfolge, in der das Objekt stilistisch bedingt hinter das finite Verb am Satzende verschoben worden ist - angezeigt durch die Spur t in (5a). Oder es handelt sich um eine andere Grundwortstellung als in (4), d.h. das Verb geht dem Objekt voraus. Es wird der Opakheit von Belegen wie in (5) zugeschrieben, wenn sich eine Sprache, die in einem früheren Stadium ihrer Geschichte eindeutige Kriterien für die Abfolge Objekt - Verb aufweist, zu einer Sprache mit der Grundreihenfolge Verb - Objekt wandelt. Dieser Syntaxwandel findet statt, wenn die Opakheit hinsichtlich einer bestimmten syntaktischen Eigenschaft in einer Sprache ausreichend groß ist (vgl. Lightfoots Transparenzprinzip).6 Ein anderer Parameter, der in der historischen Syntax eine herausragende Rolle gespielt hat, betrifft die Rektionsrichtung von Verben und Präpositionen. So hat beispielweise van Kemenade (1987) eine 6

Für den Zusammenhang von Parametersetzung und Parameterwandel vgl. Clark & Roberts (1991).

Variation in der generativen Grammatik

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Reihe von Sprachwandelphänomenen in der englischen Sprachgeschichte unter Zuhilfenahme genau dieses Parameters erklärt.7 Bevor andere Modelle der generativen Grammatik zur Erfassung synchroner und diachroner Variation vorgestellt werden, muss etwas zum Verhältnis von Parameterwandel und Reanalyse gesagt werden, da in den vorausgegangenen Kapiteln immer wieder von der Umdeutung, der Reanalyse, syntaktischer Strukturen infolge ihrer Mehrdeutigkeit die Rede war, diese Mehrdeutigkeit hier aber als Voraussetzung für die Neusetzung eines Parameterwertes behandelt wurde. Unter Reanalyse wird in der historischen Sprachwissenschaft eine strukturelle Umdeutung verstanden, bei der ein- und derselben linearen Abfolge von Morphemen in der Geschichte einer Einzelsprache verschiedene zugrunde liegende Strukturen zugeordnet werden. Es wird angenommen, dass die Reinterpretation der fraglichen Oberflächenstruktur beim Spracherwerb erfolgt: Das sprachlernende Kind abduziert aus beobachteten sprachlichen Daten und universellen Prinzipien eine mit diesen Prämissen kompatible Grammatik, die von derjenigen des erwachsenen Sprechers verschieden sein kann. Das nach Battye & Roberts (1995) modifizierte Modell von Andersen (1973) stellt sich dar wie in (6), wobei Elanguage in der Terminologie von Chomsky (1986) für external , /language für internal language steht.' (6)

7

'

Parent's I-language

Parent's E-Ianguage

Child's I-language

Child's E-language

Wie die Diskussion um die Stellung des attributiven Genitivs in Kapitel 4 gezeigt hat, beschränkt sich dieser Typ von Erklärung nicht auf generativ ausgerichtete Arbeiten zum Sprachwandel. Auch Braunmüller (1982) versucht über einen Wandel in der Rektionsrichtung den Stellungswandel des Genitivs zu erklären. Diese Differenzierung entspricht ungefähr der bei Saussure zu findenden Unterscheidung von parole und langage.

330

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

Dieses Verständnis von Reanalyse als einer Beziehung zwischen ESprache und I-Sprache hat sich in der generativen Literatur zur historischen Syntax weitgehend durchgesetzt (vgl. Lightfoot 1979, van Kemenade 1987, Weerman 1989, Faarlund 1990, Roberts 1993). Im Unterschied zur Reanalyse soll sich die Neusetzung eines Parameterwertes nicht auf das Verhältnis von Ε-Sprache zu I-Sprache, sondern auf das Verhältnis der I-Sprache des erwachsenen Sprechers zu der I-Sprache des Sprachlerners beziehen (Roberts 1993, Haie 1998). Die Begriffe Reanalyse und Parameterwandel sind nicht nur deshalb laut Roberts strikt auseinanderzuhalten. Denn Reanalyse führt seiner Ansicht nach immer zu lokalen Vereinfachungen in der Grammatik einer Einzelsprache, während die Neusetzung eines Parameterwertes weitreichendere Auswirkungen hat, ohne dass damit eine Vereinfachung der Grammatik verbunden ist. Im Verhältnis von Reanalyse und Parameterwandel sind Roberts zufolge zwei Fälle zu unterscheiden: Zum einen kann die Reanalyse einer gegebenen Oberfläche die ESprache (das ist der Output) des erwachsenen Sprechers so verändern, dass durch diese Veränderung die Neusetzung eines Parameterwertes in der I-Sprache des Sprachlerners motiviert wird. Zum anderen kann die Neusetzung eines Parameterwertes zur Reanalyse von Oberflächenstrukturen fuhren. In der Regel lässt sich die Neusetzung eines Parameterwertes nach Roberts an der Häufung von Reanalysen belegen. Ich halte diese Unterscheidung von Reanalyse und Parameterwandel für problematisch: In beiden Fällen handelt es sich doch darum, dass ein mehrdeutiger Input zu einem Wandel in der I-Sprache, der syntaktischen Kompetenz, führt. Und dieser Wandel soll nach Roberts im Fall der Reanalyse lokal, im Fall des Parameterwandels aber global sein. Eine solche Unterscheidung ist in meinen Augen sinnvoll, sollte sich aber nicht in der unterschiedlichen Etikettierung 'Reanalyse' vs. 'Parameterwandel' erschöpfen. Ich werde in Abschnitt 5.4 auf diesen Punkt zurückkommen. Der zweite Unterschied zwischen Reanalyse und Parameterwandel besteht nach Roberts darin, dass nur die Reanalyse in einer Vereinfachung der Grammatik resultiert. Das leitet er in

Variation in der generativen Grammatik

331

Anlehnung an Zipf (1935) aus der Annahme ab, dass Reanalyse auf einer Strategie des least effort beim Spracherwerb beruht. Ebenso wird aber auch der Parameterwandel erklärt: So argumentiert Roberts (1997) auf der Grundlage des Minimalistischen Programms, dass eine Grammatik mit einer nicht sichtbaren Verb-zweit-Bewegung einer Grammatik mit einer sichtbaren Verb-zweit-Bewegung lernstrategisch überlegen sei. Ein Sprachlerner, der einem in dieser Hinsicht mehrdeutigen Input ausgesetzt ist, werde sich aus diesem Grund für die erste Alternative entscheiden.9 Andererseits unterstreicht Roberts, dass Syntaxwandel nicht immer eine Vereinfachung der Grammatik darstellt, und deshalb die Differenzierung zwischen Reanalyse und Parameterwandel aufrechtzuerhalten sei. Ich bin nicht dieser Meinung. Die Reanalye einer Struktur impliziert nicht notwendigerweise ihre Vereinfachung, wie sich an an einer Reihe von Beispielen zeigen lässt. Ein Beispiel aus dieser Arbeit ist das verstärkte Aufkommen von Genitivkomposita im Frnhd., die aufgrund der Veränderungen in der Beziehung zwischen dem Kopfnomen und seinen linken Erweiterungen entstehen. Nach Roberts wären diese morphologischen Strukturen einfacher zu verarbeiten als die syntaktischen Vorläuferstrukturen. 5.3.2 Die Parametrisierung funktionaler Kategorien Im Unterschied zur Grammatikalisierungsforschung, deren Fokus auf den Exponenten grammatischer Merkmale und damit auf der morphologischen Typologie liegt, geht es in Arbeiten im generativen Paradigma seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre um die Frage, wie grammatische Merkmale in der Struktur von Phrasen und Sätzen zu repräsentieren sind, um die syntaktischen Eigenschaften von Einzelsprachen aus den fraglichen Repräsentationen ableiten zu können. Die Frage, ob die

9

S. die Kritik in Haie (1998:13f.) im Hinblick auf die Frage der leichteren Lernbarkeit (least effort) von nicht sichtbaren Ableitungsschritten.

332

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

Träger grammatischer Merkmale als gebundene oder freie Morpheme auftreten, ist von eher untergeordneter Bedeutung.10 Generative Ansätze zur Modellierung diachroner und synchroner Variation beschäftigen sich vor allem mit funktionalen Kategorien im Sinne struktureller Positionen (Borer 1984, Fukui 1986, Baker 1988). Funktionale Kategorien wie COMP(lementizer) und INFL(ection) werden in diesem Paradigma als strukturelle Kopfpositionen verstanden, denen grammatische Merkmale zugeordnet sind. Seit Chomsky (1986) genügen auch diese funktionalen Kategorien dem X-bar-Schema, insofern COMP und INFL nun als Köpfe der maximalen Projektionen CP und IP aufgefasst werden. Damit besteht ein einheitliches Format für lexikalische wie funktionale Kategorien: (7)

XP

SPEC(ifier) Χ', X' - » X COMPL(ement)

Die Klasse der funktionalen Kategorien ist seit Pollock (1989) und Chomsky (1991) immer wieder mit dem Ziel erweitert worden, jedem grammatischen Merkmal genau einen funktionalen Kopf zuzuordnen. So findet sich in Ouhalla (1991) die Einführung einer Reihe von verbalen Kopfpositionen, die anstelle einer funktionalen Sammelkategorie INFL mit grammatischen Merkmalen wie Tempus, Aspekt, Person, Numerus u.a. korrespondieren. Für die Variation von Sprachen auf der Grundlage funktionaler Kategorien lassen sich im Wesentlichen drei Positionen ausmachen: • Fukui & Speas (1986) zufolge unterscheiden sich Sprachen darin, über wie viele funktionale Kategorien sie verfügen. Am Beispiel des Englischen und Japanischen diskutieren sie zwei Sprachen, die sich an den Extrempunkten einer Skala befinden: Während sich fur das Englische eine Reihe funktionaler Kategorien nachweisen lässt, besitzt das Japanische ihrer Argumentation zufolge keine funktionalen Kategorien. Da grammatische Merkmale auch präsent sind, wenn sie keine eigene

10

In Roberts (1993) wird am Beispiel der Futurmarkierung in den romanischen Sprachen vorgeführt, wie durch die Reanalyse einer lexikalischen eine funktionale Kategorie entsteht.

Variation in der generativen Grammatik

333

Projektion aufbauen, impliziert dieser Ansatz, dass Sprachen sich darin unterscheiden, welchen Kopfpositionen welche grammatischen Merkmale zugeordnet werden. In Arbeiten zur diachronen Variation, in denen funktionale Kategorien eine Rolle spielen, wird im Wesentlichen davon ausgegangen, dass Projektionen (bestimmter) funktionaler Kategorien in älteren Stufen der Sprachgeschichte fehlen: So nimmt Lenerz (1985) beispielsweise an, dass das Fehlen von Verbbewegung in nicht eingebetteten Verb-letzt-Sätzen des Ahd. mit dem Fehlen der funktionalen Kategorie C korrespondiert. Kornfilt (1991), die den Ansatz von Fukui & Speas (1986) auf diachrone Daten des Türkischen überträgt, zeigt, wie sich tiefgreifende Unterschiede in der Syntax (Wortstellungseigenschaften sowie Typen von Passivkonstruktionen) des Gegenwartstürkischen und seines historischen Vorläufers aus der Annahme ableiten lassen, dass letzterer nicht über Projektionen funktionaler Kategorien verfugt. Ihrer Ansicht nach entwickelt das Türkische diese typologische Eigenschaft erst im Verlauf der Sprachgeschichte. Und van Gelderen (1993) postuliert für die Geschichte des Englischen ebenfalls die Entstehung einer neuen funktionalen Kopfposition, bedingt durch die vom Infinitivmarkierer to sowie den Modalverben durchlaufenen Grammatikalisierungsprozesse. Prinzipiell scheint auch in diesem theoretischen Paradigma der Verlust von funktionalen Kategorien möglich (vgl. Lumsden 1987). Insofern die Entstehung syntaktischer Variaten als Entstehung funktionaler Kategorien verstanden wird, lassen sich hier Parallelen zur kindlichen Sprachentwicklung feststellen, denn auch die sog. Strukturentwicklungshypothese von Guilfoyle & Noonan (1988) geht davon aus, dass funktionale Kategorien im Verlauf der kindlichen Sprachentwicklung erworben werden. • Eine zweite Position zur Modellierung synchroner und diachroner Variation findet sich in Ansätzen, die annehmen, dass Sprachen in Bezug auf die Zahl ihrer funktionalen Kategorien weit gehend konstant sind, aber hinsichtlich der lexikalischen Eigenschaften dieser funktionalen Kategorien variieren, eine Position, die seit Borer (1984) und Chomsky (1991) von Vertretern der Lexikalischen Parametrisierungs-

334

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

Hypothese eingenommen wird (Ouhalla 1991, Grewendorf 1992, Webelhuth 1992)." Zu diesen Eigenschaften gehören nach Ouhalla (1991) vor allem die folgenden drei: (i) kategoriale Selektionseigenschaften,12 (ii) morphologische Selektionseigenschaften sowie (iii) grammatische Merkmale wie Person, Numerus, Kasus- und Tempusmerkmale einschließlich des w-Merkmals; nach Ouhalla sind auch die Merkmale [+N] und [±V] unter diese grammatischen Merkmale zu subsumieren. Illustrieren lässt sich dieses Modell parametrischer Variation an Ouhallas Analyse der Nominalphrase, die bereits Thema des vorausgehenden Kapitels gewesen ist. Ausgehend von der Annahme, dass Nominalphrasen eine Struktur zuzuweisen ist, in der jeder Flexionskategorie eine eigene Projektion zukommt, fuhrt Ouhalla die Struktur der Nominalphrase sowie die Wortstellungsvariationen einzelner Konstituenten der Nominalphrase auf die lexikalischen Eigenschaften der fraglichen Flexionselemente zurück. So lässt sich die Variation in Bezug auf die (In)Kompatibilität von Artikelwörtern und Possessivpronomina bzw. possessiv zu interpretierenden Genitiven aus strukturellen Unterschieden der fraglichen Nominalphrasen herleiten, die wiederum durch die kategorialen Selektionseigenschaften der funktionalen Kategorie D° bedingt sind: In Sprachen wie dem Ungarischen und Türkischen selegiert der funktionale Kopf D° die funktionale Kategorie AGRP, in

"

12

Bondre-Beil (1994), die argumentiert, dass syntaktische Variation schwerlich von unterschiedlichen lexikalischen Eigenschaften einzelner funktionaler Elemente abzuleiten sei, schlägt eine weitere Variation im Rahmen der Parametrisierung funktionaler Kategorien vor: Ihrer Ansicht nach variieren Sprachen im Hinblick auf diejenigen grammatischen Merkmale, die mit einem spezifischen funktionalen Kopf zu assoziieren sind. /Vo- Subjekt > Objekt (NSO), die sich zum Beispiel in semitischen Sprachen findet, im letzteren die Abfolgen Kopfhomen > Objekt > Subjekt (NOS), wenn keine funktionale Projektion AGRP präsent ist, die Abfolge Subjekt > Kopfhomen > Objekt (SNO) im Fall einer AGR-Projektion. Eine Anwendung des Modells der Lexikalischen Parametrisierung auf diachrone Variationsphänomene ist mir nicht bekannt. • Eine dritte Position wird von Chomsky (1993) im Minimalistischen Programm vertreten. Ausgangspunkt ist auch hier die Annahme, dass das grammatische System mit zwei Performanzsystemen, dem artikulatorisch-perzeptuellen sowie dem konzeptuell-intentionalen System interagiert. Dessen Schnittstellen PF und LF bestehen aus Instruktionen für die beiden Performanzsysteme, die unterschiedlichen Status haben: Während das konzeptuell-intentionale System in allen Sprachen weitgehend identisch ist, variiert das System der PF einzelsprachlich. Genauer gesagt wird die PF-Schnittstelle als ein Übergangsstadium verstanden, insofern als an einem Punkt der Ableitung Anleitungen an das artikulatorisch-perzeptive System ausgegeben werden. Dieser Punkt, der die overte von der koverten Syntax trennt, heißt Spell-Out. Er wird durch die Stärke bzw. Schwäche von Flexionsmerkmalen für jede Einzelsprache individuell festgelegt. Entscheidend ist dabei, ob die fragli13

Wortstellungsvariationen auf Satzebene werden von Ouhalla in vergleichbarer Weise beschrieben.

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

336

chen Merkmale als legitime (i.e. unsichtbare) oder illegitime (i.e. sichtbare) Objekte auf PF gelten würden. Erstere gehören zur Klasse der schwachen Merkmale, zweitere zur Klasse der starken Merkmale. Durch die Bewegung von Köpfen oder Phrasen in funktionale Positionen werden starke grammatische Merkmale überprüft und damit vor Spell-Out gelöscht. Auf diese Weise wird ein Scheitern der Ableitung durch illegitime Merkmale auf PF verhindert. Die Aufgabe einer komparativen Linguistik besteht nun darin zu untersuchen, wie und warum sich Sprachen in ihrer overten Syntax unterscheiden: Im Minimalistischen Programm wird die parametrische Variation zwischen Sprachen als ein Unterschied in der Stärke grammatischer Merkmale von funktionalen Kategorien interpretiert. Illustrieren lässt sich diese Modellierung parametrischer Variation am Standardbeispiel des Verb-zweit-Phänomens: Für den zwischen dem Französischen und Englischen bestehenden Kontrast sind unter (8) und (9) einschlägige Beispiele aus Pollock (1989) angeführt: (8)

a. b. c.

Jean n'aime pas Marie. Jean embrasse souvent Marie. *Jean souvent embrasse Marie.

(9)

a. b. c.

*John likes not Mary. *John kisses often Mary. John often kisses Mary.

In den französischen Beispielen (8a) und (8b) erscheint das Vollverb aimer sowohl vor der Negation als auch vor dem Adverb souvent. Im Englischen ist diese Wortstellung offensichtlich ausgeschlossen, vgl. (9a) und (9b). Dieser Grammatikalitätskontrast ist in der generativen Grammatik so interpretiert worden, dass im Französischen das finite Vollverb in die Position eines funktionalen Kopfes bewegt wird, die im Englischen für Vollverben nicht verfügbar ist.14 In Anlehnung an Pol-

14

Für englische Modal- und Auxiliarverben ist diese Bewegung wie für die französischen Vollverben obligatorisch: (i) John will not kiss Mary. (ii) John will often kiss Mary.

Variation in der generativen Grammatik

337

lock (1989) argumentiert Chomsky im Minimalistischen Programm, dass die V-Merkmale der funktionalen Kategorie AGR im Französischen stark, im Englischen aber schwach sind, um so zu erklären, dass im Französischen, nicht aber im Englischen das finite Verb sichtbar in die Position AGR° bewegt wird. Die Merkmale des Verbs überprüfen die starken V-Merkmale in AGR°, die dann gelöscht werden. Im Englischen bleiben die V-Merkmale mangels Überprüfung erhalten, führen jedoch aufgrund ihrer Schwäche nicht zur Ungrammatikalität der Ableitung, da sie auf PF unsichtbar sind. Nur starke Merkmale sind auf der PF-Ebene sichtbar, falls sie nicht im Zuge einer Merkmalsüberprüfung gelöscht worden sind. In diesen Fällen scheitert die Ableitung. Solche Verb-zweit-Phänomene unterscheiden nicht nur synchron, sondern auch diachron zwischen Einzelsprachen wie dem Englischen und Französischen oder zwischen dem Ae. und Me. Bereits in Pollock (1989:418) wird die zunehmende Einschränkung von Verb-zweitPhänomenen im Verlauf der englischen Sprachgeschichte mit der Stärke und Schwäche der Flexionsmerkmale in AGR° korreliert. Im Ae. ist die verbale Flexionsmorphologie nach Pollock reich genug, um die Bewegung eines finiten Vollverbs in die zweite Position im Satz zu lizensieren. Mit dem Abbau seiner Verbalmorphologie geht der englischen Sprache diese Option für Vollverben verloren, wie die Gegenüberstellung des Chaucer-Belegs und seiner Übersetzung in (10) demonstrieren (aus Kroch 1989:226). (10)

a.

Quene Ester looked never with swich an eye. Queen Esther never looked with such an eye. (Chaucer, Merchant's Tale 1744)

Dieser Zusammenhang zwischen starker und schwacher respektive reicher und armer Flexionsmorphologie einerseits und Wortstellungsregularitäten andererseits ist ein altes Erklärungsmuster in der historischen Sprachwissenschaft, das zumindest bis zu Herder (1766/67) zurückverfolgt werden kann. Es scheint aus diesem Grunde etwas übertrieben, wenn Haie (1998:10) die Einführung des Minimalistischen Programms mit der Forderung nach einer radikalen Neukonzeption der

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

338

Agenda historischer Syntaxforschung verknüpft. Syntaktischer Wandel im Rahmen des Minimalistischen Programms ist nach Haie (1998:16) als das Ergebnis von Veränderungen in Bezug auf die Stärke von grammatischen Merkmalen funktionaler Kategorien zu verstehen. Veränderungen der Merkmale eines lexikalischen Elements (wie der Wandel seines Subkategorisierungsrahmens) führen dagegen nur zu lokalem Wandel ohne größere Auswirkungen auf andere Teile der Grammatik, weil bestimmte lexikalische Elemente anders als funktionale Kategorien nicht obligatorischer Bestandteil syntaktischer Repräsentationen sind. Wie das im Einzelnen auszusehen hat, reißt Haie am Beispiel von Nominalphrasen aus dem klassischen Latein nur an (die Beispiele sind aus Haies Artikel): (11)

a. b. c.

pater hue me misit ad vos oratum meus (...) ego (...) qui Iovis sum filius reges quo veniant et dei

(Plautus, Amphitruo 20) (Plautus, Amphitruo 30) (Plautus, Amphitruo 61)

Die Belege unter (11) zeichnen sich durch das diskontinuierliche Auftreten von Kopfnomen und Possessivpronomen (IIa) bzw. attributivem Genitiv (IIb) aus. Auch in der Koordinationsstruktur in (11c) ist die Einheit der Konstituente nicht gewahrt. Diese Wortstellungsfreiheit des klassischen Latein findet sich in den romanischen Sprachen der Gegenwart nicht mehr. Da der Verlust dieser syntaktischen Eigenschaft nach Haie nicht mit spezifischen Kopfnomina zu korrelieren ist, muss davon ausgegangen werden, dass der beobachtete syntaktische Wandel das Ergebnis von Veränderungen grammatischer Merkmale sind, die üblicherweise mit dem funktionalen Kopfes D° assoziiert werden. Leider führen Haies Überlegungen über diese Bemerkungen nicht hinaus. Dass Haie sein einziges historisches Beispiel aus dem Bereich der Wortstellungsveränderungen wählt, ist angesichts des theoretischen Rahmens, in dem er arbeitet, nicht erstaunlich. Denn sprachliche Variation ist im Minimalistischen Programm eine Funktion der Stärke von formalen Merkmalen. Und unterschiedlich starke formale Merkmale führen zu Unterschieden in Bezug auf sichtbare Bewegungsoperatio-

Variation in der generativen Grammatik

339

nen, d.h. zu Unterschieden in den Serialisierungseigenschaften von Sprachen - synchron und diachron.

5.4 Zu einem Modell syntaktischen Wandels Diachronische Veränderungen im Zusammenhang mit nominalen Ausdrücken, die so verschiedene Phänomene wie die Steuerung der Adjektivflexion, die Gebrauchsweisen des bestimmten Artikels, die Entstehung von Possessivartikel, den Stellungswandel genitivischer Attribute und die massenhafte Entstehung von Genitivkomposita betreffen, sind in der vorliegenden Arbeit auf einen einzigen Wandel, i.e. die Reinterpretation der Relation zwischen Artikelwort und Nominalphrase, zurückgeführt worden. Insoweit ist die Erklärung der fraglichen Veränderungen von explanatorischem Wert. Da der Wandel nicht an ein spezifisches lexikalisches Element geknüpft ist, sondern an die Klasse der Artikelwörter, die als typische Exponenten grammatischer Merkmale gelten, lässt sich offensichtlich auch die Verbindung zu einer funktionalen Kategorie herstellen. Genauer gesagt ist in dieser Studie dafür argumentiert worden, dass die Veränderungen in der Relation zwischen Artikelwort und Nominalphrase in systematischer Weise zu erfassen sind, wenn angenommen wird, dass die im Ahd. ausschließlich semantisch determinierte Relation seit dem Frnhd. auch morphologisch lizensiert ist: Während die semantische Abhängigkeit zwischen Artikelwort und NP wechselseitig bedingt ist, selegiert das Artikelwort seit dem Frnhd. die Nominalphrase einseitig auch morphologisch, wie sich an der Distribution der Adjektivflexion und an der Ausweitung im Gebrauch des bestimmten Artikels ablesen lässt. Der Wandel betrifft folglich die Selektionseigenschaften und damit die lexikalischen Eigenschaften einer bestimmten Klasse von Funktionswörtern, der Artikelwörter. Aus dem historischen Befund dieser Arbeit und seiner Interpretation kristallisiert sich ein Ansatz zur Modellierung diachroner wie synchro-

340

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

ner Variation deutlich heraus: die Parametrisierung lexikalischer Eigenschaften. Diese Parametrisierung ist nicht unbedingt auf die lexikalischen Eigenschaften von Funktionswörtern zu beschränken (s. auch Webelhuth 1992). Denn die lexikalischen Eigenschaften von Hauptwortarten unterliegen ebenfalls historischen Veränderungen, wie sich am Bespiel des Subkategorisierungsrahmens von schlafen zeigen lässt: Das einzige Argument des Verbs erscheint im Gegenwartsdeutschen obligatorisch in Form einer Nominalphrase im Nominativ, bei Notker findet sich ein Beleg fur eine unpersönliche Konstruktion, in der dieses Argument in Form einer Akkusativphrase realisiert ist. (12)

Mih släphota fore ürdrüzedo 'vor Überdruss schlief ich ein'

(N Ps 446.19)

Verschieden ist allerdings die Reichweite dieser Veränderungen: Ein Wandel der lexikalischen Eigenschaften von spezifischen Lexemen wie das Verb schlafen in (12) bleibt auf einen lokalen Bereich beschränkt. Ändern sich dagegen die lexikalischen Eigenschaften von Funktionswörtern, kann das weit reichende Konsequenzen haben, wie in dieser Arbeit am Wandel der Selektionseigenschaften von Artikelwörtern vorgeführt wurde. Aus diesen Überlegungen folgere ich, dass wir für die Beschreibung von syntaktischem Wandel nur das Konzept der Reanalyse benötigen, die Parametrisierung der lexikalischen Eigenschaften aber nur ein Epiphänomen ist. Von nachrangiger Bedeutung ist meines Erachtens, wie die Optionen diachroner und synchroner Variation in den jeweiligen Lexikoneinträgen formal ausbuchstabiert werden, ob im Rahmen der Lexikalischen Parametrisierungshypothese, mit den Mitteln der HPSG oder in einem dritten theoretischen Rahmen. Aus Gründen, die ich in den vorausgegangenen Kapiteln ausführlich dargelegt habe, gebe ich einer Analyse im Rahmen der HPSG hier den Vorzug: Dieser theoretische Rahmen liefert einen ausreichend mächtigen Selektionsmechanismus, um den initialen Wandel, die Reinterpretation der Beziehung zwischen Artikelwort und Nominalphrase, zu formalisieren.

Zu einem Modell syntaktischen Wandels

341

In dem von Haider (1991) vorgeschlagenen Modell der kognitiven Resonanz werden Parameter ebenfalls nur als ein Epiphänomen angesehen. Laut Haider beruht die menschliche Sprachfahigkeit auf einem angeborenen, zufallsbedingten Systempotenzial unseres Zentralnervensystems. Die Invarianten der natürlichen Sprachen (d.h. die Prinzipien der Universalgrammatik) versteht er als einen Reflex der Eigenschaften dieses Systempotenzials. Die Universalgrammatik wird folglich als ein System von Verarbeitungsroutinen verstanden, das spezifische Informationsstrukturen effektiv prozessiert und speichert. Grammatikerwerb stellt sich in diesem Modell als reiner Selektionsvorgang möglicher Repräsentationen für komplexe Muster gemäß dem Versuch-undIrrtum-Verfahren dar: Wird eine Repräsentation gewählt, die mit den Verarbeitungsroutinen harmoniert, stabilisiert sich diese Repräsentation. Parameter aber sind nach Haider nichts anderes als Äquivalenzklassen von Strukturen, die von derselben Verarbeitungsroutine prozessiert werden und aus diesem Grund gemeinsame Eigenschaften haben. Was heißt das nun für die Modellierung sprachlichen Wandels? Ausgehend von der Annahme, dass Sprachwandel mittels Abduktion während des Spracherwerbs erfolgt, betrifft Sprachwandel gerade diejenigen Informationsstrukturen, die durch diachronische Veränderungen in der Phonologie, Morphologie, Semantik oder Syntax der einzelsprachlichen Grammatik für den Sprachlerner zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Sprachgeschichte nicht mehr effektiv verarbeitbar sind. Die Reanalyse dieser Strukturen mündet dann im Erwerb einer Grammatik, die sich von der des erwachsenen Sprechers unterscheidet. Neben dem angeborenen Systempotential stellt folglich die einzelsprachliche Grammatik einschließlich ihrer Komponenten Phonologie, Morphologie, Syntax und Semantik einen weiteren Teil des Modells dar. Gemeinsam mit den außersprachlichen, historischen Bedingungen ist sie Teil der Antezedensbedingungen eines sprachlichen Wandels, der aus diachronen Veränderungen dieser Antezedensbedingungen (ob inner- oder außersprachlich) resultiert.

342

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

Sprachlichen Wandel zu erklären, bedeutet unter den diesen Annahmen, auf der Grundlage allgemeiner Gesetzmäßigkeiten diejenigen Faktoren in der einzelsprachlichen Grammatik zu isolieren, die den fraglichen Wandel motivieren, ein Unterfangen, das nach Kroch (1989:240) wenig Aussicht auf Erfolg hat, und auch Lass (1980:103) meldet aufgrund der Komplexität des Sprachsystems und der interagierenden Faktoren Zweifel an der Erklärbarkeit sprachlichen Wandels an. Soweit das die außersprachlichen Bedingungen betrifft, ist Kroch und Lass sicher recht zu geben,'5 im Hinblick auf die innersprachlichen Bedingungen erscheint mir dieses Unterfangen erfolgversprechender. Grundsätzlich halte ich zwei Wege für aussichtsreich, diejenigen Faktoren zu identifizieren, die eine sprachliche Veränderung bedingen. Da ist zunächst die komparative Vorgehensweise, bei der unter der Annahme eines konstant bleibenden Systempotentials die Entwicklung von strukturell identischen Konstruktionen zu strukturverschiedenen Konstruktionen in der Geschichte zweier Sprachen kontrastiert wird (vgl. Demske-Neumann 1994). Ein Vergleich der innersprachlichen Antezedensbedingungen ermöglicht es dann, diejenigen Faktoren in der einzelsprachlichen Grammatik zu isolieren, die den jeweiligen Wandel bedingen. Auf diese Weise kann ein komparativer Ansatz die erforderliche Evidenz für den kausalen Effekt von innersprachlichen Faktoren auf die diachrone Veränderung eines bestimmten Sprachwandelphänomens liefern. Erklärenden Anspruch haben außerdem solche Arbeiten, die eine Reihe verschiedener diachronischer Veränderungen auf 13

Sprachwandel in einer spezifischen Sprache zu einer bestimmten Zeit erklären zu wollen, indem man sich auf bisweilen schwer rekonstruierbare kulturelle und psychologische Faktoren bezieht, führt zudem im besten Fall zu einer Erklärung dafür, warum sich bestimmte Veränderungen in einer Sprache a u s b r e i t e n . Vorausgesetzt, man versteht unter Sprachwandel die Entstehung einer spezifischen Variante und nicht deren Ausbreitung in der Sprachgemeinschaft, eine Position, die unter anderen von Labov (1972) vertreten wird. Nach Labov wird Variation zufällig durch eine idiosynkratische Sprechgewohnheit oder einen Versprecher eingeführt, weshalb es für ihn nicht sinnvoll scheint, nach dem Ursprung einer Variante zu fragen. Für ihn ist es die Akzeptanz einer Variante durch die Sprachgemeinschaft, die als der Ursprung sprachlichen Wandels verstanden werden muss, und nicht die Entstehung derselben.

Zu einem Modell syntaktischen Wandels

343

einen einzigen Faktor zurückführen können, so wie in der vorliegenden Arbeit Veränderungen in Bezug auf die Steuerung der Adjektivflexion, die Gebrauchsweisen des bestimmten Artikels, die Reanalyse von Possessivpronomina und genitivischer Attribute sowie der Anstieg in der Produktivität von Nominalkomposita auf einen Wandel in der Relation zwischen Artikelwort und NP reduziert werden konnte. Ausgelöst wird diese Reinterpretation durch Abschwächungs- sowie Apokopierungsprozesse in den adjektivischen Paradigmen der starken und schwachen Adjektivflexion, vgl. Abschnitt 2.4.2. Insofern hier die Selektionseigenschaften eines Funktionsworts betroffen sind, hat diese Reanalyse entsprechende Konsequenzen für die Syntax nominaler Phrasen. Historische Sprachwissenschaft im Sinne des gerade skizzierten Modells liefert einen unschätzbaren Beitrag zur Bildung einer allgemeinen Theorie von Sprache: Denn Informationen darüber, wie sich der Aufbau der prozessierten Informationstrukturen von einem Stadium der Sprachgeschichte zum nächsten Stadium wandelt, verschaffen Einblick in das System der Verarbeitungsroutinen, da Veränderungen in den Informationsstrukturen mit einer effektiveren Verarbeitbarkeit dieser Strukturen korrelieren (vgl. das principle of least effort von Zipf 1935).16 Sprachhistorische Arbeiten im Rahmen des Prinzipien- und Parameter-ModeWs betrachten historische Daten dagegen häufig aus einer synchronen Perspektive, d.h. verstehen Syntaxwandel als Parameterwandel (vgl. oben), und reduzieren damit die historische Sprachwissenschaft angesichts der oft eingeschränkten Quellenlage auf ein vergleichsweise armes Testfeld für mögliche Parametrisierungen. Diese Reduktion historischer Syntax auf eine statische Betrachtungsweise heißt aber, dasjenige dynamische Moment auszuschalten, das die historische Syntax über das Interesse an der Geschichte bestimmter Konstruktionen sowie das Problem der Erklärbarkeit hinaus für eine allge-

16

Auch Ohala (1993) unterstreicht die gemeinsame wissenschaftliche Grundlage von phonetischen Experimenten in der Sprachproduktion und Sprachwahmehmung sowie Untersuchungen von Lautwandel.

344

Die Modellierung diachroner und synchroner Variation

meine Theorie von Sprache zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand auch in der theoretischen Linguistik werden lässt.

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