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German Pages 276 [340] Year 2020
Philosophische Bibliothek
Thomas Hobbes Menschliche Natur und politischer Körper
Meiner
T HOM AS HOBBE S
Menschliche Natur und politischer Körper
Übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von alfred j. noll
FEL I X M EI N ER V ER L AG H A M BU RG
PH I L O S OPH I S C H E BI BL IO T H E K BA N D 6 8 9
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über ‹http://portal.dnb.de›. ISBN 978-3-7873-2992-2 ISBN eBook 978-3-7873-2993-9
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX Zu dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LIII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LVII Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LIX
thomas hobbes Menschliche Natur und politischer Körper Widmungsschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I Die Natur des Menschen kapitel i Allgemeine Unterteilung der natürlichen Fähigkeiten des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.–3. Vorwort. 4. Die Natur des Menschen. – 5. Einteilung seiner Fähigkeiten. – 6. Fähigkeiten des Körpers. – 7. Fähigkeiten des Geistes. – 8. Erkenntniskraft, Vorstellungen und Einbildungskraft des Geistes.
kapitel ii Die Ursache der Sinnesempfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.–3. Definition der Sinnesempfindung. – 4. Vier Sätze über das Wesen der Wahrnehmungen. – 5. Beweis des ersten. – 6. Beweis des zweiten. – 7., 8. Beweis des dritten. – 9. Beweis des vierten. 10. Die hauptsächliche Täuschung der Sinnesempfindung.
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Inhalt
kapitel iii Von der Einbildung und ihren Arten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Definition der Einbildung. – 2. Schlaf und Träume definiert. – 3. Ursachen der Träume. – 4. Erdichtung definiert. – 5. Hirngespinste definiert. – 6. Erinnerung definiert. – 7. Worin Erinnerung besteht. – Warum in Träumen niemals denkt, dass man träumt. – 9. Warum in Träumen wenige Dinge seltsam erscheinen. – 10. Dass ein Traum für Wirklichkeit und für Vision genommen werden kann.
kapitel iv Von den verschiedenen Arten der Erörterung des Geistes . .
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1. Gedankenabfolge. – Die Ursache des Zusammenhangs der Gedanken. – 3. Schlauheit. – 5. Erinnerung. – 6. Erfahrung. – 7. Erwartung oder Mutmaßung über das Zukünftige. – 8. Mutmaßung über das Vergangene. – 9. Zeichen. – 10. Klugheit. – 11. Warnung, aus Erfahrung zu schlussfolgern.
kapitel v Über Namen, Überlegungen und vom Diskurs der Zunge . .
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1. Merkmale. – 2. Namen oder Bezeichnungen. – 3. Positive und private Namen. – 4. Der Vorteil der Namen macht uns fähig zur Wissenschaft. – 5. Allgemeine Namen. – 6. Universelles gibt es nicht in der Natur. – 7. Zweideutige Falschheit. – 8. Verstand. – 9. Bejahung, Verneinung, Urteil. – 10. Wahrheit, Falschheit. – 11. Wissenschaftliches Denken. – 12. Der Vernunft gemäß; gegen die Vernunft. – 13. Die Ursachen des Wissens und des Irrtums. – 14. Übertragung der Gedankenabfolge aus dem Geist auf die Zunge und Irrtümer, die daraus folgen.
kapitel vi Über Wissen, Meinen und Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Über zweierlei Arten des Wissens. – 2. Wahrheit und Offenkundigkeit notwendig zum Wissen. – 3. Bewusstsein definiert. – 4. Definition des Wissens. – 5. Die Hypothese definiert. – 6. Meinung definiert. – 7. Glaube definiert. – 8. Gewissen definiert. – 9. Der Glaube manchmal nicht weniger zweifelsfrei als das Wissen.
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Inhalt
kapitel vii Über Vergnügen und Schmerz, gut und schlecht . . . . . . . . .
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1. Über Luft, Schmerz, Liebe, Hass. – 2. Verlangen, Abneigung, Furcht. – 3. Gut, Übel, Schönheit, Hässlichkeit. – 5. Ziel, Genuss. – 6. Nützlich, Nutzen, nutzlos. – 7. Glückseligkeit. – 8. Gut und Übel gemischt. – 9. Sinnliche Lust und Schmerz, Freude und Kummer.
kapitel viii Von den Genüssen der Sinne; von der Ehre . . . . . . . . . . . . . .
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1., 2. Worin die sinnlichen Genüsse bestehen. – 3., 4. Über die Vorstellung oder das Wesen der Kraft. – 5. Ehre, ehrwürdig, Wert. – 6. Ehrenbezeugungen. – 7. Ehrfurcht.
kapitel ix Von den Leidenschaften des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Stolz, Ehrgeiz, Dünkel, Eitelkeit. – 2. Demut und Niedergeschlagenheit. – 3. Scham. 4. Mut. – 5. Ärger. – 6. Rachsucht. – 7. Reue. – 8. Hoffnung, Verzweiflung, Misstrauen. – 9. Vertrauen. – 10. Mitleid und Hochherzigkeit. – 11. Empörung. – 12. Eifersucht und Neid. – 13. Lachen. – 14. Weinen. – 15. Begierde. – 16. Liebe. – 17. Nächstenliebe. – 18. Bewunderung und Wissbegier. – 19. Von der Leidenschaft derer, der zusammenströmen, um eine gefährliche Lage zu sehen. – 20. Von Kühnheit und Kleinmut. – 21. Ein Bild der Leidenschaften, die bei einem Wettrennen zum Ausdruck kommen.
kapitel x Darüber dass Menschen unterschiedlich dazu in der Lage sind, zwischen Fähigkeit und Ursache zu unterscheiden . . . 1. Dass die Unterschiede des Verstandes nicht in der unterschiedlichen Zusammensetzung des Gehirns liegen. – 2. Dass sie in der Mannigfaltigkeit der Lebenskraft liegt. – 3. Von der Dummheit. – 4. Von der Einbildungskraft, dem Urteil und dem Verstand. – 5. Von der Flüchtigkeit. – 6. Vom Ernst. – 7. Über die Gediegenheit. – 8. Über die Unbelehrbarkeit. – 9. Größenwahnsinnigkeit. – 10. Von den Verrücktheiten, die sich darauf aufbauen. – 11. Vom Wahnsinn und dessen Abstufungen, die eitler Furcht entspringen.
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Inhalt
kapitel xi Welche Einbildungen und Leidenschaften die Menschen in Hinsicht auf die Namen der übernatürlichen Dinge haben
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1., 2. Dass der Mensch natürlich zum Wissen kommen kann, dass es einen Gott gibt. – 3. Dass die Eigenschaften Gottes unsere mangelnde Einbildungskraft oder unsere Ehrfurcht ausdrücken. – 4. Die Bedeutung des Wortes Geist. – 5. Dass Geist und unkörperlich Widersprüche sind. – 6. Woher der Irrtum kommt, durch den Heiden an Dämonen und Geister glauben. – 7. Das Wissen des Geistes und der göttlichen Eingebung der Bibel. – 8. Woher sollen wir wissen, dass die Bibel das Wort Gottes ist? – 9., 10. Wie gelangen wir zur Kenntnis der Auslegung der Schrift? – 11. Was es heißt, Gott zu lieben und zu vertrauen. – 12. Was es heißt, Gott zu ehren und anzubeten.
kapitel xii Wie durch Überlegung aus Leidenschaften die menschlichen Handlungen hervorgehen . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Von der Überlegung. – 2. Vom Willen. – 3. Von freiwilligen, unfreiwilligen und gemischten Handlungen. – 4. Handlungen aus plötzlichem Verlangen sind freiwillig. – 5. Verlangen und unsere Leidenschaften sind nicht freiwillig. – 6. Das Abschätzen von Belohnung und Strafe beherrscht den Willen. – 7. Zustimmung, Streit, Kampf, Hilfe. – 8. Vereinigung. – 9. Absicht.
kapitel xiii Wie die Menschen durch die Sprache auf den Geist von einander wirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1., 2. Von Lehren, Überreden, Verschiedenheit der Ansichten, Zustimmung. – 3. Unterschied zwischen Lehren und Überrede. – 4. Meinungsverschiedenheiten ergeben sich aus Lehresätzen. – 5. Rat erteilen. – 6. Versprechen, drohen, befehlen, Gesetze. – 7. Leidenschaften erwecken und besänftigen. – 8. Worte allein sind keine ausreichenden Zeichen der Absicht. – 9. Bei einander widersprechenden Angaben wird der direkt dargestellte Teil dem, der sich aus den Schlussfolgerungen ergibt, vorgezogen. – 10. Der Hörer deutet die Sprache dessen, der mit ihm spricht. – 11. Schweigen ist manchmal ein Zeichen von Zustimmung.
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Inhalt
kapitel xiv Stand und Recht der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1., 2. Die Menschen sind von Natur gleich. – 3. Durch Eitelkeit abgeneigt, ihre Gleichheit mit anderen anzuerkennen. – 4. Geneigt, einander durch Vergleiche herauszufordern. – 5. Geneigt, die wechselseitigen Rechte zu schmälern. – 6. Erklärung des Rechts. – 7. Recht auf den Zweck bedeutet Recht auf die Mittel. – 8. Jeder Mensch ist von Natur sein eigener Richter. – 9. Macht und Wissen jedes Menschen ist für den eigenen Gebrauch bestimmt. – 10. Jeder Mensch hat von Natur ein Recht auf alles. – 11. Erklärung von Krieg und Frieden. – 12. Die Menschen sind von Natur im Kriegszustand. – 13. Bei offenkundiger Ungleichheit ist Macht gleich Recht. – 14. Die Vernunft befiehlt den Frieden.
kapitel xv Von der Entäußerung des natürlichen Rechts durch Schenkung und Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das natürliche Recht beruht nicht auf der Übereinkunft der Menschen, sondern auf Vernunft. – 2. Dass jeder Mensch sich des Rechts begibt, dass er auf alles hat, ist ein Gebot der Natur. – 3. Was es bedeutet, sein Recht aufzugeben oder zu übertragen. – 4. Der Wille, etwas zu übertragen und der Wille, etwas anzunehmen sind beide notwendig, um das Recht zu übertragen. – 5. Recht, nicht durch bloße Worte de futuro zu übertragen. – 6. Worte de futuro können in Verbindung mit anderen Zeichen des Willens Recht übertragen. – 7. Die freie Gabe wird erklärt. – 8. Vertrag und seine Arten. – 9. Ein Schuldversprechen wird erklärt. – 10. Ein Vertrag, auf gegenseitigem Leistungsversprechen beruhend, gilt im Stande der Feindseligkeit nicht. – 11. Die Menschen können nur untereinander Verträge abschließen. – 12. Wie ein Schuldversprechen gelöst wird. – 13. Ein durch Furcht erpresstes Versprechen ist nach dem natürlichen Recht gültig. – 14. Ein Schuldversprechen, das einem anderen Schuldversprechen zuwiderläuft, ist ungültig. – 15. Ein Eid wird erklärt. – 16. Der Eid muss jedem Menschen in seiner eigenen Religion auferlegt werden. – 17. Ein Eid erhöht die Verpflichtung nicht. – 18. Schuldversprechungen binden nur die Absicht.
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Inhalt
kapitel xvi Einige Gesetze der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Dass die Menschen ihre Verträge einhalten sollen. – 2. Definition des Unrechts. – 3. Dass nur dem Gläubiger Unrecht zugefügt wird. – 4. Die Bedeutung der Ausdrücke Recht und Unrecht. – 5. Die Gerechtigkeit, nicht richtig in austeilende und ausgleichende eingeteilt. – 6. Es ist ein natürliches Recht, dass der, dem vertraut wird, nicht dieses Vertrauen zum Schaden dessen kehrt, der vertraut. – 7. Definition der Undankbarkeit. – 8. Es ist ein natürliches Recht, dass man bestrebt sei, sich einander anzupassen. – 9. Und dass man gegen Bürgerschaft vergebe für die Zukunft. – 10. Und dass die Rache nur für die Zukunft Rücksicht nehmen soll. – 11. Dass Vorwurf und Missachtung zu erklären, gegen das natürliche Recht ist. – 12. Dass Freiheit des Handels dem natürlichen Recht entspricht. – 13. Dass Boten, die Frieden vermitteln, nach dem natürlichen Recht freies Geleit haben.
kapitel xvii Andere Gesetze der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein natürliches Gesetz ist, dass jedermann die anderen als seinesgleichen anerkenne. – 2. Ein anderes, dass die Menschen æqualia æqualibus [Gleiches mit Gleichem] gestatten sollen. – 3. Ein anders, dass jene Dinge, die nicht verteilt werden können, gemeinsam benutzt werden. – 4. Ein anderes, dass über unmittelbare und nicht gemeinsam benutzbare Dinge durch das Los entschieden werde. – 5. Natürliches Los, Erstgeburt und erster Besitz. – 6. Dass Menschen sich einem Schiedsrichterspruch unterwerfen sollen. – 7. Vom Schiedsrichter. – 8. Dass niemand einem anderen seinen Rat gegen dessen Willen aufdrängen soll. – 9. Wie man sich schnell überzeugen kann, was dem natürlichen Recht gemäß ist. – 10. Dass das natürliche Recht gültig wird, nachdem Sicherheit von anderen gewonnen wurde, es zu halten. – 11. Das natürliche Recht kann nicht durch Gewohnheit beseitigt werden, das Naturgesetz nicht durch irgendeine Handlung. – 12. Warum die Vorschriften der Natur Gesetze genannt werden. – 13. Alles, was bei einem Menschen, der sein eigener Richter ist, gegen das Gewissen ist, ist gegen das natürliche Recht. – 14. Vom malum poenæ, malum culpæ [das Übel der Strafe, Übel der Schuld]; Tugend und Laster. – 15. Geneigtheit zur Gesellschaft ist Erfüllung des natürlichen Gesetzes.
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Inhalt
kapitel xviii Eine Bestätigung derselben aus dem Wort Gottes . . . . . . .
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1.–12. Eine Bestätigung der wichtigsten in den beiden letzten Kapiteln erörterten Punkte bezüglichen des natürlichen Rechts durch die Bibel.
kapitel xix Von der Notwendigkeit und Definition eines politischen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Dass die Menschen trotz dieser Gesetze doch im Kriegszustand bleiben, bis sie wechselseitige Sicherheit haben. – 2. Das natürliche Recht im Krieg ist nur die Ehre. – 3. Keine Sicherheit ohne die Eintracht vieler. – 4. Dass die Eintracht unter vielen nicht erhalten werden kann ohne eine Macht, die sie alle in Furcht hält. – 5. Der Grund, weshalb die Eintracht in einer Menge bei einigen unvernünftigen Geschöpfen sich erhält und nicht bei den Menschen. – 6. Dass die Einigung notwendig ist für die Erhaltung der Eintracht. – 7. Wie Einigkeit geschaffen wird. – 8. Definition des politischen Körpers. – 9. Definition der Körperschaft. – 10. Definition des Souveräns und des Untertanen. – 11. Zwei Arten politischer Körper, patrimoniale und Gemeinwesen.
Teil II Vom politischen Körper kapitel xx Über die Erfordernisse einer Verfassung für ein Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung. – 2. Eine Menge ist vor ihrer Einigung nicht eine Person, und keine Handlung ist ihr zuzurechnen, der nicht jeder einzelne ausdrücklich zustimmt. – 3. Ausdrückliche Akzeptanz jedes Einzelnen ursprünglich notwendig, um der Mehrheit das Recht zu geben, die Gesamtheit zu vertreten. Demokratie, Aristokratie, Monarchie. – 4. Demokratische, aristokratische und monarchische Einigung kann für immer oder vorübergehend eingerichtet werden. – 5. Kein persönliches Recht wird abgetreten ohne Sicherheit auf Gegenleistung. – 6. Eine eingesetzte Regierung ohne vollstreckende
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Inhalt
Gewalt bietet keine Sicherheit. – 7. Die vollziehende Gewalt besteht darin, dass dem, der sie ausübt, kein Widerstand entgegengesetzt wird. – 8. Das Schwert des Krieges ist in derselben Hand, in der das Schwert der Gerechtigkeit ist. – 9. Die Entscheidung in allen Verhandlungen, sowohl den richterlichen wie beratenden, gehört zum Schwerte. – 10. Definition der bürgerlichen Gesetze; sie zu schaffen, gehört zum Schwerte. – 11. Ernennung von Magistraten und Staatsdienern ebenso. – 12. Die höchste Gewalt schließt Straflosigkeit ein. – 13. Unterstellung eines Gemeinwesens, worin die Gesetze erst gemacht werden und das Gemeinwesen nachher. – 14. Wird widerlegt. – 15. Unterstellung gemischter Regierungsformen in der höchsten Gewalt. – 16. Wird widerlegt. – 17. Gemischte Regierung hat ihre Stelle in der Verwaltung des Gemeinwesens unter der Herrschergewalt. – 18. Nachdenken und Erfahrung lehren uns, dass in allen Gemeinwesen irgendwo absolute Herrschergewalt besteht. – 19. Einige wesentliche und untrügliche Merkmale der Herrschergewalt.
kapitel xxi Von den drei Arten des Gemeinwesens . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Demokratie geht allen anderen Staatsformen voraus. – 2. Das souveräne Volk macht keine Verträge mit den Untertanen. – 3. Vom souveränen Volk kann man im eigentlichen Sinne nicht sagen, dass es jemals dem Untertanen unrecht tue. – 4. Die Fehler des souveränen Volkes sind die Fehler jener Privatleute, durch deren Abstimmung ihre Beschlüsse angenommen werden. – 5. Die Demokratie ist in der Wirkung eine Aristokratie von Rednern. – 6. Wie die Aristokratie zustande kommt. – 7. Man kann auch von der Verbreitung der Optimaten nicht im eigentlichen Sinne sagen, dass sie den Untertanen unrecht tun. – 8. Die Wahl der Aristokraten geschieht durch ihre eigene Körperschaft. – 9. Ein Wahlkönig ist nicht Souverän als Eigentümer, sondern als Nutznießer. – 10. Ein auf Bedingung eingesetzter König ist nicht Souverän als Eigentümer, sondern als Nutznießer. – 11. Das Wort Volk ist doppelsinnig. – 12. Von der Pflicht des Gehorsams entbindet der Souverän. – 13. Wie solche Entbindungen zu verstehen sind. – 14. Die Pflicht des Gehorsams wird aufgehoben durch die Verbannung. – 15. Durch die Eroberung. – 16. Durch die Unkenntnis des Rechts der Sukzession.
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kapitel xxii Über die Macht der Herren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1., 2. Rechtstitel auf Herrschaft, Herr und Diener definiert. – 3. Ketten und andere materielle Bande sind die Voraussetzung, dass kein bindender Vertrag vorliegt. Sklave definiert. – 4. Diener haben nichts Eigenes vor ihrem Herrn, aber in Bezug aufeinander können sie Eigentümer sein. – 5. Der Herr hat das Recht, seinen Diener zu veräußern. – 6. Der Diener des Knechts ist Diener des Herrn. – 7. Wie die Dienstbarkeit aufgehoben wird. – 8. Ein mittlerer Herr kann seinen Diener nicht des Gehorsams gegen den Oberherrn entbinden. – 9. Der Rechtstitel des Menschen auf Herrschaft über die Tiere.
kapitel xxiii Über die Macht der Väter und des patriarchalischen Königtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Gewalt über das Kind ist ursprünglich das Recht der Mutter. – 2. Der Vorrang des Geschlechts gibt das Kind nicht dem Vater, sondern eher der Mutter. – 3. Der Rechtstitel des Vaters oder der Mutter auf die Person des Kindes ist nicht die Erzeugung, sondern die Erhaltung des Kindes. – 4. Das Kind einer Leibeigenen gehört ihrem Herrn. – 5. Das Recht über das Kind wird zuweilen von der Mutter durch ausdrücklichen Vertrag abgetreten. – 6. Das Kind der Konkubine ist nicht ohne weiteres unter der Gewalt des Vaters. – 7. Das Kind des Ehemanns und der Ehefrau ist unter der Gewalt des Vaters. – 8. Der Vater, oder er oder sie, welcher das Kind aufzieht, hat absolute Gewalt über dasselbe. – 9. Was unter der Freiheit der Untertanen zu verstehen ist. – 10. Eine große Familie ist ein patrimoniales Königreich. – 11. Über die Nachfolge in der herrschenden Gewalt kann kategorisch durch Testament verfügt werden. – 12. Ein Nachfolger ist immer vorauszusetzen, wenn auch keiner ernannt worden ist. – 13. Die Kinder des Souveräns sind für die Nachfolge allen anderen vorzuziehen. – 14. Die männlichen vor den weiblichen. – 15. Der Älteste vor den anderen Brüdern. – 16. Der Bruder des Herrschers nach den Kindern desselben. – 17. Die Erbfolge des Besitzers folgt derselben Regel wie die Erbfolge des Vorgängers.
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kapitel xxiv Die Unannehmlichkeiten von einigen Regierungsarten im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Der Nutzen des Gemeinwesens und seiner Mitglieder ist derselbe. – 2. Der Verlust der Freiheit oder der Mangel an Eigentum gegen das Recht des Souveräns ist kein wirklicher Mangel. – 3. Die Monarchie ist durch die ältesten Beispiele erprobt. – 4. Die monarchische Regierungsform ist weniger der Leidenschaft ausgesetzt als andere Arten der Regierung. – 5. In der Monarchie sind die Untertanen weniger der Gefahr ausgesetzt, Privatleute zu bereichern, als unter anderen Regierungsformen. – 6. Die Untertanen in der Monarchie sind weniger der Gewalt preisgegeben als unter anderen Regierungen. – 7. Die Gesetze in der Monarchie sind weniger dem Wechsel unterworfen als in anderen Staatsformen. – 8. Monarchien sind weniger der Auflösung ausgesetzt als andere Regierungen.
kapitel xxv Dass Untertanen nicht verpflichtet sind, ihren privaten Urteilen in Religionsstreitigkeiten zu folgen . . . . . . . . . . . . 1. Eine Schwierigkeit betreffend die vollständige Unterwerfung unter Menschen, die aus unserer vollständigen Unterwerfung unter den Allmächtigen entspringt. – 2. Dass diese Schwierigkeit nur unter jenen Christen besteht, welche leugnen, dass die Auslegung der Bibel von der herrschenden Gewalt im Staate abhängt. – 3. Dass menschliche Gesetze nicht gemacht werden, um die Gewissen der Menschen, sondern um ihre Worte und Handlungen zu lenken. – 4. Stellen aus der Schrift, welche beweisen, dass die Christen ihrem Souverän Gehorsam in allen Dingen schuldig sind. – 5. Unterscheidung zwischen einem Grundsatz des Glaubens und einem Überbau. – 6. Darlegung derjenigen Punkte, die fundamental. – 7. Dass der Glaube an jene fundamentalen Punkte für unsere Seligkeit als Glaube genügt. – 8. Dass andere nichtfundamentale Punkte für die Seligkeit als Sache des Glaubens nicht notwendig sind und dass kraft des Glaubens für das Heil eines Menschen mehr gefordert wird als für das Heil eines anderen. – 9. Dass für einen Christen Überbauten keine Hauptpunkte des Glaubens sind. – 10. Wie Glauben und Gerechtigkeit zur Seligkeit zusammenwirken. – 11. Dass in christlichen Staaten Gehorsam gegen Gott und Menschen sich gut miteinander vertragen. – 12. Auslegung des Satzes, dass das, was
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gegen das Gewissen ist, sündhaft ist. – 13. Dass alle Menschen die Notwendigkeit anerkennen, Streitfragen einer menschlichen Autorität zu unterbreiten. – 14. Dass Christen unter einem Ungläubigen von der Ungerechtigkeit, ihm in dem für ihre Seligkeit notwendigen Glauben nicht zu gehorchen, dadurch entlastet werden, dass sie sich widersetzen.
kapitel xxvi Dass Untertanen nicht verpflichtet sind dem Urteil irgendeiner Autorität in Religionsstreitigkeiten zu folgen, die nicht abhängig ist von der souveränen Macht
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1. Betrachtung der Frage, welches im Reiche Christi die obrigkeitlichen Personen sind. – 2. Die Frage erläutert durch Beispiele aus dem Konflikt zwischen Moses und Aaron und zwischen Moses und Korah. – 3. Bei den Juden war die weltliche und geistliche Macht in einer und derselben Hand. – 4. Die zwölf Fürsten Israels und die zwölf Apostel. – 5. Die Parallele der siebzig Ältesten und der siebzig Jünger. – 6. Die Hierarchie der Kirche bestand zur Zeit des Heilands aus den Zwölf und den Siebzig. – 7. Warum Christus zu den Opfern keine Priester bestimmte, wie es Moses tat. – 8. Die Hierarchie der Kirche bestand zu Zeiten der Apostel. Apostel, Bischöfe und Priester. – 9. Das Predigen des Evangeliums war keine Nötigung, sondern Überredung. – 10. Exkommunikation. Die Souveräne sind unmittelbar kirchliche Herrscher unter Christus. – 11. Dass niemand ein Recht hat, unter dem Vorwande der Religion dem Staate ungehorsam zu sein. Gott spricht zu den Menschen durch seine Stellvertreter.
kapitel xxvii Von den Ursachen der Rebellion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dinge, die zur Empörung geneigt machen: Unzufriedenheit, Scheingründe und Hoffnung auf Erfolg. – 2. Die Unzufriedenheit, die zum Aufstand geneigt macht, besteht zum Teil aus Furcht vor Mangel oder vor Strafe. – 3. Zum Teil aus Ehrgeiz. – 4. Sechs Arten der Vorwände zur Empörung. – 5. Der erste Scheingrund, dass die Menschen nichts gegen ihr Gewissen tun sollen, widerlegt. – 6. Der zweite, dass die Herrscher ihren eigenen Gesetzen unterworfen seien, widerlegt. – 7. Der dritte, dass die Souveränität teilbar sei, wi-
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derlegt. – 8. Der vierte, dass die Untertanen ein vom Machtbereich des Souveräns verschiedenes Eigentum hätten, widerlegt. – 9. Der fünfte, dass das Volk eine vom Souverän unterschiedene Person sei, widerlegt. – 10. Der sechste, dass Tyrannenmord erlaubt sei, widerlegt. – 11. Vier Arten der Hoffnung auf Erfolg bei einer Empörung. – 12. Zwei Dinge sind dem Anstifter eines Aufstandes unerlässlich: große Beredsamkeit und wenig Weisheit. – 13. Dass die Urheber einer Empörung notwendig Leute sein müssen, die wenig Weisheit besitzen. – 14. Dass dieselben notwendigerweise beredt sind. – 15. In welcher Weise beide Elemente zu ihren gemeinsamen Wirkungen beitragen.
kapitel xxviii Von den Pflichten derer, die souveräne Macht haben . . . . 1. Salus populi [Wohl des Volkes], das Gesetz für die Herrscher. – 2. Dass die Herrscher diejenige Religion einführen sollten, die sie für die beste halten. – 3. Dass das Verbot unnatürlicher Geschlechtsverbindungen, gemeinsamen Gebrauchs der Frauen, der Vielmännerei und der Ehen innerhalb der Grade von Blutsverwandtschaft ein natürliches Gesetz ist. – 4. Dass es eine vom natürlichen Recht geforderte Pflicht des Souveräns ist, den Menschen so viel Freiheit zu lassen, als ohne Schaden für die Allgemeinheit angeht, Mittel für Handel und Arbeit anzuweisen und überflüssige Ausgaben zu verbieten. – 5. Mein und Dein den Untertanen gesondert voneinander zuzuweisen und die Lasten des Staates nach den Ausgaben der Leute zu verteilen, ist ferner eine durch das natürliche Recht geforderte Pflicht des Herrschers. – 6. Für den inneren Frieden des Gemeinwesens ist eine außerordentliche Gewalt nötig, um über die Missbräuche der Magistrate zu wachen. – 7. Die Unterdrückung des Populismus jener, die an der bestehenden Regierung etwas auszusetzen haben, ist notwendig, um Aufstände zu verhüten. – 8. Die Unterweisung der Jugend in wahrer Moral und Politik ist nötig, um die Untertanen in Frieden zu erhalten. – 9. Die Vermeidung unnötiger Kriege ist eine notwendige Pflicht des Souveräns zur Verteidigung des Gemeinwesens.
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kapitel xxix Von der Natur und den Arten der Gesetze . . . . . . . . . . . . .
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1. Alle Äußerungen unseres Wissens, zukünftige Handlungen betreffend, sind entweder Verträge, Ratschläge oder Befehle. – 2. Der Unterschied zwischen einem Gesetz und einem Vertrag. – 3. Ein Befehl, der in einer Hinsicht ein Gesetz ist, ist es in jeder. – 4. Der Unterschied zwischen einem Gesetz und einem Rat. – 5. Der Unterschied zwischen jus [Recht] und lex [Gesetz]. – 6. Die Einteilung der Gesetze in göttliche, natürliche und bürgerliche, geschriebene und ungeschriebene, einfache und strafende. – 7. Dass das göttliche Moralgesetz und das natürliche Gesetz dasselbe ist. – 8. Dass die bürgerlichen Gesetze das gewöhnliche Maß für Recht und Unrecht sind und alles andere Meinungsverschiedenheiten unterworfen ist. – 9. Kriegsgesetze sind bürgerliche Gesetze. – 10. Die geschriebenen Gesetze sind Erlasse der herrschenden Gewalt, ungeschriebene nichts anderes als die Vernunft. Gewohnheiten und Meinungen erhalten Gesetzeskraft durch die stillschweigende Einwilligung des Souveräns.
Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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homas Hobbes, dessen erstes politisches Werk hier in deutscher Übertragung vorgelegt wird und der später als englischer Mathematiker, Staatstheoretiker und Philosoph zu Weltruhm gelangen und zu einem der bedeutsamsten Begründer eines aufgeklärten Absolutismus werden sollte, wurde am Karfreitag, den 5. April 1588 im englischen Westport (Wiltshire) als Sohn eines kleinen, versoffenen und zu Handgreiflichkeiten neigenden Landgeistlichen geboren. Im 13. Kapitel seines das Gravitationsgesetz des Staates begründenden Leviathan aus dem Jahre 1651 beschreibt er das Leben jener Menschen, die ohne andere Sicherheit leben als die, mit der ihre eigene Kraft und ihre eigene Erfindungsgabe sie ausstattet, als von von beständiger Furcht und stets vom gewaltsamen Tod bedroht und insgesamt als einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz: »worst of all, continuall feare, and danger of violent death; And the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and short« (Lev. XIII, 192). Hobbes selbst, der doch in einer Zeit von Bürgerkrieg und religiösem Wahn sein eigenes Schicksal stets aufs Neue nach den politischen Wirrnissen seines Landes ausrichten und sich unentwegt den bedrohlichen Unwägbarkeiten des Krieges und des revolutionären Umsturzes zu entziehen gezwungen war, hat ein geselliges, reiches, angenehmes, hoch kultiviertes und langes Leben geführt1. Tatsächlich war Tho
1
Unverzichtbar bis heute Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes – Leben und Werk (1925), eingel. und hrsg. v. K.-H. Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog) 1971; aus neuerer Zeit sind Miriam M. Reik, The Golden Lands of Thomas Hobbes, Detroit: Wayne State University Press 1977; Aloysius P. Martinich, Hobbes. A Biography, Cambridge: Cambridge University Press 1999; Noel Malcolm, A Summary Biography of Hobbes, in: ders., Aspects of Hobbes, Oxford:
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mas Hobbes, der am 4. Dezember 1679 auf Hardwick Hall (Derbyshire) friedlich starb, sein ganzes Leben lang zwar von Furcht bestimmt – seine Mutter habe Zwillinge auf die Welt gebracht, ihn und die Furcht (geminos, meque metumque simul), schrieb er in seiner Vita (OL I, lxxxvi), und von sich selbst sagte er überdies, dass er stets so handle wie Leute, die für einige Augenblicke das Fenster öff nen, aber es rasch wieder schließen aus Furcht vor dem Sturm –, schließlich aber wurden dreieinhalb Jahre nach seinem Tod einem Beschluss des dortigen Konvents vom 21. Juli 1683 zufolge an der Universität Oxford zum Gaudium der fröhlich um den Scheiterhaufen tanzenden Studenten doch nur Hobbes’ Bücher verbrannt und nicht er selbst. An erster Stelle wurden der Leviathan (1651) und dessen Vorläufer De Cive (1642 bzw. 1647) verdammt, weil diese verderblichen Schriften zerstörend auf die geheiligten Personen der Fürsten, ihre Regierungen und Staaten und auf alle menschlichen Gesellschaften wirken würden, weil sie doch lehrten, dass alle bürgerliche Autorität ursprünglich vom Volke ausgehe und dass die Selbsterhaltung das fundamentale Gesetz der Natur sei, das allen anderen Verpflichtungen vorausgehe. In den von Hobbes erstmals im Jahr 1640 auf Anregung des Earls von Newcastle formulierten und dann als Manuskript privat verbreiteten Elements of Law Natural and Politic zeigt sich in mancher Hinsicht deutlicher noch als in den späteren, Hobbes Bekanntheit und auch seine Gefürchtetheit begründenden Werken De Cive und Leviathan, warum er von Puritanern und Royalisten so vehement abgelehnt wurde, wobei, einem Aperçu von Heinrich Benedikt folgend, der einzige Unterschied zwischen diesen wohl war, dass Parlament und Universität lediglich Hobbes’ Bücher, die Bischöfe aber den Verfasser verbrennen lassen wollten. Clarendon Press 2002, 1–26, und Quentin Skinner, Hobbes’s life in philosophy, in: ders., Visions of Politics. Vol. III: Hobbes and Civil Society6, Cambridge: Cambridge University Press 2014, 1–37, zu nennen.
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Nun gilt Hobbes seit jeher gemeinhin als das abscheuliche »Monster von Malmesbury«.2 Vom Feuer, das die Stadt London im Jahre 1666 verheerte, sagte man, es sei die Strafe Gottes dafür, dass man so einen pietätlosen Schuft wie Hobbes in der Stadt dulde. Damals nicht anders als heute fühlte sich die Politik durch die grassierende öffentliche Meinung (oder was man dafür hielt) ermuntert: Das Parlament machte sich daran, den gottlos-atheistischen Büchern nachzuforschen, speziell natürlich dem Leviathan des Thomas Hobbes. Unter der Hand warnte man ihn, dass einige Bischöfe ihn liebend gerne tot sehen würden – und Hobbes verbrannte einen großen Teil seiner Manuskripte und Briefe. Er selbst blieb bis ans Ende seiner Tage unversehrt, wohl auch deshalb, weil er von seinen Zeitgenossen als stets umgänglich, freundlich und persönlich anziehend empfunden wurde: »Tiefe Misanthropie, argwöhnisches, furchtsames Misstrauen ist dem Philosophen nur von seinen erbitterten Feinden, die ihn persönlich gar nicht kannten, nachgesagt worden«, schreibt Ferdinand Tönnies.3 Thomas Hobbes provoziert bis heute. Aristoteles und die ihm nachfolgende Scholastik insbesondere an den englischen Universitäten verhöhnte er;4 die geschwätzigen Theologen seiner Zeit 2
Vgl. dazu John Bowles, Hobbes and his Critics. A Study in Seventeenth Century Constitutionalism, New York: Oxford University Press 1952; Samuel I. Mintz, The Hunting of Leviathan. Seventeenth-Century Reactions to the Materialism and Moral Philosophy of Thomas Hobbes (1962), Bristol: Thoemmes Press 1996; Jon Parkin, Taming the Leviathan. The Reception of the Political and Religious Ideas of Thomas Hobbes in England 1640– 1700, Cambridge/New York: Cambridge University Press 2007. – Die wenig freundliche Bezeichnung »Monster von Malmesbury« für Hobbes entstammt einem anonymen Flugblatt der Zeit. 3 Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre. FaksimileNachdruck der 3., vermehrten Aufl., Stuttgart 1926, eingel. und hrsg. v. K.H. Ilting, Stuttgart-Bad Cannstadt: Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog) 1971, 69. 4 Vgl. dazu Manfred Riedel, Paradigmawechsel in der politischen Philosophie? Hobbes und Aristoteles, in: O. Höffe (Hrsg.), Thomas Hobbes: An-
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attackierte er ganz ungeniert, weil sie doch von sich behaupteten, sie wüssten mehr von Gott, als ein sterblicher Geist darüber wissen könne;5 die Menschen charakterisierte er als vorwiegend selbst- und gefallsüchtig;6 die Kirche wollte er jeglicher politischen Macht entledigen. Aber Hobbes wusste natürlich, wie wichtig die Religion ist: »’Tis not in mans power to suppresse the power of Religion« (Beh. 214), schrieb er; es sei also keinem Menschen gegeben, die Macht der Religion zu unterdrücken. Religionsstreitigkeiten aber sollten von der zivilen Gewalt ein für alle Mal und für alle zwingend entschieden werden, und am Katholizismus sei überhaupt kein einziges gutes Haar zu finden. Sein wissenschaftlicher Materialismus7 – auch Gott müsse, wenn es ihn denn gibt, eine körperliche Sache sein, sonst hätte er die Dinge nicht in Bewegung setzen können, und es sei schlechterdings absurd zu behaupten, dass eine unkörperliche Seele das Dahinscheiden des
thropologie und Staatsphilosophie, Freiburg: Universitätsverlag Freiburg 1981, 93–111; Tom Sorell, Hobbes and Aristotle, in: C. Blackwell/S. Kusukawa (Eds.), Philosophy in the Sixteenth and Seventeenth Centuries: Conversations with Aristotle, Aldershot: Ashgate 1999, 364–379; Lothar Waas, »Wahre« und »falsche« Wissenschaft: Hobbes, die Geometrie und die »Afterphilosophie« des Aristoteles, in: H. Glinka/K. Liggieri/Chr. M. Müller (Hrsg.), Denker und Polemik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, 49–80. 5 Vgl. zusammenfassend und umfänglich Aloysius P. Martinich, The Two Gods of Leviathan. Thomas Hobbes on Religion and Politics, Cambridge: Cambridge University Press 1992; Nauta Lodi, Hobbes on Religion and the Church between The Elements of Law and Leviathan: A Dramatic Change of Direction? Journal of the History of Ideas 63 (2002), 577–598; Martin A. Bertman, Hobbes on Miracles (and God), in: Hobbes Studies XX (2007), 40–62, und Jeff rey Collins, Thomas Hobbes, Heresy, and the Theological Project of Leviathan, in: Hobbes Studies 1/XXVI (2013), 6–33. 6 Vgl. Stefan Smid, Selbsterhaltung und Staatlichkeit. Aporien der vernünft igen Konstitution des Friedens in der Staatslehre des Thomas Hobbes, ARSP 69 (1983), 47–67 7 Stewart Duncan, Hobbes’s Materialism in the Early 1640s, British Journal for the History of Philosophy 13 (2005), 437–448.
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Leibes überdauern könne!8 – machte ihn zur Unperson; es machte Hobbes für alle zum Atheisten, nur für ihn selbst nicht.9 Gott habe Israel theokratisch regiert, und wenn er wiederkomme, werde er über sein irdisches Königreich herrschen – aber in der Gegenwart spiele er nicht mit.10 Wie Descartes und andere Exponenten der »neuen Philosophie« seit Galileo, so sah auch Hobbes die Natur als eine Maschine.11 Aber er trieb diese Idee weiter als jeder andere 8
Patricia Springborg, Hobbes’s Challenge to Descartes, Bramhall and Boyle: A Corporal God, British Journal for the History of Philosophy 20 (2012), 903–934 9 Vgl. John G. A. Pocock, Thomas Hobbes. Atheist or Enthusiast? His Place in a Restoration Debate, History of Political Thought 11 (1990), 737– 749; Patricia Springborg, Hobbes the Atheist and His Deist Reception, in: M. Geuna/G. Gori (Eds.), Filosofi e la Società senza Religione, Bologna: Il Mulino 2011, 145–163. – Bei Anthony Gottlieb, The Dream of Enlightenment. The Rise of Modern Philosophy, New York/London: Liveright Publishing 2016, 83, lesen wir: »We should, however, consider the possibility that Hobbes was an atheist without realising it. Does his material God count as a real God? […] If belief in a physical God qualifies as atheism, then Hobbes was indeed an atheist even if he sincerely believed that he wasn’t«. Und es lässt sich kaum etwas dagegen sagen, wenn Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920–1923), hrsg. v. L. Lütkehaus, Aschaffenburg: Alibri Verlag 2011, Bd. 2, 479, schreibt: »Er ist in seinem Weltbilde so streng mechanistisch, dass er sich einen Gott, wenn es einen solche gäbe, nur als einen Körper vorstellen könnte, wohlgemerkt: als einen bewegten Körper, weil ein unbedingt ruhender Körper überhaupt nicht wirken könne. Da nun Hobbes die Widersprüche einer solchen Annahme deutlich wahrnehmen musste, so lief seine Setzung eines körperlichen Gottes einfach auf eine Leugnung Gottes hinaus.« 10 Carlo Altini, »Kingdom of God« and Potentia Dei. An Interpretation of Divine Omnipotence in Hobbes’s Thought, in: Hobbes Studies 1/XXVI (2013), 65–84. 11 Unverzichtbar bis heute Fritiof Brandt, Thomas Hobbes’ Mechanical Conception of Nature, Copenhagen/London: Levin and Munksgaard 1928, und überdies Bernhard Gühne, Über Hobbes naturwissenschaft liche Ansichten und ihren Zusammenhang mit der Naturphilosophie seiner Zeit, Dresden: B. G. Teubner 1886; Jonathan Sawday, The Mint at Segovia: Digby, Hobbes, Charleton, and the Body as a Machine in the Seventeenth Century, Prose Studies 6 (1983), 21–36; Martin A. Bertman, Body and Cause in
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vor ihm: Alles ist Körper, oder es ist nicht.12 Hobbes stellte den Materialismus auf neue Beine und löste sich vom antiken Materialismus eines Demokrit. Viel schwerwiegender noch als der philosophische Materialismus selbst waren aber die daraus sich ergebenden Konsequenzen für die politische Theorie des Thomas Hobbes’: Anstatt einen idealen Staat in der Nachfolge von Platons Staat zu malen, zeichnete er zunächst den Horror eines staaten- und gesetzeslosen Gemeinwesens in dunklen Farben.13 Jeder sei damit allein gelassen, sich selbst zu verteidigen und für seine Selbsterhaltung alles aufzubieten, worüber er verfüge. Nicht der Stärkste wäre stark genug, sich auch nur gegen den Schwächsten zu behaupten. Deshalb sei Krieg, es sei nichts anderes als der Kampf eines jeden gegen einen jeden – »non esse quam bellum omnium contra omnes« (Civ.L Præfatio ad Lectores, 81) –, deshalb herrsche andauernde Furcht vor dem gewaltsamen Tod und das Leben der Menschen sei einsam, armselig, dreckig, widerwärtig und kurz.14 Die Vernunft allein sei es, die es für alle Menschen erstrebenswert mache, den Frieden zu
Hobbes: Natural and Political, Wakefield: Longman Academic 1991; Severin V. Kitanov, Happiness in a Mechanistic Universe: Thomas Hobbes on the Nature and Attainability of Happiness, in: Hobbes Studies 2/XXIV (2011), 117–136. 12 Daniel Parrochia, La science de la nature corporelle, in: Studia Spinozana 3 (1987), 151–173. 13 Die Literatur dazu ist inzwischen unübersehbar; für unseren Zusammenhang verweisen wir hier lediglich auf die akribische Untersuchung von Daniel Eggers, Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes. Eine vergleichende Analyse von The Elements of Law, De Cive und den englischen und lateinischen Fassungen des Leviathan, Berlin/New York: De Gruyter 2008. 14 Vgl. einführend Hermann Klenner, Des Thomas Hobbes bellum omnium contra omnes, Berlin: Akademie-Verlag 1989, und Julian Nida-Rümelin, Bellum omnium contra omnes. Konfl ikttheorie und Naturzustandskonzeption im 13. Kapitel des Leviathan, in: Wolfgang Kersting (Hrsg.), Thomas Hobbes – Leviathan (= Klassiker auslegen, Bd. 5), Berlin: Akademie Verlag 1996, 110–130.
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suchen.15 Dieser Frieden aber lasse sich zwischen den selbsterhaltungsgeneigten und -bedürft igen Menschen nur herstellen, wenn sie auf ihr Selbstverteidigungsrecht verzichteten und es einer souveränen Autorität mit überragender Macht, dem »mortall God«16, dem Leviathan, übertrügen, dem sich alle zu fügen und demgegenüber es – solange er für die Sicherheit der Untertanen sorge – kein Recht zum Widerstand gebe.17 »Entweder/oder«, weniger würde zu höllischen Konsequenzen, nämlich zum Wiederaufleben des Kriegszustandes, führen. Thomas Hobbes lebte nicht nur zur Zeit des englischen Bürgerkriegs.18 Im 17. Jahrhundert war auch der ganze Kontinent von 15
Hermann Klenner, »Let Reason be the Judge«. Vernunft als Legitimation von Macht in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, in: M. Buhr/W. Förster (Hrsg.), Aufk lärung – Gesellschaft – Kritik. Studien zur Philosophie der Aufk lärung (I), Berlin: Akademie-Verlag 1985, 48–64; Karl Schuhmann, The interwovenness of the natural history of reason and the State in Hobbes, Tijdschrift voor Filosofie 49 (1987), 434–451; John Deigh, Reason and Ethics in Hobbes’s Leviathan, Journal of the History of Philosophy 34 (1996), 33–60; Bernard Gert, Hobbes on Reason, Pacific Philosophical Quaterly 82 (2001), 243–257; Jeff rey Barnouw, Reason as Reckoning: Hobbes’s Natural Law as Right Reason, in: Hobbes Studies XXI (2008), 38–62. 16 Maurice M. Goldsmith, Hobbes’s »Mortall God«. Is there a Fallacy in Hobbes’s Theory of Sovereignty? History of Political Thought 1 (1980), 33–50; Jacob Taubes, Statt einer Einleitung: Leviathan als sterblicher Gott. Zur Aktualität von Thomas Hobbes, in: ders. (Hrsg.), Religionstheorie und Politische Theologie. Bd. 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen2, München u.a.: Wilhelm Fink Verlag/Verlag Ferdinand Schöningh 1985, 9–15; Gianni Paganini, Hobbes’s »Mortal God« and Renaissance Hermeticism, in: Hobbes Studies 1/XXIII (2010), 7–28; 17 Vgl. Peter C. Mayer-Tasch, Thomas Hobbes und das Widerstandsrecht, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1965; Yves Charles Zarka, Droit et resistance et droit penal chez Hobbes, in: Hobbes oggi, a cura di A. Napoli, Milano: Franco Angeli 1990, 177–196; Glenn Burgess, On Hobbesian Resistance Theory, Political Studies 42 (1994), 62–83; Susanne Sreedhar, Hobbes on Resistance. Defying the Leviathan, Cambridge: Cambridge University Press 2010. 18 Vgl. dazu statt aller Michael Braddick, God’s Fury, England’s Fire.
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Krieg gezeichnet (Dreißigjähriger Krieg 1618 bis 1648). Natürlich liegt es nahe, diese historischen Ereignisse als Auslöser bzw. Ursache der Hobbes’schen Radikalkur zu sehen. Das würde die Sache aber verkürzen. Man käme dann rasch zu der eleganten, wenngleich etwas billigen Formel von Hugh Redwald Trevor-Roper, der einmal griffig über Hobbes formulierte: »The axiom fear; the method logic; the conclusion, despotism.« Ja, würde Hobbes sagen, nicht nur ich fürchte mich, alle Welt fürchtet sich, oder stimmt es etwa nicht, dass wir unsere Türen zusperren, die Truhen abschließen und dass sich die Städte ummauern? Ja, würde Hobbes sagen, anders als mit Logik ist der Welt nicht beizukommen, die den Leidenschaften geschuldeten Wahnwitzigkeiten haben genug Leid verursacht und bereiten den Menschen die Hölle auf Erden, also lasst uns folgerichtig denken oder besser noch: rechnen.19 A New History of the English Civil Wars, London: Penguin 2009, und ders. (Ed.), The Oxford Handbook of The English Revolution (2015), Oxford: Oxford University Press 2018. 19 Vgl. dazu titelgebend David Gauthier, The Logic of Leviathan: The Moral and Political Theory of Thomas Hobbes, Oxford: Clarendon Press 1969, und Willem R. de Jong, Hobbes’ Logic: Language and Scientific Logic, History and Philosophy of Logic 7 (1986), 123–142, und zusammenfassend Martine Pécharman, Hobbes on Logic, or How to Deal with Aristotle’s Legacy, in: A. P. Martinich/K. Hoekstra (Eds.), The Oxford Handbook of Hobbes, New York: Oxford University Press 2016, 21–59. – Dazu Ernst Bloch, Logos der Materie. Eine Logik im Werden. Aus dem Nachlass 1923–1949, hrsg. v. G. Cunico, Ffm.: Suhrkamp 2000, 182: »Die Welt wurde gedacht als Maschine und zwar als eine durch Kenntnis, also Auswechselbarkeit ihrer elementarsten Teile rationell verbesserbare. Vorausgesetzt zu dieser Erkenntnis wie zu diesem technischen, vor allem sozialen Eingriff wurde allerdings auch im mechanischen Materialismus eine Denktätigkeit, eine der mechanischen Stoffbewegung methodisch ‚entsprechende‘. Ich, Seele, Geist bleiben hierbei nach wie vor ausgeschlossen, auch im Sinn eines rein methodisch-erkenntnistheoretischen Primats vor der Aussenwelt. Determinierend und wirklich bleibt nur die objektive Aussenwelt, als das vom Bewusstsein unabhängige Sein. Auch war die methodische Voraussetzung einer genau bestimmten Denkart im populären mechanischen Materialismus vergessen oder verwischt. Desto entschiedener jedoch ist sie in der
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Hobbes wurde durch sein provokatives und waches Denken über eine Vielzahl von Fragestellungen zum eigentlichen Begründer der englischen Philosophie – ohne Hobbes wären Locke20 und Hume21 genau so wenig denkbar wie Bentham22 und Smith23. Zum wissenschaft lichen Form sichtbar, so vor allem bei Hobbes: und zwar als totale Ausdehnung des quantitativen Kalküls. Der Kalkül ist die feinste Blüte der Rechenhaft igkeit, mit der Bourgeoisgesellschaft auf den Plan trat. Und die wachsende Bedeutung des Auskalkulierens im Warenumlauf verhalf dem mathematischen Denken zu einer Art Ansehen, die es in keiner gebundenen Gesellschaft besessen hatte. Wie im Geschäft kommt es in der Erkenntnis der Welt darauf an, die erwartbaren Wirkungen mit optimaler Wahrscheinlichkeit zu erschließen. Schließen aber, sagt Hobbes, sei Rechnen, und Rechnen wie Denken lasse sich zurückführen auf Addition und Substraktion elementarer Teile. Hinzu kam der Reflex, den die bürgerliche Tätigkeit (der homo faber) in der Welt zu fi nden glaubte, dieses Falls als einer konstruierbar mathematischen. Infolge der sich entwickelnden bürgerlichen Produktionsweise erschienen immer mehr Gegenstände als Erzeugnisse menschlicher Tätigkeit, im Unterschied zur mittelalterlichen Weltanschauung.« 20 Siehe Ross Harrison, Hobbes, Locke, and confusion’s masterpiece. An Examination of Seventeenth-Century Political Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 2002. 21 Vgl. Daniel Flage, Hume’s Hobbism and His Anti-Hobbism, Hume Studies 18 (1993), 369–382. – Vgl. auch Anthony Gottlieb, The Dream of Enlightenment. The Rise of Modern Philosophy, New York/London: Liveright Publishing 2016, 77, der schreibt: »Locke and Hume would rightly have denied that they were full-blown ‚Hobbists‘, but they were certainly rather Hobbish. Echoes of the Monster’s work abound in theirs«. 22 Vgl. Mario A. Cattaneo, Il positivismo giuridico inglese: Hobbes, Bentham, Austin, Milano: Giuff rè Editore 1962; James E. Crimmins, Bentham and Hobbes. An Issue of Influence, Journal of the History of Ideas 63 (2002), 677–696. 23 Vgl. die komparative Darstellung bei Hartmut Neuendorff, Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx, Ffm.: Suhrkamp Verlag 1973, und die Entwicklungsübersicht bei Milton L. Myers, The soul of modern economic man: Ideas of selfinterest. Thomas Hobbes to Adam Smith, Chicago: The University of Chicago Press 1983, sowie Torben Hviid Nielsen, The State, the Market and the Individual. Politics, Economy and the Idea of Man in the Works of Thomas
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Despotismus aber würde er sagen, was erstmals in den Elements steht (und hier sehr viel ausführlicher als in De Cive oder im Leviathan): Der Souverän hat das Volk gut zu regieren; er hat alles zu vermeiden, was das Volk schädigen kann, und tut er dies nicht, dann wird ihn, wie es im vorletzten Kapitel der Elements (XXVIII) heißt, die Strafe ewiger Verdammnis durch den allmächtigen Gott ereilen – the pain of eternal death. Ewig habe zu gelten: Salus populi suprema lex – das Wohl des Volkes ist das höchste Gesetz! Und daraus gibt sich für Hobbes eine Formel, die wir bis heute als die verbindliche Haltung aller Regierungen für alle Menschen uns erwünschen: »not the mere preservation of their lives, but generally their benefit and good. So that this is the general law for sovereigns: that they procure, to the uttermost of their endeavour, the good of the people«. Und deshalb hat der Souverän für Freiheit und Wohlstand für alle zu sorgen24, keinem Menschen darf unnötigerweise verboten werden, was ihm durch die natürlichen Gesetze (das ist die Vernunft!) erlaubt war, außer wenn es für die Gemeinschaft nötig ist; und wohlmeinende Menschen dürfen nicht in die Schlingen des Gesetzes fallen wie in einen Fallstrick, ehe sie sich dessen versehen. Der Souverän hat für Bewegungsfreiheit der Menschen zu sorgen, sie dürfen nicht eingekerkert und aufgehalten werden durch unwegsame Straßen und den Mangel an Mitteln zum Befördern der notwendigen Sachen. Jedem Untertan ist so viel Eigentum zuzuweisen, dass er seinen Unterhalt bestreiten kann, die Lasten des Gemeinwesens sind verhältnismäßig zu verteilen (to divide the burthens, and charge of the commonwealth Hobbes, Adam Smith and in Renaissance Humanism, Acta Sociologica 29 (1986), 283–302. 24 Siehe dazu Christopher W. Morris (1989): A Hobbesian Welfare State, Dialogue 27 (1989), 653–673; Yoshinori Suzuki, Thomas Hobbes on Social Welfare, in: Hobbes Studies XI (1998), 46–60. – Hobbes sieht ein natürliches Interesse der Herrscher am Wohlergehen des Volkes: »for it concerns them in their own interest to make such Laws as the people can endure, and may keep them without impatience, and live in strength and courage to defend their King and Country, against their potent neighbours« (Dial. 144).
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proportionably), was nach Hobbes’ Ansicht am besten durch Verkehrssteuern gewährleistet sei, nicht aber durch die Besteuerung des Vermögens (XVIII, 5). Und nicht zuletzt hat der Souverän für eine richtige Ausführung der Pflichten der richterlichen Beamten zu sorgen, auch dadurch, dass diese Beamte durch eine höhere Instanz in Respekt gehalten werden (ought to be kept in awe, by a higher power). Diese generelle Freiheit schloss bei Hobbes auch die Freiheit von monarchischen Eingriffen ein, außer wenn diese Eingriffe fürs Wohl des Commonwealth unabdingbar notwendig wären (XVIII, 1); unbedingt wollte er die Handelsfreiheit gewahrt wissen. Hobbes kannte die englischen Verhältnisse. Zwei Jahre nach den Elements schreibt er De Cive (1642), und darin heißt es: »Ein Staat, der auf einer Insel im Meer errichtet worden ist, die gerade ausreichend Raum zum Bewohnen bietet, kann ohne Aussaat und ohne Fischfang allein durch Handel und Arbeit reich werden« (Civ.E XIII/14, 164). Diejenigen, die jammerten, dass die Besteuerung durch die Krone das Recht auf privates Eigentum verletzte, die hätten nach Hobbes nicht verstanden, dass es ohne solch eine herrschende Gewalt gar kein privates Recht auf Eigentum an irgendeinem Ding geben würde,25 sondern nur ein gemeinschaft liches; die Besteuerung der Staatsbürger durch die souveräne Autorität sei nichts anderes als der Preis jenes Friedens und der Verteidigung, welche der Souverän für seine Staatsbürger übernommen habe (XIV, 2). Gewiss, Hobbes fordert unbedingten Gehorsam ein26, den der 25
Unvergleichlich deutlich: »We wish Impossibilities; we would have our Security against the World, upon Right of Property, without Paying for it: Th is is Impossible. We may as well Expect that Fish, and Fowl should Boil, Rost, and Dish themselves, and come to the Table; and Grapes should squeeze themselves into our Mouth, and have all other the Contentments and ease which some pleasant Men have Related of the land of Cocquany [Schlaraffenland]« (Dial. 23 f.); und später: »those Men do but abuse the Common People to their own ends, that set up a private Mans Propriety against the publick Safety« (Dial. 25). 26 Vgl. zum Thema Alfred J. Noll, Autorität, Gehorsam, Sicherheit und
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Souverän allerdings nur dann auch verdiene, solange er das Leben seiner Untertanen in Freiheit und Wohlstand sichere. Versagt er dabei, dann droht der Rückfall in den Kriegszustand, dann kommt es zu Aufruhr, zur Rebellion, zum Bürgerkrieg.27 Hobbes hat nie geglaubt, dass wer Macht hat, deshalb auch schon Recht hat. Schon gar nicht glaubte er, dass Untertanen keine Rechte und Souveräne keine Pflichten hätten. Er verteidigte nicht die absolute Tyrannei, sondern die absolute Souveränität, einerlei, ob sie von einer Person oder von einer Versammlung ausgeübt wird. Er dachte nicht, dass die Menschen die Gesetze nur aus Furcht vor Strafe befolgten oder nur, weil sie sich vereinbart hätten, sie zu befolgen. Er dachte nicht, dass die Todesfurcht das einzige menschliche Motiv wäre. Er war nicht der Proto-Faschist, als der er scheint, wenn wir ihn im Lichte der letzten paar hundert Jahre ansehen. Hobbes’ Souverän hatte keine Maschinengewehre und auch keine Konzentrationslager. Wir haben heute gar keine Vorstellung mehr von der entsetzlichen Schwäche der neuzeitlichen Monarchen. Das Problem, das Hobbes im 17. Jahrhundert sah, war, zu gewährleisten, dass der Souverän genug Autorität hat, die Befolgung von Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten. Keineswegs war seine Beschreibung des sog. »Naturzustandes«, in dem das Leben der Menschen einsam, armselig, dreckig, tierisch und kurz ist, historisch gemeint; es war eher eine logische Abstraktion, wie es wäre, wenn es keine Polizei gibt.
Gewalt. Montesquieu versus Hobbes, in: B. Kraller (Hrsg.), Die angewandte Kunst des Denkens. Von, für und gegen Rudolf Burger. Zum Achzigsten, Wien: Sonderzahl Verlag 2019, 189–216. – Noch im Behemoth heißt es im 1. Dialog ganz apodiktisch: »The Vertue of a Subiect is comprehended wholly in obedience to the Laws of the Common wealth. To obey the Laws is Justice and Equity, which is the Law of Nature, and consequently is Ciuill Law in all Nations of the World« (Beh. 165). 27 Vgl. Sheldon S. Wolin, Hobbes and the Culture of Despotism (1990), in: ders., Fugitive Democracy and Other Essays, ed. by N. Xenos, Princeton/ Oxford: Princeton University Press 2016, 149–169 und 467–470.
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Natürlich haben die Menschen auch im vorstaatlichen Zustand, noch bevor sie ein Souverän zur Ordnung ruft, Verpflichtungen. Diese Verpflichtungen werden von Hobbes im Katalog der Laws of Nature, in der Liste der natürlichen Gesetze angeführt. Zusammengefasst gibt es nur die Verpflichtung, Frieden zu suchen und zu sichern. Auch im vorstaatlichen Zustand »sollen« die Leute den Frieden suchen; bevor aber der Souverän auf der Bühne erscheint, um festzusetzen, wie genau das zu geschehen hat (nämlich durch das Erlassen von Gesetzen), bleibt es dem Einzelnen und seinen individuellen Vorstellungen überlassen zu entscheiden, auf welchem Weg und mit welchen Mitteln er dies versucht. Der natürliche Zustand ist nicht deshalb unsicher, weil es keine Verpflichtungen gäbe, sondern weil wir keine Sicherheit haben, dass alle Menschen immer so handeln, als ob es sie gäbe. In den seltenen Momenten rationaler Überlegung wissen sie, dass sie es sollten. Weil aber jeder Einzelne ein ultimatives Recht auf Selbstverteidigung hat, besteht bis zur Einsetzung eines Souveräns ein Zustand der Unsicherheit bzw. des Krieges aller gegen alle. Ohne staatliche Ordnung gibt es kein Wirtschaftsleben und keine Zivilisation. Jede Autorität, wie schlimm auch immer sie sein möge, sei besser als permanente Unsicherheit, argumentiert Hobbes. Der Souverän »sollte« nicht böse sein. Er selbst bleibt im Verhältnis zu seinen Untertanen im natürlichen Zustand, die freilich keine Rechte ihm gegenüber haben. Aber dennoch ist er durch die natürlichen Gesetze verhalten und gebunden, in friedvoller Weise gegenüber seinen Untertanen zu handeln. Das Bestehen des Staates, den der Souverän garantiert, bedeutet, dass er niemandem das Gefühl der Unsicherheit geben darf, denn unvermeidlich würde sich dann der natürliche Zustand in einen Zustand des potentiellen Krieges verkehren. Deshalb gibt es Grenzen für den Souverän. Er hat Pflichten, auch wenn ihn seine Untertanen nicht zur Verantwortung ziehen dürfen, wenn er diesen Pflichten nicht nachkommt. Und seine wirklichen Interessen, das wird Hobbes nicht müde zu betonen, stimmen mit seinen Pflichten überein: Er hat
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nur so lange und so weit Macht, als seine Untertanen freiwillig seinen Anordnungen folgen. Der Souverän ist also durch die natürlichen Gesetze »verpflichtet«, den Frieden zu suchen und ihn zu sichern, so wie dies alle Menschen im natürlichen Zustand waren. Aber in welcher Weise sind die Menschen dazu »verpflichtet«? In welcher können die natürlichen Gesetze überhaupt »verpflichten«? Hobbes liefert eine doppelte Antwort. Erstens sind, ganz einfach, die natürlichen Gesetze Gottes Befehl, und deshalb müssen sie befolgt werden. Weil Gott im Nachleben belohnt und bestraft, kann man das auch als eine besondere Form des Selbstinteresses ausdrücken. Zweitens aber sollten die natürlichen Gesetze, ganz ohne Bedachtnahme auf das Nachleben, deshalb befolgt werden, weil sie nichts anderes sind als Gebote oder allgemeine Richtlinien der Vernunft, durch die einem Menschen verboten ist, das zu tun, was für sein eigenes Leben zerstörerisch wäre oder ihn der Mittel entledigte, sein Leben zu erhalten, und das zu unterlassen, durch das er glaubt, es könnte damit gut erhalten werden. Hobbes’ politisches Anliegen war es, darauf zu bestehen, dass das Recht ein Befehl der ausdrücklich bestimmten Person oder eines politischen Körpers ist, und deshalb war es ganz praktisch zu betonen, dass Gott der Urheber der natürlichen Gesetze war. Deshalb hat Hobbes nach den Elements, in De Cive und im Leviathan, die Pflichten des Souveräns heruntergespielt. Aber Hobbes’ Anliegen war es auch, eine Wissenschaft von der Politik zu kreieren, die von jedem, der fähig ist, leidenschaft slos zu denken, akzeptiert werden muss. Die natürlichen Gesetze verpfl ichten, weil es den langfristigen Interessen aller Individuen in diesem Leben entspricht, Frieden und Sicherheit zu suchen. Warum? Das ist deshalb so, sagt Hobbes, weil jeder Mensch sich danach sehnt zu bekommen, was gut für ihn ist, und jeder Mensch scheut, was schlecht für ihn ist, hauptsächlich natürlich das, was am Schlimmsten für ihn ist, den Tod. Und er macht dies aus einem ganz natürlichen Impuls der Natur heraus, so wie ein Stein ganz
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natürlich hinunterfällt. Tatsächlich bemühen sich die Menschen immer um Selbsterhaltung, bevor sie allerdings Anhänger von Hobbes’ Lehre werden, versuchen sie das ganz blind, und sie kollidieren so mit den anderen, die ebenfalls danach trachten – und damit jene Unsicherheit erst erzeugen, die sie gerade vermeiden wollten. Hobbes’ natürliche Gesetze sind wissenschaftliche Gesetze, sie sind dictates of Reason, wie er sie nennt: Schlussfolgerungen oder Theoreme in Hinsicht darauf, was der Erhaltung und Verteidigung des Menschen förderlich ist. Die Menschen »sollten« den Frieden in derselben Weise suchen, wie das Wasser immer den Ausgleich seines Spiegels sucht. Beide mögen verhindert sein, sich natürlich zu verhalten, das eine durch einen Damm, die anderen durch ihre Leidenschaften und durch ihre Unwissenheit. Jedes wissenschaft liche Gesetz war im Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts ein Gesetz Gottes; aber Gott ist nur die erste Ursache, und die Menschen »sollten« die natürlichen Gesetze befolgen, weil sie Trottel wären, wenn sie es nicht tun. Insofern sie also zum Nachdenken fähig sind, können sie davon überzeugt sein, dass die natürlichen Gesetze die Gesetze ihrer eigenen Selbsterhaltung sind. Natürlich glaubte Hobbes an Gott. Vermutlich war er ein Deist und – soweit es ihm seine eigenen Grundsätze erlaubten – auch ein Anglikaner, insofern der Anglikanismus die allein durch den Souverän autorisierte Religion in England war. Aber wir müssen Rücksicht nehmen auf die Ausdrucksweise der Zeit. Hobbes sagt, wir sollten Gott gehorchen, weil er allmächtig sei, und wir sollten nicht gegen den Stachel löcken. Das ist die Art, wie man im 17. Jahrhundert sagte, dass das Universum die Gesetze einhält und dass unsere Freiheit im Wissen seiner Notwendigkeit besteht. Der Mensch unterscheidet sich vom Rest der Natur im Besitz der Vernunft, auch wenn er sie nicht immer gebraucht. Deshalb ist er in der Lage, die Gesetze der Natur zu verstehen und ihnen freiwillig zu folgen, ohne sich erfolglos gegen Hindernisse zu stemmen, wie ein Stein, der den Berg hinunter rollt.
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Hobbes Annahme, dass die Menschen absolute Individualisten seien, eine Menge wetteifernder Atome, und seine Vision des Staates als Feld, auf dem ein Minimum an Wettbewerbsregeln durch einen Schiedsrichter zwangsweise durchgesetzt wird, das bezieht sich klarerweise auf die spezifische historische Periode, in der der Kapitalismus und der Protestantismus die traditionellen moralischen und politischen Annahmen zu Fall brachten.28 Die Geschehnisse während der Jahre von Charles I. antiparlamentarischer Herrschaft (1629–40) hat Hobbes sehr genau verfolgt. Erst in den Elements macht er sich als 52jähriger dann Luft und denkt innerhalb des privaten Kreises, in dem dieses Manuskript zunächst verteilt wurde, wortreich darüber nach, was die absehbare Rebellion verursachen könnte. Ein von vielen geteilter Grund für die allgemeine Unzufriedenheit war die weit verbreitete Furcht vor den Begehrlichkeiten des Königs. Hobbes bemerkte aber, dass dieses Missbehagen auch von Leuten angeregt worden sein könnte, die in guten Verhältnissen leben, denen es aber an Macht fehlt. Wörtlich schreibt er: »Solche Menschen müssen es notwendig übel nehmen und zornig auf den Staat sein, wenn sie sich gegenüber denen in der Ehre nachgesetzt sehen, denen sie sich an Tugend und an Fähigkeit zu regieren überlegen dünken. Und das ist es, weshalb sie über sich denken, sie würden nur als Diener angesehen werden« (XXVII, 3). Hobbes hat damit den Kern der Oppositionshaltung gegenüber der Regierungspolitik von Charles I. in den 1620er und 1630er Jahren klarsichtig benannt, und er hat mit spitzer Zunge die Kritik des englischen 28
Nicht mehr als diese Beziehung hat Crawford Brough Macpherson behauptet; vgl. Crawford Brough Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus (1962), Ffm.: Suhrkamp Verlag 1967; ders., Hobbes Bourgeois Man, in: K. C. Brown (Ed.), Hobbes. Studies, Oxford: Basil Blackwell 1965, 169–183; ders., Natural rights in Hobbes and Locke, in: D. D. Raphael (Ed.), Political theory and the Rights of Man, London: Macmillan 1967, 1–15; ders., Hobbes political economy, Philosophical Forum 14 (1983), 211–224, und dazu Thomas Krogh, Macpherson Revisited, Ideas in History 1 (2006), 7–31.
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Adels als machtgierig und ruhmsüchtig denunziert. Insgesamt erweisen sich die Elements sehr viel deutlicher als Angriff gegen die Bedrohung durch eine aristokratische Regierung als Hobbes’ späterer Leviathan. Ganz lakonisch schreibt er, dass Demokratie und Aristokratie im Ergebnis ohnehin dasselbe wären (in effect but one). Wie Hobbes darauf kommt? »Demokratie ist nichts anderes als die Regierung von ein paar Rednern. Die Gegenüberstellung wird demzufolge zwischen Monarchie und Aristokratie sein« (XXIV, 3). Wie an wenigen anderen Punkten wird hier deutlich, dass Hobbes mit seinen Elements eine aktuelle politische Intervention beabsichtigte. Der von ihm in Aussicht genommene Feind der monarchischen Regierung war die lüsterne gentry, die sich zu kurz gekommen sah und den königlichen Willkürhandlungen nicht mehr ausgeliefert sein wollte. Finanznöte zwangen Charles I. schon unmittelbar nach seiner Thronbesteigung zur Einberufung des Parlaments. Es war ihm merklich unangenehm, er ahnte, was ihm bevorstand. Für die besitzende Klasse, für die Reichen in der Stadt und auf dem Land, lag im Steuerbewilligungsrecht des Parlaments die stets aktualisierbare Handhabe, die Kontrolle der Staatsausgaben und damit auch des regierenden Monarchen zu gewinnen.29 Noch im Mittelalter hatte die Krone eigene Einkünfte: eigene Güter, Regalien und Strafgelder, notfalls war der Weg zu Plünderung und Eroberung frei. Die Gemeinen (commons) wurden nur einberufen, wenn außerordentliche Ausgaben außerordentliche Steuern erforderten. Wer aber sollte definieren, ob so ein »außerordentlicher« Fall vor29
»As the Crown, in ist fi nancial extremity, resorted to arbitrary taxation, so the House of Commons, to protect property, resurrected the claims of fi fteenth-century Parliaments to a say in control of policy«, fasst Christopher Hill, Thomas Hobbes and the Revolution in Political Thought, in: ders., Puritanism and Revolution. Studies in Interpretation of the English Revolution of the 17th Century (1958), London: Secker & Warburg 1995, 248–268, hier 252, zusammen.
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lag? Der Staat der Neuzeit, durch neue Aufgaben verpflichtet und dennoch immer wieder in kostspielige Kriege verwickelt, konnte sich nicht mit den Mitteln des alten feudalen Königtums begnügen.30 Für die Staatsverwaltung, einerlei ob Charles I. oder später Cromwell an der Spitze stand, war das Parlament die geldspendende Maschine, für den besitzenden Adel aber, der darin seinen Einfluss ausübte, war es diejenige Einrichtung, durch die er seinen »berechtigten« Anteil an der Gesetzgebung erhalten sollte – und auch wollte. Es waren aber nicht nur die überehrgeizigen Adeligen, die Hobbes ins Visier nahm. Später sollte er im ersten und im dritten Dialog seines Behemoth, seiner postum veröffentlichten Geschichte des englischen Bürgerkrieges, noch andere Unruhestifter ausmachen. Etwa die Kaufleute der Londoner City: »…the City of London and other great townes of trade, hauing in admiration the great prosperity of the low Countries after they had reuolted from their Monarch the King of Spaine, were inclined to thinke that the like change of gouernment here, would do them produce the like prosperity«, die City von London also und andere große Handelsstädte, so meinte Hobbes, wären aus Bewunderung vor dem großen Wohlstand der Niederlande nach dem Aufstand gegen den spanischen König geneigt zu glauben, dass ein ähnlicher Regierungswechsel hier ihnen den gleichen Reichtum brächte (Beh. 110).31 Und noch 30
Hobbes, der die Schriften Machiavellis natürlich kannte, hätte vom Florentiner lernen können, in welchem Maße der ansteigende Finanzbedarf der König in der Neuzeit zum Schibboleth ihrer gesamten Politik wurde: »The economic dependence of these modern princes […] on newly emerging capitalist aristocracies would leave the citizens of modern republics without robust recourse to the military or civic arms that the Florentine thought eternally necessary for the defense of their liberty against rapacious elites«, benennt John P. McCormick, Reading Machiavelli. Scandalous Books, Suspect Engagements and the Virtue of Populist Politics, Princeton/ Oxford: Princeton University Press 2018, 17, das Problem. 31 Vgl. auch Hobbes’ Charakterisierung: »London you know has a great belly, but no palat nor taste of Right and Wrong« (Beh. 245).
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allgemeiner stellte er dort fest, dass »…those great Capitall Cities, when Rebellion is vpon pretence of grieuances, must needs be of the rebell party; because the grieuances are but taxes, to which Citizens, that is, Merchants, whose profession is their priute gaine, are naturally mortall enemies, their onely glory beeing to grow excessiuely rich by the wisedome of buying and selling« (Beh. 276), dass also die großen Städte notwendigerweise auf Seite der Rebellen stünden, wenn sie sich durch die Besteuerung gedrückt fühlten, denn die öffentliche Abgabe sei der Todfeind der Bürger, das heißt der Kaufleute, deren Beruf im Gelderwerb und deren Weisheit in der Kunst liegt, durch Kaufen und Verkaufen übermäßig reich zu werden.32 Und Hobbes wird später noch viel deutlicher: Den größten Teil der reichen Leute, die durch Handwerk und Handel zu Wohlstand gekommen sind, betrachtet er als Menschen, die auf nichts anderes als ihren augenblicklichen Nutzen sehen würden und die gegen alles, was nicht in dieser Richtung liegt, blind seien (Beh. 298); bei ihnen handelt es sich also um politische Opportunisten. Hobbes Frontstellung richtete sich also gegen den überehrgeizigen Adel des Landes und zugleich gegen die geldgierige Kaufmannschaft der aufstrebenden Wirtschaftsnation. Andere sahen hier den Grund, sich darüber Gedanken zu machen, ob nicht das System selbst einer Änderung bedürfte. James Harrington etwa, der die Schwierigkeiten in der privaten Eigentumsordnung erblickte (gleichwohl er Hobbes als größten Schrift steller
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Vgl. dazu auch Perez Zagorin, The Court and the Country. The Beginning of the English Revolution (1969), London/Henley: Routledge & Kegan Paul 1977, 155: »The outstanding conclusion to emerge from (the) survey of the citizen element before and during the crisis of 1640 is the absence of any simple uniformity in its political stand. Like the aristocratic order it was diveded. But this devision, of course, was far from equal. Even as in 1640 the greater part of the nobility and gentry stood with the leaders of the country and endorsed their inistence on redress of grievances and reform, so did the greater part of the bourgeoisie. That was the meaning of the Court’s deep isolation at the moment when the Long Parliament assembled.«
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verehrte)33, oder Gerrard Winstanley, der das Heil der Menschen in einem ländlichen Kommunismus sah.34 Damit hatte Thomas Hobbes nichts zu tun. Er wollte zunächst Frieden, dann Ordnung und daraus ein gutes Leben für alle. Hobbes war bei seiner Verteidigung der Monarchie nicht allein. Aber welch ein Unterschied, etwa im Vergleich zu Sir Robert Filmer! Dessen politisch-theoretisches Hauptwerk, Patriarcha, wurde zwar erst 1680 gedruckt35, war aber schon zuvor geschrieben worden. Obwohl eine Druckgenehmigung 1632 verwehrt wurde, kursierten große Teile davon schon während des Bürgerkriegs. Der Fokus von Filmers Werk war eindeutig: In Antwort auf die Rhetorik eines schon mit der Geburt einhergehenden Rechts und natürlicher Freiheit präsentierte Filmer stattdessen den Menschen als eine immer schon in ein Herrschaftssystem Hineingeborenen. Alle Autorität stammt ab von der Autorität des 33
Vgl. James Harrington, Oceana (1656), hrsg. und mit einem Anhang versehen v. H. Klenner/U. Szudra, Leipzig: Reclam 1991, und dazu James Cotton, James Harrington and Thomas Hobbes, Journal of the History of Ideas 42 (1981), 407–421; Luc Borot, Hobbes, Harrington and the concept of liberty, Cahiers Elisabethains 32 (1987), 49–67; ders., Hobbes et Harrington: la liberté et l’expérience, in: Martin A. Bertman/Michel Malherbe (Eds.), Thomas Hobbes de la métaphysique a la politique. Colloque Franco-américain de Nantes, Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 1989, 237–251; James Cotton, James Harrington’s Political Thought and its Context, Hamden: Garland 1991; Arihiro Fukuda, Sovereignty and the Sword: Harrington, Hobbes, and Mixed Government in the English Civil Wars, Oxford: Clarendon Press 1997; 34 Siehe Gerrard Winstanley, Gleichheit im Reich der Freiheit 2, hrsg. und mit einem Anhang versehen v. H. Klenner, Leipzig: Reclam 1986, und dazu Luc Borot, Le mythe normand chez Gerrard Winstanley: une conception populaire de l’identité nationale anglaise au cœure des années révolutionaires, Bulletin de la société d’études anglo-americaines des XVIIe et XVIIIe siècle 32 (1991), 7–20; Richard Saage, Utopie und Revolution. Zu Gerrard Winstanleys »Das Gesetz der Freiheit«, UTOPIE kreativ 94 (1998), 71–82. 35 Vgl. dazu in der ausführlichen Einleitung von Peter Schröder in der von ihm hrsg. Ausgabe Robert Filmer, Patriarcha, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2019, XIV-XVII.
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Vaters über die Familie, die wiederum ein göttliches Geschenk sei. Das war das Wesen einer jeden königlichen Autorität, ungeachtet lokaler Modifi kationen der königlichen Erbfolge. Königliche Souveränität war unteilbar und unbegrenzt. Im Gegensatz zu den Argumenten der Verteidiger der »alten Ordnung« (ancient constitution) war der König der ungebundene Autor der Gesetze, nicht ihr Unterworfener, und das Parlament wurde einberufen und aufgelöst nach seinem Willen. Diese Argumente waren natürlich nicht speziell Filmers Argumente, man konnte sie auch schon bei seinem elisabethanischen Vorgänger Saravia lesen oder auch bei seinem Zeitgenossen Peter Heylyn. Ihre Verbreitung während der Regentschaft von Charles I. zeigt sich in der Art, in der Hobbes es für notwendig erachtete, seine eigene absolutistische politische Theorie von den Patriarchalisten zu unterscheiden, indem er trocken zu bedenken gab, dass doch der Gehorsam in der Familie natürlicherweise der Mutter als Spenderin des Lebens und als Beschützerin und Ernährerin gebührt (XXIII, 3) – ein mit feinem Degen geführter Seitenhieb in einer großen politischen Auseinandersetzung. Hobbes und Filmer haben dennoch beide die Freiheitsrhetorik der Kritiker von Charles I. verdammt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.36 Für Hobbes war die Lage »freier Menschen« (freemen) geradezu identisch mit der von Sklaven, die vergleichsweise sicher waren, nur mit dem einzigen Unterschied: dass sie sich »ungezwungen« der Autorität unterworfen haben, sodass sie erwarten dürfen, pfleglicher (better used) von Ihrem Souverän behandelt zu werden. »Freiheit in Gemeinwesen ist also nichts als die Ehre gleicher Gunst mit den anderen Untertanen, und Knechtschaft ist der Zustand der übrigen« (XXIII, 9). Der Untertitel von Filmers Patriarcha stellte der »natürlichen« Macht der 36
Siehe die Kritik Filmers an Hobbes »Observations in Mr. Hobbes’s Leviathan« aus dem Jahr 1652 (in: Graham A. J. Rogers [Ed.], Leviathan. Contemporary Responses to the Political Theory of Thomas Hobbes, Bristol: Thoemmes Press 1995, 1–14) – Filmer wollte zurück, Hobbes voran!
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Könige die »unnatürliche Freiheit« (unnatural Liberty) des Volks gegenüber und innerhalb des Werkes wurde der Wunsch nach Freiheit gleichgesetzt mit einem Sündenfall. Aber die absolutistischen Argumente waren nicht nur negativ – sowohl Hobbes als auch Filmer versuchten ihre Leser davon zu überzeugen, dass konkrete Freiheit nur unter absoluter Souveränität genossen werden könne. Filmer zufolge bestand die größte Freiheit der Welt (wenn man denn Wert auf sie legte) für das Volk dann, wenn es in einer Monarchie lebte. Alle anderen Regierungsformen seien nur verschiedene Formen der Sklaverei und immer eine Freiheit dazu, die Freiheit zu zerstören. Obwohl sie verschiedene Ansichten über die Freiheit im natürlichen Zustand hatten (für Filmer gab es sie gar nicht, Hobbes meinte, dort sei sie vollständig, aber völlig unsicher), waren ihre Ansichten betreffend die Freiheit unter einer Souveränität bemerkenswert ähnlich. Beide waren der Ansicht, dass die primäre Pflicht des Souveräns das Wohl des Volkes (salus populi) sei, und beide stellten fest, dass eine monarchische Regierungsform deshalb am besten dazu geeignet sei, weil selbst ein Tyrann, wie es bei Filmer heißt, der nur sich selbst bereichern wolle, Interesse daran hätte, ein prosperierendes Volk zu regieren. Für Hobbes hieß das Allgemeinwohl aber mehr als nur Lebenserhaltung, sondern Herstellung guter Lebensbedingungen für das Volk (generally their benefit and good). Der Unterschied zwischen denjenigen, die eine Theorie der Freiheit nach dem Muster des Römischen Rechts und dem Verlauf der englischen Geschichte vorschlugen (also jenen, die Hobbes später als democratical men bezeichnete), und den absolutistischen Vorstellungen von Freiheit, wie sie Hobbes und Filmer vertraten, war ganz außerordentlich: Im einen Fall, der traditionellen Sicht des englischen Adels und der englischen Juristen, war die Rede von Freiheit nur dann berechtigt, wenn jede Möglichkeit willkürlicher Beherrschung durch den Monarchen ausgeschlossen war; im anderen Fall konnte Freiheit nur dann gesichert werden, wenn die Souveränität völlig ungebunden war. Diese ideolo-
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gisch-politische Spaltung setzte dem traditionellen Konsens über die Vorherrschaft des common law beträchtlich zu.37 Man hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass von hier aus alle Vorgaben für die politische Verfassung des Staates kamen, dass man gar nicht gewillt war, darüber auch nur zu diskutieren – und allein die Tatsache, dass Patriarcha nicht veröffentlicht werden durfte, zeigte, dass man dieses Thema als viel zu kontrovers für eine öffentliche Diskussion ansah. Gerade die zwei verschiedenen Positionen zeigen aber deutlich, warum es so schwierig war, zu einer politischen Lösung zu kommen, sobald das Parlament im November 1640 einberufen wurde. Beide Positionen spielten hinein in etablierte und oppositionelle Verschwörungstheorien, in denen es um die Bedrohung von Kirche und Staat ging. Man behauptete, dass die Freiheit der Untertanen durch das Intrigieren schlechter Berater und päpstlicher Prälaten rund um den König aufs Spiel gesetzt werde. Die Vorstellung von Freiheit als Freiheit von der Möglichkeit willkürlicher Beherrschung komplettierte diese Theorie, weil sie Wachsamkeit nicht nur gegenüber aktueller Zwangsgewalt betonte (immerhin wurden Leute wie der umtriebige John Lilburne38 und Alexander Leighton angeklagt und verurteilt), sondern auch 37
Vgl. dazu umfassend Alan Cromartie, General Introduction, in: Thomas Hobbes, A Dialogue Between a Philosopher and a Student, of the Common Laws of England, ed. by A. Cromartie. – Questions Relative to Hereditary Right. Ed. by Qu. Skinner, Oxford: Clarendon Press (= The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes, Vol. XI). xiii-lxxi, und Martin Kriele, Die Herausforderung des Verfassungsstaates. Hobbes und englische Juristen. Soziologische Essays, Neuwied: Luchterhand 1970; Paulette Carrive, Hobbes et le juristes de la Common Law, in: Martin A. Bertman/Michel Malherbe (Eds.), Thomas Hobbes de la métaphysique a la politique. Colloque Franco-américain de Nantes, Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 1989, 149–171; Giuseppe Mario Saccone, Hobbes’ Dialogue of the Common Laws and the difference between »natural« and »civil philosophy«, in: Hobbes Studies XII (1999), 3–25, sowie die Beiträge in David Dyzenhaus/Thomas Poole (Eds.), Hobbes and the Law, Cambridge: Cambridge University Press 2012. 38 Zu diesem jüngst umfassend Michael Braddick, The Common Free-
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gegenüber der Möglichkeit von Tyrannei. Es war kein zufälliges Zusammentreffen, dass Freiheit regelmäßig als Gegenbegriff von Päpstlichkeit (popery) im Munde geführt wurde, weil es ein englischer Gemeinplatz war, dass katholische Staaten grundsätzlich sehr viel empfänglich wären für willkürliche Herrschaft. Umgekehrt sahen absolutistische Denker wie Hobbes die Hauptgefahr für das Land ausgehen von überehrgeizigen Männern, die durch die Rüge öffentlicher Maßnahmen in der Menge Popularität gewannen und Applaus auf sich zogen und eine Parteibildung zu ihren Gunsten bewirkten (XVIII, 7). Theoretiker wie Filmer und Hobbes teilten mit der Krone die Überzeugung, dass beispielsweise die Verweigerung von Steuerzahlungen weder ein durch Prinzipien begründeter Standpunkt gegenüber illegalen Zumutungen noch ein bloß begrenzter Störfall zivilen Ungehorsams sei, sondern vielmehr eine fundamentale Gefahr für jedes gute Regieren. Der zersetzende Charakter beider konspirativen Theorien war es, dass sie die Zeitgenossen ermunterten, die bloß möglichen Gefahren als aktuelle Bedrohungen anzusehen, und sich dadurch alle im Ergebnis ermuntert fühlten, schon vorbeugende Schritte gegen einsetzende Gefahren zu unternehmen. Insgesamt führten sie zu einer Erodierung von wechselseitigem Vertrauen und unterstützten damit die radikaleren politischen Kräfte auf der jeweils anderen Seite. So stützte sich etwa der (erfolglose) Versuch von Charles I., im November 1642 fünf Mitglieder des Parlaments zu verhaften, auf die Befürchtung, dass diese allzu populär werden könnten. Die angeordnete Verhaft ung wurde ausdrücklich darauf gestützt, dass diese Parlamentarier versucht hätten, den König zu entmachten und den Untertanen eine willkürliche und tyrannische Macht über die Leben, Freiheiten und Vermögen der Lehnsmänner des Königs zu übertragen. Genau dieser Versuch des Königs führte aber wiederum bei vielen Untertanen zur Gedom of the People. John Lilburne & the English Revolution, Oxford: Oxford University Press 2018.
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wissheit einer direkten und realen Bedrohung ihrer Freiheiten durch den König. Eingebettet in die Umstände der Zeit und bewusst darauf ausgerichtet, diese Umstände zu beeinflussen, hat Thomas Hobbes die Wissenschaft von der Politik begründet. Die vorliegenden Elements sind der oft mals unterschätzte Nukleus dieser Theorie. Polemisch lässt Hobbes im Behemoth (Beh. 322 f.) einen Dialogpartner sagen: Du denkst, ein Mann brauche nichts anderes als gesunden Menschenverstand, um Politik zu verstehen. Aber es sei anders: Es sei eine Wissenschaft, die auf sicheren und klaren Grundsätzen aufzubauen sei und die nur durch intensives und sorgfältiges Studium zu erlernen sei. Dem Volk fehle es nicht an Geist, sondern an der Kenntnis der Gründe und Ursachen, warum eine Person das Recht habe zu regieren und die übrigen die Verpflichtung zu gehorchen; und diese Gründe müssten dem Volk beigebracht werden. Die Elements sind im Vergleich zu De Cive oder gar zum mächtigen Leviathan eine verhältnismäßig knappe Handreichung. Sie präsentieren Hobbes’ Theorie aber bereits auf eine Weise, von der er auch später nicht mehr abgerückt ist.39 Wir müssen das an die39
Dies lässt sich nun unschwer anhand der von Deborah Baumgold hrsg. synoptischen Darstellung ablesen; vgl. Thomas Hobbes, Th ree-Text Edition of Thomas Hobbes’s Political Theory. The Elements of Law, De Cive and Leviathan. Ed. by D. Baumgold, Cambridge: Cambridge University Press 2017. – Wir lassen den Teil I der Elements hier beiseite, einerseits, weil alles, was daran tief und bleibend ist, ohnedies in Leviathan (1651), De Corpore (1655) und De Homine (1658) behandelt wird und eine verlässliche Darstellung den hier vorgegebenen Rahmen sprengen würde; andererseits, weil wir Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache (1910/11), Zürich: Diogenes Verlag 1980, Bd. 1, 512 f., beipflichten: »Die Psychologie des Hobbes ist von einem wunderbaren Radikalismus, weil er sich gar nicht die Zeit nimmt, alle Schwierigkeiten des Weges zu prüfen. Alle Wahrnehmung ist ihm schon Veränderung des wahrnehmenden Körpers; würde nichts Veränderndes auf uns wirken, so würden wir nichts empfinden; immer dasselbe empfi nden und Nichtempfi nden kommt auf eins heraus. Die Psychologie des Hobbes besteht aus
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ser Stelle nicht in extenso ausführen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier aber zumindest drei Unterschiede kurz angesprochen: a) Ein charakteristischer Unterschied zwischen den Elements und De Cive bzw. dem Leviathan besteht zwischen der Darstellung des Vertragsabschlusses beim Austritt aus dem vorstaatlichen Gesellschaftszustand. In der ersten Fassung von Hobbes’ politischer Konzeption kommt der Demokratie eindeutig die logische und zeitliche Priorität gegenüber allen anderen Regierungsformen zu (Kap. XXI, 1). Nimmt man dies ernst, dann lässt sich die Auffassung, die Gesamtheit der Untertanen sei der eigentliche Träger der souveränen Gewalt und könne das Herrschaftsrecht von einem etwaigen aristokratischen oder monarchischen Souverän legitimerweise auch wieder zurückfordern, kaum noch zurückweisen. Auch in De Cive (Civ.L VII/5, 152) gesteht Hobbes der Demokratie noch eine Art logischer und zeitlicher Priorität gegenüber den beiden anderen Staatsformen zu, denn er meint, dass diejenigen, die in der Absicht zusammengekommen sind, einen Staat zu errichten, fast schon aufgrund der Tatsache, dass sie zusammengekommen sind (pene eo ipso quod coïerunt), eine Demokratie bilden. Erst mit der Verschränkung von Gesellschaftsvertrag und Autorisierung des Souveräns nimmt Hobbes dann im Leviathan diese Position zurück, sodass der Errichtung einer Aristokratie oder einer Monarchie nicht mehr unbedingt (!) die Gründung einer Demokratie vorausgegangen sein muss (Lev. XVIII, 270). Fallen Gesellschaftsvertrag und Ernennung eines Souveräns zusammen und hat Letztere nicht den Charakter eines Vertrages (bloße »Autorisierung«), dann kommt dem Souverän keine Verantwortung mehr gegenüber den Bürgern zu und die Auffassung, der Demokratie genieße die logische und zeitliche Priorität gegenüber den beiden anderen Staatsformen, kann entfallen. Zwischen genialen Einfällen, mit denen er so schnell wie möglich seiner eigentlichen Aufgabe, seiner Staatsethik, zueilt.«
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der Abfassung der Elements (1640) und der Veröffentlichung des Leviathan (1651) liegen zehn Jahre des Bürgerkriegs; was vor dem Bürgerkrieg von Hobbes möglicherweise als Zugeständnis ans Parlament formuliert wurde, hat nach der Enthauptung Charles’ I. keinen Platz mehr. b) Die Elements unterscheiden sich von De Cive bzw. Leviathan auch in Hinsicht auf die Rechte und Pflichte des Souveräns: In Kap. XXVIII, 4 schildert Hobbes sehr eindrücklich, worin die Annehmlichkeit des Lebens bestehe: »Lebensqualität besteht aus Freiheit und Wohlstand. Unter Freiheit verstehe ich, dass keinem Menschen irgendetwas ohne Notwendigkeit verboten ist, was ihm unter dem natürlichen Recht erlaubt war; das heißt, dass es eine Einschränkung der natürlichen Freiheit nur so weit gibt, als dies für das Wohl des Gemeinwesens unabdingbar ist, und dass wohlmeinende Menschen nicht der Gefährdung durch die Gesetze ausgesetzt werden können, wie in Fallstricken, ehe sie derer gewahr werden. Zu dieser Freiheit gehört es auch, dass ein Mensch freizügig von Ort zu Ort wechseln kann und dass er nicht durch Unwegsamkeit und Mangel an Transportmitteln für notwendige Dinge gefangen oder begrenzt wird. Und was den Wohlstand betrifft, so besteht dieser aus drei Dingen: der guten Regelung des Handels, dem Beschaffen von Arbeit und dem Verbot des überflüssigen Verbrauchs von Nahrungsmitteln und Bekleidung. Es sind daher all diejenigen, denen die souveräne Autorität zukommt und die für sich die Regierung des Volkes übernommen haben, durch das natürliche Recht gehalten, in den gerade genannten Punkten Anordnungen zu treffen. Es liefe dem natürlichen Recht ohne Not zuwider, entweder aus seiner eigenen Laune heraus die Menschen derart zu fesseln oder festzubinden, dass sie sich nicht mehr ohne Gefahr bewegen können, oder sie, deren Erhaltung doch unser Nutzen ist, dadurch zu Schaden kommen zu lassen, dass wir sie irgendetwas für sie Notwendiges durch unsere Nachlässigkeit entbehren lassen.« Zwar sieht Hobbes den Souverän hier nicht durch Vertrag dazu verpflichtet, dieser fast schon wohlfahrtsstaatlichen
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Staatszielbestimmung nachzukommen, sondern es ist die vertragsunabhängige Verpflichtung der natürlichen Gesetze, denen der Souverän hier zu entsprechen hat; aber an der Verpflichtung besteht kein Zweifel. Im Leviathan ist diese Aufgabe deutlich reduziert und fast nur noch auf die Erringung und den Erhalt von Sicherheit eingeschränkt.40 Im Leviathan sehen wir den »Nachtwächterstaat« des 19. Jahrhunderts heraufdämmern: »Man kann die Entnormativierung in der Aufgabenbestimmung des Souveräns freilich auch als eine Annäherung von Hobbes an das liberale Gesellschaftsparadigma interpretieren, mit der die väterlichfürsorgliche Rolle des Staates zurückgenommen wird und dessen Aufgaben auf die allgemeine Verkehrs- und Rechtssicherheit beschränkt werden. Hobbes’ liberale Staatsvorstellung und die auf ihr begründete Aufgabenbeschreibung des Souveräns setzt sich ab von der Vorstellung der ‚guten polizey‘, wie sie zu dieser Zeit in Deutschland als Legitimation wie Normierung von Herrschaft entwickelt wurde«, schreibt Herfried Münkler.41 Wir sollten allerdings nicht allzu viel in den Unterschied zwischen commodity of living, wie es in den Elements heißt (Kap. XXVII, 4), und den Contentments of life (Lev. XXX, 52) hineininterpretieren; wiederum 40
Lev. XXX, 520: »The OFFICE of the Soveraign (be it a Monarch, or an Assembly), consisteth in the End, for which he was trusted with the Soveraign Power, namely the procuration of the safety of the people; to which he is obliged by the Law of Nature, and to render an account thereof to God, the Author of that Law, and to none but him. But by Safety here, is not meant a bare Preservation, but also all other Contentments of life, which every man by lawfull Industry, without danger, or hurt to the Common-wealth, shall acquire to himselfe. – And this is intended should be done, not by care appleyed to Individualls, further than their protection from injuries, when they shall complain; but by a generall Providence, contained in publique Instruction, both of Doctrine, and Example; and in the making, and executing of good Lawes, to which individuall persons may apply their own case.« 41 Herfried Münkler, Thomas Hobbes. Eine Einführung, Ffm./New York: Campus Verlag 32014, 126.
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ist es der Zeitunterschied, der beachtlich ist: Während des Bürgerkriegs ist die Herstellung von Sicherheit für Hobbes vorrangig; erst wenn dieser als Möglichkeit dauerhaft beseitigt ist, dann kommt das gute Leben für alle. c) Von auff älliger Verschiedenheit ist die Behandlung der Religion in den Elements und in De Cive bzw. Leviathan; nicht nur, was den Umfang der Einlassungen betrifft, sondern auch hinsichtlich der Qualität der verschiedenen Ausführungen. Auch hier haben wir den Zeitunterschied zu beachten. In den Elements kommt es Hobbes einzig darauf an, den christlichen Glauben auf einen Fundamentalsatz zu reduzieren: Jesus ist der Christus (Kap. XXV), alles andere ist nicht nur nebensächlich, sondern es liegt neben der Sache des Glaubens. In De Cive führt er dies weiter aus, hält sich aber in den letzten vier Kapiteln (Civ.L XV bis XVIII, 219–294 bzw. Civ.E XV bis XVIII, 183–265) weitgehend in dem Rahmen, den er in den Elements gesteckt hat. Im Leviathan aber füllt die Behandlung von Religionsfragen das halbe Buch (vgl. Lev. XXXII bis XLVII, 576–1131). Später sollte Hobbes schreiben, dass die Ursache des Bürgerkriegs nichts anderes war als eine Streiterei über theologische Fragen: »omnimodae Sectae apparuerunt scribentium & publicantium qualem quisque voluit Theologiam« [alle Arten von Sekten tauchten auf, von Leuten, die schrieben und veröffentlichten, was auch immer für eine Theologie einer jeder von ihnen sich wünschte] (Lev. Appendix ad Leviathan III, 1226). Dieses Anwachsen des »Religionsstoffes« können wir sicherlich auf zeitbedingte Faktoren zurückführen; entscheidender aber ist, dass Hobbes sich hier als Philosoph herausgefordert sah: Was man Theologie nannte, das waren ihm uninformierte und auch unzulässige Dispute über philosophische Fragen; denn die wahre Religion erlaube und ermögliche keine wissenschaft lichen Auseinandersetzungen – die wahre Religion sei eine Sache des staatlichen Gesetzes und dürfe deshalb zu keiner öffentlichen Auseinandersetzung führen, wie er später im Behemoth schrieb: »I know it is called Diuinity, but I hear almost nothing preach’d but matter of
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Philosophy. For Religion in it selfe admits no controversy. Tis is a Law of the Kingdome, and ought not to be disputed« (Beh. 225). Unter den anti-klerikalen Royalisten war Hobbes der radikalste, der am wenigsten repräsentative und der mit Abstand brillanteste. Alle religiösen Komponenten des Rechts werden von Hobbes gründlich zerstört; dazu bestand in den Elements (vor dem Bürgerkrieg) noch keine Notwendigkeit. Seinen Leviathan (1651) hat er im Heraufkommen des Todesurteils für Charles I. geschrieben. Er beginnt mit einer machtvollen Anklage gegen jede Form der Rebellion und einem überzeugenden Argument für die ungeteilte Souveränität des Monarchen in allen zivilen und religiösen Angelegenheiten, obwohl der dem Leviathan beigegebene Anhang »Rückblick und Schlussfolgerung« (Lev. Review and Conclusion, 1132–1141) aus naheliegenden Gründen versöhnliche Kommentare über das neue Regime Cromwells enthält – Hobbes, gerade aus dem Pariser Exil zurück, fiel es nicht schwer, dem neuen Souverän Achtung zu zollen. Die erste Hälfte des Leviathan argumentiert von der Warte natürlicher Vernunft her, um die Probleme eines Religionskrieges unter Berufung auf die universellen Gesetze der Natur zu lösen; diese Gesetze verlangen von den Menschen, sich ihrem politischen Souverän zu unterwerfen, ob sie ihm nun zustimmen oder nicht. Die zweite Hälfte des Buches (Teile III und IV) ist theologischen Fragen und Problemen der Kirchengeschichte gewidmet, und hier präsentiert Hobbes eine umfassende Kritik kirchlicher Orthodoxie. Seine radikale Theologie hatte zwei prinzipielle Treibräder: Das erste war seine materialistische Lesart der neuen Wissenschaften. Für Hobbes war die mechanische Philosophie einfach unvereinbar mit einem metaphysischen Dualismus. Es gab keine »unkörperlichen Sachen« – die menschliche Seele sei materiell und könne nicht überleben als entkörperter Geist; Geister wären bloße Fiktionen; Engel wären keine realen Wesen; sogar Gott sei körperlich. Das zweite Treibrad war politisch und bestand in seiner zielstrebigen Überzeugung von der Notwendigkeit einer ungeteilten Souveränität. Das führte ihn
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dazu, die kirchlichen Ansprüche, wie sie von den Papisten jure divino, von den Prälaten und von den Presbyterianern erhoben wurden, zu bestreiten. In der Vergangenheit hat Gott Israel als Theokratie regiert; in der Zukunft würde er sein Königreich auf Erden regieren; aber in der Gegenwart hätte die Kirche keine politische Macht. Mögen die Kirchenleute tun, was auch immer sie wollen, wenn man sie toleriert oder sie von den staatlichen Behörden dazu autorisiert werden; aber nur die Regierung könne Gesetze machen. Tatsächlich, juristisch gesprochen, waren die Magistrate die einzigen rechtmäßigen Interpreten der Heiligen Schrift, und ihre Untertanen mussten sich um des Friedens willen äußerlich den religiösen Gesetzen einfügen, einerlei welchen Glaubens sie waren. Hobbes hatte keine Zeit für Märtyrer oder für gewissenhaft Protestierende. Hier ging er weit über den traditionellen protestantischen Erastianismus hinaus und war auch nicht im gleichen Takt mit den Independenten, denen er im Anhang seines Leviathan schmeichelte. Freilich hat Hobbes nicht losgelöst von den Umständen seiner Zeit geschrieben. Auch wenn man versucht, den Inhalt der in seinen Büchern vertretenen Ansichten isoliert zu betrachten, so bleibt die Geschichte doch von Relevanz. Hobbes hat ein wissenschaft liches Gesetz im 17. Jahrhundert nicht anders als ein Gesetz von Gott beschreiben können; und er war niemals zurückhaltend, wenn es darum ging, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe des Atheismus dadurch zu widerlegen, dass er sich immer wieder als gläubiger darstellte, als er wohl wirklich war. Aber wir würden seine Gedanken verbiegen, wenn wir dies überstrapazierten. Niemals hat Hobbes sich auf Gottes Strafe berufen, um damit politische Verpfl ichtungen zu sanktionieren. Seine Einzigartigkeit in der Geschichte der politischen Theorie liegt darin, dass er die Politik gänzlich von der Theologie befreite, indem er sie zu einer rationalen Wissenschaft machte, die nur in Begriffen menschlicher Nützlichkeit beschreibbar ist. In der europäischen Geistesgeschichte gibt es kaum einen Philosophen von Format, der das areligiöse
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Wesen des Menschen mit einer derartigen Kompromisslosigkeit behauptet. Nutzen und Selbsterhaltung des Individuums sind ihm die einzige Richtschnur des natürlichen Rechts. Im Zentrum seiner Lehre steht das von jeglichen transzendenten Beziehungen sich lösende Individuum; das wird in den Elements erstmals klar ausgesprochen. Hobbes war der mit Abstand bedeutsamste und einflussreichste Denker im calvinistischen Raum, dessen Wirkung das gesamte Schrift tum der calvinistischen Theologen in den Hintergrund drängt. Was der Mensch nach den Gesetzen seiner Natur tut, das tut er Hobbes zufolge mit dem höchsten Recht einer Natur. Einerlei, ob wir mit Macpherson bei Hobbes eine Theorie des »Besitzindividualismus« finden wollen42 oder nicht; sein gesamtes politikwissenschaft liches Werk kann als vorweggenommene Proklamation des kapitalistischen Geistes gelesen werden. John Locke (1632–1704) wird dann den Gedanken der Hobbes’schen Utilität aufnehmen und zur allgemeinen Anerkennung führen. Ausgehend von seiner anfänglichen Annahme, dass die meisten Menschen es für die meiste Zeit bevorzugen, lieber lebendig als tot zu sein, hat Hobbes mit seiner Argumentation, deren Logik darauf angelegt war, so unabweisbar zu sein wie die geometrischen Begriffe, versucht, die Bedingungen festzulegen, unter denen nicht nur einfach das Leben selbst, sondern ein erstrebenswertes Leben möglich ist. Hobbes war auf der Suche nach der Grundlage für die Gesamtheit aller politischen Verpflichtungen, und er sah sie in den Vorschriften und allgemeinen Richt42
Vgl. zu dieser einflussreichen Interpretation Crawford Brough Macpherson, Hobbes Bourgeois Man, in: K. C. Brown (Ed.), Hobbes. Studies, Oxford: Basil Blackwell 1965, 169–183; ders., Die politische Theorie des Besitzindividualismus (1962), Ffm.: Suhrkamp Verlag 1967; ders., Natural rights in Hobbes and Locke, in: D. D. Raphael (Ed.), Political theory and the Rights of Man, London: Macmillan 1967, 1–15; ders., Introduction, in: Th. Hobbes, Leviathan. Ed. and an Introduction by C. B. Macpherson, London: Penguin Books 1968, 9–63; ders., Hobbes political economy, Philosophical forum 14 (1983), 211–224.
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linien, wie man sie aus Vernunftgründen bestimmen kann. Das allein, so seine Sicht, konnte das Bestehen zivilisierter Gemeinschaften sichern. Aus historischer Sicht ist auff ällig, dass sein Versuch einer rationalen, nutzenbezogenen Wissenschaft der Politik zusammenfällt mit den Vorläufern von Newton. Hätte Hobbes die Menschen nur angetrieben, denjenigen Gesetzen und Kräften zu folgen, die durch Gottes Allmacht gelten, dann hätte er nicht mehr gesagt als zahllose Generationen von Moralisten vor ihm, so wie die Männer, die unentwegt auf das Divine Right of Kings hinwiesen und zu Hobbes’ aggressivsten Kritikern gehörten (wie etwa Sir Robert Filmer). Wenn seine natürlichen Gesetze nicht mehr gewesen wären als einige vage Formeln, mit den sich die Regierung hätte kritisieren lassen, dann hätte er nicht mehr gesagt als die zahllosen oppositionellen Denker, deren Theorien und Ansichten er gerade für gefährlich und aufrührerisch hielt. Das Neue bei Hobbes ist nicht nur die wissenschaft liche Genauigkeit, die er seinen natürlichen Gesetzen zu geben versuchte, sondern auch und vor allem, dass er den Menschen deutlich machte, dass dieser Staat für die Menschen besteht und nicht die Menschen für den Staat. Die Gesellschaft ist eine gute Sache für sich selbst, die von den Menschen hier auf Erden gebildet wurde. Natürlich folgte Hobbes bewusst und geflissentlich den traditionellen Obertönen, wenn er sagte, dass die Menschen alles befolgen sollten, was Gott ihnen befahl; aber er meinte, ein den ewigen Gesetzen gehorchendes Universum unterstellt, dass derjenige, der die Autorität herausfordert, die Anarchie riskiert. Das war im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, der Englischen Revolution, der französischen Fronde und der anderen Revolten sicher richtig. Ein Zuviel an Regierung war zu jener Zeit immer noch seltener als ein Zuwenig. Aus heutiger Sicht fehlen dem Hobbes’schen Konzept die Gegenrechte gegen den Staat; wir lesen bei Hobbes nichts bzw. kaum etwas über die Menschenrechte. Aber Sibylle Tönnies hat recht: »Man muss dem geschichtlichen Fortschritt […] eine gewisse Stufenfolge und Arbeitsteilung zubilligen. Zunächst war
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die Gewaltenmonopolisierung notwendig, die Entmachtung der intermediären Gewalten zugunsten eines Zentrums; dann erst konnte als nächster Schritt die Eingrenzung der so entstandenen Zentralmacht erfolgen.«43 Oder mit anderen Worten: »Hobbes comes from a different time, when the edifice of sovereignty was not fully built and when its indispensability to politics was an open question.«44 Hobbes zog vordergründig die ängstliche und bisher gewiss immer konservativ gelesene Schlussfolgerung, dass Autorität niemals herausgefordert werden sollte. Wenn aber erst einmal frechere und radikalere Menschen Wege zum politischen Wechsel ausgeklügelt haben, ohne damit gleich den Staat aufzulösen, könnten ganz verschiedene Folgerungen aus Hobbes’s wissenschaft licher Methode gezogen werden; und »then it remains to be seen what we will find out about the political practices that go unrecognized in the face of the overawing spectacle, the ‚Sun‘ of the sovereign itself«.45 Wir können mit John Rawls der Meinung sein, dass Hobbes’ Leviathan »das größte englischsprachige Einzelwerk der politischen Theorie ist«46; im Nachvollzug der Elements aber erleben wir dessen Zeugungsakt.
43
Sibylle Tönnies, Cosmopolis Now. Auf dem Weg zum Weltstaat, Hamburg: Europäische Verlagsgesellschaft 2002, 76. 44 James R. Martel, Subverting the Leviathan. Reading Thomas Hobbes as a Radical Democrat, New York: Columbia University Press 2007, 246. 45 Ebd., 247. 46 John Rawls, Geschichte der politischen Philosophie (2007). Hrsg. v. S. Freeman. Aus dem Amerikanischen v. J. Schulte, Ffm.: Suhrkamp 2008, 55.
Z U DI E SER AUSGA BE
Die vorliegende Übertragung hat die von John C. A. Gaskin in den »World’s Classics« unter dem Titel »Thomas Hobbes: Human Nature and De Corpore Politico« (Oxford/New York: Oxford University Press 1994, 1–182) veranstaltete Ausgabe der Elements zur Grundlage; diese Ausgabe korrigiert einige Fehler in der erstmals von Friedrich Tönnies im Jahr 1889 besorgten Standard-Ausgabe »Thomas Hobbes: The Elements of Law Natural and Politic« (2nd Ed. with a Preface and Critical Notes by F. Tönnies. With an New Introduction by M. M. Goldsmith, London: Frank Cass 1969, 1–190).47 Beide Ausgaben wurden mit der ebenfalls von Tönnies veröffentlichten deutschen Ausgabe »Thomas Hobbes: Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen« (Mit einer Einführung v. F. Tönnies. Mit einem Vorwort zum Neudruck 1976 v. A. Kaufmann, Darmstadt: Wissenschaft liche Buchgesellschaft 1976) sowie überdies mit den folgenden Ausgaben der Elements verglichen: »Thomas Hobbes: Éléments de la loi naturelle et politique« (Traduction, introduction, conclusion et notes par L. Roux, Lyon: L’Hermès 1977), »Elementos de derecho natural y politico« (Traducción del inglés, prólogo y notas de D. Negro Paon, Madrid: Centro de Estudios Constitutionales 1979), »Thomas Hobbes: Elementi di legge naturale e politica« (Presentazione e note di A. Pacchi, Firenze: La Nuova Italia Editrice 1985), »Thomas Hobbes: Éléments de la loi naturelle et politique« (Traduit par D. Weber, Paris: Le Livre de poche 2003), »Thomas Hobbes: Elementos de Derecho natural y Político« (Traductor, prólogo D. N. Pavón, Madrid: Allianza Editorial 2005), »Éléments de loi, naturelle et poli47
Fügt aber auch Fehler hinzu – etwa »sun« statt richtig »sum« (S. 82, 20. Zeile) oder auch irreführende Satzzeichen (etwa S. 109, wo nach »enemies« ein Beistrich und nach »covenants« ein Strichpunkt gehört) etc.
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tique« (traduction de l’anglaise et du latin, introduction, glossaire et documents par A. Milanese, Paris: Éditions Allia 2006), »Thomas Hobbes: Éléments du droit naturel et politique« (Introduction, notes, bibliographie, index et traduction par D. Thivet, Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 2010), und »Three-Text Edition of Thomas Hobbes’s Political Theory. The Elements of Law, De Cive and Leviathan« (Ed. by D. Baumgold, Cambridge: Cambridge University Press 2017). – Auf die von den jeweiligen Herausgeberinnen und Übersetzerinnen gemachten Anmerkungen wurde fallweise dankbar zurückgegriffen. Die vorliegende Übertragung nimmt sich gelegentlich Freiheiten, die aus zwei Gründen berechtigt scheinen: Die Elements wurden von Hobbes 1640 als mehrfach kopiertes Manuskript im privaten Kreis verbreitet; zu Lebzeiten von Hobbes sind sie nicht im Druck erschienen – eine Fassung letzter Hand gibt es nicht. Die im Jahr 1650 in zwei separaten Teilen erfolgte erstmalige Veröffentlichung des Manuskripts (als Human Nature, Or, The Fundamental Elements of Policie mit den ersten 13 Kapiteln und als De Corpore Politico: Or, The Elements of Law, Moral and Politic mit den Kapiteln XIV bis XIX des I. Teils und allen zehn Kapiteln des II. Teils – abgedruckt in der Molesworth-Ausgabe EW IV [1840] und als Reprint neu hrsg. v. G. A. J. Rogers [Bristol: Thoemmes Press 1994]) erfolgte ohne Zustimmung oder gar Kontrolle Hobbes’ und enthielt eine Vielzahl von Fehlern. Erst Ferdinand Tönnies hat die beiden Teile wieder als Teilstücke eines einheitlichen Werkes identifiziert und sie 1889 – nach der Durchsicht mehrerer Abschriften von Hobbes’ Manuskript – als »The Elements of Law Natural and Politic« wieder zusammengefügt. Für die von ihm selbst angeführten Textvarianten hat Tönnies aber keine Begründungen gegeben, sodass sich auch nicht auf ein einheitliches Manuskript rückschließen lässt; dies wird erst möglich sein, wenn in »The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes« als Bd. I eine kritische Ausgabe der Elements erscheinen wird. Über die von Tönnies selbst verantwortete deutsche Übersetzung schrieb
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er lakonisch, sie »rührt nur zum kleinen Teile unmittelbar von mir selber her« (Vorwort 1925), und sie ist an manchen Stellen unbrauchbar, gleichwohl sie an manchen Stellen durch einprägsame Formulierungen glänzt. – Eine gewisse notwendige Freiheit der Übersetzung ergibt sich aber auch daraus, dass der Einfluss lateinischer Syntax auf die englische Grammatik im siebzehnten Jahrhundert generell viel größer war als heute, speziell bei einem Autor wie Hobbes, der daran gewöhnt war, seine Werke in beiden Sprachen zu verfassen. Generell wurde danach getrachtet, den Sinn in heutiger Sprache verständlich zu machen und im Zweifel auf die wortwörtliche Übertragung dort zu verzichten, wo sie den Lesefluss und die Verständlichkeit erschwert hätte. Die »Elements of Law Natural and Politic« (1640) von Thomas Hobbes (1588–1679) erscheinen im deutschen Sprachraum seit der Übersetzung von Friedrich Tönnies stets als »Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen« (1926). Das ist im Hinblick auf den Inhalt des Buches und auf seine Veröffentlichungsgeschichte doppelt fehlsam. Der Teil I der Elements handelt ausschließlich von der menschliche Natur und hat mit dem, was wir gemeinhin unter »Naturrecht« verstehen, nichts zu tun – Hobbes selbst beschreibt unmittelbar am Beginn des Teils II den Teil I als consideration of the natural power, and the natural estate of man; namely of his cognition and passions (XX, 1). Der Teil II ist kaum etwas, das unter heutigem Verständnis als »Staatsrecht« bezeichnet werden könnte, es ist vielmehr eine Theorie der Politik, es geht also um the nature of a body politic, and the laws therof (XX, 1), wie sie dann nuancierter und umfangreicher in De Cive (1642) und im Leviathan (1651) ausgebreitet wird. Mag die getrennte Erstveröffentlichung der Elements in zwei gesonderten Teilen 1650 auch ohne Hobbes’ Zustimmung erfolgt sein, sie hatte durchaus ihre sachlich-inhaltliche Berechtigung, und deshalb wird auch hier – so wie in der von John Charles Addison Gaskin veranstalteten Ausgabe der Elements – der Titel »Menschliche Natur und politischer Körper« verwendet.
A BK Ü R Z U NGSV ER Z EICH N IS
a) Thomas Hobbes wird in den Anmerkungen und in den Nachbemerkungen mit den folgenden Abkürzungen zitiert: Beh.
[Seite] – Behemoth or The Long Parliament. Ed. by P. Seaward, Oxford: Clarendon Press 2010 (= The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes, Vol. X). Civ.L [Kap./Abschnitt, Seite] – De Cive. The Latin Version. A Critical Edition by H. Warrender, Oxford: Clarendon Press 1983 (= The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes, Vol. II). Civ.E [Kap./Abschnitt, Seite] – On the Citizen. Ed. and translated by R. Tuck/M. Silverthorne, Cambridge: Cambridge University Press. Corr.I, II [Bd., Seite] – The Correspondence. Ed. by N. Malcolm. 2 Bde., Oxford: Clarendon Press 1994 (= The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes, Vols. VI und VII). De corp. [Kap./Abschnitt, Seite] – Der Körper. Elemente der Philosophie – Erste Abteilung (1655). Übersetzt, mit einer Einleitung und mit textkritischen Annotationen versehen und hrsg. v. K. Schuhmann, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1997. De hom. [Kap./Abschnitt, Seite] – Vom Menschen. Zweite Abteilung der Elemente der Philosophie, in: Thomas Hobbes, Vom Bürger. – Vom Menschen. Neu übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. L. R. Waas, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2017, 351–412. Dial. [Seite] – A Dialogue Between a Philosopher and a Student, of the Common Laws of England, ed. by A. Cromartie. – Questions Relative to Hereditary Right. Ed. by Qu. Skinner, Oxford: Clarendon Press 2005 (= The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes, Vol. XI).
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Abkürzungsverzeichnis
[Kap., Seite] – The Elements of Law. Human Nature and De Corpore Politico with Th ree Lives (1994). Ed. with an Introduction by J. C. A. Gaskin, Oxford/New York: Oxford University Press 2008. [Kap., Seite] – Leviathan [engl./lat.]. Ed. by N. Malcolm. 3 Bde., Oxford: Clarendon Press 2012 (= The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes, Vols. III, IV und V).
b) Gesamtausgaben der Werke von Thomas Hobbes: OL
EW
[Bd., Seite] – Thomæ Hobbes Malmburiensis opera philosophica quae latine scripsit omnia. In unum corpus nun primum collecta et labore Gulielmi Molesworth. 5 Bde., London: John Bohn 1839–45 (2. Nachdruck Aalen: Scientia Verlag 1966). [Bd., Seite] – The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury. Now fi rst collected and ed. by Sir William Molesworth. 11 Bde., London: John Bohn 1839–45 (2. Nachdruck Aalen: Scientia Verlag 1966).
L I T E R AT U R H I N W EISE
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THOM AS HOBBE S MENSCHLICHE NATUR UND POLITISCHER KÖRPER (Elements of Law Natural and Politic)
Dem überaus ehrenwerten William, Grafen von Newcastle, 1 Statthalter seiner Durchlaucht, des Prinzen, Mitglied des erlauchten Kronrates seiner Majestät
Mein höchst verehrter Lord, aus den zwei Teilen unserer Natur, der Vernunft und der Leidenschaft, rühren zwei Arten des Wissens, das mathematische und das dogmatische.2 Erstere ist frei von Zank und Hader, weil nur Figuren und Bewegung miteinander verglichen werden; in diesen widerstreiten die Wahrheit der Dinge und das Interesse der Menschen einander nicht. In Letzterer indes gibt es nichts Unstrittiges, weil sie die Menschen vergleicht und sie verwoben ist mit ihrem Recht und ihrem Nutzen;3 und hier gilt: Sooft die Vernunft sich gegen den Menschen wendet, so oft wird der Mensch sich gegen die Vernunft wenden. Und von daher kommt es, dass diejenigen, die von Gerechtigkeit und Politik im Allgemeinen geschrieben haben, sich wechselseitig und sich selbst widersprechen.4 Um diese Lehre auf die Regeln und die Unfehlbarkeit der Vernunft zurückzuführen, gibt es keinen anderen Weg, als solche Prinzipien zunächst auf eine sichere Grundlage zu stellen, denn wenn wir der Leidenschaft nicht misstrauen, können wir sie nicht ersetzen; und sodann die Wahrheit der Fälle nach und nach in das Gesetz der Natur (welches bisher nur auf Luft gebaut wurde) einzubauen, bis das Ganze unbezwinglich ist. Nun, Mylord, die für eine derartige Grundlegung geeigneten Prinzipien sind diejenigen, mit denen ich Euer Lordschaft schon bis-
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Widmungsschreiben
her in persönlichen Gesprächen bekannt gemacht habe und die ich nun hier über Eure Anordnung methodisch ausgeführt habe. Streitfälle zwischen Souverän und Souverän oder zwischen Souverän und Untertan zu untersuchen, das überlasse ich denjenigen, die entsprechende Muße und Aufmunterung dazu finden. Ich für meinen Teil biete Eurer Lordschaft die wahre und einzige Grundlage einer derartigen Wissenschaft. In Hinsicht auf den Stil ist das natürlich das Schlimmste, weil ich beim Schreiben gezwungen war, mich mehr mit Folgerichtigkeit als mit Rhetorik abzugeben. Betreffs der Lehre aber ist es um diese nicht schlecht bestellt; und die Schlussfolgerungen daraus sind von derartiger Natur, dass – weil man ihrer bisher ermangelte – Regierung und Frieden bis heute nichts anderes waren als wechselseitige Furcht. Und es wäre ein unvergleichlicher Nutzen für das Gemeinwesen5, wenn jedermann die hier dargebotenen Ansichten über Recht und Politik teilte. Die Zielsetzung dieses Buches, wenn es durch das Ansehen Euer Lordschaft sich bei denjenigen zu empfehlen sucht, die es am nächsten angeht, kann daher entschuldigt werden. Für mich selbst begehre ich keine größere Ehre, als ich sie schon durch Euer Lordschaft bekanntes Wohlwollen genieße; es sei denn, dass es Ihnen in Fortsetzung Ihres Wohlwollens gefallen würde, mich durch weitere Anordnungen üben zu lassen, welche ich, verbunden wie ich Ihnen durch viele große Wohltaten bin, erfüllen werde, und so bin ich meinem höchst verehrten Lord, Euer Lordschaft demütigster und zu Dank verpflichteter Diener Tho. Hobbes 9. Mai 1640
T EI L I DI E NAT U R DE S M ENSCH EN
K apitel I Allgemeine Unterteilung der natürlichen Fähigkeiten des Menschen 1. Die wahre und einleuchtende Erklärung der Grundzüge von Recht, Natur und Politik, worum es mir hier geht, hängt ab vom Wissen darüber, was die menschliche Natur, was ein politischer Körper und was es ist, das wir ein Gesetz nennen. In dem Maße, in dem betreffs dieser Punkte das Schreiben der Menschen von der Antike an immer weiter zugenommen hat, haben sich auch die Zweifel und die Auseinandersetzungen darüber stets vermehrt. Wahres Wissen aber erzeugt bekanntlich weder Streit noch Meinungsverschiedenheiten, sondern Kenntnis; und aus den gegenwärtigen Diskussionen ist ersichtlich, dass diejenigen, die bisher darüber geschrieben haben, ihren eigenen Gegenstand nicht gut verstanden haben. 2. Ich kann niemandem schaden, selbst wenn ich nicht weniger irre als sie. Immerhin werde ich die Menschen lassen, wie sie sind, in Zweifel und in Streit. Weil ich aber vorhabe, nicht vertrauensvoll irgendwelche Prinzipien zu nehmen,6 sondern die Menschen nur an das erinnern will, was sie ohnedies schon wissen oder was sie aufgrund eigener Erfahrung doch wissen könnten, so hoffe ich doch, weniger zu irren; und wenn ich es dennoch tue, dann muss es vom zu hastigen Schlussfolgern herrühren, welches ich zu vermeiden suche, so gut ich kann. 3. Sollte ich andererseits (was ja leicht geschehen kann) mit meinem folgerichtigen Denken doch nicht Zustimmung finden bei denen, die im Vertrauen auf ihr eigenes Wissen das Gesagte gar nicht erwägen wollen, dann ist das nicht meine Schuld, sondern
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Teil I · Die Natur des Menschen
die ihre. So wie es meine Aufgabe ist, meine Gründe zu zeigen, so ist es ihre, mir Aufmerksamkeit entgegenzubringen. 4. Die Natur des Menschen besteht aus der Summe seiner natürlichen Fähigkeiten und Kräfte, wie z. B. seiner Fähigkeiten zur Ernährung, Bewegung, Fortpflanzung, Sinnesempfindung, Vernunft etc. Diese Kräfte nennen wir gemeinhin natürlich, und sie sind unter den Worten tierisch (animal) und vernünft ig (rational) in der Defi nition7 des Menschen enthalten. 5. Entsprechend den beiden wesentlichen Teilen des Menschen unterscheide ich seine Fähigkeiten in zweierlei Hinsichten, in die Fähigkeiten des Körpers und die Fähigkeiten des Geistes.8 6. Sofern eine exakte und ausgeprägte Analyse der körperlichen Fähigkeiten für den gegenwärtigen Zweck nichts Notwendiges ist, werde ich sie nur in diesen drei Kategorien zusammenfassen: Ernährungs-, Bewegungs- und Fortpflanzungskraft. 7. Betreffs der geistigen Fähigkeiten sind es zwei Arten, das Vermögen zur Erkenntnis, zur Einbildung oder zum Begreifen einerseits und die Triebkraft andererseits. Zuerst über die Fähigkeit zum Begreifen. 8. Für das Verständnis dessen, was ich unter Begriffsvermögen verstehe, müssen wir uns daran erinnern und anerkennen, dass es in unserem Geist unentwegt bestimmte Bilder oder Vorstellungen der Dinge9 außerhalb von uns gibt, und zwar derart, dass dem einzigen Menschen, der überlebte, auch wenn die übrige Welt vernichtet wäre, dennoch deren Bild davon und von allen übrigen Dingen, die er zuvor gesehen und wahrgenommen hat, verbleiben würde.10 Jedermann weiß doch aus seiner eigenen Erfahrung, dass die Abwesenheit oder Vernichtung der einst vorgestellten Dinge nicht die Abwesenheit oder Vernichtung der Vorstellung davon verursacht. Diese bildhafte Vorstellung und Repräsentation der Qualität von Dingen außerhalb von uns nennen wir unsere Wahrnehmung, Vorstellung, Ideen, Spüren, Auffassung oder Wissen von ihnen. Und die Fähigkeit, oder auch die Kraft, durch die wir eines solchen Wissens fähig sind, das ist das, was ich hier
Kapitel II
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Erkenntniskraft oder Begriffskraft , die Fähigkeit zum Wissen und zum Erkennen nenne.
K apitel II Die Ursache der Sin nesempfindu ng 11 1. Nachdem ich erklärt habe, was ich unter Wahrnehmung und anderen gleichbedeutenden Worten verstehe, komme ich zu den Wahrnehmungen selbst, um ihre Unterschiedlichkeit, ihre Ursachen und die Art ihrer Entstehung zu zeigen, soweit das an dieser Stelle notwendig ist. 2. Ursächlich gehen alle Wahrnehmungen aus von den Aktionen der Dinge selbst, deren Wahrnehmung sie sind. Wenn die Aktion gegenwärtig ist, dann wird die hergestellte Wahrnehmung Sinnesempfindung genannt, und das Ding, durch dessen Aktion dies erzeugt wird, nennen wir das Objekt der Sinnesempfi ndung. 3. Durch unsere verschiedenen Organe haben wir verschiedene Vorstellungen von verschiedenen Qualitäten in den Objekten. Durch ihre Ansicht haben wir eine Vorstellung oder ein Bild, das aus Farbe oder Figur zusammengesetzt ist, das ist alles Merkliche und Wissen, das das Objekt uns von seiner Natur durch das Auge vermittelt. Durch das Hören haben wir eine Vorstellung, die wir Schall nennen, das ist alles Wissen, das wir über die Qualität des Objekts durch das Ohr haben. Und so sind auch die übrigen Sinnesempfindungen Vorstellungen von verschiedenen Eigenschaften oder vom Wesen ihrer Objekte. 4. Weil das Bild, wie es seinem Anschein nach aus Farbe und Gestalt besteht, die Kenntnis ist, die wir von den Eigenschaften des Objekts der Sinnesempfi ndung haben, so ist es nicht schwer für den Menschen anzunehmen, dass dieselbe Farbe und Gestalt die wirklichen Eigenschaften dieses Objekts sind; und aus demselben Grund, wonach Schall und Geräusch die Eigenschaften einer Klingel oder der Luft sind. Und diese Meinung wurde so
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Teil I · Die Natur des Menschen
lange angenommen, dass das Gegenteil als ein großes Paradox erscheinen muss; und doch ist (was für die Aufrechterhaltung dieser Meinung notwendig ist) die Einführung einer sichtbaren und verständlichen Spezies,12 die vom Objekt aus hin und her geht, schlimmer als jede Paradoxie, weil es die reine Unmöglichkeit ist. Ich werde daher versuchen, die folgenden vier Punkte deutlich zu machen: (1) Dass das Subjekt, dem Farbe und Bild inhärent sind, nicht das gesehene Objekt oder Ding ist. (2) Dass außerhalb von uns nichts wirklich ist, das wir ein Bild oder Farbe nennen. (3) Dass das erwähnte Bild oder die Farbe nur eine Erscheinung jener Bewegung, Unruhe oder Veränderung ist, welche das Objekt im Gehirn oder im Geist oder in irgendeiner inneren Substanz des Kopfes erzeugt.13 (4) Dass so wie in der Vorstellung durch das Sehen, so auch in der von anderen Sinnen hervorgerufenen Vorstellung das Subjekt nicht der Gegenstand ist, sondern diese dem Wahrnehmenden inhäriert.14
5. Jeder Mensch hat so viel Erfahrung, dass er die Sonne und andere sichtbare Gegenstände durch Reflexion im Wasser und in Gläsern gesehen hat, und das ist ausreichend für die Schlussfolgerung: Farbe und Bild vermögen da zu sein, auch wo der gesehene Gegenstand nicht da ist. Weil aber gesagt werden könnte, dass dessen ungeachtet zwar vielleicht das Bild nur im Wasser und nicht im Gegenstand selbst sein möge, nicht mehr als ein bloßes Phantasieding, so wäre aber doch immerhin die Farbe im Ding selbst; so möchte ich an folgende Erfahrung mahnen: Zu verschiedenen Zeiten sehen die Menschen dasselbe Objekt doppelt, so wie zwei Kerzen statt einer, was seine Ursache in krankhafter Verwirrung haben kann, oder auch ohne derartige Verwirrung, wenn es jemand so will, mögen die Organe nun in der richtigen Stimmung sein oder gleicherart in Unordnung. Die Farben und Gestalten in diesen zwei Bildern des einen Gegenstandes können
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nicht beide dem einen Gegenstand anhaften, weil der gesehene Gegenstand unmöglich an zwei Orten sein kann: Eines der beiden Bilder ist dem Gegenstand deshalb nicht inhärent. Da aber die Organe des Sehens dann in gleichem Zustand sind, mögen sie nun ordentlich funktionieren oder verwirrt sein, so ist das eine von den beiden dem Gegenstand nicht mehr inhärent als das andere, und weder das eine noch das andere ist in dem Gegenstand vorhanden. Dies ist der erste Lehrsatz, der im vorigen Abschnitt erwähnt wurde. 6. Zweitens, dass das Bild irgendeines Gegenstandes, den wir in Reflexion eines Glases oder des Wassers oder Ähnlichem sehen, nichts im oder hinter dem Glas oder unter dem Wasser ist, das mag jedermann für sich selbst prüfen; dies ist der zweite Lehrsatz. 7. Fürs Dritte haben wir zunächst zu berücksichtigen, dass bei jeder großen Erregung oder Erschütterung des Gehirns, wie sie etwa von einem Schlag herrührt, besonders wenn der Schlag das Auge trifft, womit der Sehnerv eine große Gewalt erfährt, vor den Augen ein bestimmtes Licht erscheint. Dieses Licht ist jedoch nur eine Erscheinung, real daran ist lediglich die Erschütterung oder Bewegung der Teile dieses Nervs. Aus dieser Erfahrung dürfen wir schließen, dass die Erscheinung des Lichts außer uns nichts anderes ist als Bewegung in uns.15 Wenn daher von leuchtenden Körpern Bewegung abgeleitet werden kann, um solcherart den Sehnerv zu beeinflussen, so wird sich ein Lichtbild ergeben, und zwar irgendwo auf der Linie, auf welcher die Bewegung zuletzt zum Auge hingeleitet wurde; und also im Objekt, wenn wir es direkt anschauen, und im Glas oder Wasser, wenn wir es in der Brechungslinie betrachten. Das ist im Ergebnis der dritte Lehrsatz, nämlich dass das Bild und die Farbe nichts anderes als eine Erscheinung der Bewegung, Erregung oder Veränderung sind, wie sie der Gegenstand im Gehirn, in den Lebensgeistern oder in irgendeiner inneren Substanz im Kopf erzeugt.16 8. Dass aber von allen leuchtenden, scheinenden und beleuchteten
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Körpern eine Bewegung hin zum Auge erzeugt wird und durchs Auge hin zum Sehnerv und so ins Gehirn, wodurch diese Lichterscheinung oder Farbe bewirkt wird, ist nicht schwer zu beweisen. Und zwar ist es erstens offenkundig, dass das Feuer, der einzige leuchtende Körper hier auf Erden, in jeder Weise durch Bewegung17 wirkt, denn sobald seine Bewegung gestoppt oder eingeschlossen wird, erlöscht es in Kürze und es gibt kein Feuer mehr. Und überdies ist durch Erfahrung evident, dass jene Bewegung, durch welche das Feuer wirkt, eine abwechselnde Ausdehnung und Zusammenziehung ist, die man gemeinhin Funkensprühen oder Glühen nennt. Von solch einer Bewegung im Feuer muss notwendigerweise ein Zurückwerfen oder Auswerfen desjenigen Teils des Mediums herrühren, welches zunächst mit ihm in Berührung ist, wobei auch dieser Teil den nächsten zurückwirft und so sukzessive ein Teil hinter dem anderen den nächsten zurückwirft bis zum Auge hin; und auf dieselbe Art drückt der äußere Teil des Auges (dem Brechungsgesetz stets gehorchend) auf den inneren. Die innere Schicht des Auges ist nichts anderes als ein Stück des Sehnervs, und deshalb wird die Bewegung auf diese Art weiter bis ins Gehirn fortgesetzt, und durch den Widerstand oder die Reaktion des Gehirns kommt es wiederum zu einem Rückstoß auf den Sehnerv, die wir nicht als Bewegung oder Rückstoß von innen wahrnehmen, sondern denken, es käme von außen, und Licht nennen; wie schon anhand der Erfahrung eines Schlags gezeigt wurde. Wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die Quelle des Lichts, die Sonne, in dieser Hinsicht auf irgendeine andere Art arbeitet als das Feuer und dass deshalb alles Sehen seinen Ursprung in solcher Bewegung hat, wie sie hier beschrieben wird. Denn wo es kein Licht gibt, da sieht man nichts; und deshalb muss Farbe derselbe Gegenstand sein wie Licht, nämlich die Wirkung leuchtender Körper: Ihr unterschiedliches Sein besteht nur darin, dass dann, wenn das Licht direkt von seinem Ursprung zum Auge kommt oder indirekt durch Reflexion von sauberen und glatten Körpern und von solchen, die keine besondere Bewe-
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gung in sich haben, welche eine Veränderung bewirken könnte, wir es Licht nennen. Wenn es aber durch Reflexion von unebenen, rauen und groben Körpern oder von solchen, die über eigene innere Bewegung verfügen, welche eine Veränderung bewirken kann, zu den Augen kommt, dann nennen wir es Farbe; Farbe und Licht unterscheiden sich nur dadurch, dass das eine ein reines, das andere ein getrübtes Licht ist. Durch das Gesagte ist nicht nur die Wahrheit des dritten Lehrsatzes offensichtlich, sondern auch die gesamte Art der Hervorbringung von Licht und Farbe. 9. So wie Farbe nicht den Objekten inhärent ist, sondern eine Wirkung auf uns darstellt, verursacht, wie beschrieben, durch die Bewegung im Objekt, so ist auch der Schall nicht im Gegenstand, den wir hören, sondern in uns selbst. Ein untrügliches Kennzeichen dafür: So wie einer doppelt sehen kann, so kann er auch doppelt oder dreifach hören, durch die Vervielfältigung des Echos, das ein ebensolcher Schall ist wie das Original; und da sie nicht an einem und demselben Ort sind, können sie nicht im erzeugenden Körper sein. Nichts kann irgendetwas von sich aus machen: Der Klöppel hat keinen Schall in sich, sondern Bewegung, und er bewirkt Bewegung in den inneren Teilen der Glocke; deshalb hat die Glocke Bewegung, nicht aber Schall. Dies teilt der Luft die Bewegung mit, und die Luft hat Bewegung, aber keinen Schall. Die Luft überträgt die Bewegung durch Ohr und Nerven an das Gehirn; und so hat das Gehirn Bewegung, aber keinen Schall. Vom Gehirn schlägt sie zurück auf die äußeren Nerven, und so wird dann daraus eine äußere Erscheinung, die wir Schall nennen. Und um mit den übrigen Sinnen fortzufahren, ist es offensichtlich genug, dass der Geruch und der Geschmack desselben Dings nicht für jedermann gleich ist und deshalb nicht das Ding selbst riecht oder schmeckt, sondern der Mensch. Ebenso ist auch die Hitze, die wir vom Feuer spüren, augenscheinlich in uns und ist deutlich verschieden von der Hitze im Feuer selbst. Die Hitze ist für uns entweder Annehmlichkeit oder Schmerz, abhängig davon, ob sie mäßig ist oder extrem; aber in der Kohle
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ist nichts davon. Somit ist auch der vierte und letzte Lehrsatz bewiesen. So wie bei der Vorstellung durchs Sehen und so wie in den Vorstellungen, die aus den anderen Sinnesempfi ndungen entstehen, so ist das Subjekt ihrer Inhärenz nicht der Gegenstand, sondern der Empfindende. 10. Und daraus folgt auch, dass alle Akzidenzien oder Eigenschaften, mögen unsere Sinne uns auch denken lassen, dass sie in der Welt sind, nicht in der Welt sind, sondern dies nur scheinbar und als Erscheinung sind. Die Dinge, die wirklich in der Welt außerhalb von uns sind, sind diejenigen Bewegungen, durch die dieser Schein erzeugt wird. Und das ist die große Täuschung der Sinnesempfi ndung, die wiederum durch sinnliche Wahrnehmung korrigiert werden muss. So wie mir meine Sinne sagen, wenn ich direkt schaue, dass die Farbe scheinbar im Gegenstand selbst ist, so sagen mir meine Sinne auch, wenn ich eine Reflexion sehe, dass die Farbe nicht im Objekt selbst ist.18
K apitel III Von der Einbildu ng u nd ihr en Arten 19 1. Wie stehendes Wasser, das durch einen Steinwurf oder einen Windstoß in Bewegung gesetzt wird, nicht augenblicklich zur Ruhe kommt, wenn der Wind nachgelassen oder der Stein sich abgesetzt hat, so wenig hört auch die Wirkung, die der Gegenstand dem Gehirn eingemeißelt hat, auf, sobald durch die Abwendung des Sinnesorgans der Gegenstand zu wirken aufhört. Damit ist gesagt, dass zwar die Sinnesempfindung vorbei ist, die Vorstellung oder Wahrnehmung jedoch zurückbleibt; wenn wir wach sind, aber eher undeutlich, weil der eine oder andere Gegenstand unentwegt die Aufmerksamkeit unserer Augen und Ohren erheischt und den Geist damit in heft iger Bewegung hält, wodurch der schwächere nicht leicht zum Vorschein kommt. Und diese undeutliche Wahrnehmung ist das, was wir FANTASIE (PHAN-
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TASY) oder EINBILDUNG (IMAGINATION) nennen.20 Einbildung
ist also (um sie zu definieren) die übriggebliebene Vorstellung, die vom Akt der sinnlichen Wahrnehmung an und danach allmählich zerfällt.21 2. Wenn es aber keine präsente Sinnesempfindung gibt, wie im SCHLAF, dann sind die nach der Sinnesempfi ndung übriggebliebenen Bilder (wenn welche da sind), wie etwa in Träumen, nicht undeutlich, sondern stark und klar, wie bei der sinnlichen Wahrnehmung selbst. Der Grund dafür ist der, dass das, was tagsüber die Vorstellung undeutlich und schwach machte, nämlich die Sinnesempfindung selbst und die gegenwärtige Erfassung der Dinge, beseitigt ist. Denn der Schlaf entbehrt den Akt unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung, und Träume sind die Einbildungen derer, die schlafen (die Kraft dazu bleibt ja bestehen). 3. Die Ursachen der TRÄUME (wenn sie natürlich sind) resultieren aus den Vorgängen oder aus der Heft igkeit der inneren Teile eines Menschen auf dessen Gehirn, vermittels derer die Durchflüsse der sinnlichen Empfindung, im Schlaf gelähmt, wieder in Bewegung gesetzt werden.22 Die Zeichen, durch die offenkundig wird, dass es so ist, sind die Verschiedenheit der Träume, wie sie sich aus den verschiedenen Zufälligkeiten des menschlichen Körper ergeben. Alte Leute sind für gewöhnlich von geringerer Gesundheit und weniger frei von inneren Schmerzen, sie sind deshalb den Träumen eher ausgesetzt, besonders solchen Träumen, die schmerzhaft sind: etwa wollüstige Träume oder zornerfüllte, entsprechend der Heft igkeit, mit der das Herz oder andere innere Teile durch mehr oder weniger Hitze auf das Gehirn einwirken. Solcherart lässt einen auch das Absteigen verschiedener Arten von Schleim von verschiedenen Geschmacksempfindungen von Speisen oder Getränken träumen. Und ich glaube, dass es eine Hin-und-her-Bewegung zwischen dem Gehirn und den lebensnotwendigen Körperteilen gibt, wobei nicht bloß die Einbildung in diesen Teilen Bewegung erzeugt, sondern auch Bewegung in diesen Teilen Einbildung hervorruft, ähnlich der, durch die sie
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hervorgerufen wurde.23 Wenn das wahr ist und wenn die traurige Einbildung die Milz nährt, dann sehen wir auch einen Grund, warum eine starke Milz umgekehrt furchterfüllte Träume verursacht und warum die Wirkungen der Lüsternheit in einem Traum das Bild einer Person erzeugen können, die diese Wirkungen verursacht hat. Wenn es gut beobachtet würde, dass das Bild der Person im Traum der gelegentlichen Hitze dessen, der da träumt, derart folgsam ist wie im Wachsein die Person ihrer Hitze, und wenn es so ist, dann wäre so eine Bewegung wechselseitig. Ein anderes Zeichen dafür, dass Träume durch die Tätigkeit der inneren Teile verursacht werden, ist die Unordnung und zufällige Folge einer Vorstellung auf die andere oder eines Bildes auf ein anderes: Wenn wir nämlich wach sind, leitet der vorhergehende Gedanke oder die Vorstellung und ist Ursache des folgenden Gedankenflusses, so wie das Wasser auf einem ebenen und trockenen Tisch dem Finger eines Mannes folgt. Aber in Träumen besteht gemeinhin keine Stimmigkeit (und wenn doch, dann nur zufällig), was wohl dadurch hervorgerufen wird, dass das Gehirn in seiner Bewegung während des Träumens nicht in allen Teilen gleichmäßig zurückgesetzt ist. So geschieht es dann, dass unsere Gedanken wie die Sterne zwischen den fliegenden Wolken erscheinen, nicht in der Anordnung, wie sie jemand zu beobachten wünschte, sondern so, wie es der unbestimmte Flug zerfallener Wolken erlaubt. 4. Ebenso wie das Wasser oder irgendeine Flüssigkeit durch mehrere Bewegungen veranlasst sich gleichzeitig bewegt und sodann eine gemeinsame Bewegung vollzieht, so auch das Gehirn bzw. der Geist darin; aufgerührt von verschiedenen Dingen, wird eine gemeinsame Einbildung von verschiedenen Vorstellungen, wie sie einzeln den Sinnen erschienen sind, zusammengestellt. So zeigen uns die Sinne zum Beispiel zu einer Zeit den Umriss eines Berges und zu einer anderen Zeit die Farbe Gold; aber die daran anschließende Einbildung behält sie beide in einem als einem goldenen Berg. Aus derselben Ursache ergibt sich, dass uns Luft-
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schlösser erscheinen, Chimären und andere Ungeheuer, die es in rerum naturâ (in der Natur) nicht gibt, die aber durch die Sinne zu verschiedenen Zeiten stückchenweise wahrgenommen wurden. Und diese Zusammenstellung (composition) ist das, was wir für gewöhnlich eine ERFINDUNG (FICTION) des Geistes nennen. 5. Aber es gibt noch eine andere Art der Einbildung, die in Hinsicht auf Klarheit mit der unmittelbaren Sinnesempfindung und auch mit dem Traum im Wettbewerb steht. Das ist dann der Fall, wenn die Tätigkeit der Sinne lange oder heft ig währte, und die Erfahrung dessen treffen wir häufiger beim Gesichtssinn als bei den übrigen. Ein Beispiel dafür ist das verbleibende Bild vor dem Auge, wenn man unverwandt in die Sonne geschaut hat. Ein anderes Beispiel dafür sind die kleinen Bilder, die in der Dunkelheit vor den Augen erscheinen (wovon, so denke ich, jedermann Erfahrung hat, am meisten aber jene, die ängstlich oder abergläubisch sind). Und diese können wir der Unterscheidung halber HIRNGESPINSTE (PHANTASMS) nennen. 6. Durch die Sinne (von denen es entsprechend der Anzahl der Organe fünf gibt) nehmen wir (wie schon gesagt wurde) Notiz von den Dingen außerhalb von uns; und diese Kenntnisnahme ist unsere Vorstellung davon. Aber irgendwie nehmen wir auch Notiz von unseren Vorstellungen. Und wenn die Vorstellung vom selben Gegenstand erneut aufkommt, dann werden wir uns dieser Wiederkehr bewusst. Damit ist gesagt, dass wir dieselbe Vorstellung zuvor hatten, was so viel ist, wie sich ein vergangenes Ding einzubilden, etwas, das den Sinnen unmöglich ist, die nur auf gegenwärtige Dinge gerichtet sind. Das mag man deshalb als einen sechsten Sinn werten, einen inneren, nicht äußerlichen, wie die übrigen, der gemeinhin ERINNERUNG (REMEMBRANCE) genannt wird. 7. Betreffend die Art, in der wir von einer vergangenen Vorstellung Notiz nehmen, haben wir uns zu erinnern, dass in der Definition der Einbildung gesagt wurde, dass sie eine allmählich zerfallende oder immer undeutlicher werdende Vorstellung ist. Eine
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undeutliche (obscure) Vorstellung ist eine solche, die den ganzen Gegenstand zusammen darstellt, aber nichts von seinen kleineren Teilen; und je nachdem ob mehr oder weniger Teile ausgemacht werden, wird über die Vorstellung oder Darstellung gesagt, sie sei mehr oder weniger klar. Sieht man, dass die Vorstellung, als sie erstmals von der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung erzeugt wurde, klar war und die Teile des Gegenstandes ausgeprägt waren und dass sie, wenn sie wiederkehrt, undeutlich ist, dann bemerken wir, dass etwas fehlt, was wir erwartet haben. Deshalb werten wir sie als vergangen und brüchig. So sieht zum Beispiel ein Mann, der gerade in einer fremden Stadt ist, nicht nur ganze Straßenzüge, sondern er kann auch einzelne Häuser und Teile von Häusern unterscheiden; ist er dann abgereist, kann er sie in seinem Geist nicht mehr derart gesondert unterscheiden wie zuvor; irgendein Hause oder eine Ecke entkommt ihm; dennoch liegt hier eine Erinnerung an die Stadt vor; wenn ihm später noch mehr Einzelheiten entfallen, dann liegt immer noch eine Erinnerung vor, aber sie ist nicht mehr so gut. Im Verlauf der Zeit kehrt das Bild der Stadt nur noch als eine Ansammlung von Häusern wieder, fast so, als ob man sie vergessen hätte. Man sieht also, die Erinnerung besteht mehr oder weniger, je nachdem, ob wir mehr oder weniger Undeutlichkeit fi nden. Warum also sollten wir nicht ebenso gut denken, dass die Erinnerung nichts anderes ist als das Vermissen von Teilen, von denen jedermann erwartet, dass sie, da sie doch eine Vorstellung von Ganzen haben, ebenso nachfolgen? Etwas von großer Entfernung aus und nach langer Zeit zu sehen, ist nichts anderes als eine Vorstellung davon zu haben. In beiden Fällen ermangelt es an der erforderlichen Unterscheidungsfähigkeit; die eine Vorstellung ist schwach durch das Erfassen aus der Ferne, die andere durch Zerfall. 8. Und aus dem, was gesagt wurde, folgt, dass ein Mensch nie wissen kann, dass er träumte; er mag träumen, dass er zweifelte, ob es ein TRAUM war oder nicht. Aber die Klarheit, mit der jedes Ding mit ebenso vielen Teilen in der Einbildung zur Darstel-
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lung kommt, entspricht der unmittelbaren Sinnesempfi ndung, und deshalb kann er von nichts Kenntnis nehmen, ausgenommen vom Gegenwärtigen. Zu denken, dass er träumte, hieße, seine eigenen Vorstellungen als vergangen denken, und also undeutlicher als die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung, und so müsste er sie beide gleichzeitig als ebenso klar und ebenso als nicht klar wie die Sinnesempfindung denken; das ist unmöglich. 9. Aus derselben Ursache rührt, dass Menschen im Traum nicht über Orte und Personen erstaunt sind, wie sie es im Wachsein wären. Im Zustand der Wachheit fände es ein Mensch sonderbar, sich an einem Ort zu befinden, an dem er niemals zuvor gewesen ist, und nichts darüber zu wissen, wie er dorthin gekommen ist. Aber im Traum kommen einem da nur wenige derartige Bedenken. Die Klarheit der Vorstellung im Traum räumt das Misstrauen beiseite, ausgenommen die Absonderlichkeit ist derart exzessiv, dass er von sich denkt, er sei ohne Blessuren von großer Höhe gestürzt – und dann wacht er für gewöhnlich auf. 10. Es ist auch nicht unmöglich für einen Menschen, so weit getäuscht zu werden, dass er dann, wenn der Traum vorbei ist, ihn für wirklich hält. Wenn er von solchen Dingen träumt, mit denen er sich regelmäßig beschäft igt und in solcher Anordnung, an die er als Wacher gewohnt ist; und wenn er auch noch träumt, dass er sich dorthin zum Schlafen legt, wo er sich selbst beim Aufwachen findet (das kann alles geschehen), dann weiß ich kein kriterion oder Merkmal, durch das er unterscheiden könnte, ob es ein Traum oder keiner war, und daher wundere ich mich weniger darüber zu hören, dass ein Mensch manchmal seinen Traum als Wahrheit ausgibt oder ihn als ein Zukunftsbild nimmt.
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K apitel IV Von den verschiedenen Arten der Erörteru ng des Geistes 24 1. Das Fortwirken der Vorstellungen im Geist, ihre Reihenfolge oder Auswirkung einer nach der anderen, mag zufällig und unzusammenhängend sein, wie meistenteils in Träumen; und es mag regelmäßig sein, so wenn der frühere Gedanke den späteren einführt; und das nennt man Gedankengang (discourse of the mind). Weil aber das Wort Gedankengang (discourse) für gewöhnlich für den Zusammenhang und die Auswirkung genommen wird, so werde ich dies (um Mehrdeutigkeit zu vermeiden) GEDANKENABFOLGE (DISCURSION) nennen.25 2. Die Ursache des Zusammenhangs oder der Auswirkung der einen Vorstellung auf eine andere ist ihr erster Zusammenhang bzw. die Folgewirkung zu dem Zeitpunkt, in dem sie von der Sinnesempfindung erzeugt werden. Um ein Beispiel zu geben: Vom Heiligen Andreas läuft der Geist zum Heiligen Petrus, weil ihre Namen zusammen gelesen wurden; vom Heiligen Petrus aus demselben Grund zu einem Fels; vom Fels zur Grundlegung, weil wir sie zusammen sehen; und aus demselben Grund von der Grundlegung zur Kirche, von der Kirche zum Volk und vom Volk zum Aufruhr.26 Und entsprechend diesem Beispiel vermag der Geist von fast jedem Ding zu jedem anderen Ding zu laufen.27 Aber so wie bei der Sinnesempfi ndung die Vorstellung einer Ursache und die einer Wirkung aufeinander folgen, so können sie es nach der sinnlichen Wahrnehmung auch in der Einbildung. Und meistenteils tun sie das auch. Die Ursache dafür ist das Begehren (appetite) derjenigen, die, da sie eine Vorstellung vom Zweck haben, entsprechend auch eine Vorstellung vom nächstfolgenden Mittel für diesen Zweck haben. Etwa derart, wie ein Mensch, ausgehend vom Gedanken der Ehre, die er begehrt, zum Gedanken der Klugheit als nächstfolgendem Mittel kommt und von da aus zum Gedanken ans
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Studium, das wiederum das nächstliegende Mittel für Klugheit ist etc. 3. Um eine derartige Gedankenabfolge zu vermeiden, durch die wir von einer jeglichen Sache zu jeder anderen Sache fortschreiten, gibt es von der anderen Gattung verschiedene Arten. Zunächst in den Sinnesempfi ndungen selbst: Hier gibt es bestimmte Zusammenhänge der Vorstellungen, die wir ORTUNG (RANGING) nennen können. Beispiele dafür sind: Ein Mann richtet seine Augen auf den Boden, um ein kleines, verloren gegangenes Ding zu suchen; die Hunde, die bei der Jagd nach einer verlorenen Spur suchen; das Umherstreifen der Wachtelhunde (spaniels). Und damit nehmen wir einen beliebigen Ausgangspunkt. 4. Eine andere Art der Gedankenabfolge ist es, wenn das Begehren einem Menschen seinen Ausgangspunkt setzt, so wie im vorigen Beispiel angeführt: Wo die Ehre, auf die das Begehren des Menschen gerichtet ist, ihn über die Mittel nachdenken lässt, um sie zu erlangen, und dann wieder auf das nächstliegende Mittel etc. So etwas nennen die Lateiner sagacitas, SPÜRSINN (SAGACITY), und wir können es Jagen oder Fährtensuchen nennen, so wie Hunde durch den Geruch den Wildtieren nachspüren und die Menschen sie ihren Fußspuren folgend jagen; oder Menschen Reichtümern, Rang oder Wissen nachjagen. 5. Es gibt jetzt noch eine andere Art der Gedankenabfolge, die mit dem Begehren, etwas Verlorenes wiederzufinden, ihren Anfang nimmt. Vom Gegenwärtigen schreitet sie rückwärts, vom Gedanken an den Ort, wo wir es vermissen, zum Gedanken an den Ort, von dem wir letzthin kamen, und vom Gedanken daran zum Gedanken an den davorliegenden Ort, bis wir jenen Ort in unserem Geist haben, an dem wir die Sache hatten, die wir vermissen: Und das nennen wir RÜCKERINNERUNG (REMINISCENCE). 6. Die Erinnerung von der Abfolge eines Dinges zu einem anderen, also von dem, was zuvor war und was daraus folgte und was die Dinge begleitete, wird VERSUCH (EXPERIMENT) genannt, einerlei ob dasselbe nun von uns freiwillig gemacht wird, etwa
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wenn ein Mensch irgendein Ding ins Feuer wirft, um zu sehen, wie das Feuer darauf wirkt, oder ob es nicht von uns gemacht wird, wenn wir uns etwa an einen schönen Morgen nach einem Abendrot erinnern. Viele Versuche gemacht zu haben, lässt uns von ERFAHRUNG (EXPERIENCE) sprechen, was nichts anderes ist als die Erinnerung daran, was aus dem Vorausgehenden mit welchen Auswirkungen folgte. 7. Kein Mensch kann in seinem Geist eine Vorstellung von der Zukunft haben, weil die Zukunft noch nicht ist. Aber aus unseren Vorstellungen von Vergangenem bilden wir Zukünft iges, oder eher, nennen wir Vergangenes jeweils Zukünft iges. Nachdem etwa ein Mensch sich daran gewöhnt hat zu sehen, wie einem bestimmten Vorausgehenden eine bestimmte Wirkung folgt, so wird er, wenn er sieht, dass etwas Derartiges gerade geschieht, erwarten, dass das Gleiche folgen wird, was damals folgte. Um ein Beispiel zu geben: Weil ein Mensch oft gesehen hat, dass einem Vergehen Strafe folgte, wird er dann, wenn er ein Vergehen sieht, denken, dass die Strafe darauf folgen wird. Was aber auf Gegenwärtiges folgt, das nennen die Menschen Zukunft. Und so machen wir die Erinnerung zur Voraussicht oder Vermutung der kommenden Dinge oder zur ERWARTUNG (EXPECTATION) oder VORWEGNAHME (PRESUMPTION) des Zukünft igen.28 8. Auf dieselbe Art denkt ein Mann, wenn er gegenwärtig etwas sieht, was er zuvor gesehen hat, dass das, was dem zuvor Gesehenen vorausgegangen ist, ebenso dem vorausgeht, was er jetzt sieht. Wenn er beispielsweise gesehen hat, dass nach dem Feuer Asche zurückbleibt, und er jetzt Asche sieht, schließt er daraus wiederum, dass es gebrannt hat. Und das nennen wir VERMUTUNG (CONJECTURE) des Vergangenen oder Vorwegnahme von Tatsächlichem.29 9. Wenn ein Mensch so oft beobachtet hat, wie einem bestimmten Vorausgegangenen eine bestimmte Wirkung folgt, dann wird er immer, wenn er Vorausgehendes sieht, nach den Auswirkungen Ausschau halten; und wenn er die Auswirkungen bemerkt, dann
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wird er die Annahme treffen, dass es das entsprechende Vorausgehende gab; und er wird dann sowohl das Vorausgehende als auch die Auswirkung jeweils als ZEICHEN (SIGNS) des einen für das andere werten, so wie Wolken das Anzeichen für kommenden Regen sind und der Regen von vergangenen Wolken.30 10. Regelmäßig denken die Menschen, dass diese Aufnahme von Zeichen aus der Erfahrung das ist, was den Unterschied macht zwischen den einfachen Menschen und den Menschen mit Klugheit, unter der sie üblicherweise eines Menschen gänzliche Fähigkeit oder geistige Kraft verstehen. Aber das ist ein Irrtum; diese Zeichen sind nichts als Vermutungen; und je nachdem, ob sie oft oder selten fehlgingen, so ist auch die aus ihnen erwachsende Versicherung mehr oder weniger; aber sie ist nie vollständig und evident; auch wenn ein Mensch bis heute immer gesehen hat, dass Tag und Nacht aufeinander folgen, so kann er doch daraus nicht schließen, dass sie es weiterhin tun werden oder dass sie es seit Ewigkeiten getan haben. Erfahrung lässt auf nichts Allgemeines schließen.31 Wenn die Zeichen zwanzigmal treffen und einmal fehlgehen, dann kann ein Mensch zwanzig zu eins auf den Treffer setzen, aber er kann es nicht für eine Wahrheit nehmen. Aber natürlich ist deshalb klar, dass die am besten voraussagen werden, die die meiste Erfahrung haben, weil sie die meisten Zeichen haben, um Vermutungen zu treffen; und das ist auch der Grund, warum alte Menschen weiser sind und also besser vermuten als junge, ceteris paribus [unter gleichen Voraussetzungen]. Älter zu sein heißt, sich an mehr zu erinnern, und Erfahrung ist nichts sonst als Erinnerung. Und Leute mit rascher Einbildungskraft, ceteris paribus, sind weiser als diejenigen, deren Einbildungen langsam sind, weil sie in weniger Zeit mehr beobachten. Und KLUGHEIT (PRUDENCE) ist nichts anderes als aus Erfahrung zu vermuten oder Zeichen der Erfahrung umsichtig zu verwenden, das heißt, sich der Versuche, von denen einer solche Zeichen bezieht, vollständig zu erinnern, denn sonst sind die Fälle nicht ähnlich, auch wenn es so scheint.
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11. Wie es bei den vermuteten Dingen, die die Vergangenheit und die Zukunft betreffen, die Klugheit ist, um aus der Erfahrung zu erschließen, was mit Wahrscheinlichkeit geschehen wird oder was schon geschehen ist, so ist es ein Irrtum, daraus zu schließen, dass etwas so oder so genannt wird. Das heißt, wir können nicht aus der Erfahrung schließen, dass irgendeine Sache gerecht oder ungerecht, wahr oder falsch genannt wird, noch können wir irgendeinen allgemeinen Satz aufstellen, es sei denn aus der Erinnerung an den Gebrauch von Namen, die den Dingen von den Menschen nach Belieben beigelegt wurden. Zum Beispiel: Einen Urteilsspruch gehört zu haben (für denselben Fall denselben Spruch tausend Mal), ist nicht genug, um daraus zu schließen, dass der Spruch gerecht ist (wiewohl die meisten Menschen keine anderen Mittel haben, um ihre Schlüsse zu ziehen); indes ist es notwendig, um einen derartigen Schluss zu ziehen, durch viele Erfahrungen dem nachzuspüren und herauszufinden, was die Menschen meinen, wenn sie Dinge gerecht und ungerecht und ähnlich nennen. Ferner ist beim Schlussfolgern aus Erfahrung ein weiterer Vorbehalt zu beachten, wie er Kap. II, 10 zu entnehmen ist, und zwar, dass wir schließen, Dinge seien außer uns, die in uns sind.
K apitel V Über Namen, Überlegu ngen u nd vom Diskurs der Zu nge 32 1. Sieht man, dass im Geist die Reihenfolge der Vorstellungen (wie schon zuvor gesagt wurde) verursacht wird durch die Reihenfolge, in der sie zueinander standen als sie durch die unmittelbare Sinnesempfi ndung hervorgerufen wurden, und dass es keine Vorstellung gibt, die wegen der unzähligen Akte der Wahrnehmung nicht unmittelbar vor oder nach unzähligen anderen erzeugt wurde, dann muss daraus unbedingt folgen, dass eine Vorstellung auf die andere folgt nicht nach unserer freien Wahl
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und nicht nach dem Bedürfnis, das wir danach haben, sondern dass es ganz zufällig ist, was unseren Geist dazu bringt, solche Dinge zu hören oder zu sehen. Die Erfahrung, die wir davon haben, zeigt sich bei solchen wilden Tieren, die zwar die Voraussicht haben, die Reste und den Überschuss ihrer Mahlzeiten zu verstecken, denen aber dennoch die Erinnerung an den Ort ermangelt, an dem sie diese Reste versteckt haben, wodurch sie dann, wieder hungrig, davon keinen Nutzen haben. Der Mensch hingegen, der sich in dieser Hinsicht über die Natur der Tiere zu erheben beginnt, hat die Ursache dieses Mangels bemerkt und sich seiner erinnert; und um diese Sache zu verbessern, ist er auf die Idee gekommen, eine sichtbare oder sonst wahrnehmbare Markierung aufzustellen, so dass in ihm, wenn er sie wieder sieht, jener Gedanke in seinem Geist wieder hochkommt, den er hatte, als er die Markierung aufstellte. Eine MARKIERUNG (MARK) ist deshalb ein wahrnehmbares Ding, das der Mensch aus freien Stücken für sich selbst aufgerichtet hat, zum Zweck, sich dadurch an etwas Vergangenes zu erinnern, wenn es wiederum Gegenstand seiner Sinnesempfindung wird; wie Menschen, die an einem Felsen im Meer vorbeigekommen sind, eine Markierung errichteten, um sich dadurch der früheren Gefahr zu erinnern und sie zu meiden. 2. Unter diesen Markierungen sind diejenigen menschlichen Artikulierungen (die wir Namen oder Bezeichnung der Dinge nennen) für das Ohr wahrnehmbar, mit denen wir einige Vorstellungen der Dinge in unseren Geist zurückrufen, denen wir diese Namen oder Benennungen gegeben haben. Wie uns die Benennung »weiß« die Erinnerung an die Qualität solcher Dinge gibt, die jene Farbe oder Vorstellung in uns erzeugte. Ein NAME (NAME) oder eine BEZEICHNUNG (APPELLATION) ist deshalb die freiwillig festgesetzte Artikulation eines Menschen zum Zweck der Markierung, um in seinem Geist eine bestimmte Vorstellung wachzurufen, die den Gegenstand betrifft, für den er festgesetzt wurde.33 3. Benannte Dinge sind entweder die Gegenstände selbst, wie etwa ein Mensch oder die Vorstellung selbst, die wir von einem
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Menschen haben, wie Gestalt oder Bewegung; oder irgendein Mangel, wenn wir etwa daran denken, dass ihm etwas fehlt, das wir an ihm erwarten; so, wenn wir meinen, er sei nicht gerecht, nicht endlich, dann bezeichnen wir ihn als ungerecht und unendlich, womit ein Mangel oder ein Fehler entweder in dem bezeichneten Ding angezeigt wird oder in uns, die wir diese Bezeichnung gaben. Und den Mängeln selbst geben wir dann die Namen Ungerechtigkeit und Unendlichkeit. Es gibt hier also zwei Arten von Namen: Einer von den Dingen, von denen wir uns etwas vorstellen, oder von den Vorstellungen selbst, die POSITIV (POSITIVE) genannt werden; der andere von Dingen, in denen wir Mängel oder Fehler ausmachen, und diese Namen werden ABERKENNEND (PRIVATIVE) genannt. 4. Die Annehmlichkeit der Namen macht uns, anders als die Tiere, die der Namen ermangeln, und anders als ein Mensch, der keine Namen benutzt, fähig zur Wissenschaft. Wie ein Tier aus Mangel an Ordnungsnamen (eins, zwei, drei etc., die wir Zahlen nennen) nicht eins oder zwei seiner Jungen vermisst, so würde auch ein Mensch, ohne mit dem Mund oder innerlich die Zahlworte zu wiederholen, nicht wissen, wie viele Geldstücke oder andere Dinge vor ihm liegen. 5. Sichtlich gibt es mehrere Vorstellungen von ein und derselben Sache und wir geben ihr für eine jede Vorstellung von ihr einen besonderen Namen. Daraus folgt, dass wir für ein und dieselbe Sache viele Namen oder Kennzeichen haben, so wie wir demselben Mann die Kennzeichnungen gerecht, tapfer etc. für verschiedene Tugenden geben und stark, schön etc. für verschiedene Eigenschaften des Körpers. Und nochmals: Da wir von verschiedenen Dingen die gleichen Vorstellungen beziehen, müssen viele Dinge notwendigerweise dieselbe Bezeichnung haben. In Hinsicht auf alle Dinge, die wir sehen, geben wir denselben Namen »sichtbar«; und allen Dingen, die wir bewegt sehen, geben wir die Bezeichnung »beweglich«. Und diejenigen Namen, die wir vielen geben, werden für sie alle ALLGEMEIN (UNIVERSAL) genannt,
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so wie der Name »Mensch« für jeden Einzelnen der Menschheit. Bezeichnungen, die wir nur einem einzigen Ding geben, werden individuell genannt, oder EINMALIG (SINGULAR), wie etwa für Sokrates und andere eigentlichen Namen, oder durch die Umschreibung »der Verfasser der Ilias« für Homer. 6. Diese Allgemeinheit eines Namens für viele Dinge war die Ursache dafür, dass die Menschen denken, dass die Dinge selbst allgemein sind. Und ganz ernstlich behaupten sie, dass es außer Peter und John und allen übrigen Menschen, die es in der Welt gibt, gab oder geben wird, jetzt noch etwas anderes gibt, das wir »Mensch« nennen, Mensch im allgemeinen, sich selbst betrügend, indem sie das Allgemeine oder die allgemeine Bezeichnung für das Ding nehmen, das sie bezeichnen. Wenn nun jemand von einem Maler wünschte, ihm das Bild eines Menschen zu malen, dann sagt das nicht mehr, als dass er das Bild eines Menschen im Allgemeinen wünscht; er meinte damit nicht mehr, als dass der Maler wählen soll, welchen Menschen zu malen ihm beliebt, was notwendigerweise einer von denen sein muss, die es gibt, gab oder sein mag, keinen von denen, die allgemein sind. Wenn er aber von ihm verlangte, das Bild des Königs zu malen oder irgendeiner bestimmten Person, dann beschränkt er den Maler auf diese eine Person, die er selbst ausgewählt hat. Es versteht sich daher, dass es nichts Allgemeines außer den Namen gibt, die deshalb auch unbeschränkt genannt werden, weil wir sie nicht selbst beschränken, sondern deren Anwendung den Hörern überlassen, während ein einzelner Name auf eines von den vielen Dingen begrenzt oder eingeschränkt ist, das wir damit kennzeichnen. So wenn wir, auf einen bestimmten Menschen zeigend, sagen, »dieser Mensch« oder ihm seinen eigentlichen Namen geben oder in anderer ähnlicher Weise. 7. Die allgemeinen und vielen Dingen gemeinsam zukommenden Vorstellungen werden nicht immer (wie es doch sein sollte) allen Einzelnen wegen der in ihnen allen ähnlichen Vorstellungen und Erwägungen gegeben, und das ist die Ursache dafür, dass
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viele von ihnen keine regelmäßige Bedeutung haben, sondern in unseren Geist andere Gedanken bringen als diejenigen, für die sie bestimmt waren. Das wird MEHRDEUTIGKEIT (EQUIVOCAL) genannt. So bedeutet beispielsweise das Wort Glaube (faith) dasselbe wie Überzeugung (belief); gelegentlich bedeutet es im Speziellen die Überzeugung, die einen Christen ausmacht; und manchmal bedeutet es, ein Versprechen einzuhalten. Und es gibt kaum ein Wort, das nicht durch verschiedene Redezusammenhänge und durch die Verschiedenheit von Aussprache und Gestik mehrdeutig ist. 8. Diese Mehrdeutigkeit der Namen macht es schwierig, jene Vorstellungen zurückzugewinnen, für welche der Name bestimmt war; und das nicht nur in der Sprache anderer Menschen, in welcher wir die Verschiebung und den Anlass und den Zusammenhang der Rede und überdies die Worte selbst zu bedenken haben, sondern auch in unserer eigenen Rede, die, ohne dass sie für unsere eigenen Vorstellungen repräsentativ wäre, aus Sitte und Brauch und aus den allgemeinen Üblichkeiten des Redens herrührt. Es ist daher eine besondere Fähigkeit eines Menschen, sich von der Mehrdeutigkeit der Worte, des Zusammenhangs und den anderen Umständen der Sprache freizumachen und die wahre Bedeutung des Gesagten herauszufinden. Und das ist es, was wir VERSTEHEN (UNDERSTANDING) nennen.34 9. Aus zwei Bezeichnungen machen wir mit Hilfe des Wörtchens »ist«, oder etwas Gleichwertigem, eine ZUSTIMMUNG (AFFIRMATION) oder eine VERNEINUNG (NEGATION), in jedem Fall durch das, was wir in der Schule Aussage (proposition) nennen, die aus zwei durch das angeführte Zeitwort verbundenen Vorstellungen besteht; so ist z. B. eine Aussage: Ein Mensch ist ein lebendes Geschöpf; oder dies: Der Mensch ist nicht rechtschaffen. Ersteres wird Zustimmung genannt, weil die Bezeichnung »lebendes Geschöpf« positiv ist, Letzteres eine Verneinung, weil fehlende Rechtschaffenheit aberkennend ist. 10. In jeder Aussage, mag sie zustimmend oder verneinend sein,
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umfasst die letztere Bezeichnung die erstere, so wie in der Aussage »Wohltätigkeit ist eine Tugend« der Name »Tugend« den Namen »Wohltätigkeit« umfasst (und viele anderen Tugenden darüber hinaus), und dann wird die Aussage als WAHR (TRUE) oder WAHRHEIT (TRUTH) bezeichnet, denn die Wahrheit und eine wahre Aussage ist ein und dasselbe. Wenn andernfalls die spätere Bezeichnung die frühere nicht umfasst, wie etwa in dieser Aussage: »Jeder Mensch ist gerecht«, der Name »gerecht« umfasst nicht jeden Menschen, denn ungerecht ist der Name für den weitaus größeren Teil der Menschen, dann wird über die Aussage gesagt, sie ist FALSCH (FALSE) oder eine Unrichtigkeit, denn die Unrichtigkeit und eine falsche Aussage sind ein und dasselbe. 11. Wie aus zwei Aussagen, ob nun beide bejahend sind oder nur einer bejahend und der andere negativ ist, ein SYLLOGISMUS (SYLLOGISM) gemacht wird, das versage ich mir zu schreiben. Alles, was über Namen oder Aussagen gesagt wurde, obwohl notwendig, ist doch nur trockene Rede; und dies ist nicht der Ort für die ganze Kunst der Logik, die ich, wollte ich weiter in sie eindringen, 35 weiter verfolgen müsste. Abgesehen davon ist es auch gar nicht notwendig, denn es gibt wenige Menschen, die nicht so viel natürliche Logik besitzen, um dadurch unterscheiden zu können, ob irgendeine Schlussfolgerung, wie ich sie nachfolgend in dieser Abhandlung machen werde, gut oder schlecht gefasst ist.36 Nur so viel sage ich an dieser Stelle, dass der Aufbau von Syllogismen das ist, was wir FOLGERUNG (RATIOCINATION) nennen.37 12. Zieht ein Mensch Schlüsse aus Prinzipien, die durch Erfahrung für unzweifelhaft befunden wurden, und geht er dabei allen Sinnestäuschungen und der Mehrdeutigkeit von Wörtern aus dem Weg, dann sagt man von der Schlussfolgerung, zu der er kam, sie entspricht der gesunden Vernunft ; wenn aber ein Mensch aus seiner Schlussfolgerung durch eine berechtigte Folgerung was auch immer ableitet, das im Widerspruch zur offenkundigen Wahrheit steht, dann sagt man über ihn, er hat gegen
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die Vernunft geschlussfolgert; und eine derartige Schlussfolgerung wird Absurdität genannt.38 13. So wie die Erfindung von Namen notwendig gewesen ist, um die Menschen aus ihrer Ahnungslosigkeit herauszuziehen, indem sie aus ihrer Erinnerung die notwendige Übereinstimmung einer Vorstellung mit einer anderen hervorrufen; so hat dies auf der anderen Seite die Menschen auch auf einen Abweg gebracht: dadurch nämlich, dass sie zwar durch den Nutzen der Wörter und durch Folgerungen im Wissen die wilden Tiere übertreffen, dass sie aber durch die damit einhergehenden Unannehmlichkeiten sie auch in ihren Irrtümern übertreffen. Denn wahr und falsch sind Dinge, die den Tieren nicht einfallen, sie haben, anders als die Menschen, weder Aussagen und Sprache noch können sie Folgerungen ziehen, um dadurch eine Unwahrheit durch eine andere zu vervielfachen.39 14. Es ist die Natur fast eines jeden körperlichen Dinges, das oft in der gleichen Weise bewegt wird, dass es fortwährend eine immer größer und größer werdende Leichtigkeit und Eignung für dieselbe Bewegung erhält, weil über die Zeit das gleiche gewohnheitsmäßig geworden ist, sodass es, um die Bewegung zu erzeugen, nichts weiter braucht, als sie zu beginnen. Die Leidenschaften des Menschen sind, so wie sie der Auslöser aller seiner willentlichen Bewegungen sind,40 auch der Beginn seines Sprechens, also der Bewegung seiner Zunge. Und die Menschen, die danach dürsten, anderen ihr Inneres, also ihr Wissen, ihre Meinungen, Vorstellungen und Leidenschaften zu zeigen, und zu diesem Zweck auf die Sprache gekommen sind, haben durch dieses Mittel sämtliche Gedankenabfolgen ihres Geistes, die im vorigen Kapitel erwähnt wurden, auf die Bewegung ihrer Zungen verlagert, in den Abtausch von Worten. Und Vernunft (ratio) ist jetzt meistenteils Rede (oratio), in der die Üblichkeiten so große Macht haben, dass der Geist nur das erste Wort einflüstert und der Rest gewohnheitsmäßig folgt, ohne vom Verstand begleitet zu werden.41 So wie es mit den Bettlern ist, wenn sie ihr Vaterunser aufsagen, diese
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Worte aneinanderfügen und solcherart, wie sie es während ihrer Erziehung von ihren Ammen, von ihren Kumpanen oder von ihren Lehrern gelernt haben, kein Bild oder keine Vorstellung in ihrem Geist haben, die mit den von ihnen gesprochenen Worten übereinstimmen. Und so wie sie es untereinander gelernt haben, so lehren sie es der Nachkommenschaft. Bedenken wir nun die Macht dieser Täuschungen, wie im Kap. II, 10 erwähnt, wie unstet die Namen festgelegt wurden, wie sehr diese der Mehrdeutigkeit ausgesetzt sind, wie breit gefächert durch die Leidenschaft (selten stimmen zwei Menschen darüber überein, was »gut« und was »böse«, was Großzügigkeit und was Verschwendung, was Heldenmut und was Unbesonnenheit genannt wird) und wie sehr die Menschen das Opfer von Fehlschlüssen (paralogism) oder des Irrtums beim Nachdenken sind, dann darf ich wohl zum Schluss kommen, dass es unmöglich ist, so viele Irrtümer irgendeines Menschen zu berichtigen, wie sie sich aus diesen Ursachen notwendig ergeben,42 ohne von Neuem bei den allerersten Grundlagen all unseres Wissens, der Sinnesempfi ndung, zu beginnen und, anstatt in Büchern, systematisch in den jeweils eigenen Vorstellungen zu lesen. In diesem Sinne nehme ich das nosce te ipsum [erkenne dich selbst]43 als ein Gebot, das des Ansehens wert ist, das es gewonnen hat.
K apitel VI Über Wissen, Meinen u nd Glauben 44 1. Irgendwo gibt es eine Geschichte von jemandem, der vortäuschte, auf ganz wundersame Weise durch den Heiligen Alban in der Stadt, in der er geboren wurde, oder durch einen anderen Heiligen in der Stadt des Heiligen Alban von seiner Blindheit geheilt worden zu sein. Der Herzog von Gloucester, der gerade zugegen war, wollte sich von der Wahrheit dieses Wunders überzeugen und fragte den Mann: »Welche Farbe ist das?«, und der antwortete: »Das ist grün«, womit er sich selbst aufdeckte und
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für die Bauernfängerei bestraft wurde. Zwar mochte er durch die eben wiederhergestellte Sehkraft zwischen grün und rot und allen anderen Farben unterscheiden können, so gut wie die, die ihn danach fragten, aber unmöglich konnte er auf den ersten Blick wissen, welche von ihnen grün oder rot oder mit einem anderen Namen bezeichnet wird. Dadurch können wir verstehen, dass es zwei Arten des Wissens gibt, wovon die eine nichts anderes ist als die Sinnesempfindung oder ursprüngliches Wissen (wie ich schon am Beginn des zweiten Kapitels sagte) und die Erinnerung daran. Die andere Art des Wissens wird Wissenschaft oder das Wissen um die Wahrheit der Aussagen und das Wissen darum, wie Dinge bezeichnet werden, genannt und rührt aus dem Verstehen. Beide Arten sind nichts als Erfahrung. Die erstere ist die Erfahrung von den Wirkungen der Dinge, die auf uns von außen einwirken, und die letztere die Erfahrung der Menschen, die sie vom richtigen Gebrauch der Namen in einer Sprache haben. Und die ganze Erfahrung ist (wie ich gesagt habe) nichts als Erinnerung, alles Wissen ist Erinnerung, und das in unseren Büchern bewahrte Register der ersten Art nennen wir Geschichte, während wir die Register der zweiten Art die Wissenschaften nennen. 2. Das Wort Wissen impliziert notwendigerweise zwei Dinge: das eine ist Wahrheit, das andere ist Evidenz.45 Denn was nicht wahr ist, kann nie gewusst werden. Lässt man etwa einen Menschen sagen, er kenne eine Sache noch so gut, erweist sich dieselbe aber später als falsch, so wird er zu dem Geständnis getrieben, dass es kein Wissen, sondern nur eine Meinung war. Ähnlich, wenn die Wahrheit nicht belegt ist, wiewohl ein Mensch sie behauptet, denn dann ist sein Wissen davon nicht mehr als das derjenigen, die das Gegenteil behaupten. Wenn die Wahrheit genug wäre, um Wissen zu erzeugen, dann würden alle Wahrheiten gewusst; das aber ist nicht so.46 3. Was Wahrheit ist, das wurde im vorangehenden Kapitel definiert. Was Evidenz ist, das stelle ich jetzt fest. Es ist nämlich die Gleichzeitigkeit der Vorstellung eines Menschen mit den Wor-
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ten, die solche Vorstellungen beim Verstehen (act of ratiocination) kennzeichnen. Wenn ein Mensch aus der Gewohnheit, so zu sprechen, bloß mit seinen Lippen nachdenkt, wofür der Geist nur den Anfang nahelegte, und den Worten seines Mundes nicht mit den Vorstellungen seines Geistes folgt, dann sind doch seine Folgerungen, mag sein Verstehen auch mit richtigen Aussagen beginnen und mit einwandfreien Schlüssen fortgesetzt werden und er so zu immer wahren Schlussfolgerungen kommen, dann ist ihm doch seine Schlussfolgerung nicht evident, weil es an der Gleichzeitigkeit der Vorstellung mit seinen Worten fehlt. Denn wenn die Worte allein ausreichen würden, dann könnte man auch einem Papagei ebenso lehren, die Wahrheit zu wissen, wie sie auszusprechen. Evidenz ist für die Wahrheit dasselbe wie der Pflanzensaft für den Baum, insofern dieser dem Stamm und den Ästen entlang fl ießt und sie am Leben hält. Wenn er sie verlässt, sterben sie. Denn diese Evidenz, die unseren Worten Sinn gibt, ist das Leben der Wahrheit; ohne sie ist die Wahrheit nichts wert. 4. Das Wissen, das wir WISSENSCHAFT (SCIENCE) nennen,47 defi niere ich daher, von irgendeinem Anfang oder von Prinzipien der Sinnesempfi ndung ausgehend, als Evidenz der Wahrheit. Die Wahrheit einer Aussage ist niemals evident, solange wir nicht den Sinn der Worte oder Ausdrücke begreifen, aus denen sie besteht, denn diese sind immer Vorstellungen des Geistes. Wir können diese Vorstellungen auch nicht erinnern ohne das Ding, das sie vermittels der Sinnesempfi ndungen erzeugt hat. Der erste Grundsatz des Wissens ist daher, dass wir mancherlei Vorstellungen haben; der zweite, dass wir die Dinge, von denen sie Vorstellungen sind, auf diese oder jene Weise benannt haben; der dritte ist, dass wir diese Namen derart verbunden haben, dass wir sichere Aussagen machen können; der vierte und letzte ist, dass wir diese Aussagen so miteinander verbunden haben, dass sie zu einer abschließenden Folgerung führen. Und durch diese vier Schritte ist die Schlussfolgerung gewusst und evident, und über die Wahrheit des Schluss heißt es dann, sie sei bekannt. Und von diesen
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zwei Arten des Wissens, wovon die frühere Tatsachenerfahrung und die spätere Wahrheitsevidenz ist, wobei die frühe, wenn sie bedeutend ist, Klugheit genannt wird und üblicherweise die spätere sowohl von antiken wie auch von modernen Autoren, wenn sie besonders ist, WEISHEIT (SAPIENS or wisdom); und zu dieser letzteren ist nur der Mensch befähigt, der früheren sind auch die wilden Tiere teilhaft ig. 5. Von einer Aussage sagt man, sie sei vermutet, wenn sie, wiewohl nicht evident, dennoch eine Zeit lang anerkannt wird; dies zu dem Zweck, sie mit anderen Aussagen zu verknüpfen, sodass wir irgendetwas schlussfolgern können und weitergehen von Schlussfolgerung zu Schlussfolgerung, bis wir bei der Verfolgung dieser Fährte sehen, ob sie uns zu einer absurden oder unmöglichen Schlussfolgerung führt, und wenn sie das tut, dann wissen wir, dass diese Vermutung falsch sein muss. 6. Wenn wir aber vielen Schlussfolgerungen nachlaufen und auf keine abwegige (absurd) stoßen, dann werten wir diese Annahme als glaubhaft. Ebenso nehmen wir jedwede von uns durch einen Denkfehler oder durch das Vertrauen in andere Menschen begründete und als Wahrheit anerkannte Aussage als glaubhaft an. Und über all diese Aussagen, wie sie durch Vertrauen oder Irrtum anerkannt werden, können wir nicht sagen, dass sie gewusst werden, sondern wir denken nur, dass sie wahr sind; und die Anerkennung dieser Aussagen wird MEINUNG (OPINION) genannt.48 7. Vorzugsweise dann, wenn die Meinung aus dem Vertrauen in andere Menschen heraus anerkannt wird, sagt man, dass sie geglaubt wird; und deren Anerkennung wird GLAUBE (BELIEF) und manchmal Vertrauen (faith) genannt.49 8. Es ist entweder Wissenschaft oder Meinung, was wir gemeinhin unter dem Wort Gewissen verstehen. Denn Menschen sagen, was sie niemals täten, wenn sie es mit Skepsis bedächten, dass dies und das an seiner Sache wahr sei oder sie dies in ihrem Gewissen hätten;50 und dass sie dies deshalb wüssten oder dächten, dass sie es als Wahrheit wüssten. Aber von Menschen, die etwas
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über ihr Gewissen sagen, kann man nicht annehmen, dass sie mit Sicherheit die Wahrheit über das wissen, was sie sagen. So bleibt dann, dass dieses Wort von jenen verwendet wird, die eine Meinung haben, nicht nur von der Wahrheit der Sache, sondern auch von ihrem Wissen darüber. Deshalb bezeichnet das Gewissen, wie die Menschen das Wort üblicherweise gebrauchen, eine Meinung und zeugt nicht so sehr von der Wahrheit der Aussage, als von ihrem eigenen Wissen von der Sache, dem die Wahrheit der Aussage folgt. GEWISSEN (CONSCIENCE) definiere ich deshalb als Meinung von Evidenz. 9. Der Glaube,51 also die Anerkennung von Aussagen durch Vertrauen, ist in vielen Fällen nicht weniger frei von als das vollkommene und augenscheinliche Wissen. Weil es nichts gibt, was keine Ursache hat, so muss, wenn es einen Zweifel gibt, irgendeine Ursache dafür erdacht werden. Nun gibt es viele Dinge, die wir durch den Bericht anderer empfangen, an dem zu zweifeln unmöglich ist, um sich auch nur irgendeinen Grund des Zweifelns vorzustellen. Denn was kann der Übereinstimmung aller Menschen entgegengestellt werden, zumal in Dingen, die sie wissen können und keinen Grund haben, anders zu berichten, als sie es taten (so ist ein großer Teil unserer Darstellungen), es sei denn ein Mensch wollte sagen, dass sich alle Welt verschworen hat, um ihn zu täuschen. – Und so viel sei gesagt über Sinnesempfindungen, Einbildungen, Gedankenabfolge, Verstehen und Wissen, welche die Taten unserer Erkenntnis- oder Auffassungskraft sind. Die Kraft des Geistes, die wir Beweggrund nennen, unterscheidet sich von der Bewegungskraft des Körpers, denn die Bewegungskraft des Körpers ist diejenige, durch welche sie andere Körper bewegt, was wir Stärke nennen; aber die Bewegungskraft des Geistes ist diejenige, durch die der Geist dem Körper, in dem er besteht, animalische Bewegung gibt; und die Handlungen daraus sind unsere Neigungen und Leidenschaften, von denen ich nun sprechen werde.
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K apitel VII Über Vergnügen u nd Schmerz, gut u nd schlecht 52 1. In Kap. II, 8 wird gezeigt, dass Vorstellungen oder Erscheinungen nichts Wirkliches sind, sondern Bewegung in irgendeiner inneren Substanz des Kopfes; eine Bewegung, die dort nicht aufhört, sondern sich zum Herz hin fortsetzt und notwendigerweise dort die Bewegung, die vital genannt wird, entweder fördert oder behindert. Wenn sie sie fördert, dann wird sie VERGNÜGEN (DELIGHT), Zufriedenheit oder Genuss genannt, was nichts Wirkliches ist, sondern Bewegung innerhalb des Kopfes; und die Dinge, die es verursachen, werden als wohltuend, sehr angenehm oder mit irgendeiner gleichbedeutenden Bezeichnung benannt. Die Lateiner haben dafür jucunda, a juvando, von helfen; und dasselbe Vergnügen in Hinsicht auf den Gegenstand wird LIEBE (LOVE) genannt. Wenn aber solch eine Bewegung die vitale Bewegung schwächt oder verhindert, dann wird sie SCHMERZ (PAIN) genannt, und in Beziehung auf den Gegenstand, der den Schmerz verursacht, HASS (HATRED), den die Lateiner manchmal mit odium [Hass] und manchmal mit taedium [Ekel] ausdrücken. 2. Diese Bewegung, worin der Genuss oder der Schmerz besteht, ist ebenfalls eine Veranlassung oder eine Aufreizung, entweder dem Gegenstand, der erfreut, nahe zu rücken, oder sich von dem Gegenstand, der unangenehm ist, zurückzuziehen. Und diese Veranlassung ist die Anstrengung oder der innere Beginn der animalischen Bewegung, die, wenn der Gegenstand erfreut, VERLANGEN (APPETITE) genannt wird, und wenn er gegenwärtig unangenehm ist, ABNEIGUNG (AVERSION) genannt wird, in Hinsicht auf ein erwartetes Missvergnügen aber FURCHT (FEAR). Somit sind das Behagen, die Liebe und die Begierde, die auch Verlangen genannt wird, verschiedene Namen für verschiedene Gesichtspunkte derselben Sache. 3. Jeder Mensch nennt, aus seiner Sicht, das, was erfreut und ver-
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gnüglich für ihn ist, GUT (GOOD), und er nennt das SCHLECHT (EVIL), was ihn missvergnügt. Weil sich nun jeder Mensch von anderen in der körperlichen Verfassung unterscheidet, unterscheidet sich einer vom anderen auch in Hinsicht auf die übliche Unterscheidung von gut und schlecht. Etwas wie ein agathon haplôs, das heißt, etwas, das schlechthin gut ist, gibt es nicht. Denn selbst die Güte, die wir dem Allmächtigen zuschreiben, ist seine Güte uns gegenüber. Und wenn wir diejenigen Dinge gut und schlecht nennen, die uns erfreuen oder missvergnügen, so nennen wir Güte und Schlechtigkeit jene Eigenschaften oder Kräfte, wodurch sie es tun. Und die Anzeichen dieser Güte werden von den Lateinern mit einem Wort PULCHRITUDO [SCHÖNHEIT] und die Anzeichen des Schlechten TURPITUDO [HÄSSLICHKEIT] genannt, für die wir keine völlig entsprechenden Ausdrücke besitzen. 4. So wie wir alle Vorstellungen mit sofortiger Wirkung durch die Sinnesempfindung besitzen, sei es Vergnügen, Schmerz, Verlangen oder Furcht, so gilt dies auch für die Einbildungen nach der sinnlichen Wahrnehmung. Weil sie aber schwächere Einbildungen sind, so sind sie auch schwächere Genüsse oder geringerer Schmerz. 5. So wie das Verlangen der Beginn der animalischen Bewegung hin zu etwas ist, das uns erfreut, so ist das dortige Ankommen das ZIEL (END) dieser Bewegung, welches wir auch ihren Geltungsbereich, ihre Zielsetzung und die Zweckbestimmung der Bewegung nennen. Und wenn wir dieses Ziel erreichen, dann wird das Vergnügen, das wir dadurch haben, ERFÜLLUNG (FRUITION) genannt; und es sind also bonum [das Wohl] und finis [das Ziel] zwar verschiedene Namen, allerdings nur verschiedene Gesichtspunkte von derselben Sache. 6. Von den Zielen werden nun einige propinqui, also nähere, andere remoti, also fernere genannt. Wenn jedoch die Ziele, die näher liegen, mit denen verglichen werden, die weiter weg sind, dann werden sie nicht Ziele genannt, sondern Mittel und Weg hin
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zu diesen. Für ein allerhöchstes Ziel freilich, in dem die antiken Philosophen die Glückseligkeit angesiedelt und viel über den Weg dorthin nachgedacht haben, gibt es in dieser Welt kein solches Ding und keinen Weg dorthin, ebenso wenig wie nach Utopia. Solange wir leben, haben wir Begehrlichkeiten, und das Begehren hat stets ein weiteres Ziel zur Voraussetzung. Die Dinge, die uns erfreuen, wie die Möglichkeit oder die Mittel zu einem weiter weg liegenden Ziel, nennen wir NUTZBRINGEND (PROFITABLE) und ihre Realisierung NUTZEN (USE); und die Dinge, die nicht nutzen, NUTZLOS (VAIN). 7. Sieht man, dass jedes Vergnügen ein Verlangen ist und dass das Verlangen ein weiter weg liegendes Ziel zur Voraussetzung hat, dann kann es keine Zufriedenheit geben ohne weiteres Voranschreiten. Wir müssen uns deshalb nicht groß darüber wundern, wenn wir sehen, dass das Verlangen der Menschen, je mehr Reichtum, Ehre oder andere Macht sie erreichen, ständig mehr und mehr wächst. Deshalb zeigt sich auch bei denen, die allerhöchste Ehren und Reichtum erreicht haben, dass es einig in irgendeiner Kunstform zur Meisterschaft gebracht haben, wie etwa Nero in Musik und Dichtkunst, Commudus im Gladiatorenhandwerk. Und diejenigen, die sich nicht von so einer Sache affi zieren lassen, die müssen Abwechslung und Erholung von ihren Gedanken entweder im spielerischen oder geschäft lichen Wettbewerb finden. Die Menschen beklagen es völlig zu Recht als eine große Betrübnis, dass sie nicht wissen, was sie tun sollen. GLÜCKSELIGKEIT (FELICITY) besteht nicht darin, Erfolg zu haben, sondern voranzukommen.53 8. Wenige Dinge in dieser Welt gibt es, die nicht entweder eine Mischung aus gut und schlecht sind oder die notwendigerweise so miteinander verkettet sind, dass das eine nicht ohne das andere genommen werden kann. So sind etwa die sündigen Vergnüglichkeiten und die Bitternis der Bestrafung unzertrennbar, so wie für gewöhnlich auch Arbeit und Ehre. Wenn nun in der ganzen Kette der überwiegende Teil gut ist, dann wird das Ganze
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gut, und wenn das Schlechte überwiegt, dann wird das Ganze schlecht genannt. 9. Es gibt zwei Arten von Genüssen, wovon der eine scheinbar das körperliche Organ der Sinnesempfi ndung affiziert, und diesen nenne ich SINNLICH (SENSUAL). Der größte davon ist jener, wodurch wir eingeladen werden, unserer Gattung Fortbestand zu geben; und der nächste, wodurch der Mensch veranlasst wird zu essen, um sich selbst zu erhalten. Die andere Art von Vergnügen bezieht sich nicht auf einen irgendeinen Teil des Körpers und wird als Vergnügen des Geistes bezeichnet und ist das, was wir FREUDE (JOY) nennen. Nicht anders bei den Schmerzen: Einige von ihnen betreffen den Körper, wir kennen sie daher als körperliche Schmerzen, und andere nicht, und diese werden deshalb KUMMER (GRIEF) genannt.
K apitel VIII Von den Genüssen der Sin ne; von der Ehr e 54 1. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels habe ich vorausgesetzt, dass sich Bewegung und Erregung des Gehirns, was wir Vorstellung nennen, zum Herzen hin fortsetzt und dann Leidenschaft genannt wird. Damit habe ich mich verpflichtet nachzuforschen und anzugeben, soweit ich es vermag, aus welcher Vorstellung jede einzelne dieser Leidenschaften, von denen wir üblicherweise Notiz nehmen, herrührt. Weil nun aber die Dinge, die uns erfreuen und missfallen, nicht abzählbar sind und auf unzählige Weise ihren Weg gehen, haben die Menschen von ihren Leidenschaften nur sehr wenige wahrgenommen, und viele von ihnen sind auch ohne Namen. 2. Zunächst haben wir zu berücksichtigen, dass es drei Arten von Vorstellungen gibt. Eine davon ist gegenwärtig, das ist die Sinnesempfindung; eine andere, die vergangen ist, die Erinnerung;
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und die dritte, die zukünft ig ist, die wir Erwartung nennen;55 zusammen wurden sie deutlich im zweiten und dritten Kapitel erklärt. Und eine jeder dieser Vorstellungen ist gegenwärtiger Genuss. Was zunächst die körperlichen Genüsse angeht, die den Tast- und Geschmackssinn betreffen, so ist ihre Vorstellung die Sinnesempfindung selbst; das gilt auch für den Genuss aller Entlastungen der Natur. Zu allen Leidenschaften, die ich zuvor sinnliche Genüsse genannt habe, und zu ihren Gegenteilen, den sinnlichen Schmerzen, können wir die Genüsse und Missvergnüglichkeiten von Gerüchen hinzufügen, wenn einige von ihnen als organisch empfunden werden sollten, was sie meistens nicht sind, was zu Tage tritt durch die von jedem Menschen gemachte Erfahrung, dass nämlich dieselben Gerüche, wenn sie von anderen auszugehen scheinen, unangenehm berühren, auch wenn sie von uns selbst ausgehen; wenn wir aber denken, sie gingen von uns aus, dann sind sie nicht unangenehm, auch wenn sie von anderen kommen. Das darin liegende Missvergnügen besteht deshalb in der Vorstellung einer dadurch hervorgerufen Verletzung oder Gesundheitsschädigung und deshalb in der Vorstellung eines kommenden, nicht aber gegenwärtigen Übels. In Hinsicht auf das Vergnügen des Hörens ist es verschieden. Das Organ selbst wird dadurch nicht betroffen. Einfache Klänge erfreuen durch Beständigkeit und Gleichförmigkeit, wie der Klang einer Glocke oder einer Laute. Scheinbar ist die Gleichförmigkeit, mit der sich das Schlagen des Gegenstandes auf das Ohr fortsetzt, ein Genuss. Das Gegenteil wird Härte genannt, wie etwa das Knirschen und einige andere Klänge, die zuweilen den Körper betreffen, und dies mit einer Art von Schrecken, der bei den Zähnen seinen Anfang nimmt. Die Harmonie, also die Übereinstimmung vieler Töne, erfreut aus demselben Grund wie der Gleichklang, jenem Klang von gleichen Seiten, die gleich gespannt sind. Töne, die in ihrer Höhe verschieden sind, erfreuen durch den Wechsel von Ungleichheit und Gleichheit, das heißt, der höhere Ton wird zweimal angeschlagen während eines einmaligen Tönens eines
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anderen, wodurch sie jedes zweite Mal zusammen erklingen, was von Galileo im Ersten Dialog über örtliche Bewegungen genau bewiesen wird,56 wo er auch zeigt, dass zwei Töne, die um ein Fünftel an Höhe voneinander abweichen, dem Ohr dadurch angenehm sind, dass eine Gleichheit im Ertönen hier auf zwei Ungleichheiten folgt; der höhere Ton trifft nämlich das Ohr dreimal, wenn der andere es zweimal trifft. In derselben Art demonstriert er, worin die Wohlgefälligkeit der Harmonie und die Unlust aus einem Misston erwachsen, nämlich aus der Unstimmigkeit der Töne. Es gibt überdies noch Freud und Leid aus Klängen, das aus der Folge von einem Ton auf den anderen besteht, verschiedenartig je nach Betonung und Ausmaß, woraus sich ergibt, dass das, was erfreut, Melodie (air) genannt wird. Aus welchem Grund aber die Aufeinanderfolge in einem Ton und einem Maß melodischer ist als eine andere, das vermag ich nicht zu sagen. Ich vermute aber, der Grund liegt darin, dass einige von ihnen einige Leidenschaften nachmachen und wiederbeleben, die wir ansonsten nicht bemerken, und andere nicht. Indes jede Melodie gefällt nur eine Zeitlang, wie auch die Nachahmung. Auch die sichtbaren Vergnüglichkeiten bestehen in einer bestimmten Gleichförmigkeit von Farbe. Licht nämlich, die herrlichste aller Farben, wird durch gleichförmiges Wirken eines Gegenstandes erzeugt. Farbe aber ist (wie man sagen muss: gestörtes) ungleiches Licht, wie in Kap. II, 8 gesagt wurde. Und deshalb sind Farben umso glänzender, je mehr Gleichförmigkeit in ihnen ist. Und so wie Harmonie, die aus verschiedenen Klängen besteht, ein Genuss fürs Ohr ist, so kann die eine Mischung von verschiedenen Farben mehr als eine andere eine Harmonie fürs Auge sein. Es gibt noch ein weiteres, andersartiges Vergnügen für das Ohr, wofür nur Menschen mit musikalischer Ausbildung empfänglich sind und das nicht (wie die angeführten) eine gegenwärtige Vorstellung ist, sondern in ihrem eigenen Geschick frohlockt – von dieser Natur sind die Leidenschaften, von denen ich im Folgenden spreche.
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3. Die Vorstellung von der Zukunft ist nur ihre Erdichtung, die von der Erinnerung an Vergangenes ausgeht, insofern wir uns vorstellen, dass nachfolgend alles so sein wird, wie wir wissen, dass es gegenwärtig etwas gibt, was die Macht hatte, es zu erzeugen. Und dass irgendetwas jetzt die Macht hat, um eine spätere Sache zu erzeugen, das können wir uns nur aus der Erinnerung vorstellen, wonach dieses Etwas früher Derartiges hervorgebracht hat. Deswegen ist jede Vorstellung von der Zukunft die Vorstellung von einer Macht, die fähig ist, etwas zu erzeugen. Wer auch immer kommende Vergnügen erwartet, der muss sich dabei zugleich eine Kraft in sich selbst vorstellen, durch die er dieses Vergnügen erlangt. Und die Leidenschaften, über die ich sogleich sprechen werde, bestehen deshalb aus der Vorstellung von der Zukunft, also aus der Vorstellung einer vergangenen Kraft und dem erst kommenden Vorgang. Bevor ich nun weitergehe, muss ich zunächst über etwas sprechen, was diese Kraft betrifft.57 4. Unter dieser Kraft verstehe ich dasselbe wie die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die im ersten Kapitel erwähnt wurden, also die Fähigkeiten des Körpers zur Nahrungsaufnahme, zur Fortpflanzung und zur Bewegung; und die Fähigkeiten des Geistes, das Wissen; und überdies solch weitere Kräfte, durch die Reichtum, Stellung, Freundschaft oder Wohlwollen und Glück erworben werden; wobei Letzteres tatsächlich nichts anderes ist als die Gunst des Allmächtigen. Das Gegenteil dieser Fähigkeiten sind Unvermögen, Gebrechen oder entsprechende Mängel der genannten Kräfte. Da aber die Macht des einen Menschen den Wirkungen der Macht eines anderen Widerstand entgegensetzt und sie behindert, so kann Macht schlechthin nichts anderes sein als die Überlegenheit der Macht des einen über die des anderen. Stehen sich gleiche Kräfte gegenüber, dann richten sie sich wechselseitig zugrunde, und darum wird ihre Gegenüberstellung Streitigkeit genannt. 5. Die Zeichen, durch die wir von unserer eigenen Macht und Kraft wissen, sind diejenigen Taten, die von dieser Kraft ausge-
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hen; und die Zeichen, durch die ein anderer Mensch darum weiß, sind solche Handlungen, Gebärden, Haltungen und Reden, die derartige Kräfte für gewöhnlich erzeugen. Und das Wissen um die Macht wird EHRE (HONOUR) genannt; und einen Menschen (innerlich) zu ehren heißt, sich vorzustellen oder zu wissen, dass dieser Mensch die Möglichkeit oder das Übermaß an Macht über den hat, der mit ihm wetteifert oder sich mit ihm vergleicht. EHRENVOLL (HONOURABLE) sind diejenigen Zeichen, derentwegen ein Mensch einem anderen übereinstimmend die Macht oder das Mehr über sich zugibt.58 So ist beispielsweise die Schönheit der Person, die im Anblick eines lebendigen Antlitzes und in anderen Zeichen natürlicher Wärme besteht, ehrenvoll, da dies Zeichen vorhergehender Fortpflanzungskraft ist, und spielt eine große Rolle; ebenso wie auch das allgemeine Ansehen bei denen des anderen Geschlechts, weil es folgerichtige Zeichen desselben sind. – Und ebenso sind Taten, die von körperlicher Stärke und offener Gewalt herrühren, ehrenvoll, da sie folgerichtige Zeichen der Kraftentfaltung sind, wie etwa der Sieg in einer Schlacht oder einem Duell; et à avoir tué son homme [und seinen Mann getötet zu haben]. – Genau so auch das Riskieren großer Heldentaten und Gefährdung, da dies ein folgerichtiges Zeichen der Einschätzung ist, die wir von unserer eigenen Stärke haben. – Zu unterrichten oder zu überzeugen ist ehrenvoll, denn sie sind Zeichen von Wissen. – Und Reichtümer sind ehrenvoll, da sie Zeichen der Macht sind, vermittels der sie erworben wurden. – Und Geschenke, Aufwendungen und die Stattlichkeit von Häusern, die Kleidung und Ähnliches sind als Zeichen von Reichtum ehrenvoll. – Und Vornehmheit ist ehrenvoll als ein Zeichen des Abglanzes der Macht der Vorfahren. – Und Autorität, weil sie ein Zeichen von Festigkeit, Weisheit, Gunst oder Reichtum ist, durch die sie erreicht wird. – Und die gute Fügung oder der beiläufige Erfolg sind ehrenvoll, weil sie Zeichen der Gunst Gottes sind, dem alles, was uns durch Glück oder durch unseren Eifer zukommt, zuzuschreiben ist. – Und das Gegenteil oder die Mängel dieser Zeichen sind un-
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ehrenvoll; und nach den Zeichen von Ehre und Unehre schätzen wir die Größe oder den WERT (WORTH) eines Menschen. Jede Sache ist so gesehen so viel wert, wie jemand für die Nutzung all dessen, was er tun kann, auszugeben bereit ist.59 6. Die Zeichen der Ehre sind diejenigen, durch welche wir wahrnehmen, dass ein Mensch die Macht und den Wert eines anderen anerkennt, so etwa jemanden zu loben, zu rühmen, zu segnen oder glücklich zu preisen, jemanden zu bitten oder anzuflehen, zu danken, anzubieten oder darzureichen, zu folgen, auf jemanden mit Aufmerksamkeit zu horchen, mit Überlegung zu jemandem zu sprechen, sich jemandem in schicklicher Art zu nähern oder sich in Distanz zu halten, jemandem den Vortritt lassen und Ähnliches; solcherart ist die Ehre, die die Untergebenen den Höhergestellten zollen. – Die Zeichen der Ehre des Höhergestellten gegenüber dem Untergebenen aber sind solche wie diese: ihn zu loben oder ihn seinem Konkurrenten vorzuziehen, ihn bereitwilliger anzuhören, mit ihm familiärer zu sprechen, ihn näher herankommen zu lassen, ihn lieber einzustellen, lieber seinen Rat anzuhören, seine Meinungen zu goutieren und ihm eher irgendein Geschenk zu geben als Geld, und wenn Geld, dann zumindest so viel, dass es nicht erkennen lässt, dass er schon wenig davon bedürfte – denn das Wenige zu bedürfen ist eine größere Armut als das Viele zu entbehren. Und damit ist es genug an Beispielen für die Zeichen von Ehre und Macht. 7. Ehrfurcht ist die Vorstellung, die wir betreffend einen anderen haben, dass er zwar die Macht besitzt, uns sowohl Gutes als auch Schmerzliches zuzufügen, dass er uns aber keinen Schmerz zufügen wird. 8. Im Vergnügen oder Missfallen, das uns durch die Zeichen der Ehre oder Unehre trifft, besteht die Natur der einzelnen Leidenschaften, worüber wir im nächsten Kapitel zu sprechen haben.
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K apitel IX Von den Leidenschaften des Geistes 60 1. Der RUHM (GLORY) oder die Siegesfreude oder der Triumph des Geistes ist diejenige Leidenschaft, die aus der Einbildung oder der Vorstellung unserer eigenen Macht resultiert, wenn sie der Macht dessen, der sich mit uns misst, überlegen ist.61 Die Zeichen dafür sind, abgesehen von der Haltung und der Gestik des Körpers, die nicht beschrieben werden können, Prahlerei und Unverfrorenheit im Handeln. Und von denen, denen diese Leidenschaft missfällt, wird sie Überheblichkeit genannt; und die, denen sie gefällt, bezeichnen sie als seine berechtigte Einschätzung. Die Einbildung von unserer Macht und unserem Wert kann eine ungefährdete und sichere Erfahrung aus unserem eigenen Tun sein, und dann ist es gerechtfertigt und wohl fundiert, sich zu berühmen, und begründet die Anschauung, den Ruhm durch folgende Handlungen weiter zu steigern; darin besteht das Verlangen, das wir EHRGEIZ (ASPIRING) oder das Fortschreiten von einer Stufe der Macht zu einer anderen nennen. Dieselbe Leidenschaft kann aus etwas anderem herrühren als der Vorstellung von unseren eigenen Handlungen, nämlich aus unserem Ruf und dem Vertrauen anderer, wobei einer gut über sich selbst denken mag und dennoch getäuscht wird;62 dies ist der DÜNKEL (FALSE GLORY), und der daraus folgende Ehrgeiz führt zu Misserfolg. Ferner ist die Erdichtung (die Einbildung) von eigenen Handlungen, die wir nicht erbracht haben, eine Berühmung. Da sie aber kein Verlangen und keine Anstrengung zu neuen Unternehmungen hervorruft, ist sie eher vergebens und nicht einträglich, so etwa, wenn ein Mensch sich vorstellt, groß etwas zu vollbringen, worüber er in einem Roman liest, oder so zu sein wie ein anderer Mensch, dessen Taten er bewundert. Und das wird EITELKEIT (VAIN GLORY) genannt, wie in der Fabel von der Fliege, die auf der Radachse sitzt und zu sich sagt: Was ich für einen Staub aufwirble! Der Ausdruck der Eitelkeit ist das, was wir einen Wunsch nennen, den einige Scho-
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lastiker, die ihn für ein eigenständiges Verlangen neben anderen halten, als eine bloße Laune (velleity) bezeichnet haben, womit sie ein neues Wort und zugleich eine neue Leidenschaft kreierten, die es zuvor nicht gegeben hat.63 Ein Zeichen von Eitelkeit in der Gestik ist das Nachmachen anderer, das Vortäuschen von Aufmerksamkeit für Dinge, die man nicht versteht, das Hinterherlaufen von Moden, das Streben, Ehre aus seinen Träumen zu bekommen und von anderen kleinen Geschichten über sich selbst, sein Land, von ihren Namen und Ähnliches.64 2. Die der Ehre gegensätzliche Leidenschaft, die aus der Befürchtung unserer eigenen Schwäche entsteht, wird von denen, die sie billigen, DEMUT (HUMILITY) genannt; von den anderen NIEDERGESCHLAGENHEIT (DEJECTION) und Armseligkeit; eine Vorstellung, die gut oder schlecht begründet sein mag. Ist sie zutreffend, dann erzeugt sie die Furcht, etwas überstürzt zu versuchen; trifft sie zu, dann kann man sie eingebildete Furcht (vain fear) nennen, deren Gegenteil die Anmaßung ist und dann aus der Furcht vor der Macht besteht, ohne dass andere Zeichen für das Kommende bestünden, so wie sich Kinder fürchten, im Dunkeln zu gehen, weil sie sich Geister einbilden und alle Fremden als Feinde fürchten. Das ist die Leidenschaft , die einen Menschen völlig einschüchtert, sodass er weder wagt, öffentlich zu sprechen, noch von irgendeiner Handlung ein gutes Ergebnis erwartet. 3. Manchmal geschieht es, dass einer, der mit gutem Grund eine gute Meinung von sich hat, wegen des Eigensinns, der dieser Leidenschaft innewohnt, in sich dennoch einen Makel oder eine Schwäche entdeckt und ihn so die Erinnerung daran entmutigt; und diese Leidenschaft wird SCHAM (SHAME) genannt, durch die ihr Eigensinn beruhigt und kontrolliert wird, sodass er hinkünft ig vorsichtiger ist. Diese Leidenschaft, da sie ein Zeichen von Schwäche und also von Unehre ist, ist ebenso ein Zeichen von Kenntnis und also von Ehre. Sie äußert sich im Erröten, das bei Menschen, die sich ihrer eigenen Makel bewusst sind, seltener
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vorkommt, weil diese die ihnen bekannten Schwächen weniger erkennen lassen.65 4. Der MUT (COURAGE) im weiteren Sinne ist die Abwesenheit von gegenwärtiger Angst vor irgendeinem Übel; aber in einem genaueren und gewöhnlicheren Verständnis ist es die Geringschätzung von Blessuren und Tod, wenn sie einem Menschen am Weg zu seinem Ziel entgegenstehen. 5. Die WUT (ANGER) oder plötzlicher Mut ist nichts als das Verlangen oder das Begehren, gegenwärtigen Widerstand zu überwinden. Gemeinhin hat man sie bestimmt als einen Ärger, der von einer geringschätzigen Meinung über uns herrührt; dies aber wird widerlegt durch die Erfahrung, wonach wir häufig durch leblose Dinge ohne Sinnesempfindung, die unfähig sind, uns zu missbilligen, zur Wut getrieben werden. 6. Die RACHSUCHT (REVENGEFULNESS) ist diejenige Leidenschaft, die aus der Erwartung oder der Einbildung erwächst, denjenigen, der uns Schmerzen zugefügt hat, seine eigene Handlung schmerzvoll für ihn selbst werden zu lassen und dies auch anzuerkennen; und das ist der Gipfel der Rache. Denn obwohl es nicht besonders schwer ist, ein Übel mit einem Übel zu vergelten und dadurch das Ungemach seines Gegners über die eigene Tat hervorzurufen, so ist es dennoch derart schwer, ihn zur Anerkennung dessen zu bringen, sodass viele der Menschen eher sterben würden, als dies zu tun. Rache ist nicht auf den Tod aus, sondern auf die Gefangenschaft und Unterwerfung des Feindes. Tiberius Cæsar hat das gut ausgedrückt, indem er über einen, der sich, um der Rache zu entgehen, selbst im Gefängnis umbrachte, schrie: Ist er mir entwischt?66 Zu töten ist die Absicht derer, die hassen, um ihre Furcht loszuwerden; Rache aber zielt auf Triumph, der über den Tod nicht möglich ist. 7. Die REUE (REPENTANCE) ist die Leidenschaft, die aus der Meinung oder dem Wissen hervorgeht, dass die getane Handlung außerhalb des Weges liegt, der zu dem Ziel führt, welches man erreichen will. Die Auswirkung davon ist, dass man diesen Weg
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nicht weiterverfolgt, sondern sich selbst unter Berücksichtigung des Ziels auf einen besseren begibt. Die erste Regung in dieser Leidenschaft ist somit Betrübnis. Die Erwartung oder Vorstellung aber, wieder auf den Weg zurückzukehren, ist Freude. Konsequenterweise ist die Leidenschaft der Reue mit beiden verbunden und gemildert, aber das Vorherrschende ist die Freude, ansonsten wäre das Ganze Betrübnis, und das kann nicht sein. Denn sosehr derjenige, der in Richtung Ziel weitergeht, sich Gutes vorstellt, so sehr schreitet er mit Lust voran. 8. Die HOFFNUNG (HOPE) ist die Erwartung eines kommenden Guten, so wie die Furcht die Erwartung eines Übels ist. Wenn es aber Ursachen gibt, von denen einige uns Gutes und andere uns Schlechtes erwarten lassen, und diese abwechselnd in unserem Geist arbeiten, dann ist die ganze Leidenschaft dann Hoff nung, wenn die Gründe, die uns Gutes erwarten lassen, die Gründe, die uns Übles erwarten lassen, überwiegen. Ist das Gegenteil der Fall, dann ist das Ganze Furcht. Der völlige Mangel an Hoff nung ist die VERZWEIFLUNG (DESPAIR), eine Stufe davon die ZAGHAFTIGKEIT (DIFFIDENCE). 9. Das VERTRAUEN (TRUST) ist eine Leidenschaft, die vom zweifelsfreien Glauben an denjenigen herrührt, von dem wir Gutes erwarten oder erhoffen, sodass wir dessentwegen keinen anderen Weg verfolgen. Und Misstrauen oder Zaghaft igkeit ist Zweifel, der einen dazu bringt, sich selbst durch andere Mittel zu versorgen. Und dass das die Bedeutung der Worte Vertrauen und Misstrauen ist, wird ersichtlich dadurch, dass ein Mensch sich niemals um einen Ausweg sorgt, außer wenn er das Misstrauen hegt, dass der erste nicht hält. 10. Das MITLEID (PITY) ist die Einbildung oder Erdichtung einer zukünft igen Katastrophe für uns, wie sie aus der Wahrnehmung der gegenwärtigen Katastrophe eines anderen herrührt.67 Wenn es jemanden trifft, von dem wir denken, er hätte sie nicht wohlverdient, dann ist das Mitgefühl sehr viel größer, denn dann erscheint es uns wahrscheinlicher, dass uns das Gleiche zustoßen
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kann. Bekanntlich kann das Übel, das einem Unschuldigen geschieht, auch jedem anderen zustoßen. Das Mitleid ist aber weniger groß, wenn wir einen Menschen sehen, der für große Verbrechen bezahlt; denn wir können uns nicht leicht vorstellen, dass diese uns selbst zur Last fallen. Deshalb neigen die Menschen zu Mitleid für diejenigen, die sie lieben, denn den, den sie lieben, halten sie des Guten für würdig und es deshalb nicht für angemessen, dass diese das Unglück trifft. Von daher kommt es auch, dass die Menschen Mitleid mit den Lastern von Leuten haben, die sie nie zuvor gesehen haben; deshalb findet auch jeder anständige Mann Mitleid unter den Frauen, wenn er zum Galgen geht. Das Gegenteil von Mitleid ist HARTHERZIGKEIT (HARDNESS), die entweder aus der Langsamkeit der Vorstellung entsteht oder aus der überheblichen Meinung, von derartigen Katastrophen ausgenommen zu sein, oder aus dem Hass auf alle oder gegen die meisten Menschen. 11. Die EMPÖRUNG (INDIGNATION) ist derjenige Ärger, der uns befällt, wenn großer Erfolg denjenigen zufällt, von denen wir denken, sie wären seiner unwürdig. Weil nun alle Menschen diejenigen für unwürdig finden, die sie hassen, halten sie diese nicht nur des Glücks für unwürdig, das sie haben, sondern auch ihrer eigenen Tugenden. Und von allen Leidenschaften des Geistes kommen diese zwei, Empörung und Mitleid, am leichtesten hoch und werden durch Beredsamkeit gesteigert; denn die Verschlimmerung der Misere und die Beschönigung des Fehlers vergrößert das Mitleid. Und die Beschönigung des Werts der Person zusammen mit der Vergrößerung seines Erfolgs (was ja das Geschäft eines Redners ist) können diese beiden Leidenschaften in Raserei kippen lassen. 12. Die EIFERSUCHT (EMULATION) ist der Ärger, der hochkommt, wenn wir uns von einem Konkurrenten übertroffen oder ausgestochen sehen, verbunden mit der Hoff nung, es ihm durch unsere eigene Fähigkeit gleichzutun oder ihn zu übertreffen, wenn die Zeit kommt. Aber NEID (ENVY) ist derselbe Kummer,
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verbunden mit dem Vergnügen an der eingebildeten Vorstellung eines Unglücks, das diesem zustoßen kann.68 13. Es gibt eine Leidenschaft , die keinen Namen hat, aber ihr Zeichen ist jene Entstellung des Antlitzes, die wir GELÄCHTER (LAUGHTER) nennen, das immer eine Freude ist. Welche Freude das aber ist, wenn wir lachen, was wir dabei denken und worüber wir triumphieren, das wurde bis heute noch von niemandem erklärt. Dass es in Witz oder Verstand (wit) besteht oder, wie man es genannt hat, in Spaß, hat die Erfahrung widerlegt. Denn die Menschen lachen über Missgeschicke und Unanständigkeiten, in denen weder irgendein Esprit noch irgendein Scherz liegt. Und insofern als dieselbe Sache nicht mehr lachhaft ist, wenn sie abgestanden und üblich geworden ist, muss sie neu und unerwartet sein. Die Menschen lachen oft über ihre eigenen Taten (besonders solche, die gierig nach Beifall sind für alles und jedes, was sie gut machen), sobald sie auch nur ein klein wenig über ihre Erwartungen hinausreichen; und sie lachen auch über ihre eigenen Witze, wodurch offenkundig wird, dass die Leidenschaft des Lachens aus einer plötzlichen Vorstellung einer eigenen Fähigkeit hervorgeht, die er in sich selbst findet. Die Menschen lachen auch über die Schwächen anderer, wodurch im Vergleich ihre eigenen Fähigkeiten herausgestellt und sichtbar gemacht werden. Auch lachen sie über Späße, deren Witz immer darin besteht, unserem Geist die eine oder andere Absurdität auf elegante Weise zu enttarnen und sie zu vermitteln. Und in diesem Fall rührt auch die Leidenschaft des Lachens von der plötzlichen Einbildung über unsere eigenen Möglichkeiten und unsere Bedeutsamkeit her. Denn was sonst ist es, wenn wir uns selbst dadurch empfehlen, eine gute Meinung über uns zu haben, indem wir uns mit den Schwächen und Unsinnigkeiten anderer zu vergleichen? Denn wenn über uns selbst ein Scherz gemacht wird oder über unsere Freunde, an deren Unehre wir teilhaben, lachen wir niemals darüber. Ich kann daher den Schluss ziehen, dass die Leidenschaft zum Gelächter nichts anderes ist als eine plötzliche69 Ehre, die aus der plötzli-
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chen Vorstellung unserer eigenen Bedeutsamkeit im Vergleich zu den Schwächen anderer erwächst oder zu den eigenen vormaligen; denn die Menschen lachen über ihre vergangenen Narreteien, wenn sie ihnen plötzlich in Erinnerung kommen, außer wenn ihnen diese irgendeine gegenwärtige Unehre einbringen. Es ist daher kein Wunder, dass es die Menschen ruchlos finden, wenn über sie gelacht wird oder sie verspottet werden, wenn also über sie triumphiert wird. Gelächter, wenn es keinen Anstoß erregen soll, muss sich auf von der Person verschiedene Absurditäten und Schwächen beziehen, sodass dann die ganze Gesellschaft gemeinsam darüber lachen kann. Denn das Lachen über sich selbst lässt die Übrigen neidisch werden und veranlasst sie, sich selbst zu überprüfen; überdies ist es Eitelkeit und ein Beweis von geringem Wert, zu denken, die Schwächen eines anderen wären ausreichender Stoff für seinen Triumph. 14. Die gegenteilige Leidenschaft hierzu, deren Zeichen eine andere Verzerrung der Gesichtszüge durch Tränen ist, WEINEN (WEEPING) genannt, ist das plötzliche Zubruchgehen von uns selbst oder die schlagartige Vorstellung eines Makels. Deshalb weinen Kinder oft. Denn sieht man, dass sie denken, es müsste ihnen alles gegeben werden, was sie sich wünschen, dann muss notwendigerweise jede Abweisung eine unerwartete Prüfung ihrer Erwartung sein und ihnen ihre übergroße Schwäche darüber zu Bewusstsein bringen, sich selbst zum Herrn ihrer Wünsche zu machen. Aus demselben Grund sind Frauen mehr dazu veranlagt zu weinen als Männer, nicht nur, weil sie mehr daran gewöhnt sind, ihren Willen durchzusetzen, sondern auch, weil sie gewöhnlich ihre Macht an der Macht und Liebe derer bemessen, die sie beschützen. Männer, die auf Rache aus sind, sind geneigt zu weinen, wenn die Rache plötzlich verhindert oder durch die Bußfertigkeit des Gegners vereitelt wird; das sind dann Tränen der Versöhnung. Auch werden mitfühlende Männer dann von dieser Leidenschaft hingerissen, wenn sie diejenigen Menschen betrachten, mit denen sie Mitleid empfi nden, und sich dann jäh
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erinnern, dass sie nicht helfen können. Sonstiges Weinen bei Männern rührt aus derselben Ursache, aus der sie bei Frauen und Kindern herrührt. 15. Das Verlangen, das die Menschen WOLLUST (LUST) nennen, und die Erfüllung, die dazu gehört, ist ein sinnliches Vergnügen,70 aber nicht nur das; in ihr steckt auch eine geistige Wonne, denn sie besteht aus zwei gleichzeitigen Verlangen, nämlich zu befriedigen und befriedigt zu werden. Und die Wonne, die Menschen daran empfinden, Wonnen zu verschaffen, ist nicht sinnlich, sondern ein geistiges Vergnügen oder eine mentale Freude, die aus der Einbildung oder der Macht daran besteht, dass sie so viel haben, was befriedigt. Aber der Name »Wollust« wird nur verwendet, wo sie verurteilt wird; ansonsten wird sie mit dem allgemeinen Wort »Liebe« bezeichnet. Da aber diese Leidenschaft nach dem anderen Geschlecht immer das gleiche unbestimmte Verlangen ist, ist sie so natürlich wie der Hunger. 16. Von der Liebe, unter der die Freude verstanden wird, die ein Mensch aus der Verwirklichung irgendeines gegenwärtigen Gutes bezieht, wurde schon in Kap. VII, 1 gesprochen, worin auch die Liebe der Menschen zueinander und das Vergnügen enthalten ist, das sie an der Gesellschaft anderer haben. Aber es gibt noch eine andere Form der LIEBE (LOVE), die die Griechen eros nennen, und das ist diejenige, die wir meinen, wenn wir sagen: Dieser Mann oder diese Frau ist verliebt. Denn soweit diese Leidenschaft auch nicht sein kann ohne Unterschied des Geschlechts, so kann doch nicht abgestritten werden, dass sie von der im früheren Abschnitt erwähnten unbestimmten Liebe mitumfasst ist. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen der unbestimmten Sehnsucht eines Menschen und derselben Sehnsucht ad hanc [zu ihr], und das ist die Liebe, die das große Thema der Dichter ist. Aber ungeachtet ihrer Lobpreisungen muss sie dennoch durch das Wort »Bedürfnis« bestimmt werden, denn es ist die Vorstellung eines Bedürfnisses, das ein Mensch nach der begehrten Person hat. Die Ursache dieser Leidenschaft ist nicht immer, und auch nicht zu-
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meist, die Schönheit oder eine andere Eigenschaft der Geliebten, es sei denn, dass obendrein Hoff nung in der Person besteht, die liebt. Das kann daraus abgelesen werden, dass bei großem Unterschied der Personen die Größeren oft in Liebe zu den Geringeren entbrennen, nie aber umgekehrt. Von daher kommt es, dass größtenteils diejenigen viel mehr Glück in der Liebe haben, deren Hoff nungen auf irgendetwas in ihrer Person gegründet sind, als diejenigen, die auf ihre Redensarten und Dienste vertrauen, und auch diejenigen, die sich weniger darum kümmern, als diejenigen, denen mehr daran gelegen ist. Dies nicht bemerkend verschwenden viele Menschen ihre Gefälligkeiten wie einen Pfeil nach dem anderen; und bis zum Ende verlieren sie zusammen mit ihren Hoff nungen auch ihren Verstand. 17. Indes gibt es eine andere Leidenschaft, die manchmal Liebe, zutreffender aber wohl »guter Wille« oder WOHLTÄTIGKEIT (CHARITY) genannt wird. Kein Mensch kann sich seiner Macht mehr versichern, als sich selbst fähig zu finden, nicht nur seine eigenen Wünsche zu erfüllen, sondern auch anderen Menschen bei der Erfüllung ihrer zu helfen; und das ist diejenige Vorstellung, aus der die Wohltätigkeit besteht. Davon ist umfasst, erstens, die natürliche Zuneigung von Eltern zu ihren Kindern, die die Griechen storgí [Zärtlichkeit] nennen, und auch die Neigung der Menschen, durch die sie danach trachten, denen beizustehen, an denen sie hängen. Aber das Befallensein, durch das die Menschen oft mals Fremde mit ihren Wohltaten überschütten, wird nicht Wohltätigkeit genannt, sondern entweder Abkommen, wodurch sie Freundschaft zu erstehen suchen, oder Furcht, die sie veranlasst, den Frieden einzukaufen.71 Die Meinung Platons über die ehrenvolle Liebe, wie sie (seinen Gepflogenheiten entsprechend, von Sokrates) im Dialog Convivium [Symposion] geäußert wurde,72 ist folgende: Ganz natürlich sucht sich ein mit Weisheit oder anderer Tugend gefüllter und trächtiger Mann eine wunderschöne und altersgemäße Person mit entwicklungsfähigem Begriffsvermögen aus, in der er ohne sinnliche Beziehung
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Ähnliches erzeugen und hervorbringen kann. Und das ist die Idee von der dann berühmt gewordenen Liebe vom weisen und keuschen Sokrates zum jungen und schönen Alkibiades, eine Liebe, in der nicht die Ehre, sondern die Erkenntnis Thema ist, im Gegensatz zur herkömmliche Liebe, der dieses zähe Thema manchmal folgt, indes die Menschen nicht danach suchen, sondern sich zu befriedigen suchen und befriedigt werden wollen. Es sollte deshalb diese Wohltätigkeit oder auch der Wunsch sein, anderen zu helfen oder sie zu fördern. Warum aber sollte dann der Weise den Unwissenden suchen oder wohltätiger sein gegenüber dem Schönen als gegenüber anderen? Zum Teil liegt es wohl am Geschmack der Zeit: Demzufolge mag der hartnäckige Sokrates für seine Keuschheit bekannt sein, indessen auch keusche Menschen haben die Leidenschaft, die sie nun einmal haben, genau so oder mehr noch als diejenigen, die das Verlangen sättigen. Das ruft den Verdacht in mir hervor, dass diese platonische Liebe lediglich sinnlich ist, dies aber mit einem ehrenvollen Vorwand für die Alten, der Gesellschaft von Jungen und Schönen nachzujagen. 18. Insofern jedes Wissen aus Erfahrung rührt, insofern ist auch eine neue Erfahrung der Beginn von neuer Erkenntnis, und das Anwachsen von Erfahrung der Beginn des Anwachsens von Wissen; was auch immer an Neuem einem Menschen geschieht, das gibt ihm Hoff nung und Stoff, etwas zu wissen, was er zuvor nicht wusste. Und diese Hoff nung und Erwartung zukünft igen Wissens aus allem, was neu und eigenartig geschieht, ist die Leidenschaft, die wir für gewöhnlich BEWUNDERUNG (ADMIRATION) nennen; und dieselbe berücksichtigt als Verlangen, wird NEUGIER (CURIOSITY) genannt, das Verlangen nach Wissen. So wie beim Unterscheidungsvermögen, so hat der Mensch auch bei der Fähigkeit zur Einführung von Namen jede Gemeinsamkeit mit den Tieren verlassen, und so überragt er auch mit dieser Leidenschaft der Neugier deren Natur. Wenn etwa ein Tier irgendetwas sieht, das neu oder befremdlich für es ist, liegt ihm nur daran, festzustellen, ob es ihm wohl Nutzen oder Schaden bringt, und
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je nachdem kommt es näher oder fl ieht davon. Die Menschen demgegenüber, die sich bei den meisten Geschehnissen daran erinnern, in welcher Art diese verursacht wurden und wie sie begannen, untersuchen die Ursache und den Beginn von allem, was sich vor ihnen auftut. Und aus dieser Leidenschaft der Bewunderung und der Neugier rührt nicht nur die Erfindung der Namen her, sondern auch die Vermutung über die mutmaßlichen Ursachen aller Dinge. Und von hier aus leitet sich jede Philosophie ab:73 die Astronomie aus der Bewunderung des Himmelsgeschehens; die Naturphilosophie aus den eigenartigen Wirkungen der Elemente und anderer Körper. Und entsprechend dem Grad an Neugier schreitet auch der Grad des Wissens unter den Menschen fort; denn für einen Mann, der Reichtum oder Autorität nachjagt (die in Hinsicht auf Wissen nur Sinnesfreuden sind), ist es nur eine wenig vergnügungsvolle Abwechslung, darüber zu sinnen, ob es die Bewegung der Sonne oder der Erde ist, die den Tag macht, oder über irgendwelche merkwürdigen Episoden anders nachzudenken als unter dem Gesichtspunkt, ob sie zu dem Ziel führen, dem er nachstrebt. Weil die Neugier ein Vergnügen ist, deshalb ist es auch jede Neuigkeit, besonders aber jene Neuigkeit, aus der ein Mensch die Meinung bezieht, mag sie wahr sein oder falsch, dass durch sie sein eigener Zustand verbessert wird. Denn in diesem Fall erweisen sich die Neuigkeiten beeinflusst durch die Hoff nung, die alle Spieler haben, während die Karten gemischt werden. 19. Es gibt verschiedene andere Leidenschaften, aber sie ermangeln der Namen; einige von ihnen sind dennoch von den meisten Menschen beobachtet worden. Zum Beispiel74: Von welcher Leidenschaft rührt es her, dass Menschen ein Vergnügen daraus ziehen, von der Küste aus die Gefahr zu beobachten, in der sich diejenigen befinden, die im Sturm oder im Kampf sind; oder von einer sicheren Burg aus zwei Armeen zu beobachten, die sich im Feld gegeneinander schlagen? Sicherlich ist es zusammengenommen Freude, ansonsten die Menschen sich niemals zu einem sol-
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chen Schauspiel zusammenrotten würden. Dennoch liegt darin sowohl Freude als auch Ärger. Aber das Entzücken ist derart vorherrschend, dass die Menschen in einem solchen Fall gemeinhin damit zufrieden sind, Zuschauer am Elend ihrer Freunde zu sein. 20. SEELENGRÖSSE (MAGNANIMITY) ist nichts anderes als Ehre, von der ich im ersten Abschnitt gesprochen habe; aber es ist eine Ehre, gut fundiert durch bestimmte Erfahrungen von ausreichender Macht, um sein Ziel in offener Art und Weise zu erreichen.75 Und KLEINMUT (PUSILLANIMITY) ist der Zweifel daran. Was auch immer ein Zeichen der Eitelkeit ist, das ist auch ein Zeichen der Verzagtheit, weil ausreichende Macht der Ehre den Antrieb zur Zielverfolgung gibt. Und durch wahren oder falschen Ruhm befriedigt oder unbefriedigt zu sein, ist ein Zeichen vom selben, weil der, der auf Ruhm baut, seinen Erfolg nicht in seiner eigenen Macht hat. Gleichermaßen sind Tricks und Täuschung Zeichen von Kleinmut, weil sie nicht von unserer eigenen Macht abhängen, sondern von der Ahnungslosigkeit anderer; ebenso auch das Geneigtsein zur Wut, weil sie auf eine Verlegenheit beim Vorankommen schließen lässt; auch das Zurschaustellen der Vorfahren, weil doch alle Menschen eher geneigt sind, ihre eigene Macht zu zeigen, wenn sie sie haben, als die anderer; mit Untergebenen in Verfeindung und Streit zu liegen, ist ein Zeichen desselben, weil es aus dem Mangel an Macht herrührt, eine Auseinandersetzung zu beenden; auch über andere zu lachen, weil es das Vortäuschen von Ehre über die Schwächen anderer ist und nicht aus ihrer eigenen Fähigkeit kommt; auch Unentschlossenheit, die vom Mangel an genügend Kraft kommt, um die kleinen Misslichkeiten, die Beratungen mühsam machen, zu verachten. 21. Der Vergleich des Menschenlebens mit einem Wettrennen,76 obgleich nicht zutreffend in jedem Punkt, trifft doch für unseren Zweck so gut zu, dass wir demzufolge fast alle erwähnten Leidenschaften sowohl sehen als auch erinnern können. Aber von diesem Rennen müssen wir vermuten, dass es weder ein anderes Ziel noch einen anderen Kranz hat als zuvorderst zu sein, und darin ist:
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Streben Verlangen, nachlässig zu sein Sinnlichkeit, andere hinter sich zu erachten Ehre, sie vor sich liegend zu werten Demut, den Boden zu verlieren und zurückzusehen Eitelkeit, angehalten zu werden Hass, umzudrehen Reue, bei Atem zu sein Hoff nung, erschöpft zu sein Verzweiflung, danach zu streben, die anderen zu überholen, Eifersucht, zu verdrängen und umzustürzen Neid, sich zu entscheiden, ein vorausgesehenes Hindernis zu durchbrechen, Mut, wegen eines unerwarteten Hindernisses liegen zu bleiben Zorn, mit Leichtigkeit durchzubrechen Seelengröße, durch kleine Behinderungen den Boden zu verlieren Kleinmut, plötzlich zu fallen die Veranlagung zum Weinen, einen anderen fallen sehen die Veranlagung zum Lachen, jemanden ausscheiden zu sehen, dem wir dies nicht wünschen, Mitleid, jemanden liegen zu sehen, von dem wir das nicht wünschen, Empörung, einander beständig festzuhalten Liebe, ihn, der anhält, weiterzutragen Wohltätigkeit, sich selbst für seine Hast zu verletzen Scham, stets ausgeschieden zu werden Elend, stets den nächsten vor uns rauszuwerfen Glück, und das Rennen aufzugeben, das ist zu sterben.
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K apitel X Darüber dass Menschen u nterschiedlich dazu in der Lage sind, zwischen Fähigkeit u nd Ursache zu u nterscheiden 77 1. In den vorangegangenen Kapiteln haben wir gezeigt, dass die Einbildung der Menschen von außerhalb liegenden Gegenständen auf das Gehirn oder auf irgendeine innere Substanz des Kopfes herrührt. Die Leidenschaften verlaufen von den Veränderungen, die dort erzeugt werden, weitergehend zum Herzen. Und so ist es folgerichtig (sieht man die Verschiedenheit des Kenntnisstandes bei verschiedenen Menschen, die wohl größer ist als die verschiedenen Stimmungen des Gehirns, die man diesem zuschreibt), als Nächstes zu erklären, welche anderen Ursachen solche Möglichkeiten und Höchstleistungen haben, wie wir sie täglich beobachten, wenn ein Mensch über einem anderen steht. Den Unterschied, der aus Krankheit und gelegentlicher übler Laune resultiert, übergehe ich, weil er an diesem Ort nicht zur Sache gehört. Ich berücksichtige ihn nur bei denen, die bei Gesundheit sind und über gut gewillte Organe verfügen. Würde der Unterschied in der natürlichen Stimmung des Gehirns liegen, dann kann ich mir keinen Grund vorstellen, warum derselbe nicht zuerst und größtenteils in den Sinnesempfindungen in Erscheinung treten sollte. Da sie sowohl im Weisen als auch im weniger Weisen gleich sind, lässt sich auf eine gleiche Stimmung aller Sinnesempfindungen im gemeinsamen Organ (namentlich im Gehirn) rückschließen. 2. Aber wir sehen aus Erfahrung, dass Freude und Kummer nicht bei allen Menschen aus denselben Ursachen stammen und dass die Menschen in der Konstitution ihres Körpers sehr verschieden sind. Das, was im einen der vitalen Verfassung beisteht und sie fördert und deshalb sehr angenehm ist, hindert und durchkreuzt sie im anderen und erzeugt Betrübnis. Es hat also die Verschiedenheit des Esprits ihre Ursache in den verschiedenen Leiden-
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schaften und in den Zielen, zu denen sie ihr Verlangen führt. 3. Und zunächst müssen also diejenigen Menschen, deren Ziele verschiedene sinnliche Vergnügen sind und die im Allgemeinen süchtig nach Behaglichkeit, Essen und den Be- und Entlastungen ihres Körpers sind, notwendigerweise dadurch weniger Vergnügen mit der Idee von Ehre und Ruhm haben, da sich diese ja, wie ich zuvor gesagt habe, auf die Zukunft beziehen. Sinnlichkeit nämlich besteht im Vergnügen an der Sinnesempfindung, die nur gegenwärtig befriedigt; und sie beseitigt die Neigung, solche Dinge zu beobachten, die der Ehre förderlich sind; und sie macht die Menschen konsequenterweise weniger neugierig und ehrgeizig. Dadurch bedenken sie den Weg nicht, der zu Wissen oder zu einer anderen Macht führt. In diesen beiden besteht all die Auszeichnung erkennender Macht. Und das ist es, was die Menschen DUMMHEIT (DULNESS) nennen und was aus dem Verlangen nach sinnlichem oder körperlichem Genuss herrührt. Und es kann wohl angenommen werden, dass solch eine Leidenschaft ihren Anfang von einer Grobheit und Bewegungsschwierigkeit der Lebensgeister ums Herz herum hat. 4. Das Gegenteil hierzu bildet das rasche Anordnen des Geistes, wie es in Kap. III, 3 beschrieben ist. Dieses ist verbunden mit Neugier, die Dinge, die einem in den Kopf kommen, miteinander zu vergleichen. Durch dieses Vergleichen vergnügt sich ein Mensch entweder mit dem Finden unerwarteter Ähnlichkeit in den Dingen, die sonst ganz ungleich sind, worin die Menschen den Vorzug der PHANTASIE (FANCY) einstufen;78 von dort rühren diese dankbaren Gleichnisse, Metaphern und andere Redefiguren her, durch die es sowohl die Dichter als auch die Redner in ihrer Macht haben, Sachen gefällig oder unerfreulich zu machen und sie anderen, wie es ihnen gerade gefällt, als gut oder krank darzustellen. Oder aber er erfreut sich an der plötzlichen Entdeckung einer Unterschiedlichkeit in Dingen, die ansonsten gleich erscheinen. Und diese Tugend des Geistes ist das, wodurch die Menschen richtiges und vollkommenes Wissen erreichen.
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Und der Genuss daran besteht in fortwährender Unterweisung und in der Unterscheidung von Personen, Orten und Jahreszeiten. Gewöhnlich wird sie mit dem Namen URTEILSVERMÖGEN (JUDGEMENT) bezeichnet, denn Urteilen ist nichts anderes als auseinanderzuhalten und zu unterscheiden; und sowohl Phantasie als auch Urteilsvermögen werden für gewöhnlich unter dem Namen VERSTAND (WIT)79 erfasst, der als eine Feinheit und Lebendigkeit der Lebensgeister erscheint, im Gegensatz zum störrischen Verhalten der Lebensgeister, die man in denen vermutet, die dumm sind. 5. Es gibt noch einen anderen Geistesmangel, den die Menschen LEICHTSINN (LEVITY) nennen. Auch er verrät Beweglichkeit der Gedanken, allerdings im Übermaß. Ein Beispiel dafür finden wir in jenen, die sich in der Mitte irgendeiner ernsthaften Diskussion durch jeden kleinen Scherz oder eine witzige Beobachtung ablenken lassen; womit sie sich durch Zwischenbemerkungen von ihrer Rede entfernen, und von diesem Einschub zum nächsten, bis sie dann entweder sich selbst verlieren oder die Erzählung zu so etwas wie einem Traum machen oder zu einem einstudierten Unsinn. Die Leidenschaft, von der dies herrührt, ist Neugierde, aber mit zu viel Gleichheit und Gleichgültigkeit, wenn nämlich alle Dinge den gleichen Eindruck und Genuss bereiten, dann verlangen diese, ebenso zum Ausdruck gebracht zu werden. 6. Die gegenteilige Tugend dieses Mangels ist ERNST (GRAVITY) oder Zuverlässigkeit. Für sie ist Größe und alles überragender Genuss das Ziel, und auf dem Weg dahin richtet sie alle anderen Gedanken darauf aus und bewahrt sie darin auf. 7. Das Maximum an Blödheit ist diejenige natürliche Verrücktheit, die man STUMPFSINN (STOLIDITY) nennen kann; aber das Maximum an Leichtsinn hat, obwohl es eine natürliche Verrücktheit ist, die sich von anderen unterscheidet und durch jedermanns Beobachtung offensichtlich ist, dennoch keinen Namen. 8. Es gibt einen Mangel des Geistes, der von den Griechen ´αμάθεια (amatheia – Unbildung) genannt wird, das ist die UN-
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BELEHRBARKEIT (INDOCIBILITY) oder Schwierigkeit beim
Unterricht nehmen. Sie ergibt sich mit Notwendigkeit von einer falschen Auffassung, der zufolge man schon die Wahrheit über das wüsste, was in Frage steht. Mit Sicherheit sind die Menschen hinsichtlich ihres Fassungsvermögens nicht so unterschiedlich, wie es die Beweise sind, die von den Mathematik-Lehrern gelehrt werden und worüber gemeinhin in anderen Büchern abgehandelt wird. Wäre der Geist der Menschen nichts anderes als ein leeres Blatt Papier80, dann würden sie alle fast gleich bereit sein, alles an Wissen aufzunehmen, was auch immer ihnen mit der richtigen Methode und richtig gefolgert dargeboten wird. Wenn es sich die Menschen aber erst einmal bei falschen Meinungen bequem gemacht haben und diese ihrem Geist als verlässliche Aufzeichnungen eingeschrieben haben, dann fällt es nicht minder schwer, verständlich zu solchen Menschen zu sprechen, als auf einem schon beschmierten Papier leserlich zu schreiben.81 Das Vorurteil ist daher die unmittelbare Ursache für die Unbelehrbarkeit und daraus eine falsche Meinung über unser eigenes Wissen. 9. Ein anderer und grundsätzlicher Defekt des Geistes ist es, was die Menschen WAHNSINN (MADNESS) nennen. Das scheint nichts anderes zu sein als irgendeine Einbildung von solcher Dominanz über alles andere, dass wir zu keiner anderen Leidenschaft sonst fähig sind. Und diese Vorstellung ist nichts anderes als übermäßige Eitelkeit oder falsche Mutlosigkeit, wie höchstwahrscheinlich aus den folgenden Beispielen ablesbar ist, von denen jedes seinen Ursprung in irgendeiner Anwandlung von Stolz oder irgendeiner Gedrücktheit des Geistes hat. Wir hatten beispielsweise einen, der in Cheapside von einer Karre statt von einer Kanzel aus predigte, dass er selbst Christus wäre; ein Fall von Stolz oder Wahnsinn. Wir hatten auch einige Beispiele von gelehrtem Wahnsinn, bei denen Menschen augenscheinlich bei jeder Gelegenheit, die ihnen ihre eigenen Fähigkeiten in Erinnerung brachte, völlig die Konzentration verloren. Unter die gelehrten Wahnsinnigen kann man (so denke ich) auch jene zählen, die
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den Zeitpunkt für das Ende der Welt vorausbestimmen oder ähnliche Weissagungen verkünden. Und der ritterliche Wahnsinn des Don Quixote ist nichts anderes als der Ausdruck eines solchen Maßes an Eitelkeit, wie ihn nun einmal die Lektüre von Ritterromanen in verzagten Menschen auslösen kann. Auch die Wut und der Liebeswahnsinn sind nichts anderes als die Entrüstungen jener, in deren Gehirnen die Geringschätzung ihrer Feinde oder ihrer Mätressen vorherrscht. Und ein von Gestalt und Verhalten herrührender Stolz hat schon mehrere Menschen geisteskrank gemacht, so dass sie unter die Fantasten gerechnet werden. 10. Mögen dies außergewöhnliche Beispiele sein, so gibt es doch viel zu viele Beispiele von Abstufungen, die deshalb ganz zutreffend unter die Verrücktheiten gezählt werden können. Da ist zum Ersten, wenn ein Mensch ohne sicheres Anzeichen sich selbst für erweckt hält oder in sich irgendeine andere Wirkung des Heiligen Geistes verspürt, wie ihn sonst gottesfürchtige Menschen haben. Eine zweite Art ist es, wenn Menschen ihren Geist andauernd in einem cento [Flickwerk] von griechischen und lateinischen Zitaten sprechen lassen. Vieles von der gegenwärtigen Ritterlichkeit in Liebessachen und beim Duell hat mit einer dritten Art zu tun. Böswilligkeit ist eine Abstufung von Wut, und Affektiertheit ist eine Stufe abstrusen Idiotismus. 11. Wie uns die vorangehenden Beispiele und ihre Abstufungen, entstanden jeweils aus einer übersteigerten Meinung von sich selbst, zeigen, so gibt es hier auch andere Beispiele von Wahnsinn und von Abstufungen davon, die von viel zu viel eingebildeter Furcht und Depression herrühren; derart bilden sich melancholische Menschen ein, sie wären zerbrechlich wie Glas, oder sie hatten andere ähnliche Vorstellungen; Ausprägungen davon sind all die übersteigerten und grundlosen Ängste, die wir üblicherweise bei melancholischen Menschen beobachten.
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K apitel XI Welche Einbildu ngen u nd Leidenschaften die Menschen in Hinsicht auf die Namen der übernatürlichen Dinge haben 82 1. Bis zu dieser Stelle ging es um das Wissen von natürlichen Dingen und von Leidenschaften, die natürlicherweise aus ihnen entstehen. So wie wir nun nicht nur natürlichen Dingen, sondern auch übernatürlichen Namen geben und vermittels aller Namen darüber auch irgendwelche Auffassungen und Vorstellungen haben sollten, so folgt an nächster Stelle, uns darüber Gedanken zu machen, welche Gedanken und Einbildungen des Geistes wir haben, wenn wir den meist gesegneten Namen Gottes und die Namen der mit ihm verbundenen Werte im Munde führen; und ebenso, welches Bild im Geist entsteht, wenn wir den Namen von guten und bösen Geistern oder von Engeln hören.83 2. Insofern als Gott der Allmächtige unbegreiflich ist, folgt daraus, dass wir keine Vorstellung oder kein Bild von der Göttlichkeit haben können.84 Folgerichtig kennzeichnen alle ihre Eigenschaften unsere Unfähigkeit und unseren Mangel an Macht, uns irgendetwas von seinem Wesen zu erdenken oder irgendeine Vorstellung davon zu haben, außer die eine: dass es einen Gott gibt. Die Wirkungen nämlich, die uns auf natürliche Weise zur Kenntnis kommen, beinhalten notwendigerweise eine Macht, die sie erzeugte, bevor sie da waren; und diese Macht setzt etwas Existierendes voraus, das solch eine Macht hat; und das Ding, das die Macht hat zu erzeugen, muss, sofern es nicht ewig ist, notwendigerweise von irgendetwas erzeugt worden sein, das es vorher gab; und das wiederum von etwas, das wiederum zuvor war, bis wir zu etwas Ewigem kommen, oder anders gesagt, zur ersten Macht aller Mächte, zur ersten Ursache aller Ursachen. Und das ist es, was die Menschen mit dem Namen GOTT (GOD) bezeichnen, mit dem sie Ewigkeit, Unbegreiflichkeit und Allmacht implizieren. Und deshalb können alle Menschen, die nachdenken, natürlicherweise
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wissen, dass es Gott gibt, wiewohl sie nicht wissen, was er ist;85 sogar als blind geborener Mensch, dem es doch nicht möglich ist, irgendeine Vorstellung davon zu haben, welches Ding ein Feuer ist, muss dieser doch wissen, dass es irgendetwas gibt, das die Menschen Feuer nennen, weil es ihn wärmt.86 3. Und so schreiben wir dem Allmächtigen zu, zu sehen, zu hören, zu sprechen, zu wissen, zu lieben und Ähnliches mehr; wobei wir unter diesen Namen zwar etwas in den Menschen verstehen, denen wir diese Eigenschaften zuschreiben, aber dadurch nichts von ihnen im Wesen Gottes verstehen. Denn es ist doch gut gedacht: Soll Gott, der das Auge und das Ohr machte, nicht auch sehen und hören? Und ebenso ist es, wenn wir sagen: Soll Gott, der das Auge und das Ohr machte, nicht auch ohne Auge sehen und ohne Ohren hören? Oder ohne Gehirn nicht auch denken? Ohne Herz nicht auch lieben? Die Eigenschaften, die wir der Göttlichkeit zuschreiben, zeigen uns entweder unser Unvermögen oder unsere Ehrerbietung; unser Unvermögen, wenn wir sagen: unbegreiflich und unendlich; unsere Ehrfurcht, wenn wir ihm diese Namen geben, die zwischen uns die Namen solcher Dinge sind, die wir am meisten verherrlichen und loben, wie etwa allmächtig, allwissend, gerecht, barmherzig etc. Und wenn der Allmächtige sich diese Namen selbst in der Bibel gibt, so ist dies nur anthropopathos [menschliches Empfi nden], das heißt, dass er sich zu unserer Art zu sprechen herablässt, ohne die wir nicht fähig wären, ihn zu verstehen. 4. Unter dem Namen »Geist« verstehen wir einen natürlichen Körper, der aber von solcher Feinheit ist, dass er nicht auf die Sinnesempfindung hin wirkt, der aber den Platz ausfüllt, den das Bild eines sichtbaren Körpers ausfüllen könnte. Unsere Vorstellung von Geist besteht daher in einer Gestalt ohne Farbe; und mit Gestalt wird Ausdehnung verstanden, und folglich stellt man sich unter Geist irgendetwas vor, das eine Ausdehnung hat. Aber übernatürliche Geister kennzeichnen üblicherweise irgendeine Substanz ohne Ausdehnung; womit diese beiden Worte einander
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glatt widersprechen. Wenn wir deshalb Gott den Namen Geist zuschreiben, dann belegen wir damit nicht irgendetwas mit dem Namen von etwas, das wir uns vorstellen, genauso wenig wie wir ihm Sinnesempfi ndung und Verständnis zuschreiben, sondern wir tun dies als Kennzeichnung unserer Ehrerbietung, die sich danach sehnt, alle körperliche Grobheit von ihm abzuziehen. 5. In Hinsicht auf andere Geister, die manche Menschen unkörperliche, andere körperliche Geister nennen, ist es unmöglich, nur durch natürliche Mittel mehr zu erfahren, als dass es solche Dinge gibt. Wir, die wir Christen sind, anerkennen, dass es gute und böse Engel gibt und dass sie Geister sind und dass die Seele des Menschen ein Geist ist und dass diese Seelen unsterblich sind.87 Aber es zu wissen, womit gesagt ist, es auf natürliche Art zu beweisen, das ist unmöglich. Denn jeder Nachweis ist Vorstellung, wie es im Kap. VI, 3 gesagt wurde. Und jede Vorstellung ist eine Einbildung und rührt von der Sinnesempfi ndung her, Kap. III, 1. Und Geistern unterstellen wir, solche Substanzen zu sein, die nicht auf die Sinnesempfindung einwirken und deshalb nicht denkbar sind. Aber obwohl die Bibel Geister anerkennt, sagt sie dennoch an keiner Stelle, dass sie unkörperlich, also ohne Ausdehnung und Größe, sind; noch, denke ich, ist das Wort unkörperlich überhaupt irgendwo in der Bibel; gesagt wird aber vom Geist, dass er im Menschen fortbesteht, gelegentlich, dass er manchmal in ihnen wohnt, zuweilen, dass er über sie kommt und wieder von ihnen geht und dass Geister Engel, also Gesandte sind; lauter Worte, die Örtlichkeit mitbedeuten, und Örtlichkeit ist Ausdehnung; und was auch immer Ausdehnung hat, ist ein Körper, mag er so fein sein wie nur irgendwas. Mir scheint es daher, dass die Bibel eher für diejenigen spricht, die Engel und Geister für körperlich halten, als für diejenigen, die das Gegenteil behaupten. Und es ist ein glatter Widerspruch des täglichen Geredes, über die Seele des Menschen zu sagen, dass sie tota in toto [alles in Allem] und tota in qualibet parte corporis [alles in jedem beliebigen Teil des Körpers] sei, weder durch Ver-
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nunft noch durch Offenbarung begründet. Entstanden ist dies vielmehr aus der Unwissenheit darüber, was die Dinge sind, die spectra (Gespenster) genannt werden, Bilder, die in der Nacht den Kindern erscheinen und solchen Leuten, die überaus furchtsam sind oder über starke Einbildungskraft verfügen, wie in Kap. III, 5 gesagt wurde, wo ich sie Phantasiedinge nenne. Hielten sie sie für wirkliche Dinge außerhalb von uns, wie Körper, und sähen sie sie so seltsam kommen und verschwinden, wie sie es tun, ganz anders als die Körper, wie sonst sollten sie sie nennen, als unkörperliche Körper? Das aber ist kein Name, sondern eine sprachliche Absurdität. 6. Es stimmt, dass die Heiden und alle Nationen der Welt anerkannt haben, dass es Geister gibt. Zum überwiegenden Teil halten sie sie für unkörperlich. Dadurch kann man zur Überzeugung kommen, dass ein Mensch durch natürliche Vernunft und ohne die Bibel zu kennen, zu der Erkenntnis gelangen kann, dass es Geister gibt. Aber die irrtümliche Zusammenfassung davon durch die Heiden kann, wie ich zuvor gesagt habe, von der Unwissenheit über die Ursachen von Gespenstern und Phantasiedingen und vergleichbaren Geistererscheinungen kommen. Aus diesem Grund hatten die Griechen die Vielzahl ihrer Götter, die Vielzahl ihrer guten und bösen Dämonen und jeder Mensch seinen Geist. Das ist nicht dasselbe wie die Anerkennung der Wahrheit, dass es Geister gibt. Es ist dies nur eine falsche Vorstellung von der Kraft der Einbildung. 7. Wir sehen, dass das Wissen, das wir über Geister haben, keine natürliche Erkenntnis ist. Es ist vielmehr ein Glaube aus einer übernatürlichen Offenbarung, wie sie den heiligen Autoren der Bibel gegeben wurde,88 der überdies der Eingebung entstammt, denn so funktionieren die Geister in uns. Das Wissen, das wir darüber haben, muss zur Gänze aus der Heiligen Schrift herrühren. Die darin niedergeschriebenen Zeichen sind Wunder, wenn sie groß sind, und offenkundig jenseits der Macht von Menschen, sie durch Betrügerei herzustellen; z. B. wurde die Eingebung des
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Elias’ durch die wundersame Verbrennung seines Opfers bekannt. Aber die Zeichen, vermittels derer wir auseinanderhalten, ob ein Geist gut oder schlecht ist, sind die gleichen, durch die wir unterscheiden, ob ein Mensch oder ein Baum gut oder schlecht ist, und zwar durch dessen Handlungen und durch seine Frucht. Es gibt nämlich lügende Geister, durch welche die Menschen manchmal angeregt werden, wie es auch wahrsprechende Geister gibt. Und in der Bibel wird uns geboten, die Geister nach ihrer Glaubenslehre zu beurteilen und nicht den Lehrsatz nach den Geistern. Denn unser Heiland hat uns verboten, unseren Glauben durch sie beurteilen zu lassen, Matt. 24, 24.89 Und Paulus sagt, Gal. 1, 8: So Euch ein himmlischer Engel anderes verkündigt, etc. so sei er verflucht.90 Daraus geht hervor, dass wir nicht durch den Engel beurteilen sollen, ob ein Glaubenssatz wahr ist oder nicht, sondern dass entsprechend dem Glaubenssatz, ob der Engel das Wahre oder Falsche sagte. Ähnlich auch 1 Joh. Kap. 4, Vers 1: Glaubt nicht einem jeden Geist, denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt; Vers 2: Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: Ein jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist, der ist von Gott; Vers 3: Und ein jeder Geist, der nicht bekennt, dass Jesus Christus ins Fleisch gekommen ist, der ist nicht von Gott; und das ist der Geist des Antichrist; Vers 15: Wer nun bekennt, dass Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. Das Wissen also, dass wir von guter und schlechter Eingebung haben, kommt weder vom Traumbild eines Engels, der es uns lehrt, noch von einem Wunder, das es uns scheinbar bestätigt, sondern durch Übereinstimmung der Glaubenslehre mit diesem Artikel und dem Grundgedanken des christlichen Glaubens, von dem auch Paulus sagt, 1 Kor. 3, 11, dass er die einzige Grundlage ist: dass Jesus Christus Fleisch geworden ist.91 8. Wenn aber Eingebung durch diesen Punkt unterschieden wird und dieser Punkt von der Autorität der Schriften anerkannt und geglaubt wird, wie (so könnte einer fragen) wissen wir, dass der Bibel so große Autorität zukommt, die nicht geringer sein dürfte
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als diejenige der lebendigen Stimme Gottes?, oder anders: Wie wissen wir, dass die Schriften das Wort Gottes sind? Zunächst ist es offenkundig, dass wir, wenn wir unter Wissen unfehlbare und natürliche Wissenschaft, wie sie auf der Sinnesempfi ndung beruht, verstehen, wie es in Kap. VI, 4 defi niert ist, nicht einfach gesagt haben können, es zu wissen, denn dies beruht auf den durch Sinnesempfindungen erzeugten Vorstellungen. Und wenn wir Wissen als übernatürlich verstehen, dann können wir es nur durch Eingebung wissen. Und durch diese Eingebung können wir nicht anders urteilen als durch die Glaubenslehre. Daraus folgt, dass wir keinen Weg haben, einerlei ob natürlich oder übernatürlich, dieses Wissen darüber als unfehlbare Wissenschaft oder als Beweis im eigentlichen Sinne zu bezeichnen. Damit bleibt nur, dass das Wissen darüber, dass die Schriften das Wort Gottes sind, nur ein Glaube ist. Denn was auch immer erwiesen ist, sei es durch natürliche Vernunft oder durch übernatürliche Eingebung, wird nicht als Glaube bezeichnet; ansonsten sollte – was der Glaubenslehre der Bibel widerspricht – der Glaube nicht nachlassen, so wenig wie die Barmherzigkeit, wenn wir im Himmel sind. Und es wird uns nicht nachgesagt, dass wir nachgewiesene Dinge glauben, sondern dass wir sie wissen. 9. Wir sehen also, dass die Anerkennung der Schriften als das Wort Gottes keine bewiesene Sache, sondern ein Glaube ist. Und der Glaube, Kap. VI, 7, besteht im Vertrauen, das wir in andere Menschen haben. Es scheint klar zu sein, dass die vertrauenswürdigen Männer die heiligen Männer der Kirche Gottes sind. Sie folgen einander seit der Zeit jener Männer, die die wundersamen Werke des ins Fleisch gekommenen Allmächtigen sahen, einer dem anderen nach. Damit ist aber nicht gesagt, dass Gott nicht der Schöpfer und die wirksame Ursache des Glaubens ist oder dass der Glaube im Menschen ohne Gottes Geist in die Welt gesetzt wurde. Alle guten Ansichten nämlich, die wir zugestehen und glauben, mögen sie auf Gehörtem oder auf dem Hören beim Unterrichten beruhen, beide natürlicher Ursache, sind doch die
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Schöpfung Gottes. Denn alle Schöpfungen der Natur sind die seinen und sind auf den Geist Gottes zurückzuführen. Wie zum Beispiel Exod. 28, 3: Rede mit allen verständigen Männern, die ich mit dem Geist der Weisheit gefüllt habe, damit sie Aarons Gewänder anfertigen, damit er geheiligt sei und mir als Priester dient. Es ist also jener Glaube, mit dem wir glauben, das Werk von Gottes Geist in dem Sinne, dass der Geist Gottes dem einen Mann mehr als einem anderen Weisheit und Sachverständigkeit zuteilt. Dadurch wirkt er auch in anderen Bereichen, die unser gewöhnliches Leben betreffen, sodass ein Mensch etwas glaubt, was ein anderer nicht glaubt, und dass ein Mensch den Befehlen seiner Vorgesetzten Ehrerbietung entgegen bringt, und andere nicht. 10. Wir sehen, dass unser Glaube daran, dass die Schriften das Wort Gottes sind, mit der Zuversicht und dem Vertrauen begann, die in der Kirche ruhen. Es kann also keinen Zweifel geben, dass deren Auslegung dieser Schriften vertrauenswürdiger ist als die eigene, aus Räsonieren oder Geist hervorgegangene Meinung, wenn irgendein Zweifel oder Streit entstehen sollte, durch den der grundsätzlichste Punkt, dass Jesus Christus ins Fleisch gekommen ist, nicht in Frage gestellt wird.92 11. Die gottwärts gerichteten Zuneigungen sind nun nicht immer gleich denen, die im Kap. IX über die Leidenschaften beschrieben wurden. Denn dort heißt lieben, das Bild oder die Vorstellung des geliebten Dinges zu genießen. Gott aber ist unbegreiflich.93 Gott zu lieben heißt deshalb in der Bibel, seine Gebote zu befolgen und einander zu lieben. Gott zu vertrauen ist etwas anderes als unser wechselseitiges Vertrauen. Wenn nämlich ein Mensch einem anderen traut, Kap. IX, 9, dann legt er seine eigenen Bestrebungen zur Seite. Wenn wir es aber so im Vertrauen auf den Allmächtigen tun, dann missachten wir ihn. Wie aber sollen wir dem vertrauen, dem gegenüber wir ungehorsam sind? Vertrauen in den Allmächtigen zu haben heißt also, dass wir es seinem Wohlgefallen überlassen, zu bewirken, was über unserer eigenen Macht steht. Und dies ist nichts anderes, als dass wir ihn als Gott anerkennen;
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das ist der grundlegende Artikel unseres christlichen Glaubens. Christus zu vertrauen, auf ihn zu bauen oder, wie manche es ausdrücken, sich ihm hinzugeben und uns ihm auszuliefern, das ist nichts anderes als der grundlegende Glaubensinhalt selbst, nämlich dass Jesus Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist. 12. Gott im innersten Herzen zu ehren ist nichts anderes als das, was wir üblicherweise als Ehre unter den Menschen bezeichnen. Es ist ja nichts anderes als die Anerkennung seiner Macht. Und die Zeichen davon sind dieselben Zeichen von Ehre, wie wir sie unseren Vorgesetzten gegenüber schuldig sind und wie sie in Kap. VIII, 6 erwähnt wurden: zu loben, zu verherrlichen, ihn zu segnen, zu ihm zu beten, ihm zu danken, ihm Opfer zu geben und sich ihm aufzuopfern, seinem Wort Beachtung zu schenken, im Gebet mit Überlegung zu ihm zu sprechen, bescheiden und in schicklicher Manier in seine Gegenwart zu treten und seine Verehrung mit Pracht und Aufwand zu schmücken. Und das sind die natürlichen Zeichen, ihn im Innersten zu ehren. Das Gegenteil davon ist daher: das Gebet zu vernachlässigen, unvorbereitet mit ihm zu sprechen, unordentlich zur Kirche zu gehen, den Ort einer Verehrung weniger zu schmücken als unsere eigenen Häuser, seinen Namen in jedem müßigen Gerede zu erwähnen, das alles sind offenkundige Zeichen der Geringschätzung der göttlichen Majestät. Es gibt andere Zeichen, die beliebig sind, etwa unbedeckt zu sein (wie wir es hier sind), die Schuhe auszuziehen, wie Moses beim brennenden Busch, und einige andere Dinge dieser Art. Sie sind ihrer eigenen Natur nach gleichgültig, bis es, um unsittliche Handlungen und Zweitracht zu vermeiden, durch gemeinsame Billigung anders festgelegt wird.94
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K apitel XII Wie durch Überlegu ng aus Leidenschaften die menschlichen Handlu ngen hervorgehen 95 1. Es ist schon erklärt worden,96 wie äußere Gegenstände Vorstellungen verursachen und Vorstellungen Verlangen und Furcht, welche die ersten unbemerkten Anfänge unserer Handlungen sind. Denn entweder folgt die Handlung unmittelbar dem ersten Verlangen, wenn wir etwa ganz plötzlich handeln, oder unserem ersten Verlangen folgt irgendeine Vorstellung davon, dass uns durch eine solche Handlung etwas Schlechtes geschieht, was wir Furcht nennen, und hält uns von einer Fortsetzung ab. Und dieser Furcht kann ein neues Verlangen folgen und diesem Verlangen wiederum Furcht, abwechselnd, bis die Handlung entweder unternommen wird oder ein Missgeschick dazwischen kommt und sie unmöglich macht. Damit fi ndet der Wechsel zwischen Verlangen und Furcht dann ein Ende. Diese abwechselnde Folge von Verlangen und Furcht, während der unsere Macht, zu handeln oder es bleiben zu lassen, dauernd vorhanden ist, nennt man ÜBERLEGUNG (DELIBERATION). Dieser Name wurde ihr wegen des Teils der Bezeichnung gegeben, in dem gesagt wird, dass sie so lange währt, wie die Handlung, über die wir nachdenken, in unserer Macht steht. Genau so lange haben wir die Freiheit zu handeln oder nicht zu handeln; und die Überlegung kennzeichnet die Beseitigung unserer eigenen Freiheit.97 2. Deshalb erfordert die Überlegung für eine wohlbedachte Handlung zweierlei: Einerseits muss sie in der Zukunft liegen; und überdies, es muss Hoff nung bestehen, sie ausführen oder sie möglicherweise nicht verrichten zu können. Denn Verlangen und Furcht sind Erwartungen, die auf die Zukunft gerichtet sind; und weder gibt es eine Erwartung von etwas Gutem ohne Hoff nung noch von einem Schlechten ohne Möglichkeit dazu. Über Notwendigkeiten muss man nicht groß nachdenken.98 Beim Überlegen wird das letzte Verlangen und auch die letzte Furcht WILLEN
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(WILL) genannt, das letzte Verlangen der Wille, etwas zu tun, die letzte Furcht der Wille, es nicht zu tun oder es zu unterlassen. Es bleibt sich gleich, ob man nun Wille oder letzter Wille sagt, denn wenn ein Mensch seine momentane Neigung und sein Verlangen hinsichtlich der Verfügung über seine Güter mündlich oder schrift lich äußert, dann sollte es dennoch nicht als sein Wille gezählt werden, weil er immer noch die Möglichkeit hat, anders zu disponieren. Wenn aber der Tod diese Freiheit genommen hat, dann ist es sein Wille. 3. Freiwillige Handlungen und Unterlassungen99 sind solche, die im Willen ihren Anfang haben; alle anderen sind UNFREIWILLIG (INVOLUNTARY) oder GEMISCHT (MIXED). Freiwillig ist, was ein Mensch aus Verlangen oder Furcht tut; unfreiwillig, was er aus Naturnotwendigkeit tut, wenn er etwa gestoßen wird oder fällt und dadurch einem anderen Gutes tut oder schadet. Gemischt ist solches, an dem beides teilhat, so etwa, wenn ein Mann zum Gefängnis geführt und dabei gegen seinen Willen vorwärtsgestoßen wird und aus Furcht, über den Boden geschliffen zu werden, dennoch freiwillig aufrecht geht. Insofern er ins Gefängnis geht, ist das Gehen freiwillig, dass er aber ins Gefängnis geht, ist unfreiwillig. Das Beispiel desjenigen, der seine Sachen aus dem Schiff aufs Meer warf, um seine Person zu retten, handelt von einer Tat, die insgesamt freiwillig ist: denn dabei ist nichts Unfreiwilliges, außer der Härte der Wahl, die nicht seine Handlung, sondern das Tun des Windes ist100. Was er selbst tut, das ist nicht mehr gegen seinen Willen, als vor der Gefahr zu fl iehen gegen den Willen dessen ist, der keine anderen Mittel sieht, sich selbst zu erhalten. 4. Freiwillig also sind diejenigen Handlungen bei Menschen, die gut und böse unterscheiden können, die aus plötzlichem Zorn oder einem anderen momentanen Verlangen hervorgehen; denn bei ihnen ist die vorangehende Zeit als Überlegung zu bewerten. In dieser Zeit nämlich überlegen sie auch, in welchen Fällen es gut ist zu schlagen, sich über jemanden lustig zu machen oder irgend-
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eine andere Handlung zu setzen, die im Zorn oder einer anderen solchen plötzlichen Leidenschaft ihren Ursprung hat. 5. Verlangen, Furcht, Hoff nung und der Rest an Leidenschaften werden nicht freiwillig genannt, denn sie rühren nicht vom Willen her, sondern sind der Wille; und der Wille ist nicht freiwillig.101 Denn ein Mensch kann genauso wenig sagen, er will wollen, als er sagen kann, er will wollen wollen, und derart eine unendliche Wiederholung des Wortes »wollen« machen. Das ist absurd und belanglos. 6. Insofern der Wille, etwas zu tun, ein Verlangen ist und der Wille zu unterlassen, Furcht, sind die Ursachen von Verlangen und von Furcht die Ursachen auch unseres Willens. Aber das Aufstellen von Vorteilen und Beschädigungen, das heißt von Belohnung und Strafe, ist die Ursache unseres Verlangens und unserer Ängste und deshalb auch von unserem Wollen, soweit wir glauben, dass solche gemutmaßten Belohnungen und Vorteile auch bei uns ankommen. Und mithin folgt unser Wollen unseren Ansichten, so wie unsere Handlungen unserem Willen folgen. In diesem Sinne sprechen diejenigen wahrheitsgemäß und angemessen, die sagen, die Welt würde durch die Meinung regiert.102 7. Wenn die Willen vieler sich zu ein und derselben Handlung oder Auswirkung treffen, dann wird dieses Zusammentreffen ihrer Willen ÜBEREINSTIMMUNG (CONSENT) genannt.103 Darunter dürfen wir nicht einen gemeinsamen Willen vieler Menschen verstehen, denn jeder Mensch hat seinen gesonderten Willen, sondern viele Willen zur Erzeugung einer Auswirkung. Wenn aber die Willen von zwei verschiedenen Menschen solche Handlungen erzeugen, die einander wechselseitig widerständig sind, dann wird dies STREIT (CONTENTION) genannt; wird er von einer Person gegen eine andere geführt, KAMPF (BATTLE); wohingegen man Handlungen, die aus Übereinstimmung herrühren, gegenseitige HILFE (AID) nennt. 8. Wenn das Wollen vieler zustimmend beteiligt oder einbegriffen ist in einem oder mehreren Willen (wie das sein kann, soll
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später erklärt werden), dann wird diese Beteiligung vieler Willen zu einem oder mehr VEREINIGUNG (UNION) genannt. 9. Bei unterbrochenen Überlegungen, wie es durch Ablenkung auf eine andere Sache oder durch den Schlaf der Fall sein kann, wird das letzte Verlangen dieses Teils der Überlegung ABSICHT (INTENTION) oder Vorsatz genannt.
K apitel XIII Wie die Menschen durch die Spr ache wechselseitig auf ihr en Geist ein wirken 104 1. Nachdem wir von den Kräften und Handlungen des Geistes gesprochen haben, sowohl von den erkennenden als auch von den bewegenden, betrachtet in jedem Menschen für sich und ohne Beziehung zu anderen, gehört es nun in dieses Kapitel, über die Wirkungen dieser Kräfte aufeinander zu sprechen. Diese Wirkungen sind auch die Zeichen, durch die einer bemerkt, was ein anderer gedacht und beabsichtigt hat. Einige dieser Zeichen können nicht leicht nachgemacht werden, etwa Bewegungen und Gesten, besonders wenn sie plötzlich gemacht werden. Im Kap. IX habe ich bei den verschiedenen Leidenschaften einige Beispiele erwähnt, wovon sie Zeichen sind; es gibt indes andere, die nachgemacht werden können, und zwar sind das die Wörter oder die Rede. Von deren Gebrauch und der Wirkung werde ich an dieser Stelle sprechen. 2. Die erste Anwendung der Sprache ist der Ausdruck unserer Vorstellungen, damit wir in anderen dieselben Vorstellungen erzeugen, die wir in uns selbst haben. Und dies wird UNTERRICHTEN (TEACHING) genannt.105 Wenn nämlich die Vorstellungen des Lehrenden beständig seine Worte begleiten, erst einmal mit etwas aus Erfahrung, dann erzeugt es den gleichen Beweis im Hörer, der ihn nachvollziehen kann, und lässt ihn, von dem man
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dann sagt, dass er es LERNT (LEARN), etwas wissen.106 Wenn es aber solch eines Nachweises ermangelt, dann wird so eine Lehre ÜBERREDUNG (PERSUASION) genannt und hinterlässt im Hörer nicht mehr als das, was im Sprecher ist, bloßes Meinen.107 Und die Zeichen zweier gegensätzlicher Meinungen, nämlich Bejahung und Verneinung derselben Sache, nennt man MEINUNGSVERSCHIEDENHEIT (CONTROVERSY), zwei Bejahungen oder zwei Verneinungen aber ÜBEREINSTIMMUNG (CONSENT). 3. Das untrügliche Zeichen, dass genau und ohne Irrtum unterrichtet wird, ist dies: dass niemand je das Gegenteil gelehrt hat; nicht wenige, wie wenige auch immer, sondern keiner. Denn für gewöhnlich ist die Wahrheit eher auf der Seite der Wenigen als bei der Menge. Geschieht es aber bei Meinungen und Fragen, wie sie von vielen betrachtet und diskutiert werden, dass nicht einer von den Menschen, die so diskutieren, vom anderen abweicht, dann kann man berechtigterweise daraus ableiten, dass sie wissen, was sie lehren, andernfalls täten sie es nicht. Und dies tritt überdeutlich bei jenen in Erscheinung, die über die verschiedenen Themen, bei denen die Menschen ihre Stifte eingesetzt haben, und über die verschiedenen Wege, auf denen sie dabei voranschreiten, und auch über die Unterschiedlichkeit der daraus fl ießenden Ergebnisse nachgedacht haben. Denn die Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, über nichts anderes nachzudenken als über den Vergleich von Mengen, Zahlen, Zeiten und Bewegungen und ihr jeweiliges Verhältnis zueinander, sind dadurch die Autoren all der Vortreffl ichkeiten, durch die wir uns von solch wilden Leuten unterscheiden, wie sie jetzt die verschiedenen Orte Amerikas bevölkern und auch die Bewohner derjenigen Länder gewesen sind, wo heutzutage die Künste und Wissenschaften am meisten florieren. Denn aus den Untersuchungen dieser Männer hat sich entwickelt, was auch immer durch die Schiff fahrt an Schmuck zu uns kommt und was auch immer wir an Nutzen für die menschliche Gesellschaft durch die Teilung, Unterscheidung und Abbildung der Erdoberfläche, überdies durch die Berech-
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nung der Zeiten und die Prognose der Himmelsbahn, durch das Messen der Distanzen, Flächen und Stoffe aller Art, und auch, was wir sowohl durch die Schönheit als auch durch die Standhaft igkeit unserer Gebäude gewonnen haben. Würden wir uns das alles wegdenken, was würde uns vom wildesten der Indianer unterscheiden? Dennoch hat man bis zum heutigen Tag niemals davon gehört, dass es irgendeine Kontroverse über irgendeine Schlussfolgerung bei diesem Thema gegeben hat;108 die Wissenschaft hiervon wurde dennoch mittels höchst komplizierter und tiefsinniger Hypothesen erweitert und bereichert. Der Grund dafür ist jedem Menschen ersichtlich, der einen Blick in deren Schriften wirft, denn sie gehen von den einfachsten und bescheidensten Grundsätzen aus, wie sie selbst den einfachsten Geistern evident sind; sie gehen langsam vor und leiten mit der gewissenhaftesten Schlussfolgerung von der Festlegung der Namen die Wahrheit ihrer ersten Aussagen ab und aus den beiden ersten eine dritte und aus irgendwelchen zwei von drei dann ein vierte und so weiter, entsprechend den Stufen des Wissenserwerbs, die in Kap. VI, 4 angeführt sind. Im Gegensatz dazu haben die Männer, die über die Fähigkeiten, Leidenschaften und Sitten der Menschen geschrieben haben, also über Moralphilosophie oder über Politik, Regierung und Gesetze, worüber es eine unendliche Reihe von Bänden gibt, anstatt die Zweifel und Kontroversen auf den von ihnen behandelten Gebieten zu mindern, diese überaus stark vervielfältigt. Niemand wird heute von sich behaupten können, er wisse mehr als das, was von Aristoteles vor zweitausend Jahren geliefert wurde. Und dennoch denkt jedermann, dass er auf diesem Gebiet so viel wisse wie irgendein anderer, weil sie annehmen, dass es dazu keiner Untersuchung bedürfe, sondern dass ihnen das Wissen durch den angeborenen Verstand anwachse, obgleich sie spielen oder ihren Geist ansonsten mit der Beschaffung von Reichtum oder Stellung beschäft igen. Der Grund dafür ist kein anderer, als dass sie in ihren Schriften und Abhandlungen ganz abgeschmackte Ansichten als Grundsätze nehmen, ei-
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nerlei ob sie wahr oder falsch sind – und meistens sind sie falsch. Hier besteht deshalb reichlich Unterschied zwischen Lehren und Überreden; die Zeichen des Letzteren sind Kontroversen, die des Ersteren: keine Meinungsverschiedenheit. 4. Es gibt zwei Sorten von Menschen, die üblicherweise gelehrt genannt werden: Die eine Sorte geht offenkundig von den einfachsten Grundlagen aus, wie es im vorigen Abschnitt beschrieben wird. Diese Leute werden mathematici [Mathematiker] genannt. Die andere Sorte greift Maximen aus ihrer Erziehung und von Autoritäten oder von den üblichen Gepflogenheiten auf und nimmt die gewohnten Redeweisen als folgerichtiges Schlussfolgern; und diese werden dogmatici [Dogmatiker] genannt.109 Im vorigen Abschnitt sehen wir aber, dass diejenigen, die wir mathematici nennen, vom Verbrechen, Kontroversen zu entfachen, entbunden sind; diejenigen aber, die vorgeben nicht zu lernen, können nicht angeklagt werden. Der Fehler liegt allein bei den Dogmatikern, bei denjenigen also, die mangelhaft gelernt haben und mit Leidenschaft darauf drängen, dass ihre Meinungen ohne jegliche Darlegung110 überall als Wahrheit durchgehen, wiewohl diese weder aus der Erfahrung noch aus den unstrittiger Auslegung zugänglichen Stellen der Bibel stammen. 5. Den Ausdruck dieser Vorstellungen, die in uns die Erwartung entweder von etwas Gutem oder von etwas Schlechtem verursachen, während wir überlegen, nennt man BERATUNG (COUNSELLING). Und so wie in der inneren Überlegung des Geistes über das, was wir tun oder nicht tun, die Resultate der Handlung dadurch, dass sie sich abwechselnd im Geist folgen, unsere Ratgeber sind, so auch bei einem Rat, den ein Mensch von anderen annimmt. Die Ratgeber führen abwechselnd die Konsequenzen einer Handlung vor Augen, und keiner von ihnen beurteilt selbst, sondern sie statten als einer unter allen den, der beraten wird, mit Argumenten aus, die derjenige dann selbst durchdenken muss. 6. Um über Verlangen, Absicht und Willen zu sprechen, verwendet man andere Ausdrücke: Das Verlangen nach Wissen etwa
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nennt man Befragung; das Verlangen, dass etwas von einem anderen getan werde, nennt man Ersuchen, Gebet oder Bittschrift ; es gibt Ausdrücke über unsere Absicht oder unseren Vorsatz, wie VERSPRECHEN (PROMISE), das die Bejahung oder Verneinung eines zukünft igen Tuns ist, DROHEN (THREATENING), das Versprechen eines Übels, und BEFEHLEN (COMMANDING), wodurch wir anderen unser Verlangen oder unseren Wunsch mitteilen, dass irgendetwas, aus einem Grund, der im Willen selbst liegt, getan zu werden hat oder unterbleiben soll. Es ist falsch, wenn man sagt: Sic volo, sic jubeo [So will ich, so befehle ich], ohne hinzuzufügen: Stet pro ratione voluntas [Lass den Willen für die Begründung stehen].111 Und enthält der Befehl einen genügenden Grund, uns zum Handeln zu bewegen, dann wird dieser Befehl GESETZ (LAW) genannt.112 7. Ein anderer Gebrauch von Sprache ist das AUFHETZEN (INSTIGNATION) und das BESCHWICHTIGEN (APPEASING), wodurch wir die Leidenschaften eines anderen entweder steigern oder herabmindern. Das ist nicht anders als bei der Überredung, ein wirklicher Unterschied besteht nicht, denn das Erzeugen von Meinung und Leidenschaft ist dasselbe Tun. Wo wir aber bei der Überredung darauf zielen, eine Meinung aus einer Leidenschaft zu bekommen, geht es hier darum, Leidenschaft aus einer Meinung zu erwecken. Und wie bei der Erzielung einer Meinung aus einer Leidenschaft, so sind auch hier x-beliebige Voraussetzungen gut genug, um daraus die erwünschte Schlussfolgerung zu ziehen; deshalb ist es, wenn man aus einer Ansicht heraus eine Leidenschaft steigert, ganz einerlei, ob diese Meinung richtig oder falsch ist oder ob der Bericht auf historischer Grundlage erfolgt oder bloß ein Märchen ist. Denn nicht die Wahrheit, sondern das Bild erweckt die Leidenschaft, und eine gut gespielte Tragödie beeinflusst nicht weniger als eine Mordtat. 8. Wiewohl die Worte die Zeichen sind, die wir von den Ansichten und Absichten anderer haben, so muss es doch, da sie infolge der Verschiedenheit der Umstände und wegen der Gesellschaft ,
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in der sie sich befinden, beständig mehrdeutig sind (weswegen die Gegenwart dessen, der spricht, unsere Sicht auf sein Tun und die Vermutung seiner Absichten entlasten müssen), überaus schwer sein, die Meinungen und das Meinen derjenigen Menschen zu ermitteln,113 die schon lange von uns gegangen sind und uns keine anderen Wahrzeichen hinterlassen haben als ihre Bücher; ohne genügend geschichtliche Kenntnisse und ohne große Sorgfalt ist es unmöglich, ihre vorgenannten Zeitumstände zu erkennen und sie zu verstehen. 9. Bringt uns ein Mensch zwei gegensätzliche Meinungen zur Kenntnis, wovon die eine klar und genau ausgedrückt ist und die andere entweder davon die Folgerung ist oder ihr dem Anschein nach nicht widerspricht, dann haben wir (wenn er nicht anwesend ist, um sich besser zu erklären) die erstere Meinung als die seine zu nehmen; denn diese ist klar und direkt als die seine gekennzeichnet, während die andere aus einem Irrtum der Ableitung oder aus Unkenntnis eines inneren Widerspruchs entstanden sein kann. Eben dies gilt aus dem gleichen Grund auch für zwei widersprechende Ausdrücke für die Absichten und den Willen eines Menschen. 10. Spricht irgendjemand zu einem anderen, so hat er damit die Absicht, den anderen verstehen zu lassen, was er sagt. Wenn er zu ihm nun aber entweder in einer Sprache spricht, die der Hörer nicht versteht, oder wenn er ein Wort in einem anderen Sinn verwendet als den, den seiner Meinung nach der Hörer damit verbindet, dann ist es wohl seine Absicht zu verhindern, dass verstanden wird, was er sagt. Damit widerspricht er sich selbst. Es ist deshalb immer zu vermuten, dass der, der nicht hinters Licht führen will, demjenigen, an den die Rede gerichtet ist, erlaubt, diese persönlich auszudeuten. 11. Schweigen ist bei denen, die denken, dass es als solches genommen wird, ein Zeichen des Einverständnisses. Denn bei der wenigen Mühe, die es erfordert, Nein zu sagen, darf vermutet werden, dass er, wenn er sich nicht äußert, zustimmt.
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K apitel XIV Stand u nd R echt der Natur 114 1. In den vorangegangenen Kapiteln ist die ganze Natur des Menschen dargelegt worden, wie sie aus den natürlichen Kräften seines Körpers und seines Geistes besteht und in diesen vier erfasst werden kann: Stärke des Körpers, Erfahrung, Vernunft und Leidenschaft. 2. In diesem Kapitel wird es angebracht sein, darüber nachzudenken, in welchen Stand der Sicherheit unsere Natur uns versetzt hat und welche Wahrscheinlichkeit sie uns gelassen hat, weiterzumachen und uns vor gegenseitiger Gewalt zu schützen. Bedenken wir zunächst, wie gering doch der Unterschied in Kraft und Wissen zwischen Menschen reiferen Alters ist. Mit welch großer Leichtigkeit kann der an Kraft oder Gewitztheit oder beidem Schwächere doch die Macht des Stärkeren aufs Gründlichste zerstören. Es bedarf ja nur geringer Anstrengung, jemandem das Leben zu nehmen. In ihrer reinen Natur (mere nature),115 so können wir daraus schließen, sollten sich die Menschen also Gleichheit zugestehen. Wer nicht mehr verlangt, der kann als gemäßigt angesehen werden.116 3. Andererseits: Betrachten wir die großen Unterschiede zwischen den Menschen. Sie kommen von der Verschiedenheit ihrer Leidenschaften und führen dazu, dass einige nicht nur dann, wenn sie den anderen an Macht gleichgestellt, sondern auch, wenn sie ihnen unterlegen sind, sich der eitlen Ruhmsucht ergeben und nach Vorrang und Vorherrschaft über ihre Mitbürger streben. Wir erkennen so die notwendige Konsequenz – dass nämlich die Gemäßigten, die nur die natürliche Gleichheit anstreben, der Gewalt derjenigen ausgesetzt sind, die danach trachten, sie zu unterjochen. Ein allgemeines Misstrauen unter den Menschen und gegenseitige Furcht sind das Ergebnis.117 4. Da ferner die Menschen auf verschiedene Weise durch ihre natürliche Leidenschaft einander beleidigend gegenübertreten –
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jeder Mensch denkt gut von sich selbst und hasst es, dasselbe in anderen zu sehen –, so müssen sie einander durch Worte und andere Zeichen der Missachtung und des Hasses, wie sie allen Vergleichen innewohnen, provozieren, bis sie endlich die Vormachtstellung durch Stärke und körperliche Gewalt ausmitteln müssen. 5. Bedenken wir überdies, dass das Verlangen viele Menschen zu ein und demselben Ziel treibt und dass dieses Ziel manchmal weder gemeinsam genossen noch geteilt werden kann, dann folgt daraus, dass sich der Stärkere allein daran erfreuen und dass durch Kampf entschieden werden muss, wer der Stärkere ist. Deshalb provoziert der größte Teil der Menschen, auch wenn es keine Chancengewissheit gibt, nichtsdestotrotz aus Eitelkeit, aus Vergleichssucht oder Verlangen die Übrigen, die sich ansonsten mit Gleichheit begnügen würden.118 6. Und insofern ein natürlicher Zwang den Menschen dazu treibt, das bonum sibi [gut für sich], nämlich das, was von Nutzen für ihn ist, zu wollen und zu begehren, und das, was ihm schadet, zu vermeiden, vor allem aber jenen schrecklichen Feind der Natur, den Tod, von dem wir sowohl den Verlust aller Macht als auch die größten körperlichen Schmerzen erwarten, steht es nicht der Vernunft entgegen, wenn ein Mensch alles in seiner Macht stehende tut, Körper und Glieder vor Tod und Schmerzen zu schützen. Und was nicht gegen die Vernunft ist, nennen die Menschen RECHT (LAW) oder jus oder die schuldlose Freiheit, unsere eigene natürliche Macht und Möglichkeiten zu nutzen. Es ist deshalb ein natürliches Recht, dass jeder Mensch mit all der Macht, die er hat, sein eigenes Leben und seine Körperglieder erhält.119 7. Wo aber ein Mensch das Recht hat, seine Zwecke zu verfolgen, und der Zweck nicht ohne Mittel erreicht werden kann, also nicht ohne die Dinge, die notwendig für die Zweckerreichung sind, da ist es nur konsequent, dass es nicht gegen die Vernunft und deshalb eines Menschen Recht ist, auch alle Mittel zu gebrauchen und für die Erhaltung seines Körpers zu tun, was auch immer dazu notwendig ist.
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8. Jeder Mensch ist überdies durch das natürliche Recht sein eigener Richter über die Notwendigkeit der Mittel und über die Größe der Gefahr.120 Denn ist es vernunft widrig, dass ich selbst als Richter über die mich betreffende Gefahr urteile, so ist es der Vernunft entsprechend, wenn ein anderer Mensch dies beurteilt. Dieselbe Vernunft aber, die einen anderen Menschen darüber urteilen lässt, was mich betrifft, macht mich auch zum Richter über das, was ihn betrifft. Und demzufolge habe ich Grund genug, sein Urteil danach zu beurteilen, ob es mir zum Nutzen gereicht oder nicht. 9. Dem natürlichen Recht entsprechend soll das Urteil eines Menschen also seinem eigenen Vorteil nutzen; und so sind auch die Stärke, das Wissen und die Geschicklichkeit eines jedes Menschen rechtmäßig angewendet, wenn er sie für sich selbst nutzt; ansonsten hätte ein Mensch ja nicht das Recht zur Selbsterhaltung.121 10. Von Natur aus hat jeder Mensch ein Recht auf alle Dinge122, das heißt, beliebigen Menschen alles Beliebige anzutun, sie zu besitzen und zu gebrauchen und sich an allen Dingen zu erfreuen, soweit er es will und kann. In Hinsicht auf all die Dinge, die er will, müssen diese also nach seinem eigenen Urteil gut sein, weil er sie eben will; und sie müssen gelegentlich auf seine Erhaltung abzielen, oder er muss dies doch annehmen, da wir ihn zum Richter darüber erklärt haben (Abschnitt 8). Daraus folgt, dass alle Dinge mit Recht von ihm getan werden können.123 Und deshalb sagt man zutreffend: Natura dedit omnia omnibus, dass die Natur alle Dinge allen Menschen gegeben hat, insofern jus und utile, Recht und Nutzen, dasselbe ist. Aber dieses Recht aller Menschen auf alle Dinge ist im Ergebnis um nichts besser, als wenn keiner ein Recht auf irgendetwas hätte. Denn ein Mensch bezieht wenig Nutzen und Vorteil aus seinem Recht, wenn ein anderer, der gleich stark oder sogar stärker ist als er selbst, ein Recht auf dasselbe hat.124 11. Zu der in der menschlichen Natur liegenden Angriffsfreudigkeit untereinander kommt also das Recht eines jeden Menschen
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auf jede Sache, wodurch der eine den anderen mit Recht überfällt und der andere sich dagegen mit Recht wehrt.125 Die Menschen leben dadurch in unaufhörlicher Verzagtheit und erforschen, wie sie sich wechselseitig beunruhigen. Der Zustand der Menschen in dieser natürlichen Freiheit ist der Kriegszustand. Denn KRIEG (WAR) ist nichts anderes als die Zeit, in der der Wille und die Absicht, mit Gewalt zu kämpfen, entweder durch Worte oder durch Taten hinlänglich zum Ausdruck gebracht wird;126 und die Zeit, in der kein Krieg ist, ist der FRIEDE (PEACE).127 12. Dieser Zustand der Feindseligkeit und des Krieges ist derart, dass dadurch die Natur selbst zerstört wird und die Menschen einander umbringen (wir wissen, dass es so ist, und die Praxis der heute lebenden wilden Völker zeigt uns dies ebenso wie die Geschichte unserer Vorfahren, der Ureinwohner Germaniens und anderer heute zivilisierter Länder, wo wir nur wenige und kurz lebende Menschen finden, ganz ohne den Schmuck und die Annehmlichkeiten, die von Frieden und Gesellschaft für gewöhnlich erfunden und herbeigeführt werden). Wer sich also danach sehnt, in einem derartigen Zustand128 zu leben, wie es der Zustand der Freiheit und des Rechts aller auf alles ist, der widerspricht sich selbst. Denn jeder Mensch begehrt doch aus natürlicher Notwendigkeit sein eigenes Wohl, dem dieser Zustand entgegensteht, worin wir die Konkurrenzsituation zwischen den von Natur aus Gleichen, die fähig sind, einander zu vernichten, voraussetzen. 13. Betrachtet man dieses Recht, uns selbst nach unserem eigenem Ermessen und unserer Stärke zu schützen, wie es aus der Gefahr herrührt, einer Gefahr, die aus der Gleichheit der Stärke der Menschen entsteht, dann ist es vernünft iger, dass ein Mensch dieser Gleichheit zuvorkommt, noch bevor die Gefahr und die Notwendigkeit eines Kampfes entsteht. Ein Mensch hat deshalb durch den Vorteil seiner vorhandenen Macht das Recht, so er einen anderen unter seiner Macht hat, um ihm Vorschriften zu machen oder ihn zu regieren, um ihm Gutes zu tun oder Schaden zuzufügen, nach seinem Behagen für kommende Zeiten sicher-
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heitshalber Vorsichtsmaßnahmen gegen den anderen zu ergreifen. Demzufolge kann derjenige, der seinen Widersacher schon unterworfen oder jemanden in seine Gewalt gebracht hat, der entweder seines Kindesalters oder seiner Schwäche wegen unfähig ist, ihm zu widerstehen, dem natürlichen Recht zufolge die beste Sicherheitsleistung abverlangen, die ein solches Kind oder eine derart klägliche und kleinlaute Person ihm geben kann, um auch weiterhin von ihm gelenkt und regiert zu werden. Denn wenn wir immer unsere eigene Sicherheit und Erhaltung im Auge haben, dann konterkarieren wir offenkundig unsere Absicht, wenn wir einen solchen Menschen sehenden Auges entlassen und ihm damit gleichzeitig gestatten, Kräfte zu sammeln und unser Feind zu sein. Zusammengefasst können wir sagen, dass die unwiderstehliche Macht im natürlichen Zustand Recht ist.129 14. Weil aber aus der Gleichheit der Stärke und den anderen Fähigkeiten der Menschen vorauszusetzen ist, dass kein Mensch, solange er im Zustand von Feindseligkeit und Krieg verbleibt, genügend Macht hat, um sich selbst für längere Zeit zu sichern und sich dadurch zu erhalten, gebietet es die Vernunft jedem Menschen zu seinem eigenen Wohl, den Frieden anzustreben, solange die Hoff nung besteht, ihn zu erreichen, und mit aller Hilfe, die er auft reiben kann, sich selbst zur eigenen Verteidigung gegen alle jene zu stärken, von denen ein solcher Friede nicht erreicht werden kann, und all jene Dinge zu tun, die dazu förderlich sind.130
K apitel XV Von der Entäusseru ng des natürlichen R echts durch Schenku ng u nd Ver einbaru ng 131 1. Es herrscht bei denen, die bisher dazu geschrieben haben, keine Einigkeit darüber, was das sei, das wir das Recht der Natur nennen. Zum größten Teil haben solche Autoren, die Anlass hatten zu
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beteuern, dass irgendetwas gegen das Recht der Natur sei, nicht mehr behauptet, als dass dies gegen die Übereinstimmung aller Völker oder gegen die der klügsten und meist zivilisierten Völker wäre. Aber es herrscht keine Einigkeit, wer darüber urteilen soll, welche Völker die klügsten sind. Andere führen ins Treffen, dass das gegen das Recht der Natur sei, was im Gegensatz zur Übereinstimmung der gesamten Menschheit steht, eine Festlegung, die gewiss nicht statthaft ist, weil dann kein Mensch sich am Recht der Natur vergehen könnte; die Natur eines jeden Menschen ist doch in der Natur der Menschheit inbegriffen. Aber soweit als alle Menschen, fortgetragen durch die Gewalt ihrer Leidenschaft und durch schädliche Gewohnheiten, solche Dinge tun, von denen gemeinhin gesagt wird, sie seien gegen das Recht der Natur, ist es nicht die Übereinstimmung der Leidenschaft oder die Übereinstimmung in irgendeinem durch schlechte Gewohnheiten veranlassten Irrtum, die das Recht der Natur ausmacht. Die Vernunft entspricht nicht weniger der menschlichen Natur als die Leidenschaft. Sie ist die gleiche in allen Menschen,132 denn alle Menschen stimmen im Willen überein, derart gelenkt und regiert zu werden, dass sie das erreichen, wonach sie sich sehnen, nämlich ihr eigenes Wohl, und das ist das Werk der Vernunft.133 Es kann daher weder ein anderes Recht der Natur geben als die Vernunft selbst, noch kann es andere Gebote des NATÜRLICHEN RECHTS (NATURAL LAW) geben als diejenigen, die zwischen uns die Wege zum Frieden, wo er erhalten werden kann, und zur Verteidigung, wo er nicht erhalten werden kann, verkünden.134 2. Ein Gebot des Rechts der Natur ist es deshalb, dass sich jeder Mensch seines Rechts, das er von Natur aus auf alle Dinge hat, entäußert.135 Denn wenn unterschiedliche Menschen ein Recht nicht nur auf alle Dinge haben, sondern auch auf andere Personen, dann erwächst, wenn sie dieses Recht gebrauchen, aus dem einen Teil der Überfall und aus dem anderen der Widerstand, und das ist Krieg, was wiederum dem Recht der Natur zuwiderläuft , dessen Summe darin besteht, den Frieden herzustellen.
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3. Wenn ein Mensch selbst sich seines Rechts entäußert und begibt, so verzichtet er entweder bloß darauf oder er überträgt es auf einen anderen. VERZICHTEN (RELINQUISH) heißt, mittels zureichender Zeichen zu erklären, dass es sein Wille ist, nicht länger zu tun, was er vordem seinem Recht gemäß getan hat. Einem anderen das Recht zu ÜBERTRAGEN (TRANSFER) heißt, mittels deutlicher Zeichen einem akzeptierenden Anderen gegenüber zum Ausdruck zu bringen, dass es sein Wille sei, ihm hinsichtlich des zuvor besessen, nun aber übertragenen Rechts keinen Widerstand entgegenzusetzen und ihn nicht zu behindern. In Anbetracht dessen, dass jeder Mensch von Natur aus ein Recht auf alles hat, ist es für einen Menschen unmöglich, einem anderen etwas zu übertragen, was er nicht schon zuvor gehabt hätte. Alles, was ein Mensch bei der Rechteübertragung tut, ist also nicht mehr, als dass er seinen Willen bekundet, demjenigen, dem er das Recht auf diese Weise übertragen hat, die Vorteilsausübung aus diesem Recht ohne Belästigung zu gestatten. Gibt etwa ein Mensch sein Land oder seine Güter einem anderen, so begibt er sich des Rechts, das Land zu betreten und Gebrauch von diesem Land oder den Gütern zu machen oder ihn anderweitig am Gebrauch dessen zu hindern, was er ihm gegeben hat. 4. Zwei Dinge also sind es, die bei der Rechteübertragung nötig sind: eines von dem, der überträgt, nämlich die ausreichende Kennzeichnung seines hier vorliegenden Willens; das andere von dem, dem das Recht übertragen wird, und zwar eine ausreichende Erklärung, dass er die Übertragung des Rechts annimmt. Fehlt eines von beiden, dann bleibt das Recht, wo es war. Dabei kann nicht unterstellt werden, dass derjenige, der sein Recht einem gibt, der es nicht annimmt, einfach darauf verzichtet und es also einfach irgendeinem anderen, der es gerade haben will, überträgt; der Grund dafür, das Recht lieber an den einen als an den anderen zu übertragen, liegt doch im Gegenteil in dem einen und nicht in den Übrigen.
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5. Zeigt sich, dass keine anderen Zeichen als nur Worte dafür vorliegen, dass ein Mensch auf sein Recht verzichtet oder es übertragen hat, dann muss dies mit Worten getan werden, die sich auf die Gegenwart oder die Vergangenheit und nicht nur auf die Zukunft beziehen. Denn wer über die Zukunft spricht, also etwa derart über den nächsten Tag: Ich werde geben, der erklärt in offenkundiger Weise, dass er gerade jetzt nicht gegeben hat. Deshalb behält er heute sein Recht so lange, bis er tatsächlich gegeben hat. Der aber, der sagt: Ich gebe jetzt, oder: Ich habe einem anderen etwas gegeben, damit er dasselbe am nächsten Tag oder irgendwann in Zukunft hat und sich daran erfreut, der hat jetzt tatsächlich dieses Recht übertragen, wessen er anderenfalls zu der Zeit gehabt hätte, in der der andere sich nun daran erfreut. 6. Weil aber Worte alleine keine ausreichende Erklärung der Geisteshaltung sind, wie in Kap. XIII, 8 gezeigt wurde, vermögen de futuro gesprochene Worte, wenn der Wille dessen, der sie ausspricht, mit anderen Zeichen versammelt ist, sehr oft so aufgefasst werden, als ob sie de præsentis gemeint wären. Zeigt es sich nämlich, dass derjenige, der gibt, demjenigen gegenüber, dem er gibt, sein Wort so verstanden haben wollte, als hätte er sein Recht tatsächlich übertragen, dann muss er notwendigerweise so verstanden werden, dass er alles Notwenige will, was dazu notwendig ist. 7. Wenn ein Mensch irgendein Recht an einen anderen ohne Bedachtnahme auf einen erfolgenden Nutzen, mag er sich auf die Vergangenheit, auf die Gegenwart oder auf die Zukunft beziehen, überträgt, dann wird das FREIWILLIGE GABE (FREE GIFT) genannt. Und bei einer freiwilligen Gabe können keine anderen Worte Verbindlichkeit erzeugen als solche de præsentis oder de præterito; denn nur de futuro gesprochen übertragen sie nichts, noch können sie so verstanden werden, als ob sie dem Willen des Gebers entstammen. Eine freiwillige Gabe enthält doch keine größere Verpfl ichtung, als ihr durch Worte Geltung verschafft wird. Denn derjenige, der nur seiner Neigung folgend zu geben verspricht, der denkt, solange er nicht gegeben hat, noch darüber
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nach, ob die Gründe seiner Neigung andauern oder schwinden; und wer noch überlegt, der hat noch nicht gewollt, denn der Wille ist der letzte Akt seines Nachdenkens. Wer also verspricht, ist dadurch nicht schon ein Geber, sondern ein doson, ein Name, der Antiochus gegeben wurde136, der oft versprach, aber selten gab. 8. Wenn ein Mensch sein Recht mit Rücksicht auf eine Gegenleistung überträgt, dann ist das keine freiwillige Gabe, sondern eine wechselseitige Zuwendung und wird VERTRAG (CONTRACT) genannt.137 Und dies gilt für alle Verträge, sei es, dass beide Parteien gegenwärtig erbringen und einander wechselseitig die Gewissheit und Sicherheit der Erfüllung des Vertragsinhaltes geben, wie etwa wenn Menschen kaufen, verkaufen oder tauschen; sei es, dass eine Seite gegenwärtig erfüllt und die andere verspricht, wie wenn man auf Vertrauen verkauft; sei es, dass weder die eine noch die andere Seite sogleich leistet, sondern man sich wechselseitig vertraut. Es ist unmöglich, dass es neben diesen drei Arten von Verträgen darüber hinaus noch andere geben könnte. Denn entweder vertrauen sich beide Vertragschließenden oder keiner traut dem anderen; andernfalls vertraut der eine und der andere nicht. 9. In allen Verträgen, die mit Vertrauen zu tun haben, wird das Versprechen desjenigen, dem vertraut wird, VERPFLICHTUNG (COVENANT)138genannt. Und diese, wiewohl sie ein Versprechen über die Zukunft ist, vermag dennoch das Recht nicht weniger als eine gegenwärtige Zuwendung zu übertragen, wenn die Zeit kommt. Denn es ist ein offenkundiges Zeichen, dass derjenige, der auft ritt, seinen Willen, dem vertraut wurde, so verstanden wissen wollte, als ob er auch geleistet hätte. Versprechen sind also unter Bedachtnahme auf den wechselseitigen Nutzen Verpflichtungen und Zeichen des Willens oder der letzte Schritt der Überlegung, wodurch die Freiheit zum Leisten oder Nichtleisten verschwindet, und sind im Ergebnis zwingend. Denn wo die Freiheit aufhört, da beginnt die Verbindlichkeit. 10. Gleichwohl, bei Verträgen, die auf solch wechselseitigem Vertrauen gründen, sodass von keiner Partei gegenwärtig etwas ge-
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leistet wird und also der Vertrag zwischen ihnen nicht zwingend ist, liefert sich, weil die Menschen geneigt sind, ihren Vorteil aus jeder Sache zu ziehen, derjenige, der zuerst leistet, solcherart der Begehrlichkeit oder einer anderen Leidenschaft desjenigen aus, mit dem er den Vertrag abschließt. Deshalb sind solche Verpfl ichtungen wirkungslos. Es gibt keinen Grund, warum der eine zuerst leisten sollte, wenn vermutlich der andere nicht hinterher leisten wird. Einerlei, ob es nun wahrscheinlich ist oder nicht, wer zweifelt, muss selbst darüber urteilen (wie in Kap. XIV, 8 gesagt wurde), und zwar so lange, als sie im natürlichen Zustand und in natürlicher Freiheit verbleiben. Wenn es aber eine derart zwingende Macht über beide Parteien gibt, dass sie in diesem Punkt ihrer privaten Beurteilung beraubt sind, dann können solche Verpflichtungen wirkungsvoll sein;139 sieht man, dass der, der zuerst geleistet hat, keine vernünft ige Ursache hat, an der Leistung des anderen zu zweifeln, kann er dazu gezwungen werden. 11. Und soweit bei allen Verpflichtungen, Verträgen und Zuwendungen die Einwilligung dessen, dem das Recht übertragen wird, wesensnotwendig für diese Verpflichtungen, Zuwendungen etc. ist, ist es unmöglich, eine Verpflichtung oder eine Zuwendung gegenüber jemandem zu machen, der von Natur aus oder durch Abwesenheit unfähig dazu ist, oder wenn er fähig ist, nicht tatsächlich seine Einwilligung dazu erklärt. Vor allem anderen ist es deshalb für irgendeinen Menschen unmöglich, dem allmächtigen Gott gegenüber eine Verpfl ichtung einzugehen,140 es sei denn, es hätte ihm gefallen zu bestimmen, wer in seinem Namen diese Verpfl ichtung hätte entgegennehmen und akzeptieren sollen. Ebenso unmöglich ist es, eine Verpfl ichtung gegenüber denjenigen lebenden Geschöpfen einzugehen, von deren Willen wir mangels einer gemeinsamen Sprache keine hinreichenden Zeichen haben.141 12. Eine Verpfl ichtung, eine bestimmte Handlung zu einem bestimmten Zeitpunkt und Ort zu verrichten, wird dann vom Verpfl ichteten aufgelöst, wenn dieser Zeitpunkt kommt, entweder
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durch Erfüllung oder durch Verstoß. Denn eine Verpflichtung, die einmal unmöglich ist, ist nichtig. Eine zeitlich unbeschränkte Verpflichtung aber, etwas nicht zu tun, das heißt, eine Verpflichtung, etwas niemals zu tun, wird durch den Verpfl ichteten nur dann aufgelöst, wenn er dagegen verstößt oder stirbt. Generell sind alle Verpfl ichtungen durch den Verpfl ichtenden, zu dessen Vorteil und zu dessen Recht die Verpflichtung vom Verpflichteten eingegangen wird, nachsehbar. Verzichtet daher der Verpflichtende auf dieses Recht, dann ist der Verpfl ichtete befreit. Und ganz allgemein sind aus diesem Grund alle Verpflichtungen nach dem Willen des Berechtigten festsetzbar. 13. Es ist eine häufig debattierte Frage, ob solche Verpflichtungen jemanden binden, wenn sie ihm durch Furcht abgenötigt wurden. Ob beispielsweise dann, wenn ein Mensch aus Todesfurcht versprochen hat, einem Dieb am nächsten Tag hundert Pfund zu geben und ihn nicht zu verraten, eine derartige Verpfl ichtung verbindlich ist oder nicht. Und obwohl diese Verpfl ichtung in einigen Fällen nichtig sein kann, so ist sie dennoch nicht deshalb nichtig, weil sie durch Furcht abgepresst wurde.142 Denn wir sehen keinen Grund, dass das, was wir aus Furcht tun, weniger haltbar sein sollte als das, was wir aus Begehrlichkeit tun. Denn sowohl das eine wie das andere erzeugt eine freiwillige Handlung.143 Und wenn keine Verpflichtung gültig sein sollte, die aus Todesfurcht herrührt, dann könnten keine Friedensbedingungen zwischen Feinden noch irgendwelche Gesetze vollstreckbar sein, zu all denen doch aus derartiger Furcht die Einwilligung gegeben wurde. Denn wer begibt sich der von der Natur gegebenen Freiheit, sich selbst seinem Willen und seiner Macht gemäß zu regieren, wenn er nicht den Tod für den Fall fürchtet, dass er sie behält? Welchem Kriegsgefangenen kann getraut werden, sein Lösegeld zu suchen, anstatt ihn zu töten, wenn er nicht durch die Verpfändung seines Lebens gebunden wäre, sein Versprechen zu erfüllen?144 Nach der Einführung der Staatskunst und von Gesetzen kann sich das aber gegebenenfalls ändern: Wenn nämlich
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die Erfüllung einer derartigen Verpflichtung durch das Recht verboten ist, dann kann sich derjenige, der dem Dieb irgendetwas versprochen hat, der Erfüllung verweigern – er muss es sogar. Wenn das Recht aber nicht die Erfüllung verbietet, sondern es dem Willen des Leistenden überlässt, dann ist die Erfüllung weiterhin rechtmäßig, und die Verpfl ichtung zu rechtmäßigen Sachen ist verbindlich, sogar gegenüber einem Dieb.145 14. Wer jemandem gibt, verspricht oder sich verpfl ichtet und danach dasjenige einem anderen gibt, verspricht oder zusagt, macht das letztere Rechtsgeschäft ungültig. Denn es ist für einen Menschen unmöglich, das Recht, das er nicht hat, zu übertragen;146 und das Recht, das er übertragen hat, das hat er nicht. 15. Ein EID (OATH) ist die einem Versprechen vom Versprechenden angefügte Klausel, die einen Verzicht auf Gottes Gnade für den Fall enthält, dass er nicht völlig rechtmäßig und soweit es in seiner Macht steht erfüllt. Und das kommt zum Ausdruck durch die Worte, die das Wesen des Eids ausmachen: So wahr mir Gott helfe. Unter den Heiden ist es nicht anders. Und die römische Formel war: Töte Du, Jupiter, den Wortbrüchigen, so wie ich dieses Tier töte.147 Die Absicht eines Eides ist es daher, Vergeltung über die Wortbrüchigen zu bringen. Es hat keinen Zweck bei Menschen, so großartig sie sind, weil deren Strafe, ob sie wollen oder nicht, durch verschiedene Zwischenfälle vermieden werden kann – Gottes Strafe aber nicht. Bei vielen Völkern war es gleichwohl Brauch, beim Leben ihrer Fürsten zu schwören. Doch diejenigen Fürsten, die nach göttlicher Auszeichnung trachten, beteuern ihrem Glauben folgend, dass bei nichts anderem als bei Gott zu schwören sei. 16. Nimmt man zur Kenntnis, dass sich die Menschen nicht vor einer Macht fürchten können, an die sie nicht glauben, und dass ein Eid ohne die Furcht dessen, der gerade schwört, keinen Zweck hat, so ist es wohl erforderlich, dass derjenige, der schwört, es in genau dieser Form tut, die er selbst in seiner eigenen Religion anerkennt, und nicht in der Form, die für denjenigen üblich ist,
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der ihm den Eid auferlegt. Denn natürlich wissen alle Menschen, dass es eine allmächtige Macht gibt, gleichwohl glauben sie nicht daran, dass sie bei derselben schwören, wenn es in einer anderen Form oder unter einem anderen Namen erfolgt, als es ihnen von ihrer Religion (die sie für die wahre halten) gelehrt wird. 17. Aus der Defi nition eines Eides ersehen wir also, dass er der beschworenen Verpfl ichtung keine größere Leistungsverbindlichkeit hinzufügt als die in der Verpfl ichtung selbst schon enthaltene; aber er führt einen Menschen in größere Gefahr und zu größerer Bestrafung.148 18. Verpflichtungen und Eide sind de voluntariis [freiwillig], das heißt, de possibilibus [machbar]. Der Verpflichtende kann dem Verpflichteten doch nicht das Verständnis zurechnen, Unmögliches zu versprechen, denn Derartiges ist nicht Gegenstand des Nachdenkens. Und konsequenterweise (vgl. Kap. XIII, 10, wo der Verpflichtende zum Herrn der Auslegung gemacht wird) kann unter einer Verpflichtung keine weitergehende Bindung verstanden werden, als es, sei es bei der versprochenen Leistungserfüllung oder irgendetwas Gleichwertigem, aus unseren besten Bestrebungen machbar ist.149
K apitel XVI Einige Gesetze der Natur 150 1. Es ist eine gebräuchliche Redewendung, dass die Natur nichts vergeblich macht.151 Und es ist mehr als gewiss, dass, so wie die Wahrheit einer Schlussfolgerung nicht mehr ist als die Wahrheit der Prämissen, aus der sie gefolgert wurde, auch die Stärke des Befehls oder des Rechts der Natur nicht mehr ist als die Stärke der Gründe, die dazu führen. Es wäre deshalb das Recht der Natur, wie es in Kap XV, 2 erwähnt wurde, dass nämlich jeder sich selbst des Rechts begeben sollte etc., völlig nutzlos und ohne jede Wirkung, wenn es nicht ein natürliches Gesetz gäbe, wonach je-
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dermann verpflichtet ist, zu den Verpflichtungen zu stehen, die er eingegangen ist, und sie zu erfüllen.152 Denn welchen Vorteil hat ein Mensch, wenn alles, was ihm versprochen oder gegeben wird, dann von dem, der es gegeben oder versprochen hat, nicht erfüllt wird oder er sich das Recht vorbehält, was er gegeben hat wieder zurückzunehmen? 2. Den Bruch oder die Verletzung einer Verpfl ichtung nennen die Menschen RECHTSVERLETZUNG (INJURY), wobei diese, wenn sie in einer Handlung oder Unterlassung besteht, deshalb UNGERECHT (UNJUST) genannt wird. Denn es ist eine Handlung oder Unterlassung ohne jus oder ohne ein Recht, das zuvor übertragen oder auf das verzichtet wurde.153 Es besteht in den Handlungen und Gesprächen der Menschen weltweit eine große Ähnlichkeit zwischen dem, was wir Rechtsverletzung oder Ungerechtigkeit nennen, und dem, was wir abwegig (absurd) in den Argumenten und Streitgesprächen der Schulen nennen. Denn so, wie man dem, der zum Widerspruch gegen eine Behauptung getrieben wird, die er zuvor unterstützt hat, nachsagt, er sei ad absurdum geführt, so sagt man dem nach, der durch Leidenschaft etwas tat oder unterließ, was er zuvor durch Verpfl ichtung nicht zu tun oder nicht zu unterlassen versprochen hat, dass er eine Ungerechtigkeit begeht. Und in jedem Verstoß gegen eine Verpfl ichtung ist genau genommen ein sogenannter Widerspruch enthalten. Denn wer sich verpfl ichtet hat, der will doch, wenn die Zeit kommt, etwas tun oder unterlassen. Und wer irgendeine Handlung setzt, der will sie in derjenigen Gegenwart, die Teil der in der Verpflichtung enthaltenen Zukunft ist; und wer also gegen eine Verpflichtung verstößt, der will das Tun und das Nicht-Tun der gleichen Sache zur gleichen Zeit, was ein glatter Widerspruch ist. Und so ist die Rechtsverletzung ein Irrwitz der Konversation, wie die Absurdität eine Art Ungerechtigkeit im Streitgespräch ist. 3. In jedem Verstoß gegen eine Verpflichtung (bei wem auch immer der Schaden anfällt) besteht die erfolgte Rechtsverletzung nur gegen den, demgegenüber die Verpfl ichtung eingegangen
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wurde. Verpflichtet sich etwa ein Mann, seinem Herrn zu gehorchen, und befielt der Herr dem solcherart Verpfl ichteten, einem Dritten Geld zu geben, und tut er das nicht, dann ist dennoch die Rechtsverletzung nur gegenüber dem Herrn erfolgt, obgleich dies dem Dritten zum Schaden gereicht. Denn er konnte gegen keine Verpflichtung mit ihm verstoßen, mit dem keine eingegangen wurde, und daher fügte er ihm keine Rechtsverletzung zu; denn eine Rechtsverletzung besteht definitionsgemäß im Verstoß gegen eine Verpflichtung. 4. Die Namen von gerecht, ungerecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind mehrdeutig und bezeichnen Verschiedenes.154 Denn Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, wenn sie auf Handlungen bezogen sind, kennzeichnen dieselbe Sache ohne eine Rechtsverletzung und auch eine Rechtsverletzung selbst, und sie nennen die Handlung gerecht oder ungerecht, nicht so aber den Menschen; diesen nennen sie schuldig oder nicht schuldig. Wenn aber Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auf Menschen bezogen werden, dann bezeichnen sie das Geneigtsein, die Zuneigung und den natürlichen Hang, das heißt, die Leidenschaften des Geistes, zur Hervorbringung gerechter und ungerechter Handlungen begabt zu sein. Wenn also einem Menschen nachgesagt wird, er sei gerecht oder ungerecht, dann geschieht dies nicht in Hinsicht auf die Handlung, sondern auf die Leidenschaft und Befähigung, solche Handlungen zu setzen. Und daher kann ein gerechter Mensch einen ungerechten Akt gesetzt haben und ein ungerechter Mensch kann nicht nur in einer Handlung, sondern in den meisten seiner Handlungen gerecht getan haben. Denn es gibt im Ungerechten wie auch im Gerechten einen oderunt peccare [Hass zu sündigen]155, wenn auch aus unterschiedlichen Ursachen. Denn der ungerechte Mensch, der aus Furcht vor Bestrafung von Rechtsverletzungen Abstand nimmt, erklärt geradeheraus, dass die Gerechtigkeit seiner Handlungen von der bürgerlichen Verfassung abhängt, aus der sich die Strafen ergeben, welche andernfalls im natürlichen Zustand entsprechend der Quelle, aus der sie
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entspringen, ungerecht wären. Diese Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sollte in Erinnerung behalten werden: Wird nämlich Ungerechtigkeit als Schuld genommen, dann ist die Handlung ungerecht, nicht aber deshalb schon der Mensch; und wenn Gerechtigkeit als Schuldlosigkeit genommen wird, dann ist die Handlung gerecht, aber dennoch nicht immer der Mensch. Nicht unähnlich kann, wenn Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit für Angewohnheiten des Geistes genommen werden, der Mensch gerecht sein oder ungerecht und so dennoch nicht seine Handlungen. 5. In Hinsicht auf die Gerechtigkeit von Handlungen wird diese üblicherweise in zwei Arten geteilt, wovon die Menschen die eine austauschende (commutative) und die andere verteilende (distributive) nennen, und die eine soll in einem arithmetischen Verhältnis und die andere in einem geometrischen bestehen.156 Austauschende Gerechtigkeit platzieren sie beim Umsetzen, so wie beim Kaufen, Verkaufen und Tauschen; verteilende bezieht sich darauf, jedem nach seinem Verdienst zu geben. Die Unterscheidung ist nicht recht gelungen, insofern als eine Rechtsverletzung, die eine Ungerechtigkeit des Handelns ist, nicht im Missverhältnis der ausgetauschten oder verteilten Dinge besteht. Sie besteht vielmehr in der Ungleichheit, über die dann gleich gesprochen werden soll, mit der Menschen (im Gegensatz zu Natur und Vernunft) von sich annehmen, über ihren Artgenossen zu stehen. Und hinsichtlich der austauschenden Gerechtigkeit beim Kaufen und Verkaufen kann, auch wenn die gekaufte Sache dem bezahlten Preis unangemessen ist, dennoch von keiner Rechtsverletzung auf einer Seite die Rede sein, solange Käufer und Verkäufer selbst Richter über den Wert sind und darum beide zufriedengestellt sind, da keine Seite vertraute oder gegenüber der anderen eine Verpfl ichtung eingegangen ist. In Hinsicht auf die verteilende Gerechtigkeit, die in der Verteilung unserer eigenen Begünstigungen besteht, kann, weil doch über eine Sache deshalb gesagt wird, sie gehöre uns, weil wir frei nach unserem Belieben darü-
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ber verfügen können, es gegenüber niemandem eine Rechtsverletzung sein, auch wenn unsere Freigiebigkeit gegenüber anderen größer gewesen sein mag als ihm gegenüber; ausgenommen den Fall, dass wir daran durch eine Verpflichtung gebunden waren, sodann besteht die Ungerechtigkeit aber in der Verletzung dieser Verpflichtung und nicht in der Ungleichheit der Verteilung. 6. Oft mals geschieht es, dass ein Mensch auch ohne Verpflichtung einem anderen Begünstigung erweist oder zu seiner Macht beisteuert, nur aufgrund von Zuversicht und im Vertrauen, die Gnade und Gunst dieses anderen zu gewinnen, wodurch er für sich selbst einen größeren oder doch nicht geringeren Vorteil oder Beistand herbeiführen kann. Denn naturgemäß hat jeder Mensch bei allen seinen freiwilligen Handlungen irgendeinen Nutzen für sich im Auge.157 In diesem Fall ist es ein natürliches Gesetz, dass niemand denjenigen zu Schaden kommen lässt, der auf diese Weise seiner Wohltätigkeit und Wohlgeneigtheit vertraut, sodass er nicht infolge seines Vertrauens in einen schlechteren Zustand gerät.158 Denn wenn er dies tut, dann werden sich die Menschen nicht mehr getrauen, sich wechselseitig Unterstützung bei der Verteidigung zu gewähren oder sich unter welchen Bedingungen auch immer unter die Gnade eines anderen zu stellen; vielmehr werden sie an der Veranstaltung äußerster und schlimmster Feindschaft festhalten. Durch diese allgemeine Zurückhaltung werden die Menschen nicht nur zum Krieg angeregt, sondern sie fürchten sich auch davor, in den gegenseitigen Gefahrenbereich zu kommen, um ein Friedensangebot zu unterbreiten. Doch dies kann nur von denen verstanden werden, die ihre Wohltätigkeiten (wie ich gesagt habe) auf Vertrauen hin und nicht um zu triumphieren oder um zu prahlen gewähren. Denn wenn sie es auf Vertrauen hin tun, ist der angezielte Zweck, und zwar gut behandelt zu werden, die Belohnung; wenn sie es aber zur prahlerischen Zurschaustellung tun, dann haben sie die Belohnung in sich selbst. 7. Offenkundig wird aber in diesem Fall keine Verpflichtung eingegangen, sodass der Bruch dieses natürlichen Rechts nicht als
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Rechtsverletzung bezeichnet wird; die Sache hat einen anderen Namen: UNDANKBARKEIT (INGRATITUDE). 8. Es ist ebenso ein natürliches Gesetz, dass jedermann jedem anderen zur Seite steht und jedem anderen entgegenkommt, soweit das ohne Gefahr für seine Person und ohne Verlust seines Vermögens getan werden kann, um sich zu erhalten und sich zu verteidigen. Sieht man, dass die Ursachen für Krieg und Verwüstung von jenen Leidenschaften herrühren, durch welche wir danach trachten, uns selbst anzupassen und andere so weit wie möglich hinter uns zu lassen, dann folgt daraus, dass diese Leidenschaft , durch die wir wechselseitig danach streben, einander entgegenzukommen, die Ursache für den Frieden sein muss.159 9. Und in diesem natürlichen Gebot ist auch inbegriffen und erfasst, dass ein Mensch demjenigen verzeiht und vergibt, der ihm Übles angetan hat, wenn er Reue zeigt und Sicherheit für die Zukunft gibt. Denn VERZEIHUNG (PARDON) ist Frieden, demjenigen gewährt, der ihn (nachdem er zum Krieg aufgereizt hat) verlangt.160 Daher ist es nicht Nächstenliebe, sondern Furcht, wenn ein Mensch demjenigen Frieden zugesteht, der weder reuig ist noch Sicherheit dafür gibt, auch in kommenden Zeiten friedvoll zu bleiben. Denn wer nicht bereut, der verbleibt mit der Veranlagung zum Feind, so wie auch der, der es ablehnt, Sicherheit zu bieten, und von dem folgerichtig angenommen wird, dass er nicht auf Frieden, sondern auf Überlegenheit aus ist. Jemandem zu verzeihen ist deshalb nicht durch das natürliche Recht angeordnet, noch ist es Barmherzigkeit, sondern es kann manchmal ein Gebot der Besonnenheit sein. Andernfalls trotz Reue und Sicherheit nicht zu verzeihen, weil man ja weiß, dass die Menschen es nicht lassen können, sich gegenseitig aufzureizen, heißt soviel, wie niemals Frieden zu geben; und dies ist gegen die generelle Bestimmung des natürlichen Rechts. 10. Erkennen wir, dass das natürliche Recht Verzeihung gebietet, wenn es Reue und Sicherheit für die Zukunft gibt, dann folgt daraus, dass dasselbe Gesetz anordnet, dass keine Rache genommen
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werde nur wegen des vergangenen Angriffs, sondern nur wegen eines zukünftigen Nutzens, das heißt, dass alle Rache auf Verbesserung entweder des Angreifers selbst oder durch das Beispiel der Bestrafung auf Verbesserung anderer gerichtet sein sollte;161 dies ist genügend ersichtlich, indem das natürliche Recht dort Verzeihung gebietet, wo die Zukunft gesichert ist. Ebenso ist es dadurch offenkundig, dass Rache, wenn sie den vergangenen Angriff ins Auge fasst, nichts anderes ist als gegenwärtiger Triumph und Ruhm und zu keinem Ziel führt; denn ein Ziel impliziert irgendein zukünft iges Wohl, und was nicht auf ein Ziel gerichtet ist, ist daher nicht vorteilhaft. In der Konsequenz ist der Triumph der Rache nutzloser Ruhm; und was immer nutzlos ist, ist gegen die Vernunft. Einem anderen ohne Grund etwas zuleide zu tun, steht im Widerspruch zu dem, was durch Annahme jedermanns Nutzen ist, nämlich dem Frieden. Was aber dem Frieden entgegengesetzt ist, das steht im Widerspruch zum natürlichen Recht. 11. Weil nun alle Zeichen von Hass und Geringschätzung, die wir einander zeigen, in höchstem Maße zu Streit und Kampf aufreizen (insofern das Leben an sich unter der Bedingung beständiger Höhnung nicht des Genießens wert geschätzt wird, noch weniger der Frieden), so muss notwendigerweise als ein natürliches Gesetz inbegriffen sein, dass kein Mensch irgendeinen anderen tadelt, verunglimpft, verspottet oder irgendwie anders ihm gegenüber seinen Hass, seine Verachtung oder Geringschätzung kund tut.162 Aber dieses Gesetz wird sehr wenig praktiziert. Denn was ist gewöhnlicher als die Vorwürfe der Reichen gegen die, die es nicht sind? Oder derjenigen, die am Richterstuhl sitzen, gegen diejenigen, die vor dem Schranken angeklagt sind? Dabei ist doch diese Art der Schmerzzufügung weder ein Teil der Bestrafung für ihr Verbrechen noch von ihrer Amtsbefugnis umfasst. Indes hat sich der Brauch durchgesetzt, dass das, was dem Lord rechtmäßig zusteht gegenüber seinem Gesinde, das er unterhält, auch von den Mächtigeren gegenüber den weniger Mächtigen als rechtmäßig praktiziert wird, wiewohl diese doch zu ihrem Unterhalt nicht beitragen.
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12. Es ist auch ein natürliches Gesetz, dass die Menschen einander unterschiedslos Handel und Verkehr zugestehen. Denn derjenige, der einem Menschen dies erlaubt, was er einem anderen abspricht, erklärt seinen Hass dem gegenüber, dem er es verbietet; und Hass zu erklären, ist Krieg. Der große Krieg zwischen den Athenern und den Peloponnesiern war auf diesen Rechtstitel gegründet. Denn hätten die Athener geruht, den Megarensern, ihren Nachbarn, den Verkehr in ihren Häfen und auf ihren Märkten zu gestatten, dann hätte dieser Krieg nicht begonnen.163 13. Und auch das ist ein natürliches Gesetz, dass alle Friedenskuriere und alle, die damit beschäftigt sind, Freundschaft zwischen den Menschen herbeizuführen und zu erhalten, sicher kommen und gehen können. Wenn nämlich der Friede das universelle natürliche Gesetz ist, dann müssen auch die Mittel dazu, und zwar diese Menschen, vom selben Gesetz mitumfasst sein.164
K apitel XVII Ander e Gesetze der Natur 165 1. Die Frage, wer der bessere Mensch sei, ist nur unter einer Regierung und nach Maßgabe der Politik entscheidbar. Sie wird dennoch fälschlicherweise für eine Frage der Natur gehalten, und das nicht nur von unwissenden Menschen, die des einen Menschen Blut für besser halten als das eines anderen, sondern auch von dem, dessen Ansichten heutzutage und hierzulande von größerer Autorität sind als irgend andere menschliche Schriften (Aristoteles). Denn dieser legte einen derart großen natürlichen Unterschied zwischen den Menschen fest, dass er nicht zögerte, es als die Grundlage all seiner Politik hinzustellen, dass es einige Menschen von Natur aus wert seien, zu regieren, und andere, von Natur aus zu dienen.166 Dieser Grundsatz hat nicht nur das ganze Gerippe seiner Politik geschwächt, sondern er hat den Menschen auch eine gewisse Geneigtheit und Vorwände geliefert, durch
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die sie den Frieden untereinander gestört und behindert haben. Denn auch wenn es einen derartigen natürlichen Unterschied gäbe, sodass Herr und Diener nicht durch die Zustimmung der Menschen, sondern durch inneren Wert dazu bestimmt seien, so würde doch unter den Menschen niemals Übereinstimmung darüber bestehen, wer diesen herausragenden Wert vor anderen hätte und wer so einfältig wäre, sich nicht lieber selbst zu regieren. Jedermann glaubt doch natürlicherweise von sich selbst, dass er zumindest fähig wäre, andere zu regieren, so wie ein anderer, ihn zu regieren. Und wenn es Streit gab zwischen den vornehmeren und den ungeschliffeneren Geistern (wie es in Zeiten von Aufruhr und Bürgerkrieg geschah), dann trugen zumeist die Letzteren den Sieg davon; und solange sich Menschen mehr Ehre anmaßen, als sie anderen geben, kann man sich schwerlich vorstellen, dass sie in Frieden leben können. Und folglich haben wir anzunehmen, dass die Natur um des Friedens willen dieses Gesetz aufgestellt hat: Dass jedermann den andern als seinesgleichen anerkennt.167 Und den Bruch dieses Gesetzes nennen wir ÜBERHEBLICHKEIT (PRIDE). 2. Wie es notwendig war, dass ein Mensch nicht sein Recht auf alles zurückbehält, so war es auch nötig, dass er sein Recht auf einige Dinge behält, in Bezug auf seinen Körper z. B. das Verteidigungsrecht, das er nicht übertragen kann; auf den Gebrauch von Feuer, Wasser, freier Luft, auf einen Platz, an dem er wohnen kann, und auf alle Dinge, die zum Leben notwendig sind. Das natürliche Recht verlangt auch nicht, sich anderer Rechte zu entäußern als nur jener, die nicht ohne Verlust des Friedens behalten werden können. Es bleiben also, wie wir sehen, viele Rechte bewahrt, wenn wir wechselseitig Frieden schließen. Vernunft und das Gesetz der Natur schreiben vor: Jedwedes Recht, das irgendein Mensch zurückzubehalten beansprucht, das zu behalten erlaubt er auch jedem anderen Menschen.168 Denn der, der das nicht tut, der trägt der obenerwähnten Gleichheit nicht Rechnung. Es gibt doch keine Anerkennung der Gleichheit des Werts einer Person, ohne
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gleiche Zuteilung von Nutzen und Respekt. Und diese Berücksichtigung der æqualia æqualibus [Gleichen Gleiches zuteilen] ist dasselbe wie die Bedachtnahme auf proportionalia proportionalibus [nach Verhältnis das Verhältnismäßige zuteilen]. Denn wenn ein Mensch jedem Menschen dasselbe zuerkennt, dann wird die gemachte Zuteilung im selben Verhältnis stehen wie die Anzahl der Menschen, denen gegenüber sie gemacht wurde. Das ist es, was die Menschen unter austeilender Gerechtigkeit verstehen und angemessen als BILLIGKEIT (EQUITY) bezeichnen.169 Den Verstoß gegen dieses Gesetz nennen die Griechen pleonexía, ein Wort, das man gemeinhin mit Begehrlichkeit übersetzt, aber es scheint genauer durch das Wort ÜBERGRIFF (ENCROACHING) ausgedrückt.170 3. Wenn keine andere Verpflichtung besteht, dann ist das natürliche Gesetz, dass die Dinge, die nicht teilbar sind, gemeinsam genutzt werden, verhältnismäßig zur Anzahl derjenigen, von denen es gebraucht wird, oder ohne Beschränkung, wenn genug davon vorhanden ist.171 Nimmt man nämlich zunächst an, dass das Gut, das gemeinsam genutzt wird, nicht ausreichend für diejenigen sei, die es ohne Beschränkung nutzen, dann wäre, wenn nun einige mehr Gebrauch davon machen als die Übrigen, die Gleichheit nicht beachtet, die im zweiten Abschnitt gefordert wird. Und das gilt auch für alle anderen natürlichen Gesetze ohne vorhergehende Verpfl ichtung, denn ein Mensch kann sein Recht auf den Gemeinschaftsanteil aufgegeben haben, und dann sieht die Sache anders aus. 4. Bei Dingen, die weder geteilt noch gemeinsam gebraucht werden können, muss das natürliche Gebot eines der folgenden sein: das Los oder wechselweiser Gebrauch; denn neben diesen beiden Möglichkeiten kann man sich anders keine Gleichheit vorstellen. Und bei wechselweisem Gebrauch hat derjenige den Vorteil, der beginnt; und um diesen Vorteil zur Gleichheit zurückzuführen, gibt es keinen anderen Weg als das Los. Bei Gütern, die unteilbar und nicht gemeinsam genutzt werden können, lautet das natürli-
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che Gesetz daher, dass sie entweder wechselweise genutzt werden oder dass der Vorteil durch das Los bestimmt wird, denn einen anderen Weg zur Gleichheit gibt es nicht, und Gleichheit ist das Gesetz der Natur. 5. Es gibt zwei Arten von Losen: Das eine ist willkürlich, von Menschen gemacht, und es ist weithin bekannt als »Los«, »Gelegenheit«, »Zufall« oder so ähnlich. Das andere ist das natürliche Los, wie etwa die Erstgeburt, was nichts anderes als Glück ist oder das Schicksal, zuerst geboren zu sein. Daran scheinen diejenigen gedacht zu haben, die die Vererbung cleronomia nennen, was die Verteilung durch Los bezeichnet. Zweitens: prima occupatio, erste Besitznahme oder Auffi ndung einer Sache, von der kein Mensch zuvor Gebrauch gemacht hat; das ist meistens auch nichts anderes als Zufall. 6. Obwohl sich die Menschen über diese natürlichen Gesetze einig sind und danach streben, sie zu beachten, so kehren sie doch stets zu ihrem früheren Zustand der Feindseligkeit zurück; die menschlichen Leidenschaften machen es schwierig zu erkennen, durch welche Handlungen und welche Umstände sie gebrochen werden, und die großen Meinungsverschiedenheiten über ihre Auslegung zersetzen notwendigerweise den Frieden. Denn um diese Auseinandersetzungen zu beseitigen, ist es notwendig, dass es irgendeinen gemeinsamen Vermittler und Richter gibt, dessen Rechtsspruch sich beide Streitparteien unterwerfen sollten. Und deshalb ist es ein natürliches Gesetz, dass in jedem Streitfall sich die Parteien auf einen gemeinsamen Vermittler einigen sollen, dem sie beide vertrauen, und sich gemeinsam verpflichten, dem Schiedsspruch, den er in der Sache abgibt, zu folgen. Denn wo jeder Mensch sein eigener Richter ist, da gibt es eigentlich überhaupt keinen Richter, so es wie dort, wo sich jeder Mensch sein eigenes Recht macht, dieselbe Wirkung hat, als ob es eigentlich gar kein Recht gäbe. Und wo es keinen Richter gibt, da findet der Streit kein Ende, und es bleibt deshalb das Recht der Feindschaft übrig.172
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7. Ein Vermittler oder auch ein Richter ist deshalb einer, dem die Parteien in Hinsicht auf irgendeine Streitigkeit vertrauen, diese durch Bekanntgabe seiner eigenen Beurteilung zu entscheiden. Daraus folgt erstens, dass der Richter durch die Auseinandersetzung, die er entscheidet, nicht betroffen sein soll, denn in diesem Fall ist er Partei und sollte aus demselben Grund von einem anderen beurteilt werden; und zweitens, dass er gegenüber keiner Partei eine Verpfl ichtung eingegangen ist, sein Urteil eher für die eine als für die andere zu sprechen. Auch darf er sich nicht so weit verpflichten, dass sein Urteil gerecht sein soll; denn dies würde die Parteien zu Richtern über das Urteil machen, wodurch die Auseinandersetzung weiterhin unentschieden bleiben würde. Gleichwohl würde er wegen des in ihn gesetzten Vertrauens und wegen der Gleichheit, die ihm das natürliche Recht in Hinsicht auf beide Parteien abfordert, das Gesetz verletzen, wenn er aus Gunst oder Hass für eine der Parteien entscheiden würde oder wenn er ein anderes Urteil sprechen würde, als es ihm recht dünkt. Und drittens sollte sich bei einem Streit zwischen anderen niemand zum Richter aufschwingen, solange diese das nicht wollen und nicht dazu einwilligen. 8. Ebenso ist es ein natürliches Gesetz, dass kein Mensch jemandem seinen Rat oder seine Beratung aufnötigt oder aufdrängt, der sich unwillig zeigt, diesen zu hören. Offenkundig nimmt doch ein Mensch einen Ratschlag nur in Hinsicht darauf an, was für ihn gut oder schlecht ist, und nicht für seinen Berater. Die Beratschlagung ist ein freiwilliges Tun und läuft deshalb auch auf den Vorteil des Beraters hinaus; oft mals gibt es genügend Grund, den Berater zu verdächtigen. Und auch wenn es dazu keine Ursache gibt, so ist doch ein ungewollt gehörter Ratschlag ein unnötiges Ärgernis für den, der nicht darauf aus ist, ihn zu hören. Und alle Beleidigungen führen zum Bruch des Friedens. Es widerspricht daher dem natürlichen Gesetz, Ratschläge aufzunötigen. 9. Ein Mensch, der diese natürlichen Gesetze mit so vielen Worten und so viel Getue niedergeschrieben und geschlussfolgert sieht,
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der mag denken, dass jetzt erst recht noch viel mehr Misslichkeiten und Raffi nesse abgefordert werden, um zur Anerkennung und zu einem Tun zu kommen, das den erwähnten Gesetzen in jeder plötzlichen Lage entspricht, zumal dann, wenn ein Mensch nur wenig Zeit hat, darüber nachzudenken. Das ist wohl wahr, wenn wir daran denken, wie die Menschen durch ihre meisten Leidenschaften, ihren Zorn, ihren Ehrgeiz, ihre Habgier, ihre Ruhmsucht und dergleichen, zum Ausschluss der natürlichen Gleichheit getrieben sind. Lässt man diese Leidenschaften aber beiseite, dann gibt es eine einfache Regel, um sofort zu wissen, ob eine Handlung, die ich im Begriff bin zu tun, gegen das natürliche Gesetz verstößt oder nicht, und zwar genau diese: Dass ein Mensch sich selbst in die Lage desjenigen versetzt, mit dem er zu tun hat, und umgekehrt jenen in seine Lage; nichts anderes also als eine Vertauschung der Waagschalen. Denn die Leidenschaften eines jeden wiegen schwer in der eigenen Schale, aber nicht in der Schale seines Nachbarn. Diese Regel ist überaus bekannt und wird durch diesen alten Spruch zum Ausdruck gebracht: Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris [Was Du nicht willst, dass man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu].173 10. Diese natürlichen Gesetze bestehen also darin, dass uns verboten ist, unser eigener Richter und unser eigener Bildschnitzer zu sein, und dass uns geboten wird, uns wechselseitig anzupassen.174 Sollten sie von den einen beachtet und von den anderen missachtet werden, so würden Erstere eine Beute für Letztere; und es würden auch die Guten ohne Verteidigung gegen die Bösen bleiben und überdies damit belastet, sie zu unterstützen. Das würde dem Zweck der angeführten Gesetze widersprechen, die doch nur zum Schutz und zur Verteidigung derjenigen gemacht sind, die sich an sie halten. Es schreiben daher Vernunft und das natürliche Gesetz über und oberhalb all dieser einzelnen Gebote das folgende allgemeine Gebot vor: Dass diesen einzelnen Geboten in dem Umfang zu folgen ist, wie uns ihre Befolgung nicht irgendeiner Unannehmlichkeit aussetzt, wie sie unserem eigenen
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Urteil zufolge durch ihre Missachtung durch jene entstehen kann, denen gegenüber wir sie beachten, und sie erfordern folgerichtig nicht mehr als den Wunsch und die beständige Absicht, danach zu streben und bereit zu sein, sie einzuhalten, es sei denn, dass uns die Weigerung anderer, sie uns gegenüber zu beachten, Ursache zum Gegenteiligen gibt. Deshalb liegt die Stärke des natürlichen Rechts so lange nicht in foro externo [in der äußeren Gerichtsbarkeit], bis es Sicherheit für die Menschen gibt, sie befolgen zu müssen; aber sie liegt immer in foro interno [in der inneren Gerichtsbarkeit], worin der Gehorsamsakt zwar unsicher ist, der Wille und die Bereitschaft dazu aber fürs Werk genommen werden. 11. Gebräuche und Verhaltensüblichkeiten fallen nicht unter die natürlichen Gesetze. Denn welche Handlung auch immer gegen die Vernunft ist, mag sie noch so oft wiederholt worden sein oder mögen noch so viele Präzedenzfälle vorliegen, sie bleibt doch vernunft widrig und ist deshalb kein natürliches Recht, sondern diesem entgegengesetzt.175 Aber Zustimmung und das Eingehen von Verpflichtungen können die Sachen verändern, in die sie durch das natürliche Recht gesetzt sind, indem sich die Umstände ändern, sodass das, was zuvor Vernunft war, danach gegen die Vernunft ist; und dennoch ist Vernunft immer noch das Gesetz. Gleichwohl doch jedermann daran gebunden ist, dem anderen Gleichheit zuzubilligen, so bricht derjenige dann, wenn einer darauf verzichtet und sich selbst in untergeordnete Stellung begibt, nicht das natürliche Recht, Gleichheit zuzubilligen, wenn er ihn hinfort als untergeordnet betrachtet. Zusammengefasst also gilt, dass eines Menschen Einwilligung die ihm vom natürlichen Recht gelassene Freiheit einschränken kann, nicht aber die Gewohnheit; und weder das eine noch das andere können dieses oder ein anderes natürliches Gesetz außer Kraft setzen.176 12. Und insofern das Gesetz (um genau zu sprechen) ein Befehl ist und diese Gebote, da sie von der Natur herrühren, keine Befehle sind, so werden sie daher nicht in Hinsicht auf die Natur Gesetze
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genannt, sondern aus Achtung vor dem Schöpfer der Natur, dem allmächtigen Gott.177 13. Erkennt man, dass die natürlichen Gesetze das Gewissen betreffen, dann bricht sie nicht nur der, der ihnen zuwiderlaufende Handlungen setzt, sondern auch der, dessen Tun ihnen entspricht, gleichwohl er denkt, sie wären ihnen zuwider. Denn ist die Handlung vielleicht auch recht getan, so verachtet er das Gesetz doch seinem eigenen Urteil nach. 14. Entsprechend der natürlichen Leidenschaft nennt jedermann das gut, was ihn gegenwärtig oder in Zukunft, soweit er sie vorauszusehen vermag, zufriedenstellt; und ebenso nennt er übel, was ihm missfällt. Und deshalb muss auch der, der den ganzen Weg zu seiner Selbsterhaltung voraussieht (die ja das Ziel ist, auf das ein jeder naturgemäß ausgerichtet ist), diesen gut nennen und das Gegenteil übel. Und genau dies ist es, was alle Menschen, nicht in Leidenschaft verfangen, sondern gemäß der Vernunft, »gut« und »böse« nennen.178 Und deswegen ist der Vollzug aller dieser Gesetze der Vernunft entsprechend gut und ein Verstoß gegen sie ein Übel; und so ist gleichermaßen die Gewohnheit, Veranlagung oder Absicht, sie zu erfüllen, gut, wie sie zu missachten böse. Und von daher kommt die Unterscheidung zwischen malum poenæ [Übel der Strafe] und malum culpæ [Übel der Schuld]; denn malum poenæ ist irgendein Schmerz oder irgendeine Störung des Geistes; aber malum culpæ ist jene Handlung, die im Widerspruch zur Vernunft und zum natürlichen Recht steht. Dementsprechend ist die Gewohnheit, uns nach diesen und anderen natürlichen Gesetzen, die auf unsere Selbsterhaltung abzielen, zu verhalten, das, was wir TUGEND (VIRTUE) nennen; und die Angewohnheit, Gegenteiliges zu tun, LASTER (VICE). So ist beispielsweise die Gerechtigkeit jene Gewohnheit, durch die wir eingegangene Verpflichtungen einhalten, Ungerechtigkeit das gegenteilige Laster; Billigkeit jene Haltung, durch wir natürliche Gleichheit zubilligen; Überheblichkeit die gegenteilige Untugend; Dankbarkeit die Angewohnheit, womit wir die Wohltaten und
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das Vertrauen anderer erwidern; Undankbarkeit die gegenteilige schlechte Angewohnheit; Mäßigkeit die Gepflogenheit, uns aller Dinge zu enthalten, die zu unserer Selbstzerstörung führen, Unmäßigkeit das gegenteilige Laster; und Klugheit ist dasselbe wie Tugend im Allgemeinen. Wenn es der üblichen Auffassung entspricht, dass Tugend in Mittelmäßigkeit besteht und das Laster in dem auf die Spitze Getriebenen, so sehe ich weder eine Grundlage dafür noch kann ich irgendeine solche Mittelmäßigkeit ausfindig machen. Mut kann im Falle, dass er eine gute Ursache hat, eine Tugend sein, wenn der Wagemut extrem ist; und äußerste Furcht muss kein Laster sein, wenn die Gefahr außergewöhnlich ist. Einem Menschen mehr als das Gebührende zu geben, ist keine Ungerechtigkeit, wohl aber, ihm weniger zu geben. Und bei Geschenken macht nicht die Größe das Maß der Freigiebigkeit aus, sondern der vernünft ige Grund. Und so ist es bei allen anderen Tugenden und Lastern. Ich weiß, dass die Lehre von der Mittelmäßigkeit von Aristoteles kommt,179 aber seine Ansichten betreffend Tugend und Laster sind eben keine anderen als diejenigen, die zu seiner Zeit und auch heute immer noch von der Allgemeinheit ungelehrter Menschen angenommen wurden und von denen es deshalb nicht sehr wahrscheinlich ist, dass sie fehlerfrei sind. 15. Im Ergebnis laufen die Tugenden darauf hinaus, denen gegenüber Freund zu sein, die gesellig sein wollen, und denen gegenüber furchteinflößend zu sein, die das nicht wollen. Und das natürliche Recht zielt auf dasselbe. Denn sich gesellig zu verhalten, lässt das natürliche Recht im Wege von Frieden und Gesellschaft lichkeit Platz greifen, und furchteinflößend zu sein, ist das natürliche Recht in Zeiten des Krieges, wo gefürchtet zu werden ein Schutz ist, den ein Mensch durch die eigene Stärke hat. Und so wie Ersteres aus billigen und gerechten Handlungen besteht, so besteht Letzteres aus ehrenvollen Handlungen. Billigkeit, Gerechtigkeit und Ehre umfassen alle nur vorstellbaren Tugenden.
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K apitel XVIII Eine Bestätigu ng derselben aus dem Wort Gottes 180 1. Die in den vorigen Kapiteln erwähnten Gesetze heißen deshalb natürliche Gesetze, weil sie Gebote der natürlichen Vernunft sind; und sie heißen auch moralische Gesetze, weil sie sich auf die menschlichen Umgangsformen und den Verkehr untereinander beziehen. Solcherart sind sie, in Anbetracht ihres Schöpfers, des allmächtigen Gottes, auch göttliche Gesetze und müssen also mit den Worten Gottes, wie sie in der Heiligen Schrift offenbart wurden, übereinstimmen; zumindest dürfen sie ihnen nicht widersprechen. Deshalb sollte ich in diesem Kapitel jene Stellen der Bibel anführen, die am meisten mit den angesprochenen Gesetzen übereinstimmen. 2. Zunächst scheint das Wort Gottes das göttliche Gesetz in die Vernunft gelegt zu haben, indem alle derartigen Stellen dasselbe sowohl dem Herzen als auch der Einsicht zuschreiben; etwa Psalm 40, 8: Dein Gesetz habe ich in meinem Herzen. Ebenso Hebr. 10, 16: Nach diesen Tagen will ich meine Gesetze in ihr Herz geben. Psalm 37, 31, wo er von einem rechtschaffenen Menschen sagt: Das Gesetz seines Gottes ist in seinem Herzen. Psalm 19, 8, 9: Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele. Es gibt den Unverständigen Weisheit und erleuchtet die Augen. Jer. 31, 33: Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es in ihr Herz. Und in Johannes 1 wird der Gesetzgeber selbst, der allmächtige Gott, logos genannt, und der logos heißt Vers 4 zufolge Das Licht der Menschen und nach Vers 9: Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, das in die Welt gekommen ist. All das sind Bezeichnungen der natürlichen Vernunft. 3. Und dass das göttliche Gesetz, soweit es die Moral betrifft, aus jenen Geboten besteht, die zum Frieden streben, scheint mir überaus bestätigt zu sein durch die folgenden Bibelstellen: Römer 3, 17, wo die Rechtschaffenheit, also die Erfüllung des Gesetzes,
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Weg des Friedens genannt wird. Und Psalm 85, 11: Gerechtigkeit und Friede küssen einander; und Matth. 5, 9: Selig, die Frieden stiften. Und in Hebr. 7, 2: Melchisedek, König von Salem, wird unter einem als König der Gerechtigkeit und als König des Friedens beschrieben. Und in Vers 21 wird von unserem Heiland Jesus Christus bezeugt, er sei ein Priester auf ewig nach der Anordnung Melchisedeks, woraus der Schluss gezogen werden kann, dass die Lehre unseres Heilands Jesus Christus verknüpft ist mit der Erfüllung des Friedensgebots. 4. Dass das natürliche Gesetz unabänderlich ist, wird dadurch zu verstehen gegeben, dass das Priesteramt des Melchisedek immerwährend ist, und zudem durch die Worte unseres Heilands, Matth. 5, 18: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein des Gesetzes vergehen, bis alles geschehen ist. 5. Dass die Menschen zu den eingegangenen Verpflichtungen stehen sollen, wird in Psalm 15 gelehrt, wo in Vers 1 die Frage gestellt wird: Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte? etc., was dann in Vers 4 die Antwort findet: Wer zu seinem Schaden geschworen hat, es doch nicht abändert. Und dass die Menschen dankbar sein sollen, auch wenn keine Verpflichtung eingegangen wurde, 5. Mose 25, 4: Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden, was Paulus (Korinth. 9, 9) als nicht für die Ochsen, sondern für die Menschen gemeint ansieht. 6. Dass die Menschen sich mit Gleichheit zufrieden geben sollen, so wie es dem Grundprinzip des natürlichen Rechts entspricht, steht inhaltsgleich im göttlichen Gesetz an zweiter Stelle, Matth. 22, 39, 40: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten; was aber nicht so zu verstehen ist, als ob ein Mensch seines Nächsten Nutzen so sehr zu berücksichtigen hätte wie seinen eigenen oder dass er sein Vermögen unter seinen Nachbarn aufteilen soll, sondern dass er seinem Nachbarn all jene Rechte und Begünstigungen zubilligen soll, die er selbst genießt, und diesem
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zumessen soll, was auch immer er selbst erwartet, dass ihm selbst zugemessen wird. Das heißt nichts anderes, als dass er bescheiden, demütig und mit der Gleichheit zufrieden sein soll. 7. Und dafür, dass bei der Verteilung von Rechten unter Gleichen diese Verteilung proportional zur Anzahl, also æqualia æqualibus [Gleichen Gleiches zuteilen] und proportionalia proportionalibus [nach Verhältnis das Verhältnismäßige zuteilen], gemacht werden muss, haben wir 4. Mose 26, 53, 54, den Befehl Gottes an Moses: Diesen sollst du das Land austeilen zum Erbe nach der Zahl der Namen; vielen sollst du viel zum Erbe geben, und wenigen wenig; jeglichen soll man geben nach ihrer Zahl. Dass die Entscheidung durch das Los ein Mittel zum Frieden ist, sagt uns Sprüche 18, 18: Streitigkeiten beendet das Los, und zwischen Starken entscheidet es. 8. Kein Zweifel kann darin bestehen, dass Anpassung und Vergebung untereinander, welche zuvor als Gebote des natürlichen Rechts aufgestellt wurden, auch göttliches Gesetz sind. Denn sie sind die Essenz der Nächstenliebe, des Zwecks des gesamten Rechts. Dass wir einander nicht tadeln und zurechtweisen sollen, ist die Lehre unseres Heilands, Matth. 7, 1: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet; und Vers 3: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Und auch das Gesetz, das uns verbietet, anderen unseren Rat weiter aufzudrängen, als sie es zugestehen, ist ein göttliches Gesetz. Denn nachdem unsere Wohltätigkeit und unser Wunsch, einander zu korrigieren, verworfen werden, ist das Aufdrängen unseres Rates ein Tadel und eine Missbilligung, was der zuletzt angeführten Stelle zufolge verboten ist, wie auch in Römer 14, 12, 13: Jeder von uns wird also für sich selbst Rechenschaft vor Gott ablegen. Lasst uns nun nicht mehr einander richten, sondern richtet vielmehr dieses: dem Bruder nicht einen Anstoß oder ein Ärgernis zu geben. 9. Überdies wird die menschliche Regel betreffend das natürliche Recht: Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris [Was Du nicht
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willst, dass man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu] bestätigt durch Ähnliches bei Matth. 7, 12: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen; darin bestehen das Gesetz und die Propheten; und überdies Römer 2, 1: Denn worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst, etc. 10. Auch geht aus der Bibel hervor, dass diese Gesetze sich nur auf den Gerichtshof unseres Gewissens beziehen und dass die Handlungen, die ihnen widersprechen, von Gott dem Allmächtigen nicht weiter bestraft werden, als sie aus Gleichgültigkeit und Missachtung herrühren. Dass zunächst diese Gesetze sich ans Gewissen richten, folgt aus Matth. 5, 20: Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Die Pharisäer waren nun aber in der buchstabengetreuen Gesetzeserfüllung die am genauesten unter den Juden; ihnen musste es demnach an der Aufrichtigkeit der Gesinnung ermangeln, ansonsten hätte unser Heiland nicht eine größere Rechtschaffenheit gefordert als die ihrige. Aus diesem Grund hat unser Heiland Jesus Christus gesagt: Der Zöllner verlässt den Tempel mit mehr Berechtigung als die Pharisäer. And Jesus Christus sagt: Mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht, was davon kommt, dass er von uns nicht mehr verlangt, als dass wir uns strebsam bemühen. Und nach Römer 14, 23: Wer aber zweifelt und dennoch isst, der ist schon verdammt. Und an unzähligen Stellen sowohl im Alten wie im Neuen Testament erklärt Gott der Allmächtige, dass er den Willen für das Werk nimmt, ebenso bei guten wie bei bösen Handlungen. Dadurch scheint es offensichtlich, dass sich das göttliche Gebot auf das Gewissen bezieht. Auf der anderen Seite ist es nicht weniger klar, dass ein Mensch, wie viele und wie verabscheuungswürdige Taten er auch immer aus Schwäche begehen mag, dennoch von der Strafe, welche diesen Handlungen sonst folgt, befreit werden soll, wenn er diese in seinem Gewissen verurteilt. Denn wann immer ein Sünder im Grunde seines Herzens bereut, werde ich all seinen Frevel aus meiner Erinnerung tilgen, sagt der Herr.
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11. In Hinsicht auf die Rache, die, wie ich in Kapitel XVI gesagt habe, nach natürlichem Recht nicht auf gegenwärtige Entzückung, sondern auf zukünft igen Nutzen angelegt sein soll, wurde von denjenigen eine gewisse Schwierigkeit erzeugt, so nämlich, als ob sie mit dem göttlichen Gesetz nicht übereinstimme, indem in Abrede gestellt wurde, dass es über das Jüngste Gericht hinaus eine Fortsetzung der Bestrafung gäbe, weil doch dann weder eine Möglichkeit der Besserung noch der Abschreckung bestünde. Dieser Einwand hätte eine gewisse Berechtigung, wenn eine derartige Bestrafung angeordnet worden wäre, nachdem alle Sünden vorüber waren; berücksichtigt man aber, dass die Bestrafung vor den Sünden eingerichtet worden ist, dient es der Menschheit zum Nutzen, weil sie die Menschen durch den Schrecken in friedvollem und rechtschaffenem Verkehr miteinander hält; und deshalb war solch eine Rache nur auf die Zukunft gerichtet. 12. Schlussendlich gibt es kein Gesetz der natürlichen Vernunft, das gegen das göttliche Gesetz sein kann. Denn Gott der Allmächtige hat dem Menschen die Vernunft gegeben, damit sie ihm ein Licht sei. Und ich hoffe, dass es keine Gottlosigkeit ist zu denken, dass der Allmächtige am Tag des Jüngsten Gerichts eine peinlich genaue Darstellung darüber verlangen wird, so wie auch über die Vorschriften, denen wir auf unserer Wanderschaft unbeschadet des heutigen Widerstands und der Angriffe der Wundergläubigen gegen jegliche vernünft ige und moralische Konversation zu folgen haben.
K apitel XIX Von der Notwendigkeit u nd Definition eines politischen Körpers 181 1. In Kap. XII, 16 wurde gezeigt, dass die Ansichten der Menschen über die Belohnungen und Strafen, die ihren Handlungen folgen, diejenigen Ursachen sind, die den Willen zu diesen Handlungen
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hervorrufen und regieren. In diesem Zustand des Menschen, in dem sie alle gleich sind und jedem von ihnen erlaubt ist, sein eigener Richter zu sein, sind auch die Ängste, die sie voreinander haben, gleich. Und jedermanns Hoff nungen bestehen in seiner eigenen Geschicklichkeit und Stärke. Konsequenterweise bleibt, wenn irgendein Mensch durch seine natürliche Leidenschaft aufgereizt wird, diese natürlichen Gesetze zu brechen, den anderen als Sicherheit für ihren eigenen Schutz nur die Vorbeugung. Und von daher verbleibt das Recht eines jeden Menschen (mag er friedvoll sein oder nicht), alles zu tun, was auch immer er für gut hält, als ein notwendiges Mittel der Selbsterhaltung weiterhin bei ihm. Die Menschen sind daher weiterhin im Kriegszustand,182 bis es Sicherheit für die Einhaltung des natürlichen Rechts zwischen den Menschen gibt. Nichts ist rechtswidrig für irgendeinen von ihnen, der nach seiner eigenen Sicherheit und Wohlfahrt strebt. Und diese Sicherheit und Wohlfahrt besteht in wechselseitiger Unterstützung und gegenseitiger Hilfe, woraus auch die beiderseitige Furcht des einen vor dem anderen folgt.183 2. Das Sprichwort sagt: Inter arma silent leges [Unter Waffen schweigen die Gesetze].184 Es ist daher nur wenig zu sagen betreffs der Gesetze, an die sich die Menschen in Kriegszeiten, in denen jedermanns Leben und Wohlsein der Maßstab seiner Handlungen ist, gegenseitig zu halten haben. So viel gebietet das natürliche Recht aber auch im Krieg: Dass die Menschen nicht die Grausamkeit ihrer vorhandenen Leidenschaften sättigen, wenn sie dadurch ihrem eigenen Gewissen nach keinen kommenden Nutzen vorhersehen. Denn dies lässt keine Notwendigkeit erkennen, sondern eine kriegerische Haltung, die gegen das natürliche Recht ist. Wir lesen, dass in alten Zeiten die Räuberei ein Lebensberuf war, in dem gleichwohl viele, die ihn ausübten, nicht nur das Leben der Überfallenen verschonten, sondern ihnen auch diejenigen Sachen beließen, die dazu notwendig waren, ihr Leben, das sie ihnen gewährt haben, zu erhalten, und zwar ihre Ochsen und die Geräte zur Feldbestellung, wiewohl sie alles andere Vieh und
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Vermögen mitnahmen. Und so wie die Räuberei selbst dem natürlichen Recht zufolge berechtigt war, wegen des Mangels an Sicherheit, sich auf andere Art zu erhalten, so war doch die Ausübung von Grausamkeit durch dasselbe Recht der Natur verboten, soweit nicht Furcht etwas Gegenteiliges nahelegte. Denn nur Furcht kann es rechtfertigen, dem anderen das Leben zu nehmen. Und da die Furcht kaum anders offenkundig gemacht werden kann als durch irgendeine unehrenhafte Handlung, welche dem Gewissen die eigene Schwäche enthüllt, haben sich alle leidenschaft lich mutigen und großmütigen Menschen der Grausamkeit enthalten, da es zwar im Krieg kein Gesetz gibt, dessen Bruch eine Rechtsverletzung wäre, es aber dennoch diejenigen Gesetze gibt, deren Bruch unehrenhaft wäre. Deshalb ist, mit einem Wort gesprochen, im Krieg die Ehre das einzige Gesetz des Handelns;185 und das Recht zum Krieg ist Voraussicht. 3. Erkennen wir, dass wechselseitige Unterstützung zur Verteidigung ebenso notwendig ist wie wechselseitige Furcht für den Frieden, dann haben wir zu überlegen, wie viel Unterstützungen es für eine solche Verteidigung und für die Verursachung solch wechselseitiger Furcht bedarf, sodass die Menschen einander sich nicht leichtfertig gefährden. Zunächst ist es augenscheinlich, dass die wechselseitige Unterstützung von zwei oder drei Menschen nur wenig Sicherheit verspricht, denn schon der Vorteil von zwei oder drei Mann auf der anderen Seite gibt ausreichend Ermutigung zum Überfall. Und deshalb muss, bevor die Menschen genügend Sicherheit durch die Hilfe eines anderen haben, ihre Anzahl so groß sein, dass die Möglichkeiten einiger, über die der Feind verfügt, keinen sicheren und spürbaren Vorteil darstellen. 4. Wie groß auch immer wir die Anzahl der versammelten Menschen zu ihrer wechselseitigen Verteidigung annehmen, so wird dies doch ohne Wirkung bleiben, bis sie alle ihre Handlungen auf ein und dasselbe Ziel hin ausrichten; und diese Ausrichtung auf ein Ziel ist das, was in Kap. XII, 7 Übereinstimmung genannt wird. Eine derartige Einmütigkeit (oder Eintracht) unter so vie-
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len Menschen ist aber unmöglich. Gewiss kann durch die Furcht vor einem gegenwärtigen Angreifer oder aus der Hoff nung auf eine augenblickliche Eroberung oder Beute Übereinstimmung hergestellt werden und so lange andauern, wie dieses Geschehen währt; nichtsdestotrotz ist es unmöglich, dass so viele Menschen, bewegt durch die Unterschiedlichkeit der Beurteilungen und Leidenschaften und allesamt naturgemäß auf Ehre und Ansehen aus, sich einmütig gegen einen Angreifer Hilfe leisten oder lange in Frieden miteinander leben werden, ohne dass sie unter dem Regiment wechselseitiger und gemeinsamer Furcht stehen. 5. Aber im Gegensatz hierzu kann die Erfahrung eingewendet werden, die wir von gewissen unvernünft igen Geschöpfen haben; diese leben zu ihrem gemeinsamen Nutzen trotzdem beständig unter solch einer guten Ordnung und Regierung und sind so frei von Aufruhr und Krieg untereinander, dass für Frieden, Nutzen und Verteidigung nichts zu wünschen übrigbleibt. Und diese Erfahrung haben wir von dem kleinen Geschöpf der Biene, die deshalb unter die animalia politica [politischen Tiere]186 gerechnet wird. Warum sollten nicht die Menschen, die doch den Nutzen von Eintracht voraussehen, so wie die Bienen beständig ohne Zwang dasselbe aufrechterhalten? Darauf antworte ich, dass es bei anderen lebenden Geschöpfen weder eine Frage der Rangordnung innerhalb ihrer Gattung gibt noch wie unter den Menschen einen Wettstreit über Ehre und Anerkennung gegenseitiger Klugheit. Daraus entwachsen Neid und Hass des einen gegen den anderen, und daraus wiederum Aufruhr und Krieg. Zweitens, diese lebenden Geschöpfe streben jeweils nach Frieden und Nahrung für alle gemeinsam; die Menschen legen es auf Herrschaft, Überlegenheit und privaten Wohlstand an, worunter bei jedem Menschen individuell etwas anderes verstanden wird, was zu Streit führt. Drittens, diese lebenden Geschöpfe, die ohne jede Vernunft sind, haben nicht genügend erlernt, um irgendeinen Fehler in der Regierung zu erspähen oder zu denken, sie würden einen erspä-
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hen; und deshalb sind sie zufrieden damit. Aber in einer Menge von Menschen sind immer einige, die sich selbst als weiser als die Übrigen dünken und auf Änderung dessen trachten, was sie für verkehrt halten; und verschiedene unter ihnen erstreben dies auf verschiedenen Wegen, und das verursacht Krieg. Viertens, ihnen fehlt die Sprache, und sie sind deshalb unfähig, einander zur Uneinigkeit aufzuwiegeln, wovon die Menschen reichlich haben. Fünftens, sie haben keine Vorstellung von richtig und falsch, sondern nur von Wohlbehagen und Schmerz, und daher verurteilen sie auch weder einander noch ihre Anführer, solange ihnen behaglich zumute ist. Die Menschen hingegen machen sich selbst zu Richtern über richtig und falsch und sind dann am wenigsten in Ruhe, wenn sie es am bequemsten haben.187 Schlussendlich, natürliche Eintracht, wie sie unter diesen Geschöpfen herrscht, ist das Werk Gottes vermittels der Natur. Aber die Eintracht unter den Menschen entsteht künstlich und im Wege der Verpflichtung. Es ist daher kein Wunder, wenn solche unvernünftigen Geschöpfe sich selbst als Menge regieren und dies sehr viel beständiger tun als die Menschheit, die dies durch eine eigenmächtige Organisation tut. 6. Immer noch bleibt aber, dass Übereinstimmung (worunter ich das Zusammenfallen der Willen vieler Menschen in einer Handlung verstehe) keine ausreichende Sicherheit für den gemeinsamen Frieden ist, wenn nicht irgendeine gemeinsame Macht errichtet wird, die die Menschen durch die Furcht, die sie ihnen einflößt, dazu nötigt, sowohl den Frieden untereinander einzuhalten als auch ihre Stärken gegen einen gemeinsamen Feind zu vereinigen. Und damit dies getan werden kann, gibt es keinen anderen vorstellbaren Weg als die Vereinigung (union), wie sie in Kap. XII, 8 bestimmt wird, um die Willen der Vielen im Willen eines Menschen oder in den Willen des größten Teils irgendeiner Anzahl von Menschen miteinzubeziehen oder aufzunehmen, das heißt in den Willen eines Menschen oder einer RATSVERSAMMLUNG (COUNCIL); denn eine Ratsversammlung ist nichts anderes
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als eine Versammlung von Menschen, die über etwas beraten, was sie insgesamt betrifft. 7. Die Erzeugung einer Vereinigung besteht darin, dass jeder Mensch durch das Eingehen einer Verpflichtung sich gegenüber irgendeinem und demselben Menschen oder gegenüber irgendeiner und derselben Ratsversammlung, deren Mitglieder bestimmt und eingesetzt sind, verbindlich macht, und zwar derart, dass sie alle Handlungen setzen werden, die ihnen dieser Mensch oder diese Ratsversammlung zu tun befiehlt, und keine Handlung vollziehen werden, die er oder sie verbieten oder ihnen befehlen wird, nicht zu tun.188 Weiters, wenn es eine Ratsversammlung ist, der gegenüber sie die Verpfl ichtung eingegangen sind, ihren Befehlen zu folgen, dann haben sie sich auch dazu verpflichtet, dass jedermann dies für den Befehl des ganzen Rates ansieht, was der Befehl des größeren Teils dieser Männer ist, aus denen solch eine Ratsversammlung besteht. Und obgleich der Wille eines Menschen nicht freiwillig ist, sondern der Anfang einer freiwilligen Handlung und er also nicht Gegenstand von Beratung und Verpflichtung ist, so ist ein Mensch, der sich dazu verpfl ichtet hat, seinen Willen dem Befehl eines anderen unterzuordnen, dazu angehalten, seine Stärke und Mittel demjenigen abzutreten, demgegenüber er sich verpflichtet hat zu gehorchen;189 und hierdurch kann derjenige, dem die Befehlsgewalt zukommt, durch den Gebrauch aller ihrer Mittel und Kräfte und durch die daraus erwachsende Schreckensangst ihren Willen zu Einheitlichkeit und Eintracht unter ihnen selbst formen.190 8. Ist diese Vereinigung hergestellt,191 so nennen die Menschen dies heutzutage einen POLITISCHEN KÖRPER (BODY POLITIC) oder eine bürgerliche Gesellschaft (civil society). Die Griechen nennen sie polis, das heißt eine Stadt, die definiert werden kann als eine Menge (multitude)192 von Menschen, die zum Zweck ihres allgemeinen Friedens, der gemeinsamen Verteidigung und des gemeinsamen Nutzens durch eine gemeinsame Macht zu einer Person vereinigt ist.193
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9. Und so wie diese Vereinigung in einer Stadt oder einem politischen Körper zum gemeinsamen Wohl aller mit einer gemeinsamen Macht über alle einzelnen Personen oder deren Mitglieder ausgestattet ist, so kann auch unter einer Menge dieser Mitgliedern eine untergeordnete Vereinigung bestimmter Menschen eingerichtet werden, die sich bestimmte Handlungen dieser Menschen zum Ziel gesetzt hat, um ihren gemeinsamen Nutzen oder den der gesamten Stadt zu befördern, etwa als Unterabteilung der Regierung, als Rechtsbeistand, für den Handel und Ähnliches. Und diese nachgeordneten politischen Körper werden üblicherweise KÖRPERSCHAFTEN (CORPORATIONS) genannt, und ihre Macht über die Einzelnen ihrer eigenen Gesellschaft ist genau so groß, wie sie die gesamte Stadt, deren Mitglieder sie sind, ihnen eingeräumt hat. 10. In allen Städten oder politischen Körpern, die nicht untergeordnet, sondern unabhängig sind, wird der Mensch oder die eine Ratsversammlung, dem oder der gegenüber die einzelnen Mitglieder die gemeinsame Macht eingeräumt haben, SOUVERÄN (SOVEREIGN) genannt, und seine Macht ist die herrschaft liche Gewalt (sovereign power). Diese besteht in der Macht und der Stärke, die jedes der Mitglieder durch Eingehen der Verpflichtung von sich auf ihn übertragen hat. Und weil es in Wirklichkeit unmöglich ist, dass irgendein Mensch seine Stärke auf einen anderen überträgt, oder für den anderen, dass er diese entgegennimmt, ist dies so zu verstehen, dass die Übertragung der Macht und Stärke eines Menschen nichts anderes ist als das Ablegen oder Aufgeben seines eigenen Rechts, sich gegen ihn, dem es übertragen wurde, zur Wehr zu setzen. Und jedes Mitglied des politischen Körpers wird als UNTERTAN (SUBJECT) des Souveräns bezeichnet. 11. Die allgemeine Ursache, die einen Menschen dazu bewegt, der Untertan eines anderen zu werden, ist (wie ich schon gesagt habe) die Furcht, sich ansonsten nicht erhalten zu können. Ein Mensch kann sich einem anderen, der ihn überfällt oder aus Furcht vor ihm bei ihm eindringt, selbst zum Untertanen machen; oder
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Menschen können sich untereinander zusammentun, um sich jemandem zu unterwerfen, den sie sich selbst aus Furcht vor anderen ausgewählt haben. Und wenn sich viele Menschen in der erstgenannten Art selbst untertänig machen, dann stellt sich daraus auf natürliche Weise ein politischer Körper ein, woraus väterliche und despotische Herrschaft entsteht, und wenn sie sich auf die andere Art untertänig machen, durch wechselseitige Übereinkommen unter vielen, dann wird der politische Körper, den sie herstellen, in Unterscheidung von dem erstgenannten zumeist ein Gemeinwesen (commonwealth) genannt, wiewohl der Name »politischer Körper« der allgemeine Name für beide ist; ich werde an erster Stelle von den Gemeinwesen sprechen, und erst danach von den väterlichen und despotischen politischen Körpern.
T EI L I I VOM POL I T ISCH EN KÖR PER
K apitel X X Über die Erfor der nisse einer Verfassu ng für ein Gemein wesen 194 1. Der bereits beendete Teil dieser Abhandlung wurde gänzlich dem Nachdenken über die natürliche Macht und den natürlichen Zustand der Menschen gewidmet; und zwar in den ersten elf Kapiteln seinem Erkenntnisvermögen und seinen Leidenschaften und wie aus ihnen seine Handlungen entspringen im zwölften; wie die Menschen den Geist der anderen erkennen im dreizehnten; in welchen Zustand die menschlichen Leidenschaften sie versetzen im vierzehnten; in welchen Zustand sie durch die Gebote der Vernunft, das heißt durch die grundsätzlichen Bestimmungen des natürlichen Rechts geführt werden im fünfzehnten, sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten; und schließlich, wie eine Menge natürlicher Personen durch das Eingehen von Verpfl ichtungen sich zu einer bürgerlichen Person oder einem politischen Körper verbinden können. In diesem Teil soll daher die Natur des politischen Körpers und dessen Gesetze, auch »bürgerliche Gesetze« genannt, betrachtet werden. Und wie im letzten Abschnitt des letzten Kapitels des vorigen Teils gesagt wurde, gibt es zwei Arten, einen politischen Körper zu errichten, einerseits durch die gewillkürte Einrichtung von vielen dazu versammelten Menschen, was soviel ist wie eine durch menschlichen Verstand aus dem Nichts geborene Schöpfung; andererseits durch Zwang, was so ist, als ob dessen Erzeugung eine Folge natürlicher Kraft wäre. Zunächst werde ich über denjenigen Aufbau eines politischen Körpers sprechen, der aus der Versammlung und der Übereinstimmung einer Menge resultiert.
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2. An dieser Stelle haben wir eine Menge von Menschen zu erwägen, die im Begriff steht, sich selbst zu ihrer Sicherheit, sowohl gegeneinander als auch gegenüber gemeinsamen Feinden, zu einem politischen Körper zu vereinigen, und das durch das Eingehen von Verpfl ichtungen. Die Kenntnis darüber, welche Verpflichtungen sie eingehen müssen, hängt von der Kenntnis der Personen und dem Wissen um ihre Ziele ab. Was erstens die Personen betrifft, so sind sie viele und (noch) nicht eine; auch kann nicht irgendeine Handlung, die in der Menge der versammelten Leute vollzogen wird, der Menge zugerechnet oder tatsächlich eine Handlung der Menge genannt werden, bis die Hand eines jeden und jedermanns Wille (kein einziger ausgenommen) daran mitgewirkt haben. Denn wenn auch die Menge äußerlich ein Zusammenströmen von Personen ist, so stimmen sie doch nicht immer in ihren Plänen überein. Denn selbst zu der Zeit, in der sich die Menschen in Aufruhr befinden, stimmt doch eine Anzahl von ihnen dem einen Unfug zu und eine Anzahl von ihnen einem anderen; sie sind noch, im Ganzen gesehen, untereinander im Zustand der Feindseligkeit und nicht des Friedens, ähnlich den in Jerusalem belagerten aufständischen Juden, die sich gegen ihre Feinde verbinden konnten und dennoch gegeneinander kämpften. Wann auch immer daher irgendein Mensch sagt, dass eine Anzahl von Menschen irgendeine Tat begangen hat, dann ist das so zu verstehen, dass jeder einzelne Mensch in dieser Gruppe damit übereingestimmt hat und nicht lediglich der größte Teil davon. Zweitens, obgleich sie sich mit der Absicht versammelt haben, sich zu vereinigen, so sind die Menschen doch immer noch in dem Zustand, in dem jedermann ein Recht auf alles hat, und folgerichtig, wie in Kap. XIV, 10 gesagt wurde, in einem Zustand, in dem sie sich an nichts erfreuen können; und deshalb hat meum [mein] und tuum [dein] keinen Platz unter ihnen.195 3. Demnach ist die erste Sache, die sie tun müssen, dass jedermann196 ausdrücklich mit etwas einverstanden ist, wodurch sie ihren Zielen näher kommen können; man kann sich nichts an-
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deres vorstellen als dies: Dass sie den Willen des größeren Teils ihrer Gesamtzahl oder den Willen des größeren Teils irgendeiner bestimmten Anzahl von Menschen, die von ihnen bestimmt und benannt wurden, oder schließlich dem Willen irgendeines einzelnen Menschen die Erlaubnis geben, für den Willen eines jeden Einzelnen genommen zu werden und diesen zu beinhalten. Haben sie das getan, sind sie vereinigt und ein politischer Körper.197 Und wenn für den größeren Teil ihrer Gesamtzahl angenommen wird, die Willen von allen Einzelnen zu beinhalten, dann wird über sie gesagt, sie wären eine DEMOKRATIE (DEMOCRACY), das heißt, dass dann eine Regierung, in der die Gesamtzahl oder doch so viele, wie es gefällt, zusammengekommen sind, der Souverän und jeder einzelne Mensch ein Untertan ist. Wenn vom größeren Teil einer bestimmten Anzahl der von den Übrigen benannten und bestimmten Männer angenommen wird, dass er die Willen eines jeden der Einzelnen beinhaltet, dann werden sie als eine OLIGARCHIE (OLIGARCHY) oder ARISTOKRATIE (ARISTOCRACY) bezeichnet; zwei Worte, die in Einklang mit den verschiedenen Leidenschaften derer, die sie gebrauchen, dieselbe Sache kennzeichnen. Denn wenn die Menschen in diesen Positionen gefallen, dann wird es eine Aristokratie genannt, andernfalls eine Oligarchie;198 worin diejenigen, die den größeren Teil derjenigen stellen, die die Willen der gesamten Menge bestimmen, der Souverän sind, und jeder Mensch für sich ein Untertan. Wenn schließlich ihre Übereinstimmung dahin geht, dass der Wille eines Menschen, den sie benennen, für die Willen von ihnen allen stehen soll, dann wird ihre Regierung oder Vereinigung MONARCHIE (MONARCHY) und dieser Mensch als der Souverän bezeichnet, und jeder der Übrigen ist ein Untertan. 4. Diese verschiedenen Arten von Vereinigungen, Regierungen und Unterwerfungen menschlichen Willens können entweder als absolute, das heißt für alle Zukunft oder nur für eine begrenzte Zeit gemacht verstanden werden. Insofern wir hier von einem politischen Körper sprechen, eingerichtet zum fortwährenden
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Nutzen und zur steten Verteidigung derer, die ihn erzeugen, der deshalb nach den Wünschen der Menschen für immer halten sollte, will ich es unterlassen, über diejenigen zu sprechen, die zeitweilig bestehen, und diejenigen in Augenschein nehmen, die für immer sind. 5. Der Zweck, um dessentwillen ein Mensch sein Recht auf Schutz und Verteidigung durch eigene Macht aufgibt und an einen anderen oder an andere abtritt, ist die dadurch zu erwartende Sicherheit des Schutzes und der Verteidigung durch jene, denen er sie abgetreten hat. Und ein Mensch kann sich dann dem Zustand der Sicherheit zuzählen,199 wenn er voraussehen kann, dass an ihm keine Gewalt verübt wird, die nicht durch die Macht jenes Souveräns abgeschreckt werden kann, dem sich jeder Einzelne von ihnen unterworfen hat.200 Ohne diese Sicherheit besteht für niemanden ein Grund, sich seiner eigenen Vorteile zu berauben und sich selbst zur Beute anderer zu machen. Wenn also keine derartige herrschaft liche Gewalt errichtet ist, die diese Sicherheit bietet, dann ist es nur allzu verständlich, dass jedermanns Recht zu tun, was auch immer in seinen Augen als gut erscheint, weiterhin bei ihm verbleibt. Und umgekehrt, wo irgendein Untertan sein Recht durch sein eigenes Urteil und Gutdünken in Anspruch nimmt, ist es verständlich, dass jeder Mensch dasselbe Recht hat und dass es folgerichtig überhaupt kein bestehendes Gemeinwesen gibt.201 Wie weit daher ein Mensch bei der Schaff ung eines Gemeinwesens seinen Willen der Macht anderer unterwirft, ergibt sich aus dem Ziel, nämlich der Sicherheit. Denn was auch immer notwendig ist, durch das Eingehen einer Verpfl ichtung übertragen zu werden, um diese Sicherheit zu erlangen, so viel wird übertragen, denn ansonsten verbleibt jedermann in seiner natürlichen Freiheit, sich selbst zu sichern. 6. Vereinbarungen aber, zu denen man sich unter allen Menschen, die sich zur Schaff ung eines Gemeinwesens versammelt haben, gefunden hat und die man in Schrift form bringt, sind weder eine vernünft ige Sicherheit für irgendjemanden von denen,
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die eine derartige Verpflichtung eingegangen sind, noch sind sie Gesetze, wenn nicht eine Zwangsgewalt errichtet wird; sie belassen die Menschen weiterhin im Zustand der Natur und der Feindseligkeit. Sieht man nämlich, dass die Willen der meisten Menschen ausschließlich von Furcht regiert werden, wo aber keine Zwangsgewalt ist, ist auch keine Furcht, dann werden die Willen der meisten Menschen ihren Leidenschaften zu Habgier, Lustgewinn, Zorn und dergleichen folgen, um die eingegangenen Verpflichtungen zu brechen, wodurch auch die Übrigen, die sie sonst eingehalten hätten, in Freiheit gesetzt sind und kein Recht mehr haben, als sich selbst zu helfen.202 7. Diese Zwangsgewalt besteht, wie in Kap. XV, 3 des vorigen Teils gesagt wurde, in der von jedermann geleisteten Übertragung des Rechts, gegen denjenigen Widerstand zu leisten, dem er die Zwangsgewalt übertragen hat. Es folgt daher, dass kein Mensch in irgendeinem Gemeinwesen was auch immer für ein Recht hat, demjenigen Widerstand entgegenzusetzen, auf den oder auf die sie diese Zwangsgewalt oder (wie es die Menschen gebräuchlicherweise nennen) das Schwert der Gerechtigkeit übertragen haben; die Möglichkeit, keinen Widerstand zu leisten, vorausgesetzt, denn eingegangene Verpfl ichtungen sind (Kap. XV, 18) lediglich bis zum Äußersten unseres Bemühens verbindlich. 8. Und insofern diejenigen durch das Mittel dieses Schwertes der Gerechtigkeit, das sie alle einschüchtert, untereinander in Sicherheit sind, so sind sie dennoch der Gefahr von äußeren Feinden ausgesetzt; wenn nicht irgendwelche Mittel gefunden werden, ihre Stärke und ihre natürlichen Kräfte im Widerstand gegen solche Feinde zu verbinden, dann ist der Friede unter ihnen völlig vergeblich. Und deshalb muss es als eine von allen Mitgliedern eingegangene Verpfl ichtung verstanden werden, dass sie ihre gesonderten Kräfte für die Verteidigung des Ganzen beisteuern, um dadurch eine Macht für die Verteidigung so hinreichend wie möglich zu machen. Sieht man nun, dass ein jeder schon den Gebrauch seiner Stärke an ihn oder sie übertragen hat, die das
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Schwert der Gerechtigkeit besitzen, dann heißt dies, dass das Kriegsschwert in denselben Händen liegen muss wie das Schwert der Gerechtigkeit, und folgerichtig sind diese zwei Schwerter nur eines, welches untrennbar und unbedingt notwendig der souveränen Macht angeheftet ist.203 9. Sieht man außerdem, dass das Recht, das Schwert zu besitzen, nichts anderes ist, als dessen Gebrauch nur vom Urteil und Gutdünken dessen oder derer abhängig zu machen, die es innehaben, dann folgt daraus, dass die Macht zur Rechtsprechung (in allen Streitigkeiten, in denen das Schwert der Gerechtigkeit gebraucht wird) und (in allen Beratungen den Krieg betreffend, in denen dieses Schwert erforderlich ist) das Recht zu beschließen und zu bestimmen, was getan werden muss, ein und demselben Souverän gehören.204 10. Berücksichtigt man überdies, dass es nicht weniger, sondern weitaus mehr notwendig ist, Gewalt und Räuberei zu verhüten, als sie zu bestrafen, wenn sie verübt werden, und dass alle Gewalt aus Streitigkeiten zwischen den Menschen über meum [mein] und tuum [dein], richtig und falsch, gut und schlecht und dergleichen hervorgeht, was jedermann dazu benützt, einen jeden nach seinem eigenen Urteil zu beurteilen, dann unterfällt auch dies dem Urteil jener souveränen Macht, um das allgemeine Maß festzusetzen und bekannt zu geben, wodurch dann jeder Mensch weiß, was seines ist und was des anderen, was gut und was schlecht ist und was er tun soll und was nicht, und dieses anzuordnen, auf dass es befolgt wird.205 Und diese Maßstäbe für das Handeln der Untertanen sind diejenigen, die man POLITISCHE oder BÜRGERLICHE GESETZE (LAWS POLITIC or CIVIL) nennt. Das Recht dazu muss demjenigen zukommen, der das Recht des Schwertes hat, durch welches die Menschen gezwungen werden, sie einzuhalten, denn andernfalls würden sie umsonst geschaffen worden sein. 11. Und weiter, wenn man sieht, dass es unmöglich ist, dass irgendein einzelner Mensch, dem diese herrschende Gewalt zukommt, persönlich fähig sein könnte, allen Streitigkeiten Gehör
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zu schenken und über sie zu entscheiden, bei allen Beratungen, die das öffentliche Wohl betreffen, anwesend zu sein und alle gemeinschaft lichen Handlungen, die darunter fallen, zu vollstrecken und auszuführen, wodurch sich die Notwendigkeit von Magistraten (magistrates) und Verwaltern der öffentlichen Angelegenheiten ergibt;206 dann ist es konsequent, dass deren Berufung, Ernennung und Befristung als ein untrennbarer Teil dieser souveränen Macht zu verstehen ist, der bereits die Gesamtheit der Rechtsprechung (all judicature) und Vollstreckung (execution) beigeordnet worden ist.207 12. Insofern als das Recht, die Kräfte eines jeden einzelnen Mitglieds zu gebrauchen, von diesen selbst auf ihren Souverän übertragen worden ist, wird jedermann unschwer zu der eigenen Schlussfolgerung gelangen, dass der souveränen Macht (einerlei, was sie tut) Straff reiheit zukommt.208 13. Die Gesamtheit dieser Souveränitätsrechte, und zwar der unbeschränkbare Gebrauch des Schwertes in Friedens- und in Kriegszeiten, das Aufstellen und das Außerkraft setzen von Gesetzen, die Höchstgerichtsbarkeit und die Entscheidung in allen juristischen und beratenden Verhandlungen, die Ernennung aller Magistrate und Minister samt der anderen mit eingeschlossenen Rechte, machen die souveräne Gewalt im Gemeinwesen nicht weniger unbeschränkt, als jeder Mensch vor der Staatlichkeit für sich selbst unbeschränkt war, das zu tun oder nicht zu tun, was er selbst für gut befand. Menschen, die keine Erfahrung dieses elenden Zustandes haben, auf den die Menschen durch einen langen Krieg herabgesetzt werden, halten diese Bedingung für derart unerträglich, dass es ihnen schwer fällt anzuerkennen, dass das Eingehen dieser Verpflichtungen und diese Unterwerfung ihrerseits, wie sie hier niedergelegt ist, für ihren Frieden jemals notwendig gewesen wären. Und deshalb haben sich manche eingebildet, dass ein Gemeinwesen geschaffen werden könnte, indem die souveräne Gewalt so begrenzt und gemäßigt werden kann, wie sie es sich für sich selbst vorstellen. Beispielsweise nehmen sie an,
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dass eine Menge von Menschen, die über einige Bestimmungen eine Übereinkunft erzielt haben (die sie sogleich »Gesetze« nennen) und die vorschreiben, wie sie regiert werden wollen, und die, nachdem das getan ist, sich sodann auf irgendeinen Menschen oder auf eine Anzahl von Menschen einigen, um die Ausführung dieser Bestimmungen zu beachten und sie zu vollstrecken. Und um ihn oder sie dazu zu befähigen, bewilligen sie ihnen ein bestimmtes Einkommen aus gewissen Ländereien, Steuern, Strafen und dergleichen, und diese sollen dann (wenn vergeudet) nichts mehr bekommen ohne eine neue Bewilligung jener Menschen, die das zunächst erlaubt haben. Und so glauben sie, dass sie ein Gemeinwesen geschaffen hätten, in dem es für jede Privatperson ungesetzlich wäre, sein eigenes Schwert für seine Sicherheit zu gebrauchen, worin sie sich freilich täuschen. 14. Denn hinsichtlich der Einkünfte würde sich doch notwendigerweise zunächst ergeben, dass nach dem Willen dessen, der solche Einkünfte hat, Streitkräfte ausgehoben und bereitgestellt würden; da jedoch die Einkünfte begrenzt sind, müssen es auch die Streitkräfte sein. Begrenzte Streitkräfte sind aber gegen die Macht eines Feindes, die wir nicht begrenzen können, unzureichend. Wann auch immer deshalb ein größerer Einmarsch geschehen sollte, sodass jene Streitkräfte ihm nicht widerstehen können, und es kein anderes Recht gibt, mehr einzuberufen, dann ist es jedem Menschen naturnotwendig erlaubt, für sich so gut er kann die besten Vorkehrungen zu treffen, und so ist er wiederum auf das private Schwert und den Kriegszustand herabgesetzt. Wenn wir aber sehen, dass die Einkünfte ohne das Recht, weitere Männer zu befehligen, weder im Frieden noch im Krieg von Nutzen sind, dann ist es nötig anzunehmen, dass derjenige, dem die Verwaltung dieser Bestimmungen, wie sie im vorigen Abschnitt angeführt wurden, aufgetragen ist, auch das Recht haben muss, die Kräfte der einzelnen Menschen zu gebrauchen; und welche Begründung auch immer ihm dieses Recht über irgendeinen gab, gab ihm dasselbe über alle. Und so ist also sein Recht
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absolut, denn derjenige, der das Recht auf alle ihre Kräfte hat, der hat auch das Recht, darüber zu verfügen. Noch einmal: Angenommen, diese begrenzten Kräfte und Einkünfte würden aus Notwendigkeit oder aus ihrem fahrlässigen Gebrauch versagen, und angenommen, dass für eine Beschaff ung wiederum dieselbe Menge versammelt werden müsste; wer sollte die Macht haben, sie zu versammeln, sie also zu zwingen zusammenzukommen? Wenn derjenige, der die Beschaff ung einfordert, dieses Recht hat, also das Recht, alle zu zwingen, dann ist seine Herrschaftsgewalt absolut;209 wenn nicht, dann bleibt jedem einzelnen Menschen die Freiheit, zu kommen oder nicht, ein neues Gemeinwesen zu bilden oder nicht. Und so kehrt das Recht des privaten Schwertes zurück. Nehmen wir aber einmal an, sie versammelten sich freiwillig und nach eigener Absprache, um die Beschaff ung zu erörtern. Wenn es jetzt immer noch ihrer Wahl überlassen ist, ob sie sie gewähren wollen oder nicht, dann haben sie auch die Wahl, ob das Gemeinwesen fortbestehen soll oder nicht.210 Und deshalb liegt auf niemandem von ihnen irgendeine bürgerliche Verpflichtung, die sie am Gebrauch von Gewalt hindern könnte, falls sie denken, dass dies zu ihrer Verteidigung dienlich wäre. Die Anordnung derer, die zuerst bürgerliche Gesetze machen wollen und später erst eine bürgerliche Gesellschaft (so als ob die Politik einen politischen Körper und nicht ein politischer Körper die Politik gemacht hat), ist daher ohne jedes Ergebnis. 15. Um die von ihnen als hart aufgefasste Bedingung absoluter Unterwürfigkeit (die sie voll des Hasses dagegen auch Sklaverei nennen) zu vermeiden, haben andere eine Regierung ausgeklügelt, die sie sich als aus drei Arten von Souveränität gemischt vorstellen. Beispielsweise nehmen sie an, dass man die Macht zur Gesetzgebung irgendeiner großen demokratischen Versammlung gibt, die Rechtsprechungsgewalt einer anderen Versammlung und die Verwaltung der Gesetze an eine dritte oder an einen einzelnen Menschen.211 Und diese Politik nennen sie dann gemischte Monarchie, gemischte Aristokratie oder gemischte Demokratie,
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je nachdem eine dieser drei Arten am deutlichsten vorherrscht. Und unter dieser Regierungsform, so denken sie, wäre der Gebrauch des privaten Schwertes ausgeschlossen. 16. Und nehmen wir an, es wäre so. Wie würde diese Gegebenheit, die sie Sklaverei nennen, dadurch abgeschwächt werden? Denn in diesem Zustand würden sie einem Menschen weder erlaubt haben, sein eigener Richter zu sein, noch sein eigener Gestalter, noch sich selbst irgendein Gesetz zu geben. Und solange jene drei (Versammlungen) übereinstimmen, sind sie ihnen ebenso absolut unterworfen, als es ein Kind seinem Vater oder ein Sklave seinem Herrn unter natürlichen Verhältnissen ist. Die Behaglichkeit dieser Unterwerfung muss also in der Unstimmigkeit unter jenen bestehen, unter denen sie die herrschende Gewalt aufgeteilt haben. Aber diese Nichtübereinstimmung entspricht dem Krieg. Die Spaltung der Souveränität führt daher entweder nicht zu dem Ergebnis, dass die völlige Unterwerfung beseitigt ist, oder sie führt zum Krieg, in dem das private Schwert wiederum Platz greift. Die Wahrheit aber ist, wie schon in den Abschnitten 7 bis 12 dieses Kapitels gezeigt wurde, dass die Souveränität unteilbar ist und dass jene scheinbare Vermischung von verschiedenen Regierungsformen keine Mischung der Dinge selbst ist, sondern eine Verwirrtheit über unsere Abmachungen, die es unmöglich macht, ohne weiteres herauszufi nden, wem wir uns unterworfen haben.212 17. Wiewohl die Souveränität nicht gemischt ist, sondern immer entweder einfache Demokratie, einfache Aristokratie oder reine Monarchie ist, können nichtsdestotrotz in ihrer Verwaltung alle Arten von Regierungsformen untergeordnet Platz fi nden. Denn angenommen, die herrschende Gewalt ist demokratisch, wie es manchmal in Rom der Fall war, so kann sie doch zur selben Zeit eine aristokratische Ratsversammlung wie den Senat haben, und gleichzeitig kann sie einen untergeordneten Monarchen haben, wie es ihr Diktator war, dem für bestimmte Zeit die Ausübung der ganzen Souveränität zukam, wie es allen Generälen im Krieg entspricht. Ebenso kann es in einer Monarchie einen aristokrati-
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schen Rat von Männern geben, die der Monarch ausgewählt hat, oder einen demokratischen Rat von Männern, die (mit Genehmigung des Monarchen) durch Übereinkunft von allen Einzelnen des Gemeinwesens gewählt wurden. Und diese Mischung ist es, die den Anschein erweckt, als ob hier eine Vermischung von Herrschaftsgewalt vorliege; etwa derart, dass ein Mensch denken sollte, nur weil der Große Rat von Venedig für gewöhnlich nichts anderes tut, als die Magistrate, Staatsminister, Hauptleute und Stadtkommandanten, Botschafter, Berater und dergleichen zu ernennen, bestünde sein Anteil an der Souveränität lediglich in der Auswahl von Magistraten und die Schaff ung von Krieg und Frieden und von Gesetzen wäre nicht auch seine Aufgabe, sondern die jener Berater, die er dazu ernannt hat. Tatsächlich ist es aber deren Aufgabe, dies in untergeordneter Stellung zum Großen Rat zu tun, der sie ausgewählt hat. 18. Die Vernunft lehrt uns, dass ein Mensch, wenn wir ihn außerhalb der Abhängigkeit von Gesetzen und außerhalb von allen Verpflichtungen gegenüber anderen betrachten, frei ist, alles zu tun und wieder rückgängig zu machen und so lange zu überlegen, wie er Lust hat; jedes Glied des Körpers ist dabei dem Willen des ganzen Körpers unterworfen, und die Freiheit besteht hier in nichts anderem als in seinen natürlichen Kräften, ohne die er nichts anderes ist als ein seelenloses Geschöpf. Und ebenso lehrt uns die Vernunft auch, dass ein politischer Körper, welcher Art auch immer, der weder einem anderen unterworfen noch durch das Eingehen von Verpflichtungen gebunden ist, frei sein und in allen seinen Handlungen von seinen Mitgliedern, jeder Einzelne an seinem Platz, unterstützt oder wenigstens nicht behindert werden sollte; denn es wäre ansonsten die Macht des politischen Körpers (dessen Substanz darin besteht, dass sich ihm keines seiner Mitglieder widersetzt) gar keine und es wäre auch kein politischer Körper von irgendeinem Nutzen. Und genau dies wird durch den Gebrauch aller Völker und Staaten in der Welt bestätigt. Welches Volk oder welches Gemeinwesen gibt es denn, in dem dieser
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Mensch oder diese Ratsversammlung gewissermaßen das Ganze ist, das nicht absolute Macht über jeden Einzelnen hätte? Wo gibt es ein Volk oder Gemeinwesen, das nicht in seinen Kriegen die Macht und das Recht hätte, einen General einzusetzen? Die Gewalt eines Generals aber ist absolut, und daher gab es diese absolute Macht auch schon in dem Gemeinwesen, von dem diese Macht herrührt. Denn keine natürliche oder bürgerliche Person kann einem anderen mehr Macht übertragen, als sie selbst besitzt. 19. In jedem Gemeinwesen, in dem den einzelnen Menschen ihr Recht auf Selbsterhaltung vorenthalten wird, gibt es, wie ich schon gezeigt habe, einen absoluten Souverän. Aber in welchem Mann oder in welcher Versammlung von Menschen dieser seinen Ort hat, das ist nicht so offenkundig, als dass es nicht einiger Kennzeichen bedürfte, an denen man ihn erkennen kann. Zunächst ist es ein unfehlbares Merkmal von absoluter Souveränität bei einem Menschen oder einer Versammlung von Menschen, wenn es kein Recht irgendeiner anderen natürlichen oder bürgerlichen Person gibt, diesen Mann zu bestrafen213 oder die Versammlung aufzulösen. Denn der, der nicht dem Recht gemäß bestraft werden kann, dem kann rechtmäßig auch nicht widerstanden werden; und wem nicht rechtmäßig Widerstand entgegengesetzt werden kann, der hat die Zwangsgewalt über alle Übrigen und kann so deren Handlungen nach seinem Belieben gestalten und regieren; und eben das ist absolute Souveränität.214 Andererseits ist der, der in einem Gemeinwesen durch irgendjemanden bestraft werden kann, nicht souverän. Denn um zu strafen215 oder aufzulösen, ist immer eine größere Gewalt erforderlich als die Macht derer, die bestraft oder aufgelöst werden; und es kann diejenige Macht, der eine größere gegenübersteht, nicht souverän genannt werden. Zweitens, der Mann oder die Versammlung, der oder die durch sein oder ihr eigenes, nicht aus dem gegenwärtigen Recht irgendeines anderen abgeleiteten Rechts nach Gutdünken Gesetze machen und aufheben kann, der oder die hat die absolute Herrschaftsgewalt. Es ist ja anzunehmen, dass die Gesetze, die sie erlassen, dem gelten-
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den Recht entsprechend gemacht werden, und deshalb sind die Mitglieder des Gemeinwesens verpflichtet, sie einzuhalten und sich ihrer Vollstreckung nicht zu widersetzen; und dieser Widerstandsverzicht macht die Macht dessen absolut, der sie festgesetzt hat. In ähnlicher Weise ist es Kennzeichen dieser Souveränität, das ursprüngliche Recht auszuüben, Beamte, Richter, Berater und Staatsminister zu ernennen; denn ohne diese Macht kann kein Akt der Herrschaft ausgeführt werden. Schlussendlich und ganz allgemein: Derjenige, der aus eigener Machtvollkommenheit irgendeine Handlung tun kann, die ein anderer desselben Gemeinwesens nicht tun kann, der muss notwendigerweise als derjenige angesehen werden, dem die Herrschaft smacht zukommt. Denn von Natur aus haben die Menschen das gleiche Recht; diese Ungleichheit muss deshalb aus der Macht des Gemeinwesens herrühren. Wer deshalb irgendeinen Akt gesetzlich aus eigener Befugnis setzt, den ein anderer nicht setzen kann, tut dies vermittels der Macht des Gemeinwesens, die er verkörpert; und das ist absolute Souveränität.
Kapitel X XI Von den drei Arten des Gemein wesens 216 1. Wenn ich im vorigen Kapitel ganz allgemein über die Regierungsform (instituted policy) gesprochen habe, so komme ich im nunmehrigen Kapitel auf diese im Besonderen, wie jede von ihnen eingerichtet ist, zu sprechen. Der Zeit nach ist die Demokratie die erste von diesen drei Arten, und das ist notwendigerweise so, denn eine Aristokratie und eine Monarchie bedürfen der Ernennung von Personen, auf die man sich geeinigt hat, einer Einigung, die innerhalb einer großen Menge aus der Zustimmung des größten Teils davon bestehen muss; 217 und wo die Stimmen der Mehrheit die Stimmen der Übrigen umfassen, da handelt es sich tatsächlich um Demokratie.
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2. Bei der Schaff ung einer Demokratie reden wir nicht vom Eingehen einer Verpflichtung zwischen dem Souverän und irgendeinem Untergebenen. Denn während sich die Demokratie bildet, gibt es keinen Souverän, mit dem ein Vertrag zu schließen wäre. Man kann sich doch nicht vorstellen, dass die Menge mit sich selbst, mit irgendeinem einzelnen Menschen oder mit einer bestimmten Anzahl von Menschen, die zu ihr gehören, kontrahiert, um sich selbst zum Souverän zu machen; ebenso wenig, dass sich die Menge, als eine Gesamtheit betrachtet, etwas geben kann, was sie nicht schon zuvor gehabt hätte. Erkennt man, dass die demokratische Souveränität nicht durch das Eingehen einer Verpflichtung auf jemanden übertragen wird (was die Errichtung einer Verbindung und von Herrschaft schon voraussetzt), dann bleibt lediglich, dass sie durch das Eingehen einzelner Verpfl ichtungen mit jedem Einzelnen übertragen wird. Das heißt, jeder Einzelne geht unter Bedachtnahme auf den Nutzen für seinen eigenen Frieden und für seine Verteidigung gegenüber jedem Einzelnen die Verpflichtung ein, das einzuhalten und zu befolgen, was auch immer die Mehrheit von allen oder die Majorität derjenigen Anzahl von ihnen, die sich an einem bestimmten Ort zu versammeln beliebt, entscheiden oder befehlen sollte. Das ist es, was eine Demokratie entstehen lässt, in der die souveräne Versammlung von den Griechen als Demus (das ist das Volk) bezeichnet wurde, woraus sich Demokratie ableitet. Wo also jeder Mann, so er will, zum höchsten und unabhängigen Gericht kommen und dort seine Stimme abgeben kann, dort wird das Volk als Souverän bezeichnet. 3. Aus dem eben Gesagten kann ohne weiteres die Schlussfolgerung gezogen werden, dass vom Betroffenen nicht als Rechtsverletzung bezeichnet werden sollte, was auch immer das Volk diesem einzelnen Mitglied oder Untertan des Gemeinwesens zufügt. Erstens ist nämlich eine Rechtsverletzung (der Definition in Kap. XVI, 2 zufolge) der Bruch einer eingegangenen Verpflichtung; aber die Verpfl ichtungen, die eingegangen wurden, sind
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nicht (wie im vorigen Abschnitt gesagt wurde) zwischen dem Volk und irgendeinem Privatmenschen abgeschlossen worden, und folglich kann es ihm gegenüber auch keine Rechtsverletzung begehen. Zweitens, wie ungerecht auch immer die Handlung sein mag, die dieser Souverän demus setzt, sie geschieht durch den Willen jedes einzelnen ihm untertänigen Menschen, die deshalb Schuld daran haben. Wenn sie es als Rechtsverletzung bezeichnen, dann beschuldigen sie sich deshalb selbst. Und es ist gegen die Vernunft eben dieses Menschen, beides zu tun und sich darüber zu beschweren, enthält dies doch den Widerspruch, dass er zuerst die Maßnahmen des Volks im Allgemeinen ratifizierte, und einige von ihnen im Besonderen nicht gestattet. Ganz richtig wird deshalb gesagt: volenti non fit injuria [dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht].218 Freilich ändert das nichts daran, dass verschiedene von Volk begangene Taten als Verstoß gegen die natürlichen Gesetze in den Augen Gottes ungerecht sein können.219 4. Kommt es dazu, dass das Volk durch Stimmenmehrheit irgendetwas dem göttlichen oder natürlichen Recht zuwider verfügen oder befehlen sollte, dann ist die Ungerechtigkeit dieser Verfügung doch nicht die Ungerechtigkeit eines jeden einzelnen Menschen, sondern nur die Ungerechtigkeit derjenigen, durch deren Stimmverhalten die Verfügung oder der Befehl erlassen wurde, obwohl die Verfügung und der Befehl der Akt jedes Menschen ist, nicht nur der in der Versammlung Anwesenden, sondern auch der Abwesenden. Denn da ein politischer Körper ein fi ngierter Körper ist, sind es seine Fähigkeiten und sein Wille ebenso. Um aber einen einzelnen Menschen als ungerecht hinzustellen, der doch aus Fleisch und Blut besteht, bedarf es auch eines natürlichen und wirklichen Willens. 5. In allen Demokratien wird die Souveränität immer von einem oder von einigen wenigen Einzelnen ausgeübt, wiewohl doch das Souveränitätsrecht der Versammlung zukommt, die gewissermaßen der Gesamtkörper ist. Denn in so großen Versammlungen, wie sie sein müssen, damit ein jeder Mensch nach Belieben da-
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ran teilnehmen kann, gibt es kein anderes Mittel, sich zu beraten und Vorschläge zu machen, als durch lange und geordnete Reden, durch die jedem Mitglied mehr oder weniger Hoff nung gegeben wird, die Versammlung für seine Zwecke einzunehmen und zu beeinflussen. In einer Menge von Sprechern, wo immer entweder einer allein hervorstechend ist oder einige wenige gleichwertig sind, aber den Rest überragen, beeinflussen immer dieser eine oder wenige das Ganze; insofern ist die Demokratie im Ergebnis nichts anderes als eine Aristokratie von Rednern, manchmal unterbrochen von der zeitweiligen Monarchie eines Redners.220 6. Sieht man also, dass die Demokratie ihrer Einrichtung nach der Beginn von Aristokratie und Monarchie ist, dann haben wir nächstens zu überlegen, wie sich die Aristokratie aus ihr ableitet. Wenn einzelne Mitglieder des Gemeinwesens, müde geworden, an der Volksversammlung teilzunehmen, weil sie weit weg wohnen, sich um ihre privaten Geschäfte kümmern müssen oder, weil sie unzufrieden mit der Regierung des Volkes sind, sich versammeln, um eine Aristokratie zu schaffen, so ist dazu nichts weiter erforderlich, als der Reihe nach zunächst die Namen derjenigen zu benennen, aus denen sie bestehen soll, ihrer Wahl zuzustimmen und die Mehrheit der Stimmen, um diese Macht, die zuvor dem Volk zukam, an diese Anzahl benannter und ausgewählter Männer zu übertragen. 7. Und diese Art und Weise der Errichtung einer Aristokratie macht es offensichtlich, dass die Wenigen oder Optimaten 221 mit keinem der einzelnen Mitglieder des Gemeinwesens eine Verpfl ichtung eingegangen sind, aus der heraus sie der Souverän wären, und folglich können sie auch nicht irgendeinem Privatmann etwas antun, was man Rechtsverletzung nennen könnte, wie schlimm, entsprechend dem, was zuvor im 3. Abschnitt gesagt wurde, ihre Handlung auch immer in den Augen Gottes sein mag. Überdies ist es unmöglich, dass das Volk als politischer Körper der Aristokratie oder den Optimaten gegenüber, an die es seine Souveränität zu übertragen gedenkt, eine Verpfl ichtung
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eingehen sollte. Denn kaum ist die Aristokratie errichtet, ist die Demokratie zerschlagen und die unter ihr eingegangenen Verpflichtungen sind aufgehoben. 8. In allen Aristokratien hängt der Zugang derer, die von Zeit zu Zeit im regierenden Rat ihre Stimme abzugeben haben, vom Willen und von der Entscheidung der vorhandenen Optimaten ab; denn diese haben (wie im 11. Abschnitt des vorigen Kapitels angeführt) als Souverän das Ernennungsrecht für alle Behörden, Minister und Staatsberater und was auch immer und können daher wählen, sie entweder durch Wahl zu bestellen, erblich folgen zu lassen oder nach ihrem Gutdünken einzusetzen. 9. In derselben Weise wie bei der Errichtung einer Aristokratie, ebenso demokratisch, geht die Einsetzung eines politischen Alleinherrschers vonstatten; durch Beschlussfassung des souveränen Volkes, um die Souveränität auf einen namhaft gemachten und durch die Mehrheit der Stimmen bestätigten Menschen zu übertragen. Ist diese Herrschaftsgewalt wirklich und in der Tat übertragen worden, dann ist die absolute Monarchie die Regierungsform dieses Gemeinwesens. In ihr steht es dem Monarchen frei, sowohl über seine Nachfolge als auch über die Innehabung zu verfügen, und sie ist deshalb kein Wahlkönigtum. Denn angenommen, es sei ein Beschluss gefasst worden, dass solch einem Einzigen die Herrschaft für die Dauer seines Lebens zukommen soll und dass man anschließend einen Neuen erwählen will, dann ist in diesem Fall die Macht des Volkes entweder aufgelöst oder auch nicht; ist sie aufgelöst, dann ist nach dem Tod des Erwählten kein Mensch dazu verpfl ichtet, den Beschlüssen derer zu folgen, die als Privatleute zusammenströmen werden, um eine neue Wahl zu veranstalten. Ist folglich dann ein Mann zur Stelle, der infolge der Begünstigung durch die Regierung des Verstorbenen genug Stärke hat, die Menge zu befrieden und unter Gehorsam zu halten, so kann er dies rechtmäßig tun oder ist doch durch das natürliche Recht dazu angehalten, dies zu tun. Wenn diese Macht des Volkes bei der Kür ihres Königs auf Lebenszeit nicht aufge-
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löst wurde, dann besteht die Souveränität des Volkes weiter und der König ist nur ein Minister desselben, aber so, dass er die gesamte Souveränität in die Ausführung legt, ein großer Minister, aber nicht anders während seiner Zeit, als es ein Diktator in Rom war. Beim Tod dessen, der gewählt worden ist, haben diejenigen, die sich zu einer neuen Wahl versammeln, in diesem Fall dafür keine neue, sondern ihre alte Autorität. Denn sie waren während der ganzen Zeit der Souverän, wie dies in den Akten jener Wahlkönige zum Ausdruck kommt, die vom Volk bewilligt wurden, sodass ihre Kinder ihnen nachfolgen können. Denn es muss verstanden werden, dass, wenn ein Mensch irgendetwas durch die Autorität des Volkes erhalten hat, er es nicht von seinem Volk als seinem Untertan, sondern von Volk als seinem Souverän bekommen hat. Und ferner, obgleich das Volk bei der Wahl des Königs auf Lebenszeit diesem die Ausübung ihrer Herrschaftsgewalt für diese Zeit gewährt, so können sie diese doch vor der Zeit widerrufen, wenn sie dafür einen Grund sehen. Wie ein Fürst, der ein Amt auf Lebenszeit verliehen hat, dieses nichtsdestotrotz beim Verdacht auf Amtsmissbrauch nach seinem Belieben entziehen kann, insofern als Ämter, die des Einsatzes und der Sorgfalt bedürfen, als onora [Bürden] aufzufassen sind, die von dem, der sie vergeben hat, denjenigen aufgelastet werden, die sie innehaben; ihre Entlassung daraus ist daher keine Rechtsverletzung, sondern eine Gunst. Dennoch ist der Rückbehalt ihrer Souveränität ohne jede Wirkung, wenn das Volk bei der Schaff ung eines Wahlkönigs zwar die Absicht hat, seine Souveränität zu bewahren, es sich aber nicht die Macht zurückbehält, sich zu sicher bekannten und bestimmten Zeiten und Orten zu versammeln, da niemand verpflichtet ist, die Anordnungen und Beschlüsse derjenigen einzuhalten, die sich ohne souveräne Autorität versammeln. 10. Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass Wahlkönige, die ihre Herrschaft für eine bestimmte Zeit ausüben, die durch ihre Lebenszeit begrenzt ist, entweder Untertanen und nicht souverän sind, und zwar dann, wenn das Volk sich bei ihrer Kür das Recht
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vorbehält, sich zu bekannt gegebenen bestimmten Zeiten und Orten zu versammeln, oder ansonsten souveräne Herrscher sind, die nach Belieben über ihre Nachfolge befinden; das ist dann der Fall, wenn das Volk bei ihrer Wahl weder Zeit noch Ort seines Zusammentreffens bestimmt oder es dem gewählten König überlassen hat, sie dann zu versammeln und auch aufzulösen, wie er selbst es für gut hält. Es gibt noch eine andere Zeitbegrenzung für den, der gewählt werden soll, um die herrschende Gewalt auszuüben (wiewohl ich nicht weiß, ob diese Art irgendwo Anwendung findet, gleichwohl ist sie doch denkbar und wurde als ein Mittel gegen die Härte der souveränen Gewalt empfohlen), und sie besteht darin, dass das Volk seine Souveränität unter einer bestimmten Bedingung überträgt. So zum Beispiel: solange er diese und jene Gesetze einhält, die es ihm vorschreibt. Und hier, wie zuvor bei gewählten Königen, muss die Frage gestellt werden, ob es sich bei der Kür eines solchen Herrschers das Recht vorbehalten hat, sich an bestimmten und bekannten Zeiten und Orten zu versammeln, oder nicht; wenn nicht, dann ist die Souveränität des Volkes aufgelöst und es hat weder die Macht, darüber zu urteilen, ob er die Bedingungen, die es ihm auferlegt hat, gebrochen hat, noch hat es die Macht, über Streitkräfte zu befehlen, um den abzusetzen, den sie unter dieser Bedingung eingesetzt haben, sondern ist im Kriegszustand untereinander, wie das Volk es war, ehe es sich eine Demokratie schuf; und daraus folgt: Wenn der Gewählte durch den Vorteil, den er durch die Innehabung der öffentlichen Mittel hat, in der Lage ist, das Volk zu Einheit und Gehorsam zu zwingen, dann hat er dazu nicht nur das natürliche Recht als Rechtfertigung für sich, sondern er ist auch durch das natürliche Gesetz dazu verpflichtet.222 Wenn das Volk sich aber, als es ihn wählte, das Versammlungsrecht vorbehalten hat und gewisse Zeiten und Orte in dieser Absicht festsetzte, dann bleibt es der Souverän und kann seinen unter Bedingung eingesetzten König nach Belieben zur Rechenschaft ziehen und ihn entmachten, wenn es zu dem Ergebnis kommt, dass er es, sei es durch den Bruch der ihm auf-
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erlegten Bedingung oder auf andere Weise, verdiene. Denn die souveräne Gewalt kann durch keine Verpflichtung mit einem Untertan daran gebunden sein, ihn in dem Amt zu belassen, das er als eine Bürde nicht speziell für sein Wohl, sondern für das Wohl des souveränen Volkes auf dessen Befehl hin übernommen hat. 11. Die Auseinandersetzungen über das Recht des Volkes resultieren aus der Mehrdeutigkeit des Wortes. Denn das Wort »Volk« hat eine doppelte Bedeutung. In einem Sinn kennzeichnet es nur eine Anzahl von Menschen, die sich durch Ort oder Gegend unterscheiden, wie etwa das Volk von England oder das Volk von Frankreich. Das bedeutet nicht mehr als die Menge derjenigen einzelnen Personen, die diese Gebiete bewohnen, ohne dass hier ein Bezug hergestellt würde zu irgendwelchen Verträgen oder Vereinbarungen unter ihnen, durch die irgendeine von ihnen gegenüber den Übrigen verpfl ichtet wäre. In einem anderen Sinn bezeichnet es eine bürgerliche Person, das heißt entweder eine Person oder eine Versammlung, deren Wille den Willen jedes Einzelnen umfasst. So ist beispielsweise in diesem letzteren Sinn das Unterhaus des Parlaments die Gesamtheit der Gemeinen (commons), solange sie dort mit Entscheidungsgewalt und zu Recht sitzen. Sind sie aber aufgelöst, sind sie, auch wenn sie dort bleiben, nicht mehr die Gemeinen, sondern nur ein Gehäuf oder eine Menge herumsitzender Einzelner, wie gut auch immer sie sich einigen oder in ihren Meinungen untereinander übereinstimmen; woraufhin diejenigen, die nicht zwischen diesen beiden Bedeutungen unterscheiden, regelmäßig einer aufgelösten Menge solche Rechte zuschreiben, wie sie nur dem Volk zukommen, das fi ktiv als Körper des Gemeinwesens oder der Herrschaft in sich zusammengeschlossen ist. Und wenn in irgendeiner Nation eine große Anzahl von ihnen selbstmächtig zusammenströmt, geben sie sich regelmäßig den Namen der ganzen Nation.223 In diesem Sinne sagt man, das Volk lehnt sich auf oder das Volk fordert, wenn es nicht mehr ist als eine aufgelöste Menge. Und wenn man auch sagen kann, dass Einzelne in der Menge etwas fordern oder
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ein Recht auf irgendetwas haben, so kann man doch der Menge oder dem Haufen nicht nachsagen, er verlange etwas oder habe ein Recht auf irgendetwas. Denn wo jeder Mensch sein besonderes Recht hat, da bleibt für die Menge nichts übrig, wozu sie ein Recht hätte. Und wenn die Einzelnen sagen: Dies ist meins, dies ist deins und dies ist seins und alles unter sich aufgeteilt haben, dann gibt es nichts, von dem die Menge sagen könnte: Dies ist meins. Sie sind auch nicht ein Körper, wie sie es sein müssten, der irgendetwas unter dem Namen von mein und sein verlangt; und wenn sie unser sagen, dann kann das nur so verstanden werden, dass nicht die Menge etwas beansprucht, sondern jeder Mensch etwas Verschiedenes prätendiert. Auf der anderen Seite, wo die Menge in einem politischen Körper vereint und sie dadurch ein Volk in der anderen Bedeutung des Wortes ist und ihre Willen sich virtuell im Souverän verkörpern, da enden die Rechte und Forderungen der Einzelnen, und derjenige oder diejenigen, der oder die die souveräne Gewalt innehat oder innehaben, fordert und nimmt für alle und jeden unter seinem Namen, was sie zuvor im Plural ihres nannten. 12. Wir haben gesehen, wie die einzelnen Menschen durch Übertragung ihrer Rechte in die Untertänigkeit geraten; daraus folgend haben wir zu überlegen, wie solch eine Untertänigkeit aufgehoben werden kann. Erstens, wenn derjenige oder diejenigen, denen die souveräne Macht zukommt, sich aus freien Stücken von der Untertänigkeit befreien, dann kann kein Zweifel darüber bestehen, dass jedermann wieder frei ist, zu gehorchen oder nicht zu gehorchen; ähnlich, wenn er oder sie einen oder mehrere aus ihrer Untertänigkeit befreien, den Übrigen gegenüber aber die Herrschaft behalten; auch dann ist jedermann, der davon ausgenommen wurde, entbunden. Denn der oder die, denen gegenüber irgendeiner verpflichtet ist, hat oder haben die Macht, ihn zu befreien. 13. Und hier muss man verstehen: Wenn derjenige oder diejenigen, denen die herrschende Gewalt zukommt, einem Untertanen
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eine solche Ausnahme oder ein Sonderrecht geben, wie es mit der Herrschaftsgewalt untrennbar verbunden ist, und sie dennoch unmittelbar die souveräne Gewalt behalten, weil sie nicht wissen, welche Folgen das von ihnen eingeräumte Sonderrecht zeitigt, so sind die Person oder die Personen, die ausgenommen oder bevorzugt wurden, damit nicht befreit. Denn bei widersprechenden Kennzeichnungen des Willens (Kap. XIII, 9) ist dasjenige als Willenserklärung zu verstehen, was unmittelbar bezeichnet wurde, noch vor dem, was daraus als Folgerung gezogen wird. 14. Auch das unbefristete Exil führt zur Entlassung aus der Untertänigkeit, insofern derjenige, den der Herrscher vertrieben hat, sich außerhalb von dessen Schutz befi ndet und er als Mittel für sein Weiterleben auf sich selbst angewiesen ist. Nun kann jeder, der keine andere Verteidigung hat, sich rechtmäßig selbst verteidigen, andernfalls gäbe es keine Notwendigkeit, dass irgendwer in freiwillige Untertänigkeit eintreten sollte, wie sie es in Gemeinwesen tun. 15. Von seiner Pflicht als Untertan wird in ähnlicher Weise ein Mensch auch durch Eroberung entbunden. Geschieht es nämlich, dass die Macht eines Gemeinwesens zu Fall gebracht wird und so jeder Einzelne unter dem Schwert des Feindes liegt und sich selbst gefangen gibt, so ist er dadurch gebunden, dem zu dienen, der ihn gefangen nimmt, und folglich aus seiner Verbindlichkeit gegenüber dem früheren entlassen. Denn niemand kann zwei Herren dienen. 16. Letztendlich entbindet die Unkenntnis der Nachfolge vom Gehorsam; denn niemanden muss sich zu Gehorsam verstehen, wenn er nicht weiß, wem gegenüber.
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K apitel XXII Über die Macht der Herr en 224 1. Ich komme jetzt, nachdem ich mich in den vorigen beiden Kapiteln der Natur eines durch die Billigung vieler Menschen eingerichteten Gemeinwesens gewidmet habe, auf die Herrschaft oder einen durch Erwerb begründeten politischen Körper zu sprechen, den man üblicherweise patrimoniales Königreich nennt. Bevor ich aber darauf eingehe, ist es nötig, bekannt zu machen, unter welchem Titel ein Mensch Recht, das heißt Eigentum oder Herrschaft über die Person eines anderen, erlangen kann. Denn wenn ein Mensch Herrschaft über einen anderen hat, dann kommt das einem kleinen Königreich gleich; und ein König durch Erwerb zu sein, ist nichts anderes, als ein Recht oder die Herrschaft über viele erworben zu haben. 2. Stellen wir uns deshalb die Menschen wiederum im natürlichen Zustand vor, ohne dass sie Verpflichtungen eingegangen oder einander gegenseitig untertänig wären, so als ob sie alle zusammen gerade eben als Männer und Frauen geschaffen worden wären, dann gibt es nur drei Titel, unter denen ein Mensch das Recht und die Herrschaft über einen anderen haben kann, wovon zwei sofort Platz greifen können, und diese sind das freiwillige Angebot, sich zu unterwerfen, und die Kapitulation infolge Zwangs; der dritte steht unter der Voraussetzung, dass unter ihnen Kinder in die Welt gesetzt werden. Hinsichtlich des ersten von diesen drei Titeln wurde darüber schon in den zwei letzten Kapiteln gehandelt; denn daher kommt in einem eingerichteten Gemeinwesen das Recht der Herrscher225 über ihre Untertanen. In Rücksicht auf den zweiten Titel (der zustande kommt, wenn sich ein Mensch aus Furcht vor dem Tod einem Angreifer unterwirft) entsteht dadurch ein Herrschaftsrecht. Denn wenn jedermann (so wie es in diesem Fall geschieht) ein Recht auf alles hat, dann ist nichts weiter nötig, um das erwähnte Recht wirksam zu machen, als das Eingehen einer Verpflichtung desjenigen, der
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überwunden wurde, demjenigen keinen Widerstand entgegenzusetzen, der ihn überwunden hat. Und daraus folgt, dass der Sieger ein Recht auf absolute Herrschaft über den Besiegten hat. Dadurch wird sofort ein kleiner politischer Körper geschaffen, der aus zwei Personen besteht, wovon die eine als Souverän HERR (MASTER) oder Gebieter (lord), der andere als Untertan DIENER (SERVANT)226 bezeichnet wird. Und wenn ein Mensch derart die Herrschaft über eine gewisse Anzahl von Dienern erworben hat, dass diese von ihren Nachbarn nicht mit Sicherheit überfallen werden können, dann ist dieser politische Körper ein despotisches Königreich. 3. Und wir müssen verstehen, dass dann, wenn ein Diener im Krieg gefangen genommen wird und in natürliche Fesseln, etwa in Ketten und dergleichen, gelegt oder ins Gefängnis gesteckt wird, der Diener gegenüber seinem Herrn keine Verpfl ichtung eingegangen ist; denn diese natürlichen Fesseln benötigen keine Verfestigung durch die verbalen Fesseln einer Verpfl ichtungserklärung und zeigen, dass dem Diener nicht getraut wird. Das Eingehen einer Verpfl ichtung aber (wie in Kap. XV, 9 gezeigt) setzt Vertrauen voraus. Deshalb also verbleibt beim Knecht, der in Fesseln gelegt oder ins Gefängnis gesteckt wird, ein Recht, sich selbst mit welchen Mitteln auch immer zu befreien, wenn er kann. Diese Art von Diener wird für gewöhnlich und ohne Leidenschaft SKLAVE (SLAVE) genannt. Die Römer hatten keinen solch speziellen Namen dafür, sondern begriffen alle unter dem Namen servus, wovon sie diejenigen, die sie liebten und denen sie trauen durften, frei umhergehen ließen und diesen sowohl in ihrer unmittelbaren Nähe als auch bei ihren Geschäften im Ausland Ämter einräumten; die übrigen wurden in Ketten gehalten oder ansonsten durch natürliche Hindernisse in ihrem Widerstand eingeschränkt. Und so wie es bei den Römern war, so war es auch bei anderen Völkern. Die erstere Art hatte keine andere Fessel als eine unterstellte Verpflichtung, ohne die der Herr keine Veranlassung hätte, ihnen zu trauen; letztere sind ohne jede Verpfl ichtung
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und nicht anders zu Gehorsam verpflichtet, als durch Ketten oder andere ähnlich gewaltsame Verwahrung. 4. Von einem Herrn wird also angenommen, dass er nicht weniger Recht über diejenigen hat, deren Körper er in Freiheit belässt, als über diejenigen, die er in Fesseln und in Gefangenschaft hält, sodass er absolute Herrschaft über beide hat. Und über seinen Diener lässt sich also sagen, dass er, so wie der Herr das über irgendeine andere Sache sagen kann, seiner ist. Und was auch immer der Diener hatte und seines nennen konnte, gehört nun dem Herrn; denn wer über die Person verfügt, verfügt auch über alles, worüber diese Person verfügen kann; insofern nämlich, als es zwar bei Erlaubtheit durch ihren Herrn und zu seinem Nutzen ein gesondertes meum [Mein] und tuum [Dein] unter den Dienern gibt, aber für ein meum und tuum im Verhältnis zwischen ihnen und ihrem Herrn selbst keinen Platz gibt; diesem haben sie nicht zu widersprechen, sondern allen seinen Befehlen wie dem Gesetz zu gehorchen. 5. Sieht man, dass sowohl der Diener und alles, was ihm zugeordnet ist, das Eigentum des Herrn ist und dass jeder Mensch darüber verfügen und dasselbe nach seinem Belieben übertragen kann, so kann also der Herr seine Herrschaft über sie auch veräußern oder diese testamentarisch an wen er will vermachen. 6. Geschieht es, dass der Herr selbst durch Gefangennahme oder durch freiwillige Untertänigkeit der Diener eines anderen wird, dann ist der andere der höchste Herr; und die Diener dessen, der Diener wird, sind nicht weiter verpfl ichtet, als es ihr Oberherr für gut befinden wird, insofern derjenige, der über den untergeordneten Herrn verfügt, über alles verfügt, was dieser hat, und folglich auch über seine Diener. Die Beschränkung der absoluten Macht der Herren rührt also nicht vom natürlichen Recht her, sondern vom politischen Recht dessen, der ihr oberster Herr oder Souverän ist. 7. Unmittelbare Diener des obersten Herrn werden aus ihrer Dienerschaft oder Untertänigkeit auf dieselbe Weise entlas-
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sen wie Untertanen von ihrer Untertanenpfl icht in einem eingerichteten Gemeinwesen. Zunächst durch Freisetzung: Denn wer gefangen nimmt, was durch Annahme dessen getan wird, was der Gefangene ihm überträgt, der setzt durch Rückübertragung dessen wieder in Freiheit. Und diese Art der Freisetzung wird FREILASSUNG (MANUMISSION) genannt. Zweitens durch Exil; denn dieses ist nichts anderes als eine Freilassung, die dem Diener gewährt wird, freilich nicht als Wohltat, sondern als Bestrafung. Drittens durch neue Gefangenschaft, wenn der Diener alle Anstrengungen unternommen hat, um sich zu verteidigen, dadurch seine Verpfl ichtung gegenüber seinen früheren Herrn erfüllt hat und dann, um sein Leben zu retten, eine neue Verpflichtung mit dem Angreifer eingeht und nunmehr verpflichtet ist, sein Bestes zu tun, um diese in ähnlicher Weise einzuhalten. Viertens entpfl ichtet ihn die Unkenntnis darüber, wer der Nachfolger seines verstorbenen Herrn ist, von seiner Gehorsamspflicht; denn keine Verpfl ichtung währt länger, als ein Mensch weiß, wem gegenüber er sie zu erfüllen hat. Und schlussendlich wird der Diener, dem man nicht länger traut, sondern der in Ketten gelegt und in Gewahrsam gesetzt wird, dadurch seiner Verpflichtung in foro interno [im Gewissen] ledig, sodass er, wenn er sich befreien kann, rechtmäßigerweise seiner Wege gehen kann.227 8. Untergeordnete Diener aber sind, wenn sie von ihrem unmittelbaren Herrn freigelassen wurden, damit nicht auch schon aus der Untertänigkeit gegenüber ihrem Oberherrn entlassen. Der unmittelbare Herr hat doch kein Eigentum an ihnen, da er zuvor sein Eigentum an einen anderen übertragen hat, und zwar an seinen eigenen und höchsten Herrn. Auch wenn der Oberherr seinen unmittelbaren Diener freilassen sollte, so werden doch dadurch dessen Diener von ihrer Verpflichtung gegenüber demjenigen, der damit freigelassen wurde, nicht befreit. Denn durch diese Freilassung erlangt er wieder die absolute Herrschaft, die er zuvor über sie hatte. Nach einer Freilassung nämlich (das ist die
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Entbindung aus einer Verpflichtung) steht das Recht, wie es vor Eingang in die Verpfl ichtung stand. 9. Das Recht der Eroberung macht nicht nur einen Menschen zum Herrn über einen anderen, sondern es macht ihn auch zum Herrn über die unvernünft igen Geschöpfe. Denn wenn ein Mensch im natürlichen Zustand in Feindschaft zu den Menschen steht und deshalb einen rechtmäßigen Titel hat, sie zu überwältigen oder zu töten, je nachdem, wie es ihm seine eigene Einschätzung und Entscheidung für seine Sicherheit und seinen Nutzen nahelegen, so kann er dasselbe umso mehr gegenüber den Tieren tun, das heißt, diejenigen seiner eigenen Entscheidung gemäß für seinen Gebrauch retten und schonen, die von Natur aus dazu geeignet sind zu gehorchen und gebraucht zu werden, und alle anderen, soweit sie wild und ihm schädlich sind, wie in einem immerwährenden Krieg töten und vertilgen. Und diese Herrschaft ist daher ein natürliches Recht und kein bestimmtes göttliches Recht. Denn wenn es kein solches Recht vor der Verkündigung von Gottes Willen in der Bibel gegeben hätte, dann könnte kein Mensch, zu dem die Heilige Schrift nicht gekommen ist, ein Recht auf die Nutzung dieser Geschöpfe haben, weder als Nahrung noch für seinen Lebensunterhalt. Und es wäre ein hartes Los für die Menschheit, wenn ein wildes und bissiges Tier mehr Recht hätte, einen Menschen zu töten, als der Mensch ein Tier.
K apitel XXIII Über die Macht der Väter u nd des patriarchalischen Königtums 228 1. Den drei Arten nach, in denen ein Mensch zum Untertan eines anderen werden kann (angeführt im zweiten Abschnitt des letzten Kapitels), und zwar durch freiwilliges Angebot, durch Gefangenschaft und Geburt, wurden die ersten zwei unter der Bezeichnung »Untertan« und »Diener« besprochen. An nächs-
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ter Stelle haben wir die dritte Art der Untertänigkeit unter dem Namen »Kinder« zu bestimmen. Durch welchen Titel erwirbt ein Mensch Eigentum an einem Kind, das aus der gemeinsamen Zeugung zweier (Menschen), einer männlichen und einer weiblichen, stammt? Bedenken wir wiederum, dass die Menschen von allen Verpflichtungen untereinander frei sind und dass (Kap. XVII, 2) jeder Mensch durch natürliches Recht das Recht auf seinen eigenen Körper hat, so sollte das Kind wohl eher das Eigentum der Mutter sein (von deren Körper es bis zur Trennung ein Teil ist) als das des Vaters. Um also das Recht zu verstehen, das ein Mann oder eine Frau auf sein oder ihr Kind haben, sind zwei Dinge zu berücksichtigen: erstens, welchen Titel die Mutter oder irgendwer anderer ursprünglich auf ein Neugeborenes hat; zweitens, in welchem Umfang der Vater oder irgendein anderer Mensch Anspruch auf die Mutter hat. 2. Zum Ersten: Diejenigen, die über diese Sache geschrieben haben, haben die Zeugung zum Herrschaftstitel über Personen gemacht, ebenso wie die Einwilligung der Personen selbst. Und weil die Zeugung beiden einen Titel gibt, und zwar Vater und Mutter, indessen Herrschaft unteilbar ist, schreiben sie die Herrschaft über das Kind ausschließlich dem Vater zu, ob præstantium sexūs [des hervorragenderen Geschlechts wegen], zeigen aber weder, noch kann ich entdecken, durch welche Stimmigkeit, dass die Zeugung auf die Herrschaft rückschließen lässt, noch dass der Vorteil von größerer Stärke, wie sie meistenteils ein Mann mehr hat als eine Frau, grundsätzlich und durchgängig den Vater mit dem Anspruch auf Eigentum am Kind ausstattet und es ihm erlaubt, es der Mutter wegzunehmen. 3. Der Herrschaftstitel über ein Kind resultiert nicht aus der Zeugung, sondern aus seiner Erhaltung. Die Mutter also, in deren Macht es steht, es zu erhalten oder preiszugeben, hat deshalb durch diese Macht im natürlichen Zustand entsprechend dem, was oben (Kap. XIV, 13) gesagt wurde, das Recht dazu. Und sollte es der Mutter angemessen erscheinen, ihr Kind im Stich zu lassen
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oder dem Tod auszusetzen, dann sollte, welch Mann oder Frau auch immer ein derart ausgesetztes Kind finden mag, dasselbe Recht haben, wie es die Mutter zuvor hatte, und zwar aus demselben Grund, nicht aus der Macht der Zeugung, sondern wegen der Erhaltung.229 4. In Hinsicht auf die Herrschaftsansprüche, die ein Mann vermittels des Rechts auf die Mutter über ein Kind hat, lässt sich unterscheiden: Einer besteht durch die absolute Untertänigkeit der Mutter; ein anderer durch das Eingehen irgendeiner besonderen Verpflichtung von ihr, was weniger ist als eine Verpflichtung einer derartigen Untertänigkeit. Durch absolute Untertänigkeit hat der Herr der Mutter das Recht auf ihr Kind, entsprechend Kap. XXII, 6, einerlei, ob er der Vater des Kindes ist oder nicht. Und derart sind die Kinder der Dienerin die Güter des Herrn in perpetuum [auf ewig]. 5. Von den Verpfl ichtungen, die nicht auf die Untertänigkeit zwischen einem Mann und einer Frau hinauslaufen, sind einige auf Zeit und einige fürs Leben; und wenn sie zeitlich beschränkt sind, dann sind sie Verpfl ichtungen zu einer eheähnlichen Gemeinschaft oder auch nur zum Beischlaf. Und in diesem letzteren Fall folgen die Kinder gesonderten Vereinbarungen. Und so erhielten bei Amazonen nach dem Beischlaf mit ihren Nachbarn die Männer nur die männlichen Kinder zugesprochen und die Mütter behielten die weiblichen.230 6. Verpflichtungen zur Gemeinschaft richten sich entweder auf eine Bettgemeinschaft oder auf die gemeinschaft liche Nutzung aller Dinge; wenn es sich nur um eine Bettgemeinschaft handelt, dann wird die Frau GELIEBTE (CONCUBINE) genannt. Und auch hier soll das Kind entweder seins oder ihres sein, wie sie durch entsprechende Vereinbarung übereinkommen; denn obwohl von einer Geliebten meistens angenommen wird, dass sie das Recht über ihre Kinder dem Vater abtritt, so wird dies doch durch das Konkubinat selbst nicht erzwungen. 7. Wenn aber die Verpflichtung zum gemeinschaft lichen Zusam-
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menleben auf die gemeinsame Nutzung aller Dinge gerichtet ist, dann ist es notwendig, dass nur einer von ihnen regiert und über alles entscheidet, was ihnen beiden gemeinsam ist; fehlt es daran (wie zuvor oft mals ausgesprochen), kann eine Gemeinschaft keinen Bestand haben. Und deshalb hat der Mann, dem die Frau meistens das Regieren überlassen hat, auch meistens das alleinige Recht und die Herrschaft über die Kinder. Und der Mann wird HAUSHERR (HUSBAND), und die Frau EHEFRAU (WIFE) genannt. Da aber manchmal die Ehefrau alleine das Regiment führt, kommt ihr auch manchmal die alleinige Herrschaft über die Kinder zu; so wie im Fall einer souveränen Königin besteht kein Grund dafür, dass ihre Heirat ihr die Herrschaft über ihre Kinder nehmen sollte. 8. Ob die Kinder nun vom Vater oder von der Mutter oder von wem auch immer großgezogen und erhalten wurden, immer stehen sie in vollständigster absoluter Untertänigkeit zu dem oder der, der oder die sie aufgezogen oder erhalten hat. Und diese können die Kinder veräußern, das heißt ihre Herrschaft durch Verkauf, durch Freigabe zur Adoption oder zur Dienstbarkeit an andere übertragen; sie können sie nach natürlichem Recht als Geißeln verpfänden, für Aufruhr töten oder für den Frieden opfern, wenn er oder sie seinem oder ihrem Gewissen folgend dies als nötig erachtet.231 9. Die Untertänigkeit derjenigen, die unter sich ein Gemeinwesen einrichten, ist nicht weniger absolut, als es die Untertänigkeit der Diener ist. Und darin sind sie in einem gleichen Zustand, aber die Hoff nung jener ist größer als die Hoff nung dieser. Denn wer sich ungezwungen unterwirft, der nimmt für sich in Anspruch, besser behandelt zu werden als derjenige, der es aufgrund von Zwang tat; freiwillig eingetreten nennt er sich, wiewohl in Untertänigkeit, einen FREIEN (FREEMAN), wodurch der Anschein erweckt wird, dass Freiheit nicht irgendeine Ausnahme von Untertänigkeit und Gehorsam gegenüber der souveränen Gewalt ist, sondern ein Zustand größerer Hoff nung als der derer, die durch Gewalt und Er-
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oberung unterworfen wurden. Und das war der Grund dafür, dass der Name, der die Kinder bezeichnet, in der lateinischen Sprache liberi lautet, was auch Freie bedeutet. Und doch war in Rom zu dieser Zeit nichts so abscheulich der Macht anderer ausgesetzt wie Kinder in den Familien ihrer Väter. Denn es hatte sowohl der Staat ohne Zustimmung ihrer Väter Gewalt über ihr Leben, wie auch der Vater seinen Sohn durch eigene Machtvollkommenheit töten konnte, ohne dass es dazu der Erlaubnis des Staates bedurfte. Freiheit in einem Gemeinwesen ist daher nichts anderes als die Ehre gleicher Gunst, wie sie den anderen Untertanen zuteil wird, der Rest ist Knechtschaft. Ein Freier kann daher eher als ein Diener Ehrenämter erwarten. Das ist aber auch schon alles, was man unter der Freiheit des Untertanen verstehen kann. Denn in jedem anderen Sinne ist Freiheit der Zustand desjenigen, der nicht Untertan ist. 10. Wenn nun ein Vater Kinder und auch Diener hat, dann sind die Kinder (nicht durch das Recht des Kindes, sondern durch die natürliche Hingabe der Eltern) solch Freie. Und das Ganze, das aus Vater oder Mutter oder beiden, aus den Kindern und den Dienern besteht, wird FAMILIE (FAMILY) genannt, in der der Vater oder Herr der Familie ihr Souverän ist; und die Übrigen (beide, Kinder und Diener gleichermaßen) sind Untertanen. Wächst nun diese Familie, indem sie entweder durch Zeugung oder Adoption, durch Vermehrung von Kindern oder durch Zeugung, Eroberung oder freiwillige Unterwerfung von Dienern größer wird und dann so groß und zahlreich ist, dass sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach selbst beschützen kann, dann wird diese Familie PATRIMONIALES KÖNIGREICH (PATRIMONIAL KINGDOM) oder Monarchie durch Aneignung genannt. Darin kommt die Souveränität einem Menschen zu, wie es bei einem Monarchen der Fall ist, der durch eine politische Einrichtung geschaffen wird. Welche Rechte auch immer in dem einen liegen, die hat auch der andere. Und deshalb werde ich nicht mehr gesondert über sie sprechen, sondern von der Monarchie im Allgemeinen.
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11. Nachdem ich gezeigt habe, durch welches Recht die verschiedenen Arten von Gemeinwesen, Demokratie, Aristokratie und Monarchie, errichtet werden, folgt nun zu zeigen, durch welches Recht sie fortgesetzt werden. Das Recht, durch welches sie fortgesetzt werden, wird das Nachfolgerecht (right of succession) der souveränen Macht genannt; darüber ist in Bezug auf die Demokratie nichts zu sagen, weil der Souverän nicht stirbt, solange es lebende Untertanen gibt; und in Hinsicht auf die Aristokratie auch nicht, weil es nicht leichthin der Fall sein dürfte, dass alle Optimaten auf einmal ausfallen,232 und wenn sie es doch täten, dann wäre das Gemeinwesen dadurch fraglos aufgelöst. Es kann also nur in einer Monarchie vorkommen, dass eine Frage betreffend die Nachfolge auftauchten kann. Und zunächst: Insofern ein Monarch, der absoluter Herrscher ist, das Herrschaftsrecht aus eigenem hat, kann er darüber nach seinem Willen verfügen. Wenn er daher durch seinen letzten Willen seinen Nachfolger benennen sollte, dann geht das Recht seinem Willen gemäß über. 12. Auch wenn der Monarch stirbt, ohne dass er irgendeinen Willen betreffend die Nachfolge äußert, so muss dennoch angenommen werden, dass es sein Wille war, dass seine Untertanen, die ihm Kinder und Diener sind, nicht wieder in den Zustand von Anarchie und also in Krieg und Feindseligkeit zurückfallen, denn dies wäre gegen das natürliche Recht, das die Bewahrung des Friedens und dessen Erhaltung gebietet. Es muss daher mit Grund vermutet werden, dass es seine Ansicht war, ihnen Frieden zu vermachen, das heißt ihnen eine zwingende Macht zu hinterlassen, um sie durch diese vor aufrührerischen Aktivitäten untereinander zu bewahren; und dies wohl eher in Form der Monarchie als in irgendeiner anderen Regierungsform, insofern er, indem er diese in eigener Person ausübte, zum Ausdruck brachte, dass er diese billige. 13. Ferner ist zu unterstellen, dass es seine Absicht war, dass seine eigenen Kinder bei der Nachfolge vor anderen bevorzugt werden sollten (wenn nichts anderes ausdrücklich bestimmt ist). Denn
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die Menschen suchen naturgemäß ihre eigene Ehre, und diese besteht nach ihnen in der Ehre ihrer Kinder. 14. Von jedem Monarchen darf wiederum angenommen werden, dass er die Regierung durch seinen Nachfolger fortgesetzt wünscht, solange er kann; und dass Männer im Allgemeinen mit größerem Anteil an Weisheit und Mut, wodurch alle Monarchien vor Auflösung bewahrt werden, versehen sind als die Frauen. Es muss dort, wo es keinen gegensätzlichen ausdrücklichen Willen gibt, vermutet werden, dass er seine männlichen Kinder gegenüber den weiblichen vorzieht. Nicht dass Frauen nicht regieren könnten und nicht zu verschiedenen Zeiten und Orten weise regiert hätten, aber im Allgemeinen sind sie dafür nicht so geeignet wie Männer. 15. Weil die souveräne Gewalt unteilbar ist, kann nicht unterstellt werden, dass er beabsichtigte, dieselbe zu teilen, sondern dass sie zur Gänze auf einen von ihnen übergehen sollte. Dabei wird angenommen, dass es, vom Los der Natur dazu berufen, der Älteste sein sollte, falls er nicht ein anderes Los für diese Entscheidung festgesetzt hat. Überdies, welchen Unterschied an was auch immer für Fähigkeiten es zwischen den Brüdern geben mag, der Vorzug soll auf den Älteren fallen, weil kein Untertan die Autorität hätte, anders darüber zu urteilen. 16. Und in Ermangelung eines Nachfolgers für die Innehabung soll der Bruder als Nachfolger vermutet werden. Denn dem Urteil der Natur zufolge ist der Nächste im Blut in der Liebe der Nächste; und in der Liebe der Nächste zu sein bedeutet der Nächste bei der Beförderung zu sein. 17. Und so wie die Nachfolge beim ersten Monarchen ist, so folgt sie ihm oder ihr, dem oder der die Amtsinhaberschaft zukommt; und folglich sollen die Kinder des Amtsträgers den Vorzug gegenüber den Kindern seines Vaters oder Vorgängers haben.
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K apitel X XIV Die U nan nehmlichkeiten einiger R egieru ngsarten im Vergleich 233 1. Nachdem ich die Natur einer politischen Person und die drei Arten davon, Demokratie, Aristokratie und Monarchie, dargelegt habe, werde ich in diesem Kapitel, sowohl ganz allgemein als auch in Bezug auf die angeführten verschiedenen Arten im Besonderen, die Vor- und Nachteile erläutern, die daraus entstehen. Sieht man erstens, dass ein politischer Körper nur zur Regelung und zur Regierung der einzelnen Menschen errichtet wurde, dann besteht der Nutzen und Schaden daraus im Nutzen und Schaden der Regierten. Der Nutzen ist der, weswegen ein politischer Körper errichtet wurde, und zwar der Friede und die Erhaltung eines jeden einzelnen Menschen, denn einen größeren Nutzen kann es nicht geben, wie zuvor angedeutet wurde (Kap. XIV, 12). Und dieser Nutzen erstreckt sich gleichermaßen sowohl auf den Souverän als auch auf die Untertanen. Denn der oder diejenigen, denen die souveräne Gewalt zukommt, haben die Verteidigung ihrer Personen nur durch die Unterstützung der Untertanen; und jeder Einzelne hat seine Verteidigung durch ihre Vereinigung im Souverän. Was andere Vorteile betrifft, die nicht zu ihrer Sicherheit und Versorgung gehören, sondern zu ihrem komfortablen und angenehmen Leben, wie etwa überflüssiger Reichtum, so gehören diese dem Souverän, wie sie auch beim Untertan sein müssen; und so zum Untertanen, wie sie auch beim Souverän sein müssen. Denn die Reichtümer und der Staatsschatz des Souveräns bestehen in der Herrschaft, die er über die Reichtümer seiner Untertanen hat. Wenn daher der Souverän keine Vorsorge trifft, dass die einzelnen Menschen die Mittel haben, sowohl sich selbst als auch die öffentliche Hand zu erhalten, dann kann es keinen gemeinsamen oder souveränen Staatsschatz geben. Und gäbe es auf der anderen Seite nicht einen gemeinsamen und öffentlichen Staatsschatz, der der souveränen Macht gehört, dann würden die priva-
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ten Reichtümer der Menschen eher dazu dienen, sie in Verwirrtheit und Krieg zu stürzen, als sie zu sichern und zu bewahren. Es ist daher nicht richtig, wenn man die Unterscheidung trifft, dass es eine Regierung zugunsten dessen gibt, der regiert, und eine andere zugunsten derjenigen, die regiert werden, wovon die erstere despotisch (das ist herrschaftlich) sei und die andere die Regierung freier Männer;234 ebenso unrichtig ist die Auffassung derer, die es für keine Stadt 235 halten, wenn sie aus einem Herrn und seinen Dienern besteht. Ebenso gut könnten sie sagen, es sei keine Stadt, wenn sie aus einem Vater und seiner eigenen Nachkommenschaft besteht, wie zahlreich dieselbe auch sein mag. Denn für einen Herrn, der keine Kinder hat, verkörpern alle Diener diejenigen Beziehungen, für die Menschen ihre Kinder lieben, denn sie sind seine Stärke und seine Ehre; und seine Macht über sie ist nicht größer als über seine Kinder. 2. Die Misslichkeit, die im Allgemeinen für den erwächst, der regiert, besteht teilweise in der unentwegten Fürsorge und im Ärger über die Geschäfte anderer Menschen, die seine Untertanen sind, und teilweise in der Gefahr für seine Person. Denn der Kopf ist immer derjenige Teil, in dem nicht nur die Sorge ihren Sitz hat, sondern gegen den auch der Schlag eines Feindes am häufigsten gerichtet ist. Um diese Unbequemlichkeit auszugleichen, umfasst die Herrschaft zusammen mit der Unabdingbarkeit dieser Sorge und Gefahr so viel Ehre, Reichtümer und Mittel, um dadurch das Gemüt auf eine Art zu entzücken, an die keines Privatmannes Wohlstand heranreichen kann. Die Misslichkeiten der Regierung für einen Untertanen sind, wenn man sie angemessen in Betracht zieht, im Allgemeinen überhaupt keine. Aber dem Anschein nach gibt es zwei Dinge, die seinem Gemüt zusetzen können, oder zwei allgemeine Missstände. Der eine besteht im Verlust der Freiheit; der andere in der Ungewissheit über meum [Mein] und tuum [Dein]. Was den ersten betrifft, so besteht er darin, dass ein Untertan seine eigenen Handlungen nicht mehr gemäß seiner eigenen Entscheidung und seinem Urteil entsprechend oder (was
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dasselbe ist) seinem Gewissen folgend so ausrichten kann, wie es ihm die bestehenden Anlässe von Zeit zu Zeit gebieten würden; vielmehr muss er gefesselt werden, um zu tun, was nur dem Willen desjenigen entspricht, den er einstens ein für allemal aufgegeben und in die Willen der Mehrheit einer Versammlung oder in den Willen irgendeines einzelnen Menschen hineingelegt hat. Das aber ist in Wirklichkeit kein Übelstand. Denn dies ist, wie es zuvor gezeigt wurde, das einzige Mittel, durch das wir irgendeine Möglichkeit haben, uns selbst zu erhalten; denn wenn jedermann diese Freiheit gewährt würde, seinem Gewissen zu folgen, 236 dann würden die Menschen unter Berücksichtigung einer solchen Unterschiedlichkeit der Gewissen nicht für eine Stunde in Frieden zusammenleben. Aber es erscheint einem jeden Einzelnen als großes Unbill, von dieser Freiheit ausgesperrt zu sein, weil jeder Einzelne es so ansieht, als ob diese Freiheit nur für ihn und nicht für die Übrigen bestünde. Dadurch nimmt er an, Freiheit komme in der Herrschaft und der Regierung über andere zum Ausdruck, denn wo ein Mensch in Freiheit steht und der Rest gefesselt ist, da kommt diesem einen die Regierung zu. Eine Ehre, die für den völlig Unverständigen unter dem schlichten Namen der Freiheit gefordert wird und von der er denkt, es wäre ein großes Kümmernis und eine Rechtsverletzung, wenn sie ihm abgesprochen wird. In Hinsicht auf den zweiten Missstand, der das meum [Mein] und tuum [Dein] betrifft, ist er eigentlich auch keiner, sondern nur dem Anschein nach einer. Er besteht darin, dass die souveräne Gewalt einem das nimmt, was er, der keinen anderen als aus Gebrauch und Gewohnheit stammenden Privatbesitz kennt, gewohnt war zu genießen. Aber ohne diese herrschende Gewalt gibt es überhaupt keinen individuellen Besitz an irgendeiner Sache, sondern nur Gemeinbesitz, nicht besser, als überhaupt kein Recht zu haben, wie in Kap. XIV, 10 gezeigt wurde. Der Privatbesitz also, der von der souveränen Macht abgeleitet ist, kann nicht gegen diese zum Vorwand gemacht werden, besonders dann nicht, wenn durch sie jeder Untertan seinen Be-
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sitz gegenüber jedem anderen Untertanen hat, den er nicht mehr hat, wenn die Herrschaft aufhört, weil dann alle in den Kriegszustand untereinander zurückkehren. Die Abgaben also, die von der souveränen Autorität auf die Vermögen der Menschen gelegt werden, sind nicht mehr als der Preis des Friedens und der Verteidigung, die der Souverän für sie aufrecht erhält.237 Wenn dem nicht so wäre, könnten auf aller Welt weder Geld noch Truppen für die Kriege oder andere öffentliche Anlässe eingehoben werden; denn weder der König noch die Demokratie, weder die Aristokratie noch die Regierungsform irgendeines Landes könnte das tun, wenn es der Souverän nicht könnte. Denn in all diesen Fällen wird aufgrund der Souveränität eingehoben; ja mehr noch, durch alle drei Regierungsformen hier kann das Land eines Einzelnen einem anderen übertragen werden, ohne Straftat gegenüber demjenigen, von dem das Land genommen wurde und ohne Vortäuschung eines öffentlichen Nutzens, wie es geschehen ist.238 Und dies ohne Rechtsverletzung, weil es durch die souveräne Gewalt getan wurde, denn die Macht, aufgrund der es getan wurde, ist nicht weniger als souverän und kann nicht größer sein. Deshalb ist die Misslichkeit wegen des meum [Mein] und tuum [Dein] keine wirkliche, es sei denn, dass mehr als nötig abverlangt wird.239 Aber es scheint deshalb ein Übelstand zu sein, weil es für die, die entweder das Recht des Souveräns nicht kennen oder nicht wissen, wem dieses Recht gehört, den Anschein einer Rechtsverletzung hat; und eine Rechtsverletzung, wie leicht auch immer die Schädigung sein mag, ist immer bekümmernd, da sie uns unsere Unfähigkeit zu Bewusstsein bringt, uns selbst zu helfen, und sie uns neidisch werden lässt gegenüber der Gewalt, die uns Unrecht tut. 3. Nachdem wir über die Nachteile für den Untertanen gesprochen haben, wie sie durch das Regiertwerden im Allgemeinen entstehen, wollen wir über dasselbe in Hinsicht auf die drei verschiedenen Arten davon sprechen, und zwar über Demokratie, Aristokratie und Monarchie, wovon die beiden ersten im Ergeb-
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nis zusammenfallen. Demokratie ist (wie ich zuvor gezeigt habe) nichts anderes als die Regierung von ein paar Rednern.240 Der Vergleich ist daher zwischen Monarchie und Aristokratie zu ziehen, und ich werde in diesem Vergleich nur die Nachteile betonen, die den Untertanen bedingt durch eine jede dieser Regierungsarten zugefügt werden können; während ich davon absehe, dass die Welt, so wie sie geschaffen wurde, so auch von einem allmächtigen Gott regiert wird und dass die Alten der Monarchie gegenüber allen anderen Regierungsformen den Vorzug gaben, sowohl ihrer Überzeugung nach, weil sie eine monarchische Regierung mitten unter ihren Göttern nachahmten, als auch ihrer Gewohnheit entsprechend, denn während des Großteils der alten Zeiten wurden die Leute auf diese Art regiert; und ich sehe auch davon ab, dass von allem Anfang an nach der Schöpfung ein patriarchalisches und also monarchisches Regime eingerichtet wurde und dass andere Regierungsformen, verursacht durch die aufrührerische Natur der Menschheit, sich aus dessen Auflösung heraus entwickelten und nur noch durch menschlichen Verstand zusammengeklebte Stücke zertrümmerter Monarchien sind.241 4. Zunächst scheint es ein Übel zu sein, dass einem Menschen derart große Macht überlassen wird, sodass es für keinen anderen Menschen und für die Menschen insgesamt nicht rechtmäßig wäre, sich ihr zu widersetzen; und manche halten es eo nomine [unter diesem Namen] für nachteilig, weil er die Macht hat. Aber diese Begründung können wir unter keinen Umständen zugestehen, denn es macht auch die Herrschaft des allmächtigen Gottes zu einem Übel, der doch fraglos mehr Macht über jeden Menschen hat, als sie je einem Monarchen verliehen werden kann. Dieser Übelstand darf also nicht von der Macht selbst abgeleitet werden, sondern von den Neigungen und Leidenschaften, die in jedem regieren, im Monarchen nicht anders als im Untertanen, und durch die der Monarch bewegt werden kann, seine Macht auf üble Weise zu gebrauchen. Und weil eine Aristokratie aus mehreren Männern besteht, so folgt daraus, dass die aus Leiden-
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schaft resultierenden Schwierigkeiten in einer Aristokratie größer sind als bei einem Monarchen, weil doch die Leidenschaften vieler Leute heft iger sind, wenn sie gemeinsam versammelt sind, als die Leidenschaften eines Einzelnen alleine. Es besteht doch kein Zweifel, dass, wenn die Dinge in einer großen Versammlung besprochen werden, jedermann ununterbrochen nur seine Sicht der Dinge umfänglich darlegt und bestrebt ist, was auch immer er für gut hält, besser, und was er für als ein Übel befürchtet, so schlimm wie möglich darzustellen. Bis am Ende sein Ratschlag einen Platz findet, ein Ratschlag freilich, der auch stets unter Bedachtnahme auf seinen eigenen Nutzen oder seine Ehre erfolgt; jedermanns Ziel besteht in irgendetwas Gutem für sich selbst.242 Das kann nun aber nicht gelingen, ohne auf die Leidenschaften der Übrigen einzuwirken. Und solcherart werden die Leidenschaften derjenigen, die für sich genommen gemäßigt sind, insgesamt ungestüm, nicht anders als eine Menge von Kohlen, die doch auseinander gelegt nur schön wärmen, legt man sie aber zusammen, einander einflammen. 5. Eine andere Misslichkeit der Monarchie ist die folgende: Dass der Monarch, abgesehen von den Reichtümern, die zur Verteidigung des Gemeinwesens nötig sind, seinen Untertanen übermäßig viel wegnehmen kann, um seine Kinder, Verwandten und Günstlinge nach Belieben zu bereichern, was nun, obgleich es tatsächlich ein Übelstand wäre, wenn er es täte, in einer Aristokratie das Gleiche wäre, nur größer und wahrscheinlicher. Denn dort gibt es nicht nur einen, sondern viele haben Kinder, Verwandte und Freunde, die es hochzuheben gilt. Und in dieser Hinsicht sind sie wie zwanzig Monarchen zu einem. Wahrscheinlich werden sie, um sich wechselseitig in ihren Plänen zu befördern, alle Übrigen unterdrücken. Nichts anderes geschieht in einer Demokratie, wenn alle übereinstimmen, ansonsten schaffen sie einen noch schlimmeren Übelstand, den Aufruhr. 6. Eine andere Unbequemlichkeit der Monarchie ist die Macht, einzelne von der Vollstreckung der Gerichtsbarkeit auszuneh-
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men.243 Dadurch können die Familie und die Freunde des Monarchen ungestraft Gräueltaten an den Leuten begehen oder sie durch Erpressung unterdrücken. Aber in Aristokratien hat nicht nur einer, sondern es haben viele die Macht, Menschen den Fängen der Justiz zu entziehen, und keinem Menschen ist daran gelegen, dass seine Verwandten oder Freunde entsprechend ihrer Schuldhaft igkeit bestraft würden. Und deshalb verstehen sie sich untereinander ohne weitere Absprache, wie eine stillschweigende Verpflichtung: Hodie mihi, cras tibi [Heute mir, morgen dir]. 7. Ein anderer Übelstand der Monarchie ist die Macht zur Änderung von Gesetzen. Diesbezüglich ist es notwendig, dass es eine solche Macht gibt, die die Gesetze ändern kann, je nachdem wie die Umgangsformen der Menschen wechseln oder wie das Zusammentreffen aller Umstände innerhalb und außerhalb des Gemeinwesens es erfordern. Die Änderung des Rechts ist dann misslich, wenn sie aus dem Wechsel nicht des Anlasses, sondern aus der Geisteshaltung desjenigen oder derjenigen herrührt, durch deren Machtvollkommenheit die Gesetze erlassen werden. Nun ist es aus der Sache selbst genügend offensichtlich, dass die Geisteshaltung eines Mannes in dieser Hinsicht nicht so schwankend ist, wie es die Beschlüsse einer Versammlung sind. Denn nicht nur haben sie alle ihre natürlichen Umschwünge, sondern der Wechsel bei irgendeinem einzelnen von ihnen reicht aus, wenn er nur über Beredtheit und Ansehen verfügt oder es durch Anstiftung und Klüngelei schafft, um heute ein Gesetz zu machen, das ein anderer mit denselben Mitteln morgen schon außer Kraft setzt. 8. Schlussendlich besteht das Schlimmste, was einem Gemeinwesen geschehen kann, in seiner Geneigtheit, sich in einen Bürgerkrieg aufzulösen; und diesem Schicksal sind Monarchien sehr viel weniger unterworfen als irgendwelche anderen Regierungsformen. Denn wo die Vereinigung oder das Band des Gemeinwesens von einem Mann verkörpert wird, da gibt es keine Zerfahrenheit, während in Versammlungen diejenigen, die anderer Ansichten
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sind und unterschiedliche Ratschläge geben, geneigt sind, auseinanderzufallen und die Pläne des Gemeinwesens jeweils einem anderen zuliebe zu durchkreuzen. Und wenn sie nicht die Ehre haben können, ihre eigenen Kunstgriffe gut dastehen zu lassen, dann suchen sie doch die Ehre, die Ratschläge ihrer Gegner herabzuwürdigen. Und aus dieser Auseinandersetzung fallen sie, wenn die gegnerischen Parteiungen sich in etwa als gleich stark erweisen, unmittelbar in den Krieg. Darin lehrt Notwendigkeit dann beiden Seiten, dass ein absoluter Monarch, ein General, sowohl für ihre Verteidigung gegeneinander notwendig ist als auch für den inneren Frieden einer jeden Fraktion. Aber diese Geneigtheit zur Auflösung muss als ein Übelstand nur in jenen Aristokratien verstanden werden, in denen die Staatsangelegenheiten in großen und zahlreichen Versammlungen besprochen werden, wie sie etwa im antiken Athen und in Rom bestanden, und nicht in solchen, die in großen Versammlungen nichts weiter tun, als Magistrate (magistrates) und Berater zu wählen und ansonsten die Führung der Staatsgeschäfte einigen wenigen überlassen, so wie heutzutage die Aristokratie in Venedig. Denn diese sind aus einem derartigen Anlass der Auflösung nicht mehr geneigt als Monarchien, die Staatsräte sind einander ähnlich.
K apitel X XV Dass U ntertanen nicht verpflichtet sind, ihr en privaten Urteilen in R eligionsstr eitigkeiten zu folgen 244 1. Nachdem gezeigt wurde, dass es in allen möglichen Gemeinwesen die Notwendigkeit von Frieden und Regierung erfordert, dass es irgendeine Macht gibt, entweder in einem Menschen oder in einer Versammlung von Menschen, die dann herrschende Gewalt (power sovereign) genannt wird, der gegenüber es für kein Mitglied dieses Gemeinwesens rechtmäßig wäre, nicht zu gehor-
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chen, taucht nun eine Schwierigkeit auf, die es, wenn sie nicht beseitigt werden kann, für jeden Menschen rechtswidrig machen würde, für seinen eigenen Frieden und seine Selbsterhaltung zu sorgen, weil sie es für einen Menschen unerlaubt macht, sich, wie erforderlich, unter den Befehl einer solchen absoluten Herrschaft zu stellen. Die Schwierigkeit besteht darin: Wir haben unter uns das Wort Gottes als Richtschnur für unsere Handlungen. Nun sollen wir uns auch den Menschen unterwerfen und uns selbst zu den Handlungen verpflichten, wie sie von diesen befohlen werden. Sollten nun die Befehle Gottes und des Menschen voneinander abweichen, dann hätten wir eher Gott als dem Menschen zu gehorchen. Und folglich wäre das Eingehen einer Verpflichtung zu generellem Gehorsam gegenüber dem Menschen unrechtmäßig.245 2. Diese Schwierigkeit besteht nicht seit alters her. Unter den Juden gab es kein solches Dilemma, denn für sie war das bürgerliche und das göttliche Recht ein und dasselbe Gesetz Moses’: Ihre Interpretatoren waren die Priester, deren Macht der Macht des Königs untergeordnet war, so wie die Macht Aarons derjenigen von Moses. Es ist auch keine Streitigkeit, von der man unter den Griechen, Römern oder anderen Nichtjuden je Notiz genommen hätte, denn unter diesen waren die bürgerlichen Gesetze die Regeln, durch die nicht nur die Rechtmäßigkeit und Rechtschaffenheit, sondern auch Religion und äußerliche Verehrung Gottes angeordnet und zugelassen waren. Dasjenige Lebewesen hielt die Anbetung Gottes in Ehren, das sich katà tà nómina, entsprechend den bürgerlichen Gesetzen, verhielt. Auch jene Christen, die der weltlichen Herrschaft des Bischofs von Rom unterstehen, sind von dieser Frage unbeschwert, denn sie erlauben ihm (ihrem Souverän) die Bibel auszulegen, die so weit das Gesetz Gottes ist, als er es nach seinem eigenen Urteil für recht hält. Diese Schwierigkeit plagt und verbleibt daher nur unter jenen Christen, denen es erlaubt ist, das für den Sinn der Bibel zu nehmen, was sie selbst daraus machen, entweder durch ihre eigene persönliche
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Auslegung oder durch die Auslegung derer, die dazu von der öffentlichen Autorität nicht berufen wurden. Diejenigen, die ihrer eigenen Auslegung folgen, fordern unentwegt Gewissensfreiheit, und jene, die der Auslegung anderer folgen, welche dazu vom Souverän des Gemeinwesens nicht bestimmt wurden, fordern in Sachen Religion entweder eine Macht über die bürgerliche Gewalt oder zumindest, nicht von ihr abhängig zu sein. 3. Um die Gewissensskrupel betreffend den Gehorsam gegenüber menschlichen Gesetzen bei denen zu beseitigen, die für sich selbst die Worte Gottes in der Heiligen Schrift auslegen, lege ich ihnen zunächst nahe zu bedenken, dass doch kein menschliches Gesetz beabsichtigt, das Gewissen eines Menschen zu nötigen, sondern nur seine Handlung.246 Denn da wir darum wissen, dass kein Mensch (sondern nur Gott allein) das Herz oder das Gewissen eines Menschen kennen kann, bevor es in einer Tat zutage tritt, sei es durch die Zunge oder durch einen anderen Teil seines Körpers, würde ein dafür gemachtes Gesetz keine Wirkung haben, weil kein Mensch ohne Bedachtnahme auf das Wort oder eine andere Handlung fähig wäre zu erkennen, ob ein solches Gesetz eingehalten oder gebrochen würde. Auch die Apostel selbst täuschten hinsichtlich des Glaubens, den sie predigten, keine Herrschaft über die Gewissen der Menschen vor, sondern lediglich Beeinflussung und Unterweisung. Und deshalb sagt der Heilige Paulus 2 Kor. 1, 24, wenn er den Korinthern betreffs ihrer Streitigkeiten schreibt, dass er und die übrigen Apostel keine Herrschaft über ihren Glauben hätten, sondern Unterstützer ihrer Freude seien. 4. Und betreffs der Handlungen der Menschen, die aus ihren Gewissen herrühren, ist deren Lenkung das einzige Mittel zum Frieden; wenn diese gegenüber der Gerechtigkeit nicht bestehen können, dann wäre es in dieser Religion unmöglich, dass Gerechtigkeit vor Gott und der Frieden unter den Menschen zusammen bestehen könnten, die uns doch lehrt, dass Gerechtigkeit und Friede einander küssen sollen, und in der wir so viele Gebote für absoluten Gehorsam gegenüber der menschlichen Autorität
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haben. Matth. 23, 2 und 3 zufolge haben wir dieses Gebot: Die Schriftgelehrten und die Pharisäer haben sich auf den Stuhl Moses’ gesetzt. – Tut und befolgt alles, was sie euch sagen. Und doch waren die Schriftgelehrten und Pharisäer keine Priester, sondern Männer von weltlicher Autorität. Wiederum Lukas 11, 17: Jedes Reich, das in sich gespalten ist, wird veröden; und ist nicht dasjenige Königreich in sich gespalten, in dem die Handlungen von jedermann durch seine persönliche Sicht der Dinge oder sein Gewissen gelenkt werden; und erst recht durch diejenigen Handlungen, die Gelegenheit zum Angriff und zum Bruch des Friedens geben? Weiters Röm. 13, 5: Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen. Titus 3, 1: Erinnere sie daran, sich den Herrschern und Machthabern unterzuordnen. 1 Petrus 2, 13 und 14: Unterwerft euch um des Herrn willen jeder menschlichen Ordnung: dem Kaiser, weil er über allen steht, den Statthaltern, weil sie von ihm entsandt sind, um die zu bestrafen, die Böses tun. Judas 1, 8: Desgleichen sind auch diese Träumer, die das Fleisch beflecken, die Herrschaft aber verachten und die Majestäten beleidigen. Und insofern alle Untertanen in Gemeinwesen im Zustand von Kindern und Dienern sind, ist das, was ihnen befohlen wird, ein Befehl für alle Untertanen. Zu diesen aber sagt Paulus Kolosser 3, 20 und 22: Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem. – Ihr Diener, gehorcht euren irdischen Herren in allem! Und Vers 23: Tut eure Arbeit gern, als wäre sie für den Herrn. Berücksichtigen wir diese Stellen, scheint es mir absonderlich, dass irgendein Mensch in einem christlichen Gemeinwesen irgendeinen Anlass hätte, seine Gehorsamspflicht gegenüber der öffentlichen Autorität mit der Begründung in Abrede zu stellen, dass es besser ist, Gott zu gehorchen als dem Menschen. Denn obgleich der Heilige Petrus und die Apostel dem Hohen Rat der Juden diese Antwort gaben, als er ihnen verbot, Christus zu verkünden, entsteht daraus keine Begründung, dass Christen dasselbe gegen ihre christlichen Statthalter vorbringen sollten, die doch anordnen, Christus zu ver-
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künden. Um diesen scheinbaren Widerspruch zwischen simplem Gehorsam gegenüber Gott und simplem Gehorsam gegenüber dem Menschen auszusöhnen, wollen wir uns in die Lage eines christlichen Untertanen versetzen, einmal unter einem christlichen Souverän, ein anderes Mal unter einem Ungläubigen. 5. Und unter einem christlichen Souverän haben wir zu berücksichtigen, welche seiner Maßnahmen zu befolgen uns durch Gott den Allmächtigen verboten ist und welche nicht. Die Dinge, in denen es uns verboten ist, ihnen zu folgen, sind lediglich diejenigen, die eine Verleugnung desjenigen Glaubens bedeuten, der für unsere Erlösung nötig ist; ansonsten kann es kein Gebot für Ungehorsam geben. Denn warum sollte sich ein Mensch der Gefahr eines weltlichen Todes dadurch aussetzen, dass er seinen Vorgesetzten kränkt, wenn nicht aus Furcht vor dem anschließenden ewigen Tod? Untersucht werden muss daher, welche Aussagen und Artikel es sind, an die wir der Verkündung unseres Heilands oder seiner Apostel zufolge als solche glauben, weil ein Mensch ohne an sie zu glauben nicht gerettet werden kann. Und dann müssen alle anderen Aspekte, die derzeit in Streit stehen und die den Unterschied zwischen Papisten, Lutheranern, Calvinisten, Arminianer etc. ausmachen, so wie es in alten Zeiten Paulinianer, Apollonianer und Kephasianer gab, notwendigerweise solche sein, wegen deren Bekenntnis ein Mensch seinen Vorgesetzten den Gehorsam nicht zu verweigern braucht. Und in Hinsicht auf die Glaubenspunkte, die für die Erlösung notwendig sind, werde ich diese FUNDAMENTAL (FUNDAMENTAL) nennen und jeden anderen Punkt einen ÜBERBAU (SUPERSTRUCTION). 6. Jesus ist der Messias, das heißt, er ist Christus – und unumstritten gibt es keinen weiteren Punkt, an den ein Mensch um seiner Erlösung willen zu glauben hat.247 Und diese Aussage wird auf allerlei Art erläutert, aber immer mit demselben Ergebnis, wie dass er Gottes Gesalbter ist; denn das wird durch das Wort Christi belegt; dass er der wahre und rechtmäßige König von Israel war, der Sohn Davids; der Heiland der Welt, der Erlöser Israels;
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das Heil Gottes; der, welcher in die Welt kommen sollte, der Sohn Gottes und (was ich nebenbei gegen die neue Sekte der Arianer erwähnt haben möchte) der gezeugte Sohn Gottes, Apostelgesch. 3, 13;248 Hebr. 1,5; 5, 5; der eingeborene Sohn Gottes, Joh. 1, 14, 18; Joh. 3, 16, 18; 1. Joh. 4, 9; dass er Gott war, Joh. 1, 1; Joh. 20, 28; dass die Fülle der Gottheit leibhaftig in ihm wohnte. Überdies, der Heilige, der Heilige Gottes, der Vergebende der Sünden; dass er auferstanden ist von den Toten. Dies sind Erklärungen und Teile des allgemeinen Glaubenssatzes, dass Jesus der Christus ist. Dieser Punkt also und all dessen Erklärungen sind fundamental, wie auch alle Punkte, die sich offensichtlich daraus ergeben; wie der Glaube an Gott den Vater Joh. 12, 44: Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat; 1. Joh. 2, 23: Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht; der Glaube an den Heiligen Geist, über den Christus sagt Joh. 14, 26: Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater in meinem Namen senden wird; und Joh. 15, 26: Aber wenn der Tröster kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit; der Glaube an die Heilige Schrift, durch die wir diese Punkte glauben, und der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, ohne den wir nicht glauben können, dass er der Heiland ist. 7. Und so wie dies die für die Erlösung notwendigen fundamentalen Punkte des Glaubens sind, so sind sie auch nur notwendig als eine Sache des Glaubens und die einzig wesentlichen für die Benennung eines Christen, wie aus vielen augenscheinlichen Stellen der Heiligen Schrift hervortritt. Joh. 5, 39: Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab. Nun, insofern hier mit den Schriften das Alte Testament gemeint ist (das Neue war damals noch nicht geschrieben), so war der Glaube an das, was im Alten Testament unseren Heiland betreffend geschrieben war, ausreichend, um das ewige Leben zu erlangen. Im Alten Testament wird aber nichts weiter über Christus verkündet, als dass er der Messias ist, und solche Dinge, wie sie zu den fundamentalen Punkten gehören, die
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davon abhängen; und deshalb sind diese fundamentalen Punkte sowohl für die Erlösung als auch für den Glauben ausreichend. Und Joh. 6, 28 und 29: Da fragten sie ihn: Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu vollbringen? – Jesus antwortete ihnen: Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. Der Punkt also, an den zu glauben ist, ist: Dass Jesus Christus von Gott ausging, und der, der dies glaubt, schafft die Werke Gottes. Joh. 11, 26 und 27: Jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? – Marta antwortete ihm: Ja, Herr. Ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll. Daraus folgt, dass derjenige, der daran glaubt, niemals sterben wird. Joh. 20, 31: Aber diese Dinge sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen. Daraus erhellt, dass dieser fundamentale Punkt alles ist, was als Glaube zu unserer Erlösung erforderlich ist. 1 Joh. 4, 2: Jeder Geist, der bekennt, Jesus Christus sei im Fleisch gekommen, ist aus Gott; 1 Joh. 5, 1: Jeder, der glaubt, dass Jesus der Christus ist, stammt von Gott; und Vers 4:249 Wer sonst besiegt die Welt, außer dem, der glaubt, dass Jesus der Sohn Gottes ist? Und Vers 13: Dies schreibe ich euch, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt; denn ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes. Apostgesch. 8, 36 und 37: Und der Eunuch sprach: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse? – Philippus aber sprach: Glaubst du von ganzem Herzen, so mag’s wohl sein. Er antwortete und sprach: Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist. Dieser Punkt war ausreichend, um einen Mann zur Taufe zuzulassen, das heißt zum Christentum. Und Apostelgesch. 16, 30:250 Der Kerkermeister fiel mit Zittern dem Paulus und Silas zu Füßen und sagte: Ihr Herren, was muss ich tun, um selig zu werden? Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus Christus. Und die Predigt des Heiligen Petrus am Pfingstfest war nichts anderes als eine Erklärung, dass Jesus der Christus ist. Und als sie ihn hörten und fragten: Was sollen wir tun?, sagte er zu ihnen, Apostelgesch.
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2, 38: Tut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden. Röm. 10, 9: Denn so du bekennst Jesum, dass er der Herr sei, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du selig. Und zu diesen Stellen kann ergänzt werden, dass, wo auch immer unser Heiland Christus den Glauben eines Menschen anerkennt, die geglaubte Aussage (wenn sie aus dem Text herauszulesen ist) immer einem der zuvor erwähnten fundamentalen Punkte entspricht oder irgendetwas Gleichwertiges ist; wie etwa der Glaube des Hauptmanns, Matth. 8, 8: Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund, weil er glaubte, er sei allmächtig; oder der Glaube der Frau, die den Blutgang hatte, Matth. 9, 21: Möcht’ ich nur sein Kleid anrühren, so würde ich gesund, im Glauben, dass er der Messias sei; oder der von den Blinden geforderte Glauben, Matth. 9, 28: Glaubt ihr, dass ich euch solches tun kann? Oder der Glaube der kanaanitischen Frau, Matth. 15, 22, dass er der Sohn Davids sei, dasselbe bedeutend. Und so ist es in jeder dieser Stellen (keine ausgenommen), wo unser Heiland den Glauben irgendeines Menschen lobt, die ich, weil es allzu viele sind, um sie hier anzuführen, übergehe und sie der Untersuchung desjenigen anempfehle, der ansonsten nicht befriedigt ist. Und so wie kein anderer Glaube hier erforderlich ist, so gab es hier keine andere Predigt; denn die Propheten des Alten Testaments predigten keine andere; und Johannes der Täufer predigte nur das Herankommen des Himmelreichs, das heißt des Reichs Christi. Dasselbe war der Auft rag der Apostel, Matth. 10, 7: Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe. Und Paulus, der bei den Juden predigte, Apostelgesch. 18, 5, bezeugte den Juden nichts anderes, als dass Jesus der Christus sei. Und die Heiden nahmen von den Christen auf keine andere Weise Notiz als durch diesen Namen, dass sie nämlich glaubten, Jesus sei ein König, und riefen aus, Apostelgesch. 17, 6:251 Diese, die den ganzen Weltkreis erregen, sind auch hergekommen; diese beherbergt Jason. Und diese alle handeln gegen des Kaisers Gebot, sagen, ein anderer sei der König,
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nämlich Jesus. Und das war die Summe der Prophezeiungen, die Summe der Bekenntnisse derer, die glaubten, Menschen sowohl als Teufel. Dies stand auf seinem Kreuz, Jesus von Nazareth, König der Juden; deshalb bekam er eine Krone aus Dornen, ein Zepter aus Schilf und einen Mann, um sein Kreuz zu tragen; das war der Inhalt der Hosiannas;252 und dies der Titel, durch den unser Heiland befehlen konnte, eines anderen Menschen Güter zu nehmen und zu sagen: Der Herr bedarf ihrer; und durch diesen Titel reinigte er den Tempel von dem profanen Markt, der dort abgehalten wurde. Auch glaubten die Apostel selbst irgendwie nicht mehr, als dass Jesus der Messias war, oder verstanden davon besonders viel; denn sie verstanden unter dem Messias bis nach unseres Heilands Auferstehung nicht mehr, als dass er ein weltlicher König wäre. Außerdem ist der Punkt, dass Christus der Messias ist, in spezieller Weise an verschiedenen Stellen mit diesem oder einem gleichwertigen Wort als fundamental hervorgehoben. Auf das Bekenntnis des Petrus, Matth. 16, 16: Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn, antwortet unser Heiland, Vers 18: Auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde. Dieser Punkt ist deshalb das vollständige Fundament der Kirche Christi. Röm. 15, 20 sagt der Heilige Paulus: Ich habe mich sonderlich geflissen, das Evangelium zu predigen, wo Christi Namen nicht bekannt war, um nicht auf fremden Grund zu bauen. 1 Kor. 3, 10253 unterscheidet Paulus, als er die Korinther wegen ihrer Sekten getadelt hat, zwischen fundamentalen Punkten und Überbau, und sagt: Ich habe wie ein umsichtiger Baumeister den Grund gelegt, ein anderer baut darauf. Ein jeglicher aber sehe zu, wie er darauf baue. Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. Kolosser 2, 6:254 Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so wandelt in ihm und seid gewurzelt und erbaut in ihm und fest im Glauben. 8. Nachdem ich gezeigt habe, dass die Aussage »Jesus ist der Christus« der einzige und fundamentale Glaubenspunkt ist, werde ich einige Stellen mehr ausbreiten, um die anderen Punkte
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zu zeigen; obwohl sie wahr sein mögen, so sind sie doch nicht derart notwendig zu glauben, dass nicht auch ein Mensch, der sie nicht glaubt, erlöst werden könnte. Und zuerst, wenn ein Mensch nicht erlöst werden könnte ohne die Zustimmung seines Herzens zur Wahrheit aller Auseinandersetzungen, die derzeit in Religionssachen im Schwange sind, dann vermag ich nicht zu erkennen, wie irgendein lebender Mensch erlöst werden könnte; soviel an Spitzfi ndigkeit und bizarrer Kenntnis es bedarf, um ein so großer Theologe zu sein. Warum sollte man deshalb denken, dass unser Heiland, wenn er Matth. 11, 30 sagt, dass sein Joch sanft ist, einen Gegenstand solcher Schwierigkeit abfordern sollte? Oder wie kleine Kinder als gläubig bezeichnet werden können? Matth. 18, 6255; oder wie der gute Dieb am Kreuz als hinreichend unterrichtet gedacht werden kann? Oder wie der Heilige Paulus sogleich nach seiner Bekehrung ein so vollkommener Christ sein konnte? Und obgleich mehr Gehorsam von dem gefordert werden darf, dem die fundamentalen Punkte ausdrücklich erklärt wurden, als von dem, der diese nur stillschweigend empfangen hat, so ist doch in einem Menschen nicht mehr an Glauben für die Erlösung gefordert als in einem anderen. Denn wenn es wahr ist, dass so du mit deinem Munde bekennst Jesum, dass er der Herr sei, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du selig; so steht es, Röm. 10, 9; und dass wer da glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist aus Gott geboren, so ist der Glaube dieses Punktes für die Erlösung eines jeden Menschen ausreichend, wer auch immer er sein mag, sofern es den Glauben betrifft. Und wir sehen, dass derjenige, der nicht daran glaubt, dass Jesus der Christ ist, nicht erlöst werden kann, was auch immer er sonst glaubt. Daraus folgt, dass in Glaubenssachen für die Erlösung eines Menschen nicht mehr erforderlich ist als für die eines anderen. 9. Unter Christen herrscht wenig Streit über diese fundamentalen Punkte, wiewohl sie ansonsten unter sich selbst verschiedene Sekten bilden.257 Und deshalb betreffen die religiösen Ausein-
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andersetzungen insgesamt völlig nebensächliche Punkte für die Seligkeit; und darin entstanden einige Lehren durch menschliche Ableitungen aus den fundamentalen Punkten. Zum Beispiel solche Lehren, die sich auf die Art und Weise der realen Präsenz beziehen, worin sich Glaubenstheoreme, die die Allmacht und Gottheit Christi betreffen, mit den Lehren von Aristoteles und den Peripatetikern258 über Substanz und Akzidenzien259, Spezies und Hypostasis260 und über die Beharrung und Wanderung der Akzidenzien von Ort zu Ort vermischen; Worte, von denen einige gänzlich ohne Bedeutung und nichts anderes als das Phrasen dreschende Gerede griechischer Sophisten sind. Und diese Lehren werden ausdrücklich verdammt, Kolosser 2, 8, wo Paulus den Kolossern, nachdem er sie ermahnt hat, seid gewurzelt und erbaut in Christus, die weitere Mahnung erteilt: Sehet zu, dass euch niemand beraube durch die Philosophie und lose Verführung nach der Menschen Lehre und nach der Welt Satzungen. Und genauso sind solche Lehren, die aus derartigen Stellen der Schrift, die nicht entsprechend der natürlichen Vernunft der Menschen das Fundament betreffen, herausgehoben worden, wie etwa über die Verkettung der Ursachen und über die Art der göttlichen Prädestination, die dann noch mit Philosophie vermischt werden, 261 als ob dies für Menschen möglich wäre, die noch nicht einmal wissen, in welcher Art und Weise Gott sieht, hört oder spricht, dennoch um die Art und Weise zu wissen, in der Gott etwas beabsichtigt oder prädestiniert. Ein Mensch sollte daher nicht vermittels der Vernunft irgendeinen Punkt prüfen oder eine Folgerung über die Natur Gott des Allmächtigen aus der Schrift ziehen, denn dazu ist die Vernunft nicht befähigt. Und daher hat der Heilige Paulus, Röm. 12, 3, eine gute Richtschnur gegeben: Dass niemand sich anmaße, mehr zu verstehen, als was dem Verständnis entgegenkommt, sondern mit Besonnenheit auslege,262 welches diejenigen nicht tun, die sich anmaßen, durch eigene Auslegung irgendeine Lehre aus der Schrift heraus zu errichten, die sich auf Dinge bezieht, die unbegreiflich sind. Und diese ganze Streitigkeit
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bezüglich der Prädestination Gottes und den freien menschlichen Willen ist nicht nur den Christenmenschen eigen. Denn wir haben unter der Bezeichnung »Schicksal« und »Zufall« massige Bände zu diesem Thema, das zwischen den Epikureern und den Stoikern diskutiert wurde und folgerichtig kein Gegenstand des Glaubens, sondern der Philosophie ist; und nicht anders verhält es sich mit all den Fragen irgendeinen anderen Punkt betreffend, ausgenommen das zuvor bezeichnete Fundament. Gott nimmt einen Menschen an, welchen Teil der Frage er auch immer für richtig hält. In der Zeit des Heiligen Paulus war es eine Streitfrage, ob die vom Heidentum zu Christen Bekehrten nach freien Stücken von etwas essen konnten, was die vom Judentum bekehrten Christen nicht aßen; und der Jude verdammte den Heiden, dass er davon aß; und zu diesem sagt der Heilige Paulus, Röm. 14, 3: Welcher isst, der verachte den nicht, der da nicht isst; und welcher nicht isst, der richte den nicht, der da isst; denn Gott hat ihn angenommen. Und Vers 6, in dem es um die Frage der Einhaltung der Feiertage geht, worin Heiden und Juden verschiedener Ansicht waren, sagt er zu ihnen: Welcher auf die Tage hält, der tut’s dem Herrn; und welcher nichts darauf hält, der tut’s auch dem Herrn. Und diejenigen, die über derartige Fragen in Streit geraten und sich selbst in Sekten spalten, sind daher nicht als Eiferer des Glaubens zu rechnen, ihr Trachten richtet sich ja nur auf Diesseitiges, was vom Heiligen Paulus bestätigt wird, 1 Kor. 3, 4: Denn so einer sagt ich bin paulisch, der andere aber: Ich bin apollisch, seid ihr nicht fleischlich? Denn dies sind nicht Fragen des Glaubens, sondern des Verstandes (of wit), worin die Menschen fleischlich (carnally) untereinander ihre Überlegenheit zu zeigen versuchen. Denn nichts ist wahrhaft ig ein Punkt des Glaubens, als dass Jesus der Christus ist; wie der Heilige Paulus bezeugt, 1 Kor. 2, 2: Denn ich hielt mich nicht dafür, dass ich etwas wüsste unter euch, als allein Jesum Christum, den Gekreuzigten. Und 1 Tim. 6, 20 und 21: O Timotheus, bewahre, was dir vertraut ist, und meide die ungeistlichen, losen Geschwätze und das Gezänke der falschen berühmten
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Kunst, welche etliche vorgeben und gehen vom Glauben irre. 2 Tim. 2, 16: Des ungeistlichen, losen Geschwätzes entschlage dich, etc. Verse 17:263 … unter welchen ist Hymenäus und Philetus, welche von der Wahrheit irregegangen sind und sagen, die Auferstehung sei schon geschehen, wodurch der Heilige Paulus zeigt, dass das Aufwerfen von Fragen durch menschliches Schlussfolgern, wiewohl von den fundamentalen Punkten selbst aus, nicht nur nicht notwendig ist, sondern höchst gefährlich für den Glauben eines Christen ist. Aus allen diesen Stellen ziehe ich nur die allgemeine Konsequenz, dass weder die Punkte, die jetzt unter den Christen von den verschiedenen Sekten in Streit stehen, noch irgendein Punkt, der jemals in Streit stehen wird, abgesehen von denen, die in dem Glaubenssatz Jesus ist der Christus enthalten sind, für die Erlösung dem Glauben nach notwendig sind; handelt es sich um Frage des Gehorsams, dann kann ein Mensch daran gebunden sein, sich ihnen nicht zu widersetzen. 10. Wenn freilich für das Gewinnen der Erlösung in Sachen des Glaubens, wie schon durch die Lektüre der Heiligen Schrift ausgewiesen wurde, nichts weiter verlangt wird als der Glaube an diese fundamentalen Punkte, wie sie zuvor angeführt wurden, so werden doch nichtsdestotrotz in Sachen des Gehorsams andere Dinge gefordert. Denn, so wie es in weltlichen Königreichen (um Strafen zu vermeiden, die Könige auferlegen können) nicht genügt, das Recht und den Titel des Königs anzuerkennen, ohne auch seinen Gesetzen Gehorsam zu erweisen, so reicht es nicht aus, unseren Heiland Christus als König des Himmels anzuerkennen, worin der christliche Glaube besteht, wenn wir uns nicht darum bemühen, seine Gesetze einzuhalten, welche die Gesetze des himmlischen Königreichs sind; darin besteht der christliche Gehorsam.264 Und insofern als die Gesetze des himmlischen Königreichs den natürlichen Gesetzen gleichkommen, wie in Kap. XVIII gezeigt wurde, ist es nicht nur der Glaube, sondern auch die Beachtung des natürlichen Rechts, worin das liegt, was uns einen Menschen gerecht oder rechtschaffen nennen lässt (in dem
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Sinn, in dem die Gerechtigkeit nicht für die Abwesenheit aller Schuld, sondern für das Streben und den beständigen Willen das zu tun, was gerecht ist), ist also nicht nur der Glaube, sondern auch die Gerechtigkeit, die man ihrem Ergebnis nach auch als Buße und manchmal auch als Werke bezeichnet, notwendig für die Seligkeit; sodass beide, Glaube und Gerechtigkeit, dafür zusammenwirken. Und bei der verschiedenen Auffassung des Wortes Rechtfertigung lässt sich zutreffend sagen, dass beide zusammen uns rechtfertigen, und fehlt eines von ihnen, kann man mit Recht behaupten, dass wir verdammt sind. Und wenn Glaube und Werke auseinander treten, dann wird nicht nur der Glaube ohne Werke tot, sondern es werden auch die Werke ohne Glauben tote Werke genannt. Und deshalb hat der Heilige Jakobus, Kap. 2, 17 gesagt: So auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist er tot an ihm selbst; und Vers 26: Denn gleich wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot. Und der Heilige Paulus, Heb. 6, 1 nannte Werke ohne Glauben tote Werke, wo er sagte: Nicht abermals das Fundament legen mit Buße von toten Werken. Und unter diesen toten Werken ist nicht der Gehorsam und die Gerechtigkeit des Menscheninneren zu verstehen, sondern das opus operatum oder das äußerliche Tun, das aus der Furcht vor Strafe oder aus eitler Ruhmsucht und dem Verlangen von Menschen geehrt zu werden herrührt, und dies kann vom Glauben getrennt und kein Weg sein, der der Rechtfertigung förderlich ist. Und aus diesem Grund hat der Heilige Paulus, Röm. 4, die Rechtschaffenheit als Anteil an der Rechtfertigung eines Sünders vom Gesetz ausgenommen. Denn nach dem Gesetz Moses’, welches auf das Tun der Menschen anzuwenden ist und die Abwesenheit von Schuld fordert, neigen alle lebenden Menschen zur Verdammnis, und deshalb wird kein Mensch durch seine Werke gerechtfertigt, sondern nur durch seinen Glauben. Wenn aber die Werke für das tätige Streben genommen werden, das heißt, wenn der Wille fürs Werk genommen wird oder die innere Rechtfertigung für die äußere, dann tragen die Werke zur Erlösung bei.
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Und so geschieht, was Jakobus sagt, Kap. 2, 24: So sehet ihr nun, dass der Mensch durch die Werke gerecht wird, nicht durch den Glauben allein. Und sie beide werden zur Erlösung vereinigt, wie bei Markus 1, 15: Tut Buße und glaubt an das Evangelium. Und Lukas 18, 18, als ein gewisser Oberster unseren Heiland fragte, was er tun solle, um ewiges Leben zu erlangen, schlug dieser ihm den Glauben vor: Verkaufe alles, was du hast, und folge mir.265 Und Joh. 3, 36: Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Und: Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen. Offensichtlich wird hier Gehorsam und Glaube verbunden. Und Röm. 1, 17: Der Gerechte wird seines Glaubens leben; nicht ein jeder, sondern der Gerechte. Denn auch die Teufel glauben und zittern. Aber wiewohl Glauben und Gerechtigkeit (wobei wir unter Gerechtigkeit immer noch nicht das Fehlen von Schuld, sondern die gute Absicht des Geistes verstehen, die von Gott Rechtschaffenheit genannt wird und den Willen fürs Werk nimmt) beide zusammen uns rechtfertigen, so sind doch ihre Teile im Akt der Rechtfertigung beide voneinander zu unterscheiden. Denn die Gerechtigkeit, so wird ihr nachgesagt, rechtfertigt uns nicht, weil sie uns die Absolution erteilt, sondern weil sie einen als gerecht benennt und ihn in den Stand der oder in die Fähigkeit zur Erlösung setzt, sofern er den Glauben haben wird. Aber über den Glauben sagt man, er selbst rechtfertige, das heißt er entbinde ihn, weil durch ihn ein gerechter Mensch von seinen ungerechten Handlungen losgesprochen wird und ihm diese vergeben werden. Und solcherart werden die Stellen des Heiligen Paulus und des Heiligen Jakobus, dass der Glaube allein rechtfertigt und dass ein Mensch nicht durch den Glauben allein gerechtfertigt wird, miteinander versöhnt und gezeigt, wie Glaube und Buße für die Erlösung zusammenwirken müssen. 11. Wenn man dies alles berücksichtigt, dann wird es ganz leicht ersichtlich: Dass aus der souveränen Macht eines christlichen Gemeinwesens durch einfachen Gehorsam gegenüber menschlichen Gesetzen keine Gefahr der Verdammung besteht; denn in diesem
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gewährleistet der Souverän das Christentum, kein Mensch wird genötigt, diesem Glauben, das heißt den fundamentalen Punkten, abzuschwören, was genug ist für seine Erlösung. Und betreffs anderer Punkte, die für die Erlösung ja sichtlich nicht notwendig sind, tun wir nicht nur, wenn wir unsere Handlungen an den Gesetzen ausrichten, was uns erlaubt ist, sondern auch, was uns durch natürliches Recht, das uns vom Heiland selbst gelehrte moralische Gesetz, befohlen wird. Und es ist ein Teil dieses Gehorsams, der zu unserer Erlösung mitwirken muss. 12. Und auch wenn es wahr ist, dass das, was ein Mensch auch immer gegen sein Gewissen tut, Sünde ist, so ist dennoch der Gehorsam in diesen Fällen weder Sünde noch gegen das Gewissen. Das Gewissen ist doch nichts anderes als das gefestigte Urteil und die Ansicht eines Menschen. Wenn er einmal sein Urteilsrecht an einen anderen übertragen hat, dann ist das, was ihm befohlen wird, nicht weniger sein Urteil als das Urteil dieses anderen; sodass ein Mensch im Gehorsam gegenüber Gesetzen immer noch seinem Gewissen folgt, wenn auch nicht seinem persönlichen Gewissen. Und was auch immer entgegen dem privaten Gewissen getan wurde, ist nur dann eine Sünde, wenn es ihm die Gesetze überlassen haben, nach seiner eigenen Freiheit zu entscheiden, und niemals sonst. Und was auch immer ein Mensch tut, nicht nur im Glauben, dass es schlecht sei, sondern zweifelnd, ob es gut oder schlecht sei, das ist dann schlecht, wenn er dieses Tun in einem solchen Fall gesetzmäßig hätte unterlassen können. 13. Und so wie bewiesen wurde, dass ein Mensch seine Ansichten in strittigen Angelegenheiten der Autorität des Gemeinwesens unterwerfen muss, so wird dies auch durch die Praxis all derer bestätigt, die es ansonsten in Abrede stellen. Denn wo gibt es einen, der in seiner Meinung von einem anderen abweicht und sich selbst im Recht, den anderen im Unrecht sieht, der es nicht für vernünft ig hielte, wenn er derselben Meinung wäre, die der ganze Staat zulässt, dass der andere seine Ansicht auch dem Staat unterwerfe? Oder der nicht befriedigt sein würde, wenn nicht
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nur dieser eine Mensch oder einige wenige Menschen, sondern vielmehr dass alle Geistlichen einer Nation oder zumindest eine Versammlung von all denen, deren Ansicht er zuneigt, die Macht haben sollte, alle Religionsstreitigkeiten zu entscheiden? Oder wo ist einer, der nicht dadurch befriedigt sein würde, seine Ansichten entweder dem Papst, einem allgemeinen Konzil, einem Provinzkonzil oder einem Presbyterium seiner eigenen Nation zu unterwerfen? Und doch unterwirft er sich selbst in all diesen Fällen keiner größeren als einer menschlichen Autorität. Auch kann nicht gesagt werden, dass ein Mensch, der sich der Heiligen Schrift unterwirft, sich nicht selbst auch dem einen oder anderen für deren Auslegung unterwirft; oder wozu sollte überhaupt ein Kirchenregiment eingerichtet sein, wenn die Schrift selbst das Amt des Richters in Glaubensstreitigkeiten übernehmen könnte? Aber die Wahrheit, durch beständige Erfahrung,266 ist offenkundig, dass nämlich die Menschen nicht nur Gewissensfreiheit suchen, sondern nach Freiheit für ihre Handlungen; auch nicht das allein, sondern die weitergehende Freiheit, andere von ihren Meinungen zu überzeugen; und nicht nur das, denn jeder Mensch sehnt sich danach, dass die herrschende Autorität keine anderen Meinungen aufrecht erhalten sollte als diejenige, die er selbst vertritt. 14. Die Schwierigkeit also, sowohl Gott als auch dem Menschen zu gehorchen, besteht in einem christlichen Gemeinwesen gar nicht: Alle Schwierigkeit in dieser Hinsicht besteht darin, ob derjenige, der den christlichen Glauben empfangen hat und sich zuvor selbst der Autorität eines Ungläubigen unterworfen hat, dadurch seinen Gehorsam in Glaubenssachen erfüllt hat oder nicht. Vernunftgemäß scheint in solch einem Fall Folgendes: Alle Gehorsamsverträge werden für die Erhaltung des Lebens eines Menschen eingegangen. Wenn nun ein Mensch ohne Widerstand damit einverstanden ist, eher sein Leben aufzugeben, als den Befehlen eines Ungläubigen zu gehorchen, dann hat er sich selbst in so einem schweren Fall ausreichend entlastet.267 Denn das Eingehen einer Verpflichtung kann nicht weiter gehen als das Bemü-
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hen; und wenn ein Mensch sich selbst nicht dazu entschließen kann, eine gerechte Pfl icht zu erfüllen, selbst wenn ihm dadurch ein sofortiger Tod sicher ist, dann kann es umso weniger erwartet werden, dass er dasjenige tun sollte, von dem er in seinem Herzen glaubt, dass es ihm die ewige Verdammnis bringen wird. – Und so viel in Hinsicht auf Gewissensskrupel, die betreffs des Gehorsams gegenüber menschlichen Gesetzen in denen aufkommen können, die Gottes Gesetz selbst auslegen. Übrig bleibt, diese Skrupel bei denjenigen abzubauen, die ihre Kontroversen anderen vorlegen, die dazu von der souveränen Autorität nicht bestimmt wurden. Und darauf werde ich im folgenden Kapitel Bezug nehmen.
K apitel X XVI Dass U ntertanen nicht verpflichtet sind, dem Urteil irgendeiner Autorität in R eligionsstr eitigkeiten zu folgen, die nicht abhängig ist von der sou ver änen Macht 268 1. Im vorigen Kapitel wurden diejenigen Schwierigkeiten beseitigt, die sich unserem Gehorsam gegenüber menschlicher Autorität entgegenstellen, soweit sie aus dem Missverstehen des Rechtsanspruchs und den Gesetzen unseres Heilands erwachsen; im Ersten, nämlich seinem Rechtsanspruch, besteht unser Glaube, und in Letzteren unsere Gerechtigkeit. Nun können freilich diejenigen, die untereinander hinsichtlich seines Rechtsanspruchs und seiner Gesetze gar nicht verschiedener Meinung sind, doch sehr wohl abweichende Ansichten in Bezug auf seine Amtswalter (magistrates) und über den Umfang der ihnen von ihm eingeräumten Autorität haben. Und das ist die Ursache, warum viele Christen ihren Fürsten den Gehorsam verweigert haben, wobei sie vortäuschen, dass unser Heiland nicht ihnen das Amt gegeben hätte, sondern andere damit beliehen hätte. Zum Beispiel sagen
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einige, durchgängig dem Papst; einige, einer aristokratischen Synode, einer demokratischen Synode in jedem einzelnen Gemeinwesen;269 und weil Christi Amtswalter diejenigen sind, durch die er spricht, stellt sich die Frage, spricht er zu uns entweder durch den Papst oder durch die Versammlungen von Bischöfen und Geistlichen oder durch diejenigen, die in jedem Gemeinwesen die herrschende Gewalt innehaben. 2. Die Auseinandersetzung darüber war die Ursache jener zwei Meutereien, die sich in der Wildnis gegen Moses erhoben. Die erste durch Aaron und seine Schwester Miriam, die sich anheischig machten, Moses dafür zu tadeln, dass er eine äthiopische Frau geheiratet hatte. Und die Problemstellung zwischen ihnen und Moses kleideten sie in diese Worte, 4 Mose 12, 2: Redet denn der Herr allein durch Moses? Redet er nicht auch durch uns? Und der Herr hörte es, etc., und bestrafte dafür Miriam, dem reuigen Aaron aber verzieh er. Und dies ist der Fall all jener, die die Priesterschaft gegen die Souveränität aufstellen. Die andere geschah durch Korah, Dathan und Abiram, die sich mit 250 Führern gegen Moses und Aaron versammelten. Ihr Streitthema war folgendes: Ob Gott nicht ebenso in der Menge sei, wie er mit Moses sei, und sei nicht jeder Mensch so heilig wie dieser. Denn, 4. Mose 16, 3: Ihr macht’s zu viel! Denn die ganze Gemeinde ist überall heilig, und der Herr ist unter ihnen; warum erhebt ihr euch über die Gemeinde des Herrn? Und dies ist der Fall derjenigen, die ihre persönlichen Gewissen in Stellung bringen und sich vereinigen, um die religiöse Regierung aus den Händen dessen oder derer zu nehmen, welche die souveräne Macht im Gemeinwesen haben. Wie gut dies Gott gefiel, lässt sich aus der scheußlichen Strafe für Korah und seine Helfershelfer ablesen.270 3. In Moses’ Regierung gab es keine Macht, weder eine bürgerliche noch eine geistige, die nicht von ihm selbst ausging. Auch unter den Königen im Staate Israel gab es keine irdische Macht, durch welche diese Könige zu irgendetwas hätten gezwungen werden können oder es irgendeinem Untertanen erlaubt gewesen
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wäre, sich in auch nur in irgendeinem Fall gegen sie zu sträuben. Denn wiewohl die Propheten durch außergewöhnliche Berufung sie oft mals rügten und ihnen drohten, so hatten sie doch keine Autorität über sie. Und demzufolge war unter den Juden die geistige und weltliche Macht stets in derselben Hand. 4. Unser Heiland Christus, der sowohl rechtmäßiger König der Juden im Besonderen als auch der König des Himmels war, wiederbelebte bei der Bestellung der Amtswalter das Vorgehen, das Moses anwandte. Entsprechend der Anzahl der Kinder Jakobs nahm Moses über Gottes Befehl, 4 Mose 1, 4, zwölf Männer, je einen Führer von seinem Stamm, die ihm bei der Musterung Israels beistehen sollten. Und diese zwölf werden, Vers 24, genannt die Fürsten Israels, zwölf Männer, je einer vom Haus ihrer Väter; was auch 4 Mose 7, 2 gesagt wird: die Häupter waren in ihren Vaterhäusern; denn sie waren die Obersten unter den Stämmen und standen obenan unter denen, die gezählt waren. Und diese waren untereinander einer gleich dem anderen. In ähnlicher Weise nahm unser Heiland zwölf Apostel zu sich, die in ihrer Befugnis ihm am nächsten sein sollten und über die er sagt, Matth. 19, 28: Wenn des Menschen Sohn wird sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, ihr, die ihr mir nachgefolgt in der Wiedergeburt, sollt auch sitzen auf zwölf Stühlen und richten die zwölf Geschlechter Israels. Und hinsichtlich der Gleichheit der zwölf Apostel untereinander sagt unser Heiland, Matth. 20, 25: Ihr wisset, dass die weltlichen Fürsten herrschen, etc. Vers 26: So soll es nicht sein unter euch, sondern, so jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener. Und Matth. 23, 11: Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Und ein wenig zuvor, Vers 8: Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister, Christus; ihr aber seid alle Brüder. Und Apostelgesch. 1, bei der Wahl des Matthias zum Apostel, nahm sich dennoch niemand, obwohl Petrus als Wortführer (prolocutor) auft rat, die Autorität eines Erwählten in Anspruch, sondern schrieb diese dem Los zu.
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5. Nochmals, Moses hatte den Befehl Gottes, 4 Mose 11, 16: Sammle mir siebzig Männer unter den Ältesten Israels, von denen du weißt, dass sie Älteste im Volk und seine Amtleute sind, und bringe sie mit dir ins Offenbarungszelt, etc. Und Moses machte es so, Vers 24. Und diese wurden ausgesucht, um Moses die Last der Regierung tragen zu helfen, wie aus Vers 17 desselben Kapitels ersichtlich. Und so wie die zwölf Stammesfürsten der Anzahl der Kinder Jakobs entsprachen, so entsprachen die siebzig Ältesten der Anzahl von Personen, die mit Jakob nach Ägypten zogen. In ähnlicher Art erwählte unser Heiland in seinem Himmelreich, der Kirche, siebzig Personen aus der ganzen Zahl derjenigen, die an ihn glaubten, die eigentümlicherweise die siebzig Jünger genannt wurden271 und denen er die Vollmacht gab, das Evangelium zu predigen und zu taufen. 6. In der Zeit unseres Heilands bestand daher die Hierarchie der Kirche, neben ihm selbst als ihrem Oberhaupt, aus zwölf Aposteln, die untereinander gleich waren, aber so wie die Oberhäupter der Stämme über andere bestimmten; diese hatten jeder für sich die Macht zu taufen und zu lehren und auch dabei zu helfen, die ganze Herde zu regieren.272 7. Während es in dem von Moses eingerichteten Gemeinwesen nicht nur einen Hohen Priester für seine Zeit gab, sondern auch eine Nachfolgereglung und eine Rangordnung der Priester, kann gefragt werden, warum nicht auch unser Heiland etwas Ähnliches bestimmte. Darauf kann man antworten, dass die Hohe Priesterschaft, soweit damit ihre Machtbefugnis betroffen ist, in der Person von Christus lag, da er der Christen-König war. So war es auch bei Moses; Aaron kam nur die Rolle eines Amtswalters zu. Denn gleichwohl Aaron der Hohe Priester war, so war doch seine Weihe Moses überlassen, 2 Mose 29, 1. Alle Utensilien für die Opferung und die anderen heiligen Gegenstände wurden von Moses vorgeschrieben; und insgesamt wurde das gesamte levitische Recht von Gott durch die Hand Moses’ gegeben, welcher für Aaron ein Gott war und Aaron dessen Mund. Und hinsichtlich der
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Verwaltung konnte kein anderer Hoher Priester bestellt werden als er selbst, denn unser Heiland war ja selbst das Opfer, und wer außer ihm selbst hätte ihn als Opfer anbieten können? Und für die Feier dieses Opfers in der Zeit danach übertrug er die Priesterschaft denen, die er zum Regieren in der Kirche berufen hatte. 8. Nach der Himmelfahrt unseres Heilands liefen die Apostel auseinander, um das Evangelium zu verbreiten. Fortwährend wählten sie, wenn sie in irgendeiner Stadt oder einem Landstrich irgendeine Anzahl von Menschen zum Glauben bekehrt hatten, unter diesen jene aus, von denen sie dachten, sie seien die geeignetsten, um sie entsprechend Gottes Gesetz in der Gesprächsund Lebensführung anzuleiten und ihnen das Geheimnis der Fleischwerdung Gottes zu erklären, das heißt, ihnen die Mission des Messias in ihrer Gesamtheit offenzulegen. Und von diesen Ältesten wurden einige den anderen nachgeordnet, so wie die Apostel, die jene ernannten, es für passend hielten. So ermächtigte der Heilige Paulus den Titus, Älteste in Kreta zu ernennen, Tit. 1, 5: Derhalben ließ ich dich in Kreta, dass du solltest vollends ausrichten, was ich gelassen habe, und in jeder Stadt Älteste bestellst, wie ich dir befohlen habe; was durch das Wort katasteses beschrieben wird, das heißt bestellen, woraus ersichtlich ist, dass in der Zeit der Apostel ein Ältester über einen anderen Autorität hatte, um sie zu bestellen und sie anzuleiten. Denn in 1 Tim. 5, 19 wird Timotheus, selbst ein Ältester, zum Richter über Anklagen gegen andere Älteste gemacht.273 Und Apostelgesch. 14, 23 wird von den Jüngern gesagt, dass sie Älteste für alle Gemeinden der Städte ernannten, in denen sie gepredigt hatten.274 Und wiewohl hier das Wort cheirotonesantes ist, so kennzeichnet es doch nicht eine Wahl durch Aufheben der Hände, sondern einfach und rundweg Ernennung (ordination). Denn die gewöhnliche Auswahl von Amtsleuten geschah bei den Griechen, die alle entweder demokratisch (popularly) oder sonst durch eine Oligarchie regiert wurden, durch das Aufheben der Hände, sodass dieses Wort ganz einfach als Wahl oder Ernennung zu nehmen ist, wie auch im-
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mer sie durchgeführt wurde. Und so bestand also in der ersten Kirche die Kirchenhierarchie folgendermaßen: Apostel, Älteste, die anderen Ältesten vorstanden; und Älteste, die nicht regierten, deren Aufgabe es aber war, zu predigen, die Sakramente zu erteilen, Gebete und Danksagung im Namen des Volkes anzubieten. Aber zu dieser Zeit bestand kein Unterschied zwischen den Bezeichnungen Bischof und Ältester. Unmittelbar nach der Zeit der Apostel wurde das Wort Bischof aber dazu hergenommen, um solch einen Ältesten zu bezeichnen, der die Regierung über Älteste hatte, und andere Älteste wurden als Priester bezeichnet, was nichts anderes als Ältester heißt. Und so hat die Regierung der Bischöfe ein göttliches Vorbild in den zwölf Oberhäuptern und in den siebzig Ältesten von Israel, in den zwölf Aposteln und in den siebzig Jüngern unseres Heilands, in den regierenden Ältesten und den nicht regierenden Ältesten zur Zeit der Apostel. 9. So viel zu den Amtswaltern der Herde Christi in der Urkirche.275 Das Amt eines Priesters oder einer Priesterin nämlich war Sache der Gemeinde, um ihr in jenen Dingen zu dienen, die zu ihren weltlichen Angelegenheiten gehörten. Das Nächste, das wir betrachten müssen, ist die Machtbefugnis, die ihnen unser Heiland gegeben hat, entweder über die, die sie bekehrt hatten, oder über die, die sie zu bekehren im Begriff waren. Und hinsichtlich der Letzteren, die bis jetzt ohne Kirche waren, gab unser Heiland seinen Aposteln nicht mehr Macht als nur dies: unter ihnen zu predigen, dass Jesus der Christus sei, dies in allen Punkten zu erklären, soweit es das Himmelreich betrifft, und die Menschen davon zu überzeugen, die Lehre unseres Heilands anzunehmen, aber unter keinen Umständen irgendeinen Menschen dazu zu zwingen, sich ihnen zu unterwerfen. Denn da die Gesetze des Himmelreichs, wie im Kap. XVIII, 10 gezeigt worden ist, nur dem Gewissen vorgeschrieben sind, und dieses nicht Untertan von Zwang und Einschränkung ist, hat es der Art des Himmelskönigs nicht entsprochen, die Menschen dadurch zu fesseln, dass sie
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sich in ihren Handlungen ihm unterwerfen, sondern sie vielmehr nur zu beraten; noch entsprach es ihm, der doch lehrte, dass die Summe seines Gesetzes die Liebe sei, uns irgendwelche Pflicht aus Furcht vor weltlicher Bestrafung abzunötigen. Und daher nennt unser Heiland, weil doch die mächtigen Menschen in der Welt, die andere durch Gewalt in Abhängigkeit halten, in der Schrift durch den Namen Jäger bezeichnet werden, diejenigen, die von ihm berufen wurden, durch die Bezwingung ihrer Leidenschaften die Welt an ihn heranzurücken, Fischer; und deshalb sagte er zu Petrus und Andreas, Matth. 4, 19: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Und Lukas 10, 3: Siehe, sagt Christus, ich sende euch als die Lämmer mitten unter die Wölfe. Und es wäre vergebens gewesen, ihnen das Recht zu zwingen einzuräumen, ohne sie mit größerer Macht auszurüsten, als sie Lämmer unter Wölfen haben.276 Noch mehr, Matth. 10, wo unser Heiland seinen zwölf Aposteln den Auft rag gibt, hinauszugehen und die Völker zum Glauben zu bekehren, ihnen aber keine Befugnis zu Zwang und Bestrafung einräumt, sondern nur sagt, Vers 14277: Und wo euch jemand nicht annehmen wird noch eure Rede hören, so geht heraus von demselben Haus oder der Stadt und schüttelt den Staub von euren Füßen. Wahrlich ich sage euch: Dem Lande der Sodomer und Gomorrer wird es erträglicher gehen am Jüngsten Gericht denn solcher Stadt. Dadurch ist offenkundig, dass alles, was die Apostel durch ihre Machtbefugnis tun konnten, nicht mehr war, als auf die Gemeinschaft mit ihnen zu verzichten und die Bestrafung Gott dem Allmächtigen am Tag des Gerichts zu überlassen. In ähnlicher Weise legen uns die Vergleiche des Himmelreichs sowohl mit dem Samen, Matth. 13, 3, 278 als auch mit dem Sauerteig, Matth. 13, 33, 279 nahe, dass das Wachstum desselben durch das innere Wirken des verkündeten Wortes Gottes und nicht durch irgendein Gesetz oder den Zwang derer vonstatten gehen soll, die es predigen. Mehr noch, unser Heiland selbst sagt, Joh. 18, 36, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei, und folglich empfangen seine Vertreter von ihm auch keinerlei Autorität zur Bestra-
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fung der Menschen in dieser Welt. Und deshalb auch sagt Matth. 26, 52, nachdem der Heilige Petrus zur Verteidigung das Schwert gezogen hatte: Stecke dein Schwert an seinen Ort. Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Und Vers 54: Wie sollten sich aber dann die Schriften erfüllen, dass es so kommen muss, wie sie sagen?, wo er aus den Schriften zeigt, dass das Himmelreich Christi nicht durch das Schwert zu verteidigen sei. 10. Was aber die Autorität der Apostel oder Bischöfe über diejenigen betrifft, die schon bekehrt und innerhalb der Kirche waren, so soll diese als größer gedacht sein als über die außerhalb. Denn einige haben gesagt (Bellarmin.280 Lib. de Rom. Pont, Kap. 29): Obgleich Christi Gesetz keinen Fürsten seiner Herrschaft entkleidet und Paulus mit Recht an den Kaiser appellierte, als die Könige Ungläubige waren und außerhalb der Kirche standen, so wurden sie doch, sobald sie Christen wurden und aus freiem Willen die Gesetze des Evangeliums annahmen – gerade wie die Schafe dem Hirten und wie die Glieder dem Haupte – dem Prälaten der kirchlichen Hierarchie untertan. Was, mag es wahr sein oder auch nicht, aus der Perspektive zu betrachten ist, die uns aus der Heiligen Schrift von der Macht des Heilands und seiner Apostel über diejenigen bekannt ist, die sie bekehrt hatten. Aber unser Heiland hat, so wie er bei seinen Amtsleuten das jüdische Gemeinwesen nachahmte, bei den Zwölf und bei den Siebzig, dies auch bei der Kirchenstrafe, der Exkommunikation, getan. Aber unter den Juden schloss die Kirche die exkommunizierte Person aus der Kirchengemeinde aus, was sie durch ihre weltliche Macht tun konnte. Aber unser Heiland und seine Apostel, die keine derartige Macht an sich nahmen, konnten der exkommunizierten Person nicht verbieten, irgendeinen Ort oder eine Gemeinde zu betreten, den zu betreten ihm vom Fürsten oder vom örtlichen Herrscher gestattet war; denn das hätte bedeutet, dem Herrscher seine Autorität zu entziehen. Und deshalb war die Exkommunikation einer Person, die Untertan einer weltlichen Macht war, nicht mehr als nur eine Erklärung der exkommu-
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nizierenden Kirche, dass die hiermit exkommunizierte Person zwar fürderhin für eine ungläubige gehalten werden soll, dass sie aber nicht durch die Autorität der Kirche aus irgendeiner Gesellschaft zu vertreiben sei, in die sie ansonsten rechtmäßig eintreten dürfte. Und dies ist es, was unser Heiland sagt, Matth. 18, 17: Hört er die Gemeinde nicht, so halt ihn als einen Heiden und einen Zöllner. Weshalb die ganze Wirkung einer Exkommunikation eines christlichen Fürsten nicht mehr ist, als dass der oder die, die ihn so exkommunizierten, fortgehen und sich selbst aus seinem Herrschaftsgebiet verbannen.281 Auch können sie daraufhin nicht irgendwelche seiner Untertanen von ihrem Gehorsam ihm gegenüber entbinden; denn das hieße, ihn seiner Herrschaft zu berauben, was sie, als Strafe dafür, dass er außerhalb der Kirche steht, nicht können. Von denen, die diesen Einwand machen, wird eingeräumt, dass unser Heiland seinen Aposteln keine Befugnis gab, Richter über sie zu sein, wie im vorigen Abschnitt bewiesen wurde. Und deshalb kann in keinem Fall die herrschende Gewalt eines Gemeinwesens der Untertan irgendeiner kirchlichen Autorität sein, außer derjenigen Christi selbst. Und obwohl er (der Fürst) auch über das Himmelreich unterrichtet worden sein mag und sich demselben infolge der Überredungskunst kirchlicher Personen unterworfen hat, so ist er doch deshalb nicht ihrer Regierung und Leitung untertänig. Denn wenn es infolge ihrer Machtbefugnis und nicht ihrer Überredung wegen gewesen wäre, dass er dieses Joch auf sich genommen hätte, dann könnte er es durch dieselbe Autorität ablegen; das aber ist nicht erlaubt. Denn wenn alle Kirchen in der Welt den christlichen Glauben aufgeben würden, so wäre das doch für kein Mitglied der Kirche ein genügender Grund, dasselbe zu tun. Es ist daher offensichtlich, dass diejenigen, denen die herrschende Gewalt zukommt, die unmittelbaren Leiter der Kirche unter Christus sind und dass alle anderen ihnen lediglich untergeordnet sind. Wäre das nicht so, sondern sollten die Könige bei Todesstrafe das eine befehlen und Priester bei Strafe ewiger Verdammnis das andere, dann
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wäre es unmöglich, dass Friede und Religion zusammen bestehen können. 11. Es gibt also keine gerechte Ursache für irgendeinen Menschen, vom Gehorsam gegenüber dem souveränen Staat zurückzutreten, und sei es auch unter dem Vorwand, dass Christus einen kirchlichen Staat über ihn gesetzt hätte. Und wiewohl Könige keine amtliche Priesterschaft auf sich nehmen (was sie könnten, wenn es ihnen gefiele), so sind sie doch nicht so sehr einfach bloß Laien, als dass sie nicht die priesterliche Gerichtsbarkeit inne hätten. – Um dieses Kapitel zu beschließen: Da ja Gott in diesen Tagen nicht zu irgendeinem Menschen spricht, weder durch dessen persönliche Auslegung der Schriften noch durch die Auslegung irgendeiner Macht, die über der souveränen Macht eines jeden Gemeinwesens stünde oder nicht davon abhängig wäre, so ergibt sich, dass Gott durch seine Vize-Götter oder seine Leutnants hier auf Erden spricht; und das heißt: Gott spricht durch die souveränen Könige oder durch diejenigen, denen eine ebensolche souveräne Autorität zukommt.
K apitel X XVII Von den Ursachen der R ebellion 282 1. Bis zu dieser Stelle ging es um die Ursachen, warum, und um die Art und Weise, wie die Menschen ihr Gemeinwesen schufen. In diesem Kapitel werde ich kurz aufzeigen, durch welche Ursachen und in welcher Art und Weise sie wiederum zerstört werden; keineswegs beabsichtige ich irgendetwas darüber zu sagen, was die Auflösung eines Gemeinwesens durch Überfälle von außen betrifft, was so etwas wie sein gewaltsamer Tod wäre. Ich werde nur von Aufruhr sprechen, was auch zum Tod des Gemeinwesens führt, aber ungefähr so ähnlich, wie es einem Menschen durch Krankheit und üble Laune geschieht. Um Menschen zum Aufruhr geneigt zu machen, wirken drei Dinge zusammen.283 Das erste ist Unzufriedenheit. Denn solange sich ein Mensch wohl
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fühlt und solange er nicht das Gefühl hat, dass ihm die jetzige Regierung im Weg steht, um vom guten zum besseren Leben voranzuschreiten, ist es für ihn unmöglich, deren Wechsel herbeizuwünschen. Das zweite ist die Vortäuschung von Recht; denn obgleich ein Mensch unzufrieden sein mag, so wird er es, wenn seiner Ansicht nach keine gerechte Ursache besteht, sich dagegen zu regen oder sich der bestehenden Regierung zu widersetzen, und er auch keinen Vorwand fi ndet, seinen Widerstand zu rechtfertigen und sich nach Hilfe umzusehen, niemals zeigen. Das dritte ist die Hoff nung auf Erfolg; denn es wäre Wahnsinn, es ohne Hoff nung zu versuchen, wenn ein Scheitern bedeuten würde, den Tod eines Hochverräters zu sterben. Ohne diese drei Dinge: Unzufriedenheit, Täuschung und Hoffnung, kann es keine Rebellion geben; wenn aber diese drei Dinge beisammen sind, dann braucht es nur noch einen Mann von Ansehen, der die Fahne hisst und die Trompete bläst. 2. Was die Unzufriedenheit anbelangt, so ist sie von zweierlei Art: denn sie besteht entweder in gegenwärtigem oder zu erwartendem körperlichen Schmerz oder in einer Schwierigkeit des Geistes (dies ist die allgemeine Einteilung von Behagen und Schmerz, Kap. VII, 9). Die Gegenwart von körperlichem Schmerz macht nicht zum Aufruhr geneigt; die Furcht davor tut es. Wenn beispielsweise eine große Menge oder ein Haufen von Leuten bei einem todeswürdigen Verbrechen zusammengewirkt hat, dann strömen sie zusammen und greifen zu den Waffen, um sich aus Furcht vor der Todesstrafe selbst zu verteidigen. Ebenso verleiten zum Aufruhr die Furcht vor einem Mangel oder, ist der Mangel schon da, die Furcht vor Verhaft ung und Einkerkerung. Und daher haben große Eintreibungen, auch wenn das Recht dazu anerkannt war, großen Aufruhr verursacht; so in der Zeit von Heinrich VII.284 die Aufstände der Walliser in Cornwall, die sich weigerten, Hilfsgelder zu bezahlen, und unter der Leitung von Lord Audley dem König die Schlacht auf Blackheath lieferten285; oder die Aufstände der Leute im Norden, die wegen der Forde-
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rung von Hilfsgeldern, wie sie vom Parlament bewilligt wurden, in der Zeit desselben Königs den Earl of Northumberland in seinem Haus ermordeten.286 3. Drittens, die andere Art von Unzufriedenheit, die dem Geist derjenigen Schwierigkeiten bereitet, die ansonsten ein bequemes Leben ohne Furcht vor Mangel, Gefahr oder Gewalt führen, erwächst nur aus einem Gefühl ihres Mangels an derjenigen Macht, Ehre und ihrer Bezeugung, von der sie vermeinen, dass sie ihnen gebühre. Denn alles Freud und Leid des Geistes besteht (wie in Kap. IX, 21 gesagt wurde) im Kampf um Vorrang gegenüber denen, mit denen sie sich selbst vergleichen; solche Menschen müssen es notwendig übel nehmen und sich beleidigt fühlen durch einen Zustand, in dem sie jenen an Ehre nachgesetzt werden, denen sie sich an Tugend und an Fähigkeit zu regieren überlegen fühlen. Und sie denken daher, dass sie nur für Sklaven gehalten werden. Sieht man nun, dass Freiheit und Knechtschaft nicht zusammen bestehen können, so ist Freiheit im Gemeinwesen nichts außer Regierung und Lenkung, die, weil sie nicht geteilt werden kann, die Menschen gemeinsam erwarten müssen; und das kann nirgendwo anders als in einem Volksstaat oder einer Demokratie sein. Und Aristoteles sagt treffend (im 6. Buch, Kap. 2 seiner Politik): Der Grund oder die Absicht eines demokratischen Staates ist die Freiheit, und dies bestätigt er mit den Worten: Die Menschen behaupten gewöhnlich, dass niemand der Freiheit teilhaftig werden kann, außer in einem volkstümlichen Gemeinwesen.287 Wer auch immer also unter monarchischen Verhältnissen, wo die herrschende Gewalt absolut bei einem Menschen liegt, Freiheit beansprucht, der fordert (wenn die strengste Auslegung davon gemacht werden sollte) entweder, die Souveränität in eigener Hand zu haben, oder, ein Kollege von dem zu sein, der sie hat, oder, dass die Monarchie in eine Demokratie umgewandelt werde. Wenn dieselbe aber (mit Entschuldigung für diesen unbeholfenen Ausdruck) entsprechend der Absicht des Fordernden interpretiert wird, dann verlangt er damit nichts weiter, als dass der Souverän
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von seiner Fähigkeit und seinem Verdienst Notiz nehmen und eher ihm eine Beschäft igung und einen untergeordneten Regierungsposten geben sollte, als anderen, die es weniger verdienen. Und sowie es einer fordert, tut es ein anderer, jeder Mensch hält sein Verdienst für das größte. Unter all diesen, die solche Ehre vortäuschen oder ehrgeizig darauf aus sind, können nur wenige beschäft igt werden, es sei denn in einer Demokratie; die Übrigen müssen daher unzufrieden sein.288 – Und so viel von der ersten Sache, die zur Rebellion geneigt macht, und zwar Unzufriedenheit, die aus Furcht und Ehrgeiz besteht. 4. Die zweite Sache, die zur Rebellion geneigt macht, ist die Vortäuschung von Recht. Dies liegt vor, wenn Menschen der Ansicht sind, oder vorgeben, der Ansicht zu sein, dass sie in gewissen Fällen demjenigen gegenüber, dem die herrschende Gewalt zukommt, rechtmäßig Widerstand leisten oder ihn oder sie der Mittel berauben dürften, um sie auszuüben. Sechs spezielle Fälle dieser Vortäuschung gibt es. Einer ist: wenn der Befehl gegen ihr Gewissen geht und sie glauben, es sei für einen Untertanen unrechtmäßig, auf Befehl der herrschenden Gewalt eine Handlung zu vollziehen, die er seinem Gewissen nach für unerlaubt hält, oder eine Tat zu unterlassen, deren Unterlassung, wie er glaubt, widerrechtlich sei. Ein anderer ist: wenn der Befehl den Gesetzen zuwiderläuft und sie denken, die herrschende Gewalt sei ebenso ihren eigenen Gesetzen unterworfen, wie es der Untertan ist, und wenn diese ihrer Verpfl ichtung nicht nachkommt, dann dürften sie ihrer Macht Widerstand entgegensetzen. Ein dritter Fall ist: wenn sie Befehle von irgendeinem Mann oder irgendwelchen Menschen erhalten und einen supersedeas [Aufschub] von anderen und glauben, deren Autorität wäre die Gleiche, als ob die herrschende Gewalt geteilt wäre. Ein vierter ist: wenn ihnen befohlen wird, sich oder ihr Geld dem öffentlichen Dienst zur Verfügung zu stellen, und sie vermeinen, sie hätten Eigentum daran unabhängig von der Oberherrschaft der souveränen Macht und dass sie deshalb nicht verpflichtet wären, ihr Vermögen und sich
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selbst in größerem Maß, als es jeder Mensch für sich selbst passend findet, beizusteuern.289 Ein fünfter: wenn die Befehle dem Volk schmerzlich scheinen und sie denken, jeder Einzelne von ihnen, dass die Meinung und das Gefühl des Volkes seiner Ansicht und derer, die mit ihm übereinstimmen, entspricht, wobei man mit dem Namen Volk irgendeine Menge der eigenen Parteiung benennt. Der sechste Fall ist: wenn die Befehle grausam sind und sie den, der grausame Dinge befohlen hat, für einen Tyrannen und den Tyrannenmord, das heißt die Ermordung des Tyrannen, nicht nur für rechtmäßig, sondern auch für lobenswert halten. 5. Alle diese Anschauungen werden in den Büchern der Dogmatiker290 unterstützt. Verschiedene von ihnen wurden von öffentlichen Lehrstühlen aus gelehrt und sind nichtsdestotrotz völlig unvereinbar mit Frieden und Regierung und laufen deren notwendigen und beweisbaren Regeln zuwider. Zur ersten, nämlich dass ein Mensch rechtmäßig irgendetwas tun oder unterlassen dürfe, was gegen sein Gewissen ist, woraus sich aller Aufruhr in Religionssachen und betreffend das Kirchenregime entzündet, so wurde in den letzten beiden Kapiteln deutlich erklärt, dass eine derartige Ansicht irrig ist. Denn diese beiden Kapitel wurden zur Gänze dem Beweis gewidmet, dass es die christliche Religion nicht nur nicht verbietet, sondern auch befiehlt, dass in jedem Gemeinwesen jeder Untertan in allen Dingen bis zum Äußersten seiner Macht den Befehlen dessen oder derer, dem oder denen die Souveränität zukommt, Gehorsam zu leisten hat und dass ein derart gehorchender Mensch dies gemäß seinem Gewissen und seinem Urteil entsprechend tut, so er sein Urteil in allen Streitfragen in die Hände der souveränen Macht gelegt hat, und dass dieser Irrtum aus der Unkenntnis dessen herrührt, was und durch wen Gott der Allmächtige spricht.291 6. Hinsichtlich der zweiten Meinung, und zwar dass der Souverän in der Weise seinen eigenen Gesetzen verpfl ichtet sei, wie es der Untertan ist, wurde das Gegenteil davon in Kap. XX, 7–12 gezeigt. Daraus ist ersichtlich, dass der souveränen Macht kein Wider-
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stand entgegenzusetzen ist, dass sie sowohl das Kriegsschwert als auch das Schwert der Gerechtigkeit trägt, dass ihr das Entscheidungsrecht in allen Streitfragen, sowohl in den juristischen als auch in den sich aus Beratungen ergebenden, zukommt, dass ihr die Erlassung aller bürgerlichen Gesetze zukommt, dass sie die Amtswalter und die Staatsminister ernennt und dass ihr generelle Straff reiheit innewohnt. Wie kann man über ihn oder sie sagen, er sei den Gesetzen unterworfen, die sie nach Lust und Laune außer Kraft setzen oder ohne Furcht vor Bestrafung brechen können? Und dieser Irrtum scheint davon herzurühren, dass die Menschen für gewöhnlich nicht recht verstehen, was mit dem Wort Gesetz gemeint ist; sie bringen Gesetz und das Eingehen einer Verpflichtung durcheinander, so als ob sie dasselbe Ding bezeichnen würden. Aber Gesetz impliziert einen Befehl; das Eingehen einer Verpflichtung hingegen ist nur ein Versprechen. Und nicht jeder Befehl ist ein Gesetz, dieser ist es nur dann (Kap. XIII, 6), wenn der Befehl der Grund dafür ist, die befohlene Handlung zu vollziehen. Und nur dann liegt der Grund unseres Tuns im Befehl, wenn seine Unterlassung deshalb schmerzlich ist, weil das Tun befohlen wurde, nicht weil es an sich schmerzlich war; und dem Befehl zuwider zu handeln, wäre an sich kein bisschen schmerzlich, gäb’s nicht ein Recht dessen, der die Bestrafung von jenem befohlen hat, der gegen den Befehl verstoßen hat. Wer alle Strafen in seiner eigenen Verfügungsmacht hat, dem kann nicht derart befohlen werden, dass er bei Ungehorsam Schmerz zu erwarten hätte, und folglich kann kein Befehl ein Gesetz für sie sein. Es ist daher ein Irrtum zu glauben, dass die Macht, welche gewissermaßen die gesamte Macht des Gemeinwesens ist, und die, in wem auch immer sie residiert, für gewöhnlich höchste oder souveräne Macht genannt wird, irgendeinem Gesetz unterworfen sei – außer dem des allmächtigen Gottes. 7. Die dritte Meinung, dass die herrschende Gewalt geteilt werden könnte, ist nicht weniger ein Irrtum als die vorherige, wie in Kap. XX, 15 bewiesen wurde. Und wenn es ein Gemeinwesen
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gäbe, in dem die Souveränitätsrechte geteilt wären, dann hätten wir mit Bodin, 292 De Republica, 2. Buch, Kap. 1, einzugestehen, dass sie nicht zu Recht Gemeinwesen zu nennen wären, sondern der Verfall der Gemeinwesen. Denn wenn der eine Teil die Macht haben sollte, die Gesetze für alle zu machen, so würden sie durch ihre Gesetze je nach Lust den anderen verbieten, Frieden oder Krieg zu machen, Steuern einzuheben oder den Lehnseid und die Ehrerbietung ohne ihre Erlaubnis zu leisten; und diejenigen, die das Recht hätten, Frieden und Krieg zu machen und die Miliz zu befehligen, würden die Erlassung anderer Gesetze verbieten, außer solchen, die ihnen selbst gefallen. Und wiewohl Monarchien lange Bestand haben, in denen das Souveränitätsrecht geteilt schien, weil die Monarchie für sich genommen eine dauerhafte Regierungsform ist, so wurden dennoch die Monarchen dadurch zu verschiedenen Zeiten von ihrem Besitztum verdrängt. Aber die Wahrheit ist, dass das Souveränitätsrecht derart ist, dass der oder die, die es haben, auch wenn sie es wollten, keinen Teil davon abgeben und das Übrigen behalten könnten.293 Wenn wir beispielsweise annehmen sollten, dass das Volk von Rom die absolute Souveränität über den römischen Staat gehabt hätte und dass sie sich eine Versammlung mit dem Namen Senat gewählt und diesem Senat die höchste Legislativmacht gegeben, sich selbst nichtsdestotrotz vorbehalten hätte, mit direkten und ausdrücklichen Worten, das ganze Recht und den Herrschaft stitel zu behalten (was leichthin unter denen geschehen kann, die keinen Blick haben für die untrennbare Verbindung zwischen der souveränen Macht und der Gesetzgebungsmacht), dann sage ich, dass diese Gewährung des Volkes dem Senat gegenüber ohne jede Wirkung ist und dass die Macht zur Gesetzgebung immer noch beim Volk liegt. Denn der Senat würde so etwas als Wille und Absicht des Volkes verstehen, sich die Souveränität zurückzubehalten, und sollte nicht für gewährt erachten, was dazu im Widerspruch steht und aus Irrtum erlassen wurde. Denn (Kap. XIII, 9) bei widersprüchlichen Versprechungen wird dem, was
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direkt versprochen ist, der Vorzug gegenüber dem gegeben, was seiner Konsequenz nach dazu im Gegensatz steht, denn die Wirkung einer Sache wird nicht immer so beachtet wie die Sache selbst. Der Irrtum in Hinsicht auf die gemischte Regierung erwuchs aus dem Mangel an Verständnis darüber, was mit dem Wort politischer Körper gemeint ist und dass er nicht die Eintracht, sondern die Vereinigung vieler Menschen kennzeichnet. Und obwohl in den Satzungen untergeordneter Körperschaften eine Körperschaft zu einer juristischen Person erklärt wird, so ist davon doch beim Körper eines Gemeinwesens oder einer Stadt noch nichts bemerkt worden, noch haben irgendwelche dieser unzähligen politischen Autoren irgendeine solche Vereinigung vermerkt.294 8. Die vierte Anschauung, wonach die Untertanen gesondert voneinander ihr meum [Mein], tuum [Dein] und suum [Sein] beim Eigentum nicht nur aufgrund der souveränen Macht über alle hätten, sondern auch gegenüber dem Souverän selbst, wodurch sie so tun, als ob sie der öffentlichen Hand nichts oder doch nur so viel, wie es ihnen beliebt, beizutragen hätten, wurde schon durch den Beweis der Absolutheit der Souveränität widerlegt und noch genauer in Kap. XXIV, 2, und er erwächst daraus, dass sie nicht ordentlich verstehen, dass vor der Errichtung einer souveränen Macht das meum [Mein] und tuum [Dein] kein Eigentumsrecht beinhaltete, sondern eine Gemeinschaft bestand, wo jeder Mensch ein Recht auf jede Sache hatte und im Kriegszustand mit jedermann stand.295 9. Die fünfte Ansicht, dass das Volk ein von ihm oder ihnen, denen die Souveränität über sie zukommt, getrennter Körper ist, wurde schon als Irrtum widerlegt, Kap. XXI, 11, wo gezeigt wird, dass wenn die Menschen sagen: Das Volk rebelliert, darunter nur jene Individuen zu verstehen sind und nicht die ganze Nation. Und wenn das Volk irgendeine Sache auf andere Art fordert als durch die Stimme der souveränen Macht, dann ist das nicht die Forderung des ganzen Volkes, sondern nur diejenige einzelner
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Personen; und dieser Irrtum erwächst aus der Mehrdeutigkeit des Wortes Volk. 10. Schlussendlich ist die Anschauung, dass der Tyrannenmord rechtmäßig wäre, wobei mit einem Tyrannen irgendein Mensch gemeint ist, dem das Souveränitätsrecht zukommt, nicht weniger falsch und schädlich für die menschliche Gesellschaft, als sie in den Schriften dieser Moralphilosophen, Senecas296 und anderer, die so sehr geschätzt werden unter uns, häufig ist. Denn wenn ein Mensch das Souveränitätsrecht hat, kann er billigerweise nicht bestraft werden, wie bereits des öfteren gezeigt wurde, und umso weniger abgesetzt oder zu Tode gebracht werden. Und wie sehr er die Bestrafung auch verdienen mag, so ist doch die Bestrafung unberechtigt ohne vorangehendes richterliches Urteil, und das Urteil ist unberechtigt ohne die Macht der Gerichtsbarkeit, die der Untertan über den Souverän nicht hat. Aber diese Lehre kommt von den griechischen Schulen und von denen, die in Rom juristische Schriftstücke verfasst haben, wo nicht nur der Name eines Tyrannen, sondern auch der eines Königs hassenswert war.297 11. Neben der Unzufriedenheit und der Vortäuschung von Recht, welche einen Menschen zur Rebellion geneigt machen, bedarf es an dritter Stelle der Hoff nung auf Erfolg, 298 die aus vier Punkten besteht: 1. Dass die Unzufriedenen eine einvernehmliche Haltung haben; 2. dass sie in genügender Anzahl vorhanden sind; 3. dass sie Waffen haben; 4. dass sie sich auf ein Haupt einigen. Denn diese vier Dinge müssen zusammentreffen, um einen einheitlichen Rebellionskörper zu schaffen, in dem die gemeinsame Haltung sein Leben, die Menge der Leute seine Glieder, die Waffen seine Stärke und ein Kopf die Einigkeit ist, durch die sie zu ein und derselben Tat geführt werden. 12. Die Urheber einer Rebellion, die Menschen also, die in anderen diese Geneigtheit zur Rebellion hervorrufen, müssen notwendigerweise über drei Qualitäten verfügen: Sie müssen 1. selbst unzufrieden, 2. Menschen von erbärmlichem Urteils- und Auf-
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nahmevermögen und 3. beredt oder gute Redner sein. Betreffs ihrer Unzufriedenheit wurde ja schon erklärt, woher diese kommen kann; und für das zweite und dritte werde ich jetzt zunächst zeigen, wie sie zusammen bestehen können; denn es scheint ein Widerspruch zu sein, bei ein und demselben Menschen geringe Urteilskraft und große Beredsamkeit oder, wie man es nennt, kraft volles Sprechen zu verorten; und danach, in welcher Art und Weise beide zusammenwirken, um andere Menschen zum Aufruhr zu veranlassen. 13. Von Sallust 299 ist vermerkt worden, dass Catilina (der Urheber des größten Aufruhrs, den Rom je gesehen hat) über Eloquentiæ satis, sapientiæ parum verfügte, über ausreichende Beredsamkeit, nicht aber über genug Weisheit. Und vielleicht wurde das über Catilina gesagt, weil er eben Catilina war. Aber es traf auf ihn zu, soweit er der Urheber der Verschwörung war. Denn die Verbindung dieser zwei Eigenschaften machten ihn nicht zu Catilina, sondern aufrührerisch. Und wenn von daher verstanden werden kann, wie der Mangel an Weisheit und der Vorrat an Beredsamkeit zusammen bestehen können, so haben wir darüber nachzudenken, was das ist, das wir Weisheit nennen, und was Beredsamkeit ist. Und deshalb sollte ich hier nochmals an einige Dinge erinnern, die schon in den Kap. V und VI gesagt wurden. Es ist offensichtlich, dass Weisheit in Wissen besteht. Nun gibt es zwei Arten von Wissen, wovon die eine die Erinnerung an solche Dinge ist, die wir durch unsere Sinne aufgenommen haben, und an die Reihenfolge, in der sie eins nach dem anderen aufeinander folgen. Und dieses Wissen wird Erfahrung genannt; und die Weisheit, die daraus herrührt, ist die Fähigkeit, durch die Gegenwart zu vermuten, was vergangen ist und was zukünft ig, was die Menschen Klugheit nennen. Weil es so ist, ist auch gegenwärtig offensichtlich, dass der Urheber eines Aufruhrs, wer auch immer es sein mag, nicht klug sein darf. Denn wenn er darüber nachdenkt und seine Erfahrungen betreffend den Erfolg, den sie gehabt haben, und wer die Anstifter und Urheber entweder in
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diesem oder in irgendeinem anderen Staat des Aufruhrs waren, als das nimmt, was sie sind, dann würde er darauf stoßen, dass auf einen Mann, der dadurch sich selbst zu Ehren bringen wollte, zwanzig zu einem schändlichen Ende gekommen sind. Die andere Art des Wissens ist die Erinnerung an die Namen oder Bezeichnungen von Dingen und wie jedes Ding genannt wird, was bei den Themen des alltäglichen Gesprächs nichts anderes ist als die Erinnerung an Abkommen und Verpflichtungen unter den Menschen, die sie untereinander hinsichtlich der Frage, wie man sich wechselseitig verstehen könne, geschlossen haben. Und diese Art des Wissens wird allgemein Wissenschaft genannt300 und die Schlussfolgerung daraus Wahrheit. Wenn sich aber die Menschen nicht daran erinnern, wie die Dinge durch allgemeine Übereinkunft bezeichnet werden, sondern sie missverstehen oder falsch bezeichnen oder sie nur aus Zufall zutreffend benennen, dann lässt sich nicht sagen, dass sie über Wissenschaft verfügen, sondern, dass sie eine Meinung haben; und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sind unsicher und zum größten Teil irrig. Die Wissenschaft nun im Besonderen, von der die wahren und augenscheinlichen Folgerungen darüber herrühren, was richtig ist und was falsch und was gut und was schmerzvoll ist fürs Dasein und für das Wohlbefinden der Menschheit, nennen die Lateiner sapientia und wir mit dem allgemeinen Namen Weisheit. Denn im Allgemeinen wird nicht der ein weiser Mensch genannt, der über Geschicklichkeit auf dem Gebiet der Geometrie oder irgendeiner anderen grüblerischen Wissenschaft verfügt, sondern nur der, der das versteht, was zum Wohl und zur Regierung des Volkes beiträgt. Dass nun kein Urheber eines Aufruhrs weise im Sinne dieses Wortes sein kann, ist ausreichend bewiesen, denn es ist schon dargestellt worden, dass kein Vorwand für einen Aufruhr richtig oder gerecht sein kann; und deshalb dürften die Urheber eines Aufruhrs keine Kenntnis über das Recht des Staates haben, das heißt unweise sein. Es bleibt daher, dass sie solche sind, die die Dinge nicht entsprechend ihren wahren und allgemein ver-
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einbarten Namen benennen, sondern sie richtig und falsch, gut und schlecht ihren Leidenschaften entsprechend nennen oder in Übereinstimmung mit der Autorität derer, die sie bewundern, wie etwa Aristoteles, Cicero, Seneca und andere von ähnlichem Ansehen, die die Namen richtig und falsch vergeben haben, je nachdem, wie es ihnen ihre Leidenschaften diktiert haben; oder dass sie der Autorität anderer gefolgt sind, so wie wir ihrer folgen. Für den Urheber eines Aufruhrs ist es daher erforderlich, dass er das für richtig hält, was falsch ist, und für nützlich, was schädlich ist; und dass in ihm folglich sapientiæ parum, wenig Weisheit zu eigen ist.301 14. Beredsamkeit ist nichts anderes als die Macht, Glauben dafür zu gewinnen, was wir sagen; und zu diesem Zweck bedürfen wir der Hilfe durch die Leidenschaften der Zuhörer. Um die Wahrheit zu beweisen und zu lehren, bedarf es langer Ableitungen und großer Aufmerksamkeit, was den Zuhörern unbequem ist, weshalb diejenigen, die nicht nach Wahrheit, sondern nach Glauben suchen, einen anderen Weg einschlagen müssen; sie müssen nämlich nicht nur das, was man sie glauben machen will, von dem ableiten, was sie schon glauben, sondern es auch durch Übertreibungen und Beschönigungen gut und schlecht, richtig und falsch, groß oder klein erscheinen lassen, je nachdem, wie es ihren Drehungen dienlich ist. Die Macht der Beredsamkeit ist derart groß, dass dadurch häufig ein Mensch in den Glauben versetzt wird, er würde fühlbar Schmerz und Schaden empfi nden, wenn er gar keinen spürt, und in Wut und Empörung verfallen, ohne dafür eine andere Ursache zu haben als das, was in den Worten und der Leidenschaft des Sprechers liegt. Dieser Hintergrund zusammengenommen mit dem Geschäft, das derjenige auszuführen hat, der Urheber des Aufruhrs ist, nämlich die Menschen glauben zu machen, dass ihre Rebellion gerecht sei, dass ihrer Unzufriedenheit große Ungerechtigkeiten zugrunde liegen und dass ihre Hoff nungen groß seien, braucht es nichts weiter, um zu beweisen, dass niemand der Urheber eines Aufruhrs sein kann, der nicht ein bered-
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ter und machtvoller Sprecher ist und obendrein (wie zuvor gesagt wurde) ein Mensch von geringer Weisheit. Denn die Fähigkeit, machtvoll zu sprechen, besteht in der aus der Zusammenstellung leidenschaft licher Worte gewonnenen Angewohnheit, diese auf die gegenwärtigen Leidenschaften der Zuhörer anzuwenden. 15. Wenn also Beredsamkeit und der Mangel an Besonnenheit zum Aufrühren der Rebellion beitragen, so kann gefragt werden, in welcher Rolle beide darin wirken? Die Töchter Pelias’, des Königs von Thessalien, wünschten ihrem vom Alter geschwächten Vater die Frische seiner Jugend wiederherzustellen, hackten ihn auf den Rat Medeas in Stücke und setzten ihn mit was weiß ich für Kräutern zum Kochen in einen großen Kessel, konnten ihn aber nicht wieder zum Leben erwecken.302 Wenn also Beredsamkeit und der Mangel an Urteilsvermögen zusammenkommen, dann führt der Mangel an Urteilsvermögen, ähnlich den einwilligenden Töchtern des Pelias’, durch Beredsamkeit, die wie Medeas Hexerei ist, infolge von Vortäuschung oder Hoff nung auf Umgestaltung, die aber, wenn die Dinge in Brand stehen, nicht fähig sind, ein Ergebnis zu zeitigen, zur Spaltung des Gemeinwesens in einzelne Stücke.
K apitel XXVIII Von den Pflichten der er, die sou ver äne Macht haben 303 1. Bis zu dieser Stelle habe ich gezeigt, wie ein politischer Körper gebildet wird und wie er zerstört werden kann; an dieser Stelle ist es erforderlich, etwas über seine Erhaltung zu sagen. Dabei beabsichtige ich nicht, in die Einzelheiten der Regierungskunst einzutreten, sondern will nur die allgemeinen Hauptpunkte zusammenfassen, in denen diese Kunst anzuwenden ist und worin die Pflicht dessen oder derer besteht, die die herrschende Gewalt innehaben. Denn die Pflicht eines Souveräns besteht in der guten
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Regierung des Volks; und wenn auch die Taten der herrschenden Gewalt keine Rechtsverletzungen gegenüber den Untertanen sind, diese haben ihnen ja durch ihre stillschweigende Einwilligung zugestimmt, so sind dieselben doch, wenn sie dazu tendieren, das Volk im Allgemeinen zu verletzen, Verstöße gegen das natürliche Recht und gegen das göttliche Gesetz. Und folglich stellen die gegenteiligen Taten die Pfl ichten der Herrscher dar und sind ihnen durch Gott den Allmächtigen bei Strafe ewiger Verdammnis persönlich bis zum Äußersten ihres Bemühens vorgeschrieben. Und wie die Kunst und die Pflicht der Herrscher in diesem Tun besteht, so tut es auch ihr Nutzen. Denn der Zweck der Kunst ist Nutzen; und das Regieren zum Nutzen der Untertanen ist das Regieren zum Nutzen des Souveräns, wie in Kap. XXIV, 1 gezeigt wurde. Und diese drei, nämlich 1. das Gesetz über denen, die souveräne Macht haben; 2. ihre Pflicht; 3. ihr Nutzen, sind ein und dieselbe Sache, enthalten in dem Satz Salus populi suprema lex [Das Wohl des Volkes sei das höchste Gesetz]304, worunter nicht nur die bloße Erhaltung ihrer Leben, sondern ganz allgemein ihr Vorteil und ihr Wohl zu verstehen ist.305 Dies also ist das allgemeine Gesetz für Herrscher: Dass sie bis zum Äußersten ihres Bemühens das Wohl des Volkes herbeiführen.306 2. Und insofern das ewige Wohl besser ist als das zeitliche, ist es einleuchtend, dass diejenigen, die im Besitz der souveränen Autorität sind, durch das natürliche Recht verpflichtet sind, die Herstellung all jener Lehren und Richtlinien und die Ausübung aller solcher Handlungen zu fördern, die sie ihrem Gewissen nach für den wahren Weg dazu halten. Denn wenn sie dies nicht tun, dann kann nicht wirklich gesagt werden, dass sie das Äußerste ihrer Bemühung getan haben. 3. Das weltliche Wohl des Volkes besteht in vier Dingen: 1. Menge; 2. Lebensqualität; 3. innerer Friede. 4. Verteidigung nach außen. Hinsichtlich der Bevölkerung ist es die Pflicht derjenigen, denen die souveräne Autorität zukommt, für ein Anwachsen des Volkes zu sorgen, da sie die Statthalter der Menschheit unter Gott dem
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Allmächtigen sind, der nicht nur einen Mann und eine Frau geschaffen hat, sondern seinen Willen bekundet hat, dass sie sich vervielfachen und anschließend mehren sollten. Da dies durch Anordnungen betreffend die Paarung zu geschehen hat, sind sie durch das natürliche Recht dazu verbunden, diesbezüglich solche Anordnungen zu erlassen, die zu einem Anwachsen der Menschheit führen können. Daraus ergibt sich für diejenigen, denen die souveräne Autorität zukommt, dass es gegen das natürliche Recht verstößt, Begattungen nicht zu verbieten, wenn diese dem natürlichen Gebrauch zuwiderlaufen; den promiskuitiven Gebrauch von Frauen nicht zu verbieten; einer Frau nicht zu verbieten, mehrere Ehemänner zu haben; und nicht das Heiraten zu verbieten, wenn dies innerhalb gewisser Grade der Verwandtschaft und Verschwägerung geschieht. Denn wenn es auch nicht offensichtlich ist, dass ein Privater, der nur unter dem Gesetz natürlicher Vernunft lebt, gegen dieses verstößt, wenn er derartige Dinge treiben würde, so erscheint es doch offensichtlich, dass jene Dinge, so nachteilig diese für den Fortschritt der Menschheit sind, nicht zu verbieten, für denjenigen wider die natürliche Vernunft ist, der es in seine Hände genommen hat, einen bestimmten Anteil der Menschheit zu verbessern.307 4. Lebensqualität besteht aus Freiheit und Wohlstand. Unter Freiheit verstehe ich, dass keinem Menschen irgendetwas ohne Notwendigkeit verboten ist, was ihm unter dem natürlichen Recht erlaubt war; das heißt, dass es eine Einschränkung der natürlichen Freiheit nur so weit gibt, als dies für das Wohl des Gemeinwesens unabdingbar ist, und dass wohlmeinende Menschen nicht der Gefährdung durch die Gesetze ausgesetzt werden können, wie in Fallstricken, ehe sie derer gewahr werden.308 Zu dieser Freiheit gehört es auch, dass ein Mensch freizügig von Ort zu Ort wechseln kann und dass er nicht durch Unwegsamkeit und Mangel an Transportmitteln für notwendige Dinge gefangen oder begrenzt wird. Und was den Wohlstand betrifft, so besteht dieser aus drei Dingen: der guten Regelung des Handels, dem Beschaffen von
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Arbeit und dem Verbot des überflüssigen Verbrauchs von Nahrungsmitteln und Bekleidung. Es sind daher all diejenigen, denen die souveräne Autorität zukommt und die für sich die Regierung des Volkes übernommen haben, durch das natürliche Recht gehalten, in den gerade genannten Punkten Anordnungen zu treffen. Es liefe dem natürlichen Recht ohne Not zuwider, entweder aus seiner eigenen Laune heraus, die Menschen derart zu fesseln oder festzubinden, dass sie sich nicht mehr ohne Gefahr bewegen können, oder sie, deren Erhaltung doch unser Nutzen ist, dadurch zu Schaden kommen zu lassen, dass wir sie irgendetwas für sie Notwendiges durch unsere Nachlässigkeit entbehren lassen.309 5. Für die Erhaltung des Friedens zuhause sind notwendigerweise so viele Dinge zu berücksichtigen und Anordnungen zu treffen, wie es verschiedene Ursachen gibt, die bei einem Aufruhr zusammenwirken. Zunächst ist es nötig, jedem Untertanen sein Eigentum, gewisse Landstücke und Güter zuzuweisen, über die er verfügen und woraus er den Vorteil aus seiner eigenen Betriebsamkeit ziehen kann; geschieht dies nicht, würden diese Menschen übereinander herfallen wie die Hirten Abrahams und Lots, jeder Mensch würde den gemeinsamen Nutzen beeinträchtigen und sich so viel wie möglich davon aneignen, was zu Zerwürfnis und Aufruhr führt. Zweitens tut es Not, die Bürden und Kosten des Gemeinwesens verhältnismäßig zu teilen. Nun gibt es eine Verhältnismäßigkeit nach jedermanns Fähigkeit und eine Verhältnismäßigkeit nach seinem Vorteil, den er aus dem Gemeinwesen zieht; Letzteres ist es, was dem natürlichen Recht entspricht. Denn die Lasten des Gemeinwesens sind der Preis, den wir für den Vorteil daraus zahlen, und entsprechend sollten sie auch bemessen werden. Und es besteht kein Grund, wenn sich zwei Menschen an den Vorteilen des Gemeinwesens in gleichem Maß erfreuen, ihrem Frieden und ihrer Freiheit, aus dem Einsatz ihres Fleißes ihr Leben zu bestreiten, warum sie nicht in gleichem Maße zu den gemeinsamen Kosten beitragen sollten, auch wenn der eine spart und etwas zur Seite legt und der an-
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dere alles ausgibt, was er einnimmt. Es scheint daher der gleichheitskonformste Weg zu sein, die Lasten öffentlicher Kosten zu teilen, wenn jeder Mensch entsprechend seinen Ausgaben und nicht entsprechend seinen Einnahmen beiträgt; und dies wird dann getan, wenn die Menschen den Anteil für das Gemeinwesen in den Ausgaben leisten, die sie für ihre eigene Versorgung tätigen.310 Das scheint nicht nur in höchstem Maße der Gleichheit zu entsprechen, sondern auch am wenigsten spürbar zu sein und den Geist derer, die zu zahlen haben, am geringsten aufzuregen. Denn wenn es ums Geld für die Allgemeinheit geht, dann reizt den Ärger nichts so sehr wie das Gefühl, man sei zu hoch eingeschätzt, und dass die Nachbarn, die sie beneiden, sie daraufhin auch noch beleidigen, was sie wiederum zu Widerstand und (nachdem solch ein Widerstand Unheil angerichtet hat) zur Rebellion geneigt macht.311 6. Eine andere Sache, die für die Aufrechterhaltung des Friedens notwendig ist, stellt die gehörige Vollstreckung der Justiz dar. Diese besteht vornehmlich in der richtigen Ausführung ihrer Pflichten, also am Anteil derer, die dafür als Amtswalter (magistrates) von und unter der Autorität der souveränen Macht bestellt wurden. Sie sind im Verhältnis zum Souverän Privatleute312 und können folglich private Zwecke verfolgen, wobei sie durch Geschenke oder durch Fürsprachen von Freunden korrumpiert sein können, sodass ihnen durch eine höhere Macht Furcht eingeflößt werden sollte, damit es die Leute, verärgert durch das Unrecht, nicht selbst übernehmen, ihre eigene Rache zu nehmen, was den gemeinsamen Frieden beeinträchtigen würde. Es lässt sich dies bei den ersten und unmittelbaren Amtswaltern keinesfalls ohne eigene Gerichtsbarkeit des Souveräns oder eine außerordentliche, von ihm übertragene Macht vermeiden. Deshalb ist es nötig, dass es eine außerordentliche Gewalt gibt, wenn von Zeit zu Zeit Anlass dafür besteht, Richter und andere Amtswalter zurechtzuweisen, die ihre Machtbefugnis zum Nachteil und zur Unzufriedenheit des Volkes missbrauchen, und einen freien und offenen Weg
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zu ihm oder zu denen, die die souveräne Autorität innehaben, um Beschwerden vorzulegen. 7. Neben diesen Überlegungen, durch die den Unzufriedenheiten, welche aus der Unterdrückung erwachsen, vorgebeugt wurde, sollte es auch einige Mittel geben, um diejenigen niederzuhalten, die durch Ehrgeiz zur Rebellion geneigt sind; diese bestehen vornehmlich in der Beständigkeit dessen, dem die herrschende Gewalt zukommt. Dieser sollte deshalb unentwegt jenen Gunst und Ermutigung zuteil werden lassen, die fähig sind, dem Gemeinwesen zu dienen, sich selbst aber innerhalb der Schranken der Gemäßigtheit halten, ohne dass sie über die Autorität derer murren, die tätig sind, und ohne dass sie die Irrtümer verschlimmern, die diese (als Menschen) begehen, besonders dann, wenn nicht ihre eigenen Belange darunter leiden; und sie sollten beständig Missvergnügen und Missfallen dem Gegenteiligen gegenüber zeigen. Und nicht nur dadurch, sondern es müssen auch heft ige Strafen für diejenigen angeordnet werden, die durch den Tadel öffentlicher Handlungen Popularität und Applaus unter der Menge erheischen, wodurch sie in den Stand gesetzt wären, im Gemeinwesen über eine ihnen ergebene Parteiung zu verfügen. 8. Eine weitere unerlässliche Sache ist es, dass aus den Gewissen aller Menschen jene Ansichten herausgerissen werden, die dem Recht zu rebellischen Handlungen den Anschein von Rechtfertigung und einen Vorwand geben; solche sind etwa die Ansicht, dass ein Mensch rechtmäßig nichts gegen sein persönliches Gewissen tun könne; dass diejenigen, denen die Herrschaft zukommt, den bürgerlichen Gesetzen unterworfen wären; dass es irgendeine Autorität der Untertanen gäbe, deren Ablehnung die Bestätigung durch die herrschende Gewalt hindern könnte; dass irgendein Untertan ein von der Herrschaft des Gemeinwesens gesondertes Eigentum hätte; dass es einen Volkskörper ohne denjenigen geben würde, dem die souveräne Macht zukommt; und dass einem rechtmäßigen Souverän Widerstand entgegengesetzt werden dürfte, wenn er mit dem Namen Tyrann bezeichnet
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wird; all das sind Ansichten, die Kap. XXVII, 5 bis 10 zufolge die Menschen zur Rebellion geneigt machen. Und weil Meinungen, die man durch die Erziehung erhalten hat und die über die Zeit gewohnheitsmäßig geworden sind, nicht durch Gewalt und über Nacht entfernt werden können, deshalb müssen sie auch über die Zeit und durch Erziehung beseitigt werden. Da die angeführten Meinungen aus privatem und öffentlichem Unterricht herrühren und diese Lehrer sie von Grundlagen und Prinzipien empfangen haben, die sie auf der Universität313 durch die Lehren von Aristoteles und anderen gelernt haben (die in Hinsicht auf Moral und Politik nichts Beweisbares hinterlassen haben, sondern in leidenschaft licher Abhängigkeit von einer volkstümlichen Regierung ihre Ansichten durch beredsame Spitzfindigkeit [sophistry]314 eingeflüstert haben), so besteht kein Zweifel, dass wenn die wahrhafte Lehre betreffend das natürliche Recht, die Bestandteile eines politischen Körpers und die Natur des Rechts im Allgemeinen verständlich niedergelegt und in den Universitäten gelehrt würden, dass dann die jungen Leute, die frei von Voreingenommenheit dorthin kommen und deren Geister bis dahin gleich einem weißen Blatt Papier sind, aufnahmefähig für jedwede Belehrung, diese dann mit größerer Leichtigkeit empfangen und sie anschließend den Menschen lehren würden, sowohl in Büchern als auch auf andere Weise, als sie es jetzt auf gegenteilige Art tun. 9. Zuletzt ist von diesem höchsten Gesetz, salus populi [Wohl des Volkes], die Verteidigung umfasst. Zum Teil besteht sie im Gehorsam und in der Vereinigung der Untertanen, von der schon gesprochen wurde315 und worunter die Mittel zur Aushebung von Soldaten, das Vorhandensein von Geld, Waffen, Schiffen und befestigten, verteidigungsbereiten Orten fällt; und teilweise die Vermeidung unnötiger Kriege. Denn die Gemeinwesen oder die Monarchien, die den Krieg um seiner selbst willen provozieren, das heißt aus Ehrgeiz oder aus Ruhmsucht, oder die darauf zählen, jede kleine Versehrung oder Schande zu rächen, die ihnen durch ihre Nachbarn zugefügt wurde, um deren Schicksal muss
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es, wenn sie sich nicht selbst ruinieren, besser bestellt sein, als zu erwarten sie einen Grund haben.
K apitel X XIX Von der Natur u nd den Arten der Gesetze 316 1. Soweit also, was die menschliche Natur und den Aufbau und die Bestandteile des politischen Körpers betrifft. Für das letzte Kapitel verbleibt nur, über die Natur des Gesetzes und dessen Arten zu sprechen. Zunächst ist es offensichtlich, dass alle Gesetze Kundgebungen des Geistes sind, die zukünft ige Handlungen betreffen, entweder solche, die zu tun, oder solche, die zu unterlassen sind. Und alle Kundgebungen und Äußerungen des Geistes, die zukünft ige Handlungen und Unterlassungen betreffen, sind entweder versprechend (promissive), wie »Ich werde tun« oder »Ich werde nicht tun«, oder sie sind vorausschauend (provisive), wie zum Beispiel: »Wenn dies getan oder nicht getan wird, dann wird dies folgen«, oder sie sind befehlend (imperative), wie »Tu das!« oder »Tu das nicht!« In der ersten Sorte dieser Ausdrücke liegt die Natur der Verpfl ichtung, in der zweiten die Natur des Ratschlags, in der dritten die des Befehls. 2. Es ist augenscheinlich, dass wenn ein Mensch irgendeine Handlung vollzieht oder es unterlässt, sie zu tun, und wenn er dazu durch seine eigene Abwägung bewegt wurde, dass dieselbe an sich entweder gut oder schlecht ist und dass es keinen Grund gibt, warum der Wille oder die Befriedigung eines anderen von irgendeinem Gewicht in seiner Überlegung sein sollte; es ist dann weder das abgewogene Tun noch das Unterlassen irgendein Gesetzesbruch. Und folgerichtig berücksichtigt das, was auch immer für einen Menschen ein Gesetz ist, den Willen eines anderen und dessen Erklärung. Eine Verpflichtung (covenant) ist aber die Erklärung über eines Menschen eigenen Willen. Und deshalb unter-
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scheiden sich ein Gesetz und eine Verpflichtung. Und auch wenn sie beide verpflichtend sind und ein Gesetz ebenso verpflichtet, wie dies die Wirksamkeit irgendeiner Verpflichtung tut, die von einem eingegangen wurde, der er nun unterworfen ist, so verpfl ichten sie doch durch verschiedene Arten von Versprechen. Denn eine Verpfl ichtung verpfl ichtet durch das Versprechen einer in besonderer Weise bezeichneten und beschränkten Handlung oder deren Unterlassung; aber ein Gesetz bindet ganz allgemein durch das Versprechen des Gehorsams, wodurch sich die zu setzende oder zu unterlassende Handlung auf die Entscheidung dessen bezieht, gegenüber dem die Verpfl ichtung eingegangen wurde. Der Unterschied zwischen einer Verpflichtung und einem Gesetz besteht also darin: Bei einfachen Verpflichtungen ist die zu setzende oder zu unterlassende Handlung zunächst beschränkt und bekannt und erst dann folgt das Versprechen, etwas zu tun oder nicht zu tun; aber bei einem Gesetz liegt die Verpflichtung, etwas zu tun oder nicht zu tun, davor, und die Kundmachung dessen, was zu tun oder nicht zu tun ist, folgt erst danach. 3. Und daraus kann abgeleitet werden, was manchen paradox erscheinen mag: dass der Befehl von dem, dessen Befehl in einer Sache Gesetz ist, in jeder Hinsicht ein Gesetz ist. Denn wenn ein Mensch schon zu Gehorsam verpfl ichtet ist, noch bevor ihm bekannt ist, was er zu tun hat, dann ist er ganz allgemein verpflichtet zu gehorchen, das heißt, in jeder Sache. 4. Dass der Ratschlag eines Menschen kein Gesetz für denjenigen ist, der sich beraten lässt, und dass der, der einem anderen erlaubt, ihm einen Rat zu geben, sich dadurch nicht verpflichtet, diesem Rat zu folgen, das versteht sich von selbst. Dennoch benennen die Leute für gewöhnlich die Beratung mit dem Namen »regieren«. Nicht, dass sie nicht fähig wären, zwischen den beiden zu unterscheiden, sondern weil sie es oft mals den Menschen neiden, die Berater genannt werden, und deshalb ärgerlich gegenüber denjenigen sind, die beraten werden. Wenn aber Beratern das Recht eingeräumt werden sollte, dass ihren Ratschlägen zu folgen sei,
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dann sind sie keine Berater mehr, sondern die Herren derjenigen, die sie beraten, und ihre Ratschläge sind keine Ratschläge mehr, sondern Gesetze. Denn der Unterschied zwischen einem Gesetz und einem Ratschlag besteht nur darin, dass bei einem Ratschlag der Ausdruck »Tu es, weil es das Beste ist« lautet, bei einem Gesetz aber »Tu es, weil ich das Recht habe, dich zu zwingen«, oder »Tu es, weil ich es sage«. Sollte der Ratschlag die Begründung für die anempfohlene Handlung geben, wird er selbst der Grund dafür und ist kein Ratschlag mehr, sondern ein Gesetz. 5. Die Bezeichnungen lex und jus, das heißt Gesetz und Recht, werden oft mals durcheinander gebracht;317 und doch gibt es kaum irgendwelche zwei Wörter von gegenteiligerer Bedeutung. Denn Recht ist diejenige Freiheit, die das Gesetz uns lässt; und die Gesetze sind diejenigen Hindernisse, durch die wir in wechselseitiger Übereinstimmung die Freiheit des anderen einschränken. Gesetz und Recht sind daher nicht weniger verschieden als Schranke und Freiheit, die einander entgegengesetzt sind. Und was auch immer ein Mensch jure [dem Recht nach] tut, der in einem Gemeinwesen lebt, das tut er jure civile (nach bürgerlichem Recht], jure naturæ [nach natürlichem Recht] und jure divino [nach göttlichem Recht]. Was auch immer irgendeinem dieser Rechte zuwider läuft, von dem kann nicht gesagt werden, es sei jure [dem Recht nach]. Denn das bürgerliche Recht kann nicht das Getane zu jure machen, was gegen das göttliche oder natürliche Recht ist. Und daher ist das, was auch immer ein Untertan tut, wenn es nicht dem bürgerlichen Recht widerspricht, und das, was auch immer ein Souverän tut, wenn es nicht gegen das natürliche Recht verstößt, jure divino, durch göttliches Recht getan. Aber zu sagen lege divinâ, durch göttliches Gesetz, ist eine andere Sache. Denn den Gesetzen Gottes und der Natur gegenüber kommt uns eine größere Freiheit zu als gegenüber den bürgerlichen Gesetzen (denn untergeordnete Gesetze binden immer noch mehr als die übergeordneten Gesetze, da das Wesen des Gesetzes nicht darin liegt zu entbinden, sondern zu fesseln). Es kann einem Menschen
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etwas durch das bürgerliche Gesetz befohlen sein, was weder vom Gesetz der Natur noch vom göttlichen Gesetz angeordnet wird. In Hinsicht auf die Dinge, die lege [nach Gesetz] getan werden, das heißt durch den Befehl des Gesetzes, besteht etwas Platz für die Unterscheidung zwischen lege divinâ [göttlichem Gesetz] und lege civili [bürgerlichem Gesetz]. Etwa im Falle, dass ein Mensch ein Almosen gibt oder dem hilft, der in Not ist, dann tut er dies nicht lege civili, sondern lege divinâ, entsprechend göttlichem Gesetz, dem Gebot der Nächstenliebe folgend. Aber von den Dingen, die jure getan werden, kann in keinem Fall gesagt werden, dass das, was jure divino, nicht auch jure civili getan wird, es sei denn, es wird von denen getan, denen die herrschende Gewalt zukommt und die dem bürgerlichen Gesetz nicht unterworfen sind. 6. Die Unterschiedlichkeit der Gesetze entspricht entweder den Unterschieden zwischen den Urhebern und den Gesetzgebern oder den Arten ihrer Verkündung oder derjenigen, die ihnen unterworfen sind. Von der Verschiedenheit der Urheber oder Gesetzgeber kommt die Unterteilung in göttliches, natürliches und bürgerliches Gesetz. Von der Unterschiedlichkeit der Verkündung stammt die Unterteilung in geschriebene und ungeschriebene Gesetze. Und von den unterschiedlichen Personen, auf die sich das Gesetz bezieht, rührt es her, dass einige Gesetze einfache Gesetze genannt werden und andere Strafgesetze. Zum Beispiel: »Du sollst nicht stehlen« ist einfach ein Gesetz; dies aber: »Wer einen Ochsen stiehlt, der soll ihn vierfach ersetzen« ist ein Strafgesetz318 oder, wie andere es nennen, ein peinliches Gesetz. Nun ist in diesen Gesetzen, die einfache Gesetze sind, der Befehl an jeden Menschen gerichtet; aber in Strafgesetzen ist der Befehl an den Magistrat gerichtet, der nur dann des Gesetzesbruchs schuldig ist, wenn die angeordneten Strafen nicht verhängt werden; den Übrigen bleibt nichts, als von der Gefahr, in der sie sich befinden, Notiz zu nehmen. 7. Betreffs der ersten Unterteilung in göttliches, natürliches und bürgerliches Recht sind die ersten beiden Zweige ein und dasselbe
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Gesetz. Denn das Gesetz der Natur, das auch das moralische Gesetz ist, ist das Gesetz des Schöpfers der Natur, des allmächtigen Gottes. Und das Gesetz Gottes, gelehrt von unserem Heiland Christus, ist das moralische Gesetz. Denn die Summe von Gottes Gesetz ist: Du sollst über alles lieben und deinen Nachbarn wie dich selbst; und dasselbe ist die Summe des Gesetzes der Natur, wie in Kap. XVIII gezeigt wurde. Und wenn auch die Lehre unseres Heilands aus drei Teilen, die Moral, die Theologie und die Kirche betreffend, bestehen mag, so ist doch nur der erstere Teil, der die Moral darstellt, dem Wesen nach ein allgemeingültiges Gesetz; der letztere Teil ist ein Zweig des bürgerlichen Gesetzes; und der theologische Teil, der die Glaubenspunkte umfasst, die die Göttlichkeit und das Königreich unseres Heilands betreffen, ohne die es keine Erlösung gibt, ist uns ihrem Wesen nach nicht als Gesetze gegeben, sondern als Ratschlag und Anleitung, wie der Bestrafung zu entgehen ist, der die Menschen bei Verletzung des moralischen Gesetzes unterworfen sind. Denn es ist nicht die Ungläubigkeit, die verdammt (auch wenn es der Glaube ist, der rettet), sondern der Verstoß gegen Gottes Gesetz und Befehlen, wie sie zuerst ins Herz des Menschen und danach in Tafeln eingeschrieben und den Juden durch die Hände von Moses gegeben wurden. 8. Im natürlichen Zustand, in dem jeder Mensch sein eigener Richter ist und sich vom anderen in der Benennung und Bezeichnung von Dingen unterscheidet und wo aus diesen Unterschieden Zank und der Bruch des Friedens aufkommt, war es notwendig, ein gemeinsames Maß für alle Dinge zu finden, die dem Streit verfallen konnten; beispielsweise darüber, was richtig, was gut, was Tugend, wie viel, wie wenig, was meum [Mein] und tuum [Dein], was ein Pfund, was ein Quart etc. genannt werden soll. Denn in diesen Dingen können sich die persönlichen Urteile unterscheiden und eine Auseinandersetzung hervorrufen.319 Dieses gemeinsame Maß, sagen einige, sei die rechte Vernunft. Damit würde ich übereinstimmen, wenn so ein Ding gefunden werden
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könnte oder in rerum naturâ [in den natürlichen Dingen] bekannt wäre. Üblicherweise meinen aber diejenigen, die nach der rechten Vernunft rufen, um einen Streit zu entscheiden, ihre eigene. Dies aber ist gewiss, da eine rechte Vernunft nicht existiert, dass die Vernunft irgendeines oder irgendwelcher Menschen stattdessen den Platz einnehmen muss; und dass, wie es bereits bewiesen wurde, diesem einen oder diesen Menschen, mag es einer sein oder mehrere, die herrschende Gewalt zukommen muss.320 Und folgerichtig sind auch die bürgerlichen Gesetze für alle Untertanen die Maßregeln für ihre Handlungen, durch welche zu entscheiden ist, ob sie richtig oder falsch liegen, nutzbringend oder nutzlos, rechtschaffen oder lasterhaft sind; und durch sie soll der Gebrauch und die Bestimmung aller Namen festgelegt werden, über die man sich, was zu Streit führt, nicht geeinigt hat.321 Es soll also beispielsweise nicht durch Aristoteles oder die Philosophen entschieden werden, ob jemand ein Mensch sei oder nicht, sondern durch die Gesetze. Das bürgerliche Gesetz enthält in Fortsetzung der Macht des kirchlichen Regimes, wie es von unserem Heiland allen christlichen Herrschern als seinen unmittelbaren Vertretern gegeben wurde, in sich das kirchliche, als einem Teil davon, wie in Kap. XXVI, 10 gesagt wurde. 9. Nimmt man an, wie es gesagt worden ist, dass alle Gesetze entweder natürliche oder bürgerliche sind, dann kann gefragt werden, auf welches von diesen das Gesetz bezogen werden soll, das Kriegsgesetz (martial law) und von den Römern disciplina militaris genannt wird. Und es kann den Anschein haben, dass es dem natürlichen Gesetz zuzurechnen sei, weil die Gesetze, durch die eine Menge von Soldaten in einer Armee regiert werden, nicht beständig sind, sondern je nach Gelegenheit andauernd wechseln; und ein Gesetz ist doch, was Vernunft für die Gegenwart ist, und Vernunft ist das Gesetz der Natur. Es ist nichtsdestotrotz wahr, dass das Kriegsgesetz ein bürgerliches Gesetz ist, weil eine Armee ein politischer Körper ist, ihre ganze Macht liegt im General, und ihre Gesetze sind von ihm gemacht. Und wenn sie auch immer
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dem folgen und so wechseln, wie es die Vernunft erfordert, so ist es doch nicht die Vernunft eines jeden Privatmannes (wie beim natürlichen Recht), sondern so, wie es die Vernunft des Generals erfordert. 10. Wenn der oder die, in denen die souveräne Macht eines Gemeinwesens liegt, Gesetze für die Regierung und die gute Ordnung des Volkes erlassen, dann ist es nicht möglich, dass diese alle Streitfälle, die entstehen können, noch etwa vielleicht ihre beträchtliche Vielfältigkeit, umfassen sollten; sondern wie die Zeit sie durch das Aufbrechen neuer Anlässe unterweist, so sind auch die Gesetze von Zeit zu Zeit zu erlassen. Und in solchen Fällen, in denen keine speziellen Gesetze gemacht wurden, nimmt das natürliche Recht deren Platz ein, und die Magistrate sollten ihren Urteilsspruch nach diesem, das heißt entsprechend der natürlichen Vernunft erteilen. Deshalb sind die Anordnungen der souveränen Macht, durch welche die natürliche Freiheit eingeschränkt ist, niedergeschrieben, weil es keinen anderen Weg gibt, sie zur Kenntnis zu nehmen, während von den natürlichen Gesetzen angenommen wird, dass sie in die Herzen der Menschen eingeschrieben sind. Geschriebene Gesetze sind daher die zum Ausdruck gebrachten Anordnungen eines Gemeinwesens; und ungeschriebene sind die Gesetze der natürlichen Vernunft. Gewohnheit an sich macht kein Gesetz.322 Ist aber einmal ein Urteil durch diejenigen ergangen, die nach ihrer natürlichen Vernunft urteilen, mag dasselbe richtig oder falsch sein, dann gewinnt es nichtsdestotrotz den Nachdruck eines Gesetzes; nicht weil ein ähnliches Urteil in einem ähnlichen Fall der Gewohnheit entsprechend ergangen ist, sondern weil von der souveränen Macht angenommen wird, dass sie ein derartiges Urteil stillschweigend als Recht bestätigt hat. Und damit entsteht es als ein Gesetz und wird unter den geschriebenen Gesetzen des Gemeinwesens gelistet. Wenn nämlich die Gewohnheit ausreichend wäre, ein neues Gesetz einzuführen, dann läge es in der Macht eines jeden Einzelnen, der damit beauft ragt ist, einen Fall anzuhören, seine Irr-
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tümer zum Gesetz zu erheben. In ähnlicher Weise sind auch die Gesetze unter dem Titel der responsa prudentum, das heißt der Meinungen der Juristen folgend, nicht deshalb Gesetze, weil sie responsa prudentum sind, sondern weil sie vom Souverän anerkannt sind. Und daraus kann man entnehmen, dass, wenn es sich um den Fall eines privaten Vertrages zwischen dem Souverän und einem Untertan handelt, ein Präjudiz gegen die Vernunft dem Fall des Souveräns nicht zum Nachteil gereichen soll; denn kein vorhandener Präzedenzfall machte ein Gesetz, außer unter der Voraussetzung, dass er von allem Anfang vernunftgemäß war. – Soviel also über die Anfangsgründe und Grundbestandteile der natürlichen und politischen Gesetze. Was das Völkerrecht betrifft , so ist es mit diesem nicht anders als mit dem natürlichen Recht. Denn das, was das natürliche Gesetz vor der Gründung des Gemeinwesens zwischen den Menschen ist, das ist danach das Völkerrecht zwischen Souverän und Souverän.323
A NM ER K U NGEN DE S H ER AUSGEBER S
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William Cavendish, 1. Earl of Devonshire, 1. Marquess und 1. Duke of Newcastle (1593–1676); siehe zu diesem die biographische Notiz von Noel Malcolm in Corr.II 812–815. – Hobbes selbst hat in seinen Considerations upon the Reputation, etc. of Thomas Hobbes (in: EW IV, 413–440, hier 414) über die Entstehung der Elements sehr viel später geschrieben: »When the Parliament sat, that began in April 1640, and was dissolved in May following, and in which many points of the regal power, which were necessary for the peace of the kingdom, and the safety of his Majesty’s person, were disputed and denied, Mr. Hobbes wrote a little treatise in English, wherein he did set forth and demonstrate, that the said power and rights were inseparably annexed to the sovereignty; which sovereignty they did not then deny to be in the King; but it seems understood not, or would not understand that inseparability. Of this treatise, though not printed, many gentlemen had copies, which occasioned much talk of the author; and had not his Majesty dissolved the Parliament, it had brought him into danger of his life.« – Und schon in Hobbes’ The Questions Concerning Liberty, Necessity, and Chance, Clearly Stated and Debated between Dr. Bramhall, Bishop of Derry, and Thomas Hobbes of Malmesbury (EW V, 453) aus dem Jahr 1656 heißt es zusammenfassend über seine Absichten: »A little before the last parliament of the late king, when every man spake freely against the then present government, I thought it worth my study to consider the grounds and consequences of such behaviour, and wether it were conformable or contrary to reason and to the Word of God. And after some time I did put in order and publish my thoughts thereof, first in Latin, and then again the same in English; where I endeavoured to prove both by reason and Scripture, that they who have once submitted themselves to any sovereign governor, either by express acknowledgement of his power, or by receiving protection from his laws, are obliged to be true and faithful to him, and to acknowledge no other supreme power but him in any matter or question whatsoever, either civil or ecclesiastical.« – Hobbes’ erster Biograph, John Aubrey (Thomas Hobbes. Ein Porträt aus John Aubrey’s Brief Lives. Übersetzt und mit einer Einführung v. H. Ritter, Berlin: Friedenauer Presse 1984, 8), setzt diese Darstellung fort mit den Worten: »Bischof Manwaring (von St. David’s) predigt Hobbes Lehre, wofür er, neben anderen, im Tower gefangengesetzt wurde. Da dachte Mr. Hobbes: es ist jetzt Zeit, für mich selbst zu sorgen,
Anmerkungen des Herausgebers
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und so begab er sich [Mitte November 1640] nach Frankreich und ließ sich in Paris nieder. Diese kleine handschrift liche Abhandlung wurde zu seinem Buch De Cive und entwickelte sich am Ende zu dem so furchtbaren Leviathan.« Ob sein Leben wirklich bedroht war, lässt sich heute nicht mit Gewissheit sagen; notorisch furchtsam, wie Hobbes war, schien ihm die Bedrohung aber gewiss. 2 Zur Unterscheidung von »mathematischem Wissen« und »dogmatischem Wissen« vgl. unten Kap. XIII, 3 und 4. 3 Hobbes hat dies dann in seinem Widmungsschreiben zu De cive (erst der 2. Aufl. von 1647 beigefügt) durch den direkten Vergleich zwischen Politik und Geometrie noch deutlicher gemacht: »If the Morall Philosophers had as happily discharg’d their duty, I know not what could have been added by humane Industry to the completion of that happinesse, which is consistent with humane life. For were the nature of humane Actions as distinctly knowne, as the nature of Quantity in Geometricall Figures, the strength of Avarice and Ambition, which is sustained by the erroneous opinions of the Vulgar, as touching the nature of Right and Wrong, would presently faint and languish; And Mankind should enjoy such an Immortall Peace, that (unlesse it were for habitation, on supposition that the Earth should grow too narrow for her Inhabitants) there would hardly be left any pretence for war. But now on the contrary, that neither the Sword nor the Pen should be allowed any Cessation; That the knowledge of the Law of Nature should lose its growth, not advancing a whit beyond its antient stature; that there should still be such siding with the severall factions of Philosophers, that the very same Action should bee decryed by some, and as much elevated by others; that the very same man should at severall times embrace his severall opinions, and esteem his own Actions farre otherwise in himselfe the he does in others; These I say are so many signes, so many manifest Arguments, that what hath hithero been written by Morall Philosophers, hath not made any progress in the knowledge of the Truth; but yet have took with the world, not so much by giving any light to the understanding, as entertainment to the Affections, whilest by the successefull Rhetorications of their speech have confirmed them in their rashly received opinions« (Civ.E The Epistle Dedicatory 25 f. = Civ.L Epistola dedicatoria 74 f.). 4 Hobbes denunziert deshalb den »Krieg der Schreibfedern« (bellum calamis) im Widmungsschreiben zu De Cive (Civ.L Epistola Dedicatoria, 74 f.). 5 Nachfolgend wird commonwealth immer mit »Gemeinwesen« übersetzt, auch wenn das Wort etwas antiquiert anmutet. Ferdinand Tönnies übersetzt es gelegentlich auch mit »Staat«, was vor dem Hintergrund der politischen Institutionen im England des 17. Jahrhunderts eine allzu mo-
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Anmerkungen des Herausgebers
derne Vorstellung imaginiert; Delphine Thivet übersetzt mit »république«, was im Französischen möglich, fürs Deutsche aber unmöglich scheint; Arrigo Pacchi übersetzt mit »comunità politica«, aber »politische Gemeinschaft« wäre noch sperriger. Mit der von Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1935), Darmstadt: Wissenschaft liche Buchgesellschaft 31991, 190 selbst gegebenen Bestimmung: »Gemeinwesen ist das organisierte Volk als besonderes, individuelles Selbst, daher in möglichen Verhältnissen zu seinen Gliedern oder Organen gedacht. Diesem seinem Dasein nach stellt ein Gemeinwesen als Institution natürlichen Rechtes sich dar, welches aber eben mit diesem Akte seiner Schöpfung in das Gebiet des positiven Rechtes übergehend gedacht werde«, lässt sich Hobbes’ commonwealth aber nicht umstandslos identifizieren, weil damit der Aspekt der res publica (bzw. des »Gemeinwohls«) verloren geht; vgl. auch David Rollison, Meanings of Commonwealth, in: ders., A Commonwealth of the People: Popular Politics and England’s Social Revolution 1066–1649, Cambridge: Cambridge University Press 2010, 13–21. – Vgl. zu Hobbes’ Bestimmung von Commonwealth unten Kap. XX.
teil i die natur des menschen 6
Vgl. das Widmungsschreiben, wonach es Hobbes darum geht, die »Prinzipien« auf sichere Grundlage zu stellen. 7 »Defi nition« ist ein zentraler Begriff in Hobbes Methodik; vgl. De corp. VI/13–15, 89–93. – Im Anti-White (Thomas White’s De Mundo examined. The Latin translated by H. W. Jones, London: Bradford University Press/Crosby Lockwood Staples 1976, 25 [Kap. I]) sagt Hobbes: »In order to express what they wish [to say], writers are in the habit of using [certain] devices; there can be as many of these as there are different purposes in communication. Now, there are four legitimate ends of speech. Either [i] we want to teach, i. e. to demonstrate the truth of some assertion universal in character. We do this, first, by explaining the defi nitions of names in order to eliminate ambiguity (this is termed ‚to defi ne’), …«; vgl. auch Lev. VII, 100: »When a mans Discourse beginneth not at Defi nitions, it beginneth either at some other contemplation of his own, and then is still called Opinion; Or it beginneth at some saying of another, of whose ability to know the truth, and of whose honesty in not deceiving, he doubteth not; and then the Discourse is not so much concerning the Th ing, as the Person; And the Resolution is called BELEEFE , and FAITH«. Die ganze Kunst des Beweisens
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liegt für Hobbes in einer bloßen Verkettung von Definitionen und nichts anderes dürfe zugelassen werden. 8 Vgl. unten Kap. II bis IV, VII und XII; Lev. I bis III. VI und De Corp. XXV, und dazu zusammenfassen Philip Pettit, Made with Words. Hobbes on Language, Mind, and Politics, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2008, 9–41. 9 Vorstellungen (conceptions) spielen eine tragende Rolle in Hobbes Analyse, beim Gebrauch dieses Begriffs ist er aber nicht immer konsistent; die Vorstellung, die wir von einem »Namen« haben, sind ihm jene phantasms (Hirngespinste, Sinnestäuschungen, Trugbilder, Phantasiedinge), von denen wir gelernt haben, sie mit einem bestimmten Namen zu assoziieren; vgl. unten Kap. III, 5. 10 Es ist dies eine von Hobbes an verschiedenen Orten immer wieder beschriebene Voraussetzung für den philosophischen Arbeitsgang; vgl. etwa De corp. VII/1, 99 f. und Thomas Hobbes, Thomas White’s De Mundo examined. The Latin translated by H. W. Jones, London: Bradford University Press/Crosby Lockwood Staples 1976, 40: »Just as one can remember the life-appearance of a man who dies some time ago, so even if the whole world were drestroyed except for one man, nothing would prevent this man from having an image of a world which he had once seen, that is, from visualising a space extending from him in all directions as far as he wished«, und dazu etwa Arrigo Pacchi, Convenzione e ipotesi nella formazione della fi losofia di Thomas Hobbes, Firenze: La Nuova Italia 1965, 54 ff. und 71 ff. 11 Vgl. auch Lev. I und De corp. XXV/1–6. 12 Diese Sicht lässt sich zurückverfolgen bis zu Aristoteles, Über die Seele (II, 12 424a). Übersetzt v. W. Theiler, Berlin: Akademie-Verlag, 82006, 47II, 12: »Man muss im Allgemeinen über alle Wahrnehmung die folgende Auffassung haben. Einerseits ist sie das, was fähig ist, die wahrnehmbaren Formen ohne Materie aufzunehmen, wie das Wachs das Zeichen des Ringes ohne das Eisen und das Gold aufnimmt und das goldene oder eherne Zeichen empfängt, aber nicht, insofern es Gold oder Erz ist […], andererseits ist das eigentliche Wahrnehmungsorgan das, in dem sich dieses Vermögen (die Wahrnehmung) fi ndet.« 13 Vgl. dazu Fritiof Brandt, Thomas Hobbes’ Mechanical Conception of Nature, Copenhagen/London: Levin and Munksgaard 1928, 388–390. 14 Vorstellungen entstehen also immer im Wahrnehmenden, niemals im Wahrgenommenen. 15 Vgl. auch in der Einleitung zum Leviathan die Automaten-Metapher: »For seeing life is but a motion of Limbs, the beginning whereof is in some principall part within; why may we not say, that all Automata Engines that move themselves by springs and wheels as doth a watch) have an ar-
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tificiall life? For what is the Heart, but a Spring, and the Nerves, but so many Strings; and the Ioynts, but so many Wheels, giving motion to the whole Body, such as was intended by the Artificer?” (Lev. Introduction, 16). Hobbes nimmt hier Julien Off ray de la Mettrie, Die Maschine Mensch, Französisch-Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. C. Becker, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2009, 34 f. vorweg: »Le corps humain est une Machine qui monte elle-même ses ressorts; vivante image du mouvement perpetuel« [Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Triebfeder aufzieht; ein lebendes Abbild der ewigen Bewegung]. 16 Es ist erstaunlich, wie nahe Hobbes hier der modernen Kognitionsforschung kommt; vgl. Jacob L. S. Bellmund/Peter Gärdenfors/Edvard I. Moser/ Christian F. Doeller, Navigating cognition: Spatial codes for human thinking, Science 362, 654 (2018), zugänglich unter http://science.sciencemag. org/content/362/6415/eaat6766. 17 »Bewegung« ist die ultimative Eigenschaft von allen Körpern; vgl. für den hier angesprochenen Zusammenhang: »Sinneswahrnehmung kann im sinnlich wahrnehmenden Wesen daher nichts anderes sein als die Bewegung bestimmter Teile, die im Inneren des Wahrnehmenden vorhanden sind; welche bewegten Teile Teile der Organe sind, mit denen wir wahrnehmen. Denn die Körperteile, mittels derer die Sinneswahrnehmung sich vollzieht, sind genau die gewöhnlich sogenannten Sinnesorgane. Damit haben wir also schon das Subjekt der Sinneswahrnehmung (dies ist das Wesen, dem die Erscheinungsbilder innewohnen) und zum Teil auch schon ihre Natur, nämlich dass sie eine bestimmte innere Bewegung im sinnlich wahrnehmenden Wesen sind« (De corp. XXV/1, 249 f.). Zur Bestimmung des Begriffs »Bewegung« vgl. auch Thomas Hobbes, Thomas White’s De Mundo examined. The Latin translated by H. W. Jones, London: Bradford University Press/Crosby Lockwood Staples 1976, 157–163 (Kap. XIV). – Der Paradigmenwechsel ist epochal: »In der aristotelisch-scholastischen Tradition schlug sich die metaphysisch bedingte Superiorität der Ruhe in der Auffassung nieder, innerhalb der sich als Ganzes immer bewegenden Natur seien die Körper dennoch bestrebt, die Ruhe in ihrem jeweiligen locus naturalis wieder zu erlangen. Aus der polemischen Umkehrung dieser Auffassung ergibt sich wiederum die neue These, nicht die Ruhe, sondern gerade die Bewegung könne der natürliche Zustand oder, wie Galilei sagt, die ‚natürliche Neigung‘ eines Körpers sein. Die Uminterpretation des Trägheitsprinzips bestätigt und besiegelt diese dramatische Wandlung. Während das aristotelisch-scholastische Trägheitsprinzip annimmt, dass ein Körper das Bestreben hat, im Zustand der Ruhe zu verharren, wenn er sich in ihm befi ndet, und in ihn zu gelangen, wenn er sich bewegt, behauptet das moderne, dass ein gleichförmig bewegter Körper nicht den Ruhezustand
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anstrebt, sondern im Gegenteil in der Bewegung verharren will. Hier wird etwas radikal Neues impliziert, das selbst die nachgiebigsten Schranken des traditionellen Weltbildes sprengen musste […]«, fasst Panajotis Kondylis, Die Aufk lärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (1981), München: dtv 1986, 107 f. zusammen. 18 In Lev. I, 24 fügt Hobbes hinzu: »But the Philosophy-schooles, through all the Universities of Christendome, grounded upon certain Texts of Aristotle, teach another doctrine; and say, For the cause of Vision, that the thing seen, sendeth forth on every side a visible species (in English) a visible shew, apparition, or aspect, or a being seen; the receiving whereof into the Eye, is Seeing. And for the cause of Hearing, that the thing heard, sendeth forth an Audible species, that is, an Audible aspect, or Audible being seen; which entring at the Eare, maketh Hearing. Nay for the cause of Understanding also, they say the thing Understood sendeth forth intelligible species, that is, an intelligible being seen; which coming into the Understanding, makes us Understand. I say not this, as disapproving the use of Universities: but because I am to speak hereafter of their office in a Common-wealth, I must let you see on all occasions by the way, what things would be amended in them; amongst which the frequency of insignificant Speech is one.« 19 Vgl. auch Lev. II, 26–37 und De corp. XXV/7–11, 255–264. 20 In Lev. I, 26 heißt es dann: »When a Body is once in motion, it moveth (unless something els hinder it) eternally; and whatsoever hindreth it, cannot in an instant, but in time, and by degrees quite extinguish it: And as we see in water, though the wind cease, the waves give not over rowling for a long time after; so also it happeneth in that motion, which made in the internall parts of a man, then, when he Sees, Dreams, etc. For after the object is removed, or the eye shut, wee still retain an image of the thing seen, though more obscure than when we see it. And this is it, the Latines call Imagination, from the image made in seeing, and apply the same, though improperly, to all the other senses. But the Greeks call it Fancy; which signifies apparence, and is a proper to one sense, as to another. IMAGINATION therefore is nothing but decaying sense; and is found in men, and many living Creatures, aswell sleeping, as waking.« – Vgl. dazu Alfredo Ferrarin, Imagination and Hobbes: Distance, possibility, and desire, Graduate Faculty Philosophy Journal 24 (2003), 5–27. 21 Das durch den Steinwurf oder durch einen Windstoß gekräuselte Wasser steht hier für unsere Einbildung (imagination). 22 Vgl. zur Bestimmung von Träumen unten Kap. III, 8 bis 10 und ausführlicher De corp. XXV/9, 258–261, und Lev. II, 30–37. 23 Vgl. De corp. XXV/12, 264–266. 24 Vgl. auch Lev. III, 38–47.
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Anders dann die Bestimmung in Lev. III, 38: »By Consequence, or TRAYNE of Thoughts, I understand that sucession of one Thought to another, which is called (to distinguish it from Discourse in words) Mentall Discourse.« 26 Hobbes spricht in den Elements stets von »sedition« (Aufruhr) oder von »rebellion« (Rebellion), noch nicht vom »civil war« (Bürgerkrieg). 27 Vgl. De corp. XXV/8, 257 f. – Im Leviathan gibt Hobbes ein berühmt gewordenes Beispiel für diese Art der Gedankenabfolge: »For in a Discourse of our present civill warre, what could seem more impertinent, than to ask (as one did) what was the value of a Roman Penny? Yet the Cohaerence to me was manifest enough. For the Thought of the warre, introduced the Thought of the delivering up the King to his Enemies; The Thought of that, brought in the Thought of the delivering up of Christ; and again the Thought of the 30 pence, which was the price of that treason; and thence easily followed that malicious question; and all this in a moment of time; for Thought is quick« (Lev. III, 40). 28 Vgl. zum Thema auch im 4. Dialog des Behemoth: »You know there is nothing that renders humane Councells difficult but the incertainty of future time, nor that so well directs men in their deliberations as the foresight of the sequells of their actions, Prophecy being many times the principall cause of the euent foretold« (Beh. 365 f.). Vgl. auch William R. Lund, The Historical and »Politicall« Origins of Civil Society. Hobbes on Presumption and Certainty, History of Political Thought 9 (1988), 223–235 29 Vgl. Lev. III, 44: »As Prudence is a Præsumtion of the of the Future, contracted from the Experience of time Past: So there is a Præsumtion of things Past taken from other things (not future but) past also. For he hath seen by what courses and degrees, a flourishing State hath first come into civil warre, and then to ruine; upon the sight of the ruines of any other State, will guesse, the like warre, and the like courses have been there also. But this conjecture, has the same incertainty almost with the conjecture of the Future; both being grounded onely upon Experience.« 30 Ausführlicher in Lev. III, 44: »A Signe, is the Event Antecedent, of the Consequent; and contrarily, the Consequent of the Antecedent, when the like Consequences have been observed, before: And the oft ner they have been observed, the lesse uncertain is the Signe. And therefore he that has most experience in any kind of businesse, has most Signes. Whereby to guesse at the Future time; and consequently is the most prudent: And so much more prudent than he that is new in that kind of business, as not to be equalled by him by any advantage of naturall and extemporary wit: though perhaps many young men think the contrary. – Nevertheless it is not Prudence that distinguisheth man from beast. There be beasts, that a
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year old observed more, and pursue that which is for their good, more prudently, than a child can do at ten.« 31 Deshalb gilt auch für alle: »You haue not obseru’d the world long enough to see all thats ill« (Beh. 220). 32 Vgl. auch Lev. IV, 48–63 und De corp. II, 25–42. 33 Prägnant in Lev. IV, 52: »The manner how Speech serveth to the remembrance of the consequence of causes and effects, consisteth in the imposing of Names, and the Connexion of them.« – Vgl. zusammenfassend John W. N. Watkins, Hobbes’s System of Ideas. A Study in the Political Significance of Philosophical Theories (1965), London: Hutchinson 21973, 99–118, und ausführlich Michael Isermann, Die Sprachtheorie im Werk von Thomas Hobbes, Münster: Nodus Publikationen 1991, passim, und Philip Pettit, Made with Words. Hobbes on Language, Mind, and Politics, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2008, passim. 34 Zusammengefasst in Lev. IV, 62: »When a man upon the hearing of any Speech, hath those thoughts which the words of that Speech, and their connexion, were ordained and constituted to signifie; Then he is said to understand it: Understanding beeing nothing else, but conception caused by Speech. And therefore if Speech be peculiar to man (as for ought I know it is), then is Understanding peculiar to him also. And therefore of absurd and false affi rmations, in case they be universall, there can be no Understanding; though many think they understand, then, when they do but repeat the words soft ly, or con them in their mind.« 35 Vgl. ausführlich De Corp. IV/1 bis 13, 56–65 (»Der Schluss«). – In seinem Anti-White (Thomas White’s De Mundo examined. The Latin translated by H. W. Jones, London: Bradford University Press/Crosby Lockwood Staples 1976, 157 f. [Kap. XIV, 1]) sagt Hobbes: »As it consists in the perception of differences, true philosophy is clearly the same as a faithful, correct and accurate nomenclature of things. Now the only person who knows the difference between things seems to be someone who has learned to assign to separate things their own correct names. Moreover, right reasoning, which philosophers need, is nothing other than the correct combining of true propositions into a syllogism. A valid proposition is formed out of the correct coupling of terms, i. e. of the subject and predicate, in accordance with their proper and adequate[ly-defi ned] meanings. From this it emerges that there cannot be a true philosophy that does not lay its foundation on a efficient nomenclature of things.« 36 Vgl. De corp. IV/13, 64 f.: »Auch sind zum korrekten Folgern nicht so sehr Vorschriften als Praxis erforderlich; und viel schneller erlernt es, wer seine Zeit mit den Beweisführungen der Mathematiker zubringt als mit der Lektüre der Vorschriften der Logiker für richtiges Schließen: ganz wie
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kleine Kinder das Laufen auch nicht durch Vorschriften, sondern durch wiederholtes Gehen lernen.« 37 Hobbes versteht darunter immer ein Rechnen; deshalb sagt er: »non enim dissero, sed computo« [Ich ergehe mich nicht ins Breite, sondern ich rechne] (Civ.L Præfatio ad Lectores, 82). Man ermittelt die Summe mehrerer zusammengestellter Dinge oder den Rest, nachdem das eine von dem anderen abgezogen wurde; deshalb ist das vernünft ige Denken (ratiocinari) bei Hobbes so viel wie Addieren oder Subtrahieren, und alle Schlussfolgerungen bestehen nur aus zwei geistigen Tätigkeiten, dem Addieren und dem Subtrahieren: »When a man Reasoneth, hee does nothing else but conceive a summe totall, from Addition of parcels; or conceive a Remainder, from Substraction of one ‚summe’ from another: which (if it be done by Words,) is conceiving of the consequence from the names of all the parts, to the name of the whole; or from the names of the whole and one part, to the name of the other part. And though in some things, (as in numbers,) besides Adding and Substracting, men name other operations, as Multiplying and Dividing; yet they are the same; for Multiplication, is but Adding together of things equall; and Dividing, but Substracting of one thing, as often as we can. These operations are no incident to Numbers onely, but to all manner of things that can be added together, and taken one out of another” (Lev. V, 64); vgl. auch De corp. IV/6, 59: »[…] dass ein Schluss nichts anderes ist als das Ziehen der Summe, die sich aus zwei untereinander (durch einen gemeinsamen sogenannten Mittelbegriff ) verbundenen Sätzen ergibt; und dass der Schluss eine Addition dreier Namen ist, wie der Satz die von zweien.« – G. W. Leibniz wird dies später in seiner Dissertatio de arte combinatoria (1666) übernehmen: »Der gründlichste Erforscher der Prinzipien in allen Dingen, Th. Hobbes, hat zu Recht festgehalten, dass jedes Werk unseres Geistes eine Rechnung (computatio) ist, und darunter sei entweder durch Hinzufügen eine Summe oder durch Abziehen eine Differenz zu verstehen. Elem. De Corp. P. I. c. I. art. 2. Wie also die Algebraiker und Analytiker zwei primäre Zeichen haben, + und –, so gibt es gewissermaßen zwei Kopulas, ‚ist‘ und ‚nicht-ist‘, dort setzt der Geist zusammen, hier teilt er« (Philosophische Schriften, 1. Abt., Bd. 1, Berlin: Akademie Verlag 2006, 163–230, hier 194). – Vgl. zur Methode von Hobbes zusammenfassend Philip Pettit, Made with Words. Hobbes on Language, Mind, and Politics, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2008, 42–54. 38 Ausführlicher in Lev. V, 68: »When a man reckons without the use of words, which may be done in particular things (as when upon the sight of any one thing, wee conjecture what was likely to have preceded, or is likely to follow upon it), if that which he thought likely to follow, followes not; or that which he thought likely to have preceded it, hath not preceded it, this
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is called ERROR , to which even the most prudent men are subject. But when we Reason in Words of generall signification, and fall upon a generall inference which is false; though it be commonly called Error, it is indeed an ABSURDITY, or senslesse Speech. For Error is but a deception, in presuming that somewhat is past, or to come; of which, though it were not past, or not to come; yet there was no impossibility discoverable. But when we make a generall assertion, unlesse it be a true one, the possibility of it is unconceivable. And words whereby we conceive nothing but the sound, are those we call Absurd, Insignificant, and Non-sense. And therefore if a man should talk to me of a round Quadrangle; or accidents of Bread in Cheese; or Immateriall Substances; or of A free Subject; A free-Will; or any Free, but free from being hindred by opposition, I should not say he were in an Error; but that his words were without meaning; that is to say, Absurd.« 39 Erweitert in Lev. V, 68: »I have said before […] that a Man did excell all other Animals in this faculty, that when he conceived any thing whatsoever, he was apt to enquire the consequences of it, and what effects he could do with it. And now I adde this other degree of the same excellence, that he can by words reduce the consequences he fi ndes to generall Rules, called Theoremes, or Aphorismes; that is, he can Reason, or reckon, not onely in numbers; but in all other things, whereof one may be added unto, or substracted from another. – But this priviledge, is allayed by another; and this is, by the priviledge of Absurdity; to which no living creature is subject, but man onely. And of men, those are of all most subject to it, that professe Philosophy. For it is most true that Cicero sayth of them somewhere; that there can be nothing so absurd, but may be found in the books of Philosophers. And the reason is manifest. For there is not one of them that begins his ratiocination from the Definitions, or Explications of the names they are to use; which is a method that hath been used onely in Geometry; whose Conclusions have thereby been made indisputable.« 40 Vgl. unten Kap. XII/2 bis 5. – Hobbes zufolge ist es unsinnig, von einem »freien Willen« zu sprechen, auch wenn die Handlungen dann (als das »Produkt« der Leidenschaften) frei sind, wenn sie nicht durch äußere Hindernisse beschränkt werden. 41 Im 2. Dialog des Behemoth bringt Hobbes ein Beispiel dafür: »Impudence in Democraticall assemblies [especially, and generally in all assemblies deleted] does almost all that’s done, ’tis the ordinary man will not from so great boldnesse of affirmation conclude there is great probability in the thing affi rmed« (Beh. 196). – Hobbes’ Skepsis gegenüber der mündlichen Rede ist evident; löst man sich von den wirklichkeitsfernen Postulaten einer »idealen Sprechsituation« (Habermas), dann spricht weiterhin nicht viel dafür, dass sich Ansichten »besser« vermitteln ließen, indem sie »live«
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vorgebracht werden; vgl. dazu mit großer Entschiedenheit Kathrin Passig, The Trouble with Talking, Merkur Nr. 835, Dezember 2018, 29–39. 42 Hobbes zufolge ist niemand frei von Irrtum: »All Men (you know) are subject to Error, and the ways of Error very different« (Dial. 93); ein Irrtum in Glaubenssachen ist niemals zu verfolgen: »Error, in it’s own Nature, is no Sin: For it is Impossible for a Man to Err on purpose, he cannot have an Intention to Err; and nothing is Sin, unless there be an sinful Intention; much less are such Errors Sins, as neither hurt the Common-wealth, nor any private Man, nor are against any Law Positive, or Natural; such Errors as were those for which Men were burnt in the time when the Pope had the Government of this Church« (Dial. 96). 43 Lateinische Fassung des griechischen Spruches Γνῶθι σαυτόν (gnṓthi sautón), der angeblich am Apollo-Tempel in Delphi zu lesen war. Hobbes verwendet die bekannte Wortwendung auch in seiner Einleitung zum Leviathan (Lev. Introduction, 18). 44 Vgl. auch Lev. V, 64–77; VII, 98–102 und IX, 124. 45 Für die Differenz zwischen Wahrheit (truth) und Wissen (knowledge) ist der Beweis (evidence) entscheidend; Hobbes hat diese Passage nicht in die korrespondierenden Abschnitte des Leviathan wiederaufgenommen. Vgl. für eine knappe Diskussion Dorothea Krook, Thomas Hobbes’s Doctrine of Meaning and Truth, Philosophy XXXI (1956), 3–22, 9 f. 46 Vgl. auch Platon, Theätet (201d). Griechisch-deutsch. Aus dem Griechischen v. F. Schleiermacher. Kommentar v. A. Becker, Ffm.: Suhrkamp 2007, 195: »Was ich auch schon einen sagen gehört und es nur vergessen habe, kommt mir jetzt wieder in den Sinn. Er sagte nämlich, die mit Erklärung verbundene wahre Meinung sei Wissen, die ohne Erklärung dagegen liege außerhalb des Wissens. Und wovon es keine Erklärung gebe, das sei auch nicht wißbar, und so benannte er dies auch, wovon es aber eine gebe, das sei wißbar.« 47 Lev. V, 72: »Science is the knowledge of Consequences, and dependance of one fact upon another: by which, out of that we can presently do, we know how to do something else when we will, or the like, another time: Because when we see how any thing comes about, upon what causes, and by what manner; when the like causes come into our power, wee see how to make it produce the like effects.” 48 Hobbes ist generell skeptisch gegenüber allem, was bloße »Meinung« ist; vgl. dazu Vincenzo Barba, »Opinione«, »consenso« e tecnica della costruzione dei soggetti in Thomas Hobbes, in: V. Dini (Ed.), Soggetti e potere. Un dibattito su società civile e crisi della politica, Napoli: Bibliopolis 1983, 139–170; William R. Lund, Hobbes on Opinion, Private Judgment and Civil War, History of Political Thought 13 (1992), 51–72; Michel Malherbe,
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Hobbes et la mort du Léviathan: opinion, sédition et dissolution, in: Hobbes Studies IX (1996), 11–20; Geoff rey M. Vaughan, Hobbes’s contempt for opinions: Manipulation and the challenge for mass democracies, Critical Review 13 (1999), 55–71. 49 Vgl. Roland Reiske, Vertrauen bei Hobbes, Zeitschrift für philosophische Forschung 67 (2013), 426–451 und auch gleich weiter unten Kap. VI, 9. 50 Vgl. dazu etwa Justin Champion, »Privat is in secret free«: Hobbes and Locke on the limits of toleration, atheism and heterodoxy, in: Ch. Y. Zarka/F. Lessay/J. Rogers (Éds.), Les fondements philosophiques de la tolerance, Paris: PUF 2002, 221–253 und Sharon A. Lloyd, Hobbes on the Duty Not to Act on Conscience, in: L. v. Apeldoorn/R. Douglass (Eds.), Hobbes on Politics and Religion, Oxford: Oxford University Press 2018, 256–272. – Vgl. auch Civ.L XIII/5, 196 bzw. Civ.E XIII/5, 158, wo Hobbes unentschieden lässt, ob Gewissensfreiheit herrschen soll. Er selbst war wohl dafür, wollte sich aber nicht dafür aussprechen, zumal sich James I. und Charles I. vehement dagegen aussprachen. Die Annahme von Peter C. Mayer-Tasch, Hobbes und Rousseau, Aalen: Scientia Verlag 31991, 65, »Hobbes habe mit seinem berühmten ‚[Privat, is] in secret free’ [Lev. XXXI, 564 und XL, 738] die Gesinnungsfreiheit weniger als eine politisches Postulat denn als immanente Aktionsgrenze des Politischen angesprochen«, ist gleichwohl berechtigt. Eine endgültige Klärung von Hobbes’ persönlicher Haltung wird sich wohl nicht rekonstruieren lassen, sie wird aber, wenn sie zukünft ig versucht wird, nicht die letzten Worte außer Betracht lassen dürfen, mit den Hobbes De Cive beendet hat: »vnusquisque abundet in suo sensu« [ein jeder sei reich an seiner eigenen Überzeugung bzw. ein jeder soll in seinem eigenen Inneren voll überzeugt sein] (Civ.L XVII, 294). 51 Hobbes unterscheidet nachfolgend: »Faith, in the man; Beleefe, both of the man, and of the truth of what he sayes. So that in Beleefe are two opinions; one of the saying of the man; the other of his virtue. To have faith in, or trust to, or beleeve a man, signifie the same thing; namely, an opinion of the veracity of the man: But to beleeve what is said, signifieth onely an opinion of the truth of the saying« (Lev. VII, 100). 52 Vgl. auch Lev. VI, 78–97; De corp. XV/2179–182 und XXV/12, 264–266 und Thomas Hobbes, Court traité des premiers principes. Le Short Tract on First Principles de 1630–1631. La naissance de Thomas Hobbes à la pensée moderne. Texte, traduction et commentaire par J. Bernhardt, Paris: PUF 1988, 12–56. 53 Vgl. Lev. VI, 96: »Continuall successe in obtaining those things which a man from time to time desireth, that is to say, continuall prospering, is that men call FELICITY; I mean the Felicity of this life. For there is no such thing as perpetuall Tranquillity of mind, while we live here; because Life
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it selfe is but Motion, and can never be without Desire, nor without Feare, no more than without Sense. What Kind of Felicity God hath ordained to them that devoutly honour him, a man shall no sooner know, than enjoy; being joyes, that now are as incomprehensible, as the word of School-men Beatificall Vision is unintelligible.« Und zuvor hieß es 1637 in The Whole Art of Rhetoric (Kap. V) ganz einfach: »By felicity is meant commonly prosperity with virtue, or a continual content of the life with surety« (EW VI, 428). – Vgl. dazu auch James Jay Hamilton, Hobbes on Felicity, in: Hobbes Studies 2/XIX (2016), 129–147. 54 Vgl. auch Lev. VIII, 104–123 und IX, 124–131. 55 Die Dreiteilung stammt von Aristoteles, Rhetorik (I, 11 1370a, 27–35). Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. G. Krapinger, Stuttgart: Reclam 2018, 103: »Daher muss alles Vergnügliche in der Wahrnehmung gegenwärtig, in der Erinnerung vergangen oder in der Hoff nung zukünft ig sein.« Vgl. auch die Kategorisierung, die Hobbes schon in »Briefe of the Art of Rhetorique« (1637) vorgenommen hat: »So there are three kinds of orations; demonstrative, judicial, and deliberative. – To which belong their proper times. To the demonstrative, the present; to the judicial, the past; and to the deliberative, the time to come.« (EW VI, 425). 56 Galileo Galilei (1564–1641) hat in den 1630er Jahren zwei Werke veröffentlicht: Dialogo sopra i due massimi sistemi (Florenz 1632) und Discorsi e Dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze, attinenti alla meccanica e i movimenti locali (Leiden 1638). Hobbes bezieht sich hier auf eine Thematik, die in letzterem gegen Ende des »Ersten Tages« besprochen wird; vgl. Ludovico Geymonat, Galileo Galilei (1957), Torino: Einaudi 17 1998, 194–234 (hier 207). 57 Vgl. dazu Lev. X, 132: »The POWER of a Man (to take it Universally), is his present means, to obtain some future apparent Good. And is either Originall, or Instrumentall. – Naturall Power, is the eminence of the Faculties of Body, or Mind: as extraordinary Strength, Forme, Prudence, Arts, Eloquence, Liberality, Nobility. Instrumentall are those Powers, which acquired by these, or by fortune, are means and Instruments to acquire more: as Riches, Reputation, Friends, and the secret working of God, which men call Good Luck. For the nature of Power, is in this point, like to Fame, increasing as it proceeds; or like the motion of heavy bodies, which the further they go, make still the more hast.« 58 Vgl. Jonathan Boyd, Defence, Civil Honour, and Artificial Will, in: Hobbes Studies 1/XXVIII (2015), 35–49 59 Vgl. auch Lev. X, 134: »The Value, or WORTH of a man, is as of all other things, his Price; that is to say, so much as would be given for the use of his Power: and therefore is not absolute; but a thing dependant on the need
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and judgement of another. An able conductor of Souldiers, is of great Price in time of War present, or imminent; but in peace not so. A learned and uncorrupt Judge, is much Worth in time of Peace; but not so much in War. And as in other things, so in men, not the seller, but the buyer determines the Price. For let a man (as most men do) rate themselves at the highest Value they can; yet their true Value is no more than it is esteemed by others.« – Vgl. dazu auch Karl Marx, Lohn, Preis und Profit (1865), in: MEW Bd. 16, 103–152, hier 130: »Einer der ältesten Ökonomen und originellsten Philosophen Englands – Thomas Hobbes – hat in seinem Leviathan schon vorahnend auf diesen von allen seinen Nachfolgern übersehenen Punkt hingewiesen. Er sagt: ‚Der Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis: das heißt soviel, als für die Benutzung seiner Kraft gegeben würde.‘ Von dieser Basis ausgehend, werden wir imstande sein, den Wert der Arbeit wie den aller andern Waren zu bestimmen.« 60 Vgl. auch Lev. VI, 78–97. 61 Vgl. dazu Jean Hampton, Hobbesian Reflections on Glory as a Cause of Confl ict, in: P. Caws (Ed.), The Causes of Quarrel. Essays on Peace, War, and Thomas Hobbes, Boston: Beacon Press 1989, 78–96; Gabriella Slomp, Thomas Hobbes and the Political Philosophy of Glory, Basingstoke: Macmillan 2000; dies., Hobbes on Glory and Civil State, in: P. Springborg (Ed.), The Cambridge Companion to Hobbes’s Leviathan, Cambridge: Cambridge University Press 2007, 181–198. 62 Vgl. dazu Samantha Frost, Hobbes and the Matter of Self Consciousness, Political Theory 33 (2005), 495–517. 63 Vgl. zu Hobbes’ Verhältnis zur Scholastik Leopold Damrosch, Hobbes as Reformation Theologian: Implications of the Free-will Controversy, Journal of the History of Ideas 40 (1993), 339–352 und Luc Foisneau, Hobbes et la toute-puissance de Dieu, Paris: PUF 2000, 359–394. 64 In Lev. VI, 88 heißt es: »The vain-glory which consisteth in the feigning or supposing of abilities in our selves, which we know are not, is most incident to young men, and nourished by the Histories, or Fictions of Gallant Persons; and is corrected oftentimes by Age, and Employment.« 65 In Lev. VI, 90: »Griefe, for the discovery of some defect of ability, is SHAME , or the passion that discovereth it selfe in BLUSHING ; and consisteth in the apprehension of some thing dishonourable; and in young men, is a signe of the love of good repution; and commendable: In old men it is a signe of the same; but because it comes too late, not commendable.« 66 Vgl. Gaius Suetonius Tranquillus, Leben der Cäsaren (Tiberius, 61). Übersetzt und hrsg. v. A. Lambert, München: dtv 41983, 155: »Andrerseits zwang man weiterzuleben, wer zu sterben wünschte. Tiberius hielt nämlich den Tod für eine so leichte Strafe, dass er auf die Meldung hin, ein Ange-
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klagter namens Carnalus habe Selbstmord begangen, ausrief: ‚Carnalus ist mir entwischt.‘ Und als er eist die Gefängnisse besichtigte und ihn einer bat, die Strafe zu beschleunigen, antwortete er: ‚Ich bin noch nicht mit dir versöhnt.‘« 67 Vgl. Lev. VI, 90: »Grief, for the Calamity of another, is PITTY; and ariseth from the imagination that the like calamity may befall himselfe; and therefore is called also COMPASSION , and in the phrase of this present time a FELLOW-FEELING : And therefore for Calamity arriving from great wickedness, the best men have the least Pitty; and for the same Calamity, those have least Pitty, that think themselves least obnoxious to the same. – Contempt, or little sense of the calamity of others, is what which men call CRUELTY; proceeding from Security of their own fortune. For, that any man should take pleasure in other mens great harmes, without other end of his own, I do not conceive it possible.« Vgl. auch John Kemp, Hobbes on Pity and Charity, in: J. G. van der Bend (Ed.), Thomas Hobbes. His View of Man, Amsterdam: Editions Rodopi 1982, 57–62. 68 Modifi ziert in Lev. VI, 90: »Griefe, for the successe of a Competitor in wealth, honour, or other good, id it be joyned with Endeavour to enforce our own abilities to equall or exceed him, is called EMULATION: But joyned with Endeavour to supplant, or hinder a Competitor, ENVIE .« 69 Vgl. auch Lev. VI, 88 f. und in De hom. XII/7, 384 f.: »Werden die Lebensgeister wiederum durch eine plötzlich aufkommende Freude darüber geweckt, dass man etwas gesagt, getan oder gedacht hat, das einem entweder selbst zur Zierde gereicht oder unrühmlich für einen andere ist, so handelt es sich dabei um den Affekt des Lachens ([Be-]Lächelns]. Wer nämlich glaubt, etwas gesagt oder getan zu haben, das im Vergleich mit dem, was von anderen gesagt oder getan wird, besonders vortreffl ich ist, neigt dazu zu lachen [lächeln]. Und ebenso vermag man sich ein Lachen [Lächeln] nur schwer zu verkneifen, wenn von einem anderen etwas gesagt oder getan wird, das wenig rühmlich ist und einen selbst vergleichsweise besser dastehen lässt. Alles in allem handelt es sich beim Affekt des Lachens [mithin] um ein Gefühl plötzlicher Überlegenheit angesichts der Unrühmlichkeiten anderer. Gelacht wird also meistens nur bei einem unerwarteten Ereignis, da über dieselben Dinge oder Scherze nicht wiederholt gelacht [gelächelt] wird. Unrühmliches bei Freunden und Verwandten fordert dagegen nicht zum Lachen heraus, da sie nicht als Fremde angesehen werden. Drei Dinge sind es daher, die einen zum Lachen [Lächeln] bringen, sofern sie miteinander zusammenhängen; gewisse Unrühmlichkeiten seitens Fremder, zu denen es ganz unerwartet kommt.« Vgl. dazu auch David Heyed, The Place of Laughter in Hobbes’s Theory of Emotions, Journal of the History of Ideas 43 (1982), 285–296; Robert E. Ewin, Hobbes on Laughter, Philosophical Quar-
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terly 51 (2002), 29–40; Quentin Skinner, Hobbes and the Classical Theory of Laughter, in: T. Sorell/L. Foisneau (Eds.), Leviathan After 350 Years, Oxford: Clarendon Press 2004, 139–166. 70 Vgl. Lev. VI, 86: »Love of Persons for Pleasing the sense onely, NATURALL LUST.« 71 Vgl. auch Cicero, De officiis – Vom pfl ichtgemäßen Handeln (I, 14), Lateinisch und Deutsch. Übersetzt, kommentiert und hrsg. v. H. Gunermann, Stuttgart: Reclam 1992, 43 f.: »Auch kann man sehen, dass die meisten nicht so sehr von Natur freigiebig sind, als vielmehr gewissermaßen von Ruhmsucht geleitet, damit sie als Wohltäter vieles zu tun scheinen, was mehr von Zurschaustellung als von Herzen kommend erscheint.« 72 Vgl. Platon, Symposion (209a bis 212a), in: ders., Sämtliche Werke. Übersetzt v. F. Schleiermacher. 4 Bde., hrsg. v. U. Wolf. Bd. 2: Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros, Reinbek: Rowohlt 312006, 37–101, hier 84–87. 73 Vgl. Platon, Theätet (155d). Aus dem Griechischen v. F. Schleiermacher. Übersetzung durchgesehen und überarbeitet v. A. Becker. Kommentar v. A. Becker, Ffm.: Suhrkamp 2007, 53: »Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen […]«. – Aristoteles, Metaphysik (A 2, 982b). Aus dem Griechischen übersetzt v. F. Bassenge, Berlin: AkademieVerlag 1960, 21: »[…] und im höchsten Grade wißbar sind das Erste und die Ursachen: denn durch sie und aus ihnen wird das andere erkannt, nicht aber sie selbst durch ihr Substrat.« 74 Hobbes entnimmt die nachfolgenden Beispiele Lukrez, Über die Natur der Dinge (II, 1–6). In deutsche Prosa übertragen und kommentiert v. K. Binder. Mit einer Einführung v. St. Greenblatt, Berlin: Galiani 2014, 71: »Angenehm ist es und beruhigend, wenn Winde über weitem Meer das Wasser aufwühlen, von festen Land aus zuzusehen, wie ein anderer dort zu kämpfen hat. Nicht das Leiden anderer ist Quelle dieses süßen Gefühls, erfreulich vielmehr ist zu sehen, von welchem Unglück du selbst verschont bist. Ebenso süß ist es, auf die in der Ebene tobenden Schlachten des Krieges zu schauen, so du dich selbst, unbeteiligt, außer Gefahr weißt.« 75 Vgl. dazu Andrew J. Corsa, Thomas Hobbes: Magnanimity, Felicity, and Justice, in: Hobbes Studies 2/XXVI (2013), 130–151. 76 Vgl. dazu Paul J. Johnson, Hobbes and the Wolf-Man, in: J. G. van der Bend (ed.), Thomas Hobbes. His View of Man, Amsterdam: Rodopi 1982, 31–44, hier 33–35; Giuseppe Sorgi, Research Note: Thomas Hobbes – A Page in the History of Sport Philosophy. A Race as a Metaphor, in: Hobbes Studies XXI (2008), 84–91; Timothy Raylor, Philosophy, Rhetoric, and Thomas Hobbes, Oxford: Oxford University Press 2018, 260f.
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Vgl. auch Lev. VIII, 104–123. Vgl. Charles H. Hinnant, Hobbes on Fancy and Judgement, Criticism 18 (1976), 15–26. 79 Das englische Wort wit ist ein komplexer Ausdruck, der im Verlauf des 17. Jahrhunderts mehrfach seine Bedeutung und seinen Anwendungsbereich ändert; Hobbes’ Verwendung ist wechselvoll (vgl. Miriam M. Reik, The Golden Lands of Thomas Hobbes, Detroit: Wayne State University Press 1977, 137 f. und 143 f.). Ferdinand Tönnies übersetzt es hier ganz nüchtern mit »Verstand«; wir folgen ihm, wiewohl Hobbes’ Zusammenführung von fancy (Phantasie) und judgement (Urteilsvermögen) darauf hinweist, dass damit mehr gemeint ist, als in der Nüchternheit des deutschen Wortes Ausdruck findet. Im Leviathan finden wir die Defi nition, naturall wit [natürlicher Verstand] teile sich in zwei Teile: »Celerity of Imaging, (that is, swift succession of one thought to another;) and steddy direction to some approved end« [rasche Vorstellungsgabe (das heißt schnelle Gedankenfolge) und stetige Ausrichtung auf ein als richtig erkanntes Ziel]; »good wit« [guter Verstand] aber, den man manchen nachsagt, sei nichts anderes als »a Good Fancy« [eine gute Einbildungskraft] (Lev. VIII, 104). Hobbes stellt phantasia, die Einbildungskraft, unmittelbar mit ingenium, Geist oder Genie, zusammen; und in der lateinischen Fassung des Leviathan heißt es denn auch: »bonum dicunter habere Ingenium, id est bonam Phantasiam« (Lev. VIII, 105). – Treffl icher als jede theoretische Erörterung vermag ein Blick in Wayne E. Hill/Cynthia J. Ottchen, Shakespear’s Insults: Educating Your Wit, New York: Three Rivers Press 1995, plastisch zu machen, warum das Wörtchen »wit« einen bedeutungsvollen Überschuss besitzt, der durch die Übersetzung mit »Verstand« nicht einzufangen ist. 80 Die Metapher ist alt, und Hobbes nutzt die Gelegenheit, um gegen Aristoteles zu argumentieren; vgl. Aristoteles, Über die Seele. Übersetzt v. W. Theiler, Berlin: Akademie-Verlag 82006, 59: »[…] dass irgendwie der Möglichkeit nach der Geist die denkbaren Dinge sei, aber in der Erfüllung (Wirklichkeit) keines, bevor er denkt, der Möglichkeit nach in dem Sinne wie bei einer Schreibtafel, auf der nichts in Wirklichkeit geschrieben ist.« – Hobbes wird antizipiert vom griechischen Doxographen Aétios (ca. 100 v. Chr.): »When a man is born, the Stoics say, he has the commanding part of his soul like a sheet of paper ready for writing upon. On this he inscribes each one of his conceptions. The first method of inscription is through the senses. For by perceiving something, e.g. white, they have a memory of it when it has departed. And when many memories of a similar kind have occurred, we say we have experience. For the plurality of similar impressions is experience« (zit. nach A. A. Long/D. N. Sedley [Eds.], The Hellenistic Philosophers, Cambridge: Cambridge University Press 1987, Bd. 1, 238). 78
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Bei Fritz Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande (1920–1923), hrsg. v. L. Lütkehaus, Aschaffenburg: Alibri Verlag 2011, Bd. 2, 470, hat zu dieser Stelle gemeint: Hobbes habe hier »die Schwierigkeit seiner Aufgabe, den Entscheidungskampf gegen das Mittelalter, wie mit einem Blitze erleuchtet«. 82 Vgl. auch Civ. XV/14, 226 f.; Civ. XV/14, 190–192 und Lev. XI, 150– L, E 163 und XXXI, 554–575. 83 Hobbes reduziert hier und nachfolgend – wie schon für die Philosophie – die entscheidende Frage der christlichen Theologie auf eine Sprachfrage. Er spricht zwar von »thoughts and imaginations of the mind«, er meint aber das Verhalten der Menschen, wenn sie das Wort »Gott« in den Mund nehmen, denn dieses Verhalten bestimmt die Bedeutung des Wortes, oder genauer: die Bedeutung von Aussagen, die das Wort »Gott« enthalten. – Es liegt ein subtiler Witz in Hobbes’ mehrdeutiger Formulierung »when we take into our mouths the most sacred name of God«, der vermutlich nicht dazu beigetragen hat, seine Zeitgenossen von Hobbes’ besonderer Gläubigkeit zu überzeugen. – Wenn Engel existieren, dann müssen sie körperlich sein, denn die Bezeichnung einer »unkörperlichen Substanz« wäre in sich widersprüchlich. Im Leviathan kommt Hobbes dann zum Ergebnis, dass es Engel gibt, auch wenn er zuvor dachte, es könne sie nicht geben: »I was inclined to this opinion, that Angels were nothing ut supernaturall apparitions of the Fancy, raised by the speciall and extraordinary operation of God, thereby to make his presence and commanements known to mankind, and chiefly to his own people. But the many places of the New Testament, and our Saviours own words, and in such texts, wherein is no suspicion of corruption of the Scripture, have exorted from my feeble Reason, an acknowledgement, and beleef, that there be also Angels substantiall, and permanent« (Lev. XXXIV, 630). 84 Es ist dies die erste Stelle, an der Hobbes die notwendige (!) Beschränkung des Glaubens an Gott zum Ausdruck bringt; vgl. auch unten Kap. XXV, 9. – In Lev. XI, 160 wiederholt Hobbes sein Beispiel, und es heißt dann: »Curiosity, or love of the knowledge of causes, draws a man from consideration of the effect, to seek the cause; and again, the cause of that cause; till of necessity he must come to this thought at last, that there is some cause, whereof there is no former cause, but is eternall; which is it men call God. So that it is impossible to make any profound enquiry into naturall causes, without being enclined thereby to believe there is one God Eternall; though they cannot have any Idea of him in their mind, answerable to his nature. For as a man that is born blind, hearing men talk of warming themselves by the fire, and being brought to warm himself by the same, may easily conceive, and assure himselfe, there is somewhat there, which men
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call Fire, and is the cause of the heat he feeles, but cannot imagine what it is like; nor have an Idea of it in his mind, such as they have that see it; so also, by the visible things of this world, and their admirable order, a man may conceive there is a cause of them, which men call God; and yet not have an Idea, or Image of him in his mind.« 85 Hobbes will von Gott alles fernhalten, was an Endliches und Menschliches erinnert; er ist ein moderner Aufk lärer und anerkennt in ihm nur ein »höchstes Wesen«, weist aber jede weitere Bestimmung seiner Natur von sich ab. 86 Hobbes hat das Beispiel auch in Lev. XI, 160 beibehalten: »Curiosity, or love of the knowledge of causes, draws a man from consideration of the effect, to seek the cause; till of necessity he must come to this thought at last, that there is some cause, whereof there is no former cause, but is eternall; which is it men call God. So that it is impossible to make any profound enquiry into naturall causes, without being enclined thereby to believe there is one God Eternall; though they cannot have any Idea of him in their mind, answerable to his nature. For as a man that is born blind, hearing men talk of warming themselves by the fi re, and being brought to warm himself by the same, may easily conceive, and assure himselfe, there is somewhat there, which men call Fire, and is the cause of the heat he feeles; but cannot imagine what it is like; nor have an Idea of it in his mind, such as they have that see it: so also, by the visible things of this world, and their admirable order, a man may conceive there is a cause of them, which men call God; and yet not have an Idea, or Image of him in his mind.« 87 Vgl. dazu Richard Tuck, Hobbes and Locke on Toleration, in: M. G. Dietz (Ed.), Thomas Hobbes and Political Theory, Lawrence: University of Kansas Press 1990, 153–171, hier 163. 88 Hobbes’ Kenntnis der Bibel ist beeindruckend, sie übersteigt an Breite und Tiefe gewiss, was den meisten seiner theologisch gebildeten Zeitgenossen zu eigen war. Die Bedeutung der Bibel für die politischen Auseinandersetzungen im England des 17. Jahrhunderts kann gar nicht überschätzt werden; es gab kein (!) Argument, das nicht der Rechtfertigung durch die Bibel bedurfte; vgl. umfassend Christopher Hill, The English Bible and the Seventeenth-Century Revolution (1993), London: Penguin 1994, und die Zusammenfassungen von James Farr, Atomes of Scripture: Hobbes and the Politics of Biblical Interpretation, in: M. G. Dietz (Ed.), Thomas Hobbes and Political Theory, Lawrence: University Press of Kansas 1990, 172–196; Cameron Wybrow, Hobbes as an interpreter of biblical political thought, in: K. I. Parker (Ed.), Liberal democracy and the Bible, Lewiston, NY: Edwin Mellen 1992, 39–71, und Aloysius P. Martinich, A Hobbes Dictionary, Oxford: Blackwell Publishers 1995, 47–53.
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Matt 24, 24 lautet: »Denn es werden falsche Christusse und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, so dass sie, wenn es möglich wäre, auch die Auserwählten verführten.« 90 Im Paulus-Brief an die Galater heißt es (Gal. 1, 8): »Wer euch aber ein anderes Evangelium verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht, auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom Himmel.« 91 1 Kor. 3, 11 lautet: »Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.« 92 Vgl. Civ. XV/17, 230 f.; Civ. XV/17, 195 f.; Lev. XXXIII, 604–609. L E 93 Hier fi ndet Hobbes’ Nominalismus einen konsequenten Höhepunkt: Auch »Gott« ist Hobbes zufolge nur eine Frage der verwendeten Sprache. Wir wissen von »Gott« nichts anderes als das, was es bei der Verwendung dieses Wortes in unseren Gesprächen zu beobachten gibt – und über die damit üblich werdende Bedeutung dieses Namens hinaus wissen wir nichts über »Gott« und können darüber auch nichts wissen; vgl. dazu sehr prägnant Dorothea Krook, Thomas Hobbes’s Doctrine of Meaning and Truth, Philosophy XXXI (1956), 3–22, 21 f. 94 Vgl. Civ. XV/9, 223 f.; Civ. XV/9, 188; Lev. XXXI, 560–563. L E 95 Vgl. auch Lev. VI, 78–97 und De corp. X, 132–137. 96 Oben Kap. II, 9 und VII, 2. 97 Vgl. zu Hobbes’ Verständnis von »Freiheit« vor allem seine Auseinandersetzung mit Bischof Bramhall aus dem Jahr 1646: Of Liberty and Necessity: A Treatise, wherein all Controversy Concerning Predistination, Election, Free-Will, Grace, Merits, Reprobation etc. is Fully Decided and Cleared (EW IV, 229–278), und dazu Jürgen Overhoff, Hobbes’s Theory of the Will. Ideological Reasons and Historical Circumstances, Lanham, MD: Rowman & Littlefield 2000, 129–176; Thomas Pink, Suárez, Hobbes and the scholastic tradition in action theory, in: Th. Pink/M. W. F. Stone (Eds.), The Will and Human Action. From antiquity to the present day, London: Routledge 2004, 127–153, hier 144–150; Nicholas D. Jackson, Hobbes, Bramhall and the Politics of Liberty and Necessity: A Quarrel of the Civil Wars and Interregnum, Cambridge: Cambridge University Press 2007; Patricia Springborg, Hobbes’s Challenge to Descartes, Bramhall and Boyle: A Corporal God, British Journal for the History of Philosophy 20 (2012), 903– 934; Roland Reiske, Freiheit und Furcht bei Hobbes, Archiv für Begriffsgeschichte 57 (2016), 73–104. 98 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik (VI, 2, 1139a). Übersetzt und kommentiert v. F. Dirlmeier, Berlin: Akademie-Verlag 81983, 123: »Niemand geht mit sich zu Rate über das, was keine Veränderung zulässt.« 99 Vgl. dazu ausführlich Hobbes’ Of Liberty and Necessity (EW IV, 229– 278).
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Vgl. auch Lev. XXI, 326: »Feare, and Liberty are consistent; as when a man throweth his goods into the Sea for feare the ship should sink, he doth nevertheless very willingly; and may refuse to doe it if he will.« 101 Vgl. dazu Hugo van den Enden, Thomas Hobbes and the Debate on Free Will. His Present Day Significance for Ethical Theory, Philosophica 24 (1979), 185–216; Leopold Damrosch, Hobbes as Reformation Theologian: Implications of the Free-will Controversy, Journal of the History of Ideas 40 (1993), 339–352; Douglas M. Jesseph, Leibniz, Hobbes, and Bramhall on Free Will and Divine Justice, in: H. Poser (Hrsg.), Nihil sine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G. W. Leibniz – VII. Internationaler Leibnizkongress, Berlin 10. bis 14. September 2001. Vorträge, 2. Teil, Hannover: Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft 2001, 565–572; und ausführlicher Jürgen Overhoff, Hobbes’s Theory of the Will. Ideological Reasons and Historical Circumstances, Lanham, MD: Rowman & Littlefield 2000; Alfredo Bergés, Der freie Wille als Rechtsprinzip. Untersuchungen zur Grundlegung des Rechts bei Hobbes und Hegel, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2012; Robin Douglass, Rousseau and Hobbes. Nature, Free Will, and the Passions, Oxford: Oxford University Press 2015. 102 Vgl. auch unten Kap. XIII, 4. 103 Vgl. dazu Quentin Skinner, The Conquest and Consent. Thomas Hobbes and the Engagement Controversy, in: G. E. Aylmer (Ed.), The Interregnum. The Quest for Settlement, London: Macmillan 1972, 79–98; Alan Zaitchik, Hobbes’s Reply to the Fool. The Problem of Consent and Obligation, Political Theory 10 (1982), 245–266; Graham A. J. Rogers (2004): Hobbes, sovereignty and consent, Rivista di Storia della Filosofia 59 (2004), 241–248. 104 Dieses Kapitel hat weder in De Cive noch im Leviathan ein Pendant. 105 Vgl. dazu William Sacksteder, Hobbes: Teaching Philosophy to Speak English, Journal of the History of Philosophy 16 (1978), 33–45. 106 Vgl. auch De corp. VI/11 und 12, 88 f.: »Auch ein auf sich selbst gestellter Mensch (kann) ohne Lehrmeister Philosoph werden. Adam konnte es. Lehren, d. h. beweisen, setzt aber zwei voraus und obendrein die schlussfolgernde Rede. – Da Lehren aber nichts anderes ist, als den Geist des zu Belehrenden auf den Spuren des eigenen Findens zur Erkenntnis des Gefundenen hinzuleiten, wird die Methode des Beweisens gegenüber anderen die gleiche sein wie die des Untersuchens; nur dass der erste Teil der Methode, der von der sinnlichen Wahrnehmung der Dinge zu den universalen Ausgangspunkten fortschritt, wegzulassen ist. Letztere sind nämlich, eben weil sie Ausgangspunkte sind, eines Beweises nicht fähig; und da sie der Natur bekannt sind […], bedürfen sie zwar der Erläuterung, nicht aber eines Beweises. Die Methode des Beweisens ist darum insgesamt synthetisch
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und besteht in einer wohlgeordneten Rede, die bei den ersten bzw. allgemeinsten von sich aus einsichtigen Sätzen anhebt und durch fortwährende Zusammenstellung von Sätzen zu Schlüssen fortschreitet, bis der Lernende die Wahrheit der gesuchten Konklusion einsieht.« 107 Vgl. Jeff rey Barnouw, Persuasion in Hobbes Leviathan, in: Hobbes Studies I (1988), 3–25. 108 Vgl. dazu David Johnston, Plato, Hobbes, and the Science of Practical Reasoning, in: M. G. Dietz (Ed.), Thomas Hobbes and Political Theory, Lawrence: University of Kansas Press 1990, 37–54, hier 43 f., der die Nähe dieses Gedankenganges (und von Kap. XXIX, 8) zu Platons frühem Dialog Euthyphro diskutiert. 109 Vgl. auch das einleitende Widmungsschreiben. 110 Vgl. zu dem, was Hobbes unter wissenschaft licher Darlegung (demonstration) im Gegensatz zu Meinung (opinion) versteht, ausführlich Donald W. Hanson, The Meaning of »Demonstration« in Hobbes Science, History of Political Thought XI (1990), 587–628. – Zu einigen »Fehlern« der Dogmatiker vgl. auch unten Kap. XXVII, 5 bis 10. 111 Bei Juvenal (Saturæ 6,223) heißt es: »Hoc volo, sic jubeo! Sit pro ratione voluntas!« [Dies will ich, dieses befehle ich! Statt einer Begründung gelte mein Wille!] In der sog. »Weibersatire« führt Juvenal diesen Befehl als typisch für herrische Frauen an: Eine Ehefrau fordert hier von ihrem Gatten die sofortige Hinrichtung eines Sklaven ohne weitere Untersuchung seiner Schuld. 112 Vgl. unten Kap. XVII, 12 und Lev. XXVI und überdies: »For the Statutes were made by Authority, and not drawn from any other Principles than the care of the safety of the People. Statutes are not Philosophy as is the Common-Law, and other disputable Arts, but are Commands, or Prohibitions which ought to be obeyed« (Dial. 29); und kurz darauf: »A Law is the Command of him, or them that have the Soveraign Power, given to those that be his or their Subjects, declaring Publickly, and plainly what every of them may do, and what they must forbear to do« (Dial. 31). Mit Thomas Vesting, Legal Theory, München/Oxford/Baden-Baden: C. H. Beck/Hart/ Nomos 2018, 22 ist aber zu betonen: »To be sure, the Hobbesian contract construct is by no means exhausted by the conception of command of law«, auch wenn es Lev. XXVI, 414 kategorisch heißt: »CIVILL LAW, Is to every Subject, those Rules, which the Common-wealth hath Commanded him, by Word, Writing, or other sufficient Sign of Will, to make use, for the Distinction of Right, and Wrong; that is to say, of what is contrary, and what is not contrary to the Rule.« – Vgl. dazu auch Joanne Paul, Counsel, Command and Crisis, in: Hobbes Studies 2/XXVIII (2015), 103–130; Mark C. Murphy, Hobbes (and Augustin, and Aquinas) on Law as Command of the Sov-
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ereign, in: A. P. Martinich/K. Hoekstra (Eds.), The Oxford Handbook of Hobbes, New York: Oxford University Press 2016, 339–358. 113 Das gilt generell: »It is a hard matter, or rather impossible, to know what other men mean, especially if they be craft y« (Beh. 156). 114 Vgl. zur weiteren Entwicklung auch Civ. I, 89–97 und Civ. I, 41–50 L, E sowie Lev. XIII, 188–197 und XIV, 198–219. 115 D. h. ohne staatliche Gesetze. – Wenn Hobbes von »Natur« oder »natürlich« spricht, ist damit Verschiedenes gemeint: Es bezieht sich entweder auf die Natur des Menschen im Allgemeinen (so, wie sie immer ist), auf den vorstaatlichen Zustand ohne bürgerliche Gesetze oder auf physikalischnatürliche Kräfte. 116 Vgl. Civ. I/3, 93: »Sunt igitur omnes homines naturâ inter se æquales. L Inæqualitas quæ nunc est, à lege ciuili introducta est«, und Civ.E I/3, 45: »All men therefore among themselves are by nature equall; the inequality we now discern, hath its spring from the Civill Law«; Lev. XIII, 188: »Nature hath men made so equall, in the faculties of body, and mind; as that though there bee found one man sometimes manifestly stronger in body, or of quicker mind then another; yet when all is reckoned together, the difference between man, and man, is not so considerable, as that one man can thereupon claim to himselfe any benefit, to which another may not pretend, as well as he.« – Hobbes geht ohne jeden Unterschied (für seine Zeit revolutionär!) von einer natürlichen Gleichheit aller (!) Menschen aus; vgl. Gary B. Herbert, Thomas Hobbes’s Counterfeit Equality, Southern Journal of Philosophy 14 (1976), 269–282; Bernard H. Baumrind, Hobbes’s Egalitarism: The Laws of Natural Equality, in: M. A. Bertman/M. Malherbe (Hrsg.), Thomas Hobbes de la métaphysique a la politique. Colloque Franco-américain de Nantes, Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 1989, 119–127; Gregg Franzwa, The Paradoxes of Equality in the Worlds of Hobbes and Locke, Southwest Philosophy Review 5 (1989), 33–37; Eleanor Curran, Hobbes on Equality: Context, Rhetoric, Argument, in: Hobbes Studies 2/XXV (2012), 166–187. 117 Nach der allgemeinen Gleichheit aller Menschen ist es nächstens die Furcht, die den natürlichen Zustand der Menschen bestimmt; vgl. dazu Richard M. Pearlstein, Of Fear, Uncertainty, and Boldness. The Life and Thought of Thomas Hobbes, Journal of Psychohistory 13 (1986), 309–324; Jan A. Blits, Hobbesian Fear, Political Theory 17 (1989), 417–431; Gary B. Herbert, Fear of Death and the Foundation of Natural Right in the Philosophy of Thomas Hobbes, in: Hobbes Studies VII (1994), 56–68; Wolfgang Kersting, Die prometheische Erfindung. Thomas Hobbes über Furcht und Macht, Internationale Zeitschrift für Philosophie 15 (2006), 44–70; Roland Reiske, Freiheit und Furcht bei Hobbes, Archiv für Begriffsgeschichte 57 (2016), 73–104.
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Civ.L I/6, 94: »Frequentissima autem causa quare homines se mutuò lædere cupiunt, es eo nascitur, quod multi simul eandem rem appetent, quâ tamen sæpissimè neque frui communiter, neque diuidere possunt; vnde sequitur fortiori dandam esse; quis autem fortior sit, pugnâ iudicandum est«; Civ.E I/6, 46: »But the most frequent reason why men desire to hurt each other, ariseth hence, that many men at the same time have an Appetite to the same thing; which yet very often they can neither enjoy in common, not yet divide it; whence it follows that the strongest must have it, and who is strongest must be decided by the Sword«; Lev. XIII, 190: »From this equality of ability, ariseth equality of hope in the attaining of our Ends. And therefore if any two men desire the same thing, which nevertheless they cannot both enjoy, they become enemies; and in the way to their End (which is principally their owne conservation, and sometimes their delectation only), endeavour to destroy, or subdue one an other«. 119 Vgl. Civ. I/7, 94; Civ. I/7, 47. – Zum »natürlichen Recht« bzw. L E »Naturrecht« bei Hobbes vgl. etwa Norberto Bobbio, Thomas Hobbes and the Natural Law Tradition (1989), Chicago/London: University of Chicago Press 1993; Glenn P. M. Carrozza, Natural law in the philosophy of law of Thomas Hobbes, Roma: Studiorum Universitas a S. Thoma Aq. in Urbe 1994; Sharon A. Lloyd, Hobbes’s Self-Effacing Natural Law Theory, Pacific Philosophical Quarterly 82 (2001), 285–308; Jeff rey Barnouw, Reason as Reckoning: Hobbes’s Natural Law as Right Reason, in: Hobbes Studies XXI (2008), 38–62; Gary B. Herbert, The Non-normative Nature of Hobbesian Natural Law, in: Hobbes Studies 1/XXII (2009), 3–28; Kody W. Cooper, Thomas Hobbes and the Natural Law, Notre Dame: University of Notre Dame Press 2018. 120 Vgl. auch unten Kap. XVII, 6. 121 Vgl. unten Kap. XVII, 14. – Selbsterhaltung ist das höchste und legitimste Ziel eines jeden Menschen; vgl. dazu Stefan Smid, Selbsterhaltung und Staatlichkeit. Aporien der vernünft igen Konstitution des Friedens in der Staatslehre des Thomas Hobbes, ARSP 69 (1983), 47–67; Brian Stoffell, Hobbes on Self-Preservation and Suicide, in: Hobbes Studies IV (1991), 26– 33; Robert Lawton/Helen Pringle, A Life Well Lost? Hobbes and Self-Preservation, in: Hobbes Studies VI (1993), 58–79; Claire Finkelstein, A Puzzle about Hobbes on Self-Defense, Pacific Philosophical Quarterly 82 (2001), 332–361; Patricia Sheridan, Resisting the Scaffold: Self-Preservation and Limits of Obligation in Hobbes’s Leviathan, in: Hobbes Studies 2/XXIV (2011), 137–157. 122 Vgl. Civ. I/10, 95: »Iure naturali omnia esse omnium. – Natura dedit L unicuique ius in omnia« [Dem natürlichen Recht zufolge gehört allen alles. – Die Natur hat jedem ein Recht auf alles gegeben] bzw. Civ.E I/10, 28: »Na-
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ture has given all things to all men«; vgl. auch Lev. XIV, 198 f.: »every man has a Right to every thing; even to anothers body« bzw. »in conditionem hominum Naturali omnium in omnia Ius esse ipsis hominum corporis non exceptis«. – Vgl. Tommy L. Lott, Hobbes’s Right of Nature, History of Philosophy Quarterly 9 (1992), 159–180. 123 Ausführlicher in Lev. XIII, 196: »To this warre of every man against every man, this also is consequent; that nothing can be Unjust. The notions of Right and Wrong, Justice and Injustice have there no place. Where there is no common Power, there is no Law: where no Law, no Injustice. Force, and Fraud, are in warre the two Cardinall vertues. Justice, and Injustice are none of the Faculties neither of the Body, nor Mind. If they were, they might be in a man that were alone in the world, as well as his Senses, and Passions. They are Qualities, that relate to men in Society, not in Solitude. It is consequent also to the same condition, that there be no Propriety, no Dominion, no Mine and Thine distinct; but onely that to be every mans, that he can get; and for so long, as he can keep it.« 124 Daniel Eggers, Die Naturzustandstheorie von Thomas Hobbes, Berlin / New York: de Gruyter 2008, 140–147, votiert dafür, dieses »Recht aller auf alles« nicht gar zu wörtlich, sondern als eine »leichte Übertreibung« Hobbes’ zu nehmen, um einer möglichen moralisch-rechtlichen Widerlegung des für seine Argumentation so wichtigen »Krieges aller gegen alle« argumentativ zu begegnen; ich sehe keinen Anlass, Hobbes’ konstruktives Modell hier nicht beim Wort zu nehmen. 125 Vgl. Geraint Morgan, Hobbes and the Right of Self-Defence, Political Studies 30 (1982), 413–425; Jonathan Boyd, Defence, Civil Honour, and Artificial Will, in: Hobbes Studies 1/XXVIII (2015), 35–49. 126 Siehe Gregory S. Kavka, Hobbes’s War of All Against All, Ethics 93 (1983), 291–310; Daniel M. Farrell, Hobbes and International Relations: The War of All against All, in: P. Caws (Ed.), The Causes of Quarrel. Essays on Peace, War, and Thomas Hobbes, Boston: Beacon Press 1989, 64–77. 127 Lev. XIII, 192: »Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that condition which is called Warre; and such warre, as is of every man, against every man. For WARRE , consisteth not in Battell onely, or the act of fighting; but in a tract of time, wherein the Will to contend by Battell is sufficiently known: and therefore the notion of Time, is to be considered in the nature of Warre; as it is in the nature of Weather. For as the nature of Foule weather, lyeth not in a showre or two of rain; but in an inclination thereto of many dayes together: So the nature of War, consisteth not in actuall fighting; but in the known disposition thereto, during all the time there is no assurance to the contrary. All other time is PEACE .«
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Der sog. »Naturzustand« ist, anders als es Hobbes’ Hinweis auf die »wilden Urvölker« hier andeutet, kein historisch-empirischer Zustand, sondern ein analytisches Instrument: »The idea of man in a state of nature is, like the idea of a state of nature, not historical but analytical. Hobbes did not regard the state of nature as an early historical period from which men later departed; he rather regarded it as a permanent factor within society, with which therefore all sound social theory must be constantly occupied – that is, as an ever-present menace against which men must be on their guard in both theory and practice«, schreibt Sterling P. Lamprecht, Hobbes and Hobbism (1940), in: P. King (Ed.), Thomas Hobbes. Critical Assessments. 4 Bde., London/New York: Routledge 1993, Bd. I, 17–36, hier 23 f., zutreffend. Ähnlich Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek: Rowohlt 1992, 29, der betont, »dass der Naturzustand bei Hobbes eine hypothetische Konstruktion ist, die sich nicht auf eine konkrete historische Realität bezieht. Der Kampf aller gegen alle ist gleichsam die Natur der modernen Gesellschaft , auf die Hobbes mit der Konstruktion des staatlichen Leviathan antwortet, nicht ihr historischer Vorläufer. Er geht der modernen Gesellschaft nicht voran, sondern ist die Naturform, die sie ständig begleitet und in die sie zu zerfallen droht, wenn sie in ihrer politischen Anstrengung nachlässt.« Oder mit den Worten von Peter C. Mayer-Tasch, Hobbes und Rousseau, Aalen: Scientia Verlag 31991, 12: »Hobbes’ Methode ist ungeschichtlich, sein Urzustand logischer Mythos, nicht aber historische Vision. Er kennt keinen qualitativen Unterschied zwischen dem Wolfsmenschen des Urzustandes und dem im Schoße der Staatlichkeit lebenden Bürger. Was den status naturae vom status civilis trennt, ist einzig die Präsenz einer friedengewährenden Staatsgewalt.« Norberto Bobbio (»El Pais« v. 7. April 1988, 4) hat das im Hinblick auf die damalige Situation im Libanon lakonisch zum Ausdruck gebracht: »Veamos lo que sucede en Libano: es la guerra de todos contra todos, es el estado de naturaleza de nuestros tiempos.« 129 Vgl. Stanley I. Benn, Hobbes on Power, in: M. Cranston/R. S. Peters (Eds.), Hobbes and Rousseau. A collection of critical essays, Garden City, N.Y.: Doubleday Anchor Books 1972, 184–212; Harvey C. Mansfield, Hobbes on Liberty and Executive Power, in: G. Feaver (Ed.), Lives, Liberties and the Public Good, New York: St. Martin’s Press 1987, 27–43; Piotr Hoff mann, The Quest for Power. Hobbes, Descartes, and the Emergence of Modernity, New Jersey: Humanities Press 1996, 3-76; Augustin Riska, Hobbes as a philosopher of power, Filozofia 61 (2006), 511–519; Evan Fox-Decent, Hobbes’s relational theory. Beneath power and consent, in: D. Dyzenhaus/Th. Poole (Eds.), Hobbes and the Law, Cambridge: Cambridge University Press 2012, 118–144.
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Ähnlich noch in Civ.L I/15, 97: »Propter tamen æqualitatem illam virium, cæterarumque facultatum humanarum, hominibus in statu naturæ, hoc est, in statu belli constitutis, conseruatio sui diuturna expectari non potest. Quare quærendam esse pacem, quatenus habendæ eius spes aliqua aff ulserit; vbi haberi ea non potest, quærenda esse belli auxilia, rectæ rationis dictamen est; hoc est, lex Naturæ«, bzw. in Civ.E I/15, 50: »Yet cannot men expect any lasting preservation continuing thus in the state of nature (i.e.) of War, by reason of that equality of power, and other humane faculties they are endued withall. Wherefore to seek peace, where there is any hopes of obtaining it, and where there is none, to enquire out for Auxiliaries of War, is the dictate of right Reason; that is, the Law of Nature«, mit etwas anderer Stoßrichtung dann aber in Lev. XIII, 196 f: »The Passions that encline men to Peace, are Fear of Death; Desire of such things as are necessary to commodious living; and a Hope by their Industry to obtain them. And Reason suggesteth convenient Articles of Peace, upon which men may be drawn to agreement. These Articles, are they, which otherwise are called the Laws of Nature« bzw. dann in der lateinischen Fassung noch deutlicher: »Pacis autem articulos quosdam suggerit Ratio, quae Leges sunt Naturales«. 131 Vgl. auch Civ. II, 98–107 und Civ. II, 51–61 sowie Lev. XIV, 198–219. L, E 132 Vgl. aber: »No Man is born with the use of Reason, yet all Men may grow up to it as well as Lawyers; and when they have appleyed their Reason to the Laws […] may be as fit for, and capable of Judicature as Sir Edw. Coke himself, who whether he had more, or less use of Reason, was not thereby a Judge, but because the King made him so« (Dial. 18 f.). 133 Vgl. auch das Widmungsschreiben, wonach es das Ziel der Untersuchung sei, die Politik »auf die Regeln und die Unfehlbarkeit der Vernunft zurückzuführen«. 134 Hobbes setzt hier das natürliche Recht (law of nature) mit der einfachen Vernunft gleich; in De Cive schwächt er dies ab und spricht davon, das law of nature sei a dictate of reason; im Leviathan schließlich wird die Bestimmung dann sehr viel komplexer; vgl. aber zunächst die Defi nition in Lev. XIV, 198: »A LAW OF NATURE (Lex Naturalis), is a Precept, or generall Rule, found out by Reason, by which a man is forbidden to do, that, which is destructive of his life, or taketh away the means of preserving the same; and to omit, that, by which he thinketh it may be best preserved. For though they that speak of this subject, use to confound Jus, and Lex, Right and Law; yet they ought to be distinguished; because RIGHT, consisteth in liberty to do, or to forbeare; Wheras LAW, determieth, and bindeth to one of them: so that Law, and Right, differ as much, as Obligation, and Liberty; which in one and the same matter are inconsistent.« 135 Hier heißt es über dieses fundamentale Naturgesetz im Englischen:
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»that every man divest himself of the right he hath to all things by nature«; in Civ.L II/3, 100 aber: »ius omnium in omnia retinendum non esse, sed iura quædam transferenda, vel relinquenda esse« bzw. in Civ.E II/3, 53: »That the right of all men, to all things, ought not to be retain’d, but that some certain rights ought to be transferr’d, or relinquisht«; und in Lev. XIV, 200: »That a man be willing, when others are so too, as farre-forth, as for Peace, and defence of himselfe he shall think it necessary, to lay down this right to all things; and be contended with so much liberty against other men, as he would allow other men against himselfe.« Ungeachtet der semantischen Unterschiede zwischen den Elements, De Cive und dem Leviathan (die zu reichlich Ausstoß von Tinte in der Literatur geführt haben) führt dies im Ergebnis immer dazu, dass dem Souverän nachfolgend kein Widerstand entgegengesetzt werden darf: Das natürliche Recht aller auf alles muss aufgegeben werden. Eine genaue Lektüre der Kap. XII und XIII des Leviathan zeigt, dass Hobbes’ Schilderung der Staatswerdung dort Elemente einer Ermächtigungs- und Inkorporationsidee beinhaltet, womit eine begriffliche Wendung hin zu einer korporativ akzentuierten Staatskonzeption angedeutet wird. 136 Hobbes irrt – vermutlich meint er Antigonos III. Doson, König von Makedonien (263 bis 221 v. Chr.) und stützt sich dabei auf eine Bemerkung von Plutarch (Coriolanus, 11). Der Beiname (Δώσων) bedeutet »der die Herrschaft Übergebende«. 137 Vgl. Robinson A. Grover, The Legal Origins of Thomas Hobbes’s Doctrine of Contract, Journal of the History of Philosophy 18 (1980), 177–194; Larry May, Hobbes’s Contract Theory, Journal of the History of Philosophy 18 (1980), 195–207; Russell Hardin, Reading Hobbes in Other Words: Contractarian Utilitarian, Game Theory, Political Theory 19 (1991), 156–180; Ian Ward, Thomas Hobbes and the Nature of Contract, Studia-Leibnitiana 25 (1993), 90–110; Daniel Eggers, Liberty and Contractual Obligation in Hobbes, in: Hobbes Studies 1/XXII (2009), 70–103; Aloysius P. Martinich, Egoism, Reason, and the Social Contract, in: Hobbes Studies 2/XXV (2012), 209–222. – Ganz knapp in Lev. XIV, 204 f.: »The mutuall tranferring of Right, is that which men call CONTRACT« bzw. »Translatio Iuris mutua, Contractus dicitur.« 138 Das Wort bedeutet eigentlich covenant with God = Bund mit Gott. Es wäre deshalb irreführend, das Wort immer mit »Vertrag« zu übersetzen, denn das Wort bezieht sich in der Bibel nicht auf eine (mit Gott ja nicht mögliche) reziproke Vereinbarung, wie etwa agreement oder contract es tun, sondern – so wie auch das griechische diatheke – in theologischen Zusammenhängen immer und zumeist auf ein einseitiges Versprechen oder eine Zusicherung; eine Selbstverpfl ichtung. Tönnies übersetzt mit
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»Schuldversprechen«, »Vertrag« oder auch »Vereinbarung«, weil covenant sich schon Ende des 19. Jahrhunderts im Englischen stets auf rechtliche Bestimmungen oder Versprechen beziehen kann, die den Charakter eines Vertrages haben können, aber nicht müssen. Hobbes’ Wortverwendung ist aber stets stark durch seine lebenslange Bibellektüre geprägt; vgl. Wolfgang Palaver, Bibelstellenregister für die wichtigsten Werke von Thomas Hobbes, International Hobbes Association Newsletter – New Series 10 (1989), 24–31. Die Warnung von Aloysius P. Martinich, Hobbes. A Biography, Cambridge: Cambridge University Press 1999, 150: »Hobbes insists that the agreement is a covenant, not a contract«, bleibt für die gesamte politische Theorie von Hobbes beachtsam. Vgl. auch Howard Warrender, The Political Philosophy of Hobbes. His Theory of Obligation, Oxford: Clarendon Press 1961, 30–47 und 222–249; Vincent Ostrom, Hobbes, Covenant, and Constitution, Publius 10 (1980), 83–100 Klaus-Michael Kodalle, Covenant: Hobbes’s Philosophy of Religion and his Political System »More Geometrico«, in: C. Walton/P. J. Johnson (Eds.): Hobbes’s »Science of Natural Justice«, Dordrecht/ Boston: Martinus Nijhoff 1987, 223–238; Mark C. Murphy, Hobbes on Tacit Covenants, in: Hobbes Studies VII (1994), 69–94; Olli Loukola, Combining morality and rationality: Hobbes on contracts and covenants, in: Hobbes Studies XI (1998), 70–93; Franck Lessay, Hobbes’s Covenant Theology and Its Political Implications, in: P. Springborg (Ed.), The Cambridge Companion to Hobbes’s Leviathan, Cambridge: Cambridge University Press 2007, 243–270. – Vgl. auch Lev. XIV, 204: »one of the Contractors, may deliver the Th ing contracted for on his part, and leave the other to perform his part at some determinate time after, and in the mean time be trusted; and then the Contract on his part, is called PACT, or COVENANT.« 139 Vgl. Lev. XIV, 210: »But in a civill estate, where there is a Power set up to constrain those that would otherwise violate their faith, that feare is no more reasonable; and for that cause, he which by the Covenant is to perform first, is obliged so to do.« 140 Vgl. dazu auch Edwin Curley, The Covenant with God in Hobbes’s Leviathan, in: T. Sorell/L. Foisneau (Eds.): Leviathan After 350 Years, Oxford: Clarendon Press 2004, 199–216. 141 Vgl. Lev. XIV, 210: »To make Covenants with bruit Beasts, is impossible; because not understanding our speech, they understand not, nor accept of any translation of Right; nor can translate any Right to another: and without mutuall acceptation, there is no Covenant. – To make Covenant with God, is impossible, but by Mediation of such as God speaketh to, either by Revelation supernaturall, or by his Lieutenants that govern under him, and in his Name: For otherwise we know not whether our Covenants be accepted, or not. And therefore they that Vow any thing contrary to any
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law of Nature, Vow in vain; as being a thing unjust to pay such Vow. And if it be a thing commanded by the Law of Nature, it is not the Vow, but the Law that binds them.« 142 Vgl. in Österreich seit 1811 etwa § 879 ABGB : »Wer von dem anderen Teil durch List oder durch ungerechte und gegründete Furcht […] zu einem Vertrage veranlasst worden, ist ihn zu halten nicht verbunden«, und § 874 ABGB : »In jedem Falle muss derjenige, welcher einen Vertrag durch List oder ungerechte Furcht bewirket hat, für die nachtheiligen Folgen Genugthuung leisten«. 143 Vgl. auch oben Kap. XII, 3 und unten Kap. XIX, 7. 144 Das Beispiel stammt vermutlich von Cicero, De officiis – Vom pfl ichtgemäßen Handeln (I, 13), Lateinisch und Deutsch. Übersetzt, kommentiert und hrsg. v. H. Gunermann, Stuttgart: Reclam 1992, 39 f.. 145 Vgl. dazu Civ. II/16, 104: »Vniuersaliter verum est obligare pacta, L quando acceptum est bonum, & primittere & id quod promittitur licitum est; licitum autem est & ad redimendam vitam promittere, & de meo dare quicquid voluero cuiquam, etiam latroni. Obligamur ergo pactis, á metu profectis, nisi lex ciuilis aliqua prohibeat, per quam id quod promittitur fiat illicitum« bzw. Civ.E II/16, 58: »It holds universally true, that promises doe oblige when there is some benefit received; and that to promise, and the thing promised, be lawfull: But it is lawfull, for the redemption of my life, both to promise, and to give what I will of mine owne to any man, even to a Th ief. We are oblig’d therefore by promises proceeding from fear, except the Civill Law forbid them, by vertue whereof, that which is promised becomes unlawfull«, und entschiedener noch in Lev. XIV, 212: »Covenants entred into by fear, in the condition of meer Nature, are obligatory. For example, if I Covenant to pay a ransome, or service for my life, to an enemy; I am bound by it. For it is a Contract, wherein one receiveth the benefit of life; the other is to receive mony, or service for it; and consequently, where no other Law (as in the condition, of meer Nature) forbiddeth the performance, the Covenant is valid. Therefore Prisoners of warre, if trusted with the payment of their Ransome, are obliged to pay it: And if a weaker Prince, make a disadvantageous peace with a stronger, for feare; he is bound to keep it; unlesse […] there ariseth some new, and just cause of feare, to renew the war. And even in Common-wealths, if I be forced to redeem my selfe from a Theefe by promising him mony, I am bound to pay it, till the Civill Law discharge me. For whatsoever I may lawfully do without Obligation, the same I may lawfully break.« 146 Vgl. schon in den römischen Digesten 50, 17, 54: »Nemo plus iuris ad alium transferre potest quam ipse habet« [Niemand kann mehr Recht auf eine anderen übertragen, als er selbst hat], und für heute etwa §§ 932 bis
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934, 892 und 405 BGB . – Lev. XIV, 212: »A former Covenant, makes voyd a later. For a man that hath passed away his Right to one man to day, hath it not to passé to morrow to another: and therefore the later promise passeth no Right, but is null.« 147 Bei Livius, Ab urbe condita 1, 24, 8 heißt es: »Jupiter […] populum Romanum sic ferito ut ego hunc porcum hic hodie feriam; tantoque magis ferito quanto magis potes pollesque« [Jupiter (…) schlage das römische Volk so, wie ich dies Schwein hier heute schlagen werde, und schlage es um soviel mehr, um wie viel mehr du es kannst und vermagst]; vgl. auch Civ.L II/20, 106 bzw. Civ.E II/20, 40 f. und Lev. XIV, 216; und zur Bedeutung dieser Stelle Wolfgang Palaver, Politik und Religion bei Thomas Hobbes, Innsbruck/Wien: Tyrolia-Verlag 1991, 64–76. 148 Vgl. Lev. XIV, 218: »It appears also, that the Oath addes nothing to the Obligation. For a Covenant, if lawfull, binds in the sight of God, without the Oath, as much as with it: if unlawfull, bindeth not at all; though it be confirmed with an Oath.« 149 Vgl. Lev. XIV, 212: »The matter, or subject of a Covenant, is always something that falleth under deliberation; (For to Covenant, is an act of the Will; that is to say an act, and the last act, of deliberation); and is therefore always understood to be something to come; and which is judged Possible for him that Covenanteth, to performe. – And therefore, to promise that which is known to be Impossible, is no Covenant. But if that prove impossible afterwards, which before was thought possible, the Covenant is valid, and bindeth (though not to the thing it selfe), yet to the value; or, if that also be impossible, to the unfeigned endeavour of performing as much as is possible: for to more no man can be obliged.« 150 Vgl. auch Civ. III, 107–121 und Civ. III, 61–76 sowie Lev. XV, 220– L, E 243. 151 Hobbes setzt wiederum bei Aristoteles, Politik (I, 2 1253a). Übersetzt und hrsg. v. O. Gigon, München: dtv 61986, 49, an. 152 Hobbes übernimmt den seit Gregors IX. Liber Extra geltenden kanonistischen Grundsatz pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten). Noch bei Cicero, De officiis 3, 92 ff. wird die Frage: Pacta et promissa semperne servanda sint? (Müssen Verträge und Versprechen immer eingehalten werden?) sehr situationselastisch beantwortet. – In Lev. XV, 220 heißt es dann ganz entschieden: »From the Law of Nature, by which we are obliged to transferre to another, such Rights, as being retained, hinder the peace of Mankind, there followeth a Th ird; which is this, That men performe their Covenants made: without which, Covenants are in vain, and but Empty words; and the Right of all men to all things remaining, wee are still in the condition of Warre.«
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Vgl. Lev. XV, 220: »And in this law of Nature, consisteth the Foundation and Originall of JUSTICE . For where no Covenant hath preceeded, there hath no Right been transferred, and every man has right to every thing; and consequently, no action can be Unjust. But when a Covenant is made, then to break it is Unjust: And the defi nition of INJUSTICE is no other than the not Performance of Covenant. And whatsoever is not Unjust, is Just.« 154 Zu Hobbes’ Gerechtigkeitsvorstellung vgl. Max M. Laserson, Power and justice: Hobbes versus Job, Judaism 2 (1953), 52–60; William Mathie, Justice and the Question of Regimes in Ancient and Modern Political Philosophy: Aristotle and Hobbes, Canadian Journal of Political Science 9 (1976), 449–463; David Gauthier, Th ree against Justice: The Fool, the Sensitive Knave, and the Lydian Shepherd, Midwest Studies in Philosophy 7 (1982), 11–29; Craig Walton/Paul J. Johnson (Eds.), Hobbes’s »Science of Natural Justice«, Dordrecht/Boston: Martinus Nijhoff 1987; David D. Raphael, Hobbes on Justice, in: G. A. J. Rogers/A. Ryan, (Eds.): Perspectives on Thomas Hobbes, Oxford: Clarendon Press 1988, 153–170; Martin A. Bertman, Equity as justice and charity in Hobbes, in: M. A. Bertman/M. Malherbe (Eds.), Thomas Hobbes de la métaphysique a la politique. Colloque Franco-américain de Nantes, Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 1989, 107–117; ders., Justice and contra-natural discussion, in: Hobbes Studies X (1997), 23–37; Luc Foisneau, Leviathan’s Theory of Justice, in: T. Sorell/L. Foisneau (Eds.): Leviathan After 350 Years, Oxford: Clarendon Press 2004, 105–122; Andrew J. Corsa, Thomas Hobbes: Magnanimity, Felicity, and Justice, in: Hobbes Studies 2/XXVI (2013), 130–151. 155 Vgl. Horaz, Epistulæ 1, 16, 52,Vers 1: Oderunt peccare boni virtutis amore, oderunt peccare mali formidine poenæ (Die Guten hassen die Sünde aus Liebe zur Tugend, die Schlechten aus Furcht vor Strafe). 156 Dazu Johan Olsthoorn, Hobbes’s Account of Distributive Justice as Equity, British Journal for the History of Philosophy 21 (2013), 13–33. 157 Vgl. auch unten Kap. XVII, 14. – Auf sein eigenes Wohl stets Bedacht zu nehmen, bedeutet nicht, dass Hobbes hier einem rücksichtslosen Egoismus das Wort redet. 158 Vgl. auch Civ. III, 107–121 und Civ. III, 61–76 sowie Lev. XV, 220–243. L E 159 Vgl. Civ. III/9, 112: »Quartum præceptum naturæ est, vt vnusquisL que se cæteris commodum præstet« bzw. Civ.E III/9, 66: »The fourth precept of Nature, is, That every man render himself usefull unto others«, und Lev. XV, 232: »A fi ft h Law of Nature, is COMPLEASANCE ; that is to say, That every man strive to accommodate himselfe to the rest.« 160 Vgl. Civ. III/10, 112: »Legis naturæ quintum præceptum est, oportere L alterum alteri, sumptâ cautione futuri temporis, præteriti veniam petenti &
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Anmerkungen des Herausgebers
pœnitenti, concedere« bzw. Civ.E III/10, 67: »The fi ft h precept of the Law of nature is: That we must forgive him who repents, and asketh pardon for what is past; having first taken caution for the time to come« sowie Lev. XV, 232: »A sixth Law of Nature, is this, That upon caution of the Future time, a man ought to pardon the offences past of them that repenting, desire it«, und dazu Maximilian Jaede, Forgiveness and reconciliation in Hobbes’s natural law theory, History of European Ideas 43 (2017), 831–842. 161 Vgl. Civ. III/11, 113: »Sextum legis naturalis præceptum est, In vlL tione, siue Pœnis, spectandum esse, non malum præteritum, sed bonum futurum« bzw. Civ.E III/11, 67: »The sixth precept of the naturall Law is, That in revenge and punishments we must have our eye not at the evill past, but the future good« und Lev. XV, 232: »A seventh is, That in Revenges (that is, retribution of Evil for Evil), Men look not at the greatnesse of evill past, but the greatnesse of the good to follow.« 162 Vgl. Civ. III/12, 113: »sequitur septimo loco, lege naturali præscripL tum esse, nequis vel factis, vel verbis, vel vultu, vel risu, alteri ostendat se illum vel odisse, vel contemnere« bzw. Civ.E III/12, 67: »it followes in the seventh place, That it is prescribed by the Law of nature, that no man either by deeds, or words, countenance, or laughter, doe declare himselfe to hate, or scorne another«, und Lev. XV, 234: »And because all signs of hatred, or contempt, provoke to fight; insomuch as most men choose rather to hazard their life, than not to be revenged; we may in the eighth place, for a Law of Nature, set down this Precept, That no man by deed, word, countenance, or gesture, declare Hatred, or Contempt of another. The breach of which Law, is commonly called Contumely.« 163 Athen verhängte vermutlich noch 433 v. Chr. per Volksbeschluss ein Handelsverbot gegen die Polis Megara, diese setzte daraufh in alles daran, Sparta zum Handeln zu zwingen, Sparta geriet unter Zugzwang – und deshalb ist dieses Handelsverbot (obwohl es erst nach dem sog. »Ersten Peloponnesischen Krieg« erlassen wurde) wohl der entscheidende Kriegsgrund gewesen. – Hobbes hat Thukydides’ Schilderung des Peloponnesischen Kriegs aus dem Griechischen übersetzt und als sein erstes Buch im Jahr 1628 veröffentlicht; vgl. Thucydides, The Peloponnesian War. The Complete Hobbes Translation with Notes and a New Introduction by D. Grene (1959), Chicago/London: The University of Chicago Press 1989, 79 f. 164 Lev. XV, 236: »It is also a Law of Nature, That all men that mediate Peace, be allowed safe Conduct. For the Law that commandeth Peace, as the End, commandeth Intercession, as the Means; and to Intercession the Means is safe Conduct.« 165 Vgl. auch Civ. III, 107–121 und Civ. III, 61–76 sowie Lev. XV, 220– L, E 243.
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Hobbes reibt sich an Aristoteles, Politik (I, 5). Übersetzt und hrsg. v. O. Gigon, München 61986, 52: »Ob es nun einen Menschen gibt, der von Natur derart ist oder nicht, und ob es besser und gerecht ist für einen Menschen, Sklave zu sein oder nicht, oder ob überhaupt jede Sklaverei gegen die Natur ist, dies ist nun zu untersuchen. – Es ist nicht schwer, dies theoretisch zu erkennen und aus der Erfahrung zu entnehmen. – Das Herrschen und Dienen gehört nicht nur zu den notwendigen, sondern auch zu den zuträglichen Dingen. Einiges trennt sie gleich von Geburt an, das eine zum Dienen, das andere zum Herrschen.« 167 Civ. III/13, 114: »Siue igitur naturâ homines æquales inter se sint, L agnoscenda est æqualitas; siue inæquales, quia certaturi sunt de imperio, necessarium est ad pacem consequendam vt pro æqualibus habeantur, & propterea legis naturalis octauo loco preceptum est, Vt vnusquisque naturâ vnicuique æqualis habeatur« bzw. Civ.E III/13, 68: »Wether therefore men be equall by nature, the equality is to be acknowledged, or wether unequall, because they are like to contest for dominion, ist necessary for the obtaining of Peace, that they be esteemed as equall; and therefore it is in the eight place a precept of the Law of nature, That every man be accounted by nature equall to another«, und Lev. XV, 234: »If Nature therefore have made men equall, that equalitie is to be acknowleged; or if Nature have made men unequall; yet because men think themselves equall, will not enter into conditions of Peace, but upon Equall termes, such equalitie must be admitted. And therefore for the ninth law of Nature, I put this, That every man acknowledge other for his Equall by Nature.« 168 Civ. III/14, 114: »vt quæcumque iura vnusquisque sibimet-ipsi postuL lat, eadem etiam vnicuique concedat cæterorum« bzw. Civ.E III/14, 69: »That what Rights soever any man challenges to himselfe, he also grant the same as due to all the rest«, und Lev. XV, 234: »That at the entrance into condition of Peace, no man require to reserve to himselfe any Right, which he is not content should be reserved to every one of the rest.« 169 Vgl. Larry May, Hobbes on Equity and Justice, in: C. Walton/P. J. Johnson (Eds.), Hobbes’s »Science of Natural Justice«, Dordrecht/Boston: Martinus Nijhoff 1987, 241–252; William Mathie, Justice and Equity: An Inquiry into the Meaning and Role of Equity in the Hobbesian Account of Justice and Politics, in: ebd., 257–276; Sharon Kay Dobbins, Equity: The Court of Conscience or the King’s Command, the Dialogues of St. German and Hobbes Compared, Journal of Law and Religion 1 (1991), 113–149; Dennis Klimchuk, Hobbes on equity, in: D. Dyzenhaus/Th. Poole (Eds.), Hobbes and the Law, Cambridge: Cambridge University Press 2012, 165–185; Tom Sorell, Law and equity in Hobbes, Critical Review of International Social and Political Philosophy 19 (2016), 29–46.
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Anmerkungen des Herausgebers
Pleonexía = Mehr-haben-wollen. – Bei Aristoteles, Nikomachische Ethik (V, 2 1129b). Übersetzt und kommentiert v. F. Dierlmaier, Berlin: Akademie-Verlag 81983, 96, heißt es: »Da der ungerechte Mensch die gleichmäßige Verteilung der Güter missachtet, so richtet sich sein Streben natürlich auf den Besitz von Gütern; er will nicht alle, sondern solche, um die es in Glück und Unglück geht: Güter, die an und für sich immer einen Wert darstellen, für den einzelnen aber nicht unter allen Umständen. Die Menschen freilich beten und sie und jagen ihnen nach, obgleich es nicht richtig ist: dass die Güter von unbedingtem Wert auch wertvoll für sie sein mögen, das sollte Gegenstand ihres Betens sein, und dann sollten sie sich für das, was wirklich wertvoll für sie ist, entscheiden. Der ungerechte Mensch entscheidet sich aber nicht immer nur für das Mehr, sondern auch für das Weniger, nämlich bei den Dingen, die ein Übel-an-sich sind. Weil indes auch ein kleineres Übel in gewissem Sinn als ein Wert gilt und das Mehr-haben-wollen sich auf Werte richtet, deshalb gilt er als ein Mensch, ‚der mehr haben will’. Und er missachtet die Gleichheit – denn dies ist der (beides) umfassende und (beidem) gemeinsame Ausdruck.« Vgl. dazu auch Günther Bien, Gerechtigkeit bei Aristoteles, in: O. Höffe (Hrsg.), Aristoteles – Die nikomachische Ethik (= Klassiker Auslegen Bd. 2), Berlin: Akademie Verlag 1995, 135–164, hier 146 f., der darauf hinweist, dass die Rede von der pleonexía nur angemessen verstanden werden kann, wenn man sich Thukydides’ großes Geschichtswerk (dem Hobbes ja sehr verpfl ichtet ist) vor Augen führt, in dem sämtliche politischen Unrechtshandlungen, Vertragsbrüche, Überfälle auf befreundete Staaten, Expansions- und Eroberungskriege usw. auf diese »Untugend« als ein anthropologisches Grundkonstituens zurückgeführt werden. 171 Civ. III/16, 115: »Ex lege præcedente colligitur vndecima, Quæ diuidi L non possunt communiter (si fieri potest) vtenda esse, idque (si quantitas rei permittat) quantum quisque velit. Sin quantitas rei non permittat, tum præfinito, & proportionaté ad numerum vtentium; aliter enim nullo modo seruari potest æqualitas illa« bzw. Civ.E III/16, 69: »From the foregoing Law is collected this eleventh, Those things which cannot be divided, must be used in common (if they can), and (that the quantity of the matter permit) every man as much as he lists, but if the quantity permit not, the with limitation, and proportionally to the number of the users: for otherwise that equality can by no means be observed«, und Lev. XV, 236: »And from this followeth another law, That such things as cannot be devided, be enjoyed in Common, if it can be; and if the quantity of the thing permit, without Stint; otherwise Proportionably to the number of them that have Right. For otherwise the distribution is Unequall, and contrary to Equitie.« 172 Vgl. Lev. XV, 238: »And because, though men be never so willing
Anmerkungen des Herausgebers
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to observe these Lawes, there may nevertheless arise questions concerning a mans action, First, wether it were done, or not done; Secondly (if done) wether against the Law, or not against the Law; the former whereof, is called a question Of Fact; the later a question Of Right; therefore unlesse the parties to the question, Covenant mutually to stand to the sentence of another, they are as farre from Peace as ever. This other, to whose Sentence they submit, is called an ARBITRATOR . And therefore it is of the Law of Nature, That they that are at controversie, submit their Right to the judgement of an Arbitrator.« 173 Was hier noch als bloße Erkenntnisregel (»Goldene Regel«) für den Ungebildeten daherkommt, wird im Leviathan (Lev. XIV, 200 f.) dann zu einem wichtigen natürlichen Gebot, das uns sagt, wie der Friede zu gewinnen und zu erhalten sei; vgl. auch Lev. XV, 240: »And though this may seem too subtile a deduction of the Lawes of Nature, to be taken notice of by all men; whereof the most part are too busie in getting food, and the rest too negligent to understand; yet to leave all men unexcusable, they have been contracted into one easie sum, intelligible, even to the meanest capacity; and this is, Do not that to another, which thou wouldest not have done to thy selfe; which sheweth him, that he has no more to do learning the Lawes of Nature, but, when weighing the actions of other men with his own, they seem too heavy, to put them into the other part of the ballance, and his own into their place, that his own passions, and selfe-love, may adde nothing to the weight; and then there is none of these Lawes of Nature that will not appear unto him very reasonable.« 174 In Civ. III/27, 74 wird die entsprechende Passage eingeleitet mit den E Worten: »But because most men, by reason of their perverse desire of present profit, are very unapt to observe these Lawes, although acknowledg’d by them…«; im lateinischen Original heißt es zurückhaltender: »præ iniquo præsentis commodi appetitu« (Civ.L III/27, 118). 175 Die Berufung aufs Common Law ist Hobbes zufolge ein wesentlicher Grund für den englischen Bürgerkrieg: »the Lawyers, I mean the Judges of the Courts at Westminster and some few others, though but Aduocates, yet of great reputation for their skill in the Common Laws and Statutes of England, had infected most of the Gentry of England with their Maximes and Cases præiudged, which the call Presidents, and made them think so well of their owne knowledge in the Law, that they were very glad of this occasion to shew it against the King« (Beh. 266). – Vgl. dazu auch Hobbes’ »A Dialogue Between a Philosopher and a Student of the Common Laws of England«, ed. by A. Cromartie, Oxford: Clarendon Press 2005 (= The Clarendon Edition of the Philosophical Works oft Thomas Hobbes. Ed. by H. Warrender et al., Oxford: Clarendon Press, Vol. XI), und dazu etwa
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Anmerkungen des Herausgebers
Paulette Carrive, Hobbes et le juristes de la Common Law, in: M. A. Bertman/M. Malherbe (Éd.), Thomas Hobbes de la métaphysique a la politique. Colloque Franco-américain de Nantes, Paris: Librairie Philosophique J. Vrin 1989, 149–171, und Michael Lobban, Thomas Hobbes and the common law, in: D. Dyzenhaus/Th. Poole (Eds.), Hobbes and the Law, Cambridge: Cambridge University Press 2012, 39–67. 176 Unmissverständlich: »Ph. Can you show me any Reason for it? – La. The Reason lies in the Custom. – Ph. You know that unreasonable Customs are not Law, but ought to be abolished; and what Custom is there more unreasonable than that a Man should be punished without a fault?« (Dial. 124). 177 Hobbes präzisiert dann die Stellung der natürlichen Gesetze in Lev. XV, 242: »These dictates of Reason, men use to call by the name of Lawes; but improperly; for they are but Conclusions, or Theoremes concerning what conduceth to the conservation and defence of themselves; wheras Law, properly is the word of him, that by right hath command over others. But yet if we consider the same Theoremes, as delivered in the word of God, that by right commandeth all things; then are they properly called Lawes.« 178 Was für den Einzelnen vernünft ig (gut) ist, muss daher nicht für alle vernünft ig (gut) sein. Die »natürlichen Gesetze« sind das, was aufs allgemeine Gute ausgerichtet ist. 179 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übersetzt und kommentiert v. F. Dirlmeier, Berlin: Akademie-Verlag 81983, II 6, 1107a: »So ist also sittliche Werthaft igkeit eine feste, auf Entscheidung hingeordnete Haltung; sie liegt in jeder Mitte, die die Mitte in Bezug auf uns ist, jener Mitte, die durch den richtigen Plan festgelegt ist, d. h. durch jenen, mit dessen Hilfe der Einsichtige (die Mitte) festlegen würde. Sie ist Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind, und weiter: sie ist es dadurch, dass das Minderwertige teils hinter dem Richtigen zurückbleibt, teils darüber hinausschießt und zwar im Bereiche der irrationalen Regungen und des Handelns – wohingegen die sittliche Tüchtigkeit das Mittlere zu fi nden weiß und sich dafür entscheidet. Wenn wir daher auf ihr immanentes Wesen und die begriffl iche Darstellung dieses Wertes schauen, so ist die sittliche Vortrefflichkeit eine Mitte, fragen wir jedoch nach Wert und gültiger Leistung, so steht sie auf höchster Warte. – Indes kann unsere Theorie der Mitte nicht auf jedes Handeln und auf alle irrationalen Regungen angewendet werden, denn letztere schließen bisweilen schon ihrem bloßen Namen das Negative ein, z. B. Schadenfreude, Schamlosigkeit, Neid – und auf der anderen Seite des Handelns: Ehebruch, Diebstahl, Mord. All diese und ähnliche Dinge werden ja deshalb getadelt, weil sie in sich negativ sind und nicht nur dann, wenn sie in einem über-
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steigerten oder unzureichenden Maß auft reten. Es ist also unmöglich, hier jemals das Richtige zu treffen: es gibt nur das Falschmachen.« 180 Vgl. auch Civ. IV, 121–129 und Civ. IV, 76–84. L E 181 Vgl. auch Civ. V, 130–135 und Civ. V, 85–90 sowie Lev. XVII, 254– L E 263. 182 Wenn Hobbes den Krieg eines jeden gegen einen jeden als den Urzustand der Menschheit setzt, dann verstößt er damit natürlich auf unübersehbare Weise gegen die Lehre der Bibel. 183 Lev. XVII, 254–256: »For the Lawes of Nature (as Justice, Equity, Modesty, Mercy, and [in summe] doing others, as wee would be done to) of themselves, without the terrour of some Power, to cause them to be observed, are contrary to our naturall Passions, that carry us to Partiality, Pride, Revenge, and the like. And Covenants, without the Sword, are but Words, and of no strength to secure a man at all. Therefore notwithstanding the Lawes of Nature (which every one hath then kept, when he has the will to keep them, when he can do it safely), if there be no Power erected, or not great enough for our security; every man will, and may lawfully rely on his own strength and art, for caution against all other men. And in all places, where men have lived by small Families, to robbe and spoyle one another, has been a Trade, and so farre from being reputed against the Law of Nature, that the greater spoyles they gained, the greater was their honour; and men observed no other Lawes therein, but the Lawes of Honour; that is, to abstain from cruelty, leaving to men their lives, and instruments of husbandry. And as small Familyes did then; so now do Cities and Kingdomes which are but greater Families (for their own security) enlarge their Dominions, upon all pretences of danger, and fear of Invasion, or assistance that may be given to Invaders, endeauvour as much as they can, to subdue, or weaken their neighbours, by open force, and secret arts, for want of other Caution, justly; and are remembred for it in after ages with honour.« 184 Cicero, Pro T. Annio Milone 4, 11: »Silent enim leges inter arma«, womit der Bruch von (kodifizierten) Gesetzen in Kriegszeiten gerechtfertigt werden soll. – Vgl. auch Civ.L V/2, 131 und Civ.E V/2, 85 f. 185 »But what might not an Army doe after it had mastered all the Laws of the Land?«, stellt Hobbes mit großer Lakonie in den Raum (Beh. 298). 186 Vgl. Aristoteles, Politik (I, 2 1253a). Übersetzt und hrsg. v. O. Gigon, München: dtv 61986, 49 f. 187 Vgl. für ein Beispiel die Zunahme von Prozessen: »I believe the Covetousness of Lawyers was not so great in Antient time, which was full of trouble, as they have been since time of Peace, wherein Men have leisure to study fraud, and get employment from such Men as can encourage to Contention« (Dial. 49).
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Anmerkungen des Herausgebers
Vgl. auch unten Kap. XX, 3. – Hobbes nimmt hier möglicherweise Bezug auf die Reise der Mayflower im Jahr 1620, deren Passagiere (»Pilgrim Fathers«) gezwungen waren, sich selbst eine Verfassung (»Mayflower Compact«) zu geben, in der es hieß: »Haveing undertaken, for ye glorie of God, and advancemente of ye christian faith and honour of our king & countrie, a voyage to plant ye first colonie in the Northerne parts of Verginia. Doe by these presents, solemnly & mutualy in ye presence of God, and one of another, covenant, & combine our selves togeather into a Civill body politick; for our better ordering, & preservation & furtherance of ye ends aforesaid; and by vertue hearof to enacte, constitute, and frame such just & equall lawes, ordinances, Acts, constitutions, & offices, from time to time, as shall be thought most meete & convenient for ye generall good of ye Colonie: unto which we promise all due submission and obedience.« Vgl. dazu E. J. Carter, The Mayflower Compact, Chicago: Heinemann Library 2003. 189 Vgl. dazu im 2. Dialog des Behemoth in prägnanter Schärfe: »What are those Laws that are called fundamentall? For I vnderstand not how one Law can be more fundamentall then another, except onely that Law of Nature that binds vs all to obey him, whosoeuer he be, whom lawfully and for our own safety we haue promised to obey. Nor any other fundamentall Law to a King, but Salus Populi the safety and well beeing of his people« (Beh. 195); und am Beginn des 4. Dialogs noch deutlicher: »for the onely Fundamentall Law in euery Common-wealth is, To obey the Laws from time to time which he shall make to whom the people haue giuen the Supreame Power« (Beh. 321). 190 Dazu im Vergleich Civ. V/6 bis 8, 88 f.: »Since therefore the conspirE ing of many wills to the same end doth not suffice to preserve peace, and to make a lasting defence, it is requisite that in those necessary matters which concern Peace and selfe-defence, there be but one will of all men. But this cannot be done, unlesse every man will so subject his will to some other one, to wit, either Man or Counsell, that whatsoever his will is in those things which are necessary to the common peace, it be received for the wills of all men in generall, and of every one in particular. Now the gathering together of many men who deliberate of what is to be done, or not to be done, for the common good of all men, is that which I call a COUNSELL . – Th is submission of the wills of all those men to the will of one man, or one Counsell, is then made, when each one of them obligeth himself by contract to every one of the rest, not to resist the will of that one man, or counsell, to which he hath submitted himselfe; that is, that he refuse him not the use of his wealth, and strength, against any others whatsoever (for he is supposed still to retain a Right of defending himselfe against violence) and this is called UNION. But we understand that to be the will of the counsell, which is the will of the
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major part of those men of whom the Counsell consists. – But though the will it selfe be not voluntary, but only the beginning of voluntary actions (for we will not to will, but to act) and therefore falls least of all under deliberation, and compact; yet he who submits his will to the will of an other, conveighs to that other the Right of his strength, and faculties; insomuch as when the rest have done the same, he to whom they have submitted hath so much power, as by the terrour of it hee can conforme the wills of particular men unto unity, and concord.« Und dazu wiederum die berühmte Passage in Lev. XVII, 260–262: »The only way to erect such a Common Power, as may be able to defend them from the invasion of Forraigners, and the injuries of one another, and thereby to secure them in such sort, as that by their owne industrie, and by the fruites of the Earth, they may nourish themselves and live contentedly; is, to conferre all their power and strength upon on Man, or upon one Assembly of men, that may reduce all their Wills, by plurality of voices, unto one Will: which is as much as to say, to appoint one Man, or Assembly of men, to beare their Person; and every one to owne, and acknowledge himselfe to be Author of whatsoever he that so beareth their Person, shall Act, or cause to be Acted, in those things which concerne the Common Peace and Safetie; and therein to submit their Wills, every one to his Will, and their Judgements, to his Judgement. This is more than Consent, or Concord; it is a reall Unitie of them all, in one and the same Person, made by Covenant of every man with every man, in such manner, as if every man should say to every man, I Authorise and give up my Right of Governing my selfe, to this Man, or to this Assembly of men, on this condition, that thou give up thy Right to him, and Authorise all his Actions in like manner. Th is done, the Multitude so united in one Person, is called a COMMON-WEALTH , in latine CIVITAS . Th is is the Generation of that great LEVIATHAN , or rather (to speak more reverently) of that Mortall God, to which wee owe under the Immortall God, our peace and defence. For by this Authoritie, given him by every particular man in the Common-Wealth, he hath the use of so much Power and Strength conferred on him, that by terror thereof, he is inabled to conforme the wills of them all, to Peace at home, and mutuall ayd against their enemies abroad. And in him consisteth the Essence of the Common-wealth; which (to define it) is One Person, of whose Acts a great Multitude, by mutuall Covenants one with another, have made themselves every one the Author, to the end he may use the strength and means of them all, as he shall think expedient, for their Peace and Common Defence. – And he that carryeth this Person, is called SOVERAIGNE , and said to have Soveraigne Power; and every one besides, his SUBJECT.« 191 Vgl. auch mit maximaler Prägnanz im 3. Dialog des Behemoth: »B.
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They might perhaps say, the people had then no Representatiue. – A. Then there was no Common Wealth« (Beh. 269). 192 Die Unterscheidung von Volk und Menge, populus und multitudo, stammt von Aristoteles: dêmos und plêthos. Die Menge ist die bloß tatsächlich große Anzahl von Menschen; das Volk ist die rechtlich zu einer Person geeinte Menge. 193 Vgl. zu dieser Staatsdefi nition auch De civ. V/9, 89: »One person, E whose will, by the compact of many men, is to be received for the will of them all; so as he may use all the power and faculties of each particular person, to the maintenance of peace, and for common defence« (es ist bemerkenswert, dass der »gemeinsame Nutzen« von der Liste der Staatszwecke verschwunden ist).
teil ii vom politischen kör per 194
Vgl. auch Civ.L VI, 135–149 und Civ.E VI, 90–105 sowie Lev. XVIII, 264–283. 195 Vgl. dazu: »You cannot deny but there must be Law-makers, before there were any Laws, and Consequently before there was any Justice, I speak of Human Justice; and that Law-makers were before that which you call Own, or property of Goods, or Lands distinguished by Meum, Tuum, Alienum« (Dial. 34). Im natürlichen Zustand gibt es kein Eigentum, es gibt nur ein Haben/Nicht-Haben. Nach Hobbes ist die Rede vom Eigentum (verstanden als durch staatliche Gesetze gesichertes Ausschließungs- und Verfügungsrecht) erst im staatlichen Zustand sinnvoll; vgl. unten Kap. XXII, 4 und 5; XXIV, 2. 196 Hier fl ießen Hobbes’ Egalitarismus und sein methodischer Ansatz zusammen: Die Menschen müssten sich als Gleiche anerkennen (oben Kap. XIV, 2); wer glaubt, das Blut des einen sei besser als das des anderen, sei schlicht ignorant (oben Kap. XVII, 1). Und wenn man verstehen will, wie ein body politic gegründet werden könne und funktioniere, dann müsse man den ganzen Körper zunächst in seine Einzelteile zerlegen: »for every thing is best understood by its constitutive causes; for as in a watch, or some such small engine, the matter, figure, and motion of the wheeles, cannot well be known, except it be taken in sunder, and viewed in parts; so to make a more curious search into the rights of States, and duties of Subjects, it is necessary, (I say not to take them under sunder, but yet that) they be so considered, as if they were dissolved, (i.e.) that wee rightly understand what the quality of human nature is, in what matters it is, in what not fit to make up
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a civill government, and how men must be agreed among themselves, that intend to grow up into a well-grounded State« (Civ.E The Authors Preface to the Reader, 32). – Vgl. auch oben Kap. IV, 10. 197 Das Heraustreten aus dem natürlichen Zustand in ein staatlich geordnetes Gemeinwesen (exeundum), das dann bei Kant und Hegel eine unbedingte sittliche Pfl icht sein wird, weil der Mensch seine vernünft ige, sittliche Bestimmung allein in der Vereinigung mit anderen zum Staat erreicht, ist bei Hobbes noch bedingtes Klugheitsgebot und unbedingtes dictamen rectae rationis zugleich. – Lev. XVIII, 264: »A Common-wealth is said to be Instituted, when a Multitude of men do Agree, and Covenant, every one, with every one, that to whatsoever Man, or Assembly of Men, shall be given by the major part, the Right to Present the Person of them all (that is to say, to be their Representative); every one as well he that Voted for it, as he that Voted against it, shall Authorise all the Actions and Judgements, of that Man, or Assembly of men, in the same manner, as if they were his own, to the end, to live peaceably amongst themselves, and be protected against other men.« 198 Vgl. dazu auch die von Hobbes gegebene Kennzeichnung der politischen Verhältnisse nach dem Dezember 1648: »B. Tell me first how this kind of Gouerment vnder the Rump, or Relique of a House of Commons is to be called? – A. Tis doutlesse an Oligarchy. For the Supreame Authority must needs be in one man or in more. If in one, it is Monarchy, the Rump therefore was no Monarch. If the Authority were in more then one, it was in All, or in Fewer the All. When in All, it is Democracy, for euery man may enter into the Assembly, which makes the Soueraigne Court. Which they could not do here. It is therefore manifest that the Authority was in a Few, and consequently the State was an Oligarchy« (Beh. 319). 199 Sicherheit ist gewährleistet, wenn keine Gewalt herrscht und auch keine Furcht davor besteht. In der von Hobbes geschätzten Rhetorik des Aristoteles, Rhetorik (I, 5 1361a). Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. G. Krapinger, Stuttgart: Reclam 2018, 47 heißt es ganz eingeschränkt (und John Locke vorwegnehmend): »Der Begriff der Sicherheit bedeutet, dort, wo man gerade ist, so zu besitzen, dass der Gebrauch des Besitzes dem eigenen Willen unterliegt.« In seiner Zusammenfassung der aristotelischen Rhetorik The Whole Art of Rhetoric aus dem Jahr 1637 schreibt Hobbes unter dem Stichwort »Of Assurance« (Kap. VII): »Assurance is hope, arising from an imagination that the help is near, or the evil is afar off. – The things therefore that beget assurance are: the remoteness of those things that are to be feared, and the nearness of their contraries. And the facility of great or many helps or remedies. And neither to have no competitors, or not great ones; or if great ones, at least friends, such as we have obliged, or are obliged
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to. And that the danger is extended to more or greater than us. – Assured or confident, are: they that have oft escaped danger. And they, to whom most things have succeeded well. And they, that see their equals or inferiors not afraid. And they, that have wherewith to make themselves feared; as wealth, strength, etc. And such as have done others no wrong. And such as think themselves in good terms with God Almighty. And such as think they will speed well, that are gone before” (EW VI, 458). 200 Die Begründung dafür ist einfach und wird von Hobbes u.a. im 3. Dialog des Behemoth gegeben: »For a rightfull King liuing, an ursurping power can neuer be sufficiently secured« (Beh. 283). Solange es eine herrschende Gewalt gibt, kann kein Rechtsbrecher sicher sein, ungeschoren davonzukommen; dies schränkt Hobbes zufolge das Gesamtrisiko des Rechtsbruchs derart ein, dass es die Mehrzahl der Untertanen zu Gehorsam und Folgsamkeit motiviert. Zur offenkundigen Ambivalenz dieser Bestimmung bei Hobbes vgl. Sheldon S. Wolin, Fugitive Democracy and Other Essays, ed. by N. Xenos, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2016, 117–169 (463–470). 201 Deshalb fragt Hobbes im 3. Dialog des Behemoth: »What Publick Faith is there when there is no Publick. What is it that can be called Publick in a Ciuill Warre without the King?« (Beh. 257). 202 Mit aller Entschiedenheit erklärt Hobbes: »For my part I think there cannot be a better Title for Warre the defence of a mans own Right« (Beh. 265). 203 Schon hier kommt die von Hobbes lebenslang verteidigte Behauptung zum Ausdruck, dass »there can be no gouernment where there is more then one Soueraigne« (Beh. 207). Zuletzt neigt Hobbes dazu, alle Gewalten der militärischen Macht unterzuordnen: »I make account that the Legislatiue Power (and indeed all power possible) is contained in the power of the Militia« (Beh. 241), und deshalb heißt es von der ersten Forderungen des Parlaments an den bereits inhaft ierten Charles I.: »Th is first Article takes from the King the Militia, and consequently the whole Souveraignty for euer« (Beh. 303). 204 Vgl. im 4. Dialog des Behemoth die Feststellung: »I beleeue it is the desire of most men to bear rule, but few of them know what title one has to it more then another, besides the Right of the Sword« (Beh. 373). 205 Dieses Postulat ist, so wie es Hobbes hier formuliert, für uns Heutige schwer verdaulich; macht man sich aber bewusst, dass auch die rechtsstaatliche Demokratie (von einigen ganz wenigen Ausnahmen abgesehen) absoluten Gesetzesgehorsam der Bürgerinnen und Bürger verlangt, dann relativiert sich die Zumutung. Zwar besteht die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung vermittels einer elaborierten Verfassungsgerichtsbarkeit
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– was aber machen wir mit höchstgerichtlichen Zumutungen? Die Fragestellung: Quis custodiet ipsos custodes? [Wer wird die Wächter bewachen?] bleibt unvermindert aktuell. 206 Zwischen der Regierung der Tudors und dem kontinentalen Absolutismus bestand ein großer Unterschied: Für den kontinentalen Absolutismus charakteristisch sind die permanente, in Geld bezahlte und deshalb vom Staatsoberhaupt dauernd abhängige Bürokratie und der »miles perpetuus«, das stehende Heer – beide waren ursprünglich Mittel, um die Vorherrschaft der geistlichen und weltlichen Aristokratie zurückzudrängen und die Bauern und Plebejer niederzuwerfen oder niederzuhalten. In England lag die Staats- und Gemeindeverwaltung nicht in den Händen einer Bürokratie kontinentalen Gepräges. Diejenigen Städte, die sich im Laufe des Mittelalters »self-government« erkämpft hatten, wurden von den Magistraten verwaltet, die von den reichen Bürgern gewählt wurden. Auf dem Lande wurde die Verwaltung von den »justices of the peace«, Friedenrichtern, wahrgenommen, die Grundbesitzer waren (natürlich meistens Adelige), die ehrenamtlich fungierten und vom Staatsoberhaupt unabhängig waren. – Hobbes’ Forderung, nur dem Souverän stehe das Ernennungsrecht der magistrates zu, bedeutet nicht weniger als eine vollständige Entmachtung des lokalen Adels in ganz England! 207 Vgl. dazu: »If a Nation choose a Man, or an Assembly of Men to Govern them by Laws, it must furnish him also with Armed Men and Money, and all things necessary to his Office, or else his Laws will be of no force, and the Nation remains, as before it was, in Confusion. ’Tis not therefore the word of the Law, but the Power of a Man that has the strength of a Nation, that makes the Laws effectual« (Dial. 14). 208 Vgl. dazu auch Civ. VI/12, 81 und Lev. XVIII, 270 f. und unten Kap. E XX, 19. – »For I never heard it taken a good Law, that the King my be Indicted, or Appealed, or served with a Writ, till the long Parliament practised the contrary upon the King Charles« (Dial. 38 f.); denn: »For, First, being a Soveraign Ruler, he is not subject to any Law of Man« (Dial. 135) – ein zentrales Credo von Thomas Hobbes, das Johannes Scherr, Geschichte der Englischen Literatur, Leipzig: Verlag von Otto Wiegand 31883, 94, die Bemerkung entlockte: »Das Schaffot zu Whitehall war die Antwort, welche der Puritanismus auf die hobbes’schen Behauptungen gab«. In den Elements wird nüchtern Straff reiheit für den Souverän postuliert, im Leviathan (1651) wird dann konkret auf Charles I. Bezug genommen und behauptet: »no man that hath Soveraigne power can justly be put to death«. 209 Vgl. dazu auch: »For God made Kings for the People, and not People for Kings. How shall I be defended from the domineering of Proud and
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Insolent Strangers that speak another Language, that scorn us, that seek to make us Slaves? Or how shall I avoid the Destruction that may arise from the cruelty of Factions in a Civil War, unless the King, to whom alone […] belongeth the right of Levying and disposing the Militia; by which only it can prevented, have ready Money, upon all Occasions, to Arm and pay as many Souldiers, as for the present defence, or the Peace of the People shall be necessary? Shall not I, and you, and every Man be undone?« (Dial. 17 f.). 210 Damit sagt Hobbes 1640 den kommenden Bürgerkrieg voraus: Die Zeit zwischen der Th ronbesteigung Jacobs I. (1603) und dem Zusammentritt des Langen Parlaments (1640) ist die an Parlamentstagungen ärmste Zeit der englischen Geschichte. Parlamente wurden nur selten einberufen (zwischen 1629 und 1640 überhaupt nicht mehr), und wenn doch einmal eins zusammentrat, kam es schon in den ersten Sitzungen zu einem Zusammenstoß zwischen der Krone, die Geld haben wollte, und dem Unterhaus, das Geld nur bewilligen wollte, wenn es als Gegengabe eine Sicherung und Erweiterung seiner Rechte erhielt. Jacob I. und sein Sohn und Nachfolger Charles I. konnten von ihrem Recht, das Parlament zu vertagen oder aufzulösen, Gebrauch machen, aber dadurch wurde das Loch in den Staatsfinanzen nicht gestopft, im Gegenteil, es wurde immer größer, denn je mehr sich der Konfl ikt verschärfte, desto mehr verhärtete sich die Stimmung der commons, und das Mittel der Steuerverweigerung war eine ihrer wirksamsten Waffen. Hobbes zielte hier ins Zentrum der aktuellen politischen Auseinandersetzung. 211 Vgl. auch unten Kap. XXVII, 7. – John Locke wird es dann sein, der das Konzept Hobbes’ derart mäßigt, dass absolute Souveränität im bürgerlichen Staat durch gewaltenteilige Herrschaft bzw. floating sovereignty ausgeübt werden kann; vgl. zum direkten Vergleich W. von Leyden, Hobbes and Locke. The Politics of Freedom and Obligation, London/Basingstoke: The Macmillan Press 1983, 160–164. 212 Hobbes hat lebenslang gegen alle Formen einer »gemischten Verfassung« angeschrieben; vgl. etwa die folgende Passage aus dem 3. Dialog des Behemoth: »[…] those which were then likeliest to haue their councell asked in this businesse, were auerse to absolute Monarchy, as also to absolute Democracy or Aristocracy, all which Gouernments they esteemed Tyranny, and were in loue with Mixarchy, which they vsed to praise by the name of Mixt Monarchy, though it were indeed nothing else but pure Anarchy« (Beh. 263). – Hier liegt das gravierende Defi zit von Hobbes gesamter politisch-institutionellen Konzeption: Aus der richtigen Einsicht in die Unaufhebbarkeit der Notwendigkeit absoluter Unterordnung unter die Rechtszwangsgewalt des Staates zieht er die falsche Konsequenz, dass
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damit jede Zwangsausübung in umgekehrte Richtung (also jegliche Form der politischen Einwirkung der »Untertanen« auf den Staat) immer ausgeschlossen und stets unzulässig sei; mit anderen Worten: Hobbes identifiziert den absoluten Rechtszwang des Staates mit seiner politisch absoluten Stellung. John Locke und auch Montesquieu behalten dann gegen Hobbes Recht, wenn sie darauf bestehen, dass politische Formen gefunden werden müssen, vermittels derer Prozesse politischer Machtausübung von Individuen und Gruppen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft derart garantiert werden können, dass die Bindung der Staatsgewalt an die Zwecke der Vergesellschaft ung und die Vermittlung der Resultate der politischen Auseinandersetzung mit und zu den Handlungen des Staates langfristig und im Durchschnitt effektiv ohne permanenten Bürgerkrieg realisiert werden. 213 Vgl. auch schon oben Kap. XX, 12. 214 »Absolute Souveränität« hat bei Hobbes zwei Aspekte: Der Souverän ist im Besitz der gesamten politischen Macht innerhalb der Regierung; und er hat das Recht, alle äußeren Regungen des gesellschaft lichen Lebens (gestützt auf zwingende Sanktionsgewalt) zu kontrollieren, um dadurch die Erhaltung des Lebens der Untertanen zu gewährleisten. 215 Vgl. Mario A. Cattaneo, Hobbes’s Theory of Punishment, in: Brown, K. C. Brown (Ed.), Hobbes. Studies, Oxford: Basil Blackwell 1965, 275–297; Alan Norrie, Thomas Hobbes and the Philosophy of Punishment, Law and Philosophy 3 (1984), 299–320; David Heyd, Hobbes on Capital Punishment, History of Philosophy Quarterly 8 (1991), 119–134; Thomas S. Schrock, The Right to Punish and Resist Punishment in Hobbes’s Leviathan, Western Political Quarterly 44 (1991), 853–890. 216 Vgl. auch Civ. VII, 149–159 und Civ. VII, 106–116 sowie Lev. XIX, L E 284–305. 217 Nie wieder wird Hobbes mit derartiger Entschiedenheit feststellen, dass die Demokratie »notwendigerweise« die erste Regierungsform ist, weil es sowohl bei der Aristokratie als auch bei Monarchie einer nachfolgenden einvernehmlichen Auswahl von Personen bedarf; und kaum ein anderer hat mit derartiger Lakonie alles Gerede von einer göttlichen Bestellung des Königs – wie sie noch Charles I. am 30. Jänner 1649 für sich in Anspruch nahm, kurz bevor sein Kopf in den bereitgestellten Korb fiel – vom Tisch gewischt. – Vgl. auch gleich weiter unten Kap. XXI, 9. 218 Hobbes nimmt diesen Grundsatz als generelles Prinzip; bei Ulpian (Dig. 47, 10, 1, 5) wird damit zunächst nur auf ein bestimmtes Delikt Bezug genommen, eine besondere Art der Persönlichkeitsverletzung (erhebliche Körperverletzung, öffentliche Schmähung etc.); erst später erstreckt sich die iniuria auf jede bewusste Missachtung der fremden Persönlichkeit.
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Aber nur in den Augen Gottes, denn erst im himmlischen Königreich kommt Gottes Geboten wieder Sanktionsgewalt zu. 220 Hobbes zehrt von seiner Thukydides-Lektüre; vgl. Thomas Hobbes, On the Life and History of Thucydides, in: Thucydides, The Peloponnesian War. The Complete Hobbes Translation with Notes and a New Introduction by D. Grene, Chicago/London: The University of Chicago Press 1989, 569–586, hier bes. 571 f., und dazu auch David Johnston, The Rhetoric of Leviathan: Thomas Hobbes and the Politics of Cultural Transformation, Princeton: Princeton University Press 1986, 59–65; Ted H. Miller, Mortal Gods. Science, Politics, and the Humanist Ambitions of Thomas Hobbes, University Park: The Pennsylvania State University Press 2011, 140–144. – Vgl. auch unten Kap. XXIV, 3. 221 Angehörige der herrschenden Geschlechter und Mitglieder der Senatspartei im alten Rom. Optimates ist die Übersetzung des griechischen ἄριστοι (aristoi) und kann schwer ins Deutsche übertragen werden. Auch wenn sie immer wieder als »die Besten« geführt (und damit in sittlicher Beziehung hervorgehoben) wurden, so wurde damit tatsächlich mehr eine Klasse als eine Qualität von Bürgern bezeichnet. Im Deutschen würde man vielleicht am ehesten »die Vornehmen« sagen können. 222 Das erinnert stark an die im (gefälschten) privilegium maius (1359) enthaltene Formulierung: »Nemo enim se ipsum potest regem facere, sed populus primum sibi creavit regem, quem voluerat. Sed cum factus fuerat rex, iam habuit potestatem in omnibus, et iam non potest amplius populos iugum eius de cervice sua repellere. Facto autem rege, de regno eum repellere non est in potestate populi, et sic voluntas populi postea in necessitatem convertitur« (zit. Andreas Kosuch, A deo electus? Klerus und Volk als Verkünder des göttlichen Willens bei der Königserhebung des frühen Mittelalters. Von Wirkung und Wandel einer alten Vorstellung, in: F.-R. Erkens [Hrsg.], Das frümittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen, Berlin/New York: de Gruyter 2005, 407–426, hier 423) – was sich übersetzen lässt mit: »Zum König kann sich niemand selbst machen, es hat vielmehr das Volk zunächst den zum König gemacht, den es selbst wollte. Nachdem der König aber einmal eingesetzt war, hatte er Gewalt in allem, und nun kann das Volk sein Joch nicht mehr vom Nacken abwerfen. Es liegt nicht mehr in der Macht des Volkes, den ernannten König aus der Herrschaft zu verjagen, und der freie Wille des Volkes wird so in eine Notwendigkeit verwandelt.« So auch in Lev. XL, 742: »For whosoever ordereth, and established the Policy, as first founder of a Common-wealth (be it Monarchy, Aristocracy, or Democracy) must needs have Soveraign Power over the people all the while he is doing of it.« 223 Vgl. auch die sog. »Montagsdemonstrationen« 1989/1990 in der DDR
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unter der Parole »Wir sind das Volk!« und seit 2014 die Verwendung dieses Ausrufs in Kreisen rund um die rechtspopulistische PEGIDA-Bewegung und bei Demonstrationen und Aktionen gegen Asylwerber in Deutschland. 224 Vgl. auch Civ. VIII, 159–163 und Civ. VIII, 117–121 sowie Lev. XX, L E 306–323. 225 D. h. das Recht dessen, der in einem Gemeinwesen die absolute Gewalt innehat; vgl. auch unten Kap. XXV, 1. 226 In dem von Hobbes verwendeten Begriff servant verschwimmen je nach Kontext die Grenzen zwischen Diener, Knecht, Leibeigenem und Sklaven. Überall dort, wo von absolute subjection (absoluter Untertänigkeit) die Rede ist, sind bondservants bzw. bondsmen und bondswomen (leibeigene Diener) gemeint; die Leibeigenschaft wurde aber in England (trotz des zunächst erfolglosen) Bauernaufstandes von 1381) relativ früh abgeschafft – zur Zeit von Hobbes Geburt war sie praktisch »ausgestorben«. Vgl. Rodney Hilton, Bond Men Made Free. Medieval Peasant Movements and the English Rising of 1381, New York: Routledge 22003; J. H. Baker, Personal Liberty under the Common Law of England, 1200–1600, in: R. W. Davis (Ed.), The Origins of Modern Freedom in the West, Stanford: Stanford University Press 1995, 178–202. 227 Der in Ketten gelegte Sklave hat also nach Hobbes ein natürlich-subjektives Recht auf Selbstbefreiung, das auch im Gemeinwesen gilt – kann er sich befreien, dann ist er als ein Freier zu betrachten! Ein rechtmäßiges »Wiedereinfangen« gibt es nach Hobbes in staatlichen Gesellschaften nicht. 228 Vgl. auch Civ. IX, 163–170 und Civ. IX, 121–128 sowie Lev. XX, 306–323. L E 229 Vgl. Lev. XX, 310: »If there be no Contract, the Dominion is in the Mother. For in the condition of meer Nature, where there are no Matrimoniall lawes, it cannot be known who is the Father, unlesse it be declared by the Mother; and therefore the right of Dominion over the Child dependeth on her will, and is consequently hers. Again, seeing the Infant is first in the power of the Mother, so as she may either nourish, or expose it; if she nourish it, it oweth its life to the Mother; and is therefore obliged to obey her, rather than any other; and by consequence the Dominion over it is hers. But if she expose it, and another find, and nourish it, the Dominion is in him that nourisheth it. For it ought to obey him by whom it is preserved; because preservation of life being the end, for which one man becomes subject to another, every man is supposed to promise obedience, to him, in whose power it is to save, or destroy him.« 230 Ganz abgesehen davon, dass kein gesichertes historisches Wissen darüber besteht, ob es je Amazonen gegeben hat (die Quellen sind dünn),
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wird auch berichtet, dass die Amazonen die männlichen Säuglinge getötet haben und nur die weiblichen am Leben ließen. 231 Hobbes folgt hier offensichtlich der römisch-rechtlichen Vorstellung des pater familias. 232 Selbst in den Wars of the Roses (1455 bis 1487) zwischen den Häusern York und Lancaster wurden nur diese beiden englischen Adelsgeschlechter gänzlich hingerafft; einige andere blieben (Tudors, Stuarts etc.). 233 Vgl. auch Civ. X, 170–180 und XII, 185–194 und Civ. X, 129–140 und L E XII, 145–156 sowie Lev. XIX, 284–305. 234 Die Unterscheidung fi ndet sich bei Aristoteles, Politik (VII, 14 1333a). Übersetzt und hrsg. v. O. Gigon, München: dtv 6 1973, 240: »Regiert wird […] bald zu Gunsten des Regierenden, bald zu Gunsten des Regierten.« 235 Hobbes spricht hier von city, weil er den altgriechischen Ausdruck pólis (Stadt) fortsetzt. 236 Für Hobbes ist das »Gewissen« ohne jeden Belang, es kommt ihm keine Autorität zu; vielmehr ist das Gewissen bloße opinion of evidence (oben Kap. VI, 8). 237 Damit gibt Hobbes einen direkten Kommentar zu den Bemühungen von Charles I., die Steuern gegen den Widerstand des Parlaments zu erhöhen, um England verteidigen zu können. Dies resultiert der Sache nach in Hobbes’ Behauptung, dass jede (auch ungerechte) Steuerbelastung der Bürger immer noch besser sei als die sonst durch Krieg und Eroberung drohende Auflösung des Gemeinwesens. Später wird es ganz explizit an die Adresse seiner Leser gerichtet heißen, er hoffe »(t)hat you will esteeme it better to enjoy your selves in the present state though perhaps not the best, then by waging Warre, indeavour to procure a reformation for other men in another age, your selves in the meane while either kill’d, or consumed with age« (Civ.E The Authors Preface to the Reader, 36). 238 Vgl. heute Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK : »Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen. – Die vorstehenden Bestimmungen beeinträchtigen jedoch in keiner Weise das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern, sonstiger Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.« Diese Bestimmung steht in Österreich im Verfassungsrang (BGB l. Nr. 59/1964). 239 Damit destruiert Hobbes sein ganzes Argument, denn auf die Frage: »Wie viel ist denn nötig?« gibt es nach Hobbes wiederum nur die einzig
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verbindliche Antwort des Souveräns. Das englische Parlament hat es aber stets als sein Vorrecht angesehen, die Höhe der an den König zu zahlenden Abgaben selbst zu bestimmen; just daraus entstand der Konfl ikt zwischen Krone und Parlament, der dann zum Bürgerkrieg 1640 bis 1660 führte. 240 Vgl. oben Kap. XXI, 5. 241 Dieses zeitbedingt-royalistische Entgegenkommen steht in scharfem Widerspruch zu Hobbes’ These, dass die Demokratie die ursprüngliche Regierungsform gewesen sei; vgl. oben Kap. XXI, 1. 242 Wir dürfen das nicht als Empfehlung werten, sich »egoistisch« zu verhalten, es ist diese Behauptung vielmehr eine Folge von Hobbes’ anthropologischen Grundannahmen, vgl. oben Kap. XII, 2 bis 5 oder XVI, 6. Freilich spüren wir hier Hobbes’ übliche Abneigung gegen Rhetorik, verbunden mit einer generisch antidemokratischen Orientierung. 243 Ferdinand Tönnies übersetzt hier: »Ein anderes Bedenken gegen die Monarchie ist die Macht, den freien Lauf der Gerechtigkeit zu hindern«; hier geht es aber weder um »den freien Lauf« noch um »Gerechtigkeit«, sondern um die in England bis 1688 geführte Diskussion, in welchem Umfang und in welchen Einzelfällen der König das Recht haben soll, von gerichtlichen Entscheidungen im Einzelfall zu dispensieren bzw. diese aufzuheben. Gerade Hobbes hält gerichtliche Entscheidungen nicht per se für »gerecht«, weiß er doch um die politische Beeinflussbarkeit der Justiz seiner Zeit. Nota bene: Hobbes nützt hier gefl issentlich, dass das absolutistische Prinzip, wonach der Wille des Souveräns die einzige Quelle des Rechts sei, logisch zu dem Gedanken führt, dass derjenige, der das Recht schafft, auch am besten darüber entscheidet, wie das Recht auf den einzelnen Fall anzuwenden sei, dass die Richter lions under the Thron (Löwen unter dem Th ron) sein sollten, die ihre Urteile nach den von der Krone gegebenen Direktiven zu richten hätten. Tatsächlich waren zum Zeitpunkt der Niederschrift der Elements die Mitglieder des königlichen privy councils (Geheimen Rates) zugleich die wichtigsten Mitglieder der prerogative courts (Sondergerichte), also der Sternenkammer und des geistlichen Ausnahmegerichts; diese zogen einen immer größer werdenden Teil der Fälle an sich, die ursprünglich der Jurisdiktion der ordentlichen Gerichte gehört hatten, und sie fällten eine Reihe von Schreckensurteilen über völlig unbescholtene Bürger, deren einzige »Schuld« darin bestand, dass sie tapfer genug waren, sich zu ihren eigenen Anschauungen zu bekennen. Die Opfer dieser Terrorjustiz wurden konfiskatorischen Geldstrafen unterworfen, sie wurden ausgepeitscht, an den Pranger gestellt, Salz wurde ihnen in die Wunden gestreut, sie wurden gebrandmarkt, ihnen wurden die Ohren abgeschnitten, die Nase aufgeschlitzt etc. etc. Die Ausdehnung der Tätigkeit der Ausnahmegerichte begleitete eine wachsende Zahl von Eingriffen in Verfahren
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und die Spruchpraxis der ordentlichen Gerichte. Einige Richter versuchten, ihre Unabhängigkeit von der Exekutive zu wahren, wofür sie mit dem Verlust ihrer Stellung und manchmal auch ihrer Freiheit bestraft wurden, aber die meisten unterwarfen sich dem auf sie ausgeübten Druck. Gegen diese ganze Rechtsentwicklung erhob sich der leidenschaft liche Widerstand der im common law geschulten Advokaten, die zu der reichen Kaufmannschaft in London und zu der kapitalistisch werdenden Sektion des Adels in regen geschäft lichen, verwandtschaft lichen und freundschaft lichen Beziehungen standen. Sie bekämpften die Auffassung, dass die Richter lions under the Thron wären. Ihrer Meinung zufolge führte das Recht eine eigene Existenz, es stände sowohl über dem König wie über den Untertanen und sollte selbständig zwischen ihnen entscheiden, statt von der einen oder anderen Partei gleichsam angeeignet zu werden. Die Ausnahmegerichte mit ihren königlichen Ratgebern als Richtern und ihrem willkürlichen Verfahren galten den common-law-Juristen als alien, als Bestandteil einer fremden, der romanisch-katholisch-absolutistischen Zivilisation. – Der Widerspruch der Advokaten, die in reichen und mächtigen Zünften zusammengeschlossen waren, wurde gewaltig durch die Art gestärkt, in der die breiten kleinbürgerlichen und plebejischen Massen auf die grausamen und auf die Schändung der Opfer berechneten Strafen reagierten. Weit entfernt davon, im wörtlichen Sinne abschreckend zu wirken, führte die Terrorjustiz dazu, dass der Widerwille und der Hass gegen das Regime der Stuarts immer mehr wuchsen. – Mit anderen Worten: Hobbes goss hier Öl ins Feuer! 244 Vgl. auch Civ. XV, 219–233 und XVIII, 280–294 bzw. Civ. XV, 183– L E 199 und XVIII, 249–265 sowie Lev. XX, 306–323 und XLIII, 928–955. 245 Vgl. Lev. XLIII, 928: »The most frequent praetext of Sedition, and Civill Warre, in Christian Common-wealths hath a long time proceeded from a difficulty, not yet sufficiently resolved, of obeying at once, both God, and Man, then when their Commandements are one contrary to the other. It is manifest enough, that when a man receiveth two contrary Commands, and knows that one of them is Gods, he ought to obey that, and not the other, though it be the command even of his lawfull Soveraign (wether a Monarch, or a soveraign Assembly), or the command of his Father. The difficulty therefore consisteth in this, that men when they are commanded in the name of God, know not in divers Cases, wether the command be from God, or wether he that commandeth, doe but abuse Gods name for some private ends of his own. For as there were in the Church of the Jews, many false Prophets, that sought reputation with the people, by feigned Dreams, and Visions; so there have been in all times in the Church of Christ, false Teachers, that seek reputation with the people, by phantasticall and false
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Doctrines; and by such reputation (as is the nature of Ambition), to govern them for their private benefit.« 246 Vgl. unten Kap. XXV, 8 und 11. – Hobbes zufolge sind also menschliche Gesetze immer nur auf unser faktisches Tun oder Unterlassen gerichtet, niemals aber auf unsere Gesinnung. 247 Civ. XVIII/6, 285: »Dico autem alium Articulum fidei præter hunc, L IESVM ESSE CHRISTUM , homini Christiano, vt necessarium ad salutem requiri nullum« bzw. Civ.E XVIII, 256: »I say, that to a Christian there is no other article of Faith requisite as necessary to Salvation, but only this, THAT JESUS IS THE CHRIST«, und Lev. XLIII, 938: »The (Vnum Necessarium) Onely Article of Faith, which the Scripture maketh simply Necessary to Salvation, is this, that JESUS IS THE CHRIST.« 248 In der Version der King-James-Bibel heißt es Acts 3, 13: »The God of Abraham, and of Isaac, and of Jacob, the God of our fathers, hath glorified his Son Jesus; whom ye delivered up, and denied him in the presence of Pilate, when he was determined to let him go.« 249 In fast allen Ausgaben (Tönnies, Gaskin) wird die falsche Bezeichnung »Vers 4« übernommen; richtig ist 1 Joh. 5, 5. 250 Richtig: Apostelgesch. 16, 29 bis 31. 251 Richtig: Apostelgesch. 17, 6 und 7. 252 Jubel- und Gebetsrufe. 253 Richtig: 1 Kor. 3, 10 und 11. 254 Richtig: Kolosser 2, 6 und 7. 255 Richtig: Matth. 18, 5 und 6. 257 Vgl. Georg Lenz, Demokratie und Diktatur in der englische Revolution 1640–1660, München/Berlin: Verlag von R. Oldenbourg 1933, 50: »Es ist heute schwierig, sich eine Vorstellung zu machen von der Bedeutung, welche die Sekten für ein Zeitalter hatten, das noch ganz in der Vorstellungswelt der Bibel und der kirchlichen Tradition lebte. Die Erschütterungen des kirchlichen Glaubenssystems bedeuten in viel höherem Maße als heute eine Bedrohung der ganzen sozialen Struktur. Der Persönlichkeitsbegriff war noch weit von derjenigen Unabhängigkeit den religiösen Dingen gegenüber entfernt, die ein Gefühl der persönlichen Freiheit auch außerhalb der Grenzen des religiösen Dogmas gewährt. Freund und Feind waren sich in diesem Zustand der religiösen Befangenheit gleich.« Hobbes’ politisch-theologisches Programm einer reduzierten Fundamentalisierung des christlichen Glaubens (»Jesus ist der Christus«, eines darüber hinausgehenden Glaubens bedarf es zur Erlösung nicht) kann vor diesem Hintergrund auch als ein Programm sozialer Homogenisierung gelesen werden. 258 Schüler des Aristoteles, benannt nach dem Peripatos, dem im Ly-
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keion-Gymnasium gelegenen Wendelgang; ihnen lag vor allem an einer Kommentierung der Werke Aristoteles’. 259 Akzidenz: etwas nicht zum Wesen der Sache Gehörendes. 260 Hypostasis: konkreter Bestand einer Sache; in der christlichen Trinitätslehre wird der Begriff genutzt, um die drei göttlichen Personen (Vater, Sohn, Heiliger Geist) unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen Besonderheit zu kennzeichnen (»ein Wesen [ousia] – drei Hypostasen«). 261 Vgl. auch das entschiedene Trennungsgebot von Hobbes: »Schließlich ist von der Philosophie die Lehre von der Verehrung Gottes ausgeschlossen, da man das diesbezügliche Wissen nicht aus der natürlichen Vernunft, sondern der Autorität der Kirche zu entnehmen hat, und sie nicht Sache der Wissenschaft, sondern des Glaubens ist« (De Corp. I/8, 24). Dies gilt natürlich vice versa: In der Theologie hat die Wissenschaft nichts zu suchen! 262 Röm. 12, 3 lautet: »Denn ich sage auch durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedermann unter euch, dass niemand weiter von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er von sich mäßig halte, ein jeglicher, nach dem Gott ausgeteilt hat das Maß des Glaubens.« 263 Richtig: 2 Tim. 2, 17 und 18. 264 Vgl. Civ. XVIII/2, 281: »Sunt autem necessaria ad salutem omnia, L duabus virtutibus comprehensa, Fide & Obedientia« bzw. Civ.E XVIII/2, 251: »Now all things necessary to Salvation are comprehended in two vertues, Faith, and Obedience« und Lev. XLIII, 930: »All that is NECESSARY to Salvation, is contained in two Vertues, Faith in Christ, and Obedience to Laws.« 265 Lukas 18, 22: »Verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach!« 266 Vgl. aber oben Kap. IV, 10: »Erfahrung lässt auf nichts Allgemeines schließen.« 267 Vgl. auch Lev. XLIII, 954, wo Hobbes die Gefahren, die einem gläubigen und gehorsamen Christenmenschen unter der Herrschaft eines ungläubigen Souveräns drohen, herunterspielt, denn: »what Infidel King is so unreasonable, as knowing he has a Subject, that waiteth for the second comming of Christ, after the present world shall bee burnt, and intendeth then to obey him (which is the intent of beleeving that Iesus is the Christ), and in the mean time thinketh himself bound to obey the Laws of that Infidel King (which all Christians are obliged in conscience to doe), to put to death, or to persecute such a Subject?« 268 Vgl. auch Civ. XVI/13, 242 f. und 16, 246–248 bzw. Civ. XVI/13, L E 208–210 und 16, 212–215 und Lev. XL, 742–751; XLI, 764–773; XLII, 796–807, 834–843, 850–855. 269 Als »aristokratische« Synode sieht Hobbes die Versammlung der Bi-
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schöfe, als eine »demokratische« die aller Kirchenbeamten, entsprechend dem Hinweis, den er gleich weiter unten gibt: eine Anspielung auf die verschiedenen Strömungen innerhalb der Church of England. 270 4. Mose 28–35. – Die Erde verschlang sie alle. 271 Lukas 10, 1. – Dies ist einzige Stelle im Evangelium, an der »siebzig Jünger« (und nicht nur zwölf) angeführt sind. 272 Hobbes nimmt selbstverständlich die Bibel als historischen Grundlagentext; den einschlägigen Stand der Forschung bringt ausgesprochen plastisch Paula Fredriksen, When Christians Were Jews. The First Generation, New Haven/London: Yale University Press 2018. 273 1 Tim. 5, 19 lautet: »Wider einen Ältesten nimm keine Klage an ohne zwei oder drei Zeugen.« 274 Apostelgesch. 14, 23 lautet: »Und sie ordneten ihnen hin du her Älteste in den Gemeinden, beteten und fasteten, und befahlen sie dem Herrn, an den sie gläubig geworden waren.« 275 Hobbes verwendet hier in Entsprechung zur ecclesia primitiva den Ausdruck primitive church. Die evangelischen Reformbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts forderten eine »Vollendung« der Reformation nach dem Ideal der Urkirche. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts setzte sich der Begriff der »Urgemeinde«, des »Urchristentums« oder der »Urgeschichte des Christentums« gegenüber dem der ecclesia primitiva durch. 276 Wenn Hobbes in seinem späteren Widmungsschreiben an William Cavendish in De Cive (1642) also von Homo homini lupus spricht (Civ.L Epistola Dedicatoria, 73), dann fi ndet sich das Vorbild dafür nicht nur in Plautus’ Komödie Asinaria (vgl. Françoise Tricaud, »Homo homini Deus«, »Homo homini lupus«: Recherche des Sources des deux Formules de Hobbes, in: R. Kossellek/R. Schnur (Hrsg.), Hobbes-Forschungen, Berlin: Duncker & Humblot 1969, 61–70), sondern vermittelt auch in dieser Bibelstelle, auf die zumeist nicht hingewiesen wird. 277 Richtig: Matth. 10, 14 und 15. 278 Matth. 13, 3 lautet: »Und er redete zu ihnen mancherlei durch Gleichnisse und sprach: Siehe, es ging ein Sämann aus zu säen.« 279 Matth. 13, 33 lautet: »Ein anderes Gleichnis redete er zu ihnen: Das Himmelreich ist gleich einem Sauerteig, den ein Weib nahm und unter drei Scheffel Mehl vermengte, bis es ganz durchsäuert war.« 280 Kardinal Roberto Francesco Romolo Bellarmino (1542–1621), Jesuit, Apologet der römisch-katholischen Kirche und Verfechter päpstlicher Suprematie. Hobbes hat sich in den Kap. 42 bis 44 seines Leviathan (1651) beinahe ausschließlich mit Bellarmin beschäft igt und zitiert ihn häufiger als jeden anderen Autor; vgl. zu ihm Thomas Dietrich, Die Theologie der Kirche bei Robert Bellarmin (1542–1621): Systematische Voraussetzungen des
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Kontroverstheologen, Paderborn: Bonifatius 1999, und Jean-Robert Armogathe, Bellarmin, Sarpi et Hobbes. L’interprétation politique des Ecritures, in: G. Canziani/Y. C. Zarka (Eds.), L’interpretazione nei secoli XVI e XVII. Atti del Convegno internazionale di studi, Milano 18–20 novembre – Parigi 6–8 dicembre 1991, Milano: Franco Angeli 1993, 537–547; Patricia Springborg, Thomas Hobbes and Cardinal Bellarmine: Leviathan and »The Ghost of The Roman Empire«, History of Political Thought 16 (1995), 503–531. 281 Die Argumentation ist nichts weniger als grandios und von nicht zu unterschätzender grundsätzlicher Bedeutung: Es wird durch die Exkommunikation nicht der Exkommunizierte verbannt, sondern der Exkommunizierende verbannt sich damit selbst aus dem Herrschaftsbereich des weltlichen Herrschers; anders gesagt: Mit der Exkommunikation von Heinrich VIII. (1534) hat sich der Papst selbst von England aus freien Stücken verabschiedet! 282 Vgl. auch Civ. XII, 185–194 und Civ. XII, 145–156 sowie Lev. XVII, L E 254–263 und XXIX, 498–519. 283 Vgl. Jules Steinberg, The Obsession of Thomas Hobbes. The English Civil War in Hobbes’s Political Philosophy, New York: Peter Lang Publishing 1988; Deborah Baumgold, Hobbes’s Political Sensibility: The Menace of Political Ambition, in: M. G. Dietz (Ed.), Thomas Hobbes and Political Theory, Lawrence: University of Kansas Press 1990, 74–90, hier 82 f.; William R. Lund, Hobbes on Opinion, Private Judgment and Civil War, History of Political Thought 13 (1992), 51–72; Nicholas D. Jackson, Hobbes, Bramhall and the Politics of Liberty and Necessity: A Quarrel of the Civil Wars and Interregnum, Cambridge: Cambridge University Press 2007. – Hobbes hat diese Ursachenanalyse in De Cive (Kap. XII) fortgesetzt, im parallelen Abschnitt des Leviathan (Kap. XXIX) zählt er infirmities (Gebrechen) oder diseases (Krankheiten) auf, für die das Gemeinwesen empfänglich sei; vgl. zum Wechsel der Perspektive Lev. XXIX, 498: »Though nothing can be immortall, which mortals make; yet, if men had the use of reason they pretend to, their Common-wealths might be secured, at least, from perishing by internall diseases. For by the nature of their Institution, they are designed to live, as long as Man-kind, or as the Lawes of Nature, or as Justice it selfe, which gives them life. Therefore when they come to be dissolved, not by externall violence, but intestine disorder, the fault is not in men, as they are the Matter; but as they are the Makers, and orderers of them. For men, as they become at last weary of irregular justling, and hewing one another, and desire with all their hearts, to conforme themselves into one firme and lasting edifice; so for want, both of the art of making fit Lawes, to square their actions by, and also of humility, and patience, to suffer the rude and cumbersome points of their present greatnesse to be taken off, they cannot
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without the help of a very able Architect, be compiled, into any other than a crasie building, such as hardly lasting out their own time, must assuredly fall upon the heads of their prosperity.« 284 Heinrich VII. regierte von 1485 bis 1509; Heinrich VIII. war sein zweiter Sohn und folgte ihm unmittelbar nach. 285 Die Schlacht von Deptford Bridge war das Ende des kornischen Aufstands; sie fand am 17. Juni 1497 in der Nähe des heutigen Deptford im Südosten von London am Fluss Ravensbourne statt. Da sich ein großer Teil der Schlacht auf dem östlichen Ufer des Ravensbourne am Rande des Plateaus von Blackheath abspielte, spricht man auch von der Schlacht von Blackheath; die Anführer der Rebellen Michael An Gof und Thomas Flamank wurden gehängt und gevierteilt bzw. geköpft (Lord Audley). 286 Vgl. dazu etwa Michael Hicks, Dynastic Change and Northern Society: The Fourth Earl of Northumberland, 1470–89, in: ders., Richard III. and His Rivals. Magnates and their Motives in the War of the Roses, London/Rio Grande: The Hambledon Press 1991, 365–394. 287 Vgl. Aristoteles, Politik (VI, 2 1317a, b). Übersetzt und hrsg. v. O. Gigon, München: dtv 61973, 203: »Grundlage der demokratischen Staatsform ist die Freiheit; man pflegt nämlich zu behaupten, dass die Menschen nur in dieser Staatform an der Freiheit teilhaben, und erklärt, dass danach jede Demokratie strebe.« – Wohl eine der ganz wenigen Stellen, in denen Hobbes sich nicht abschätzig gegenüber Aristoteles äußert; weiß man aber über die Verachtung, mit der Hobbes die Philosophie des Aristoteles nachfolgend straft , dann erhält auch diese Stelle eine ironisierende Note; vgl. zum Verhältnis von Hobbes zu Aristoteles statt aller Thomas A. Spragens, The Politics of Motion. The World of Thomas Hobbes. With a Foreword by A. Flew, London: Croom Helm 1973, passim; Tom Sorell, Hobbes and Aristotle, in: C. Blackwell/S. Kusukawa (Eds.), Philosophy in the Sixteenth and Seventeenth Centuries: Conversations with Aristotle, Aldershot: Ashgate 1999, 364–379; Cees Leijenhorst, The Mechanization of Aristotelianism. The late Aristotelian Setting of Thomas Hobbes’s natural philosophy, Leiden/ Boston/Köln: Brill 2002. 288 Vgl. dazu Neil Wood, Thomas Hobbes and the Crisis of the English Aristocracy, History of Political Thought 1 (1980), 437–452, hier 443–447, der sich auf Lawrence Stone, The Crisis of the Aristocracy 1558–1641, Oxford: Clarendon Press 1965, stützt. 289 Hobbes setzt sich damit an den äußersten Rand des politischen Spektrums seiner Zeit. Der Mehrzahl der Parlamentarier war es eine große Gewissheit, dass der Krone keine absoluten Rechte zuständen. Hobbes votiert hier aber für die völlige Ausschließung des Parlaments in allen Steuer- und Eigentumsfragen.
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Vgl. oben Kap. XIII, 4. Vgl. mit großer Entschiedenheit dann Lev. XXIX, 502: »Another doctrine repugnant to Civill Society, is, that whatsoever a man does against his Conscience, is Sinne; and it dependeth on the presumption of making himself judge of Good and Evill. For a mans Conscience, and his Judgement is the same thing; and as the Judgement, so also the Conscience may be erroneous. Therefore, though he that is subject to no Civill Law, sinneth in all he does against his Conscience, because he has no other rule to follow but his own reason; yet it is not so with him that lives in a Common-wealth; because the Law is the publique Conscience, by which he hath already undertaken to be guided. Otherwise in such diversity, as there is of private Consciences, which are but private opinions, the Common-wealth must needs be distracted, and no man dare to obey the Soveraign Power, farther than it shall seem good in his own eyes.« 292 Der französische Staatsphilosoph Jean Bodin (1530–1596) hat mit seinem Hauptwerk Les six livres de la République (1576) die Idee staatlicher Souveränität in die politische Philosophie eingeführt und befürwortete eine absolutistische und zentralistische Monarchie; vgl. zum Verhältnis von Hobbes und Bodin etwa Mario Reale, Assolutismo, eguaglianza e diseguaglianza civile. Note su Bodin e Hobbes, Il pensiero politico 1 (1981), 145–153; Victor Ivo Comparato, Mediazione politica e teoria dello Stato. Note su Bodin e Hobbes, Archivio Storico Italiano 144 (1986), 17–33; Simone Goyard-Fabre, La Souveraineté de Bodin à Hobbes, in: Hobbes Studies IV (1991), 3–25; Gianfranco Borelli, Obligation juridique et obéissance politique: les temps de la discipline moderne pour Jean Bodin, Giovanni Botero et Thomas Hobbes, in: L. Foisneau (Éd.), Politique, droit et théologie chez Bodin, Grotius et Hobbes, Paris: Éditions Kimé 1997, 11–25; Preston King, The ideology of order. A comparative analysis of Jean Bodin and Thomas Hobbes (1974), London: Frank Cass 21999. 293 Ganz knapp in Lev. XXIX, 506: »There is a Sixth doctrine, plainly, and directly against the essence of a Common-wealth; and ’tis this, That Soveraign Power may be divided. For what is it to divide the Power of a Common-wealth, but to Dissolve it; for Powers divided mutually destroy each other.« 294 Es erscheint uns heute als völlig unverständlich, den Staat nicht als eine juristische Person zu betrachten; diese Konstruktion ist im deutschen Sprachraum aber erst über Wilhelm Eduard Albrecht, Carl Friedrich von Gerber, Paul Laband und Georg Jellinek zur herrschenden Anschauung geworden; vgl. Henning Uhlenbrock, Der Staat als juristische Person. Dogmengeschichtliche Untersuchung zu einem Grundbegriff der deutschen Staatsrechtslehre, Berlin: Duncker & Humblot 2000. 291
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Vgl. Lev. XXIX, 504: »A Fift h doctrine, that tendeth to the Dissolution of a Common-wealth, is, That every private man has an absolute Propriety in his Goods; such, as excludeth the Right of the Soveraign. Every man has indeed a Propriety that excludes the Right of every other Subject: And he has it onely from the Soveraign Power; without the protection whereof, every other man should have equall Right to the same. But if the Right of the Soveraign also be excluded, he cannot performe the office they have put him into; which is, to defend them both from forraign enemies, and from the injuries of one another; and consequently there is no longer a Common-wealth. – And if the Propriety of Subjects, exclude not the Right of the Soveraign Representative to their Goods; much lesse to their offices of Judicature, or Execution, in which they Represent the Soveraign himselfe.« 296 Hobbes führt keine Quelle an; es ist nicht ersichtlich, dass Seneca den Tyrannenmord als rechtmäßig gutgeheißen hätte. 297 In Lev. XXIX, 506–508 (geschrieben, nachdem Charles I. seinen Kopf am Schafott verloren hat) wird Hobbes fast ausfällig: »And as to Rebellion in particular against Monarchy; one of the most frequent causes of it, is the Reading of the books of Policy, and Histories of the antient Greeks, and Romans; from which, young men, and all others that are unprovided of the Antidote of solid Reason, receiving a strong, and delightfull impression, of the great expolits of warre, atchieving by the Conductors of their Armies, receive withall a pleasing Idea, of all they have done besides; and imagine their great prosperity, not to have proceeded from the aemulation of particular men, but from the vertue of their popular forme of government: Not considering the frequent Seditions, and Civill warres, produced by the imperfection of their Policy. From the reading, I say, of such books, men have undertaken to kill their Kings, because the Greek and Latine writers, in their books, and discourses of Policy, make it lawfull, and laudable, for any man so to do; provided before he do it, he call him Tyrant. For they say not Regicide, that is, killing of a King, but Tyrannicide, that is, killing of a Tyrant is lawfull. From the same books, they that live under a Monarch conceive an opinion, that the Subjects in a Popular Common-wealth enjoy Liberty; but that in a Monarchy they are all Slaves. I say, they that live under a Monarchy conceive such an opinion; not they that live under a Popular Government: for they find no such matter. In summe, I cannot imagine, how any thing can be more prejudiciall to a Monarchy, than the allowing of such books to be publikely read, without present applying such correctives of discreet Masters, as are fit to take away their Venime: Which Venime I will not doubt to compare to the biting of a made Dogge, which is a disease the Physicians call Hydrophobia, or fear of Water. For as he that is so bitten, has a continuall torment of thirst, and yet abhorreth water; and is in such an
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estate, as if the poyson endeavoured to convert him into a Dogge: So when a Monarchy is once bitten to the quick, by those Democraticall writers, that continually snarle at that estate; it wanteth nothing more than a strong Monarch, which neverthelesse out of a certain Tyrannophobia, or fear of being strongly governed, when they have him, they abhorre.« 298 Vgl. Yishaiya Abosch, Hope, Fear, and the Mollification of the Vanquished in Hobbes’s Behemoth or the Long Parliament, Political Research Quarterly 62 (2009), 16–28. 299 Sallust (86 bis 34 v. Chr.), römischer Politiker und Historiker; die Beschreibung der catilinarischen Verschwörung fi ndet sich etwa in Sallust, Die Verschwörung Catilinas – Der Krieg mit Jugurtha. Übersetzt und kommentiert v. J. Lindauer, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2007, 9–61 (das Zitat 5, 4 f. [ebd. 12: »Redegabe hatte er reichlich, Vernunft aber zuwenig«]). 300 Vgl. auch oben Kap. VI, 4 und zu Hobbes’ Wissenschaft sbegriff überdies De corp. I/10, 25 und VI/12, 88 f. und 13, 89–91. 301 Vgl. auch unten Kap. XXIX, 8. – Hobbes geht zwar nicht so weit zu sagen, dass das Abweichen von den sprachlichen Üblichkeiten in einer gegebenen Gemeinschaft die Ursache des Aufruhrs sei; diese Ursache liegt auch an dieser Stelle natürlich in den Leidenschaften. Aber er sagt doch, dass der falsche Wortgebrauch das definierende Merkmal der Empörung bzw. des Aufruhrs sei; vgl. dazu Dorothea Krook, Thomas Hobbes’s Doctrine of Meaning and Truth, Philosophy XXXI, Nr. 116 (1956), 3–22, hier 20 f. 302 Vgl. P. Ovidius Naso, Metamorphosen (VII, 294–350). Lateinisch/ Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. M. v. Albrecht, Stuttgart: Reclam 1997, 350–353. – Hobbes hat Euripides’ Medea als knapp 15jähriger für seinen Lehrer Robert Latimer aus dem Lateinischen ins Englische übersetzt (die Übersetzung ist uns nicht erhalten); später erwähnt Hobbes diese Stelle sowohl in De Cive (Civ.L XII/13, 194; Civ.E XII/13, 155xxxx), im Leviathan (Lev. XXX, 526/527) als auch in seiner Auseinandersetzung mit Bramhall (EW IV, 268 f.); vgl. Arnold A. Rogow, Thomas Hobbes. Radical in the Service of Reaction, New York/London: W. W. Norton 1986, 36–49. 303 Vgl. auch Civ. L, E XIII, 194–204 und Civ.E XIII, 156–167 sowie Lev. XXX, 520–553. 304 Cicero, De legibus III, 3, 8. 305 Lev. XXX, 520 heißt es zusammenfassend: »The OFFICE of the Soveraign (be it a Monarch, or an Assembly), consisteth in the end, for which he was trusted with the Soveraign Power, namely the procuration of the safety of the people; to which he is obliged by the Law of Nature, and to render an account thereof to God, the Author of that Law, and to none but him. But by Safety here, is not meant a bare Preservation, but also all other Contentments of life, which every man by lawfull Industry, without dan-
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ger, or hurt to the Common-wealth, shall acquire to himselfe. – And this is intended should be done, not by care applied to Individualls, further than their protection from injuries, when they shall complain; but by a generall Providence, contained in publique Instruction, both of Doctrine, and Example; and in the making, and executing of good Lawes, to which individuall persons may apply their own cases.« 306 Später wird Hobbes skeptisch erkennen, dass die Berufung auf die salus populi eine ambivalente Sache sein kann: Denn es war ja nach Hobbes’ Behemoth (Beh. 354 f.) ausgerechnet die salus populi, die dem Langen Parlament (1640–1660) die Begründung zur Rebellion gegen Charles I. gab, es ging um die Sicherheit des Volkes gegen eine gefährliche Verschwörung von Papisten und gegen eine böswillige Partei im Lande, und jeder sei verpfl ichtet, soweit seine Macht reicht, die Sicherheit des ganzen Volkes zu erhalten. Musste Cromwell also tun, was er tat? Hobbes stellt in den Raum: »A. […] Had he not therefore Right? For that Law of Salus populi is directed onely to those that haue power enough to defend the people, that is, to them that haue the Supreame Power«. Worauf gefragt wird: »B. Did Cromwell come in vpon the onely Title of Salus populi?«, und die Antwort erfolgt: »A. Noe. For this is a Title that very few men vnderstand.« 307 Für Hobbes sind Homosexualität, Polygamie, Inzest und Promiskuität nicht per se gegen the law of natural reason gerichtet; diese Formen geschlechtlicher Paarung scheinen ihm aber sozial wenig nützlich – ein Souverän würde daher gegen das law of nature verstoßen, wenn er sie nicht verbieten würde, und deshalb auch gegen seine (!) natural reason. Ist das Problem des Bevölkerungsmangels einmal behoben und gibt es daher keine Ursache mehr, durch staatliche Maßnahmen der Entvölkerung bzw. der Bevölkerungsknappheit vorzubeugen, dann fällt dieser Grund weg. Hobbes ist auch hier völlig frei von allen moralischen (oder gar religiösen) Bedenken gegenüber sog. »abweichenden Sexualpraktiken«. 308 Zu Hobbes’ Zeit zögerten weder Parlamente noch die Krone, Vorschriften bis tief in das häusliche und gewerbliche Leben hinein zu erlassen und zu häufen; sein Gedanke, in den Gesetzen Maß zu halten (sowohl was die Anzahl der Gesetze als auch ihren Regelungsinhalt betrifft), hat bis heute nichts an Bedeutung verloren. 309 Dies ist für Hobbes kein Thema mehr im Leviathan; aber noch in Civ.E XIII/14, 164 f. heißt es umfänglich: »There are two things necessary to the enriching of Subjects, Labour and thrift; there is also a third which helps, to wit the naturall increase of the earth and water; and there is a fourth too, namely the Militia, which sometimes augments, but more frequently lessens the subjects stock. The two fi rst are only necessary. For a City constituted in an Island of the Sea, no greater then will serve for
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dwelling, may grow rich without sowing, or fishing, by merchandize, and handicrafts only; but there is no doubt if they have a territory, but they may be richer with the same number, or equally rich, being a greater number. But the fourth, namely the Militia, was of old reckoned in the number of the gaining Arts, under the notion of Booting or taking prey; and it was by mankind (disperst by families), before the constitution of civill societies, accounted just and honourable; for preying, is nothing else but warre waged with small forces; And great Common-weales, namely that of Rome, and Athens, by the spoyles of warre, forraigne tribute, and the territories they have purchased by their armes, have sometimes so improved the Common-wealth, that they have not onely not required any publique monies from the poorer sort of subjects, but have also diveded to each of them both monies and lands. But this kind of increase of riches, is not to be brought into rule and fashion: For the Militia in order to profit, is like a Dye wherein many lose their estates, but few improve them. Since therefore there are three things only, the fruits of the earth and water, Labour, and Thrift, which are expedient for the enriching of subjects, the duty of Commanders in chief, shall be conversant onely about those three. For the first, those lawes will be usefull which countenance the arts that improve the increase of the earth, and water, such as are husbandry, and fishing. For the second, all Lawes against idleness, and such as quicken industry, are profitable; the art of Navigation (by help whereof the commodities of the whole world, bought almost by labour only, are brought into one City) and the Mechanicks (under which I comprehend all the arts of the most excellent workmen) and the Mathematicall sciences, the fountains of navigatory and mechanick employments, are held in due esteem and honour. For the third, those lawes are usefull, whereby all inordinate expense, as well in meats, as in clothes, and universally in all things which are consumed with usage, is forbidden. Now because such lawes are beneficiall to the ends above specified, it belongs to the Office of supreme Magistrates, to establish them.« 310 Hobbes argumentiert hier gegen jede Vermögens- und Einkommenssteuer und für ein exklusives Mehrwertsteuermodell; vgl. dazu Dudley Jackson, Thomas Hobbes’ Theory of Taxation, Political Studies 21 (1973), 175–182. 311 Vgl. Lev. XXX, 536–538: »To Equall Justice, appertaineth also the Equall imposition of Taxes; the Equality whereof dependeth not on the Equality of riches, but on the Equality of the debt, that every man oweth to the Common-wealth for his defence. It is not enough, for a man to labour for the maintenance of his life; but also to fight (if need be), for the securing of his labour. They must either do as the Jewes did after their return from
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captivity, in re-edifying the Temple, build with one hand, and hold the Sword in the other; or else they must hire others to fight for them. For the Impositions, that are layd on the People by the Soveraign Power, are nothing else but the Wages, due to them that hold the publique Sword, to defend private men in the exercise of their severall Trades, and Callings. Seeing then the benefit that every one receiveth thereby, is the enjoyment of life, which is equally dear to poor, and rich; the debt which a poor man oweth them that defend his life, is the same which a rich man oweth for the defence of his; saving that the rich, who have the service of the poor, may be debtors not onely for their own persons, but for many more. Which considered, the Equality of Imposition, consisteth rather in the Equality of that which is consumed, than of the riches of the persons that consume the same. For what reason is there, that he which laboureth much, and sparing the fruits of his labour, consumeth little, should be more charged, then he that living idlely, getteth little, and spendeth all he gets; seeing the one hath no more protection from the Common-wealth, then the other? But when the Impositions, are layd upon those things which men consume, every man payeth Equally for what he useth: Nor is the Common-wealth defrauded, by the luxurious waste of private men.« 312 In England lag die Staats- und Gemeindeverwaltung nicht in den Händen einer Bürokratie kontinentalen Gepräges. Diejenigen Städte, die sich im Laufe des Mittelalters self-government erkämpft hatten, wurden von den Magistraten verwaltet, die von den reichen Bürgern gewählt worden waren. Auf dem Lande wurde die Verwaltung von den justices of the peace, Friedensrichtern, wahrgenommen, die Grundbesitzer waren (natürlich meist Adelige), ehrenamtlich fungierten und vom Staatsoberhaupt unabhängig waren. 313 Hobbes’ Argwohn gegen die Universitäten seiner Zeit ist notorisch; vgl. George Macdonald Ross, Hobbes and the authority of the universities, in: Hobbes Studies X (1997), 68–80. 314 Hobbes hat schon in seiner »Briefe of the Art of Rhetorique« (1637) umfangreich und mit zahlreichen Beispielen versehen deutlich gemacht, was er darunter versteht (EW VI, 529–536). 315 Vgl. oben Kap. XX, 14. 316 Vgl. auch Civ. L, XIV, 204–218 und Civ.E XIV, 167–182 sowie Lev. XXVI, 414–451. 317 Lev. XXVI, 450: »I fi nd the words Lex Civilis, and Jus Civile, that is to say, Law and Right Civil, promiscuously used for the same thing, even in the most learned Authors; which neverthelesse ought not to be so. For Right is Liberty, namely that Liberty which the Civil Law leaves us: But Civill Law is an Obligation; and takes from us the Liberty which the Law of
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Nature gave us. Nature gave a Right to every man to secure himselfe by his own strength, and to invade a suspected neighbour, by way of prevention: but the Civill Law takes away that Liberty, in all cases where the protection of the Law may be safely stayd for. Insomuch as Lex and Jus, are as different as Obligation and Liberty.« 318 Offenkundig handelt es sich hier um die Formulierung eines Schadenersatzanspruchs, den wir heute unters Zivilrecht rubrizieren; weil hier aber statt einem Ochsen die Ersatzpfl icht auf vier Ochsen festgesetzt wird, spricht man im anglo-amerikanischen Recht von punitive damages oder im angelsächsischen Raum auch von exemplary damages (Strafschadensersatz). 319 Es ist also die Aufgabe des Souveräns, das »gemeinsame Maß« bereitzustellen, was nichts anderes heißt, als Gesetze zu erlassen; dies zu tun meint aber nichts anderes, als Defi nitionen zu geben. Damit ist ein weitreichendes Postulat ausgesprochen: »Th is is also the answer to Humpty Dumpty’s libertine attidude to language. Certainly (Hobbes is saying) you may make words mean what you please; but then you must be prepared to live perpetually in the state of nature […] If, however, you desire peaceable social living – and this is what reason, pricked on by those fundamental passions, self-preservation and the fear of violent death, would urge you to desire – the first ‚natural right’ you must be prepared to sacrifice is that of using words as you please. Th is right, above all other rights, must be vested in the sovereign, who must have absolute authority to fi x the meanings of ‚all names tending to controversy’, and absolute power to enforce their observance«, wie Dorothea Krook, Thomas Hobbes’s Doctrine of Meaning and Truth, Philosophy XXXI, Nr. 116 (1956) 3–22, hier 21, festhält. – Vgl. auch oben Kap. XXVII, 13. 320 Vgl. zur Diskussion dieser Stelle auch David Johnston, Plato, Hobbes, and the Science of Practical Reasoning, in: M. G. Dietz (Ed.), Thomas Hobbes and Political Theory, Lawrence: University of Kansas Press 1990, 37–54, hier 48 f. 321 Das Außerordentliche dieser Bestimmung wird zuweilen übersehen: Hobbes fordert hier, dass nicht bloß das bürgerliche Recht, sondern auch die Regeln der Moral von der Bestimmung des Königs abhängig sein sollen. 322 Hobbes polemisiert hier gegen die englischen common-law-Juristen; vgl. seinen erst postum veröffentlichten Dialogue Between a Philosopher and a Student, of the Common Laws of England (ed. by A. Cromartie, Oxford: Clarendon Press 2005 = Dial.). – Deutlich in Lev. XXVI, 416–418: »When long Use obtaineth the authority of a Law, it is not the Length of Time that maketh the Authority, but the Will of the Soveraign signified by his silence (for Silence is sometimes an argument of Consent), and it
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is no longer Law, then the Soveraign shall be silent therein. And therefore if the Soveraign have a question of Right grounded, not upon his present Will, but upon the Lawes formerly made; the Length of Time shal bring no prejudice to his Right; but the question shal be judged by Equity. For many unjust Actions, and unjust Sentences, go uncontrolled a longer time, than any man can remember. And our Lawes account no Customes Law, but such as are reasonable, and that evill Customes are to be abolished. But the Judgement of what is reasonable, and of what is to be abolished, belongeth to him that maketh the Law, which is the Soveraign Assembly, or Monarch.« – Vgl. in Österreich auch § 10 ABGB: »Auf Gewohnheiten kann nur in den Fällen, in welchen sich ein Gesetz darauf beruft, Rücksicht genommen werden.« 323 Vgl. dazu: »Ph. What hope then is there of a constant Peace […] between one Nation, and another? – La. You are not to expect such a Peace between two Nations, because there is no Common Power in this World to punish their Injustice; mutual fear may keep them quiet for a time, but upon every visible advantage they will invade one another, and the most visible advantage is then, when the one Nation is obedient to their King, and the other not« (Dial. 12); das Verhältnis der Nationen zueinander verbleibt also im natürlichen Zustand: »there is no Common Power to bind them to the Peace« (Dial. 23). – Vgl. dazu Murray Forsyth, Thomas Hobbes and the External Relation of States, British Journal of International Studies 5 (1979), 196–209; Hedley Bull, Hobbes and the International Anarchy, Social Research 48 (1981), 717–738; Timo Airaksinen/Martin A. Bertram (Eds.), Hobbes: War Among Nations, Aldershot u.a.: Avebury 1989; Daniel M. Farrell, Hobbes and International Relations: The War of All against All, in: P. Caws (Ed.), The Causes of Quarrel. Essays on Peace, War, and Thomas Hobbes, Boston: Beacon Press 1989, 64–77; Thomas Mohrs, Vom Weltstaat. Hobbes’ Sozialphilosophie, Soziobiologie, Realpolitik, Berlin: Akademie Verlag 1995; Kinji Akashi, Hobbes’ Relevance to the Modern Law of Nations, Journal of the History of International Law 2 (2000), 199–216; Charles Covell, Hobbes, realism and the tradition of international law, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2004; Burkhard Tuschling, Vernunft, Recht, Staat, Völkerrecht. Resultate des philosophischen Produktionsprozesses bei Hobbes, Kant, Hegel, in: Metaphysik und Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag, hrsg. v. S. Doyé/M. Heinz/U. Rameil, Berlin: de Gruyter 2004, 299–331; Sharon Anderson-Gold, Philosophers of Peace: Hobbes and Kant on International Order, in: Hobbes Studies 1/XXV (2012), 6–20; Andrew T. Forcehimes, Leviathans Restrained: International Politics for Artificial Persons, in: Hobbes Studies 2/XXVIII (2015), 149–174; Maximilian Jaede, Thomas Hobbes’s Conception of Peace. Civil Society and Interna-
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Anmerkungen des Herausgebers
tional Order, Chan: Palgrave Macmillan 2018. – Hobbes selbst hätte auch über den Beginn eines weltumspannenden Friedens keine Illusionen, denn »there is scarce a Common-wealth in the world, whose beginnings can in conscience be justified« (Lev. A Review and Conclusion, 1135).