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German Pages 628 Year 2006
Schriften zum Internationalen Recht Band 156
Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes Der Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht sowie im deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrecht
Von
Sven Mirko Damm
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
SVEN MIRKO DAMM
Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
Schriften zum Internationalen Recht Band 156
Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes Der Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht sowie im deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrecht
Von
Sven Mirko Damm
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Hannover hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7646 ISBN 3-428-11954-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem grundrechtlichen Gleichheitspostulat im deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrecht sowie im Europäischen Gemeinschaftsrecht. Dieser Thematik kommt in allen drei Rechtsordnungen eine herausragende praktische Bedeutung zu. Die zentrale Stellung des Gleichheitsrechts ist jedoch zugleich von erheblichen Unsicherheiten gekennzeichnet. So hat im Bereich des Europäischen Gemeinschaftsrechts die Zersplitterung in eine Vielzahl von Bestimmungen sowie das Fehlen einer schlüssigen Prüfungssystematik insbesondere Fragen danach aufgeworfen, unter welchen Voraussetzungen Differenzierungen gerechtfertigt sein können. Insoweit werden gegenwärtig vielfältige Auseinandersetzungen über Bedeutung und Grenzen des Gleichheitsgrundrechts geführt, deren oftmals grundsätzlicher Charakter im Hinblick auf die Qualität der Gleichheit im Verlauf der Arbeit näher untersucht wird. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt danach bei der Frage, an welchen Maßstäben sich die Anforderungen an die Rechtfertigung differenzierender Regelungen auszurichten haben. Erst die Systematisierung der damit angesprochenen elementaren Rechtfertigungsebene kann näheren Aufschluss geben über die Intensität des Schutzes, den der grundrechtliche Gleichheitssatz dem einzelnen Bürger tatsächlich gewährt. Vor diesem Hintergrund wird zunächst die einschlägige Rechtsprechung von U.S. Supreme Court und Bundesverfassungsgericht einer vergleichenden Analyse unterzogen. Die dabei gewonnenen Aufschlüsse bilden ein wesentliches Teilergebnis der Studie. Zugleich dienen sie als Anschauungsmaterial und Grundlegung für die Erarbeitung einer Dogmatik des bislang wenig entwickelten gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsgrundrechts. Wie die Untersuchung aufzeigt, erschließt sich dessen Schutzintensität erst aus dem Zusammenspiel primärrechtlicher Vorgaben mit dem Gleichheitsrecht, das drei Dimensionen des Gleichheitsschutzes sichtbar werden lässt. Die in der Arbeit aufgeworfenen Fragen berühren den Kern grundrechtlichen Gleichheitsschutzes und sind ungeachtet dessen bislang kaum hinreichend aufgearbeitet worden. Ihre Untersuchung betritt daher wiederholt rechtstheoretisches und dogmatisches Neuland. Das betrifft nicht zuletzt die enge Verknüpfung von juristischer Dogmatik und politischer Philosophie. Die Ergebnisse sind zugleich von rechtskonzeptioneller und praktischer Bedeutung.
8
Vorwort
Die Arbeit wurde im Sommersemester 2005 von der Juristischen Fakultät der Universität Hannover als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt insbesondere meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Kay Waechter. Er hat die Arbeit von Beginn an mit großem Einsatz und Interesse gefördert. Seine tatkräftige und kritische Begleitung war Herausforderung und Ermutigung zugleich. In fachlicher wie persönlicher Hinsicht habe ich ihm viel zu verdanken. Für die Erstellung des Zweitgutachtens und wertvolle Anregungen danke ich Herrn Professor Dr. Ulrich Haltern, LL.M. Zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben auch Andrea Wolf, Oliver Lahr, Sabine Beck und Marc Zimmer. Für ihre Freundschaft und Unterstützung bin ich zutiefst dankbar. Eine große Bereicherung waren die zahlreichen Diskussionen mit Thomas Pust. Mein Dank gilt auch Jan-Hajo Wössner, der wertvolle technische Hilfe bei der Erstellung der Arbeit leistete. Schließlich gibt es Menschen, denen Dank in einem umfassenderen Sinne gebührt. So danke ich meinen Eltern, Reinhard Damm und Christa EndterDamm, für ihre liebevolle Begleitung und Unterstützung über viele Jahre. In diesen Dank an meine Familie ist auch meine Schwester Julia einbezogen. Für wertvolle Hinweise und viele intensive, auch dieser Arbeit förderliche Gespräche bedanke ich mich bei meinem Vater. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Sandra, die jede Phase der Entstehung der Arbeit mit großem Interesse und unablässiger Aufmunterung begleitet hat. Hannover, im Juli 2005
Sven Mirko Damm
Inhaltsübersicht Erster Teil Einleitung: Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsgang
27
Zweiter Teil Gewinnung von Anschauungsmaterial: Der grundrechtliche Gleichheitssatz in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika im Rechtsvergleich
40
1. Kapitel: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
2. Kapitel: Ähnlichkeiten und Unterschiede in der deutschen und amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz
93
3. Kapitel: Besondere Diskriminierungsverbote in der Gleichheitsrechtsprechung von U.S. Supreme Court und Bundesverfassungsgericht . . . . . 139 4. Kapitel: Konsequenzen der Gleichheitsrechtsprechung für die Gesetzgebung 249 5. Kapitel: Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Dritter Teil Antinomien und Legitimationsprobleme verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstäbe
282
1. Kapitel: Aufstieg der Tests und verbleibende Begründungsprobleme. . . . . . . . 282 2. Kapitel: Antinomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3. Kapitel: Die Suche nach einem „Basistest“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 4. Kapitel: Vorblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
10
Inhaltsübersicht
Vierter Teil Der grundrechtliche Gleichheitssatz im europäischen primären Gemeinschaftsrecht
299
1. Kapitel: Überblick: Grundlagen des Gleichheitssatzes im primären Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 2. Kapitel: Gleichheit als europäisches Grundrecht: Ausgangsüberlegungen einer Dogmatik des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatzes. . . . . 307 3. Kapitel: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 4. Kapitel: Maßstäbe der Gleichheit und Intensität der Rechtfertigungsanforderungen: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes. . . . 376 5. Kapitel: Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 6. Kapitel: Positive Diskriminierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 7. Kapitel: Rechtsfolgen von Gleichheitsverstößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553
Fünfter Teil Schlussbetrachtung: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
556
1. Kapitel: Unionsbürgerschaft und Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 2. Kapitel: Die Rechte des Unionsbürgers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 3. Kapitel: Mittelbare und unmittelbare Gleichheit des Unionsbürgers . . . . . . . . . 558 4. Kapitel: Gleichheitsschutz als rechtlicher Kern der Unionsbürgerschaft. . . . . . 559 5. Kapitel: Reichweite der Bürgergleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 6. Kapitel: Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse: Dimensionen des Gleichheitsschutzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Einleitung: Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsgang
27
A. Normative Binnendifferenzierung verfassungsrechtlicher Gleichheit . . . .
27
B. Verfassungsrechtsprechung und Maßstabsbildung im deutsch-amerikanischen Rechtsvergleich und europäischen Gemeinschaftsrecht . . . . . .
30
C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
Zweiter Teil Gewinnung von Anschauungsmaterial: Der grundrechtliche Gleichheitssatz in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika im Rechtsvergleich
40
1. Kapitel Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
40
A. Deutsche Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bedeutung des Gleichheitsgedankens in Naturrecht, Aufklärung und Französischer Revolution für die deutsche Verfassungsentwicklung. . . II. Der Gleichheitsgedanke im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gleichheit in Frühkonstitutionalismus und Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Preußische Reformgesetzgebung ab 1807 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entstehen der ersten Verfassungen 1807–1810 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gleichheit in den Konstitutionen ab 1818 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Revolution von 1848 und Paulskirchen-Verfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Entwicklung des Gleichheitsgedankens nach 1849 . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Gleichheitsgebote in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 . . . . . . VII. Gleichheitsbegriff im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Aufnahme von Gleichheitssätzen in das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . .
40
B. Amerikanische Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Declaration of Independence“ von 1776 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70 71
40 46 48 48 49 51 55 60 62 68 69
12
Inhaltsverzeichnis
II. III. IV. V.
VI. VII.
1. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Naturrecht und Aufklärung . . . . . . 2. Realität der Sklavenhaltung und Rassendiskriminierung . . . . . . . . . . . . „Articles of Confederation“ und Verfassungen der Einzelstaaten 1776–1780, insbesondere Virginia Bill of Rights (1776) . . . . . . . . . . . . . . Der Verfassungskonvent von Philadelphia 1787 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ratifizierung der Verfassung 1788 und der „Bill of Rights“ 1791 . . . . . . Der Gleichheitsgedanke in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung ab 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausweitung der Sklaverei und „Missouri Compromise“ . . . . . . . . . . . . 2. Entscheidung des U.S. Supreme Court: Prigg v. Pennsylvania (1842) 3. Entscheidung des U.S. Supreme Court: Dred Scott v. Sandford (1857) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bürgerkrieg (1861–1865) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufnahme der Amendments 13–15 in die Verfassung (1865–1870) . . . .
71 73 74 77 81 82 83 86 87 90 91
2. Kapitel Ähnlichkeiten und Unterschiede in der deutschen und amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz
93
A. Grundlagen im Verfassungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 3 Abs. 1 GG: Gleichheit vor dem Gesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bindungswirkung gegenüber allen Staatsgewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vereinigte Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 14. Amendment: Originärer Normgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Exegetische Ausweitung der equal protection-Klausel. . . . . . . . . . . . . . a) Von der Rassengleichheit zum allgemeinen Gleichheitssatz. . . . . . b) Von der Rechtsanwendungsgleichheit zur Rechtsgleichheit . . . . . . c) Bindungswirkung gegenüber dem Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93 93 93 95 95 95 96 97 98 98 100
B. Maßstäbe der Gleichheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangspunkt: Willkürverbot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechungsentwicklung: „neue Formel“ des BVerfG . . . . . . . . . . 3. Kontextbezug und Systemgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Personenbezogene oder sachverhaltsbezogene Differenzierungen b) Verhaltensbezogene Merkmale: Grad der Einflussnahmemöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Annäherung von Merkmalen an die des Art. 3 Abs. 3 GG . . . . . . d) Gewicht der Freiheitsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101 102 102 104 106 108 109 111 112 113
Inhaltsverzeichnis
13
e) Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vereinigte Staaten von Amerika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangspunkt: Rational Basis Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Geringe Prüfintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Underinclusiveness/Overinclusiveness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Problematik des „legitimen Zwecks“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tendenzen der Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes. . . . . . . . . . . . III. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entsprechung von Willkürformel und Rational Basis Test . . . . . . . . . 2. Willkürkontrolle in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. . . 3. Unterscheidung von „objektiver“ und „subjektiver“ Willkür . . . . . . . 4. Originäre und derivative Leistungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklungslinien gleichheitsrechtlicher Gradualisierung: Kriteriendifferenzierung, Bereichsspezifizierung . . . . . . . . . . . . . . . b) Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114 116 117 117 117 117 119 121 125 125 126 127 127 129 130 132 135 137 138
3. Kapitel Besondere Diskriminierungsverbote in der Gleichheitsrechtsprechung von U.S. Supreme Court und Bundesverfassungsgericht
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A. Grundlagen im Verfassungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vereinigte Staaten von Amerika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139 139 140 140
B. Maßstäbe der Gleichheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG) . . a) Grundsatz des strikten Differenzierungsverbotes . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen bei biologischen Unterschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahmen aufgrund besonderer Verfassungsbestimmungen . . . . d) Ausnahmen wegen „funktionaler Unterschiede“? . . . . . . . . . . . . . . e) Positive Maßnahmen und tatsächliche Gleichberechtigung . . . . . . 2. Besondere Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG. . . . . a) Inhalt der Differenzierungsverbote. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kausalität und Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verständnis als Anknüpfungsverbot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141 141 141 142 142 143 144 145 146 146 147 147
14
Inhaltsverzeichnis
II.
b) Verbotene Differenzierungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Abstammung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Heimat und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Glaube, religiöse oder politische Anschauungen. . . . . . . . . . . . 3. Verbot der Benachteiligung Behinderter (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG). . . . a) Begriff der Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gewährleistungsgehalt der Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Benachteiligung und Bevorzugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unzureichende Kompensation als Element von Benachteiligung. e) Rechtfertigung nur bei zwingenden Gründen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gebot der Gleichstellung unehelicher Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG) . . . 5. Gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 2 GG) . . . . . . 6. Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG) Vereinigte Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strict Scrutiny Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zwingendes öffentliches Interesse (compelling government interest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Notwendigkeit der Maßnahme (close tailoring) . . . . . . . . . . . . cc) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verdächtige Klassifizierungen (suspect classifications) . . . . . . (1) Kriterien der Verdächtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Leicht abgrenzbare Minderheiten (discrete and insular minorities) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Verwendung irrationaler Gruppenklischees . . . . . . . . . (c) Stigmatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Anknüpfung an unveränderbare Persönlichkeitsmerkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Betroffenheit besonders diskriminierungsgefährdeter Gruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Fallgruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Rasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Nationale Herkunft und Ausländerstatus . . . . . . . . . . . bb) Fundamentale Rechte (fundamental rights) . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wahlrechtsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gleicher Zugang zu Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Recht auf Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Intermediate Scrutiny Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149 149 149 150 151 151 155 156 156 157 158 158 159 160 161 163 166 166 167 167 170 171 172 172 172 173 174 175 177 178 178 179 179 181 183 184 188 189 191
Inhaltsverzeichnis
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a) Inhaltsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wichtiges öffentliches Ziel (important government objective) bb) „Substantielle“ Zweck-Mittel-Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unehelichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleichende Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191 192 193 194 195 196 196 206 208
C. Spezielle Probleme des Gleichheitsschutzes durch besondere Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Frauenförderung und Affirmative Action. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Frauenförderung vor dem Hintergrund von Art. 3 Abs. 2 und 3 GG 2. Affirmative Action . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regents of the University of California v. Bakke (1978) . . . . . . . b) Fullilove v. Klutznick (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wygant v. Jackson Board of Education (1986) . . . . . . . . . . . . . . . . d) United States v. Paradise (1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Johnson v. Transportation Agency (1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) City of Richmond v. J.A. Croson Co. (1989) . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission (1990). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Adarand Constructors, Inc. v. Pena (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Entwicklung seit 1995. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Grutter v. Bollinger (2003) und Gratz v. Bollinger (2003) . . . . . . 3. Vergleichende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtliche und faktische Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214 214 214 217 218 220 221 222 223 225 226 227 230 233 237 243 246
4. Kapitel Konsequenzen der Gleichheitsrechtsprechung für die Gesetzgebung
249
A. Urteilsausspruch und Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vereinigte Staaten von Amerika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
250 250 253 254
B. Korrelation von Prüfungsintensität und legislativer Gestaltungsfreiheit I. Richterlicher Aktivismus und judicial self-restraint . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methode der Verfassungsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wahlrechtsgleichheit und Minderheitenschutz als Voraussetzungen parlamentarischer Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255 255 263 273
16
Inhaltsverzeichnis 5. Kapitel Schlussbemerkung
279
Dritter Teil Antinomien und Legitimationsprobleme verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstäbe
282
1. Kapitel Aufstieg der Tests und verbleibende Begründungsprobleme
282
2. Kapitel Antinomien
283
A. Assimilation oder Antisubordination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 B. Klassifikationen oder Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 C. Intentionen oder Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 3. Kapitel Die Suche nach einem „Basistest“
295
4. Kapitel Vorblick
296
Vierter Teil Der grundrechtliche Gleichheitssatz im europäischen primären Gemeinschaftsrecht
299
1. Kapitel Überblick: Grundlagen des Gleichheitssatzes im primären Gemeinschaftsrecht A. Besondere Diskriminierungsverbote des geschriebenen Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unterscheidung von inländischen und ausländischen Sachverhalten . . . . II. Unterscheidungen nach dem Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unterscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik . . . . . . . . .
299
299 299 301 302
Inhaltsverzeichnis
17
B. Allgemeiner Gleichheitssatz als Teil des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 C. Weitere gleichheitsrelevante Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Art. 13 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Art. 14 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Art. 26 IPbpR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304 304 305 306
2. Kapitel Gleichheit als europäisches Grundrecht: Ausgangsüberlegungen einer Dogmatik des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatzes A. Problemlagen des gleichheitsrechtlichen Partikularismus . . . . . . . . . . . . . . I. Verhältnis des allgemeinen Gleichheitssatzes zu den besonderen Diskriminierungsverboten: ungeklärte Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtfertigung von Gleichheitsverstößen: Anzuwendender Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Absolute oder relative Diskriminierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
307 307 308 309 311
B. Notwendigkeit einer allgemeinen Dogmatik des Gleichheitssatzes. . . . . . . 312 C. Herleitung und Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . I. Rechtsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtserkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Methodik der Ermittlung von Gemeinschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . IV. Impulse durch die Grundrechtscharta der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Besonderheiten des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313 314 315 316 317 319
D. Einheitlichkeit des grundrechtlichen Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 E. Grundstruktur des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gleichheit als Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gleichheit und tertium comparationis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ähnlichkeit, Gleichheit, Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321 322 322 323
3. Kapitel Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen A. Vergleichbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zum Begriff der „Vergleichbarkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mangelnde Klarheit der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Versuch der Maßstabsgewinnung und verbleibende Bedeutung von Einzelfall und Wertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Feststellung der Vergleichbarkeit im Rahmen einzelner Fallgruppen a) Vergleichbarkeit von Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
324 326 326 328 329 329 329
18
Inhaltsverzeichnis b) Vergleichbarkeit von Produkten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vergleichbarkeit von Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vergleichbarkeit von Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333 334 335 338
B. Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ungleiche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Benachteiligung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Keine Gleichheit im Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zur Bedeutung der Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341 341 342 342
C. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Absolutes oder relatives Diskriminierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Präzisierung der Schutzintensität: Das Spektrum gerichtlicher Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Willkürprüfung und Verhältnismäßigkeit als zentrale Inhalte der Gleichheitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Willkürprüfung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Willkürkontrolle durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besonderer Inhalt des Willkürverbots im Gleichheitsrecht: vergleichsbezogene Willkürformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Willkürverbot, Gleichheit und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . (2) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnismäßigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den EuGH . . . . . . . . (1) Grundlagen im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Umfassende Bedeutung für die Gleichheitsprüfung . . . . . (3) Dogmatischer Standort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besonderer Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Gleichheitsrecht: gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit . . 2. Verhältnis von Willkürverbot und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung: Willkürprüfung und Verhältnismäßigkeit als Elemente einer einheitlichen, abgestuften Rechtfertigungsskala . . . . .
343 344 345 351 351 353 353 356 357 361 362 362 362 363 365 366 373 374
4. Kapitel Maßstäbe der Gleichheit und Intensität der Rechtfertigungsanforderungen: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
376
A. Menschenwürde und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 I. Achtung der Menschenwürde als europäisches Grundrecht . . . . . . . . . . . . 379 II. Gehalt der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
Inhaltsverzeichnis
19
III. Gleichheit in Personalität und Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Personstatus und Gleichheitsschutz: Personale Basisrechte . . . . . . . . . 2. Gleichheit und Verantwortung: Individuelle Beeinflussbarkeit . . . . . . a) Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Willensfreiheit und Kontrollfähigkeit als Kernbestandteile persönlicher Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Empirie und Normativität individueller Beeinflussbarkeit . . . . . . . d) Individuell unbeeinflussbare Differenzierungsmerkmale . . . . . . . . e) Individuell schwer beeinflussbare, identitätsbezogene Differenzierungsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Individuell beeinflussbare Differenzierungsmerkmale. . . . . . . . . . . g) Einwände der Egalitarismuskritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Selbstverschulden und „kalkuliertes Pech“ . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mitgefühl und Mitleid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Entscheidungen und Umstände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Zur Relevanz der Abgrenzung personengruppen- und sachverhaltsbezogener Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
381 384 389 390
B. Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eingriff in freiheitsrechtlich geschützte Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Differierende Intensität freiheitsrechtlicher Betroffenheit der Vergleichspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Komplexe Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kontextualistischer Schwerpunkt und Unbestimmtheit des Gleichheitssatzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Differenzierter Gleichheitsschutz im Rechtsvergleich: USA, BRD . . . . . III. Bereichsspezifik und Kriterienselektion als Elemente differenzierten Gleichheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anknüpfungspunkte der Gleichheitsprüfung im europäischen Gemeinschaftsrecht: Exemplarische Untersuchung von Art. 34 und Art. 141. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Diskriminierungsverbot im Agrarbereich nach Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besondere Bedeutung des landwirtschaftlichen Bereichs. . . . . . . . b) Sachlicher Schutzbereich des Diskriminierungsverbots . . . . . . . . . c) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Intensität der Rechtfertigungsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der geschlechtsbezogene Grundsatz der Entgeltgleichheit nach Art. 141 Abs. 1 und 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Grundsatz der Entgeltgleichheit im Überblick . . . . . . . . . . . . . b) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Differenzierungskriterium Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
392 393 396 402 407 408 409 410 412 415 417 418 423 425 428 428 429 430
430 431 431 432 434 437 444 445 447 451 452
20
Inhaltsverzeichnis e) Intensität der Rechtfertigungsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bereichsspezifik des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Einfluss des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Walzers Theorie komplexer Gleichheit und die Bereichsspezifik des Gleichheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Politische Philosophie komplexer Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Egalitarismuskritik als Ausgangspunkt: Zur Unterschätzung von Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sphären der Gerechtigkeit: Von der einfachen zur komplexen Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bereichsspezifik I: Lokale Kriterien der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . a) Soziale Bedeutung von Gütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Soziale Bedeutung und gerechte Verteilung von Gütern . . . . . . . . . c) Das Beispiel Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gleichheitsrechtliche Filterfunktion lokaler Kriterien . . . . . . . . . . . e) Lokale Kriterien des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Anhebung gleichheitsrechtlich gebotener Schutzintensität . . . . . . . 5. Bereichsspezifik II: Kontrolldichte bei Sphärenüberschreitung . . . . . . a) Dominanz und Tyrannei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gleichheitsrechtliche Operationalisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Probleme gleichheitsspezifischer Bereichsabgrenzung. . . . . . . . . . . d) Gemeinschaftsrechtliche Konkretisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Bereichsspezifik III: Komplexität des Entscheidungsprozesses . . . . . . V. Kriterienselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kriterienspezifik und Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Diskriminierung durch kriterienselektiven Diskriminierungsschutz? . 3. Grundstrukturen gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion . . . . . . . . . . . a) Die Fokussierung auf den Distinktionsgrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Faktoren des Distinktionsgrades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Herabgesetzter Gleichheitsschutz für Gruppen mit veränderlichen, unauffälligen Merkmalen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Formen der Anpassung: Konvertieren, Verbergen, Abschwächen . . . . 6. Folgen der Anpassung: Der „assimilationist bias“ grundrechtlichen Gleichheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Folgen der Anpassung: Die Kosten des Konvertierens und der Faktor Unveränderlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Folgen der Anpassung: Die Kosten des Verbergens und der Faktor Auffälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Analogische Verkürzung kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes . . 8. Kriterienselektion als historischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
456 465 467 470 471 472 472 474 477 477 479 480 485 488 494 496 497 498 499 500 507 509 509 510 512 513 514 515 517 519 520 525 529 530 531
Inhaltsverzeichnis
21
9. Kriterienspezifik zwischen symmetrischem und asymmetrischem Gleichheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 D. Zusammenfassung und Teilergebnis: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 5. Kapitel Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
536
A. „Mittelbare Diskriminierung“ und Kriterienspezifik des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 B. Die Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den grundrechtlichen Gleichheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 C. Intensität der Rechtfertigungsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 D. Beweislastregel und Gleichstellungsfunktion als Kernelemente mittelbarer Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 6. Kapitel Positive Diskriminierung
544
A. Grundsatzentscheidungen des EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 B. Starre Quoten, Quoten mit Öffnungsklauseln und die gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit positiver Diskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 C. Zulässigkeit positiver Diskriminierung im Gemeinschaftsrecht: Gleichlauf von Primär- und Sekundärrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 7. Kapitel Rechtsfolgen von Gleichheitsverstößen
553
Fünfter Teil Schlussbetrachtung: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
556
1. Kapitel Unionsbürgerschaft und Gleichheitssatz
556
2. Kapitel Die Rechte des Unionsbürgers
557
22
Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Mittelbare und unmittelbare Gleichheit des Unionsbürgers
558
4. Kapitel Gleichheitsschutz als rechtlicher Kern der Unionsbürgerschaft
559
A. Rechtssache Sala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 B. Rechtssache Bickel und Franz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 C. Rechtssache Grzelczyk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 D. Rechtssache Collins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 E. Rechtssache Trojani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568 F. Rechtssache Zhu und Chen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 G. Rechtssache Bidar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 5. Kapitel Reichweite der Bürgergleichheit
572
6. Kapitel Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse: Dimensionen des Gleichheitsschutzes
574
A. Das Spektrum gerichtlicher Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 B. Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . I. Menschenwürde und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Komplexe Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bereichsspezifischer Gleichheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lokale Kriterien der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kontrolldichte bei Sphärenüberschreitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Komplexität des Entscheidungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kriterienspezifischer Gleichheitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
576 576 578 579 579 581 582 584 585
C. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
Abkürzungsverzeichnis a. a. O. ABl. Abs. Abschn. AcP a. E. a. F. AIDS AK-GG Am. Anm. AöR Art. Aufl. Bd. BGB BGBl. BGH BK BSE BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVG bzw. ca. cert. Cir. CMLR DB ders. d.h. dies. Diss. DÖV
am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Abschnitt Archiv für die civilistische Praxis am Ende alte Fassung Acquired Immune Deficiency Syndrome Alternativkommentar zum Grundgesetz Amendment Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bonner Kommentar zum Grundgesetz Bovine Spongiforme Enzephalopathie Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesversorgungsgesetz beziehungsweise circa certiorari Circuit Court of Appeals Common Market Law Review Der Betrieb derselbe das heißt dieselbe Dissertation Die Öffentliche Verwaltung
24 DVBl. EAG EAGFL EG EGKS EGV EL EMRK etc. EU EuG EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW EWG EWGV f. F.2d F.3d FamRZ ff. Fn. FRV GA GAP gem. GG ggf. Ghztm. HGlG
hrsg. Hrsg. insbes. IPbpR IPRax i. S. v.
Abkürzungsverzeichnis Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft Europäische Gemeinschaft; Europäische Gemeinschaften Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Ergänzungslieferung Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten et cetera Europäische Union Europäisches Gericht erster Instanz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft folgende Federal Reporter, Zweite Folge Federal Reporter, Dritte Folge Zeitschrift für das gesamte Familienrecht fortfolgende Fußnote Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849 (Frankfurter Reichsverfassung) Generalanwalt; Generalanwältin Gemeinsame Agrarpolitik gemäß Grundgesetz gegebenenfalls Großherzogtum Hessisches Gesetz über die Gleichberechtigung von Frauen und Männern und zum Abbau von Diskriminierungen von Frauen in der öffentlichen Verwaltung herausgegeben Herausgeber insbesondere Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts im Sinne von
Abkürzungsverzeichnis i. V. m. JöR Jura JuS JZ Kap. KJ KOM lit. m. w. N. NAACP NJW Nr. NVwZ ÖZöR RabelsZ RGZ RL Rn. Rs. S. S.Ct. Sec. SGB Slg. sog. str. st. Rspr. Tit. u. a. Unterabs. Urt. U.S. usw. v. verb. Rs. vgl. VMI Vol.
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25
26 VVDStRL WHO WRV z. B. ZEuS ZfA ZgesStW Ziff. zit. ZParl ZPO ZRP ZVglRWiss
Abkürzungsverzeichnis Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer World Health Organization Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung) zum Beispiel Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Ziffer zitiert Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft
Für weitere Abkürzungen wird verwiesen auf: Kirchner, Hildebert/Butz, Cornelie, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 5. Auflage, Berlin 2003 The Bluebook, A Uniform System of Citation, 17. Auflage, Cambridge, Mass. 2000
Erster Teil
Einleitung: Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsgang A. Normative Binnendifferenzierung verfassungsrechtlicher Gleichheit Gegenstand dieser Arbeit ist der Gleichheitsgedanke in seinen Ausprägungen, die er im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland sowie im europäischen primären Gemeinschaftsrecht erfahren hat. Es handelt sich somit um einen Ausschnitt des Themas „Gleichheit“, dem sowohl in der Geschichte der Philosophie als auch im Rahmen der politischen Wissenschaft und Rechtswissenschaft elementare Bedeutung zukommt. Dabei haben die tief greifenden Auseinandersetzungen mit Fragen der Gleichheit trotz ihrer weit zurück reichenden Tradition bislang kaum dazu geführt, einen stärkeren Konsens über zentrale Aspekte des Gleichheitspostulats herbeizuführen. Im Gegenteil scheinen gegenwärtig selbst vermeintlich gesicherte Grundannahmen zur Gleichheitsproblematik wieder zunehmend in Zweifel gezogen zu werden. Deutlicher Ausdruck dieser Entwicklung ist insbesondere das Erstarken einer „neuen Egalitarismuskritik“1, die sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika als auch in Deutschland und Europa an Anhängern gewinnt und die sich nicht auf den traditionell stark ausgeprägten Teil der „equality of what“-Debatte2 beschränkt, in der es um die relevanten Hinsichten der Gleichheit geht. Zunehmend in den Vordergrund rückt stattdessen eine Diskussion, die überwiegend unter der Bezeichnung „why equality“ geführt wird und in der die Berechtigung des Gleichheitspostulats als solchem entweder prinzipiell oder zumindest seiner Reichweite nach bezweifelt wird.3 Während damit vermeintlich gesicherte Positionen zum Gleichheitsgedanken in Zweifel gezogen werden, geraten egalitaristische Positionen darüber hinaus auch aus einem anderen Gesichtspunkt verstärkt unter Druck. So 1 Vgl. hierzu etwa den Sammelband von Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. 2 Überblick bei Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, S. 35 ff. 3 So in unterschiedlichen Ausformungen die bei Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik versammelten Aufsätze.
28
1. Teil: Einleitung
sorgen fundamentale und rasante Entwicklungen im Bereich der Humantechnologien zunehmend dafür, dass auch aus dieser Perspektive das Postulat von der „Gleichheit der Menschen“ weiter erschüttert wird: „Unser rapide anwachsendes Wissen über die genetische Ausstattung des Menschen macht in schmerzhafter Weise deutlich, dass nicht alle Menschen gleich sind und dass sie es trotz aller sozialpolitischer Anstrengungen um Chancengleichheit nie waren und sein werden.“4 Diese immer häufiger betonte, für sich genommen wenig neue Erkenntnis von der tatsächlichen Ungleichheit der Menschen kennzeichnet gleichwohl in aussagekräftiger Weise die hiermit oftmals verbundene problematische Tendenz, aus empirisch vorgefundenen Ungleichheiten auf die Unangemessenheit bestimmter normativer Gleichheitsverankerungen zu schließen. Auch die Reichweite verfassungsrechtlicher Gleichheitsgarantien wird vor dem dargestellten Hintergrund kontrovers beurteilt und zum Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen.5 Während sich die Diskussion allerdings vielfach auf die „allgemeine“ Berechtigung normativer Gleichheit in bestimmten Bereichen bezieht, scheint die differenzierende Betrachtung gleichheitsrechtlicher Vorgaben und gleichheitsspezifischer Anforderungen hierüber teilweise aus dem Blickfeld zu geraten. Zwar ist es durchaus sinnvoll zu untersuchen, „ob überhaupt das Prinzip der Gleichheit bei der Gestaltung sozialer Beziehungen zum Maßstab gemacht werden soll“6. Mit der vorliegenden Arbeit wird indes ein anderes Ziel verfolgt, das sich von der soeben benannten Forschungsrichtung wie folgt abgrenzen lässt: Untersucht wird nicht die Berechtigung der Gleichheitsidee als einem allgemeinem Maßstab staatlichen Handelns. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage nach den (wie sich zeigen wird: im Einzelnen sehr unterschiedlichen) Binnenmaßstäben verfassungsrechtlicher Gleichheit im politischen Prozess. Maßgeblicher Grund für den hier gewählten Ansatz ist der Umstand, dass es „die“ rechtliche Gleichheit in einem pauschal verstandenen Sinne nicht gibt. Insofern sind insbesondere zwei zentrale Einbruchstellen in das Konzept rechtlicher Gleichheit zu konstatieren, die auf die Notwendigkeit gleichheitsinterner Differenzierungen hinweisen und angesichts der damit einhergehenden besonderen Wertungsoffenheit des grundrechtlichen Gleichheitssatzes die Herausbildung spezieller Beurteilungsmaßstäbe nahe legen. Zum einen bezeichnet „Gleichheit“ keine Eigenschaft von Personen und Dingen. Weder einem einzelnen Menschen noch einem einzelnen Gegenstand kann Gleichheit zukommen. Vielmehr wird Gleichheit erst durch den 4 Ibelgaufts/Winnacker, Gentechnik (zum Problemstand), in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 2, S. 54. 5 Hierzu im Einzelnen im Dritten und Vierten Teil dieser Untersuchung. 6 Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 9.
1. Teil: Einleitung
29
menschlichen Verstand konstituiert und über den reflektierenden Prozess des Vergleichens gewonnen.7 Der Begriff bezeichnet daher keine Eigenschaft, sondern eine Beziehung zwischen Dingen oder deren Eigenschaften.8 Gegenstand des Vergleichens sind mindestens zwei Dinge, die auf Übereinstimmung in gewisser Hinsicht untersucht werden. Der Begriff der Gleichheit ist somit durch die Eigenart gekennzeichnet, „relativ“ zu sein, das heißt Aussagen über ein Verhältnis zu treffen. Gleichheit kennzeichnet also eine Beziehung zwischen Sachverhalten. Jedoch ist diese Gleichheit nie in einem umfassenden Sinne anzutreffen, sondern immer nur Gleichheit in bestimmter Hinsicht. So findet sich bei Radbruch9 die treffende Formulierung: „Gleichheit ist immer eine Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkt.“ Dieser Gesichtspunkt, unter dem ein Vergleich erfolgt, wird als tertium comparationis bezeichnet.10 Die Aussage der Gleichheit bezeichnet damit die Übereinstimmung in einem bestimmten Merkmal bei Verschiedenheit in anderen Merkmalen, wobei die Festlegung auf ein spezielles, als relevant erachtetes Merkmal notwendigerweise Wertungsgesichtspunkte und damit Maßstäbe erfordert, nach denen sich die Bewertung auszurichten hat. Neben der Bestimmung einer relevanten „Hinsicht“ des Vergleichs ist die Frage nach der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen von theoretisch wie praktisch überragender Bedeutung für den Gehalt des grundrechtlichen Gleichheitssatzes. Sowohl die Betrachtung der historischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens wie auch die Untersuchung der aktuellen Verfassungslagen wird in diesem Zusammenhang zeigen, dass trotz teilweise anderer Begrifflichkeiten sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika als auch in Deutschland und Europa keine „absoluten“ Diskriminierungsverbote existieren, die bestimmte Ungleichbehandlungen ausnahmslos verbieten. Wie allgemein die Frage nach zulässigen Grundrechtseinschränkungen einen Kristallisationspunkt effektiven Grundrechtsschutzes darstellt11, so kommt jenen Voraussetzungen, unter denen eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein kann, fundamentales Gewicht im Rahmen des Gleichheitsgrundrechts zu. Zugleich sind hier vielfältige und tief greifende Auseinandersetzungen über Bedeutung und Grenzen des Gleichheitspostulats festzustellen, deren oftmals grundsätzlicher Charakter im Hinblick auf die Qualität der Gleich7 Vgl. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 17. Zum Prozess des Vergleichens als Vorgang des Erkennens und rechtlichen Bewertens siehe auch Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 1 ff. 8 Herwig, Gleichbehandlung und Egalisierung, S. 58. 9 Radbruch, Gesamtausgabe, Bd. 1, Rechtsphilosophie, S. 539. 10 Vgl. Herwig, Gleichbehandlung und Egalisierung, S. 60 ff. 11 Vgl. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 212.
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1. Teil: Einleitung
heit im Verlauf der Untersuchung näher zu behandeln sein wird. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der Problematik, nach welchen Maßstäben sich die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen auszurichten hat, das heißt welche Umstände die Kontrolldichte im Rahmen des Gleichheitssatzes bestimmen. Erst die Systematisierung der damit angesprochenen elementaren Rechtfertigungsebene kann näheren Aufschluss geben über die Schutzintensität, die der grundrechtliche Gleichheitssatz dem benachteiligten ungleich Behandelten tatsächlich gewährt.
B. Verfassungsrechtsprechung und Maßstabsbildung im deutsch-amerikanischen Rechtsvergleich und europäischen Gemeinschaftsrecht Im Zentrum der nachfolgenden Untersuchungen stehen somit die Maßstäbe der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung in der verfassungsrechtlichen Judikatur. Vor diesem Hintergrund soll zunächst der Umgang von U.S. Supreme Court und Bundesverfassungsgericht mit dem Gleichheitsgrundrecht einer eingehenden rechtsvergleichenden Analyse unterzogen werden. Die im Rahmen dieses Rechtsvergleiches gewonnenen Aufschlüsse, insbesondere Erkenntnisse zu fundamentalen Antinomien der analysierten verfassungsgerichtlichen Gleichheitsjudikatur, bilden ein wesentliches Teilergebnis der vorliegenden Studie. Zugleich indes werden die so gewonnenen Ergebnisse dem weiteren Verlauf der Untersuchung als Anschauungsmaterial und Grundlegung dienen, wenn es um die Erarbeitung einer Dogmatik des insoweit bislang wenig entwickelten gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsgrundrechts geht. Behandelt die Arbeit damit durchgängig Fragen, die die Dogmatik des grundrechtlichen Gleichheitssatzes betreffen, so basiert das hier anvisierte rechtsvergleichende Vorgehen auf der Überlegung, dass die Betrachtung unterschiedlicher Kulturen der Verfassungsinterpretation ein vertieftes Verständnis des Gleichheitsrechts ermöglicht. Dem liegt die von Alexander Somek besonders deutlich herausgestellte Auffassung zu Grunde, wonach „das Studium von unterschiedlichen Varianten der Rechtsprechung zum Gleichheitssatz dazu verhilft, die Bedeutung dieses Grundrechts besser zu verstehen. . . . Die Grundrechte sprechen etwas Universelles aus. In unterschiedlichen Kulturen der Verfassungsinterpretation werden unterschiedliche Aspekte eines Problems entfaltet, das allen Verfassungsstaaten gemeinsam ist.“12 Die vorliegend untersuchte Problematik der angemessenen Interpretation des Gleichheitsgrundrechts ist dabei in besonderem Maße von der gleichheitsrechtlichen Verfassungsjudikatur geprägt. Angesichts der normativen Offenheit des 12
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 105 (Hervorhebung im Original).
1. Teil: Einleitung
31
grundrechtlichen Gleichheitspostulats und den geringen verfassungstextlichen Vorgaben kommt den Interpretationslinien der Rechtsprechung gerade hier herausragende Bedeutung zu. Eine solche zentrale Stellung der Verfassungsrechtsprechung, insbesondere ihre Schrittmacherfunktion für die Weiterentwicklung des Gleichheitsrechts, wird sowohl im deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrecht als auch im europäischen Gemeinschaftsrecht übereinstimmend konstatiert.13 Diesem hohen Stellenwert entsprechend finden sich für Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika mittlerweile spezielle Rechtsprechungsanalysen, die zu einem besseren Verständnis der vielfach wenig klaren Judikaturen beitragen sollen.14 Demgegenüber fehlt es bislang weitgehend an rechtsvergleichenden monographischen Untersuchungen zum grundrechtlichen Gleichheitssatz in den beiden Rechtsordnungen, die näheren Aufschluss über die Dogmatik des Gleichheitsrechts geben könnten.15 Wie die rechtsvergleichende Betrachtung verdeutlichen wird, ist der verfassungsgerichtliche Umgang mit dem Gleichheitspostulat maßgeblich durch eine grundrechtsdogmatische Entwicklung gekennzeichnet, in deren Mittelpunkt die Herausbildung und Applikation unterschiedlicher Testformen steht. Ob Willkürformel oder Verhältnismäßigkeitsprüfung, Rational Basis Test oder Strict Scrutiny Standard: Auffällig ist das Bestreben, der normativen Offenheit und besonderen Wertungsbedürftigkeit des Gleichheitsrechts durch Typisierung von Prüfungsmaßstäben zu begegnen, mit der die Anwendung des Gleichheitssatzes erleichtert und eine gewisse Berechenbarkeit erreicht werden soll. Gerade hierin liegt ein wesentlicher Grund für den ausnehmend hohen Einfluss der Verfassungsrechtsprechung auf die Fortentwicklung der gleichheitsrechtlichen Dogmatik, da sich die Auseinandersetzungen im Schrifttum vielfach auf jene verfassungsgerichtlich konzipierten Tests konzentrieren, deren Inhalte eine große Zahl ungelöster Fragen aufwerfen. Die Verfassungsrechtslehre steht insoweit vor der bedeut13 Vgl. etwa Sachs, JuS 1997, 124, 130 zur „entscheidenden Weiterentwicklung“ der Gleichheitsdogmatik durch das BVerfG; zum US-amerikanischen Verfassungsrecht Sechting, Affirmative Action und Frauenförderung, S. 20; für das europäische Gemeinschaftsrecht siehe den Überblick bei Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 6 ff. 14 So etwa Kallina, Willkürverbot und Neue Formel. Der Wandel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 3 I GG. Für das US-amerikanische Verfassungsrecht ist unter anderem auf die Rechtsprechungsanalysen zur Gleichheitsjudikatur einzelner Richter des U.S. Supreme Court hinzuweisen, so z. B. von Schwartz, A Not Quite Color-Blind Constitution: Racial Discrimination and Racial Preference in Justice O’Connor’s „Newest“ Equal Protection Jurisprudence, 58 Ohio State Law Journal 1997, 1055 ff. 15 Eine Ausnahme bildet die 1993 erschienene Studie von Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA.
32
1. Teil: Einleitung
samen Aufgabe, das testförmige Vorgehen der Rechtsprechung hinreichend genau zu analysieren, um dessen Elemente schließlich auf ihre Berechtigung überprüfen zu können. Dabei kommt es in der Tat nicht von ungefähr, dass „der Differenzierung und kritischen Sichtung der als Geltungssymbole fungierenden Tests die Hauptaufgabe zu[fällt]. Denn die Tests sind ein wesentliches Vehikel für die richterliche Konstruktion der Verfassung.“16 Es ist diese konstruktive Ausgestaltung des Gleichheitsrechts, die Ausdifferenzierung von Maßstäben der Gleichheitsprüfung, der im Folgenden besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Im Mittelpunkt des Interesses steht damit jene von Kokott für das deutsche Verfassungsrecht festgestellte, auch im US-amerikanischen Verfassungsrecht zu beobachtende zunehmende „Verfeinerung“ der Rechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz und den besonderen Diskriminierungsverboten.17 In diesem Sinne betont etwa das Bundesverfassungsgericht, dass der allgemeine Gleichheitssatz für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen „keinen einheitlichen Prüfungsmaßstab“ vorgebe.18 Die Anerkennung unterschiedlicher gleichheitsrechtlicher Prüfungsmaßstäbe durch die Verfassungsgerichte ist jedoch selbst – was leicht übersehen werden kann – keineswegs gleichheitsrechtlich unbedenklich. Vielmehr hat die gerichtlich vorgenommene Grundrechtskontrolle ihrerseits den Anforderungen des Gleichheitssatzes zu entsprechen. Dieser Umstand hat insbesondere zur Folge, dass die Anwendung unterschiedlich strenger Maßstäbe in einzelnen Fallkonstellationen auf sachlich begründete Erwägungen zurückgeführt werden muss. Anders gewendet: Auch die Annahme differierender Intensitäten des gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsniveaus bedarf ihrerseits entsprechender rechtfertigender Gründe. Richtet sich das besondere Augenmerk daher auf den gerichtlich zu Grunde gelegten Kontrollmaßstab, so wird die nachfolgende Untersuchung der deutschen und US-amerikanischen Gleichheitsjudikatur zeigen, dass die Entwicklung der Gleichheitsdogmatik gerade in dieser Hinsicht Fragen offen lässt und Begründungsdefizite aufweist. Sachs spricht treffend von einer „grundsätzlichen Unsicherheit“19 im Zusammenhang mit den Maßstäben der Gleichheitsprüfung. Eine sinnvolle Ausdifferenzierung grundrechtlichen Gleichheitsschutzes setzt jedoch unabdingbar die zuvor dargelegten Begründungszusammenhänge voraus. Somek hat diese gleichheitsdogmatischen Rahmenbedingungen prägnant zusammengefasst, wenn er fordert: „Ein Grund, an der Differenz von Prüfungsmaßstäben in unterschiedlicher Strenge fest16
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 56. Kokott, Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 162. 18 BVerfG, 1 BvL 15/87, 27.1.1998, Rn. 42. 19 Sachs, JuS 1997, 124. 17
1. Teil: Einleitung
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zuhalten, müsste, um als vernünftiger Grund gelten zu können, die Differenz aus der Einheit des Gleichheitsrechts begründen. Er hätte verständlich zu machen, weshalb es dem Gleichheitsrecht angemessen ist, in einer bestimmten Gruppe von Fällen einen strengeren Prüfungsmaßstab anzulegen als in anderen.“20 Mit der im vierten Teil vorgestellten Dogmatik des Gleichheitsgrundrechts wird ein solches Anliegen verfolgt. Der Ausarbeitung einer überzeugenden Dogmatik werden dabei strukturelle Gemeinsamkeiten, Eigenarten und Problemlagen der analysierten US-amerikanischen und deutschen Verfassungsrechtsprechung als Anschauungsmaterial dienen, die es aufzunehmen und zu verarbeiten gilt, um differenzierte gleichheitsrechtliche Anforderungen plausibel zu begründen. Der gemeinschaftsrechtliche Teil der Untersuchung hat damit ebenso wie der rechtsvergleichende Teil die Konzeption grundrechtlichen Gleichheitsschutzes zum Gegenstand. Dabei wird mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht eine Rechtsordnung in den Blick genommen, deren Umgang mit dem Gleichheitssatz aus mehreren Gründen von besonderem Interesse ist. Weitgehend unbestritten ist zunächst die herausragende Bedeutung der primärrechtlichen Gleichheitsverankerungen für den europäischen Integrationsprozess.21 Sie stellen Kerngewährleistungen des Gemeinschaftsrechts dar22, deren fundamentaler Charakter auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Ausdruck kommt, wenn vom Gleichbehandlungsgrundsatz als einem elementaren Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts die Rede ist.23 Die Untersuchung wird insoweit zu berücksichtigen haben, dass sich auf der Ebene des gemeinschaftlichen Primärrechts zahlreiche Elemente finden lassen, die den Gleichheitsgedanken aufgreifen und ihn näher ausgestalten. Hierzu gehören die besonderen Diskriminierungsverbote des geschriebenen sowie ein allgemeiner Gleichheitssatz als Teil des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts, deren enorme praktische Bedeutung in merkwürdig anmutendem Kontrast zu ihrer geringen dogmatischen Durchdringung steht. Der Gleichheitsrechtsprechung des EuGH wird denn auch verbreitet vorgeworfen, allzu kasuistisch vorzugehen und dogmatische Klarheit vermissen zu lassen.24 Ein wesentlicher, aber wohl nicht der einzige Grund hierfür dürfte in der fehlenden ausdrücklichen Verankerung eines allgemeinen Gleichheitsgrundrechts bestehen.25 Vor diesem Hintergrund 20
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 622 (Hervorhebungen im Original). Vgl. etwa Grundmann, NJW 2000, 14, 17 f. 22 Cirkel, NJW 1998, 3332. 23 EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., Hansa-Lagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753, 1770. 24 Vgl. etwa Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 559. 25 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1. 21
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1. Teil: Einleitung
sind allgemeine Strukturfragen des gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Gleichheitsschutzes bislang auch in monographischer Form kaum näher untersucht worden.26 Insoweit gilt unverändert, worauf Kischel in einem Aufsatz von 1997 nachdrücklich hingewiesen hat: „Im Europarecht fehlt eine allgemeine Dogmatik des Gleichheitssatzes.“27 Das im europarechtlichen Teil der Studie verfolgte Anliegen, einen Beitrag zur damit angesprochenen dogmatischen Konturierung des Gleichheitsrechts zu leisten, wird dabei neben europaspezifischen Erwägungen auf Erkenntnisse zum verfassungsgerichtlichen Umgang mit dem Gleichheitsgrundrecht aus den vorangegangenen Teilen aufbauen können. Für die Einbeziehung der deutschen Verfassungsrechtslage liegt das bereits insofern nahe, als die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu den gemeinschaftsrechtlich anerkannten Rechtserkenntnisquellen im Rahmen der Grundrechtsinterpretation zählen. Zudem ist in jüngerer Zeit mit Recht herausgestellt worden, dass die theoretische Aufbereitung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Deutschland erheblich an Dynamik gewonnen hat, seit das Bundesverfassungsgericht zu Beginn der achtziger Jahre die so genannte „neue Formel“ der Gleichheitsprüfung prägte.28 Demgegenüber mag die Berücksichtigung der US-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung auf den ersten Blick überraschen. Das besondere Interesse am Umgang des U.S. Supreme Court mit dem Gleichheitsgrundrecht gründet indes darauf, dass die dogmatische Konturierung grundrechtlichen Gleichheitsschutzes in der amerikanischen Verfassungskultur besonders weit fortgeschritten ist. Infolge der langjährigen und tief greifenden Auseinandersetzungen mit der bereits 1868 in die Verfassung eingefügten equal protectionKlausel sind Strukturen und Maßstäbe der Gleichheitsprüfung insoweit stark ausdifferenziert. Beiträge zur Dogmatik des Gleichheitsschutzes können daher auf reichhaltige amerikanische Erkenntnisse im Umgang mit dem Problem der Gleichbehandlung zurückgreifen, weshalb das Vorgehen des U.S. Supreme Court einen nahe liegenden Ausgangspunkt gleichheitsrechtlicher Studien darstellt: „Das Studium des amerikanischen Verfassungsrechts ist unverzichtbar, wenn man begreifen will, was das Verfassungsrecht als Struktur [der Beurteilung] legislativer Rationalität bedeutet. Die einschlägigen Maßstäbe sind dort erstmals und mit großer begrifflicher Präzision entwickelt worden.“29 Wie eingangs dargelegt, bilden eben diese Maßstäbe der Gleichheitsprüfung einen Schwerpunkt der vorliegenden Un26 Gewisse monographische Ausnahmen: Feige, Der Gleichheitssatz im Recht der EWG; Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht; Wahle, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union. 27 Kischel, EuGRZ 1997, 1. 28 Kallina, Willkürverbot und Neue Formel, S. 4 m. w. N. 29 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 104.
1. Teil: Einleitung
35
tersuchung. Auch insofern ist die Betrachtung des amerikanischen Verfassungsrechts in dem hier behandelten Kontext von besonderem Interesse. Dem entspricht eine in jüngerer Zeit verstärkt beobachtbare Tendenz, Erkenntnisse des amerikanischen Verfassungsrechts auch im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen und sie auf ihre Aussagekraft für das europäische Recht zu überprüfen.30 Eine solche Perspektive soll hier mit Blick auf das Gleichheitsrecht eingenommen werden. Wie die einleitend dargestellten Eckpunkte belegen, wird speziell der verfassungsgerichtlichen Entfaltung des Gleichheitsgedankens im Verlauf der Studie besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Akzentuierung der gleichheitsrechtlichen Judikatur resultiert aus der bereits angesprochenen hervorragenden Bedeutung der Rechtsprechung im Bereich des Verfassungsrechts. Bezogen auf die Interpretation des grundrechtlichen Gleichheitssatzes sieht sich die Rechtsprechung allerdings in allen drei untersuchten Rechtsordnungen mit einem im Kern übereinstimmenden Kritikpunkt konfrontiert: Es fehle ihr, so der verbreitet erhobene Vorwurf, vor allem an hinreichender Vorhersehbarkeit. Beispielhaft sei etwa auf die Analyse von Scalia, Richter am U.S. Supreme Court, hingewiesen, der zum gerichtlichen Umgang mit unterschiedlichen gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstäben bemerkt: „I shall devote most of my analysis to evaluating the Court’s opinion on the basis of our current equal-protection jurisprudence, which regards this Court as free to evaluate everything under the sun by applying one of three tests: ‚rational basis‘ scrutiny, intermediate scrutiny, or strict scrutiny. These tests are no more scientific than their names suggest, and a further element of randomness is added by the fact that it is largely up to us which test will be applied in each case.“31 Eine wesentliche Ursache für diese vielfach beklagte geringe Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung könnte in ihrem Mangel an Reflexivität bezüglich der dogmatischen Grundlagen unterschiedlicher Gleichheitsmaßstäbe liegen. Die Reflexion der Verwendung von Tests ist daher in jüngerer Zeit zu Recht verstärkt angemahnt worden.32 Sie bildet eine unabdingbare Voraussetzung für Bestrebungen nach rationaler Gradualisierung der Rechtfertigungsintensität; Bestrebungen, wie sie die Untersuchung für alle drei der behandelten Rechtsordnungen aufzeigen wird. Während dabei im rechtsvergleichenden Teil der Arbeit die analytische Befassung mit Strukturen der deutschen und amerikanischen 30 Vgl. etwa Manolkidis, The Principle of Equality from a Comparative Constitutional Perspective: Lessons for the EU, S. 80 ff. Auch insofern gilt, wie Haltern, Der Staat 40 (2001), 243, 267 f. betont, dass sich die Entwicklung moderner Verfassungstheorie auf einen neuen, grenzüberschreitenden Rahmen sowohl in transnationaler als auch in supranationaler Hinsicht zubewegt. 31 United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2292 (1996) (Scalia, dissenting). 32 Vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 214 f.
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1. Teil: Einleitung
Verfassungsrechtsprechung im Vordergrund steht, ist der darauf aufbauende, dem europäischen Gemeinschaftsrecht gewidmete Teil stärker dem juristischen Konstruktivismus verhaftet. Ihm liegt die Vorstellung zu Grunde, dass differenzierter Gleichheitsschutz einer normativen Theorie der Prüfungsmaßstäbe bedarf.33 Zentrales Anliegen dieses Teiles ist es daher, wesentliche Elemente einer solchen Theorie der Prüfungsmaßstäbe zu entwickeln und somit einen Beitrag zur dogmatischen Konturierung grundrechtlichen Gleichheitsschutzes zu leisten.
C. Gang der Untersuchung Aus diesen Überlegungen resultiert der Aufbau der Untersuchung. Nach dem einleitenden ersten Teil soll im zweiten Teil zunächst eine Systematisierung von Maßstäben der Gleichheit im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschlands erfolgen. Dabei sind den Verfassungstexten insgesamt nur wenig ausdrückliche Anhaltspunkte hinsichtlich des anzuwendenden Prüfungsmaßstabs zu entnehmen. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist ein Verständnis der historischen Wurzeln des Gleichheitssatzes von großer Bedeutung, da sich hieraus Folgerungen für die aktuelle Grundrechtsinterpretation ergeben (1. Kapitel). Zugleich erleichtert die historische Betrachtung das Verständnis einer Vielzahl auch gegenwärtig diskutierter Gleichheitsfragen, die häufig nur unter Bezugnahme auf ihre verfassungsrechtlichen Ursprünge erklärbar sind. Das gilt in besonderem Maße für den allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz, dessen materielle Entfaltung durch den U.S. Supreme Court und das Bundesverfassungsgericht im Anschluss an den geschichtlichen Überblick näher untersucht wird (2. Kapitel). Hierbei wird sich zeigen, dass insbesondere die Gemeinsamkeiten in der Rechtsprechung beider Gerichte vor dem Hintergrund durchaus unterschiedlicher verfassungstextlicher Vorgaben von großem Interesse sind und nähere Aufschlüsse darüber zulassen, inwiefern einer zunehmend gradualisierten Gleichheitsprüfung transparente Maßstäbe für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen zugeordnet werden können. In diesem Zusammenhang ist sodann auf die Bedeutung besonderer Diskriminierungslagen einzugehen (3. Kapitel). Soweit nämlich bestimmte Differenzierungskriterien oder Sachbereiche aufgrund historischer Erfahrungen aus dem grundsätzlich umfassenden Anwendungsgebiet des allgemeinen Gleichheitssatzes ausgelagert werden – sei es im Wege richterrechtlicher Rechtsfortbildung oder aufgrund verfassungspositiver Sondernormen –, liegt eine hiermit einhergehende Verschärfung der gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe besonders nahe. Eine solche Anhebung der Anforderungen für die 33
Dazu überzeugend Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 214 f.
1. Teil: Einleitung
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Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen bewirkt indes nicht alleine eine Intensivierung des Gleichheitsschutzes, sondern berührt darüber hinaus das empfindliche Verhältnis von Gleichheitsrechtsprechung und politischem Prozess insgesamt (4. Kapitel). Vor diesem Hintergrund soll zunächst der verfassungsgerichtliche Urteilsausspruch in seiner Bedeutung für das Prinzip der Gewaltenteilung untersucht werden. Im Anschluss daran wird die Korrelation von gleichheitsrechtlicher Prüfungsintensität und legislativer Gestaltungsfreiheit näher zu beleuchten sein, wobei die zuvor analysierten Maßstäbe der Gleichheit hier insbesondere im Kontext der umstrittenen Fragen von richterlichem Aktivismus und judicial self-restraint sowie im Hinblick auf die Methode der Verfassungsauslegung Geltung erlangen. Der dritte Teil der Arbeit greift die in der vorangegangenen rechtsvergleichenden Untersuchung zum Ausdruck gekommenen Spannungsfelder grundrechtlicher Gleichheitsinterpretation näher auf. Bei genauerer Betrachtung lassen sich insoweit einzelne konfligierende Prinzipien der Gleichheitsprüfung erkennen, deren Systematisierung auf drei zentrale Antinomien verfassungsgerichtlichen Gleichheitsschutzes verweist. Eine Analyse dieser Antinomien vermag nähere Aufschlüsse über die Struktur der Gleichheitsprüfung zu geben, indem sie die insoweit bestehenden dogmatischen Problemlagen verdeutlicht und für die damit verbundenen Fragen nach den Maßstäben der Gleichheitskontrolle sensibilisiert. So kann der verfassungsgerichtliche Umgang mit dem Gleichheitsgrundrecht zunächst danach differieren, ob dessen Zielrichtung maßgeblich auf die Herbeiführung von Assimilation oder die Gewährleistung von Antisubordination bezogen wird (2. Kapitel, A.). Im Mittelpunkt der zweiten Antinomie steht demgegenüber die Unterscheidung von Klassifikationen und Klassen und die Problematik, ob gleichheitsrechtlich suspekte Differenzierungskriterien von ihrem historischen Kontext abgelöst und in formell neutraler Weise angewandt werden können, oder ob es der bewussten Berücksichtigung spezifischer Diskriminierungslagen einzelner Gruppen von Merkmalsträgern bedarf (B.). Der verfassungsgerichtlich gewährleistete Gleichheitsschutz hängt schließlich maßgeblich davon ab, inwieweit die Rechtsprechung für die Beurteilung einer Maßnahme auf deren Effekte oder die ihr zu Grunde liegenden Intentionen rekurriert (C.). Die damit aufgeworfenen zentralen Problemlagen und normativen Orientierungen werden im weiteren Verlauf der Studie bei der Erarbeitung der dogmatischen Grundlagen des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsschutzes berücksichtigt. Insofern setzt das hier verfolgte Ziel einer tragfähigen theoretischen Fundierung von Maßstäben der Gleichheitsprüfung voraus, die antinomischen Elemente der Gleichheitsinterpretation in ihrem Konfliktpotential aufzunehmen und in die Erwägungen zur angemessenen Konturierung des Gleichheitsrechts mit einzubeziehen.
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1. Teil: Einleitung
Im vierten Teil wird die angestrebte dogmatische Entfaltung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes im europäischen Primärrecht mit einem Überblick über dessen gemeinschaftsrechtliche Ausprägungen eröffnet (1. Kapitel). Nach einer einführenden Betrachtung der insoweit bislang ungeklärten gleichheitsrechtlichen Probleme (2. Kapitel, A., B.) ist weiterhin auf die Herleitung und Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte einzugehen (2. Kapitel, C.). Im Folgenden gilt es, strukturelle Besonderheiten des Gleichheitsschutzes hervorzuheben (2. Kapitel, D., E.), deren Kenntnis eine notwendige Voraussetzung für die anschließende dogmatische Entwicklung der Gleichheitsprüfung bildet. Bei der systematischen Entfaltung der Gleichheitsprüfung (3. Kapitel) werden insbesondere die Prüfungsschritte Vergleichbarkeit (A.), Ungleichbehandlung (B.) und Rechtfertigung (C.) zu untersuchen sein. Gemeinschaftsrechtlich ist vor allem die praktisch so bedeutsame Rechtfertigungsebene noch kaum näher erforscht. Wenig Klarheit besteht deshalb auch hinsichtlich der Maßstäbe, die über das Niveau der Rechtfertigungsanforderungen entscheiden und damit letztlich den gleichheitsrechtlich gewährleisteten Schutzstandard determinieren. Wie die Untersuchung zeigen wird, lassen sich insoweit bedeutende Anhaltspunkte aus dem Zusammenspiel primärrechtlicher Vorgaben mit dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz erkennen, das drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes sichtbar werden lässt (4. Kapitel). Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei jener Dreiklang, der als europäische Grundrechtstrias bezeichnet wird34 und sich aus den Elementen Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit zusammensetzt. Darauf aufbauend können drei Dimensionen unterschieden werden, die für die Bestimmung der Rechtfertigungsanforderungen von fundamentaler Wichtigkeit sind. Die erste, personenbezogene Dimension betrifft den Zusammenhang von Menschenwürde und Gleichheit (A.) und die hieraus resultierenden Konsequenzen für die Gleichheitsprüfung. Gegenstand der zweiten Dimension sind Erkenntnisse, die sich aus dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit (B.) ergeben. In einer dritten Dimension schließlich geht es um Fragen komplexer Gleichheit (C.), bei denen primärrechtliche Spezifika eine entscheidende Bedeutung besitzen, ohne dass es hierbei vorrangig auf den gleichheitsrechtlichen Bezug zu Menschenwürdegarantie oder Freiheitsrechten ankäme. In den Vordergrund rückt hier der kontextualistische Schwerpunkt des Gleichheitsgrundrechts, das insoweit maßgeblich von Bereichsspezifik und Kriterienselektion als Elementen differenzierten Gleichheitsschutzes geprägt ist. Die damit verbundenen, den Kern grundrechtlichen Gleichheitsschutzes berührenden Fragen sind bislang kaum aufgearbeitet worden. Ihre Untersuchung betritt daher wiederholt dogmatisches Neuland. Das betrifft 34
Vgl. Baer, ZRP 2000, 361, 364 m. w. N.
1. Teil: Einleitung
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nicht zuletzt die enge Verknüpfung von juristischer Dogmatik und politischer Philosophie. Diese Verknüpfung bezieht ihre Rechtfertigung aus der doppelten Annahme, dass positives Recht und Rechtsdogmatik von den Analysen politischer Philosophie zu profitieren vermögen und dass dies eher bei einer Verschränkung als einem bloßen Nebeneinander der Disziplinen gelingen kann.35 Abgerundet wird die Studie zur Dogmatik des Gleichheitsgrundrechts durch Untersuchungen zur Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung (5. Kapitel) und zur gleichheitsrechtlichen Behandlung so genannter positiver Diskriminierungen (6. Kapitel) sowie zu den Rechtsfolgen von Gleichheitsverstößen (7. Kapitel). Die Arbeit schließt mit Überlegungen zur wechselbezüglichen Entwicklung von europarechtlichem Gleichheitsschutz und Unionsbürgerschaft und einer Zusammenfassung der wesentlichen Arbeitsergebnisse (Fünfter Teil).
35
Vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 2.
Zweiter Teil
Gewinnung von Anschauungsmaterial: Der grundrechtliche Gleichheitssatz in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika im Rechtsvergleich 1. Kapitel
Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes A. Deutsche Verfassungsgeschichte Im Folgenden soll zunächst auf die historischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens in der deutschen Verfassungsgeschichte eingegangen werden. Nachdem die Idee der Gleichheit schon in der Antike (zumeist als Gleichheit der freien griechischen und römischen Vollbürger) und im Christentum (als aus der Ebenbildlichkeit des Menschen abgeleitete Gleichheit vor Gott) auftaucht, erlangt sie insbesondere durch die Bewegung der Aufklärung im 18. Jahrhundert an Bedeutung. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Gleichheitsgedankens in Deutschland ist dabei wesentlich durch die Auseinandersetzung mit naturrechtlichen Vorstellungen der Aufklärungszeit sowie den Inhalten der Französischen Revolution geprägt.1 I. Bedeutung des Gleichheitsgedankens in Naturrecht, Aufklärung und Französischer Revolution für die deutsche Verfassungsentwicklung Bereits vor der Französischen Revolution waren in den Einzelstaaten des alten Reiches im 18. Jahrhundert naturrechtliche Vorstellungen verhältnismäßig weit verbreitet.2 Schon Hugo Grotius (1583–1645) hatte die Position 1 Vgl. Dann, Das Gleichheitsproblem in Deutschland im Zeitalter der Französischen Revolution, S. 15 f. 2 Ausführlich Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 119 ff.; zu den naturrechtlichen Traditionslinien in der Grundrechtsentwicklung H.-P. Schneider, Eigenart und Funktionen der Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, S. 11 ff.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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entwickelt, wonach das rational begründete, auch von Gott unveränderliche Naturrecht unabhängig von den unterschiedlichen Rechtsverhältnissen in einzelnen Ländern sei. Samuel Pufendorf (1632–1694), erster Lehrstuhlinhaber für Natur- und Völkerrecht in Deutschland, entwickelte die Lehren von Grotius weiter. Mit seiner Unterscheidung zwischen der entia physica und der entia moralia bewahrte er die Selbständigkeit der Moralwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften. Das Naturrecht wurde als Disziplin von dem bislang verbreiteten theologischen Hintergrund getrennt. Für den Herrscher sollten die Inhalte des Naturrechts nicht nur in moralischer, sondern auch in rechtlicher Hinsicht verbindlich sein. Zunächst Christian Thomasius (1655–1728) und insbesondere Christian Wolff (1679–1754) und seine zahlreichen Anhänger sorgten dafür, dass die Lehre vom Naturrecht weitere Verbreitung fand.3 Ihr lag die Vorstellung einer ursprünglichen, natürlichen Gleichheit der Menschen zu Grunde4, die allerdings in unterschiedlicher Form oftmals relativiert wurde, etwa durch die Annahme, dass der Einzelne im Rahmen des Gesellschaftsvertrages auf seine Gleichheit verzichte.5 Somit waren Elemente des Gleichheitsgedankens durch die Lehren der deutschen Aufklärung schon recht verbreitet in den deutschen Ländern, bevor es Ende des 18. Jahrhunderts zur verstärkten Auseinandersetzung mit dem Gleichheitspostulat der Französischen Revolution (1789–1792) kam. In Frankreich war das Gleichheitspostulat zu einem der Leitbegriffe der Revolution geworden. Die Opposition gegen das Ancien régime wurde getragen von Gedanken der Aufklärung, insbesondere von Montesquieu (1689–1755), Voltaire (1694–1778) und Rousseau (1712–1778). Rousseau, hervorragender Repräsentant der Aufklärung, wird vielfach zugleich als ihr Überwinder betrachtet.6 Der Auseinandersetzung mit Fragen der Gleichheit kommt dabei im Rahmen des Gesamtwerkes zentraler Stellenwert zu. In seinem „Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ von 1755 findet sich zunächst eine spekulative Rekonstruktion menschlichen Lebens im Naturzustand. In diesem vorgesellschaftlichen Zustand scheint die ursprüngliche Einfachheit des autarken, in sich selbst ruhenden Menschen auf, die von Freiheit und Gleichheit geprägt ist. Selbsterhaltungstrieb und Mitleid sind die beherrschenden Antriebe des von Natur aus guten, unverfälschten Menschen, der sich auf seine Gefühle 3 Vgl. zur deutschen Aufklärungsphilosophie Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Band II, S. 257 ff. 4 Hinske, Kinder des einen Vaters oder Opfer des Prokrustes?, S. 3. 5 Zu den unterschiedlichen Relativierungsansätzen vgl. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 120 ff. m. w. N. 6 Vgl. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Band II, S. 255.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
verlassen kann und in Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit lebt. Dem derart verstandenen Idealbild des Naturzustands stellt Rousseau die kulturelle Überformung des einzelnen durch seine Vergesellschaftung gegenüber. Die individuelle Natürlichkeit des Menschen und seine ursprünglichen Gefühlsanlagen werden so durch Kulturschöpfungen der Gesellschaft verdeckt: „Die extreme Ungleichheit in der Lebensweise, das Übermaß an Müßiggang bei den einen, das Übermaß an Arbeit bei den anderen; die Leichtigkeit, unsere Begierden und unsere Sinnlichkeit zu reizen und zu befriedigen; . . . die schlaflosen Nächte, die Exzesse jeglicher Art, die unmäßigen Erregungen aller Leidenschaften, die Mühsale und die Erschöpfung des Geistes; die Kümmernisse und die Betrübnisse ohne Zahl, die man in allen Lagen erfährt und von denen die Seelen fortwährend zerfressen werden – das sind die unheilvollen Beweise dafür, daß die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk sind und daß wir sie beinahe alle vermieden hätten, wenn wir die einfache, gleichförmige und solitäre Lebensweise beibehalten hätten, die uns von der Natur vorgeschrieben wurde.“7 Eine bedeutsame Folge des von Rousseau mit so viel Unbehagen bedachten vermeintlichen gesellschaftlichen „Fortschritts“ in Kultur und Geschichte, insbesondere durch die Herausbildung des Privateigentums sowie den auf Eitelkeit und Geltungssucht zurückgeführten Entwicklungsprozess der Wissenschaften und Künste, ist die Beförderung der Ungleichheiten zwischen den Menschen. Rousseau unterscheidet insoweit zwischen zwei Arten menschlicher Ungleichheit, „die eine, die ich natürlich oder physisch nenne, weil sie durch die Natur begründet wird, und die im Unterschied der Lebensalter, der Gesundheit, der Kräfte des Körpers und der Eigenschaften des Geistes oder der Seele besteht; und die andere, die man moralische oder politische Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Konvention abhängt und durch die Zustimmung der Menschen begründet oder zumindest autorisiert wird. Die letztere besteht in den unterschiedlichen Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen – wie reicher, geehrter, mächtiger als sie zu sein oder sich sogar Gehorsam bei ihnen zu verschaffen“8. Die damit eingeführte Unterscheidung von natürlichen und gesellschaftlichen, durch Konventionen begründeten Ungleichheiten ist bis heute ein zentrales Motiv in der Auseinandersetzung um das Gleichheitspostulat geblieben. Auf seine Bedeutung für moderne egalitaristische Theorien wird im Verlauf der Untersuchung ausführlicher zurück zu kommen sein. Wie Rousseau zu belegen versucht, ist die Ungleichheit der Menschen im Naturzustand „nahezu null“9, während sie im Wege der gesellschaftli7 8 9
Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 89. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 67. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 271.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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chen Kultivierung und Moralisierung erhebliche Ausweitungen erfährt. Vergleiche man daher die „ungeheure Verschiedenheit der Erziehungen und der Lebensweisen, die in den unterschiedlichen Ständen des bürgerlichen Zustands herrscht, mit der Einfachheit und Gleichförmigkeit des tierischen und wilden Lebens, in dem sich alle von den gleichen Nahrungsmitteln ernähren, auf die gleiche Weise leben und exakt die gleichen Dinge tun, dann wird man verstehen, um wie viel der Unterschied zwischen einem Menschen und einem anderen im Naturzustand geringer sein muß als im Gesellschaftszustand und um wie viel die natürliche Ungleichheit in der menschlichen Art durch die gesellschaftlich eingerichtete Ungleichheit größer werden muß“10. Das Anliegen Rousseaus besteht nun nicht darin, natürliche Ungleichheiten der Menschen durch gesellschaftlich herzustellende Gleichheit zu kompensieren. Vielmehr geht es ihm gerade darum, die konstatierte weitgehende Gleichheit im Naturzustand auch auf die Ebene der Gesellschaft zu übertragen: Im Mittelpunkt steht daher die Frage, „wie die ursprüngliche Gleichwertigkeit der Menschen innerhalb der durch eine zunehmende Ungleichheit gekennzeichneten bürgerlichen Gesellschaft wieder hergestellt werden kann“11. Diese Aufgabe kommt nach Rousseau dem Gesellschaftsvertrag zu. Dessen Inhalt wird maßgeblich darin gesehen, dass sich die Individuen ihrer ursprünglichen natürlichen Gleichheit und Freiheit zu Gunsten des Gemeinwesens entäußern, um sie auf einer höheren, gesellschaftlichen Ebene zurück zu gewinnen. Damit wird Gleichheit zum Inbegriff einer zu entwerfenden, gerechten gesellschaftlichen Ordnung. Indem das Gleichheitspostulat auf diese Weise immer mehr in die Position eines revolutionären Schlüsselelements einrückte, nahm die Auseinandersetzung über die hergebrachten Strukturen des Ancien régime an Intensität beständig zu. Hierzu zählten vor allem die Forderung nach der Verwirklichung rechtlicher und staatsbürgerlicher Gleichheit und der damit einhergehende Kampf um die Beseitigung ständischer Vorrechte. Bedeutsam für die Entwicklung der Gleichheitsidee war weiterhin die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte12) vom 26. August 1789, an deren Entwurf neben Lafayette auch Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 mitgewirkt hatte.13 Die Erklärung wurde der Ver10
Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 163. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 136 f. 12 Zur französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland Kühne, JöR 39 (1990), S. 1 ff. 13 Zur Auseinandersetzung über die Bedeutung der Virginia Bill of Rights (1776) einerseits sowie der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen (1789) andererseits vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 IV 2 b. 11
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
fassung vom 3. September 1791 vorangestellt. Sie enthält, ebenso wie die Verfassung vom 24. Juni 1793, bedeutende Formulierungen des Gleichheitsgedankens.14 So etwa in Art. 1 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung („Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits“ – Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten15) und Art. 6 („Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Formung mitzuwirken. Es soll für alle gleich sein, mag es beschützen, mag es bestrafen“). In Art. 3 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung der Verfassung von 1793 findet sich schließlich erstmals eine Formulierung, die dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes entspricht: „Tous les hommes sont égaux par la nature et devant la loi“ – Alle Menschen sind von Natur und vor dem Gesetz gleich. Aufgrund der in Art. 4 unmittelbar nachgestellten Bestimmung des Gesetzes ist damit die Rechtsanwendungsgleichheit durch Rechtsprechung und Verwaltung gemeint16, da die Gesetze selbst Ausdruck des „allgemeinen Willens“ (volonté générale) sind, und dieser im Sinne Rousseaus als idealer Gemeinschaftswille der eigentliche Staatswille und immer gerecht ist.17 Weder die erste Verfassung von 1791 (im August 1792 suspendiert) noch die zweite Verfassung von 1793 (niemals in Kraft getreten) waren, im Gegensatz zu den amerikanischen Rechteerklärungen, auf die gerichtliche Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte gerichtet. Dennoch ist ihre Wirkung im Hinblick auf die verfassungsgeschichtliche Herausbildung des Gleichheitsgedanken in Deutschland beträchtlich. Wie zuvor ausgeführt, waren in den deutschen Ländern bereits vor der Französischen Revolution Elemente des Gleichheitsgedankens verbreitet, die in der Tradition gemeinsamer naturrechtlicher Grundüberzeugungen der europäischen Aufklärung stehen. Mit der Französischen Revolution von 1789 und ihrem programmatischen Leitbild des Gleichheitspostulats jedoch rückte die Gleichheitsfrage zunehmend dringender in den Blickpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Die Aufnahme des Gleichheitspostulats in den deutschen Territorien erfolgte zwiespältig.18 Nachgewiesen ist zunächst19, dass Gleichheitsforderun14
Abdruck der Verfassungen bei Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 303 ff. Übersetzung nach Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 305. 16 Starck, Die Anwendung des Gleichheitssatzes, S. 52. 17 Vgl. hierzu ausführlich Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, S. 83 ff. mit einer Zusammenstellung der Aussagen Rousseaus zum allgemeinen Willen als immer gerechtem Willen; ferner Oberparleiter-Lorke, Der Freiheitsbegriff bei Rousseau, S. 247 ff. zur Bedeutung des volonté générale im Contrat social sowie Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Band II, S. 254, der auf die Übereinstimmungen von volonté générale und der reinen, praktischen Vernunft hinweist. 15
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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gen vor allem der Mittel- und Unterschichten das Jahrzehnt von 1790 bis 1800 durchziehen und maßgeblich durch die Rezeption von Gedanken der Französischen Revolution beeinflusst sind. Auch auf das gebildete Bürgertum wirkte der Eindruck der Revolution nachhaltig. Da die Gleichheitsforderungen aus Frankreich hinsichtlich der naturrechtlichen Grundlage mit den eigenen Vorstellungen zu einem großen Teil korrespondierten, wurde ihnen viel Zustimmung zuteil.20 Zudem waren die Lehren Immanuel Kants (1724–1804) verbreitet, dessen kritischer Idealismus mit großem Interesse diskutiert wurde. Kant hatte das bislang, wie gezeigt, überwiegend naturrechtlich fundierte Postulat der Gleichheit der Menschen auf eine andere Grundlage gestellt, indem er die Freiheit des Menschen nicht in seiner Natur begründete, sondern darin, sein Handeln nach der eigenen Vernunft auszurichten. Die Autonomie des Willens wurde damit zum obersten Prinzip der Sittlichkeit, die „Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden“21. Auf diese Weise war die naturrechtliche Vorstellung von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen im Naturzustand aufgegeben, vielmehr wurde die Verwirklichung von Gleichheit der von Natur aus ungleichen Menschen zu einem sittlichen Gebot der praktischen Vernunft erklärt.22 Auch Kant trägt somit, ungeachtet seines unterschiedlichen philosophischen Ansatzpunktes, maßgeblich zur Verbreitung des Gleichheitspostulats bei, das hierdurch und durch die Auseinandersetzung mit den Inhalten der französischen Revolution zu einem Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurde. Trotz dieser konstatierten zunehmenden Verbreitung des Gleichheitsgedankens ist jedoch herauszustellen, dass das Reformverlangen in der ständischen Gesellschaft der deutschen Länder des ausgehenden 18. Jahrhunderts weitaus geringer ausgeprägt war als in Frankreich: Ursachen hierfür waren unter anderem die territoriale Zersplitterung Deutschlands23 sowie insbesondere die Tatsache, dass sich die französische Monarchie gegenüber den Gedanken der Aufklärung weitgehend verschlossen hatte, während die Monarchen in den deutschen Ländern, vor allem in Preußen und Österreich, selber eine Vorreiterstellung im Rahmen der Aufklärungsbewegung einnah18
Vgl. Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 389 ff. Vgl. etwa Dann, Das Gleichheitsproblem in Deutschland im Zeitalter der Französischen Revolution, S. 18 ff. 20 Dann, Das Gleichheitsproblem in Deutschland im Zeitalter der Französischen Revolution, S. 15 f. m. w. N. 21 Kant, Werkausgabe in zwölf Bänden, Band VII: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 82. 22 Vgl. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 155; Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Band II, S. 339 f. 23 Vgl. Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 384 ff. 19
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
men.24 So prognostizierte der Göttinger Staatswissenschaftler August Ludwig v. Schlözer im Jahr 1791: „Langsam wird die Revolution freilich geschehen, aber sie geschieht! Die Aufklärung steigt, wie in Frankreich, von unten herauf: aber sie stößt auch oben an Aufklärung; wo gibt es mer cultivirte Souverains, als in Deutschland? . . . Fürsten werden Fürsten bleiben, und alle deutsche Menschen freie Menschen werden“25. Unter dem Eindruck dieses „aufgeklärten Absolutismus“ wurde die Französische Revolution zwar anfänglich von vielen begrüßt, ohne aber zu vergleichbar einflussreichen deutschen Revolutionsbestrebungen zu führen.26 Mit der jakobinischen Wende der Französischen Revolution 1792 trat jedoch ein Stimmungsumschwung27 ein, der auch für die Entwicklung des Gleichheitsgedankens von Bedeutung ist. Dieser wurde vom gehobenen Bürgertum28 und der Obrigkeit29 in den deutschen Territorien nun zunehmend kritisch beurteilt. In der Forderung nach Gleichheit der Stände sah das Bürgertum seinen oftmals beschwerlich errungenen sozialen Status in Gefahr. Die Regenten in den einzelnen Ländern wiederum fürchteten vor allem die in den französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärungen niedergelegten Rechte als möglichen Ausgangspunkt von Aufruhr und Revolution, weshalb insbesondere die verkündungsreifen preußischen und österreichischen Verfassungsentwürfe im Hinblick auf diese vermeintliche Bedrohung erneut überprüft wurden.30 Hierbei kam es zur Streichung von Bestimmungen, die ihrer Formulierung nach den französischen Rechteerklärungen ähnlich erschienen und denen man daher ein besonders hohes Maß an revolutionärem Potential zusprach. II. Der Gleichheitsgedanke im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten“ trat am 1. Juni 1794 in Kraft und erstreckte sich auf alle Gebiete des materiellen Rechts. Mit dem nahezu 20.000 Paragraphen umfassenden Reformwerk wurde der naturrechtliche Gedanke einer lückenlosen Regelung des privaten und öffentlichen Rechts verbunden. Im Ergebnis stellte es schließlich eine so um24
Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, S. 49. v. Schlözer, Stats-Anzeigen 1791, Sechzehnter Band, Heft 61, S. 96. 26 Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 386. 27 Vgl. Kuhn, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, S. 79 f. 28 Vgl. Dann, Das Gleichheitsproblem in Deutschland im Zeitalter der Französischen Revolution, S. 16 f. 29 Hierzu Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, S. 53. 30 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 V 2 c. 25
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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fangreiche Kodifikation dar, dass es vielen Zeitgenossen als eine Art Verfassung schien. Jedoch wurde der Verfassungscharakter des Gesetzes im Laufe seiner Entstehungsgeschichte zunehmend zugunsten einer stärker privatrechtlich ausgerichteten Kodifikation zurückgedrängt.31 Zu einer Verankerung von Grundrechten oder einer expliziten Festschreibung des Gleichheitsgedankens kam es hingegen nicht: Zwar waren im ursprünglichen Entwurf von 1784 grundrechtsähnliche Bestimmungen enthalten, die an die Formulierungen der Menschen- und Bürgerrechtserklärungen der Französischen Revolution erinnern32, diese wurden jedoch im Zuge der zuvor beschriebenen zunehmenden Befürchtung des „revolutionären Gehalts“ dieser Begriffe nicht in den endgültigen Text von 1794 übernommen. In der Forschung zu den historischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens in der deutschen Verfassungsgeschichte findet sich jedoch ein weiterer Ansatz33, der dem Preußischen Allgemeinen Landrecht trotz der darin erfolgten Festschreibung der Ständeordnung und dem Fehlen eines ausdrücklichen Gleichheitssatzes wesentliche Bedeutung hinsichtlich der Gleichheitsidee zuschreibt. Nach dieser Auffassung enthält die Kodifikation von 1794 ein Element der Gleichheit unter den Staatsbürgern, was unter Bezugnahme auf ihren Schöpfer, Carl Gottlieb Svarez (1746–1798), begründet wird34: „Die Gesetze des Staats verbinden alle Mitglieder desselben ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts. Dem Gehorsam gegen die Gesetze kann also kein Einwohner desselben, er sei von noch so hohem Range, sich entziehen. In dieser Rücksicht sind daher alle Untertanen in den Augen des Souveräns völlig gleich, und der Fürst, der unmittelbar an seinem Throne steht, ist seinen Gesetzen ebensosehr unterworfen als der niedrigste Landbewohner oder Tagelöhner.“35 Als Gleichheitselement angesprochen ist damit die Gleichheit vor dem Gesetz. Diese ist jedoch in Beziehung zu setzen zu den detaillierten Bestimmungen, mit denen das Allgemeine Landrecht die verschiedenen Rechte der einzelnen Stände ausdifferenziert und damit die ständischen Rechtsunterschiede gerade gesetzlich festschreibt. Erst hierdurch kommt der in der Tradition des Naturrechts stehende Gleichheitsgedanke zum Ausdruck, der dem Reformwerk zu Grunde liegt: Die Stände31 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 V 2 c, Fn. 251 m. w. N. zur umstrittenen Frage nach dem Verfassungscharakter des Gesetzeswerkes. 32 Beispiele bei Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 V 2 c. 33 Kleinheyer, Aspekte der Gleichheit in den Aufklärungskodifikationen und den Konstitutionen des Vormärz, S. 7 ff. 34 Vgl. Kleinheyer, Aspekte der Gleichheit in den Aufklärungskodifikationen und den Konstitutionen des Vormärz, S. 9. 35 Svarez, Vorträge über Recht und Staat, S. 246.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
unterschiede sind erst durch positivrechtliche Normierung entstanden und können durch eben solche Gesetzgebung auch wieder verändert oder aufgehoben werden. Im Naturzustand jedenfalls existieren diese Unterschiede zunächst nicht – die Menschen sind insofern gleich, als „die Natur keinen Unterschied der Stände kennt“36. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass das Preußische Allgemeine Landrecht mit seinen detaillierten Standesregeln einerseits in der Tradition der ständischen Gesellschaft steht, aus der es hervorgegangen ist. Andererseits basiert es wie gesehen durchaus auf naturrechtlichen Vorstellungen einer ursprünglichen Gleichheit der Menschen, ohne diese jedoch positivrechtlich zu normieren. Schließlich kommt der Gleichheitsgedanke in Form der Gleichheit vor dem Gesetz zum Tragen, wie er in § 22 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht in der Formulierung von Svarez enthalten ist: „Die Gesetze des Staates verbinden alle Mitglieder desselben, ohne Unterschied des Standes, Ranges und Geschlechts“. III. Gleichheit in Frühkonstitutionalismus und Vormärz Unter dem Eindruck der Siege Napoleon Bonapartes (1769–1821), dem auf französischen Einfluss zustande gekommenen Reichsdeputationshauptschluss 1803 mit der territorialen Neuordnung der deutschen Staaten sowie der Auflösung des Alten Reiches (1806) gewinnt die Gleichheitsidee in den deutschen Ländern zu Beginn des 19. Jahrhunderts weiter an Bedeutung. Insbesondere die Stellung und Privilegien des Adels werden vor diesem Hintergrund zunehmend zum Gegenstand gesellschaftlicher Kritik.37 Die Kodifizierung von Gleichheitselementen geschieht in der Folgezeit zum einen im Rahmen der preußischen Reformgesetzgebung ab 1807, zum anderen durch das Entstehen der ersten Verfassungen in Deutschland. 1. Preußische Reformgesetzgebung ab 1807 Schon vor der vernichtenden Niederlage bei Jena und Auerstedt und dem Zusammenbruch von 1806 war in Preußen das absolutistische Staatssystem in die Kritik geraten. Ab 1807 sind es in Preußen vor allem Reichsfreiherr vom Stein (1757–1831) und sein Nachfolger Karl-August von Hardenberg (1750–1822), die ein umfangreiches Reformprojekt anstoßen, um die von ihnen konstatierte zunehmende Entfremdung von Staat und Volk zu überwinden. Hierzu zählen Sozialreformen, die die Auflösung einzelner Stan36 37
Svarez, Vorträge über Recht und Staat, S. 263. Dazu Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 164 f. m. w. N.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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desschranken zum Ziel haben. Den wichtigsten Schritt zur Förderung der Gleichheit stellt dabei das Edikt über die Bauernbefreiung38 vom 9. Oktober 1807 dar. In diesem wird insbesondere die Gutsuntertänigkeit der Bauern aufgehoben: „Nach dem Martini-Tage 1810 giebt es nur freie Leute“. Aufgehoben werden weiterhin die Gebundenheit des Grundstücksverkehrs und der Berufswahl an die Standeszugehörigkeit.39 Das damit verbundene Hauptanliegen bestand darin, die Teilnahme freier und gleichberechtigter Bürger an den Staatsgeschäften zu ermöglichen, ohne jedoch die Eigentumsverhältnisse zwischen Gutsherren und Bauern zu berühren.40 Aus den bisherigen Gutsuntertanen wurden so Staatsuntertanen, deren geburtsständische Ungleichheiten im Zuge der preußischen Reformen ab 1807 in zunehmendem Maße aufgehoben wurden. Zu diesen die ständischen Schranken zwischen Adel, Bürgern und Bauern aufhebenden Maßnahmen zählten auch die Heeresreformen, die das Vorrecht des Adels auf Offiziersstellen beseitigten. Im Reglement über die Besetzung von Offiziersstellen vom 6. August 1808 heißt es hinsichtlich dieses Gleichheitsaspekts: „Aller bisher stattgehabte Vorzug des Standes hört beim Militär ganz auf und jeder ohne Rücksicht auf seine Herkunft hat gleiche Pflichten und gleiche Rechte“41. Die preußische Reformgesetzgebung umfasste zudem eine Vielzahl weiterer wichtiger Bereiche, so die Regierungsreform, die Selbstverwaltung der Bürgerschaft durch gewählte Stadtverordnete (Städteordnung von 1808), Reformen im Bildungsbereich sowie die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1814). Für die hier interessierende Frage nach der Entwicklung des Gleichheitsgedankens ist jedenfalls hervorzuheben, dass die Nivellierung ständischer Unterschiede einen zentralen Aspekt der Kodifikation der Gleichheitsidee in der preußischen Gesetzgebung ab 1807 darstellt. 2. Entstehen der ersten Verfassungen 1807–1810 Bei Betrachtung der Kodifikation des Gleichheitsgedankens in den Verfassungen seit 1807 ist zunächst auf den Einfluss Napoleons hinzuweisen. So entstand 1807 die erste Verfassung auf deutschem Boden im Königreich Westfalen, einem der napoleonischen „Modellstaaten“ des Rheinbundes, von dem er sich eine Vorbildfunktion auch für die übrigen deutschen Staaten versprach. Die Verfassung für Westfalen, das nach dem Frieden von Til38 „Edikt, den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend“; vgl. hierzu ausführlich Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, S. 186 ff. 39 Vgl. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 240 f. 40 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, S. 187. 41 Zit. nach Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, S. 235.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
sit aus einer Vielzahl von Gebietsteilen entstanden war42 und in dem Jérome Bonaparte (1784–1860), jüngster Bruder Napoleons, bis 1813 als König regierte, hatte Napoleon in Frankreich in Anlehnung an das französische Modell ausarbeiten lassen. Um die ständisch-feudale Gesellschaftsordnung zu beseitigen, hob die Verfassung von 1807 Standesunterschiede und Privilegien ebenso auf wie die Leibeigenschaft und verankerte in der deutschen Verfassungsgeschichte erstmals ausdrücklich das allgemeine Prinzip der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit.43 So bestimmte Art. 10: „Das Königreich Westphalen soll durch Constitutionen regiert werden, welche die Gleichheit aller Unterthanen vor dem Gesetze festsetzen.“ Auch in Bayern wurde 1808 Napoleons Verfassung für das französisch regierte Königreich Westfalen und das Großherzogtum Berg mit nur geringen Änderungen übernommen, und zwar durch die von dem leitenden bayerischen Minister Maximilian Graf von Montgelas (1759–1838) entworfene „Konstitution für das Königreich Baiern“. Auch hier wurden alte Privilegien ebenso wie die Leibeigenschaft abgeschafft, die Sicherheit der Person und des Eigentums garantiert, Meinungs- und Pressefreiheit verankert. Niedergelegt war zudem insbesondere die Gleichheit vor dem Gesetz und der Besteuerung.44 In den nächsten Jahren folgten Sachsen-Weimar (1809), das Großherzogtum Frankfurt (1810) und das Herzogtum Anhalt-Köthen (1810) dem westfälischen Beispiel einer französisch inspirierten Musterverfassung und schufen selbst Verfassungen, die dem französischen Vorbild angelehnt waren und damit die aufgeführten Gleichheitselemente enthielten. Hinsichtlich der Verankerungen des Gleichheitsgedankens ist dabei hervorzuheben, dass diese nicht selten durch Ausnahmevorbehalte zugunsten des Adels relativiert wurden, auf die im Anschluss noch näher einzugehen ist. Den aufgeführten, zwischen 1807 und 1810 entstandenen Verfassungen war jedenfalls gemeinsam, dass sie alle in erheblichem Maße unter napoleonischem Einfluss entstanden und ihrem Inhalt nach ganz überwiegend von französischen Vorbildern geprägt waren. Als die französische Vormachtstellung dann im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ihr Ende fand, verloren auch die beschriebenen Verfassungen den Hintergrund, vor dem sie ursprünglich erlassen worden waren. Spätestens mit den Befreiungskriegen der Jahre 1813 bis 1815 hatten sie somit ihre Geltungskraft aus rechtlichen 42 Vgl. im Einzelnen Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, S. 77 f. 43 Dann, Das Gleichheitsproblem in Deutschland im Zeitalter der Französischen Revolution, S. 24. 44 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 V 3 a.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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oder tatsächlichen Gründen45 verloren: Auf diese Weise führte die „Befreiung Deutschlands von der napoleonischen Vorherrschaft . . . zugleich zu einer Befreiung der deutschen Fürsten von ihren Verfassungen“46. 3. Gleichheit in den Konstitutionen ab 1818 Von wesentlicher Bedeutung für die historischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens in der deutschen Verfassungsgeschichte sind die Vormärzkonstitutionen ab 1818, so insbesondere die Verfassungen der Staaten Bayern (1818), Baden (1818) und Württemberg (1819). Diese sind im Zusammenhang zu sehen mit der Deutschen Bundesakte von 1815, die in 20 Artikeln Grundzüge der Organisation des aus souveränen Einzelstaaten bestehenden Deutschen Bundes festlegte und deren Art. 13 bestimmte: „In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung stattfinden“, was in der Wiener Schlußakte von 1820 bekräftigt und näher ausgeführt wurde.47 Somit waren aufgrund der offenen Formulierung inhaltliche Vorgaben des Deutschen Bundes zugunsten der Souveränität der Einzelstaaten weitestgehend zurückgestellt worden, wenn man von dem Begriff „landständisch“ absieht, dessen inhaltliche Bedeutung äußerst umstritten48 war. Nach der dreitägigen Juli-Revolution in Frankreich von 1830, die das absolute Regime der Bourbonen endgültig beseitigte und es durch eine konstitutionelle Monarchie unter dem „Bürgerkönig“ Louis Philippe ersetzte, kam es auch in Sachsen, Kurhessen, Hannover49 und Braunschweig zu Unruhen mit der Folge, dass auch dort Verfassungen nach dem süddeutschen Vorbild eingeführt wurden.50 1840 hatten schließlich in Deutschland lediglich Preußen, Österreich, Mecklenburg und die Hansestädte noch keine Verfassung und damit die Vorgabe des Art. 13 der Deutschen Bundesakte nicht erfüllt. 45
Rechtliche Gründe waren insbesondere formelle Rücknahmen der Verfassung, so z. B. in Anhalt-Köthen; in tatsächlicher Hinsicht verloren etwa die Verfassungen von Westfalen und Frankfurt mit dem Untergang der napoleonischen Staatsgebilde ihre Geltung. 46 Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, S. 62. 47 Vgl. Art. 54 ff. der Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820, abgedruckt in Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 127 ff. 48 Vgl. hierzu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, S. 641 ff. 49 In Hannover galt seit 1833 zunächst die von König Wilhelm IV. in Kraft gesetzte Verfassung. Sein Nachfolger Ernst August erklärte diese Verfassung 1837 für von Anfang an ungültig. Im Jahre 1840 trat eine neue Verfassung in Kraft. Dazwischen liegen der Hannoversche Verfassungskonflikt und der Protest der „Göttinger Sieben“. Vgl. dazu Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, S. 232; außerdem die Kontroverse zwischen Dilcher, JuS 1977, 524 ff. und Link, JuS 1979, 191 ff. 50 Vgl. Zippelius, Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, S. 104.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Festzustellen ist zunächst, dass die meisten der Verfassungen Gleichheitsgedanken aufnehmen und in unterschiedlichen Zusammenhängen akzentuieren. So findet sich häufig die Garantie der „Gleichheit vor dem Gesetz“51, die Festschreibung „gleicher staatsbürgerlicher Rechte“52, in der Präambel der Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern sogar der Hinweis auf die „Gleichheit der Gesetze und vor dem Gesetze“. Verbreitet sind ebenfalls Bestimmungen, die auf die Bauernbefreiung abzielen und das System der Leibeigenschaft für aufgehoben erklären53 oder die Herstellung eines gleichmäßigen Lastensystems zum Inhalt haben.54 Darüber hinaus enthalten die meisten der nach 1818 in Kraft getretenen Verfassungen einen Katalog von Untertanenrechten, in dessen Rahmen wiederum durch einheitliche Zubilligung bestimmter Rechte eine Gleichheit zwischen den Untertanen hergestellt wird: Das gilt etwa für die Garantien der Berufsfreiheit55, der Religionsfreiheit56, der Meinungsfreiheit57, der persönlichen Freiheit58 oder des Eigentums59. Auffallend ist jedoch, dass in den deutschen Vormärzkonstitutionen keine Rechtsgrundsätze enthalten sind, die die natürliche Gleichheit des Menschen betreffen.60 Insofern unterscheiden sich die Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus deutlich von den prägenden Formulie51
So z. B. im Ghztm. Hessen, Art. 18: Alle Hessen sind vor dem Gesetz gleich. Vgl. etwa Baden, § 7: Die staatsbürgerlichen Rechte der Badener sind gleich in jeder Hinsicht; Württemberg, § 21. 53 Bayern, Tit. IV, §§ 6 f.; Baden, § 11; Württemberg, § 25: Die Leibeigenschaft bleibt für immer aufgehoben. 54 Bayern, Tit. IV, § 13; Baden, § 8; Württemberg, § 21; Sachsen, §§ 39, 40; Kurhessen, § 26: Alle Einwohner sind . . . vor den Gesetzen einander gleich und zu gleichen staatsbürgerlichen Verbindlichkeiten verpflichtet. 55 Württemberg, § 29; Braunschweig, § 34; Sachsen-Coburg, § 24; Kurhessen, § 27: Einem Jeden ohne Unterschied stehet die Wahl des Berufes und die Erlernung eines Gewerbes frei. 56 Württemberg, §§ 24, 27; Ghztm. Hessen, Art. 22; Sachsen, § 32: Jedem Landeseinwohner wird völlige Gewissensfreiheit und in der bisherigen oder der künftig gesetzlich festzusetzenden Maße Schutz in der Gottesverehrung seines Glaubens gewährt. 57 Bayern, Präambel; Württemberg, § 24; Kurhessen, § 39: Niemand kann wegen der freien Äußerung bloßer Meinungen zur Verantwortung gezogen werden, den Fall eines Vergehens oder einer Rechtsverletzung ausgenommen. 58 Bayern, Tit. IV, § 8; Württemberg, § 24; Ghztm. Hessen, Art. 23; Kurhessen, § 31; Baden, § 13: Eigenthum und persönliche Freyheit der Badener stehen für alle auf gleicher Weise unter dem Schutze der Verfassung. 59 Baden, § 13; Württemberg, § 24; Sachsen-Coburg, § 15; Bayern, Tit. IV, § 8: Der Staat gewährt jedem Einwohner Sicherheit seiner Person, seines Eigenthums und seiner Rechte. 60 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 V 3 b; Kleinheyer, Aspekte der Gleichheit in den Aufklärungskodifikationen und den Konstitutionen des Vormärz, S. 19. 52
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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rungen der großen amerikanischen („by nature equally free“61) und französischen („égaux par la nature“62) Verfassungstexte. Als Ursache für diese bewusste Abstandnahme von natur- oder menschenrechtlichen Anklängen wird verbreitet der nichtrevolutionäre Charakter der deutschen Verfassungen angeführt.63 Diese sollten zwar „Untertanenrechte“ bzw. „Staatsbürgerrechte“ gewähren, nicht aber angeborene (d.h. natürliche, vorkonstitutionelle) Rechte des Menschen erklären. Von daher erklärt sich der Verzicht auf die Normierung eines allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatzes: Im Vordergrund stand die Verleihung staatsbürgerlicher Rechte des königlichen Souveräns an seine Untertanen64; natur- oder vernunftrechtlich fundierte Gleichheitspostulate hätten dagegen aus Sicht des spätabsolutistischen Verwaltungsstaats erneut Befürchtungen im Hinblick auf deren revolutionären Hintergrund in der Französischen Revolution hervorgerufen. Eine weitere Einschränkung der zuvor dargestellten Gleichheitsaspekte in den frühkonstitutionalistischen Verfassungen ergibt sich aus den vielfältig anzutreffenden Relativierungen, mit denen Gleichheitsbestimmungen unter einen Ausnahmevorbehalt gestellt werden. So lautete etwa § 21 der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg: „Alle Württemberger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte, und ebenso sind sie zu gleichen staatsbürgerlichen Pflichten und gleicher Theilnahme an den Staatslasten verbunden, soweit nicht die Verfassung eine ausdrückliche Ausnahme enthält.“ § 26 der Verfassungsurkunde für das Kurfürstentum Hessen erklärte: „Alle Einwohner sind in so weit vor den Gesetzen einander gleich und zu gleichen staatsbürgerlichen Verbindlichkeiten verpflichtet, als nicht gegenwärtige Verfassung oder sonst die Gesetze eine Ausnahme begründen.“ Diese verbreitete Form der Ausnahmeklauseln verlieh die Möglichkeit, ständische Privilegien insbesondere des Adels, aber auch des besitzenden Bürger- und Bauerntums aufrechtzuerhalten, was in durchaus beträchtlichem Umfang genutzt wurde.65 Resultat des so gekennzeichneten Bemühens um Wahrung ständischer Differenzierungen trotz zunehmender Verbreitung des Gleichheitsgedankens waren vielfach Verfassungsurkunden, die Ungleichheiten des Standes ausdrücklich festschrieben. Exemplarisch hierfür steht etwa die Verfassung des Großherzogtums Hessen. Dort folgte auf Artikel 18 („Alle 61
Zur Virginia Bill of Rights vgl. unten, Zweiter Teil, 1. Kapitel, B. II. Zur Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 siehe Zweiter Teil, 1. Kapitel, A. I. 63 Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 397. 64 Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 169. 65 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, S. 352 f.; Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 168. 62
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Hessen sind vor dem Gesetz gleich“) ein Titel zu den besonderen Rechten des Adels mit der Bestimmung: „Die besonderen Rechtsverhältnisse des Adels genießen den Schutz der Verfassung.“ Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang schließlich auch auf die Zusammensetzung der Landstände, die zwar in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgestaltet waren, bei denen jedoch insgesamt betrachtet nach wie vor gravierende ständische Unterschiede bestanden, sodass insbesondere der Adel und das Besitzbürgertum in deutlichem Maße privilegiert wurden.66 Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass Gleichheitsaspekte in die Verfassungen des deutschen Konstitutionalismus Eingang gefunden haben, und zwar einerseits implizit durch die, zumindest dem Grundsatz nach, gleiche Gewährung von Staatsbürgerrechten und Auferlegung von Staatsbürgerpflichten. Andererseits enthalten viele Verfassungen wie gezeigt die explizite Formulierung der „Gleichheit vor dem Gesetz“. Ein allgemeiner, naturoder vernunftrechtlich begründeter Gleichheitsgrundsatz ist durch diese Elemente indes nicht verankert – der Satz, wonach die Menschen frei und gleichberechtigt geboren seien, wird vielmehr durch die formale Gleichheit vor dem Gesetz ersetzt. Mit diesen den Staatsbürgern nur durch den Monarchen zugestandenen, nicht etwa natürlichen Rechten, wird unter Ablehnung der als revolutionär empfundenen Lehren von Volkssouveränität und Menschenrechten die konstitutionelle Monarchie des deutschen Frühkonstitutionalismus begründet. Für die verfassungsgeschichtlichen Wurzeln des Gleichheitsgedankens ist hierbei insbesondere die Aufhebung der Leibeigenschaft von Bedeutung, durch die die nunmehr zumindest formal gleichberechtigten, aus dem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis entlassenen Bürger dem Staat unmittelbar als Rechtsperson gegenübertreten. Weiterhin erfolgt eine Gleichstellung der Bürger im Hinblick auf die Steuerpflicht, den Bereich der Wehrpflicht sowie den Zugang zu öffentlichen Ämtern. Dieser teilweisen Aufhebung ständischer Privilegien stehen in anderen Bereichen weiterhin altständische Vorrechte gegenüber, die aber zunehmend beschränkt werden. Anders als in Frankreich ist die verfassungsgeschichtliche Fortentwicklung der Gleichheitsidee jedoch nicht Resultat von Revolutionen, sondern basiert auf Initiativen des monarchischen Staates. Dessen restriktive Haltung gegenüber grundherrlichen Hoheitsfunktionen verweist dabei zumindest auch auf die „Neigung absoluter Herrscher, sperrige Rechte der Stände abzubauen, um Gleichheit im Gehorsam zu erreichen“67. Ob die in den dargestellten Verfassungen eingeräumten Rechte vor diesem Hintergrund als Grundrechte betrachtet werden können, ist nicht unumstrit66
Vgl. hierzu ausführlich Kleinheyer, Aspekte der Gleichheit in den Aufklärungskodifikationen und den Konstitutionen des Vormärz, S. 20 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I, S. 352. 67 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 217.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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ten.68 Jedenfalls fehlte es an einer effektiven gerichtlichen Durchsetzbarkeit und die vom Monarchen in der Regel oktroyierten69 Verfassungen konnten von ihm, sofern erforderlich, korrigiert werden. Dennoch stellen die in diesen Verfassungen verankerten Gleichheitsrechte einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zur verfassungsrechtlichen Herausbildung der modernen Gleichheitsrechte dar, an den im Rahmen der Revolution von 1848 und der Paulskirchen-Verfassung angeknüpft wurde. Hierauf ist im Folgenden näher einzugehen. IV. Revolution von 1848 und Paulskirchen-Verfassung Nachdem sich das Bürgertum zunehmend liberalen und nationalen Ideen zugewandt hatte, führte die wachsende Unruhe der Vormärzzeit unter dem Eindruck der französischen Februarrevolution mit dem Sturz des Bürgerkönigtums und der Ausrufung der Republik schließlich zur Märzrevolution von 1848. Die sog. Märzforderungen zielen vor allem auf Vereins- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Schwurgerichte, Volksbewaffnung, Verfassungen in den Einzelstaaten und Berufung eines gesamtdeutschen Parlaments sowie insbesondere auf die Durchsetzung der Gleichheit des aktiven Wahlrechts und die Beseitigung der Standesvorrechte. Am 18. Mai konstituiert sich die verfassungsgebende Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, die kurz darauf einen Ausschuss zur Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs wählt. Der prominent besetzte Ausschuss unter dem Vorsitz von Bassermann und Max v. Gagern legt im Juni den Entwurf eines Grundrechtskataloges vor. Die Nationalversammlung beschließt daraufhin am 3. Juli, mit der „Feststellung der allgemeinen Rechte, welche die Gesamtverfassung dem deutschen Volke gewähren sollte“, den Anfang zu machen. Den ab Juli einsetzenden umfangreichen Beratungen über den Grundrechtskatalog wird große öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Im Dezember kommt es schließlich zur Verkündung der Grundrechte, die somit in einem eigenen Gesetz noch vor Vollendung der gesamten Verfassung in Kraft treten. In der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 sind die „Grundrechte des deutschen Volkes“ schließlich in den §§ 130 ff. des Abschnitt VI enthalten. Für die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Gleichheitsgedankens ist § 137 FRV von zentraler Bedeutung. Dieser enthält grundrechtliche 68 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 V 3 b. 69 Anders bei durch Vertrag zwischen Monarch und Landständen entstandenen Verfassungen, so der württembergischen Verfassung vom 25. September 1819; vgl. Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 199 f.
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Gleichheitsverbürgungen, so die Abschaffung aller Standesvorrechte, die Aufhebung des Adelsstands und der Titel70 sowie das Verbot der Annahme ausländischer Orden. Weiterhin wird der Zugang zu öffentlichen Ämtern allen Befähigten gleichermaßen eröffnet und gleiche Wehrpflicht festgeschrieben. Ihren dem Wortlaut nach grundsätzlichsten Ausdruck findet die Gleichheitsidee indes in § 137 Abs. 3 FRV, der besagt: „Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich“. Auffallend ist diesbezüglich die systematische Stellung der mit dem Wortlaut des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG (mit Ausnahme der Umbildung zum Menschenrecht) übereinstimmenden Vorschrift. Als allgemeinste grundrechtliche Formulierung ist sie dem § 137 FRV nicht vorangestellt, sondern befindet sich den Absätzen 1 und 2 nachgeordnet, die sich allein auf die Aufhebung der Ständeunterschiede beziehen. In diesem Zusammenhang ist die Entstehungsgeschichte des Artikels zu berücksichtigen, die den Schluss nahe legt, dass mit der Regelung des Absatzes 3 lediglich die Aufhebung der ständischen Unterschiede durch die ersten beiden Absätze im Hinblick auf die Rechtsprechung bekräftigt werden sollte.71 Danach normiert § 137 Abs. 3 FRV (lediglich) die Rechtsanwendungsgleichheit und ist seinem Anwendungsbereich nach auf die Aufhebung der Geburtsstände beschränkt, ohne allgemeiner Gleichheitssatz im heutigen umfassenden Verständnis zu sein.72 Die Bedeutung der zuvor beschriebenen restriktiven Auslegung des § 137 FRV ist allerdings vor dem Hintergrund der in der Reichsverfassung von 1849 ausdrücklich niedergelegten besonderen Differenzierungsverbote zu relativieren. Die Paulskirchen-Verfassung verfügte über eine beträchtliche Zahl besonderer Gleichheitsgebote, die die praktische Notwendigkeit einer darüber hinausgehenden allgemeinen Gleichheitsregelung einschränkten: Hierzu zählen zunächst die bereits im Rahmen von § 137 FRV angeführten Bereiche der Beseitigung von Ständeunterschieden und der Aufhebung des Adelsstandes, des gleichen Zugangs zu öffentlichen Ämtern und der allgemeinen Wehrpflicht. Es wird Steuergleichheit73 gewährleistet, die – allerdings praktisch schon nicht mehr existierende – Leibeigenschaft74 und Per70
Sofern nicht „mit einem Amte verbunden“, vgl. § 137 IV der Reichsverfas-
sung. 71 Vgl. hierzu ausführlich Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 326 m. w. N. zur Entstehungsgeschichte und den Kontroversen über die Reichweite der Vorschrift. 72 Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 324 ff. Zum herrschenden Verständnis von § 137 Abs. 3 FRV als Regelung der Rechtsanwendungsgleichheit siehe auch Hesse, AöR 109 (1984), 174, 175. 73 § 173 FRV: „Die Besteuerung soll so geordnet werden, daß die Bevorzugung einzelner Stände und Güter in Staat und Gemeinde aufhört.“ 74 § 166 FRV: „Jeder Untertänigkeits- und Hörigkeitsverband hört für immer auf.“
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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sonallasten sowie die Patrimonialgerichtsbarkeit75 aufgehoben. Weiterhin werden bestimmte dingliche Lasten für ablösbar erklärt76 oder entschädigungslos aufgehoben77, letzteres gilt auch für den Lehensverband78. Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sollen durch das religiöse Bekenntnis weder bedingt noch beschränkt sein79, zudem wird die Gleichheit der Religionsgemeinschaften normiert80. Darüber hinaus soll es keinen privilegierten Gerichtsstand für Personen oder Güter geben81, zudem werden in § 188 FRV82 wesentliche Elemente des Minderheitenschutzes verankert. Die Vielzahl dieser hier nicht abschließend aufgezählten, den Gleichheitsgedanken aufgreifenden Bestimmungen belegt zunächst, welchen hohen Stellenwert das Gleichheitspostulat im Rahmen der deutschen Reichsverfassung von 1849 einnimmt. Angeknüpft wird insbesondere an die bereits im Frühkonstitutionalismus erkennbare Tendenz, ständische Vorrechte zugunsten einer Stärkung des Gleichheitsgedankens zu beschränken. Keine dieser Verfassungen hatte jedoch das Egalitätsprinzip entschieden durchgesetzt: So gab es etwa nach allen süddeutschen Verfassungen weiterhin besondere Vorrechte des Adels, des besitzenden Bürger- und des Bauerntums sowie der drei christlichen Konfessionen. Während es somit, wie zuvor gezeigt, unter anderem durch vielfältige Ausnahmevorbehalte zu keinem umfassenden Abbau von Standesprivilegien gekommen war, verfolgt die Frankfurter Paulskirchenverfassung insgesamt eine weitaus entschiedenere Richtung hin zur grundrechtlichen Effektivierung des Gleichheitsgedankens. Dabei werden die recht allgemein gehaltenen Aussagen der Absätze 1 bis 3 des § 137 FRV zur Abschaffung der Standesvorrechte und des Adelsstandes wie oben ausgeführt durch eine größere Anzahl besonderer Differenzierungsverbote konkretisiert und insofern zu Auffangtatbeständen.83 Zu konstatieren ist jedenfalls, dass die Auseinandersetzung mit den ständisch gestuften Hierarchien der bisherigen Sozialordnung zum Mittelpunkt der verfassungsrecht75
Vgl. § 167 Nr. 1 (Patrimonialgerichtsbarkeit) und Nr. 2 (Personallasten) FRV. So § 168 FRV bzgl. „aller auf Grund und Boden haftenden Abgaben und Leistungen, insbesondere die Zehnten“. 77 So die Jagdgerechtigkeit gem. § 169 Abs. 2 FRV. 78 § 171 FRV: „Aller Lehensverband ist aufzuheben.“ 79 § 146 FRV. 80 § 147 Abs. 2 FRV: „Keine Religionsgesellschaft genießt vor anderen Vorrechte durch den Staat.“ 81 § 176 FRV. 82 Hierin heißt es: „Den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ist ihre volkstümliche Entwicklung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, soweit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterrichte, der inneren Verwaltung und der Rechtspflege“; dazu ausführlich Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 308 ff. 83 Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 287. 76
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lichen Gleichheitsdiskussion wurde und insbesondere die Abschaffung des Adelsstandes erhebliche Widerstände gegen die Verankerung entsprechender Grundrechte zur Folge hatte.84 Dennoch beschränkten sich die grundrechtlichen Gleichheitssätze der Reichsverfassung nicht auf diesen Bereich, wie die weiteren Differenzierungsverbote (etwa hinsichtlich des religiösen Bekenntnisses in § 146 FRV) belegen. Einzugehen ist weiterhin auf eine der wesentlichsten Forderungen der revolutionären Bewegung von 1848, nämlich die Allgemeinheit und Gleichheit des Wahlrechts. Am 31. März war in Frankfurt das sog. Vorparlament zusammengekommen, um die Wahlen zur ersten deutschen Nationalversammlung vorzubereiten. Dabei wurde das Wahlrecht in seinen Grundzügen festgelegt und bestimmt: „Die Wahlberechtigung und Wählbarkeit darf nicht beschränkt werden durch einen Wahlzensus, durch Bevorrechtung einer Religion, durch die Wahl nach bestimmten Ständen. Jeder volljährige, selbständige Staatsangehörige ist wahlberechtigt und wählbar.“85 Die genauere Ausgestaltung des Wahlrechts wurde somit den Einzelstaaten überlassen. Diese konnten frei darüber befinden, ob direkt oder durch Wahlmänner gewählt werden sollte. Vor allem aber blieb es den Einzelstaaten überlassen, das vom Vorparlament nicht näher bestimmte Kriterium der „Selbständigkeit“ seinem Inhalt nach genauer festzulegen. Im Ergebnis führte diese Festlegung zumeist dazu, dass als unselbständig ausschied, wer „Armenunterstützung bekam, keinen eigenen Hausstand unterhielt und der zu Lohn und Kost in einem abhängigen Dienstverhältnis stand . . . . Wurden diese Bestimmungen streng gehandhabt wie in Sachsen, Hannover und Baden, blieben auch das ländliche und städtische Gesinde sowie die im Hause des Meisters wohnenden Handwerksgesellen ausgeschlossen“86. Neben den Unselbständigen waren es weiterhin die Frauen, welche vom Wahlrecht ausgeschlossen blieben, ein Umstand, an dem sich auch in den darauf folgenden Jahrzehnten zunächst nur wenig ändern sollte. Ganz im Sinne dieser auf das Vorparlament zurückgehenden Wahlrechtsregelungen wurde von Seiten der Liberalen in der Frankfurter Nationalversammlung ein Reichswahlrechts-Entwurf vorgelegt, der ebenfalls nur die „Selbständigen“ erfasste und damit einen beträchtlichen Teil der Reichsbürger vom Wahlrecht ausgeschlossen hätte.87 Bürgerliche Bildung und bürgerlicher Besitz wurden dabei als Zeichen erhöhter Gesamtverantwortung betrachtet, die die Diskrepanz im Verhältnis von Reichsbürgern und Wahlbürgern rechtfertigen sollten.88 84
Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band II, S. 778. Zit. nach Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 202. 86 Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, S. 85. 87 Vgl. die Angaben bei Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 410, Fn. 237. 88 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band II, S. 788. 85
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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Um diese Auffassung entbrannte ein heftiger Streit, in dem von Seite der Kritiker wiederholt auf den bereits in der Vormärzzeit verbreiteten Leitspruch „gleiche politische Berechtigung“89 verwiesen und die Einführung allgemeiner, gleicher, geheimer und unmittelbarer Wahlen gefordert wurde, die auch die Massen der Unselbständigen umfassten. Letztlich kam es in der Frage nach dem Inhalt des Wahlgesetzes zu einer Lösung in ihrem Sinne, das heißt zugunsten einer möglichst großen Wahlbürgerschaft, indem auf das Merkmal der Selbständigkeit verzichtet wurde.90 Ausgeschlossen vom Wahlrecht waren nach dem „Gesetz betreffend die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause“ vom 12. April 1849 nur Personen, die unter Vormundschaft standen, die sich im Konkursverfahren befanden oder die Armenunterstützung bezogen.91 Damit wurde ein für diese Zeit hoher Anteil der Reichsbürger zu Wahlbürgern erklärt, was den Widerstand vieler Konservativer und Liberaler begründete. Folge war schließlich zum einen, dass die Wahlrechtsregeln bewusst nicht formell in die Verfassung integriert wurden, um die Möglichkeit späterer Abänderungen zu erleichtern. § 94 Abs. 2 der Paulskirchen-Verfassung enthielt daher lediglich den Verweis, die Wahl habe sich nach den in dem Reichswahlgesetz niedergelegten Vorschriften zu richten. Weiterhin erfolgte keine Bestimmung, die die für die Reichswahlen getroffene Regelung auch auf die Einzelstaaten oder Gemeinden übertragen hätte.92 Zudem erlangte das Reichwahlgesetz infolge des Scheiterns der Revolution zunächst keine praktische Bedeutung. Es wurde jedoch 1866 von Bismarck als Wahlgesetz für den konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes übernommen, bevor 1869 der zuvor dargestellte Inhalt des § 2 Aufnahme in das Wahlgesetz des Norddeutschen Bundes fand. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Frankfurter Nationalversammlung umfangreiche Regelungen von Elementen des Gleichheitsgedankens im „Gesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes“ vom Dezember 1848 sowie in der Reichsverfassung des Jahres 1849 (deren 6. Abschnitt den Grundrechtskatalog mit einigen Ergänzungen enthält) beschlossen hat. Hervorzuheben sind vor allem der Versuch, ständische Privilegien im Allgemeinen sowie den Adelsstand im besonderen abzuschaffen, sowie die grundlegende Erweiterung des Kreises der (Reichs-)Wahlberechtigten im Reichswahlgesetz von 1849. Nachdem jedoch der preußische König Friedrich Wilhelm IV. im April 1849 die auf ihn gefallene Wahl zum Kaiser der Deutschen ausschlägt und im Juni das mittlerweile in Stuttgart 89
Hierzu Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 201 f. Zu dem politischen Kompromiss, der diese Lösung ermöglichte, vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band II, S. 789 f. 91 Vgl. § 2 des Reichswahlgesetzes vom 12. April 1849. 92 Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 411. 90
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
tagende „Rumpfparlament“ mit Militärgewalt auseinandergetrieben wird, ist die Märzrevolution von 1848 endgültig gescheitert. Die Grundrechte werden daraufhin durch Beschluss des Deutschen Bundes 1851 aufgehoben, um eine Berufung auf sie gegenüber der Staatsgewalt eines Landes zu verhindern. Auch das mit dem Gleichheitsgedanken, wie er unter anderem in § 137 FRV zum Ausdruck kommt, einhergehende Bestreben nach Beseitigung der Standesunterschiede schlägt im Wesentlichen fehl: Weder die Dominanz des Hochadels in den Ersten Kammern noch der privilegierte Zugang des Adels zu öffentlichen Ämtern werden nach der Revolution von 1848/49 nachhaltig beeinträchtigt.93 Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Nationalversammlung der Paulskirche durch ihr Wirken die Grundrechtsidee maßgeblich gefördert hat94 und mit ihr zugleich die Gleichheitsidee. Die erste durch eine frei gewählte Nationalversammlung ausgearbeitete deutsche Verfassung stellt mit ihren vielen einzelnen, oben dargestellten besonderen Gleichheitsverbürgungen sowie mit der allgemein gehaltenen (wie ausgeführt: dennoch dem Inhalt nach limitierten und auf Rechtsanwendungsgleichheit begrenzten) Formel der Gleichheit vor dem Gesetz einen wichtigen Abschnitt der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung des Gleichheitsgedankens dar. V. Entwicklung des Gleichheitsgedankens nach 1849 Nach der breiten Diskussion in der Frankfurter Paulskirche über die Grundrechte verlagerte sich die verfassungsrechtliche Gleichheitsproblematik im Anschluss an das Scheitern der Märzrevolution wieder auf die einzelnen monarchisch regierten Staaten, insbesondere auf Preußen. Dort hatte der König am 5. Dezember 1848 zur Besänftigung der Massen eine Verfassung oktroyiert, die sich unter dem Eindruck des Revolutionsjahres fortschrittlich ausnahm.95 Zugleich waren Wahlgesetze für eine Volksvertretung im Rahmen des Zweikammersystems ergangen. Nachdem jedoch die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Zweite Kammer im April 1849 die Paulskirchenverfassung anerkennen wollte, löste der König sie auf und machte von seinem in der preußischen Verfassung enthaltenen Notverordnungsrecht Gebrauch, um im Mai 1849 das Dreiklassenwahlrecht einzuführen. Dieses unterschied sich insofern von altständischen Vorstellungen, als es eine nach der Steuerleistung differenzierte Gewichtung der Stimmen vor93 Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 328, der in diesem Zusammenhang ein „hohes Maß an Nichtverwirklichung“ konstatiert; vgl. zu den Folgen der gescheiterten Revolution auch Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, S. 208 ff. 94 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 V 4 a. 95 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 274.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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sah. Wahlberechtigte Männer wurden nach ihrer Steuerleistung in drei Klassen eingeteilt, von denen jede gleich viele Wahlmänner bestimmen konnte. Wenigen Großgrundbesitzern und Adligen sowie dem gehobenen Bürgertum kam auf diese Weise ebenso großes Gewicht zu wie der Masse der Geringverdienenden. Die zur Revision anstehende Verfassung von 1848 wurde schließlich durch die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 ersetzt, die faktisch bis zum 9. November 1918 in Kraft bleiben sollte. Maßgeblich für die Betrachtung des Gleichheitsgedankens in der preußischen Verfassung von 1850 ist Art. 4. Dieser betonte die Gleichheit aller Preußen vor dem Gesetz (Satz 1), hob die Standesvorrechte auf (Satz 2) und gewährte allen Befähigten den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern (Satz 3). Auch hier stellte sich abermals die Frage, ob mit der „Gleichheit vor dem Gesetz“ nur die Rechtsanwendungsgleichheit gemeint, oder ob hierdurch auch der Gesetzgeber gebunden sein sollte. In der Auslegung dieser Vorschrift setzte sich schließlich die Auffassung durch, derzufolge keine Bindung des Gesetzgebers bestand. In materieller Hinsicht, etwa hinsichtlich der Aufhebung von Standesvorrechten, blieb es weiterhin bei Ausnahmen zugunsten des Adels, so insbesondere bei den Vorschriften, die diesen bei der Vertretung in der Ersten Kammer privilegierten.96 Noch 1911 kam dem Adel ein Anteil von ca. drei Vierteln der Sitze in der Ersten Kammer zu.97 Die preußische Verfassung von 1850 enthielt somit Gleichheitselemente, die durchaus in der Tradition der Vormärzzeit standen, wenngleich sie die Bedeutung der formellen Gleichheit vor dem Gesetz wiederum durch beibehaltene Ausnahmen zugunsten adeliger Vorrechte relativierte. Hingegen standen einer weiteren Verwirklichung des Gleichheitsgedankens insbesondere das Dreiklassenwahlrecht und die damit verbundene Ungleichheit des Wahlsystems gegenüber. Während noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wie gezeigt, naturrechtliche, durch die Aufklärung beeinflusste Vorstellungen von der natürlichen Gleichheit aller Menschen die Verbreitung der Gleichheitsidee gefördert hatten, wichen diese naturrechtlichen Auffassungen im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend rechtspositivistischen Tendenzen.98 Eine Berufung auf vorkonstitutionelle Menschenrechte erfolgte kaum noch, zudem enthielten weder die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 noch die Reichsverfassung von 1871 einen Grundrechtskatalog. Zwar wurden in der Folgezeit viele klassische Freiheitsrechte durch reichsgesetzliche Regelungen verwirklicht: Zu einer 96
Erler, Die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 31. Vgl. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866, S. 216. 98 Vgl. Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 153, der in diesem Zusammenhang auf die Entwicklung von „naturrechtlichen Menschenrechten zum positivistischen formalen Gesetzmäßigkeitsprinzip“ hinweist. 97
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
gesetzlichen Regelung der Gleichheit vor dem Gesetz kam es hierbei jedoch nicht.99 Die Gerichte besaßen somit weder zur Zeit des Deutschen Bundes noch im Rahmen der Reichsverfassung von 1871 die Kompetenz, Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit einem materiell verstandenen Gleichheitssatz zu überprüfen und gegebenenfalls zu verwerfen. Eine gerichtliche Normenkontrolle, die die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte hätte bewirken können, gab es nicht.100 Diejenigen Regelungen, etwa in Art. 4 der revidierten Verfassung für den Preußischen Staat von 1850, die die „Gleichheit vor dem Gesetz“ postulierten, wurden nach damaliger überwiegender Auffassung101 als Gleichheit vor dem Richter und vor der Verwaltung102, das heißt als Gleichheit der Rechtsanwendung verstanden. In der Folgezeit dauerte es schließlich bis zur Weimarer Reichsverfassung von 1919, bevor die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Gleichheitsgedankens weitere wesentliche Impulse erhielt. VI. Gleichheitsgebote in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 Nach der Niederlage des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg und der Revolution von 1918 wurde die erste deutsche Republik durch die Weimarer Reichsverfassung begründet, die Reichspräsident Ebert am 11. August 1919 unterzeichnete. Diese Verfassung, als Kompromiss zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und den bürgerlichen Koalitionspartnern der Deutschen Demokratischen Partei und dem Zentrum entstanden, enthält in ihrem zweiten Hauptteil einen umfangreichen Katalog von „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen“, der in mancherlei Hinsicht an die Tradition der Frankfurter Reichsverfassung von 1848/49 anknüpft103 und in Art. 109 zentrale Aussagen zur Gleichheitsproblematik trifft. Art. 109 WRV enthält zunächst in Absatz 1, Satz 1 den allgemeinen Gleichheitssatz „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich“. Weiterhin werden besondere Gleichheitssätze formuliert, die zum Teil über die be99
Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 32. Vgl. Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 152. 101 Zur Gegenauffassung, vertreten insbesondere durch Rotteck, vgl. Hesse, AöR 109 (1984), 174, 175 m. w. N. 102 Siehe Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, S. 109: „Der Satz ist eine Maxime nicht für den, der das Gesetz gibt, sondern für den, der es handhabt; Gleichheit vor dem Gesetz ist in Wahrheit Gleichheit vor dem Richter und der Verwaltung.“ 103 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 326 f. 100
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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schriebenen konkreten Diskriminierungsverbote des 19. Jahrhunderts hinausgehen: Hierzu zählt insbesondere die Gleichberechtigung der Geschlechter104, die im 19. Jahrhundert von den Anfängen der Frauenrechtsbewegung gefordert wurde, ohne sich jedoch durchsetzen zu können105, sowie die Gleichstellung von unehelichen und ehelichen Kindern106. Art. 109 Abs. 2 WRV hebt die noch bestehenden geburtsständischen Unterschiede auf, Art. 128 WRV garantiert gleiche Zugangsmöglichkeiten zu öffentlichen Ämtern und hebt Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte auf und Art. 134 WRV regelt die Lastengleichheit aller Staatsbürger. Auch in das Wahlrecht wird der Gleichheitsgedanke konsequent integriert, indem Art. 22 Abs. 1 S. 1 WRV bestimmt: „Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.“ Schließlich finden sich in der Weimarer Reichsverfassung bestimmte soziale Gleichheitsrechte107, die jedoch überwiegend als bloße Programmsätze aufgefasst wurden, ohne ihnen unmittelbare rechtliche Wirkung beizulegen.108 Diese große Anzahl an Bestimmungen, die Gleichheitselemente aufweisen, sowie die erwähnte Interpretation einzelner Regeln als rechtlich unverbindliche Programmsätze trug zu dem Problem bei, dass auch Grundrechten, die in der Verfassung als geltendes Recht angelegt waren, oftmals ihre Gültigkeit abgesprochen wurde. Zudem wurde die Bedeutung der Grundrechte dadurch geschwächt, dass ihnen unterschiedliche Wirkungskraft zukommen sollte: „Reichsverfassungskräftige Grundrechte ersten Grades“ sollten nur durch verfassungsändernde Reichsgesetze eingeschränkt, „reichsverfassungskräftige Grundrechte zweiten Grades“ darüber hinaus im Ausnahmezustand außer Kraft gesetzt, „lediglich reichsgesetzkräftige Grundrechte“ schließlich durch einfaches Reichsgesetz beschränkt werden kön104 Vgl. Art. 109 Abs. 1 S. 2 WRV: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ sowie Art. 119 Abs. 1 S. 2 WRV: „[Die Ehe] beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter“, wobei Art. 119 Abs. 1 S. 2 WRV nach herrschender Auffassung jedoch nicht als unmittelbar geltendes Recht betrachtet wurde. 105 Zum Gleichheitspostulat in der deutschen Frauenrechtsbewegung des 19. Jahrhunderts vgl. ausführlich Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 236 ff. 106 Art. 121 WRV: „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“ 107 So z. B. in Art. 146 Abs. 1 S. 3, Abs. 3, Art. 151 Abs. 1, Art. 155 Abs. 1, Art. 162, Art. 163 Abs. 2, Art. 165 Abs. 1 WRV; vgl. Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 16. 108 Vgl. Hesse, AöR 109 (1984), 174, 176; Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, S. 95.
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nen.109 Zu den „reichsverfassungskräftigen Grundrechten ersten Grades“, das heißt den am intensivsten geschützten Grundrechten wurde auch der an die Spitze des Grundrechtskataloges gestellte allgemeine Gleichheitssatz des Art. 109 Abs. 1 WRV gezählt: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.“ Hieran entzündete sich bald eine intensive Auseinandersetzung110, die bis heute fortwirkt und die für die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des allgemeinen Gleichheitssatzes von hervorragender Bedeutung ist. In den ersten Jahren der Weimarer Republik war hinsichtlich der Auslegung von Art. 109 Abs. 1 WRV die traditionelle Auslegung, wie sie im 19. Jahrhundert überwiegend vertreten wurde, vorherrschend gewesen: Danach interpretierte man die „Gleichheit vor dem Gesetz“ als Rechtsanwendungsgleichheit, sodass durch die verfassungsrechtliche Verankerung des allgemeinen Gleichheitssatzes zwar Rechtsprechung und Verwaltung, nicht hingegen der Gesetzgeber gebunden sein sollte.111 Demgegenüber kam Mitte der zwanziger Jahre eine neue Lehre auf, deren Vertreter (insbesondere Heinrich Triepel, Erich Kaufmann und Gerhard Leibholz) den Art. 109 Abs. 1 WRV als auch für den Gesetzgeber bindend betrachteten, so dass mit dem Gleichheitssatz in einem umfassenden Sinne „Rechtsgleichheit“, nicht nur Gleichheit der Rechtsanwendung verbunden wurde.112 Zur Begründung verwies etwa Leibholz rechtsvergleichend auf „die außerdeutsche Literatur und Praxis gerade der Staaten, die durch ihre bundesstaatliche Organisation eine gewisse Verwandtschaft mit der des Deutschen Reiches aufweisen, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika und die Schweizeri109 Dazu Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, S. 517 f.; vgl. Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 154. 110 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band VI, S. 104 f. m. w. N.; Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, S. 184 f.; Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S. 154 f. 111 So etwa Jahrreiß, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Zweiter Band, S. 625 ff. mit kurzem Überblick über den Stand der Diskussion bis 1932 (S. 629 ff.); Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, S. 522 ff. m. w. N. Vgl. auch Mainzer, Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit und Recht, S. 120: „So liegt die Mahnung, die der Gleichheitssatz der gesamten Vollziehung gibt, für den Richter schon in jenem Satze, der die Unabhängigkeit mit der Unterwerfung unter das Gesetz verbindet: Gehorche dem Gesetz, ruft der Gleichheitssatz, auf daß alle Deutschen vor ihrem Gesetze gleich seien!“ 112 Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 35: „Kurzum, Gesetz im Sinne des Art. 109 Abs. 1 RV ist jede Rechtsnorm. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet somit gleiche Bewertung durch das Recht in allen seinen Erscheinungsformen.“; Triepel, Goldbilanzenverordnung und Vorzugsaktien, S. 26; Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 2 ff. (vgl. insbes. S. 6 f.).
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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sche Eidgenossenschaft“.113 So hatte der U.S. Supreme Court schon früh herausgestellt, dass er den Schutz der equal protection-Klausel des 14. Amendment auch auf die inhaltliche Ausgestaltung der Gesetze selbst ausdehnt. Neben diesem rechtsvergleichenden Ansatz wurde zudem konstatiert, dass mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 ein „Bedeutungswandel“114 bei der Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes eingetreten sei, der in der mit der Reichsverfassung verfolgten Absicht begründet liege, den Einzelnen auch gegenüber willkürlichem Handeln des Gesetzgebers zu schützen. Insofern erscheine die „inhaltliche Beschränkung des Gleichheitssatzes auf die Rechtsanwendung, die Justiz und Verwaltung, . . . nicht mehr berechtigt. Vielmehr wendet sich Art. 109 Abs. 1 unmittelbar auch an die Adresse des Gesetzgebers. Diese Annahme kann sich vor allem auf die Entstehungsgeschichte der Grundrechte berufen. In der ausgesprochenen Tendenz geschaffen, das Individuum nicht nur gegen Willkürakte der Verwaltung, sondern auch des Gesetzgebers zu schützen, wird diese Auffassung durch die Existenz einer Reihe von Verfassungsbestimmungen bestätigt, die zweifelsohne aktuelles und zwar auch den Gesetzgeber bindendes Recht enthalten.“115 Im Rahmen dieser neuen Lehre stellte sich nun vorrangig die Frage nach den inhaltlichen Kriterien des an die Gesetzgebung gerichteten Gleichheitsgebotes. Dieses Problem hatte sich zuvor, das heißt nach der traditionellen Auffassung, nicht gestellt. Für diese war die Rechtsanwendungsgleichheit insofern unproblematisch, als Justiz und Verwaltung nur möglichst genau und ohne Ansehen der Person die bestehenden Gesetze zu befolgen hatten, maßgebliches Gleichheitskriterium waren demnach die anzuwendenden Gesetze selbst. Ein ähnlich aussagekräftiges Kriterium schien es dagegen bei der Bindung des Gesetzgebers an den allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz nicht zu geben. Auch die Forderung, Gleiches als gleich, Ungleiches als ungleich zu behandeln116 half hierbei nicht entscheidend weiter.117 Die von Leibholz118 schließlich vertretene, zum Teil auf Triepel119 basierende Lehre führte nun den Begriff der Willkür ein, der als gegensätzlicher Korrelatbegriff von Gerechtigkeit aufgefasst wird und deren radikale, absolute Verneinung bedeute. Dabei betont Leibholz, dass die Gerechtigkeit als 113
Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 36. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 15. 115 Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 34. 116 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band VI, S. 105 m. w. N. 117 Vgl. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 86 ff. 118 Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 72. 119 Triepel, Goldbilanzenverordnung und Vorzugsaktien, S. 26 ff. 114
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Rechtsidee keiner absoluten Werturteile zugänglich, eine genaue Definition mithin unmöglich ist.120 Entscheidend sei vielmehr das (wandelbare) Rechtsbewusstsein der Gemeinschaft.121 Dieses entscheide darüber, ob eine Norm willkürlich, das heißt überhaupt nicht zu rechtfertigen sei: „Wenn sich . . . ein vernünftiger Grund für das in der Norm für maßgeblich erachtete Kriterium überhaupt nicht finden läßt, wenn der von dem Rechtssatz normierte Tatbestand mit der an denselben geknüpften Rechtsfolge schlechthin unvereinbar ist, wenn überhaupt kein innerer Zusammenhang zwischen der getroffenen Bestimmung und zwischen dem durch dieselbe erstrebten Zweck besteht, oder wenn ein solcher zwar besteht, aber in einem völlig unzulänglichen Verhältnis, so kann man diese Norm als willkürlich charakterisieren.“122 Diese später vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffenen und bis heute wesentlichen Überlegungen zum Willkürbegriff waren von großer Bedeutung für die verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Gleichheitsgedankens. Gleichwohl stießen sie im Verlauf der zwanziger Jahre auf den Widerstand derjenigen, die – ausgehend von der traditionellen Lehre – nach wie vor eine richterliche Normenkontrolle ablehnten. Denn die Einführung des Willkürbegriffs als Korrelat zur Gerechtigkeitsidee bedeutete einen Bruch mit der vorherrschenden rechtspositivistischen Ausrichtung der Staatsrechtslehre. Die Kritik richtete sich dementsprechend unter anderem gegen das im Rahmen der neuen Auslegung des Gleichheitssatzes befürchtete Defizit an Rechtssicherheit sowie gegen die Verschiebung der Machtverhältnisse vom demokratischen Gesetzgeber auf den aus dem alten Obrigkeitsstaat übernommenen Justizapparat.123 In diesem Sinne betonte Otto Mainzer im Jahre 1929 gegen die von der neuen Lehre angenommene umfassende Bindungswirkung des Gleichheitssatzes: „Ist Gesetzestreue die Voraussetzung jeder Verselbständigung richterlicher Gewalt, so ist der peinlichste Gehorsam gegen das Volksgesetz die Lebensbedingung einer in den Volksstaat übernommenen, dem monarchischen Staate entstammenden Justiz.“124 Daher widerspreche der Gedanke, dass Art. 109 Abs. 1 eben dieser Justiz die Entscheidung über Ergebnisse der Volksgesetzgebung ermögliche, nicht nur dem „System der Verfassung“, sondern bedeute zugleich den „gegenrevolutionären Versuch, einer in die Demokratie hineinragenden Gruppe mo120
Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 58 f. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 61. 122 Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 76. 123 Vgl. hierzu und zu weiteren Kritikpunkten im Überblick Hesse, AöR 109 (1984), 174, 179 f.; speziell zur Problematik der Gewaltenteilung Thoma, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Zweiter Band, S. 151 f. 124 Mainzer, Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit und Recht, S. 119. 121
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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narchischer Herkunft Anteil an der Souveränität zu erstreiten“125. In der Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde die intensive Diskussion der Staatsrechtslehre über die umfassende Bindungswirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes zunächst zurückhaltend aufgenommen. Ansätze für eine richterliche Gesetzeskontrolle finden sich dabei insbesondere in einer Reichsgerichtsentscheidung vom 28. November 1923126, die Fragen der Aufwertung von Geldforderungen in Zeiten der Inflation betraf. Obwohl gesetzliche Bestimmungen aus dem Jahre 1914 die Gleichheit von Banknoten und Goldmark vorsahen, hatte das Gericht darüber zu befinden, ob angesichts der rapiden Inflation am gesetzlich fixierten Grundsatz „Mark gleich Mark“ zu Lasten der Gläubiger festzuhalten sei. Gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB wurde den Gläubigern im Ergebnis ein Anspruch auf Aufwertung ihrer in Inflationsmark getilgten Forderungen gegen die Schuldner zuerkannt.127 Die Brisanz dieser Entscheidung für das Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung zeigt eine Eingabe, die der Richterverein des Reichsgerichts nur kurze Zeit nach dem Urteil an die Reichsregierung richtete und in der er diese vor einem gesetzlichen Ausschluss der Aufwertung warnte. In der Eingabe vom 8. Januar 1924 heißt es unter anderem: „Niemand wird dem Reichsgericht den Vorwurf machen, daß es vorschnell und unüberlegt die Gleichung Mark gleich Mark aufgegeben habe. Langsam und vorsichtig hat es zunächst auf einzelnen Rechtsgebieten die Notwendigkeit einer Aufwertung anerkannt. Aber immer entschlossener und allgemeiner hat sich die Auffassung durchgesetzt. Von besonderer Bedeutung ist die Entscheidung des 5. Zivilsenats vom 28. November 1923, die im Grundsatz dem Schuldner die Befugnis abspricht, eine in besserem Geld begründete Schuld in entwerteter Papiermark abzutragen und die Löschung der Hypothek zu fordern. . . . Wenn der höchste Gerichtshof des Reiches nach sorgfältiger Erwägung des Für und Wider zu einer solchen Entscheidung gelangt ist, so glaubt er von der Reichsregierung erwarten zu dürfen, daß die von ihm vertretene Auffassung nicht durch einen Machtspruch des Gesetzgebers umgestoßen wird.“128 Bereits zwei Jahre später hatte sich das Reichsgericht mit dem inzwischen ergangenen Aufwertungsgesetz zu befassen. In seinem grundlegenden Urteil vom 4. November 1925129 nahm es für sich die Kompetenz in Anspruch, das Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und gelangte zu dessen Rechtmäßigkeit. Gleichwohl begnügte sich die Rechtsprechung zum grundrechtlichen Gleichheitssatz in der Folgezeit vielfach damit, lediglich eine hypothetische 125 126 127 128 129
Mainzer, Gleichheit vor dem Gesetz, Gerechtigkeit und Recht, S. 119. RGZ 107, 78. RGZ 107, 78, 87 ff. Deutsche Richterzeitung 1924, 7. RGZ 111, 320.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Prüfung von Gesetzen durchzuführen und im Ergebnis festzustellen, dass selbst bei Zugrundelegung der neuen Lehre kein Verstoß gegen Art. 109 Abs. 1 WRV vorliege.130 Eine endgültige Klärung der dargestellten verfassungsrechtlichen Kontroverse über den Umfang der Bindungswirkung des Gleichheitssatzes konnte auf diese Weise bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1933 nicht mehr herbeigeführt werden. VII. Gleichheitsbegriff im Nationalsozialismus In der Zeit des Nationalsozialismus verloren die Grundrechte und mit ihnen der Gleichheitsgedanke gänzlich ihre bis dahin herausgebildete Bedeutung. Wie der Verfasser des zu dieser Zeit bekanntesten Lehrbuches Ernst Rudolf Huber 1939 ausführte, waren die Freiheitsrechte des Individuums gegenüber der Staatsgewalt „mit dem Prinzip des völkischen Reiches nicht vereinbar“131. Eine gemeinschaftsfreie Individualsphäre des einzelnen Bürgers wurde infolgedessen nicht mehr anerkannt. Zudem fand eine Instrumentalisierung des Gleichheitssatzes auf der Grundlage der nationalsozialistischen Rassenlehre statt, wonach die „arischen“ deutschen Staatsangehörigen gegenüber den Nicht-Ariern eine überlegene Rasse darstellten und aus diesem Grunde eine ungleiche Behandlung zu erfolgen habe.132 In der Verfassungslehre von Carl Schmitt, Ulrich Scheuner und anderen nahm nun der Begriff der „Artgleichheit“ eine zentrale Rolle ein. Scheuner erläuterte dessen Gehalt in einem grundlegenden Aufsatz über den „Gleichheitsgedanken in der völkischen Verfassungsordnung“, der 1939 in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft veröffentlicht wurde. Darin heißt es: „Aus der rassischen Substanz der völkischen Gleichheit ergibt sich . . . die grundlegende wesensmäßige Unterscheidung des Artgleichen und des Artfremden.“133 Als Konsequenz hieraus hatten etwa die Juden als „artfremde Elemente“ eine „differenzielle Behandlung“ zu erfahren – gefordert wurde „die Absonderung der artfremden Elemente, insbesondere der Juden, aus dem deutschen Volkskörper und ihre sich . . . über das gesamte Recht, vom Heiratsrecht bis zum Gewerberecht erstreckende differentielle Behandlung“134. Die Annahme einer „blutmäßigen Artgleichheit der deutschen Volksgenos130 So z. B. RGZ 136, 211, 221 („Dieses Gesetz läßt sich auch nicht etwa als ein Ausnahmegesetz auf Grund des Art. 109 Abs. 1 RVerf. beanstanden, selbst wenn man darin eine Anweisung für den Gesetzgeber, nicht etwa nur für die Anwendung des Gesetzes findet.“); 139, 6, 11; weitere Nachweise bei Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1959), S. 202 ff. 131 Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, S. 361. 132 Vgl. Hesse, AöR 109 (1984), 174, 181 f. m. w. N. 133 Scheuner, ZgesStW 1939, 245, 273. 134 Scheuner, ZgesStW 1939, 245, 267.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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sen“ diente somit der Legitimation gezielter Ungleichbehandlungen zugunsten der von den Nationalsozialisten propagierten „Volksgemeinschaft“ und zu Lasten jener „Fremdvölkischen“, die keine vollwertigen Rechtssubjekte darstellten. Eine Gleichheit vor dem Gesetz gab es auf diese Weise nicht mehr, vielmehr wurde der so verstandene Gleichheitsgedanke bewusst aufgegeben.135 Der Gleichheitsbegriff hatte seine zuvor diskutierte Bedeutung als Schranke staatlicher Willkür verloren. VIII. Aufnahme von Gleichheitssätzen in das Grundgesetz Vor dem Hintergrund der dargestellten historischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens in der deutschen Verfassungsgeschichte kam es schließlich 1949 zur Verankerung wichtiger Gleichheitsregelungen im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Dabei wurde zunächst die Formulierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 109 Abs. 1 WRV dahin geändert, dass nun nicht länger lediglich alle Deutschen, sondern alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien (Art. 3 Abs. 1 GG). Neben der Charakterisierung dieses Grundrechts als Menschenrecht wurde zudem eine Entscheidung bezüglich der Bindung des Gesetzgebers im Rahmen der oben beschriebenen Diskussion über den Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes angestrebt. Im Hinblick darauf war im Entwurf des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee in Art. 14 Abs. 2 ausdrücklich die Regelung enthalten: „Der Grundsatz der Gleichheit bindet auch den Gesetzgeber“. Vom Parlamentarischen Rat wurde die Formulierung in der Folgezeit nicht übernommen, da sich bereits aus Art. 1 Abs. 3 GG die Bindung auch des Gesetzgebers an den grundrechtlichen Gleichheitssatz ergab. Die Streitfrage war somit zugunsten der „neuen Lehre“ entschieden. Neben dem allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG wurden zudem weitere besondere Gleichheitssätze in das Grundgesetz aufgenommen, so insbesondere in Art. 3 Abs. 2 und 3, Art. 6 Abs. 5, Art. 33 Abs. 1 und 2 sowie Art. 38 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG. Umstritten war bei der Entstehung des Grundgesetzes vor allem die Frage der Gleichberechtigung von Männern und Frauen.136 Diese war im Entwurf von Herrenchiemsee nicht ausdrücklich genannt worden, in der späteren Auseinandersetzung wurde sie zunächst nur auf die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten bezogen. Nach längeren Kontroversen kam es schließlich zur endgültigen Fassung in Art. 3 Abs. 2 GG: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ 135
Rüping/Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, Rn. 274. Vgl. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948–1949: Die Entstehung des Grundgesetzes, S. 64 ff.; ausführlich Sitter, Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, S. 60 ff. 136
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Im Gegensatz zur nachfolgend behandelten amerikanischen Verfassungsentwicklung hat die verfassungsgeschichtliche Entwicklung in Deutschland damit zur Ausprägung von ausdrücklich im Grundgesetz aufgenommenen besonderen Gleichheitssätzen geführt, die neben den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG treten, während das 14. Amendment mit der in ihm enthaltenen equal protection-Klausel die einzige ausdrückliche Normierung des Gleichheitsgedankens in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika darstellt. Hierauf wird bei der Betrachtung der amerikanischen Verfassungsgeschichte zurückzukommen sein.
B. Amerikanische Verfassungsgeschichte Bei Betrachtung der historischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens in der amerikanischen Verfassungsgeschichte ist zunächst festzuhalten, dass die amerikanischen Menschen- und Bürgerrechtserklärungen des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts in der englischen Menschenrechtstradition der Magna Charta (1215), Petition of Rights (1627), Habeas-Corpus-Act (1679), Declaration of Rights (1688) und Bill of Rights von 1689 stehen.137 Die Erklärung gesonderter „declarations of rights“, wie diese ab 1776 zunächst in den Verfassungen einzelner Staaten, 1791 dann in der Bill of Rights der Vereinigten Staaten entstanden, konnte somit auf eine lange Vorentwicklung in England zurückblicken.138 Neu ist allerdings die Begründung, die sich nicht mehr vorrangig am altenglischen Recht, sondern an philosophischen Grundgedanken orientiert: Ideengeschichtlich sind es vor allem Vorstellungen der Aufklärung sowie insbesondere des Naturrechts, die auf die verfassungsgeschichtlichen Wurzeln des Gleichheitsgedankens von Einfluss waren.139 Zu berücksichtigen ist schließlich, dass die Gleichheitsfrage in den Vereinigten Staaten historisch eng verbunden ist mit der Sklaven- und Rassenproblematik, so dass für ein Verständnis der Verfassungsrechtsprechung des U.S. Supreme Court zu Gleichheitsfragen bis heute die Rassenproblematik in der amerikanischen Geschichte von entscheidendem Gewicht ist.140
137 Vgl. Hägermann, Die Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte in den ersten amerikanischen Staatsverfassungen, S. 71 ff. 138 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 IV 3. 139 Hierzu sogleich unter I. 1. 140 Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 127.
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I. „Declaration of Independence“ von 1776 Die Unabhängigkeitserklärung der 13 britischen Kolonien141 in Nordamerika vom britischen Mutterland erfolgte am 4. Juli 1776, während der Unabhängigkeitskrieg durch Ausbruch der ersten kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Massachusetts und den Briten bereits 1775 seinen Ausgang genommen hatte.142 Nach anfänglichen Niederlagen und Rückzügen konnten die Amerikaner unter der Führung George Washingtons zunehmend Erfolge gegen die britische Kolonialarmee und englandfreundliche Loyalisten im eigenen Land erzielen. In ihrem Kampf gegen die führende Militärmacht der Welt wurden sie dabei ab 1778 auch offiziell von Frankreich unterstützt, das auf Seiten der Kolonien in den Krieg eintrat. Nachdem die Amerikaner unter Mithilfe der französischen Flotte 1781 die britische Hauptarmee in Yorktown einschließen und zur Kapitulation zwingen konnten, erfolgte schließlich 1783 im Frieden von Versailles die Anerkennung der Vereinigten Staaten als „freie, souveräne und unabhängige Staaten“143 durch Großbritannien.144 In der im Wesentlichen auf einem Entwurf Thomas Jeffersons basierenden Unabhängigkeitserklärung von 1776 ist ein Gleichheitspostulat enthalten, demzufolge alle Menschen insofern gleich sind, als sie unveräußerliche („unalienable“) Rechte besitzen, von denen als wichtigste das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück aufgeführt sind: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ 1. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Naturrecht und Aufklärung Die Vorstellungen des Aufklärungszeitalters hatten entscheidenden Einfluss auf zentrale Personen der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung wie Jefferson. Von großer Bedeutung für die Rechts- und Staatslehre der 141
Connecticut, Delaware, Georgia, Maryland, Massachusetts, New Hampshire, New Jersey, New York, North Carolina, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina und Virginia. 142 Zur Unabhängigkeitserklärung vgl. Gerber (Hrsg.), The Declaration of Independence. Origins and Impact; Davies, The History and Evolution of the Constitution of the U.S.A., S. 3 ff. 143 Vgl. Art. 1 des Friedensvertrages mit Großbritannien, der am 3. September 1783 in Versailles unterzeichnet wurde; Abdruck etwa bei Adams/Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 233. 144 Vgl. Davidson/Gienapp/Heyrman/Lytle/Stoff, Nation of Nations. A Narrative History of the American Republic, Vol. I, S. 196 f.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Aufklärung waren dabei Gedanken des Naturrechts. Der Staat wurde zumeist als Ergebnis von Vereinbarungen zum eigenen oder allgemeinen Nutzen verstanden. Ebenso wie viele seiner Zeitgenossen war auch Jefferson maßgeblich von den Ideen Lockes (1632–1704) und Montesquieus (1689–1755) beeinflusst.145 Nach Locke sind die natürlichen Menschenrechte unveräußerlich, hierzu zählen das Leben, die individuelle Freiheit sowie die Existenz des Privateigentums.146 Naturzustand ist demnach ein Zustand der Gleichheit, denn „nichts ist einleuchtender, als daß Geschöpfe von gleicher Gattung und von gleichem Rang . . . ohne Unterordnung und Unterwerfung einander gleichgestellt leben sollen“147. Der Staat wird nach Locke von den Menschen freiwillig durch einen Staatsvertrag gegründet, um den Individuen und ihrem gemeinsamen Wohl zu dienen und ihre angeborenen, natürlichen Rechte zu schützen. Wird die Regierung diesem Auftrag nicht gerecht, beendet dies die Verpflichtung der Regierten, sich der Herrschaft zu unterwerfen. Naturrecht und Vernunft bilden somit die moralphilosophische Grundlage dieser Auffassung, wonach die natürlichen Rechte des Menschen auch nach dem Herrschaftsvertrag und gegen die Staatsgewalt für wirksam gehalten werden.148 Zudem soll die Aufteilung der Staatsgewalt in eine legislative und eine exekutive Gewalt institutionelle Voraussetzung für die Kontrolle des Souveräns sein und damit dem Missbrauch ungezügelter Macht entgegen wirken.149 Montesquieu entwickelt diesen Gedanken Lockes zu einer Dreiteilung der Staatsgewalt in Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung, wobei die jeweiligen Funktionen auf voneinander unabhängige Staatsorgane zu übertragen seien.150 Weiterhin trug Montesquieu erheblich zur Verbreitung der Gedanken Lockes bei, und zwar vor allem mit seinem in viele Sprachen übersetzten Werk „De l’Esprit des lois“ von 1748.151 Insbesondere die Idee der mit unveräußerlichen Rechten ausgestatteten Menschen152, die freiwillig einen Staat gründen, um diese Rechte zu gewährleisten, wurde von einem Großteil der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung auf145
Hierzu Heller, USA – Verfassung und Politik, S. 28 ff. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 200 ff. 147 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 201 f. 148 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 III 2 c. 149 Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 291 ff.; vgl. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Band II, S. 217. 150 Vgl. Montesquieu, Œuvres Complètes, S. 586 ff. (De l’esprit des lois, Livre XI, Chapitre 6). 151 Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Band II, S. 251. 152 Vgl. etwa Montesquieu, Œuvres Complètes, S. 530 ff. (De l’esprit des lois, Livre I). 146
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gegriffen.153 Vor diesem Hintergrund sind sowohl der Inhalt der Unabhängigkeitserklärung selbst als auch der Inhalt der (weiter unten dargestellten) amerikanischen Verfassung zu betrachten. Im Hinblick auf die historischen Wurzeln der Gleichheitsidee in der amerikanischen Verfassungsgeschichte bleibt jedenfalls zunächst festzuhalten, dass Jeffersons Formulierung des Gleichheitspostulats „all men are created equal“ und die Annahme unveräußerlicher Menschenrechte eine Folge dieser naturrechtlichen Sichtweise der Aufklärung und namentlich der Rezeption von Lehren Lockes darstellen.154 Hingegen wird der Einfluss Rousseaus auf die Unabhängigkeitsbewegung und die amerikanischen Verfassungsväter insgesamt erheblich geringer eingeschätzt, weshalb dessen insbesondere kontinentaleuropäisch außerordentlich bedeutsame Auseinandersetzung mit Fragen der Gleichheit und Ungleichheit im Rahmen der deutschen Verfassungsgeschichte behandelt wurde. Die herausragende Bedeutung Lockes für die Verfassungsentwicklung der Vereinigten Staaten hat demgegenüber weithin Bekräftigung erfahren. So weist Steinberger darauf hin, dass zwar „die führenden Geister Amerikas auch mit den politischen Theorien de Vattel’s, Grotius’, Pufendorf’s, Voltaire’s und Montesquieu’s vertraut waren, ganz zu schweigen von der puritanisch-calvinistischen religiösen Tradition. Locke’s Ideen sind auch alles andere als originär; aber sie stellen die wohl typischste und geschlossenste Form politischer Theorie dar, in der sich überliefertes Ideengut mit den Gedanken der Aufklärung verbindet. Ihr Einfluß in Amerika war groß und nachhaltig“155. 2. Realität der Sklavenhaltung und Rassendiskriminierung Ungeachtet der Aufnahme der zuvor beschriebenen Gleichheitsidee in die Unabhängigkeitserklärung von 1776 sah die Wirklichkeit in den nunmehr Vereinigten Staaten anders aus, da die Schwarzen nach wie vor als minderwertige Rasse betrachtet und behandelt wurden und die Sklavenhaltung (insbesondere in den Südstaaten, in denen etwa 90% der ca. 500.000 schwarzen Sklaven lebten) verbreitet blieb.156 Auch Jeffersons Verhalten selbst war hinsichtlich der Sklavenfrage nicht eindeutig. Einerseits besaß er selbst neben ca. 2000 Hektar Land mehr als 100 Sklaven.157 Andererseits hatte er sich in seinem Entwurf der Unabhängigkeitserklärung in scharfer 153 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 IV 3 c; Röder, Das politische System der USA, S. 41. 154 Hierzu Shell, Das politische System der USA, S. 12 ff. 155 Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 62. 156 Sechting, Affirmative Action und Frauenförderung, S. 17; vgl. auch Shell, Das politische System der USA, S. 11. 157 Vgl. Heideking, Geschichte der USA, S. 41.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Form gegen den von der englischen Krone betriebenen Sklavenhandel ausgesprochen158, war damit jedoch im Kontinentalkongress gescheitert, sodass der entsprechende Absatz nach erregten Debatten gestrichen wurde.159 Somit standen der aus den Gedanken der Aufklärung stammenden Formulierung von unveräußerlichen Menschenrechten in der Realität weiterhin die rassische Diskriminierung von Schwarzen und die Aufrechterhaltung der Sklavenhaltung und des Sklavenhandels gegenüber. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Unabhängigkeitserklärung vorrangig ein politisches und nicht ein juristisches Dokument darstellte160, das den schwarzen Sklaven keine unmittelbare Möglichkeit gab, ihre „unveräußerlichen Rechte“ einzuklagen. Vielmehr wurden sie nach wie vor als eine „Mischung von Person und Eigentum betrachtet“161 und entsprechend behandelt. II. „Articles of Confederation“ und Verfassungen der Einzelstaaten 1776–1780, insbesondere Virginia Bill of Rights (1776) Noch während des Unabhängigkeitskrieges hatten die Staaten die „Articles of Confederation“ (Konföderationsartikel) vereinbart, und zwar durch Beschluss des Kontinentalkongresses von 1777. Durch Beharren einzelner Staaten auf bestimmten Verhandlungspositionen erfolgte indes die Ratifizierung erst im letzten Kriegsjahr, am 1. März 1781. In Art. 3 dieser Konföderationsartikel hieß es: „Die benannten Staaten treten hierdurch miteinander in einen festen Freundschaftsbund, für gemeinsame Verteidigung, Sicherheit ihrer Freiheiten und wechselseitige wie allgemeine Wohlfahrt . . .“.162 Das Abkommen schuf allerdings nur eine lockere föderalistische Struktur und beinhaltete hauptsächlich die Bildung eines fester zusammengeschlossenen 158 „[Der König von Großbritannien] hat einen grausamen Krieg gegen die menschliche Natur selbst geführt, indem er die heiligsten Rechte des Lebens und der Freiheit in den Angehörigen eines fernen Volkes verletzt hat . . . indem er sie gefangennahm und als Sklaven . . . verschleppte. [Er ist] entschlossen, einen Markt einzurichten, wo Menschen gekauft und verkauft werden sollen. Er hat sein Einspruchsrecht preisgegeben durch Unterdrückung jeglichen gesetzgeberischen Versuchs, solchen schändlichen Handel zu verhindern oder einzuschränken.“ Zit. nach Adams/Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 218 f. 159 Vgl. Adams/Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 218 f.; Röder, Das politische System der USA, S. 42 f. 160 Heller, USA – Verfassung und Politik, S. 50, weist darauf hin, dass der Kongress am gleichen Tag, an dem er einem Ausschuss die Aufgabe der Vorbereitung der Unabhängigkeitserklärung übertrug (dem 11. Juni 1776) einen anderen Ausschuss beauftragte, für den neuen Staatenbund eine Verfassung vorzubereiten. 161 So Shell, Das politische System der USA, S. 29. 162 Abdruck der Konföderationsartikel in Adams/Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 272 ff.
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Kongresses von Gesandten der Staaten163, während sich zur Gleichheitsfrage keine Aussagen finden lassen. Anders sah es hingegen in den Verfassungen mehrerer Einzelstaaten aus. In elf der dreizehn neuen Staaten wurden zwischen 1776 und 1780 auf Empfehlung des Kontinentalkongresses republikanische Verfassungen eingeführt. Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung und vor dem Hintergrund der Ablösung vom britischen Mutterland mussten dabei die im englischen common law begründeten Rechte durch die Formulierung eigener Rechte ersetzt werden. So enthielten die meisten Verfassungen eine Erklärung von Grundrechten. Die bedeutendste Erklärung dieser Art ist die Grundrechteerklärung Virginias, die Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776. Hierin heißt es unter anderem: „Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte, welche sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen; nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen“.164 Weiterhin enthalten die insgesamt 16 Abschnitte der Erklärung unter anderem die Freiheit der Wahlen zur gesetzgebenden Versammlung, den Anspruch auf ein rechtsstaatlich geordnetes Strafverfahren, das Verbot von Folter und grausamen Strafen, sowie die Pressefreiheit und Religionsfreiheit. Mit diesen Verbürgungen von Grundrechten wurde die Virginia Bill of Rights wegweisend für die weitere Verfassungsentwicklung nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch in vielen Ländern Europas, insbesondere in Frankreich.165 Nachdem in den Jahren 1776 bis 1780 die meisten amerikanischen Staaten Verfassungen eingeführt166 und oftmals separate Grundrechtskataloge beschlossen hatten, folgte als vorläufig letzter Staat 1780 Massachusetts, in dem John Adams die Grundrechte erstmals als eigenständigen ersten Teil in die Verfassung integrierte.167 Damit waren nun in mehreren Verfassungen Erklärungen enthalten, die denen der Virginia Bill of Rights oder auch der 163 Parker, Verfassungsrecht und allgemeines Verwaltungsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika, S. 3. 164 Abschnitt 1 der Virginia Bill of Rights; im Originaltext abgedruckt in Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, S. 6 ff. 165 Zur Auseinandersetzung über die genauere Gewichtung der Bedeutung der Erklärung für die weitere Verfassungsentwicklung vgl. insbesondere den Streit zwischen Jellinek und Boutmy, dargestellt in Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 59 IV 2 b. 166 Mit Ausnahme von Connecticut und Rhode Island, die sich erst 1819 bzw. 1842 eine eigene Verfassung gaben. 167 Vgl. Heideking, Geschichte der USA, S. 46.
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Verfassung von Massachusetts ähnelten, wo es hieß: „Alle Menschen sind frei und gleich geboren und haben gewisse natürliche, grundlegende und unveräußerliche Rechte“.168 Die Gleichheit erstreckte sich indes nicht auf das Wahlrecht, und zwar weder auf das aktive, noch das passive Wahlrecht. Vielmehr wurde die Gewährung des Wahlrechts in der Regel von Eigentumsnachweisen abhängig gemacht, die von Staat zu Staat unterschiedlich waren.169 Frauen wurde kein Stimmrecht gewährt, ebenso wenig den Sklaven. Zwar wurde über eine Lockerung der Beschränkungen des Wahlrechts diskutiert, vorherrschend war jedoch zunächst die Auffassung, wie sie John Adams, der zweite Präsident der Vereinigten Staaten zum Ausdruck brachte: „Man würde neue Forderungen erheben: Die Frauen werden das Stimmrecht verlangen; Burschen zwischen zwölf und einundzwanzig werden glauben, man kümmere sich nicht ernsthaft genug um ihre Rechte; und jeder, der nicht einmal einen roten Heller hat, wird verlangen, bei allen Handlungen des Staates ebenso mitzusprechen wie die anderen“.170 Auch in der Sklavenfrage hatte das nunmehr in einigen Verfassungen sowie der Unabhängigkeitserklärung verankerte Gleichheitspostulat zu neuen Diskussionen geführt. Der eklatante Widerspruch zwischen Gleichheitsidee einerseits und Realität der Sklavenhaltung andererseits rückte zunehmend in das öffentliche Bewusstsein. In einigen Staaten wurde die Sklaverei in der Folgezeit per Verfassung, durch Gesetz oder aufgrund von Gerichtsurteilen aufgehoben; so in Massachusetts, wo sich das Oberste Gericht 1783 in den Quock Walker Cases ausdrücklich auf den Verfassungstext „all men are created equal“ berief. Dabei wies Chief Justice Cushing nachdrücklich darauf hin, dass die Grundgedanken der neuen Verfassung mit der Sklaverei unvereinbar seien: „a different idea has taken place with the people of America, more favorable to the natural rights of mankind, and to that natural, innate desire of Liberty, which with Heaven (without regard to color, complexion, or shape of nose-features) has inspired all the human race. And upon this ground our Constitution . . . sets out with declaring that all men are born free and equal – and that every subject is entitled to liberty, and to have it guarded by the laws, as well as life and property – and in short is totally repugnant to the idea of being born slaves.“ Das Erstarken abolitionistischer Strömungen führte zu einer Reihe weiterer Staaten, die auf das Ende der Sklaverei hinwirkten. Vermont hob die Sklaverei mit der Verfassung von 1777 auf. Andere Staaten wie Pennsyl168
Vgl. Davis, Freiheit, Gleichheit, Befreiung, S. 21. Röder, Das politische System der USA, S. 45 ff. m. w. N.; eine Übersicht geben Adams/Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 284 ff. 170 Zit. nach Davis, Freiheit, Gleichheit, Befreiung, S. 29. 169
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vania, Connecticut, New York, New Jersey und Rhode Island erließen Gesetze, die auf eine „gradual emancipation“171, das heißt eine schrittweise Sklavenbefreiung gerichtet waren. Darin wurde vielfach festgelegt, dass alle nach einem bestimmten Datum geborenen Kinder von Sklaven ihre Freiheit erhielten, wenn sie ihren „Besitzern“ noch bis zur Volljährigkeit unentgeltlich dienten.172 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass neben dem Gleichheitsgedanken auch weitaus pragmatischere Gründe für die Tendenzen zur Abschaffung der Sklaverei in den Nord- und Mittelstaaten ursächlich waren. So wurde zum einen der Boden anders, das heißt weniger arbeitsintensiv kultiviert als im Süden. Zum anderen bewarben sich für die in den Städten entstehenden Arbeitsplätze immer weitere Einwanderer, die fast alle in den nördlich gelegenen Häfen Amerikas eintrafen.173 Gänzlich anders sah die Situation dagegen in denjenigen Staaten aus, die am meisten von der Sklavenhaltung profitierten und in denen der weitaus größte Teil der (zumeist schwarzen) Sklaven lebte – den Südstaaten. Insbesondere die dortige Plantagenwirtschaft war auf reichliche Arbeitskraft angewiesen und setzte dazu vorrangig Sklaven ein. Erheblich verstärkt wurde der hohe Bedarf an Sklavenarbeit in den Folgejahren zudem durch eine bedeutende Erfindung Whitneys, die „Cotton Gin“. Mit dieser Baumwollentkörnungsmaschine, durch die Baumwollsamen aus den Faserkapseln entfernt werden konnten, wurde die Herstellung von Baumwolle revolutioniert. Angesichts rasanter Entwicklungen in der englischen Textilindustrie und dem damit verbundenen hohen Rohstoffbedarf versprach der Baumwollanbau auf großen Plantagen nunmehr besonders hohe Gewinne und sorgte so für eine beträchtliche Ausdehnung der Sklaverei in den Südstaaten. Dem stand die beschriebene Entwicklung in den nördlichen Staaten entgegen, in denen der Sklaverei nur geringe wirtschaftliche Bedeutung zukam und in denen sie in zunehmendem Maße beschränkt wurde. Vor diesem Hintergrund verschärften sich die Spannungen zwischen Nord- und Mittelstaaten und den Vertretern der Südstaaten, was in den Auseinandersetzungen im Verfassungskonvent von Philadelphia 1787 seinen Ausdruck fand. III. Der Verfassungskonvent von Philadelphia 1787 Während des Sommers 1787 tagte in Philadelphia unter dem Vorsitz George Washingtons der Verfassungskonvent174, um die Articles of Confe171
Cardall/Smith, Afro-Americans and the Constitution of the U.S.A., S. 9. Heideking, Geschichte der USA, S. 48. 173 Vgl. Heller, USA – Verfassung und Politik, S. 26 f. 174 Zum Verfassungskonvent vgl. Vile, Politics in the USA, S. 2 f.; ausführlich Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl, S. 105 ff. 172
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deration von 1781 zu überprüfen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Vereinigten Staaten eher einem Staatenbund ähnlich als einem Bundesstaat175 und die schwache Stellung der Zentralregierung hatte zu verschiedenen ungelösten Problemen zwischen den Einzelstaaten geführt.176 Zwar waren die Delegierten des Konvents nur dazu beauftragt worden, Änderungen der Konföderationsartikel vorzuschlagen. Dennoch begannen sie im Verlauf der Beratungen recht bald damit, den Entwurf einer neuen Verfassung zu erörtern. Hierbei waren unterschiedlichste Positionen miteinander in Einklang zu bringen und die Kompromissfindung gestaltete sich äußert schwierig. Die sich selbst als „Federalists“177 bezeichnenden Befürworter einer starken Zentralregierung sprachen sich dabei für eine Bundesverfassung der Vereinigten Staaten aus, die deutlich einschneidendere Befugnisse der Zentralregierung festschreiben sollte, als dies bislang der Fall gewesen war. Hingegen stand eine andere, in ihren Meinungen im Einzelnen stark divergierende Gruppe von „Anti-Federalists“ der geforderten wesentlichen Stärkung der Zentralgewalt überwiegend ablehnend gegenüber und betonte insbesondere die Gefahren, die eine solche Bundesverfassung für die Rechte des Einzelnen sowie die Rechte der Einzelstaaten heraufbeschwören würde. In dieser Situation kam vor allem Benjamin Franklin und James Madison wiederholt eine wesentliche Vermittlerfunktion zu. Hauptstreitpunkte waren zum einen das Verhältnis zwischen den Einzelstaaten und der Zentralregierung, die Machtverteilung innerhalb der Zentralregierung, die Repräsentation der großen und kleinen Staaten im zukünftigen Parlament sowie nicht zuletzt die hier interessierende Frage, wie in der Sklavenproblematik verfahren werden sollte. Die gegensätzlichen Auffassungen von Nordstaaten und Südstaaten hinsichtlich der Sklaverei waren zunächst dadurch gekennzeichnet, dass im Konvent eine Mehrheit der Delegierten der Sklavenhaltung tendenziell kritisch gegenüber stand178, da sie der Vorstellung des „all men are created equal“ widersprach. Demgegenüber waren es vor allem die Delegierten aus South Carolina und Georgia, die sich mit Vehemenz für die Beibehaltung 175
Quint, JZ 1986, 619. Vgl. hierzu Heller, USA – Verfassung und Politik, S. 24 ff. 177 Zu den Begrifflichkeiten vgl. die Nachweise bei Adams/Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 351 ff., die belegen, dass es den Befürwortern einer stärkeren Zentralgewalt gelang, die Bezeichnung Federalists (Föderalisten) für sich zu reklamieren und die Gegner mit der Negativbezeichnung Anti-Federalists zu belegen. 178 Madison zählte 8 der 13 Staaten im Jahre 1787 zu „Nicht-Sklavenstaaten“ oder zumindest „potentiellen Nicht-Sklavenstaaten“, vgl. Cardall/Smith, Afro-Americans and the Constitution of the U.S.A., S. 10. 176
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der Sklaverei einsetzten. Die im Einzelnen recht komplizierte, weil auf unterschiedlichen (insbesondere sowohl moralischen als auch ökonomischen) Ebenen geführte Auseinandersetzung hatte letztlich zwei zentrale praktische Anknüpfungspunkte, die zwischen den Parteien nachhaltig umstritten waren.179 Zum einen ging es um die Frage der Verteilung von Steuerlasten auf die einzelnen Staaten, zum anderen um die Berechnung der Abgeordnetenzahl eines Staates. Umstritten war jeweils die Einordnung der Sklaven, deren Zahl 1790 bei etwa 700.000 lag und damit angesichts einer Gesamtbevölkerung von ca. 4 Millionen Menschen einen bedeutenden Anteil der Südstaaten-Bevölkerung darstellte. Problematisch schien aus Sicht der Südstaaten vor allem die Tatsache, dass sie infolge ihrer geringeren weißen Bevölkerungszahl befürchten mussten, im Kongress einer Mehrheit der nördlichen Staaten gegenüber zu stehen. Sie forderten daher, die Sklaven bei der Berechnung der Abgeordnetenzahl eines Staates mitzuzählen. Dies stieß bei großen Teilen der Delegierten der Nordstaaten auf Ablehnung: Einerseits wurden die versklavten Schwarzen in den Südstaaten als politisch willenloser Besitz behandelt, andererseits sollten sie ausgerechnet bei der Bestimmung der Zahl der Abgeordnetensitze als vertretungsberechtigte Menschen mitgezählt werden und damit die Macht ihrer Unterdrücker im Kongress sogar noch weiter vergrößern.180 Madison fasste die zuvor skizzierte Position der Nordstaaten in den Federalist Papers181 zusammen: „Sklaven werden als Besitz, nicht als Personen betrachtet. Sie sollten daher bei Steuerveranlagungen, die ja auf Besitz beruhen, mit eingeschlossen sein und von einer Repräsentation, die sich nach der Anzahl von Personen richtet, ausgeschlossen sein“. Derselbe Madison war es jedoch, der auch in diesem Punkt als Vermittler auftrat und den Vorschlag einbrachte, für die Repräsentation im Unterhaus die Einwohnerzahl zu ermitteln „indem zur Gesamtzahl der freien Personen . . . drei Fünftel der Gesamtzahl aller übrigen Personen hinzugezählt werden“.182 Gleiches sollte für die Berechnung der direkten Steuern gelten. Nach weiteren schwierigen Verhandlungen wurde dieser Kompromiss von beiden Seiten akzeptiert, da insbesondere die Nordstaaten bereit waren, zugunsten der Einheit der Staaten und im Hinblick auf einen erfolgreichen Abschluss des Verfassungskonvents ihre grundsätzlichen Einwände gegen die Sklaverei zurückzustellen. So blieb es dem Anti-Federalist Brutus vorbehalten, wenige Wochen nach 179 Vgl. Madison, in: Hamilton/Madison/Jay, Federalist Papers, Nr. 54 (S. 333 ff.). 180 Vgl. Adams/Adams, Die Amerikanische Revolution, S. 328 f. 181 Madison, in: Hamilton/Madison/Jay, Federalist Papers, Nr. 54 (S. 334). 182 So die letztlich in die Verfassung übernommene Formulierung, vgl. dort Art. 1, Abschn. 2, Abs. 3.
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Verabschiedung der Verfassung durch den Konvent die wohl eindringlichste Kritik an der gefundenen Regelung zu formulieren. Der Autor, dessen Identität bis heute nicht eindeutig geklärt ist, fragt zur Situation der Sklaven: „If they have no share in government, why is the number of members in the assembly, to be increased on their account? Is it because in some of the states, a considerable part of the property of the inhabitants consists in a number of their fellow men, who are held in bondage, in defiance of every idea of benevolence, justice, and religion, and contrary to all the principles of liberty, which have been publickly avowed in the late glorious revolution? If this be a just ground for representation, the horses in some of the states, and the oxen in others, ought to be represented – for a great share of property in some of them, consists in these animals; and they have as much controul over their own actions, as these poor unhappy creatures“183. Die Sklavenfrage blieb somit auch auf dem Verfassungskonvent in Philadelphia 1787 letztendlich ungelöst.184 Zwar hatte ein Kompromiss zu einer Einigung über den Inhalt der Verfassung geführt. Die prinzipiellen Bedenken der Vertreter der Nordstaaten, wie angesichts der universalistischen Formulierung der Unabhängigkeitserklärung „Alle Menschen sind gleich geschaffen“ und der im Vordringen begriffenen Gleichheitsidee die Zuerkennung eines „drei Fünftel-Menschenstatus“185 zu rechtfertigen sei, waren jedoch hierdurch nicht ausgeräumt. Vielmehr wurde das grundsätzliche Unbehagen gegenüber der Berechtigung von Sklaverei dadurch dokumentiert, dass man es geradezu kunstvoll vermied, das Wort „Sklave“ in der Verfassung zu verwenden.186 Damit endete der Verfassungskonvent weder mit der Abschaffung der Sklaverei noch mit deren endgültiger Festschreibung in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, die grundlegende Frage nach der Gleichheit aller Menschen wurde vielmehr bewusst in die Zukunft verschoben, um den Verfassungsentwurf für Nord- und Südstaaten gleichermaßen akzeptabel zu gestalten. 183 Brutus, Anti-Federalist Papers, III, 15. November 1787, in: Pole (Hrsg.), The American Constitution, For and Against, S. 44. 184 Vgl. Lively, Foreshadows of the Law: Supreme Court Dissents and Constitutional Development, S. 2 ff. 185 Vgl. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 145. 186 Vgl. Art. 1, Abschn. 9, Abs. 1 der Verfassung, wonach der Kongress bis 1808 nicht berechtigt sein sollte, den Sklavenimport zu unterbinden: „Die Einwanderung oder Hereinholung solcher Personen, deren Zulassung einer der derzeit bestehenden Staaten für angebracht hält, darf vom Kongress . . . nicht verboten werden“ sowie die sog. fugitive slave-Klausel in Art. 4, Abschn. 2, Abs. 3, wonach „niemand, der in einem Einzelstaat nach dessen Gesetzen zu Dient oder Arbeit verpflichtet ist und in einen anderen Staat entflieht, . . . dort . . . von dieser Dienst- oder Arbeitspflicht befreit werden [darf]. Er ist vielmehr . . . auszuliefern.“
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IV. Ratifizierung der Verfassung 1788 und der „Bill of Rights“ 1791 Die Verabschiedung der Verfassung durch den Konvent erfolgte nach vier Monate währenden Beratungen am 17. September 1787, wobei vorgesehen war, dass die neue Verfassung in Kraft treten sollte, sobald ihr neun der dreizehn Staaten zugestimmt hatten. Doch insbesondere in den vier großen Staaten Massachusetts, New York, Pennsylvania und Virginia stieß die Verfassung auf erheblichen Widerstand.187 Die Diskussionen entzündeten sich unter anderem daran, dass die verfassungsgebende Versammlung in Philadelphia den Vorschlag George Masons188, einen Grundrechtekatalog zu formulieren, am 12. September 1787 abgelehnt hatte, da man hierdurch den Handlungsspielraum der Bundesregierung zu sehr eingeschränkt sah. Die Gegner der neuen Verfassung – unter ihnen Mason, der seine Unterschrift unter das Dokument verweigerte – befürchteten einen zu starken staatlichen Zentralismus und entwickelten sich zunehmend zu einer machtvollen Oppositionsbewegung.189 In dieser Situation sicherten die Befürworter der neuen Verfassung in vielen Staaten zu, nach deren Ratifizierung Änderungen vorzunehmen, insbesondere einen Grundrechtskatalog festzuschreiben. So versprach Madison, persönlich eine solche Bill of Rights im ersten Kongress als Ergänzung der neuen Verfassung einzubringen. Noch vor Ende des Jahres 1787 kam es zur Ratifikation durch Delaware, Pennsylvania und New Jersey. Den Boden für die Zustimmung weiterer Staaten bereitete vor allem jene Folge von Essays, die Hamilton, Madison und Jay ab Oktober 1787 in New Yorker Zeitungen veröffentlichten und die als „Federalist Papers“ bekannt wurden. So kam es am 21. Juni 1788 zur Annahme der Verfassung durch New Hampshire als neuntem der insgesamt erforderlichen neun Staaten, bevor vier Tage später Virginia sowie im darauf folgenden Monat auch New York mit jeweils knappen Mehrheiten ihre Zustimmung erklärten. Gemäß den Zusagen, die vor der Ratifizierung der Verfassung gemacht worden waren, schloss sich in den Folgemonaten eine breite Diskussion über die Vorschläge zu einer Grundrechteerklärung des Bundes an. Diese Bill of Rights190 umfasste bei der Ratifizierung durch Virginia im Dezem187
Vgl. Heideking, Geschichte der USA, S. 72 ff.; Röder, Das politische System der USA, S. 59. 188 Mason war Verfasser der Virginia Bill of Rights und einer von drei Delegierten des Verfassungskonvents, die den dort verabschiedeten Entwurf nicht unterzeichneten. 189 Vgl. Adams/Adams (Hrsg.), Die Amerikanische Revolution, S. 351 ff. 190 Allgemein zur Bill of Rights von 1791: Friedman, The Supreme Court, S. 23 ff.; Vile, Politics in the USA, S. 7 f.; Currie, The Constitution of the United States, S. 9 ff.
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ber 1791, mit der sie Bestandteil des Verfassungstextes wurde, zehn sog. Zusatzartikel (Amendments).191 Sie verbürgte nunmehr auch für das Bundesrecht die Glaubens-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit (Am. 1), die persönliche Freiheit und das Hausrecht (Am. 4) sowie gewisse rechtsstaatliche Garantien in bürgerlichen Streitigkeiten und Strafverfahren (Am. 5, 6, 7, 8). Der Schwerpunkt lag damit neben rechtsstaatlichen Absicherungen im Hinblick auf Gerichtsverfahren insbesondere auf den Freiheitsrechten gegenüber der durch die neue Verfassung gestärkten Zentralgewalt und trug hierdurch maßgeblich zur politischen Integration der gemäßigten Anti-Federalists bei.192 Hingegen findet sich in den ersten zehn Zusatzartikeln kein Hinweis auf die Gleichheitsidee, wie dies etwa in der Unabhängigkeitserklärung der Fall war. Ihre Verankerung in der Grundrechteerklärung wäre insoweit ebenfalls am Widerstand der Südstaaten gescheitert, da diese eine entsprechende Formulierung nicht mitgetragen und die Ratifizierung der Bill of Rights somit unmöglich gemacht hätten. Die unterbliebene Festschreibung des Gleichheitsgedankens in den Zusatzartikeln von 1791 beruhte demnach im Wesentlichen auf den gleichen Gründen, wie sie oben bereits bei den Auseinandersetzungen im Verfassungskonvent dargestellt worden sind. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass ein grundrechtlicher Gleichheitssatz zunächst nicht zu den verfassungsrechtlich verbürgten Garantien der Vereinigten Staaten gehörte.193 V. Der Gleichheitsgedanke in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung ab 1800 Für die historische Entwicklung des Gleichheitsgedankens in der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika ist weiterhin die Rechtsprechung des 1787 in Art. 3194 der amerikanischen Bundesverfassung verankerten Obersten Bundesgerichtshofes (U.S. Supreme Court) von Bedeutung. Diese ist in ihrer Tragweite insbesondere vor dem Hintergrund des fortdauernden Anstieges der Anzahl der Sklaven in den Südstaaten und des sog. Missouri Compromise von 1820 zu sehen sowie der seit 1830 erheblich zunehmenden gesellschaftlichen Kritik an der Unvereinbarkeit von Gleichheitsidee und Sklaverei. 191
Vgl. Lieberman, The Evolving Constitution, S. 76. Dazu Heideking, Geschichte der USA, S. 75 f. 193 Vgl. Sechting, Affirmative Action und Frauenförderung, S. 18. 194 Ganz im Sinne Montesquieus beziehen sich die drei ersten Artikel der Verfassung von 1787 auf die drei Gewalten der Legislative (Art. 1 – Kongress), der Exekutive (Art. 2 – Präsident) und der Judikative (Art. 3 – Bundesgerichte). 192
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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1. Ausweitung der Sklaverei und „Missouri Compromise“ In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich das Ausmaß der Sklaverei in den Südstaaten erheblich gesteigert. Die in der Verfassung (in Art. 1, Abschn. 9, Abs. 1) niedergelegte Zeitspanne von 20 Jahren (1787– 1807), während der der Kongress den Sklavenhandel nicht verbieten durfte, war insbesondere von den Großgrundbesitzern der Südstaaten dazu genutzt worden, um 250.000 weitere Afrikaner nach Amerika zu holen. Zwar verabschiedete der Kongress 1807 ein Gesetz, das den Sklavenhandel ab dem 1. Juni 1808 verbot.195 Die Bundesregierung sorgte hingegen nicht für eine effektive Umsetzung dieses Verbotes196, so dass legale und illegale Einfuhren von Sklaven dazu beitrugen, deren Zahl im amerikanischen Süden zwischen 1790 und 1820 von 700.000 auf mehr als 1,5 Millionen zu erhöhen; sie stellten damit ca. 40% der Gesamtbevölkerung.197 Welche politische Brisanz in dieser ungebrochenen, sogar steigenden Bedeutung der Sklaverei steckte, wurde 1819 offensichtlich, als die Siedler von Missouri beim Kongress beantragten, als Staat anerkannt zu werden.198 Während das Repräsentantenhaus, in dem die Vertreter der Nordstaaten aufgrund ihrer höheren Bevölkerungszahl die Mehrheit199 bildeten, Missouri zu einer graduellen Emanzipation der etwa 10.000 Sklaven verpflichten wollte, wurde diese Bedingung im Senat, in dem „freie“ und Sklavenstaaten zahlenmäßig ebenbürtig repräsentiert waren, abgelehnt.200 Anlass für die vehement geführte Debatte war die Tatsache, dass seit Verabschiedung der Verfassung der Vereinigten Staaten 1787 vier „freie“ Staaten (Vermont, Ohio, Indiana und Illinois) hinzugekommen waren und fünf „Sklavenstaaten“ (Kentucky, Tennessee, Alabama, Mississippi und Louisiana), so dass sich nunmehr auf beiden Seiten jeweils 11 Staaten gegenüber standen.201 Nach langen Verhandlungen, in die sich auch Jefferson als einer der noch letzten lebenden „Gründerväter“ einschaltete, kam es zu dem Kompromiss, 195 Davis/Graham, The Supreme Court, Race, and Civil Rights, S. 3; Cardall/ Smith, Afro-Americans and the Constitution of the U.S.A., S. 11. 196 Wobei umstritten ist, ob dies in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass sie über keine ausreichend geeigneten Mittel verfügte (so Heideking, Geschichte der USA, S. 100) oder vielmehr darauf, dass es am entsprechenden Willen zur konsequenten Bekämpfung des Sklavenhandels fehlte (in diese Richtung etwa Cardall/ Smith, Afro-Americans and the Constitution of the U.S.A., S. 11). 197 Heideking, Geschichte der USA, S. 100. 198 Ausführlich zum sog. Missouri Compromise: Hyman/Wiecek, Equal Justice under Law: Constitutional Development 1835–1875, S. 161 ff. 199 Nordstaaten: 105 Abgeordnete, Südstaaten: 81 Abgeordnete. 200 Vgl. Cardall/Smith, Afro-Americans and the Constitution of the U.S.A., S. 16. 201 Davidson/Gienapp/Heyrman/Lytle/Stoff, Nation of Nations. A Narrative History of the American Republic, Vol. I, S. 371.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
dass Maine (bislang zu Massachusetts gehörend, nun aber mit dem Antrag auf Anerkennung als eigener Staat) ebenso als sklavenfreier Staat aufgenommen wurde wie Missouri als „Sklavenstaat“. Allerdings wurde festgelegt, dass nördlich einer bestimmten Linie (der sog. Missouri Compromise Line202) in Zukunft die Sklaverei verboten sein sollte. Abermals hatte also (wie bereits im Verfassungskonvent von Philadelphia) die Sorge um den Zusammenhalt der Vereinigten Staaten zu einem Kompromiss geführt, der keine endgültige Entscheidung in der Sklavenfrage brachte und die Frage nach der rechtlichen Stellung der schwarzen Sklaven auf Bundesebene unbeantwortet ließ. Der spätere Präsident John Quincy Adams notierte daraufhin im März 1820 in seinem Tagebuch: „I have favored this Missouri compromise, believing it to be all that could be effected under the present Constitution, and from extreme unwillingness to put the Union at hazard. But perhaps it would have been a wiser as well as a bolder course to have persisted in the restriction upon Missouri, till it should have terminated in a convention of the States to revise and amend the Constitution. . . . If the Union must be dissolved, slavery is precisely the question upon which it ought to break. For the present, however, this contest is laid asleep.“203 Während es also politisch immer schwerer wurde, die unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Sklavenfrage miteinander in Einklang zu bringen, nahm auch die gesellschaftliche Kritik an der Sklaverei und der damit verbundenen Ungleichheit der Menschen seit ungefähr 1830 weiter zu.204 Sowohl von Seiten der Abolitionisten-Bewegung als auch von Seiten der Sklaven selbst wuchs der Widerstand gegen das System der Sklavenhaltung. So setzte sich der aus Massachusetts stammende William Lloyd Garrison, ab Januar 1831 Herausgeber des von ihm begründeten Journals „The Liberator“, mit kämpferischer Ausdrucksweise nachdrücklich für die sofortige (nicht nur schrittweise) und kompensationslose Befreiung der Sklaven ein, wobei er vehement auf das Prinzip der „racial equality“ verwies.205 Bereits in der ersten Ausgabe begründete Garrison seine radikale Rhetorik, die ihn in den Folgejahren zu einem der wortgewaltigsten Anführer der Zum genauen Verlauf dieser Linie auf 36º300 vgl. die graphische Darstellung bei Davidson/Gienapp/Heyrman/Lytle/Stoff, Nation of Nations. A Narrative History of the American Republic, Vol. I, S. 371. 203 John Quincy Adams, in: Adams, Charles Francis (Hrsg.), Memoirs of John Quincy Adams, His Diary from 1795 to 1848, Vol. 5, S. 12. 204 Vgl. hierzu Heideking, Geschichte der USA, S. 127 f. sowie ausführlich Davidson/Gienapp/Heyrman/Lytle/Stoff, Nation of Nations. A Narrative History of the American Republic, Vol. I, S. 435 ff. 205 Davidson/Gienapp/Heyrman/Lytle/Stoff, Nation of Nations. A Narrative History of the American Republic, Vol. I, S. 435 f.; Redenius, The American Ideal of Equality, S. 56. 202
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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Abolitionisten werden ließ: „I am aware, that many object to the severity of my language; but is there not cause for severity? I will be as harsh as truth, and as uncompromising as justice. On this subject, I do not wish to think, or speak, or write, with moderation. . . . I am in earnest – I will not equivocate – I will not excuse – I will not retreat a single inch – and I will be heard.“206 Damit wurde eine neue, von radikaler Kritik gegenüber der Sklaverei geprägte Phase der Auseinandersetzung eingeläutet. Ermutigt durch das Verbot der Sklaverei im britischen Empire 1833 bildeten sich zunehmend Vereinigungen, die für das Ende der Sklavenhaltung eintraten. So kam es 1833 in Philadelphia zur Gründung der „American Anti-Slavery Society“, die fünf Jahre später bereits 1.350 lokale Gesellschaften und 250.000 Mitglieder zählte.207 Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung der Sklavenproblematik gewannen nun – vor dem Hintergrund von Sklavenaufständen und symbolträchtigen Zwischenfällen wie der Nat Turner-Rebellion208 1831 oder den Geschehnissen um das Sklavenschiff Amistad209 im Jahre 1839 – zunehmend auch ehemalige Sklaven, die von der grausamen Institution aus eigener Erfahrung zu berichten wussten und denen die Veranstaltungen der Antisklaverei-Gesellschaften ein geeignetes Forum boten. Maßgebliche Bedeutung erlangten so etwa Sojourner Truth, Harriet Tubman oder Frederick Douglass, ein aus Maryland geflohener ehemaliger Sklave, der sich als Redner und Autor sowie als Herausgeber der Zeitung „The North Star“ leidenschaftlich für die sofortige Abschaffung der Sklaverei einsetzte und dabei auf die umfassende Gleichstellung der Schwarzen drängte. Für größtes Aufsehen sorgte schließlich Harriet Beecher Stowe mit ihrem Werk „Uncle Tom’s Cabin; or, Life Among the Lowly“. Der 1852 erschienene, sich auf eindringliche Weise gegen die Sklaverei wendende Roman wurde allein in den Vereinigten Staaten innerhalb von fünf Jahren 500.000 mal verkauft und vergrößerte noch den Kreis jener Bürger, die der Berechtigung der Sklavenhaltung kritisch gegenüber standen. Die Wirkung des emotional packend geschriebenen, sentimental-religiös geprägten und durchweg an Entrüstung und Mitleid mit den Opfern der Sklaverei appellierenden Werkes war so beträchtlich, dass von Lincoln berichtet wird, dieser sei bei seinem Treffen mit Beecher Stowe zu der überspitzten Formulierung gelangt: „So this is the little lady who made this big war.“ 206 Garrison, To the Public, 1. Januar 1831, in: Cain (Hrsg.), William Lloyd Garrison and the Fight against Slavery, Selections from The Liberator, S. 72. 207 Vgl. Heideking, Geschichte der USA, S. 127. 208 Ausführlich dazu Greenberg (Hrsg.), Nat Turner: A Slave Rebellion in History and Memory. 209 Vgl. Jones, Mutiny on the Amistad. The Saga of a Slave Revolt and its Impact on American Abolition, Law, and Diplomacy.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Vor diesem Hintergrund kam den Entscheidungen des U.S. Supreme Court zur Sklaverei besondere Bedeutung zu. Im konfliktgeladenen Bereich der Gleichheitsfrage stießen sie auf nachhaltig verhärtete Fronten zwischen den Nord- und Südstaaten. Die gravierende Diskrepanz zwischen Tradition der Sklavenhaltung und stetig zunehmender Zahl von Sklaven in den Südstaaten einerseits und der erstarkenden Abolitionisten-Bewegung zur Abkehr von der Sklaverei vor allem im Norden andererseits war unverkennbar und ließ die Sklavenfrage zu einer unumgänglichen, die Union in ihren Grundfesten berührenden Frage werden. 2. Entscheidung des U.S. Supreme Court: Prigg v. Pennsylvania (1842) 1842 hatte sich der Oberste Bundesgerichtshof mit dem sog. Fugitive Slave Act von 1793 zu befassen, durch den die Bestimmung des Art. 4, Abschn. 2, Abs. 3 der Bundesverfassung einfachgesetzlich konkretisiert wurde.210 Hiernach konnten die „Eigentümer“ von Sklaven, die in andere Staaten entflohen waren, deren Auslieferung verlangen. Durch den Fugitive Slave Act von 1793 wurde den Sklavenhaltern darüber hinaus das Recht eingeräumt, entflohene Sklaven auch über die Grenzen der Einzelstaaten hinweg „einzufangen“. Hiergegen erließen mehrere Nordstaaten sog. „personal liberty laws“ oder „antikidnapping statutes“.211 Im Fall Prigg v. Pennsylvania212 war Margaret Morgan, die Tochter von Sklaven aus Maryland, 1832 mit ihren Kindern nach Pennsylvania geflohen, wo sie ein weiteres Kind zur Welt brachte. Nachdem ihr „Eigentümer“ gestorben war, engagierte die Erbin Edward Prigg, einen Sklavenfänger („slave catcher“), um Morgan und ihre Kinder als entflohene Sklaven zurückholen zu lassen. Prigg wurde die hierzu nach dem personal liberty law von Pennsylvania benötigte Zustimmung verweigert, woraufhin er die Familie ohne entsprechende Erlaubnis nach Maryland verschleppte und der vermeintlichen Eigentümerin übergab. Angeklagt und verurteilt wegen Kidnapping berief sich Prigg auf den Fugitive Slave Act von 1793. In seiner Entscheidung bestätigte der U.S. Supreme Court die Verfassungsmäßigkeit des Fugitive Slave Act und erklärte das personal liberty law von Pennsylvania für nichtig wegen Verstoßes gegen das vorrangige Bundesrecht. Insbesondere werde durch die Gesetzgebung Pennsylvanias 210 Vgl. Cardall/Smith, Afro-Americans and the Constitution of the U.S.A., S. 11 ff.; Brugger, JZ 1989, 809, 810. 211 Vgl. Davis/Graham, The Supreme Court, Race, and Civil Rights, S. 6. 212 41 U.S. (16 Pet.) 539 (1842); vgl. Lively, Foreshadows of the Law: Supreme Court Dissents and Constitutional Development, S. 10 ff.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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„the very act of seizing and removing a slave, by his master, which the constitution of the United States was designed to justify“ unzulässigerweise beschränkt. Das Gericht unter dem Vorsitz von Chief Justice Taney hielt sich dabei eng an die Verfassung von 1787 sowie die darin enthaltene fugitive slave-Klausel des Art. 4, Abschn. 2, Abs. 3 und ließ keinerlei Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Sklaverei und der prinzipiellen Ungleichbehandlung von Menschen erkennen.213 3. Entscheidung des U.S. Supreme Court: Dred Scott v. Sandford (1857) Die mit Abstand wichtigste214 Entscheidung sowohl im Hinblick auf die Gleichheit bzw. Ungleichheit der Schwarzen im Allgemeinen als auch speziell bezüglich der Sklavenfrage erging 1857 durch den U.S. Supreme Court unter Chief Justice Taney. In Dred Scott v. Sandford215 ging es um den 1799 in Virginia geborenen Sklaven Dred Scott, der mit seinen „Besitzern“ zunächst nach Alabama, im Jahre 1830 dann nach St. Louis, Missouri, zog. Dort wurde er an John Emerson, einen Chirurgen im Dienste der Armee verkauft. In der Folgezeit nahm Emerson seinen Sklaven zu einem Militärposten in den sklavenfreien Staat Illinois mit, wo sie mehrere Jahre verbrachten. 1836 wechselten beide zu einem Fort in Wisconsin, einem Gebiet, das nach dem Missouri Compromise von 1820 nördlich der 36º300 -Grenze lag und in dem die Sklaverei damit ebenfalls verboten war. Nach ihrer Rückkehr in den Staat Missouri 1842 verstarb Emerson und seine Frau wurde Erbin. Diese verkaufte Scott schließlich an ihren Bruder, John Sandford. 1847 erhob Scott Klage auf Befreiung aus dem Sklavenstatus und begründete dies mit dem während des in Illinois begründeten Bürger-Status. Nach mehreren Prozessen kam die Klage schließlich 1857 vor den U.S. Supreme Court. Das Gericht nahm die Frage, ob Scott durch seinen Aufenthalt in Illinois und nördlich der Missouri Compromise Line Freiheit erlangt hatte oder 213
Vgl. Davis/Graham, The Supreme Court, Race, and Civil Rights, S. 5 ff. Davis/Graham, The Supreme Court, Race, and Civil Rights, S. 8, bezeichnen Dred Scott v. Sandford zudem als „most infamous decision ever made by the Supreme Court“; ebenso Karst, Belonging to America: Equal Citizenship and the Constitution, S. 43; vgl. auch Quint, JZ 1986, 619, 623: „skandalöse Entscheidung“. 215 60 U.S. (19 How.) 393 (1857); vgl. Leahy, Liberty, Justice and Equality, S. 131 f.; Friedman, The Supreme Court, S. 42 f.; Lively, Foreshadows of the Law: Supreme Court Dissents and Constitutional Development, S. 13 ff.; Fisher, American Constitutional Law, S. 855 ff.; aus jüngerer Zeit siehe auch die umfangreiche Studie von Fehrenbacher, The Dred Scott Case. Its Significance in American Law and Politics. 214
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
weiterhin Eigentum seines Besitzers geblieben war, zum Anlass für eine Grundsatzentscheidung, die in den Südstaaten begeistert aufgenommen wurde, im Norden hingegen zu Proteststürmen führte. Die Richter wiesen mit 7 zu 2 Stimmen die Klage von Scott mit der Begründung ab, dass dieser kein „Bürger“ im Sinne von Art. 3, Abschn. 2 der Bundesverfassung sei, wonach sich „die richterliche Gewalt erstreckt auf . . . Streitigkeiten . . . zwischen Bürgern verschiedener Einzelstaaten“. Hierzu wurde das Wort „Bürger“ (citizen) in Art. 3 der Verfassung historisch ausgelegt und ausgeführt, dass zur Zeit der Verabschiedung der Verfassung „[negroes] were . . . considered as a subordinate and inferior class of beings, who had been subjugated by the dominant race“216. Diese „untergeordnete Klasse von Wesen“ sei über ein Jahrhundert lang als so minderwertig angesehen worden, dass ihr keine Rechte zukamen, die der Weiße zu respektieren gehabt hätte: „[the negro] was bought and sold, and treated as an ordinary article of merchandise and traffic, whenever a profit could be made by it. This opinion was at that time fixed and universal in the civilized portion of the white race. It was regarded as an axiom in morals as well as in politics, which no one thought of disputing“217. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, über die Gerechtigkeit dieser Auffassungen zu entscheiden. Vielmehr obliege eine solche Entscheidung allein der rechtsetzenden Gewalt. Hingegen habe sich das Verfassungsgericht an die ursprüngliche Bedeutung der Verfassung zu halten und darüber hinaus gehende, den Entstehungszeitpunkt vernachlässigende Interpretationen außer Betracht zu lassen. Mit seiner Begründung sorgte das Gericht in Aufsehen erregender Weise dafür, die ohnehin aufgeladene Auseinandersetzung um die Stellung der Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft weiter zu polarisieren. Hervorzuheben ist insbesondere die Tatsache, dass bislang die Frage nach der Legitimation der Sklaverei im Vordergrund gestanden hatte: Mit seiner Entscheidung sorgte der U.S. Supreme Court jedoch nunmehr dafür, dass den Schwarzen als solchen, das heißt unabhängig von ihrer Stellung als Sklaven oder Freien, der Bürgerstatus abgesprochen wurde. So liest sich die gesamte Urteilsbegründung zugleich als Begründung der prinzipiellen Unterlegenheit der schwarzen Rasse und ihrer Minderwertigkeit, mithin: Ungleichheit. Dies geschah, indem in historischer Auslegung des Verfassungstextes auf die Intention der Verfassungsväter von 1787 abgestellt und nachzuweisen versucht wurde, dass den Schwarzen von Beginn an kein Bürgerstatus zugesprochen werden sollte. Doch der Gerichtshof ging noch weiter. Mit dem Hinweis, dass Sklaven als Eigentum zu betrachten und die verfassungsmäßigen Rechte der Eigentümers zu schützen seien, sprach er dem Kongress die 216 217
60 U.S. (19 How.) 393, 404 f. 60 U.S. (19 How.) 393, 407.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
Kompetenz ab, entscheiden. So process-Klausel der Sklaverei in
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über Beschränkungen der Sklaverei in den Territorien zu wurde insbesondere der Missouri Compromise mit der due des 5. Amendment für unvereinbar erklärt, da das Verbot das Eigentumsrecht der Sklavenbesitzer eingreife.218
Ursachen für diese außergewöhnliche Schärfe, mit denen der Oberste Gerichtshof in der Frage der rechtlichen Stellung der Schwarzen vorging, werden in verschiedenen Bereichen diskutiert.219 Hervorzuheben ist zum einen, dass die neun Richter des U.S. Supreme Court mehrheitlich aus dem Süden kamen.220 Sieben waren durch Präsidenten der Südstaaten ernannt worden, die das System der Sklaverei befürworteten; fünf von ihnen – darunter Chief Justice Taney, ehedem selbst Sklavenhalter aus Maryland – stammten aus Familien, die Sklaven hielten. Zum anderen hatte Präsident Buchanan die urteilenden Richter zu diesem radikalen Schritt ermutigt221, da er sich durch ein entsprechend eindeutiges Urteil eine Beruhigung der Situation versprach. Das Gegenteil war der Fall. Das Urteil sorgte vielmehr neben der unvermeidlichen Polarisierung für eine weitere Zuspitzung der bereits zuvor hoch emotionalisierten Debatte. Die Sklavenhalter der Südstaaten fühlten sich in ihren Auffassungen bestätigt. Ihre Ablehnung der Naturrechtslehren der Aufklärung, insbesondere der Vorstellung von allen Menschen gleichermaßen zukommenden Rechten, wurde zunehmend schärfer. Zum geistigen Anführer des Südens entwickelte sich insbesondere John C. Calhoun, von 1825 bis 1832 Vizepräsident der Vereinigten Staaten, der die Gleichheitsidee ebenso wie jegliche Forderungen nach Aufhebung der Sklaverei vehement ablehnte: „Diese großen und gefährlichen Irrtümer haben ihre Wurzel in der vorherrschenden Meinung, daß alle Menschen frei und gleich geboren sind. . . . Der Gedanke, daß alle Menschen frei und gleich geschaffen seien, widerspricht allen biologischen und gesellschaftlichen Tatsachen“222. Im Norden stieß das Urteil des U.S. Supreme Court dagegen erwartungsgemäß auf heftigen Widerstand und erzürnten Protest. Gegner der Sklaverei erklärten, den Obersten Bundesgerichtshof nicht mehr als letzte und allein maßgebliche Instanz der Verfassungsinterpretation anzuerkennen. Der Protest richtete sich dabei sowohl gegen die Beschneidung von Kompetenzen des Kongresses, der bislang wesentlich zur immer schwierigeren Kompromissbildung in der Sklavenfrage beigetragen hatte, als auch gegen die verfassungsrechtliche Marginalisie218
60 U.S. (19 How.) 393, 450. Vgl. etwa Leahy, Liberty, Justice and Equality, S. 131 ff.; Redenius, The American Ideal of Equality, S. 62 ff. 220 Davis/Graham, The Supreme Court, Race, and Civil Rights, S. 5. 221 Vgl. Heideking, Geschichte der USA, S. 161. 222 Zit. nach Röder, Das politische System der USA, S. 74. 219
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
rung der schwarzen Bevölkerung zu untergeordneten Wesen, mit denen man als Sklaven nach Belieben verfahren konnte. Indem das Urteil Dred Scott v. Sandford auf diese Weise die Spannungen zwischen Norden und Süden noch verschärfte, stellte es einen weiteren bedeutenden Schritt auf dem Weg zur Eskalation des Konflikts dar223 – dem amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. VI. Bürgerkrieg (1861–1865) Nachdem das Urteil Dred Scott v. Sandford 1857 ergangen war, spitzte sich die Auseinandersetzung um die Gleichheitsfrage in kurzer Zeit weiter zu. In Illinois kam es 1858 zu öffentlichen Streitgesprächen über die Sklavenfrage zwischen Stephen Douglas und Abraham Lincoln, die 1860 für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten kandidierten. Lincoln ließ dabei keinen Zweifel an seiner Ablehnung der Entscheidung des U.S. Supreme Court und grundsätzlichen Missbilligung der Sklaverei224, wenngleich er den Südstaaten in einigen Fragen Entgegenkommen signalisierte. In seiner Rede vom 16. Juni 1858 zeichnete er den Weg der kommenden Jahre vor: „ ‚A house divided against itself cannot stand.‘ I believe this government cannot endure, permanently half slave and half free. I do not expect the Union to be dissolved – I do not expect the house to fall – but I do expect it will cease to be divided. It will become all one thing, or all the other.“225 Am 6. November 1860 wurde Lincoln als Kandidat der Republikanischen Partei zum 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, was für die Südstaaten einem Votum gegen die Sklaverei gleichkam. Seiner Wahl folgten bis zum Februar 1861 die Unabhängigkeitserklärungen der Staaten South Carolina, Mississippi, Florida, Alabama, Georgia, Louisiana und Texas. Der Gegensatz zwischen dem unter anderem in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 niedergelegten Gleichheitsgedanken und der Versklavung Millionen von Schwarzen war somit letztlich zu groß geworden und hatte maßgeblich zum Bruch zwischen Nord- und Südstaaten beigetragen. Es begann 1861 der Sezessionskrieg, „the war about slavery“, den die Nordstaatler nach vier Jahren Kampf und dem Tod von über einer halben Million Menschen 1865 für sich entscheiden konnten.
223 Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 72. 224 Vgl. etwa Lincolns Rede vom 17. Juli 1858, abgedruckt in: Fisher, American Constitutional Law, S. 29 ff. 225 Lincoln, „House Divided“ Speech in Springfield, Illinois, abgedruckt in: Fehrenbacher (Hrsg.), Abraham Lincoln. Speeches and Writings 1832–1858, S. 426.
1. Kap.: Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes
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VII. Aufnahme der Amendments 13–15 in die Verfassung (1865–1870) Im Hinblick auf die historischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens in der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte sind die Jahre nach dem Bürgerkrieg, insbesondere das Jahr 1868, von überragender Bedeutung. In dieser Zeit erfolgte die Einfügung der Amendments 13–15 in die Verfassung226, wobei dem 14. Amendment, 1868 in Kraft getreten, besonderes Gewicht zukommt. Alle drei Amendments wurden in die Verfassung aufgenommen, um die Sklaverei zu beenden und den aus der Sklaverei befreiten Schwarzen verfassungsmäßige Rechte zu verschaffen. Dabei erklärt das 1865 in Kraft getretene 13. Amendment ein umfassendes Verbot der Sklaverei, während das 15. Amendment von 1870 festlegt, dass keinem Bürger der Vereinigten Staaten das Wahlrecht „wegen seiner Rasse, Hautfarbe oder früheren Unfreiheit vorenthalten oder eingeschränkt werden“ darf. Das 14. Amendment227, nach dem Ende des Bürgerkrieges mit dem Hauptzweck eingeführt, die Schwarzen in ihrer Freiheit zu schützen, enthält insbesondere im ersten Abschnitt äußerst wichtige Generalklauseln. Hierzu zählt zunächst die Regelung des Bürgerstatus in Satz 1, der alle in den Vereinigten Staaten geborenen oder eingebürgerten Personen einbezieht und somit verfassungsrechtlich die Abkehr vom Inhalt der 1857 ergangenen Entscheidung Dred Scott v. Sandford darstellt, in der der U.S. Supreme Court den Schwarzen den Bürgerstatus versagt hatte. Demgegenüber richtet sich Satz 2 seinem Wortlaut nach an die Einzelstaaten und verbietet diesen zum einen, Vorrechte oder Freiheiten der Bürger zu beschränken. Zum anderen ist die sog. due process-Klausel normiert, der zur Folge keinem Staat Eingriffe in Leben, Freiheit oder Eigentum einer Person ohne vorheriges ordentliches Gerichtsverfahren im Einklang mit dem Gesetz gestattet sind. Im 14. Amendment ist jedoch darüber hinaus die für den hier interessierenden Zusammenhang bedeutsame Festschreibung des Gleichheitsgedankens durch die sog. equal protection-Klausel enthalten. Diese lautet: „No State shall . . . deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws“. Damit ist das 14. Amendment „the first and only place in which the idea of equality appears in the Constitution“228, wobei dies, wie 226 Zu den sog. „civil war amendments“: Fisher, American Constitutional Law, S. 862 ff. 227 Zur Ratifikation des 14. Amendment: Bond, No Easy Walk to Freedom, S. 15 ff.; James, The Ratification of the Fourteenth Amendment, S. 51 ff.; allgemein: Karst, Belonging to America: Equal Citizenship and the Constitution, S. 49 ff.; Nelson, The Fourteenth Amendment: From Political Principle to Judicial Doctrine, S. 40 ff. 228 Edwards/Wattenberg/Lineberry, Government in America, S. 145.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
oben dargestellt229, nicht für die Verfassungen der Einzelstaaten gilt, die den Gleichheitsgedanken zum Teil deutlich vor 1868 aufgegriffen hatten. Bis heute jedenfalls ist die equal protection-Klausel die zentrale Norm in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zu grundrechtlichen Gleichheitsproblemen230 geblieben und zum Ausgangspunkt umfassender Judikatur geworden. Über ihren ursprünglich auf die Gleichstellung der schwarzen Sklaven bezogenen und lediglich an die Einzelstaaten gerichteten Inhalt hinausgehend ist sie in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes im Laufe der Zeit zu einem weitaus umfassenderen grundrechtlichen Gleichheitssatz entwickelt worden231, was im weiteren Verlauf der Arbeit genauer zu untersuchen sein wird. Mit der Einführung der equal protection-Klausel des 14. Amendment hatte die lange und konfliktreiche Auseinandersetzung über die Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen schließlich zu einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Gleichheitsgedankens geführt. Dabei entzündete sich der Grundkonflikt über die Gleichheit der Menschen in den Vereinigten Staaten von Amerika wie gesehen vor allem an der Sklavenfrage, weshalb etwa Hyman und Wiecek deren Behandlung durch die Rechtsprechung als zentralen Aspekt der US-amerikanischen Verfassungsgeschichte hervorheben.232 Die hier beschriebene verfassungsgeschichtliche Entwicklung, die zur Integration des grundrechtlichen Gleichheitssatzes in die Verfassung der Vereinigten Staaten führte, bildet somit den historischen Hintergrund jener Inschrift, die sich bis heute über dem Eingangsportal des U.S. Supreme Court befindet: Equal Justice under Law.
229
Vgl. unter II. Vgl. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 127; Sechting, Affirmative Action und Frauenförderung, S. 18. 231 Vgl. Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 15. 232 Hyman/Wiecek, Equal Justice Under Law: Constitutional Development 1835–1875, S. 86 ff. 230
2. Kap.: Allgemeiner Gleichheitssatz
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2. Kapitel
Ähnlichkeiten und Unterschiede in der deutschen und amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz A. Grundlagen im Verfassungstext Ausgangspunkt der Analyse deutscher und amerikanischer Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz ist zunächst der Verfassungstext selbst. Angesichts der hierbei zu konstatierenden Offenheit der Formulierungen begegnet die nähere Bestimmung des normativen Gehalts des Gleichheitsgrundrechts besonderen Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten einer Konkretisierung von Inhalt und Reichweite des Grundrechts sind bei der Betrachtung der verfassungsgeschichtlichen Wurzeln des Gleichheitsgedankens wiederholt deutlich geworden. Sie wirken vielfach bis heute fort und bestimmen damit das verfassungsrechtliche Gleichheitsverständnis in beträchtlichem Maße. I. Bundesrepublik Deutschland 1. Art. 3 Abs. 1 GG: Gleichheit vor dem Gesetz In Deutschland ist der allgemeine Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG enthalten. Er lautet: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“. Indem er neben weiteren, explizit formulierten besonderen Gleichheitssätzen steht, ist die Trennung zwischen allgemeinem Gleichheitssatz und besonderen Diskriminierungsverboten in der deutschen Verfassung bereits durch den Text des Grundgesetzes ausdrücklich normiert. Hierdurch werden bestimmte Sachbereiche oder Differenzierungskriterien aus der lex generalis des allgemeinen Gleichheitssatzes ausgelagert und den besonderen Differenzierungsverboten oder besonderen Differenzierungserlaubnissen unterstellt, die besonders dringliche Gleichheitsanforderungen für einzelne Lebensbereiche oder Unterscheidungskriterien normieren.233 Dennoch geht letztlich jede verfassungsrechtliche Gleichheitsprüfung auf den Gedanken der allgemeinen Rechtsgleichheit zurück, wie er in Art. 3 Abs. 1 GG seinen Ausdruck gefunden hat.234 Wie eingangs erwähnt, resultieren die Schwierigkeiten bei 233
Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 1; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 16. 234 Vgl. BVerfGE 13, 290, 295.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
der Bestimmung des normativen Gehalts von Art. 3 Abs. 1 GG vorrangig aus der inhaltlichen Unbestimmtheit des Gleichheitsbegriffs. Die Frage nach einem zureichenden Grund für eine zu überprüfende Differenzierung erfordert Wertungsgesichtspunkte, die jedoch ihrerseits nicht durch den allgemeinen Gleichheitssatz selbst vorgegeben sind.235 Dieser rückt damit in die Nähe allgemeiner Gerechtigkeitsvorstellungen236, ein Zusammenhang, der indes für sich genommen kaum zu einer stärkeren Konturierung von Art. 3 Abs. 1 GG führt. Dabei wird die inhaltliche Unbestimmtheit des allgemeinen Gleichheitssatzes zum Teil ausdrücklich als dessen wesentliches Merkmal bezeichnet und vor dessen Überlastung mit wertenden Gesichtspunkten, namentlich unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, gewarnt.237 Andere betonen demgegenüber in stärkerem Maße Gerechtigkeitsaspekte bei der Bestimmung des Normgehalts des Art. 3 Abs. 1 GG.238 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass auch der allgemeine Gleichheitssatz im Gesamtbezug aller anderen Verfassungsnormen steht, deren Heranziehung zur Ausdeutung des normativen Gehalts von Art. 3 Abs. 1 GG maßgeblich beitragen kann.239 Neben einer solchen Interpretation im Kontext der Gesamtverfassung ist zudem auf den umstrittenen Gedanken der Systemgerechtigkeit240 hinzuweisen: Nach diesem später genauer zu behandelnden Ansatz kommt eine gleichheitsrechtliche Überprüfung im Hinblick darauf in Betracht, ob eine Einzelregelung des Gesetzgebers mit der Gesamtkonzeption des Gesetzes in Einklang steht.
235 Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 5; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 373. 236 Vgl. Müller, Der Gleichheitssatz, in: VVDStRL 47 (1989), S. 42; Sachs, JuS 1997, 124, 124 f. 237 So insbesondere Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 15. 238 Vgl. etwa Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 306 ff.; Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 10 ff.; Hesse, AöR 77 (1951/52), 167, 205; vgl. ferner den Diskussionsbeitrag von Häberle, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, S. 84. 239 Vgl. BVerfGE 93, 121, 133 f.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 16 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 387; Zippelius, Der Gleichheitssatz, in: VVDStRL 47 (1989), S. 27 ff.; Robbers, DÖV 1988, 749, 753. 240 Vgl. etwa BVerfGE 59, 36, 49; 61, 138, 148 f.; allgemein zum Begriff der Systemgerechtigkeit Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 44 ff.; Koenig, JuS 1995, 313, 317 f.; Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 3, Rn. 99 ff.; Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 222 ff.; Rupp, Art. 3 GG als Maßstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, S. 380 ff.; kritisch Gusy, NJW 1988, 2505, 2508.
2. Kap.: Allgemeiner Gleichheitssatz
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2. Bindungswirkung gegenüber allen Staatsgewalten Die Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG wird maßgeblich durch die umfassende Bindung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte bestimmt. Für eine über die Rechtsanwendungsgleichheit hinausgehende Bindung auch des Gesetzgebers spricht zum einen die Entstehungsgeschichte, da im Herrenchiemseer Entwurf zunächst ausdrücklich eine solche Bindung auch des Gesetzgebers enthalten war, die Formulierung jedoch unter Berufung auf Art. 1 Abs. 3 GG nicht in das Grundgesetz übernommen wurde, da man sie vor diesem Hintergrund für überflüssig hielt. Zudem wird darauf hingewiesen, dass sich die Bindungswirkung gegenüber dem Gesetzgeber bereits aus der „Idee der Grundrechte“241 bzw. dem Verständnis des Gleichheitssatzes als einem „die Rechtsordnung durchziehenden ‚Fundamentalsatz‘ “242 ergebe. Nach allgemeiner Auffassung wird der Gesetzgeber somit heute durch Art. 1 Abs. 3 GG auch an den allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz gebunden. II. Vereinigte Staaten von Amerika 1. 14. Amendment: Originärer Normgehalt Die amerikanische Verfassung nimmt den Gleichheitsgedanken ausdrücklich nur in der 1868 eingefügten equal protection-Klausel des 14. Amendment243 auf: „No State shall . . . deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws“ (Kein Staat darf . . . irgend jemandem innerhalb seines Kompetenzbereichs den gleichen Schutz durch das Gesetz versagen). Wie die Betrachtung der historischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens in der amerikanischen Verfassungsgeschichte gezeigt hat244, war Hintergrund der equal protection-Klausel die kurz zuvor erfolgte Befreiung der schwarzen Sklaven. Unmittelbar nach Inkrafttreten des 13. Amendment, durch das die Sklaverei verboten wurde, hatten die meisten Südstaaten sog. „black codes“ eingeführt, denen wegweisende Bedeutung für den weiteren Umgang mit ehemaligen Sklaven zukam. Diese „black codes“ enthielten diskriminierende Sonderregelungen gegenüber den ehemaligen schwarzen Sklaven und unterwarfen die afroamerikanische Bevölkerung erheblichen Restriktionen. So wurden vielfach die Fähigkeit des Eigentumserwerbs, die freie Berufswahl und die freie Ortswahl eingeschränkt. Der Aufenthalt in 241 242 243 244
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 358 f. Zippelius, Der Gleichheitssatz, in: VVDStRL 47 (1989), S. 11. Abschn. 1, Satz 2 a. E. Zweiter Teil, 1. Kapitel, B. VII.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
bestimmten Stadtteilen wurde Afroamerikanern ebenso untersagt wie das Spazierengehen in der Nacht; vielerorts kam es zur Einführung von Strafbestimmungen, die nur für Schwarze galten.245 Um diese Sondergesetze der Einzelstaaten zu unterbinden und die farbige Bevölkerung vor weiterer diskriminierender rechtlicher Behandlung durch die ehemaligen Sklavenstaaten zu schützen, kam es 1868 zur Einfügung des 14. Amendment in die amerikanische Verfassung. Der originäre Normgehalt der equal protection-Klausel bezog sich damit vorrangig auf die rechtliche Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung. Weiterhin werden vom Wortlaut des 14. Amendment Maßnahmen des Bundes nicht erfasst, da sich die Gleichheitsregelung der equal protectionKlausel ausdrücklich („No State shall . . .“) nur auf die Einzelstaaten, nicht aber auf den Bund bezieht.246 Hinzu kommt, dass die Formulierung „equal protection of the laws“ lediglich auf Gleichheit der Rechtsanwendung zu verweisen scheint, sodass bei Berücksichtigung der genannten Umstände die equal protection-Klausel des 14. Amendment nach ihrem originären Normgehalt in wichtigen Bereichen vom allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG abweichen würde. 2. Exegetische Ausweitung der equal protection-Klausel Die dargestellte, ursprünglich sehr begrenzte Reichweite der equal protection-Klausel hat jedoch durch die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court bedeutsame Änderungen erfahren, die für den Vergleich mit der deutschen Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz von großer Bedeutung sind. Insofern lassen sich drei Hauptstränge der grundrechtlichen Gleichheitsentfaltung unterscheiden, die den normativen Gehalt der equal protection-Klausel exegetisch ausweiten. Hierzu zählt zunächst die Entwicklung des Gleichheitspostulats von einem ursprünglich auf Rassengleichheit beschränkten Gleichheitssatz zum allgemeinen Gleichheitsgrundrecht (a). Zu berücksichtigen ist weiterhin der Übergang von der Rechtsanwendungsgleichheit zur Rechtsgleichheit (b). Bedeutend ist schließlich die Entfaltung der Gleichheitsgarantie von einem allein an die Einzelstaaten gerichteten Grundrecht zu einem auch die Bundesgewalt bindenden Gleichheitssatz (c). 245
Vgl. Karst, Belonging to America: Equal Citizenship and the Constitution, S. 50; Nelson, The Fourteenth Amendment: From Political Principle to Judicial Doctrine, S. 48 ff.; Davis/Graham, The Supreme Court, Race, and Civil Rights, S. 12. 246 Lieberman, The Evolving Constitution, S. 183: „by its terms the 14th Amendment applies only to the states“; Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 445.
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a) Von der Rassengleichheit zum allgemeinen Gleichheitssatz Die ihrer Entstehungsgeschichte nach wie gesehen auf Rassengleichheit gerichtete equal protection-Klausel wurde in der amerikanischen Gleichheitsrechtsprechung im Wege einer historischen Interpretation des Verfassungstextes zunächst ausschließlich auf die afroamerikanische Bevölkerung bezogen. Noch im Jahre 1873 wurde in den Slaughterhouse Cases247 eine Ausweitung des so verstandenen normativen Gehalts der Gleichheitsgarantie vom U.S. Supreme Court zwar erörtert, jedoch nachdrücklich in Zweifel gezogen und dazu bemerkt: „In the light of the history . . . it is not difficult to give a meaning to this [equal protection-]clause. The existence of laws in the States where the newly emancipated negroes resided, which discriminated with gross injustice and hardship against them as a class, was the evil to be remedied by this clause, and by it such laws are forbidden. . . . We doubt very much whether any action of a State not directed by way of discrimination against the negroes as a class, or on account of their race, will ever be held to come within the purview of this provision. It is so clearly a provision for that race and that emergency that a strong case would be necessary for its application to any other.“248 Es dauerte dreizehn Jahre, bis der U.S. Supreme Court 1886 in Yick Wo v. Hopkins von seiner eigenen Voraussage abwich und die Gleichheitsgarantie auch auf Personen ausdehnte, die nicht zur afroamerikanischen Bevölkerung gehörten.249 Dabei stützte er sich maßgeblich auf den Wortlaut des 14. Amendment, nach dem der Gleichheitssatz für „any person“ Geltung beanspruche; auch der im konkreten Fall als Kläger auftretende Chinese Yick Wo konnte sich somit als Ausländer auf die equal protection-Klausel berufen. Nach solchen anfänglichen, zögernden Ausdehnungen der equal protection-Klausel wurde diese im Laufe der Zeit schließlich immer mehr zu einem umfassenden, nicht mehr auf Rassengleichheit beschränkten Gleichheitssatz weiterentwickelt.250 Über die ursprünglich auf historischer Auslegung beruhende Einschränkung hinaus wird sie somit heute, ihrem weiten Wortlaut entsprechend, als allgemeiner grundrechtlicher Gleichheitssatz verstanden, der nicht auf bestimmte Differenzierungskriterien begrenzt ist.
247
83 U.S. 36 (1873); vgl. Corwin, American Constitutional History, S. 71 f. Slaughterhouse Cases, 83 U.S. 36, 81 (1873). 249 Vgl. Yick Wo v. Hopkins, 118 U.S. 356, 369 (1886). 250 Vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 34. Knapp, JöR 23 (1979), 421, 425 f. 248
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b) Von der Rechtsanwendungsgleichheit zur Rechtsgleichheit Ihrem Wortlaut nach deutet die equal protection-Klausel („equal protection of the laws“ – „gleicher Schutz durch die Gesetze“251) daraufhin, dass hiermit lediglich Rechtsanwendungsgleichheit erfasst wird, nicht jedoch die Bindung des Gesetzgebers selbst.252 Diese – auch in Deutschland lange umstrittene – Frage wurde vom U.S. Supreme Court zunächst auch vereinzelt dahin geklärt, dass das Gleichbehandlungsgebot bereits erfüllt sei, wenn ein Gesetz gleichmäßig und unparteiisch auf diejenigen angewendet wird, an die es sich richtet.253 Gebunden sein sollten danach nur Exekutive und rechtsprechende Gewalt. Als heute unumstrittene Auffassung durchgesetzt hat sich jedoch die erstmals in Yick Wo v. Hopkins254 vertretene Position, derzufolge mit der Garantie der „equal protection of the laws“ auch zugleich „protection of equal laws“255, also ein Versprechen des Schutzes gleicher Gesetze verbunden sei. Der U.S. Supreme Court bekräftigte in dem Urteil aus dem Jahre 1886 eine entsprechende Ausweitung der equal protection-Klausel indem er feststellte, die Bestimmung sei „universal in . . . application, to all persons within the territorial jurisdiction . . . and the equal protection of the laws is a pledge of the protection of equal laws“256. Damit wird dem grundrechtlichen Gleichheitssatz des 14. Amendment zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als dem Gleichheitsgrundrecht in der deutschen Verfassungsentwicklung umfassende Bindungswirkung zugesprochen, die sich nicht allein auf Exekutive und Rechtsprechung bezieht, sondern auch den Gesetzgeber mit einschließt. c) Bindungswirkung gegenüber dem Bund Seinem Wortlaut nach („No State shall“) richtet sich das 14. Amendment nur an die Einzelstaaten, nicht aber an den Bund. Der Grund hierfür liegt ebenfalls in der Entstehungsgeschichte des Zusatzartikels, der sich, wie dargestellt, vornehmlich gegen die rassenspezifische Diskriminierung in den 251 Übersetzung nach Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 477. 252 Lieberman, The Evolving Constitution, S. 183; Sechting, Affirmative Action und Frauenförderung, S. 19; Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 206. 253 Vgl. Knapp, JöR 23 (1979), 421, 426 m. w. N. 254 118 U.S. 356 (1886). 255 118 U.S. 356, 369 (1886); vgl. Davis/Graham, The Supreme Court, Race, and Civil Rights, S. 48 f.; Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 207. 256 118 U.S. 356, 369 (1886).
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Südstaaten richtete und sich deshalb dem Wortlaut nach allein auf die Einzelstaaten bezieht. Die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court hat jedoch die Bindungswirkung der equal protection-Klausel auch auf den Bund ausgeweitet, und zwar durch Anwendung der gegen den Bund gerichteten „due process“-Klausel des 5. Amendment. Darin heißt es: „[No person] shall be deprived of life, liberty, or property, without due process of law“ – Niemand darf des Lebens, der Freiheit oder des Eigentums ohne vorheriges ordentliches Verfahren in Einklang mit dem Gesetz beraubt werden. Dieses ordentliche bzw. rechtsstaatliche Verfahren kann sowohl in einem prozeduralen als auch in einem substantiellen Sinne verstanden werden257 und ist einer der am stärksten umstrittenen Begriffe in der amerikanischen Verfassung. Das wird auch in der amerikanischen Verfassungslehre deutlich, wenn etwa Lieberman konstatiert, due process sei „a protean constitutional concept of rule according to law, fairness in the law’s proceedings, and fundamental rights. It has meant many things to many people; if a single phrase can account for the lush variability of constitutional interpretation it is ‚due process‘ “.258 Nachdem der Inhalt der Klausel ursprünglich lediglich im Hinblick auf das Verfahren staatlicher Eingriffe interpretiert wurde, vollzog sich in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Wandel, der neben den prozeduralen Gehalt der Vorschrift einen substantiellen stellte.259 Das Verständnis von „substantive due process“ beinhaltete dabei eine materielle Beschränkung der Befugnis des Gesetzgebers, in Leben, Freiheit oder Eigentum des Einzelnen einzugreifen. Vor diesem Hintergrund konnten als willkürlich erachtete diskriminierende Gesetze nunmehr einen Verstoß gegen die (substantiell ausgelegte) due process-Klausel begründen. Mit der dargestellten Verfassungsrechtsprechung wurde zunächst nur ein Mindeststandard der Gleichheitsgarantie in die due process-Klausel des 5. Amendment inkorporiert. So bestätigte der U.S. Supreme Court noch 1943 seine Auffassung, wonach das 5. Amendment angesichts des Fehlens einer ausdrücklichen equal protection-Klausel „restrains only such discriminatory legislation by Congress as amounts to a denial of due process“260. Erst 1954, in dem Urteil Bolling v. Sharpe261, kam es insoweit zu einer bedeutsamen Richtungsentscheidung unter Abkehr von der bisherigen Gleichheits257
Vgl. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 104 ff. Lieberman, The Evolving Constitution, S. 169. Vgl. auch Currie, The Constitution of the United States, S. 64 ff. 259 Hierzu ausführlich Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 54 ff. 260 Kiyoshi Hirabayashi v. United States, 320 U.S. 81, 100 (1943). 261 347 U.S. 497 (1954). 258
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rechtsprechung. Anlässlich des Verbots segregierter staatlicher Schulen auf der Ebene der Einzelstaaten entschied das Gericht, es sei „unthinkable“, dass dieselbe Verfassung an entsprechende Maßnahmen des Bundes einen geringeren Maßstab anlege als an Maßnahmen der Einzelstaaten.262 Damit wurde der Gleichheitsgarantie der equal protection-Klausel sowohl unter dem 5. als auch unter dem 14. Amendment der gleiche Schutzstandard zugesprochen. Im Jahre 1990 kam es diesbezüglich zu einer überraschenden Rechtsprechungsänderung, als der U.S. Supreme Court in Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission263 diesen zuvor gefestigten Grundsatz nicht mehr anerkannte und dem Gleichheitselement der due process-Klausel eine geringere Schutzwirkung zusprach als der equal protection-Klausel des 14. Amendment. Mit einer Entscheidung264 von 1995 schließlich hat der Oberste Bundesgerichtshof der Vereinigten Staaten erneut seine Auffassung geändert und vertritt nun wiederum den vormals gefestigten Congruence-Grundsatz, wonach „equal protection analysis in the Fifth Amendment area is the same as that under the Fourteenth Amendment“265. Festzuhalten bleibt daher, dass der grundrechtliche Gleichheitsschutz des 5. und des 14. Amendment identisch ist und somit die Bindungswirkung gegenüber dem Bund nach der due process-Klausel des 5. Amendment die selben gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe zur Folge hat wie gegenüber den Einzelstaaten nach der equal protection-Klausel. Der Inhalt dieser praktisch wie theoretisch besonders bedeutsamen Maßstäbe der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung wird im weiteren Verlauf der Arbeit genauer zu untersuchen sein. III. Vergleich Der deutsche Verfassungstext enthält besondere Gleichheitssätze sowie den allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, während die amerikanische Verfassung den Gleichheitsschutz im 14. Amendment mit der equal protection-Klausel ausdrücklich normiert. Diese war ursprünglich als besonderes Diskriminierungsverbot in die Verfassung eingefügt worden und somit zunächst nicht mit dem heutigen allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in Deutschland vergleichbar. Durch die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court ist der normative Gehalt der equal protection-Klausel jedoch wie gesehen im Laufe der Zeit zu einem 262
347 U.S. 497, 500 (1954). 497 U.S. 547 (1990). 264 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097 (1995). 265 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2108 (1995) unter Verweis auf Buckley v. Valeo, 424 U.S. 1, 93, 96 (1976). 263
2. Kap.: Allgemeiner Gleichheitssatz
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umfassenden grundrechtlichen Gleichheitssatz entwickelt worden, der nicht mehr auf den Bereich der Rassendiskriminierung begrenzt ist. Er entfaltet Bindungswirkung auch gegenüber dem Gesetzgeber und wendet sich über die Einzelstaaten hinaus ebenfalls an den Bund. Somit besteht in diesen wesentlichen Aspekten Übereinstimmung mit dem deutschen allgemeinen Gleichheitssatz, die equal protection-Klausel des 14. Amendment entspricht demnach im Wesentlichen Art. 3 Abs. 1 GG.266
B. Maßstäbe der Gleichheitsprüfung Wie die bisherige Betrachtung gezeigt hat, tragen die verfassungstextlichen Verankerungen des Gleichheitssatzes in der U.S. Constitution und dem deutschen Grundgesetz nur wenig dazu bei, die normative Offenheit des Grundrechts zu konkretisieren. Welche Anforderungen sich daraus ergeben, dass „alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind“ bzw. die „equal protection of the laws“ genießen, kommt aus diesen Formulierungen selbst nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck. Von umso größerem Interesse ist daher, mit welchen Mitteln der somit konstatierten gleichheitsrechtlichen Unbestimmtheit zu begegnen versucht wird. Die deutsche und amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit ist insoweit übereinstimmend von dem Bemühen gekennzeichnet, den für die unmittelbare Rechtsanwendung wenig aussagekräftigen Fundamentalsatz des Gleichheitspostulats mit Maßstäben zu versehen, die näheren Aufschluss über die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit staatlichen Handelns geben. Ergebnis dieser Bestrebungen ist in beiden demokratischen Verfassungsstaaten der „Aufstieg der Tests“267, die den Inhalt der grundrechtlichen Gleichheitsgarantie wesentlich ausformen und die zentralen Maßstäbe der Gleichheitsprüfung enthalten. Angesichts der damit verbundenen herausragenden Bedeutung wird in der gleichheitsrechtlichen Spezialliteratur in jüngerer Zeit eine stärkere, auch rechtsvergleichend fundierte dogmatische Durchdringung der Problematik gefordert.268 Im Rahmen der Untersuchung amerikanischer und deutscher Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz soll daher im Folgenden auf die Prüfungsmaßstäbe eingegangen werden, mit denen jeweils ermittelt wird, ob ein Verstoß gegen die equal protection-Klausel oder Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt. 266 So auch Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 33; Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 192 f. 267 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 240. 268 Vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 215 ff.
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I. Bundesrepublik Deutschland 1. Ausgangspunkt: Willkürverbot Seit Beginn der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Gleichheitssatz nimmt der Begriff des Willkürverbotes eine zentrale Stellung ein.269 Dieser wurde, wie oben270 ausgeführt, durch die Lehren von Triepel und Leibholz begründet. Nach der vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung übernommenen Formel soll Art. 3 Abs. 1 GG das Gebot enthalten, „weder wesentlich Gleiches willkürlich ungleich noch wesentlich Ungleiches willkürlich gleich“ zu behandeln.271 Dabei wird Willkür nicht im Sinne eines subjektiven Schuldvorwurfs, sondern in einem objektiven Sinne verstanden, wonach es auf die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der getroffenen Maßnahme im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation ankommt.272 Allerdings hat sich die Gleichheitsjudikatur in ihrer Explikation des Willküransatzes nicht auf die zuvor dargestellte Formulierung des Willkürverbots beschränkt. Vielmehr finden sich bereits in der Ausgangsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dem Südweststaats-Urteil vom 23. Oktober 1951273, zwei unterschiedliche Formulierungsstränge, die bis heute bedeutsam geblieben sind. Danach verbietet der allgemeine Gleichheitssatz „daß wesentlich Gleiches ungleich, nicht dagegen daß wesentlich Ungleiches entsprechend der bestehenden Ungleichheit ungleich behandelt wird. Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt“274. Ein Vergleich der beiden zunächst durchaus unterschiedlich scheinenden Wendungen hat zu klären, ob dem Gleichheitssatz in seiner ersten Ausdeutung (Verbot der Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem) ein anderer Inhalt zukommt als in der zweiten Fassung (Verbot der Ungleichbehandlung bei fehlendem sachlich einleuchtendem Grund). Insoweit ist zunächst fest269 Vgl. BVerfGE 1, 14, 52. Ausführlich zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf das Verbot richterlicher Willkür v. Lindeiner, Willkür im Rechtsstaat?, S. 40 ff. 270 Zweiter Teil, 1. Kapitel, A. VI. 271 So etwa BVerfGE 4, 144, 155; vgl. auch BVerfGE 49, 148, 165; 51, 295, 300. Zu den im Einzelnen nicht immer gleich formulierten Formeln des Bundesverfassungsgerichts und deren Bedeutung ausführlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 364 ff. 272 BVerfGE 2, 266, 281; st. Rspr.; vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Anhang zu Art. 3, Rn. 4. 273 BVerfGE 1, 14. 274 BVerfGE 1, 14, 52.
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zuhalten, dass es keine der genannten Formulierungen ermöglicht, bei der Konkretisierung des Gleichheitsgrundrechts vollständig auf Wertungsgesichtspunkte zu verzichten. Geklärt werden muss jeweils, was „wesentlich gleich“ ist bzw. ob ein „sachlich einleuchtender Grund“ vorliegt. Wenden wir uns der Frage nach „wesentlich gleichen“ Sachverhalten zu, so wird offenbar, dass das Gleichheitsurteil immer nur Übereinstimmung in einzelnen als relevant erachteten Merkmalen unter Abstraktion von anderen, differierenden Gesichtspunkten bedeuten kann. Die Einschätzung der Relevanz der für das Gleichheitsurteil maßgebenden Merkmale liegt notwendig beim Urteilenden selbst. Vor dem Hintergrund der horizontalen Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Judikative stellt sich damit das Problem, wer letztlich darüber zu befinden hat, ob Sachverhalte in wesentlichen Aspekten gleich gelagert sind und demnach gleichbehandelt werden müssen. Verweist die erste Fassung des Willkürverbots folglich auf die bereits beschriebene besondere Wertungsoffenheit des Gleichheitssatzes und berührt somit in besonderem Maße Probleme der Gewaltenteilung, so hat das Bundesverfassungsgericht von Beginn an deutlich gemacht, dass es grundsätzlich im Ermessen des Gesetzgebers liegt, Merkmale als Vergleichspaar zu wählen, an denen er Gleichheit oder Ungleichheit der gesetzlichen Regelung orientiert.275 Danach ist der allgemeine Gleichheitssatz nur verletzt, „wenn der Gesetzgeber versäumt, tatsächliche Gleichheiten oder Ungleichheiten der zu ordnenden Lebensverhältnisse zu berücksichtigen, die so bedeutsam sind, daß sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise beachtet werden müssen. . . . Der Gesetzgeber hat hiernach eine sehr weitgehende Gestaltungsfreiheit; es ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, zu prüfen, ob er jeweils die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat, sondern lediglich, ob jene äußersten Grenzen gewahrt sind.“276 Für diese Bestimmung jener „äußersten Grenzen“, deren Überschreitung verfassungsrechtlicher Kontrolle unterworfen ist und einen Verstoß gegen das Gleichheitsgrundrecht darstellt, gewinnt nun die eingangs aufgeführte zweite Formulierung des Willkürverbots an Bedeutung. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes soll danach nur unter der Voraussetzung zu bejahen sein, dass sich ein vernünftiger, sachlich einleuchtender Grund für eine Differen275
BVerfGE 9, 201, 206. Vgl. auch BVerfGE 71, 39, 53, wonach der Gesetzgeber befugt ist, „aus der Vielzahl der Lebenssachverhalte die Tatbestandsmerkmale auszuwählen, die für die Gleich- oder Ungleichbehandlung maßgebend sein sollen“. 276 BVerfGE 9, 201, 206. Vgl. aus jüngerer Zeit etwa BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 45: „Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu entscheiden, ob der Gesetzgeber das zweckmäßigste oder sachnächste Kriterium für die Anpassung gewählt hat. Die Maßstäbe dafür zu bestimmen, ist zunächst Sache des Gesetzgebers.“
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
zierung nicht mehr erkennen lässt.277 Auf diese Weise kommt der so formulierten Willkürformel eine insbesondere kompetenzrechtlich bedeutende Funktion zu, indem sie die Grenze markiert, bis zu der das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gesetzgebers zu akzeptieren hat: Die gesetzgeberische Bewertung von Sachverhalten als „im wesentlich gleich oder ungleich“ und die daran anschließende Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung finden daher ihre justiziable Grenze erst ab jenen hohen Anforderungen der objektiven Willkür, wonach sich für die getroffene Regelung schlechterdings kein sachlicher Grund mehr ermitteln lässt. Beide oben dargelegten Ausdeutungen der gleichheitsrechtlichen Willkürformel sind demzufolge miteinander vereinbar und konturieren gemeinsam den als Willkürverbot verstandenen Gleichheitssatz, mit dem der Legislative ein weiter Gestaltungsspielraum zugestanden wird. Der Gesetzgeber muss danach nicht die sachgerechteste Regelung getroffen haben, vielmehr genügt bereits das Vorliegen nachvollziehbarer sachlicher Erwägungen, um den Vorwurf willkürlichen Handelns zu entkräften. 2. Rechtsprechungsentwicklung: „neue Formel“ des BVerfG Wie die Ausführungen zur Willkürformel zeigen, stellte diese lange Zeit vorherrschende Interpretation des grundrechtlichen Gleichheitssatzes eine erhebliche Beschränkung verfassungsgerichtlicher Kontrollbefugnisse dar, die nur in Ausnahmefällen die Feststellung von Gleichheitsverstößen zuließ. Die Reduktion des Gleichheitsgrundrechts auf ein Willkürverbot erfuhr daher zunehmend kritische Beurteilungen, in denen etwa vom „Minimalismus und Quietismus der Gleichheitskontrolle“278 oder der „Verharmlosung des Art. 3 GG zum Willkürverbot“279 die Rede war. Vor diesem Hintergrund entwickelte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in einem Beschluss vom 7. Oktober 1980280 die so genannte „neue Formel“, einen neben das traditionelle Willkürverbot tretenden gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab, auf den das Bundesverfassungsgericht seither in ständiger Rechtsprechung zurückgreift281 und der besagt: „[Der allgemeine Gleich277 St. Rspr., vgl. BVerfGE 1, 14, 52; 33, 44, 51 („irgendein sachlich vertretbarer zureichender Grund“); 68, 237, 250 („aus der Natur der Sache folgender oder sonstwie einleuchtender Grund“); 89, 132, 141 („vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund“). 278 Zacher, AöR 93 (1968), 341, 357. 279 Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), S. 139. 280 BVerfGE 55, 72. 281 Vgl. etwa BVerfGE 66, 234, 242; 68, 287, 301; 71, 39, 58 f.; 73, 301, 321; 75, 78, 105; 93, 386, 397; 2 BvL 17/99, 6.3.2002, Rn. 174; vgl. Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Anhang zu Art. 3, Rn. 6 ff.
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heitssatz] gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Demgemäß ist dieses Grundrecht vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.“282 Diese „neue Formel“ ist in der Folgezeit zum Gegenstand einer kontroversen Diskussion im verfassungsrechtlichen Schrifttum geworden. Ihre Bedeutung wird dabei durchaus unterschiedlich beurteilt. Die überwiegende Auffassung sieht in der Einführung der neuen Formel einen beachtlichen Fortschritt in der Interpretation des Gleichheitsgrundrechts, die Rede ist insoweit von der Einleitung einer „entscheidenden Weiterentwicklung der Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes“283. Vielfach wird die bedeutendste Neuerung darin gesehen, dass nunmehr der Aspekt der Verhältnismäßigkeit Eingang in die Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes gefunden habe.284 Andere285 sehen demgegenüber im sachlichen Gehalt der neuen Formel keinen wesentlichen Unterschied zur Willkürformel, da sich die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht aus dem Gleichheitssatz selbst, sondern aus dessen verfassungsrechtlichem Kontext286 ergebe. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass die nach dem Grundsatzbeschluss von 1980 entstandenen Zweifel daran, ob hiermit das Verhältnismäßigkeitsprinzip in die grundrechtliche Gleichheitsdogmatik integriert worden sei, mittlerweile als durch das Bundesverfassungsgericht geklärt gelten dürfen. Ausschlaggebend dafür ist das Urteil des Gerichts zur Altersgrenze für Vornamensänderungen bei Transsexuellen aus dem Jahre 1993.287 Es enthält in seiner zentralen gleichheitsrechtlichen, von Herzog288 als „neueste Formel“ bezeichneten Passage wichtige Klarstellungen und Präzisierungen zur Dogmatik des Gleichheitsgrundrechts, auf die im weiteren Verlauf der Untersuchung genauer einzugehen sein wird. Danach ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz „je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom 282
BVerfGE 55, 72, 88. Sachs, JuS 1997, 124, 130. 284 So z. B. Huster, JZ 1994, 541, 542: „Der dogmatische Neuansatz: Einbau des Verhältnismäßigkeitsprinzips in die Gleichheitsprüfung“ m. w. N. 285 Vgl. insbesondere Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 11 m. w. N.; siehe auch Kischel, AöR 124 (1999), 174, 190, mit dem Fazit: „Bei genauer Betrachtung war die Verhältnismäßigkeits- in der Willkürprüfung schon immer angelegt.“ 286 Hierzu sogleich ausführlicher unter 3. 287 BVerfGE 88, 87. 288 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Anhang zu Art. 3, Rn. 69. 283
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bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Die Abstufung der Anforderungen folgt aus Wortlaut und Sinn des Art. 3 Abs. 1 GG sowie aus seinem Zusammenhang mit anderen Verfassungsnormen. . . . Der unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums entspricht eine abgestufte Kontrolldichte bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung. Kommt als Maßstab nur das Willkürverbot in Betracht, so kann ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nur festgestellt werden, wenn die Unsachlichkeit der Differenzierung evident ist. Dagegen prüft das Bundesverfassungsgericht bei Regelungen, die Personengruppen verschieden behandeln oder sich auf die Wahrnehmung von Grundrechten nachteilig auswirken, im einzelnen nach, ob für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können.“289 Reicht demnach das gleichheitsrechtliche Spektrum gesetzgeberischer Grenzen vom bloßen Willkürverbot bis zur engen Bindung an Erwägungen der Verhältnismäßigkeit, so soll gleichwohl nicht grundsätzlich, sondern nur in Ausnahmefällen von der geringeren Kontrolldichte der Willkürformel abgewichen werden.290 Besondere Bedeutung gewinnt damit die Bestimmung der Kriterien für eine solche Verschärfung der Prüfungsanforderungen. Im Rahmen einer Analyse der zunehmenden Gradualisierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes ist darauf im Anschluss (unter 4.) näher einzugehen. Im Hinblick auf das Verhältnis von Willkürverbot und „neuer Formel“ bleibt hier zunächst zu konstatieren, dass die traditionelle Willkürformel durch die zum Teil neuen Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts seit 1980 nicht aufgegeben wurde, sondern nach wie vor den Ausgangspunkt der Prüfung des allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatzes bildet.291 3. Kontextbezug und Systemgerechtigkeit Im Bemühen um eine weitergehende Konkretisierung des Prüfungsmaßstabes des allgemeinen Gleichheitssatzes wird insbesondere die grundsätzliche Möglichkeit einer Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG im Kontext der Verfassung betont.292 Danach sind etwa die in der Verfassung zum Ausdruck kommenden Differenzierungsverbote, Differenzierungsgebote und Differenzierungserlaubnisse bei der Bestimmung der gleichheitsrechtlichen 289
BVerfGE 88, 87, 96 f. Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 44; vgl. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 25 ff.; Söllner, Die Bedeutung des Gleichberechtigungsgrundsatzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 11 f. 291 Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 25, spricht insofern von einer „Ergänzung“ des Willkürverbots; vgl. Krugmann, JuS 1998, 7, 12. 290
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Prüfungsintensität zu berücksichtigen.293 In diesem Sinne wird für die als möglich erachtete Differenzierung des Prüfungsmaßstabes vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse vom Bundesverfassungsgericht wie gesehen auch ausdrücklich auf die Bedeutung des „Zusammenhangs mit anderen Verfassungsnormen“294 hingewiesen. Der Bezug des allgemeinen Gleichheitssatzes zum Gesamtkontext der Verfassung stellt somit eine Grundlage für die Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG dar, die im konkret zu entscheidenden Falle jeweils nach unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben auszurichten ist. Ob damit allerdings durchgängig eine „zuverlässige Bestimmung dessen, was im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 als Willkür anzusprechen ist“295 verbunden ist, erscheint zweifelhaft.296 Somit sind weitere Kriterien für den Fall zu ermitteln, dass auch die Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes im Kontext der Gesamtverfassung zu keiner ausreichenden Konkretisierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes führt. Als weiteres Kriterium hat sich dasjenige der Systemgerechtigkeit297 herausgebildet, das man – präziser – auch als Konsequenzgebot bezeichnen könnte. Danach ist eine genauere Prüfung vorzunehmen, das heißt ein strengerer Prüfungsmaßstab als bei der reinen Willkürkontrolle anzulegen, sofern der Gesetzgeber ein von ihm selbst gewähltes und ausgestaltetes Regelungssystem durchbrechen will. Damit stellt systemwidriges Handeln des Gesetzgebers nicht automatisch einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz dar: Das Bundesverfassungsgericht sieht hierin vielmehr lediglich ein „Indiz“ für einen Gleichheitsverstoß298, das die erhöhte Prü292 So insbesondere Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 16 ff.; Zippelius, Der Gleichheitssatz, in: VVDStRL 47 (1989), S. 27 ff.; Robbers, DÖV 1988, 749, 753 f. 293 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 17 ff.; zustimmend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 387. 294 BVerfGE 88, 87, 96. 295 Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 3, Rn. 36. 296 In diesem Sinne auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 387, der die kontextbezogene Auslegung des allgemeinen Gleichheitssatzes grundsätzlich befürwortet, als Problem jedoch auf die Frage nach der Ermittlung hinreichend präziser Maßstäbe hinweist. 297 Zur Systembindung des Gesetzgebers im Rahmen des Gleichheitssatzes Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, S. 49 ff.; Kischel, AöR 124 (1999), 174, 193 ff.; Zippelius, Der Gleichheitssatz, in: VVDStRL 47 (1989), S. 27; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 44 ff.; Robbers, DÖV 1988, 749, 755 f.; kritisch Peine, Systemgerechtigkeit, mit kurzer Zusammenfassung auf S. 300. 298 BVerfGE 34, 103, 115; 59, 36, 49; vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Anhang zu Art. 3, Rn. 31. Aus jüngerer Zeit vgl. etwa BVerfG, 1 BvL 17/00, 10.10.2001, Rn. 54: „Systemwidrigkeit einer Regelung führt zwar allein noch nicht
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fungsintensität rechtfertigt. Dem Gesetzgeber wiederum wird durch den Gedanken der Systemgerechtigkeit eine besondere Begründungspflicht im Hinblick auf Durchbrechungen des von ihm selbst normierten Systems auferlegt.299 Wie hoch die Anforderungen an die systemimmanente Folgerichtigkeit der gesetzlichen Regelung im Einzelnen sind, wird vom Bundesverfassungsgericht uneinheitlich beantwortet.300 Zutreffend findet sich jedenfalls der Hinweis darauf, dass eine zu starre Befolgung des Systemgedankens zu einer „Verkrustung“301 führen könne, indem der Gesetzgeber an einer – möglicherweise politisch notwendigen – Neuorientierung und Umgestaltung gehindert werde. 4. Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes Inwiefern die sog. neue Formel des Bundesverfassungsgerichts auch dem Inhalt nach eine „neue“ Formel darstellt oder ob Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung immer schon in der Willkürprüfung angelegt waren ist, wie oben gezeigt, umstritten: Während das Verhältnismäßigkeitsprinzip nach einer Auffassung erst durch die „neue Formel“ in die Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes Eingang gefunden hat302, wird von anderen303 darauf verwiesen, dass sich dies bereits aus dem verfassungsrechtlichen Kontext ergebe, soweit Freiheitsrechte betroffen seien. Ungeachtet dieser Meinungsunterschiede und ungeachtet der in einzelnen Punkten bestehenden Unterschiede in der Rechtsprechung des Ersten und des Zweiten Senats304 ist jedoch eine übereinstimmende Tendenz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deutlich erkennbar, die eine Gradualisierung und Intensivierung des Prüfungsmaßstabs zum allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz zum Inhalt hat. Sofern als Prüfungsmaßstab allein das Willkürverbot anzuwenden ist, liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nur bei evidenter305 Unsachlichkeit der Differenzierung vor. Wie die neuere verfassungsrechtliche Gleichheitsjudikatur gezeigt hat, ist dem Inhalt des Gleichheitssatzes indes eine zur Annahme eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Die Systemwidrigkeit ist aber Indiz für einen solchen Verstoß.“ 299 Robbers, DÖV 1988, 749, 756. 300 Vgl. die Nachweise bei Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 100. 301 Vgl. BVerfGE 60, 16, 43; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 45. 302 So etwa Huster, JZ 1994, 541, 542 ff. 303 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 22. 304 Hierzu Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 30 ff. 305 Zum Evidenzmaßstab vgl. H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2105 f.
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abgestufte Kontrolldichte zu entnehmen, die sich in ihrer Prüfungsintensität zwischen den beiden genannten Polen des Willküransatzes und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bewegt. Entscheidend ist nun, welche Kriterien das Bundesverfassungsgericht zum Anlass für eine über das bloße Willkürverbot hinausgehende Kontrolle nimmt, in der es gemäß seiner 1980 entwickelten Formel überprüft, ob für die vorgesehene Differenzierung „Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“306. Zu konstatieren ist dabei zunächst, dass vom Bundesverfassungsgericht insofern keine generelle Lösung verfolgt wird, sondern eine Differenzierung nach unterschiedlichen, im Einzelnen recht heterogenen Gesichtspunkten erfolgt.307 Im Folgenden werden daher diejenigen Kriterien dargestellt, bei denen das Bundesverfassungsgericht auf der Basis abgestufter Kontrolldichte über die bloße gleichheitsrechtliche Willkürkontrolle hinausgeht. a) Personenbezogene oder sachverhaltsbezogene Differenzierungen Von Bedeutung ist zunächst, ob sich eine Ungleichbehandlung als personen- oder sachverhaltsbezogen darstellt. Personenbezogene Ungleichbehandlungen unterliegen regelmäßig einer strengeren Gleichheitskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht als sachverhaltsbezogene Differenzierungen. Insoweit stellt sich zunächst die Frage, weshalb der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum geringer, mithin eine strengere grundrechtliche Gleichheitsprüfung vorzunehmen sein soll, wenn verschiedene Personengruppen und nicht nur verschiedene Sachverhalte ungleich behandelt werden. Die Begründung ist im Zuge der oben dargestellten „neuen Formel“ entwickelt und seither vielfach in Bezug genommen worden: „Da der Grundsatz, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern soll, unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung.“308 Hingegen belasse der Gleichheitssatz „außerhalb des Verbots einer ungerechtfertigten Verschiedenbehandlung mehrerer Personengruppen . . . dem Gesetzgeber weitgehende Freiheit, Lebenssachverhalte . . . verschieden zu behandeln“309. 306
BVerfGE 55, 72, 88. Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 39; Kischel, AöR 124 (1999), 174, 190. Zur Wahl des Prüfungsmaßstabs im Einzelfall vgl. auch den Überblick bei Epping, Grundrechte, Rn. 616 ff. 308 BVerfGE 88, 87, 96 unter Verweis auf BVerfGE 55, 72, 88; BVerfG, 1 BvL 16/96, 15.3.2000, Rn. 73. 309 BVerfG, 1 BvR 1767/92, 19.9.1996, Rn. 4, unter Bezugnahme auf BVerfGE 55, 72, 89; 60, 329, 346. 307
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Betrachtet man die zuvor dargestellte verfassungsgerichtliche Unterscheidung genauer, so ergeben sich deutliche Schwierigkeiten, die „Personenbezogenheit“ einer Differenzierung oder ihre Zielrichtung auf „Personengruppen“ zu bestimmen. Beide Begriffe finden in der deutschen Gleichheitsrechtsprechung insbesondere ab 1980 zwar rege Verwendung, doch fehlt eine allgemeine Definition bislang gänzlich. Der Grund hierfür liegt indes nicht etwa im konzeptionellen, die Person in den Mittelpunkt stellenden Ansatz der Gleichheitsdogmatik: Vielmehr wird sich die enge Verbindung von Person und Gleichheit als ein Schwerpunkt der im weiteren Verlauf dieser Arbeit angestellten Untersuchungen zu den Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes herauskristallisieren. Die Ursache des zuvor konstatierten Problems ist hingegen, wie Sachs hervorhebt, struktureller Art, „sie liegt darin, daß sich letztlich jede noch so sachbezogene Regelung personenbezogen formulieren läßt, indem man auf die Personen abstellt, die ein bestimmtes sachliches Tatbestandsmerkmal verwirklichen“310. Es kann daher kaum überraschen, dass die Begriffe der „Personengruppe“ und der „Personenbezogenheit“ in der Literatur umstritten und vom Bundesverfassungsgericht bisher nicht eindeutig bestimmt worden sind.311 Ob eine überzeugende Abgrenzung überhaupt möglich ist, erscheint fraglich, da zu regelnde Sachverhalte immer in mehr oder weniger direktem Zusammenhang zu Personen stehen. Dieser Umstand zeigt sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das nunmehr eine strengere Gleichheitsprüfung nicht allein auf personenbezogene Differenzierungen beschränkt sehen will. Eine solche Intensivierung des Gleichheitsschutzes gelte vielmehr auch dann, wenn „eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt“312. Vor dem Hintergrund der somit konstatierten Schwierigkeiten einer Trennung von Personen- und Sachverhaltsbezug ist schließlich auf die Analyse der Gleichheitsrechtsprechung durch Kokott hinzuweisen, die Beispiele und Gegenbeispiele für personenbezogene Differenzierungen zusammengestellt hat und dabei zu dem – zurückhaltend formulierten – Ergebnis gelangt, dass „für die Einordnung mitunter durchaus Spielraum besteht“313. Angesichts solcher vagen Konturen, die eine gleichheitsrechtliche Operationalisierung des Kriteriums „Personenbezug“ erschweren, rückt zunehmend ein weiteres Kriterium für die Maßstäbe der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung in den Vordergrund, das sich auf die Möglichkeit ausweichenden Verhaltens be310
Sachs, JuS 1997, 124, 128. Vgl. etwa Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 27 ff.; Bryde/ Kleindiek, Jura 1999, 36, 40. 312 BVerfG, 1 BvR 2337/00, 3.7.2001, Rn. 40. 313 Kokott, Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 134. 311
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zieht und insoweit maßgeblich auf den von einer Ungleichbehandlung nachteilig Betroffenen abstellt. b) Verhaltensbezogene Merkmale: Grad der Einflussnahmemöglichkeit Bei verhaltensbezogenen Differenzierungsmerkmalen legt das Bundesverfassungsgericht seit der Entwicklung der neuen Formel eine abgestufte gleichheitsrechtliche Kontrolldichte zu Grunde. Hier soll die Strenge des Prüfungsmaßstabs im Wesentlichen davon abhängen, „inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird“314. Die Intensität des grundrechtlichen Gleichheitsschutzes ist umso größer, je weniger der Einzelne nachteilige Folgen durch eigenes Verhalten vermeiden kann.315 So hat das Bundesverfassungsgericht etwa die Ungleichbehandlung von Seeleuten nach ihrem Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Ausland einer „relativ strengen“ Kontrolle unterzogen, da die in Rede stehenden Differenzierungskriterien von den Betroffenen praktisch nur schwer verändert werden könnten.316 Auf den hinter diesen Überlegungen stehenden Autonomiebezug, auf theoretische Ableitung und Berechtigung des so skizzierten – verfassungsgerichtlich zumeist weitgehend begründungsfrei formulierten – Ansatzes wird bei der Untersuchung der Dimensionen des Gleichheitsschutzes ausführlich zurückzukommen sein. Bereits an dieser Stelle ist jedoch auf einen Umstand hinzuweisen, der für das Verhältnis des hier dargestellten Kriteriums zu jenem der Personengruppe (a) ebenso gilt wie für das Verhältnis zu den nachfolgend unter (c) erörterten Kriterien: Von einer trennscharfen Abgrenzung der Kriterien weit entfernt, ist die Rechtsprechung insoweit durch eine „verwirrende Vielfalt von parallelen oder ergänzenden Ansätzen materieller Bewertung von Ungleichbehandlungen“317 gekennzeichnet. Eine tragfähige dogmatische Konturierung der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung soll im Rahmen des vierten Teils dieser Arbeit vorgenommen werden. An dieser Stelle bleibt indes bereits festzuhalten, dass Erwägungen zum Grad der Beeinflussbarkeit eines Differenzierungskriteriums in enger Verbindung zu den personenbezogenen Kriterien unter (a) stehen. So nimmt etwa mit erhöhtem Personenbezug eines Differenzierungsmerkmals die Leichtigkeit der individuellen Einflussnahme und damit der Grad der Beeinflussbarkeit beständig ab – der „An314 315 316 317
BVerfG, 1 BvR 142/96, 4.9.2000, Rn. 8. BVerfGE 88, 5, 12. BVerfGE 92, 26, 52. Kallina, Willkürverbot und Neue Formel, S. 86.
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satz über das personenbezogene Merkmal berücksichtigt, daß es einem Menschen umso schwerer fällt, sich einer Differenzierung zu entziehen, je persönlicher er von dem differenzierenden Merkmal geprägt ist“318. Ob deshalb, wie bisweilen vertreten, die Trennung von personenbezogenen und nicht personenbezogenen Merkmalen ebenso wie die differenzierte Berücksichtigung von Personengruppen und Sachverhalten insgesamt aufzugeben ist zu Gunsten des Kriteriums der Beeinflussbarkeit, bedarf hier im Rahmen des Rechtsprechungsvergleichs noch nicht der Entscheidung. Doch wird deutlich, dass im Hinblick auf die Maßstäbe der Gleichheitsprüfung ganz erheblicher dogmatischer Klärungsbedarf besteht: Anderenfalls droht die von Sachs zur Einführung der neuen Formel geäußerte Befürchtung bestätigt zu werden, wonach sich diese Entwicklung bei näherer Betrachtung nicht nur als untauglich erwiesen habe, die Grundlage einer schematischen Zweiteilung auf der Maßstabsseite zu bilden, sondern in sich unausgereift sei und „wohl auch bei weiteren Bemühungen nicht zu einem ohne weiteres griffigen Instrumentarium fortentwickelt“319 werden könne. c) Annäherung von Merkmalen an die des Art. 3 Abs. 3 GG Der Prüfungsmaßstab soll weiterhin dort über die bloße Evidenzkontrolle des Willkürverbotes hinausgehen, wo das Differenzierungskriterium den besonderen Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG vergleichbar erscheint. So führt das Bundesverfassungsgericht aus, die Bindung des Gesetzgebers an Verhältnismäßigkeitserfordernisse sei „um so enger, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, daß eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt.“320 Nähere Erläuterungen dazu, was unter einer solchen „Annäherung“ zu verstehen sei, fehlen. Betrachtet man die Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG im Hinblick auf eine gemeinsame Qualität, die Aufschluss darüber geben könnte, ob sich ein Differenzierungsmerkmal hieran „annähert“, so zeigen sich erneut Überschneidungen zu den zuvor bereits behandelten Kriterien. Insbesondere die fehlende Verfügbarkeit für den Einzelnen ist kennzeichnend für die meisten der aufgezählten Merkmale: Weder Geschlecht, Abstammung und Rasse noch Sprache, Heimat oder Herkunft stehen zur Disposition des von einer Regelung Betroffenen. Hingegen können die religiösen und politischen Anschauungen zwar individuell beeinflusst werden, dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen wird diesbezüglich jedoch ein so hoher Wert beigemes318 319 320
Kallina, Willkürverbot und Neue Formel, S. 104. Sachs, JuS 1997, 124, 127 f. BVerfGE 88, 87, 96.
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sen, dass sie den nicht disponiblen Merkmalen gleichzustellen sind.321 Insgesamt gewähren die besonderen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG damit erhöhten grundrechtlichen Gleichheitsschutz vor Differenzierungen, die die benachteiligten ungleich Behandelten mit faktisch oder zumutbarerweise unausweichlichen Konsequenzen belasten.322 So verhält es sich etwa bei dem Unterscheidungskriterium „Alter“, dessen Verwendung die hieran geknüpfte Rechtsfolge für den Betroffenen unausweichlich macht. Das Kriterium der Annäherung an die Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG markiert demnach einen Pol des unter (b) aufgeführten Kontinuums von Graden individueller Beeinflussbarkeit, der einen besonders intensiven grundrechtlichen Gleichheitsschutz auslöst. d) Gewicht der Freiheitsgrundrechte Vom Bundesverfassungsgericht wird zudem betont, dass dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt seien, je stärker sich eine Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten nachteilig auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann.323 Diese bereits vor der „neuen Formel“ entwickelte Rechtsprechung modifiziert damit den Prüfungsmaßstab des allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatzes durch die Berücksichtigung von verfassungsrechtlichen Wertungen der Freiheitsgrundrechte und ermöglicht so eine abgestufte, über das bloße Willkürverbot hinausgehende Kontrolldichte.324 Wirken sich Regelungen demnach „auf die Wahrnehmung von Grundrechten nachteilig aus, prüft das Bundesverfassungsgericht im einzelnen nach, ob für die vorgenommene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können“325. Im Gegensatz zu den bislang dargestellten, vielfach umstrittenen Kriterien für die Maßstäbe der Gleichheitsprüfung hat die verfassungsgerichtliche Berücksichtigung des Gewichts der Freiheitsgrundrechte im Grundsatz ganz überwiegend Zustimmung erfahren.326 Allerdings wird die Untersuchung der freiheitsbezogenen Dimension grundrechtlichen Gleich321
Hierzu Sachs, JuS 1997, 124, 129. Sachs, JuS 1997, 124, 129. 323 BVerfGE 91, 346, 363; 92, 53, 69. 324 Vgl. Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 43; Kischel, AöR 124 (1999), 174, 190; Söllner, Die Bedeutung des Gleichberechtigungsgrundsatzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 11. 325 BVerfG, 1 BvR 2161/94, 19.1.1999, Rn. 51. 326 Vgl. etwa Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 32: „Mit begrüßenswerter Deutlichkeit tritt jetzt die entscheidende Verbindung des Gleichheitssatzes mit den Freiheitsgrundrechten in den Vordergrund.“ 322
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heitsschutzes deutlich machen, dass auch in diesem Zusammenhang Unklarheiten bestehen: Unklarheiten, die sich insbesondere auf den Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in seiner gleichheitsrechtlichen Ausprägung sowie das Verhältnis zu den Freiheitsrechten beziehen und die es dogmatisch genauer zu durchdringen gilt. e) Sozialstaatsprinzip Schließlich kann bei der Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG zu berücksichtigen sein. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf den Gesetzgeber wiederholt betont, dass diesem im Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung327 und auf dem Gebiet des Sozialrechts328 grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt. Deutlich über die Evidenzkontrolle des Willkürverbotes hinaus geht jedoch die zunächst in einem Sondervotum329 vertretene Ansicht, dass bei Regelungen, die Fragen der sozialen Sicherung zum Gegenstand haben, die Einwirkung des Sozialstaatsprinzips zu beachten und eine gesteigerte Prüfungsintensität anzuwenden sei.330 In diesem Zusammenhang ist umstritten, wie weit der Gehalt des Art. 3 Abs. 1 GG über das formelle Gebot der Rechtsgleichheit hinaus in einem materiellen Sinne auf die Angleichung der faktischen Verhältnisse auszudehnen ist. Nach einer Auffassung ist der allgemeine Gleichheitssatz dabei zu begrenzen auf das Gebot rechtlicher Gleichheit, da der Gedanke des sozialen Ausgleichs bereits im Sozialstaatsprinzip seinen Ausdruck gefunden habe331, das allerdings insoweit keine einklagbaren subjektiven Rechte vermittelt. Gegen die Annahme von direkt aus Art. 3 Abs. 1 GG herzuleitenden Rechten spricht nach dieser Ansicht insbesondere die inhaltliche Unbestimmtheit, die sowohl für den allgemeinen Gleichheitssatz als auch für 327
Etwa BVerfGE 50, 290, 338. BVerfGE 81, 156, 205. 329 Abweichende Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 36, 237, 247 ff. 330 Abweichende Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 36, 237, 248: „Jedenfalls darf sich bei Regelungen, die wie hier Fragen der sozialen Sicherung zum Gegenstand haben, die verfassungsrechtliche Prüfung nicht mit dem allgemeinen restriktiven, auf das Willkürverbot reduzierten Verständnis des Art. 3 Abs. 1 GG begnügen; vielmehr ist die Einwirkung des Sozialstaatsprinzips zu beachten.“ Vgl. auch BVerfGE 39, 316, 326 ff. 331 Gusy, JuS 1982, 30, 32; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 3 ff.; ders., Die Anwendung des Gleichheitssatzes, S. 55 ff., 67 ff.; ders., Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 47 (1989), S. 79 f.; vgl. Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 200 ff.; Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, S. 43 f. 328
2. Kap.: Allgemeiner Gleichheitssatz
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das Sozialstaatsprinzip charakteristisch sei. Der Rechtsprechung dürfe jedoch nicht die Aufgabe zukommen, selbst Sozialpolitik zu betreiben und damit in die Kompetenz des Gesetzgebers einzugreifen.332 Auch im Zusammenhang mit dem grundrechtlichen Gleichheitssatz sollen sich daher aus dem Sozialstaatsprinzip keine Leistungsansprüche ergeben333, vielmehr ist es Aufgabe des Gesetzgebers, für die Ausgestaltung der Sozialordnung zu sorgen. Erst im Kontext eines solchermaßen geschaffenen gesetzlichen Regelungssystems kann dieser Auffassung zufolge ein justitiabler gleichheitsrechtlicher Prüfungsmaßstab zu Grunde gelegt werden, der sich aus den oben dargelegten Grundsätzen der Systemgerechtigkeit bzw. des Konsequenzgebots ergibt. Im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen Position wird von anderen der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in stärkerem Maße mit der tendenziellen Angleichung auch der tatsächlichen Verhältnisse in Verbindung gebracht und somit der Gedanke der ausgleichenden Gerechtigkeit betont334, der grundsätzlich auch subjektive Rechte begründen und den Staat unter Umständen zur Verringerung bestehender tatsächlicher Unterschiede verpflichten könne. Nach dieser Auffassung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Menschen angesichts der bestehenden sozialen Unterschiede in der Gesellschaft auch durch formal gleiches Recht in erheblich unterschiedlichem Maße betroffen sein können335, weshalb eine prinzipielle Beschränkung des Prüfungsmaßstabes von Art. 3 Abs. 1 GG auf die formale, rechtliche Gleichheit abzulehnen sei. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wiederum ist uneinheitlich.336 Zum Teil wird formuliert, der grundrechtliche Gleichheitssatz gebiete dem Gesetzgeber nicht, eine Regelung zu treffen, die „verhindert, daß ungleiche Sachverhalte, der bestehenden Ungleichheit entsprechend, zu verschiedenen Rechtsfolgen führen“337. Andererseits findet sich der Hinweis zu Art. 3 Abs. 1 GG, dass „sich der Gesetzgeber grundsätzlich nicht damit begnügen [darf], vorgefundene tatsächliche Unterschiede ohne wei332
Starck, Die Anwendung des Gleichheitssatzes, S. 68. Starck, Diskussionsbeitrag, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, S. 109 f. 334 Vgl. H.-P. Schneider, Diskussionsbeitrag, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, S. 86 f.; ders., Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 47 (1989), S. 106 f.; Hesse, Diskussionsbeitrag, in: Link (Hrsg.), a. a. O., S. 77 f.; Häberle, Diskussionsbeitrag, in: Link (Hrsg.), a. a. O., S. 84; Zacher, AöR 93 (1968), 341, 382 f.; differenzierend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 380 ff.; allgemein Ritsert, Gerechtigkeit und Gleichheit, S. 81 f. 335 H.-P. Schneider, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 47 (1989), S. 106 f. 336 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 381. 337 BVerfGE 9, 237, 244. 333
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teres hinzunehmen; sind sie mit den Erfordernissen der Gerechtigkeit unvereinbar, so muß er sie beseitigen.“338 Hinsichtlich der im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes anzulegenden Prüfungsintensität wird das Gleichheitsgrundrecht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls ergänzt durch das im Sozialstaatsprinzip enthaltene Gebot, sozialen Ausgleich herzustellen. Kriterien für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen können sich somit auch aus der Berücksichtigung der Staatszielbestimmung des Art. 20 Abs. 1 GG ergeben. Darauf hat das Gericht in jüngerer Zeit noch einmal ausdrücklich hingewiesen indem es feststellte: „Der Gesetzgeber konnte sich bei seiner Entscheidung schließlich auch auf den Sozialstaatsgrundsatz berufen. Allerdings stellt dieser Verfassungsgrundsatz den Gesetzgeber nicht von der Beachtung des Gleichbehandlungsgebots frei. Aus dem Sozialstaatsprinzip können sich aber rechtfertigende Gründe für eine differenzierende Regelung ergeben.“339 f) Zusammenfassung Wie die aufgeführten unterschiedlichen Kriterien zunächst zeigen, beschränkt sich die verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in Deutschland im Hinblick auf den Prüfungsmaßstab nicht auf eine Zweiteilung zwischen besonderen Gleichheitssätzen einerseits und allgemeinem grundrechtlichen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG andererseits. Vielmehr ist eine Gradualisierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabs auch innerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG festzustellen. Eine Diskussion hierüber erfolgte, wie gezeigt, insbesondere ab 1980 vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die Bedeutung der „neuen Formel“ des Bundesverfassungsgerichts, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein. Allerdings ist eine zunehmende Differenzierung des Prüfungsmaßstabs über die traditionelle Evidenzkontrolle des Willkürverbotes hinaus bereits vor 1980 festzustellen340, so etwa bei grundrechtlichen Freiheitsbeeinträchtigungen durch Ungleichbehandlungen, die schon zuvor zu einer strengeren Gleichheitsprüfung führten. In der neueren Rechtsprechungsentwicklung sind schließlich weitere Kriterien hinzugekommen, die eine erhöhte Prüfungsintensität zur Folge haben, ohne dass von einem abgeschlossenen Prüfungssystem gesprochen werden könnte. Insofern ist der Anwendungsbereich der unterschiedlichen Gleichheitsmaßstäbe „wegen sich überlagernder Faktoren teils schwierig abzugrenzen“341. 338
BVerfGE 3, 58, 158. BVerfG, 1 BvL 2/91, 2.3.1999, Rn. 88. 340 Vgl. Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 43. 341 Kokott, Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 162. 339
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Umstritten bleibt, ob diese zunehmende Differenzierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabs mit dem Inhalt der sog. neuen Formel zu begründen ist oder bereits in der traditionellen Willkürformel enthalten war. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Gleichheitssatz zeigt jedenfalls, dass nach wie vor grundsätzlich von der engen Willkürkontrolle auszugehen, das heißt eine Überprüfung dahingehend vorzunehmen ist, ob für eine Differenzierung oder Gleichbehandlung (irgend)ein sachlicher Grund besteht. Erst das (ausnahmsweise) Vorliegen bestimmter, zuvor dargestellter Kriterien führt dann gegebenenfalls zu erhöhten Prüfungsanforderungen, die ihrerseits eine unterschiedliche Intensität aufweisen. Damit ist festzustellen, dass eine kasuistische Fortentwicklung der ursprünglichen, restriktiv interpretierten Willkürformel hin zu einer gleitenden Skala unterschiedlich abgestufter Anforderungen im Bereich des allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatzes stattgefunden hat, die eine abgestufte Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts bei der Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG impliziert. II. Vereinigte Staaten von Amerika 1. Ausgangspunkt: Rational Basis Test Bei der Überprüfung von Akten öffentlicher Gewalt auf ihre Verfassungsmäßigkeit unterscheidet der U.S. Supreme Court im Hinblick auf die equal protection-Klausel des 14. Amendment zwischen verschiedenen Prüfungsmaßstäben. Bis in die sechziger Jahre wurde dabei nahezu ausschließlich der als „Rational Basis Test“ bezeichnete342, traditionelle Prüfungsmaßstab angewendet. Dieser ist auch heute noch Ausgangspunkt der amerikanischen Gleichheitsrechtsprechung. a) Inhaltsbestimmung aa) Geringe Prüfintensität Der Rational Basis Test stellt nur geringe Anforderungen an staatliche Maßnahmen, die auf ihre Vereinbarkeit mit der Gleichheitsgarantie des 14. Amendment geprüft werden. Gefordert wird lediglich, dass die vorgenommene Klassifizierung eine rationale Beziehung zu einem legitimen öffentlichen Interesse hat343 bzw. eine Tatsachenlage vernünftigerweise vorstellbar ist, die die Klassifizierung rechtfertigt344. Wie der U.S. Supreme Court 342 Verwendet wird zudem der Begriff „Minimum Rationality Test“, vgl. etwa Tribe, American Constitutional Law, S. 1445.
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in jüngerer Zeit erneut bekräftigt hat, ist für das Verhältnis von legitimem Zweck und Klassifizierung eine „razorlike precision“ nicht erforderlich: „As we have explained, when conducting rational basis review ‚we will not overturn such government action unless the varying treatment of different groups or persons is so unrelated to the achievement of any combination of legitimate purposes that we can only conclude that the government’s actions were irrational.‘ “345 Der Rational Basis Test belässt dem Hoheitsträger demnach einen weiten Beurteilungsspielraum, da letztlich für die Verfassungsmäßigkeit einer Maßnahme irgendeine nicht willkürliche Förderung eines Gemeinwohlinteresses genügt.346 In diesem Sinne urteilte der U.S. Supreme Court: „Judicial inquiry does not concern itself with the accuracy of the legislative finding, but only with the question whether it so lacks any reasonable basis as to be arbitrary.“347 Auf der Grundlage dieser geringen gleichheitsrechtlichen Prüfungsintensität wird zudem vermutet, dass ein Gesetz verfassungsgemäß ist.348 Damit trägt der Kläger die Beweislast dafür, dass einer hoheitlichen Maßnahme jegliche „reasonable basis“ fehlt. Welche hohen Anforderungen demzufolge an das Vorbringen des Klägers gerichtet werden, zeigen jene dem Rational Basis Test typischerweise zu Grunde gelegten Formulierungen, wonach „the burden is on the one attacking the legislative arrangement to negative every conceivable basis which might support it, whether or not the basis has a foundation in the record“349. Insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, dem Hauptanwendungsfall des Rational Basis Test, hat sich der U.S. Supreme Court für einen äußerst durchlässigen gleichheitsrechtlichen Prüfungsstandard entschieden. Als Grund hierfür wird etwa angeführt, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers sei und die Verfassung der Gerichtsbarkeit insoweit nicht die Befugnis verleihe, über deren angemessen Inhalt zu entscheiden.350
343 Kadrmas v. Dickinson Public Schools, 487 U.S. 450, 462 (1988); New Orleans v. Dukes, 427 U.S. 297, 303 (1976); Cohen/Varat, Constitutional Law, S. 671; Polyviou, The Equal Protection of the Laws, S. 30 ff. 344 Vgl. Bowen v. Gilliard, 483 U.S. 587, 601 (1987) unter Verweis auf McGowan v. Maryland, 366 U.S. 420, 426 (1961). 345 Kimel v. Florida Board of Regents, 120 S.Ct. 631, 646 (2000). 346 Vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 35; Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 162 f. 347 Borden’s Farm Products Co. v. Ten Eyck, 297 U.S. 251, 263 (1936). 348 Vgl. Parham v. Hughes, 441 U.S. 347, 351 (1979). 349 Heller v. Doe, 509 U.S. 312, 320 f. (1993) unter Verweis auf Lehnhausen v. Lake Shore Auto Parts Co., 410 U.S. 356, 364 (1973).
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Dieser Grundgedanke, Maßnahmen des Gesetzgebers nur daraufhin zu überprüfen, ob sie als gänzlich willkürlich („purely arbitrary“351) erscheinen, wird auch vom Chief Justice des U.S. Supreme Court, William H. Rehnquist, geteilt, der zu den hier interessierenden inhaltlichen Anforderungen des Rational Basis Test 1980 in U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz352 Stellung nahm. Dabei ging es um die Verfassungsmäßigkeit eines Bundesgesetzes, das nur einigen pensionierten Eisenbahnarbeitern doppelte Leistungen versprach. Rehnquist führte aus: „In jüngerer Zeit . . . hat es das Gericht in Fällen, in denen es um soziale und wirtschaftliche Leistungen ging, durchgängig abgelehnt, Gesetze aufgrund der equal protection-Klausel für verfassungswidrig zu erklären, die es lediglich für unklug . . . hielt. . . . Wenn man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall anwendet, so bildet der schlichte Wortlaut [des Gesetzes] den Anfang und das Ende unserer Untersuchung. . . . Wo es, wie hier, plausible Gründe für das Tätigwerden des Kongresses gibt, ist unsere Untersuchung zu Ende.“353 Diese Selbstbeschränkung des Gerichts auf eine bloße Willkürprüfung im Rahmen des Rational Basis Test ist in der amerikanischen Literatur nicht unumstritten354, in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court jedoch auch in der Folgezeit wiederholt bekräftigt worden.355 bb) Underinclusiveness/Overinclusiveness Ein weiterer Grund für die „Zahnlosigkeit“356 des Rational Basis Test besteht darin, dass für die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung die im amerikanischen Verfassungsrecht als „underinclusion“ bzw. 350 Vgl. etwa Dandridge v. Williams, 397 U.S. 471, 485 f. (1970), wonach der Prüfungsstandard des Rational Basis Test „is a standard that is true to the principle that the Fourteenth Amendment gives the federal courts no power to impose upon the States their views of what constitutes wise economic or social policy.“ 351 Lindsley v. Natural Carbonic Gas Co., 220 U.S. 61, 78 f. (1911), wonach ein Verstoß gegen die equal protection-Klausel vorliegt, wenn die fragliche Maßnahme „is without any reasonable basis, and therefore is purely arbitrary“; als Formulierungen werden in diesem Zusammenhang zudem die Begriffe „unreasonable“, „irrational“, „irrelevant“ oder „invidious“ verwandt, vgl. Knapp, JöR 23 (1979), 421, 435. 352 U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz, 449 U.S. 166 (1980). 353 U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz, 449 U.S. 166, 175 ff. (1980). 354 Vgl. zur Kritik an den geringen Anforderungen durch die bloße Überprüfung der „reasonableness of legislation“ Cohen/Varat, Constitutional Law, S. 680 m. w. N. 355 So etwa 1992 in Nordlinger v. Hahn, 505 U.S. 1, 11 („In general, the Equal Protection Clause is satisfied so long as there is a plausible policy reason for the classification“); Federal Communications Commission v. Beach Communications, Inc., 508 U.S. 307, 313 f. (1993). 356 Vgl. Cohen/Varat, Constitutional Law, S. 690.
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„overinclusion“ bezeichneten Fälle im Rahmen des gleichheitsrechtlichen Rationalitätsstandards regelmäßig ohne Bedeutung sein sollen.357 Underinclusiveness liegt vor, wenn sich eine gesetzliche Regelung auf einen Teil, aber nicht auf alle Mitglieder einer Personengruppe bezieht, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden. Von overinclusiveness ist hingegen die Rede, wenn eine gesetzliche Klassifizierung nicht nur vergleichbare Personen oder Sachverhalte erfasst, sondern sich auch auf andere, unvergleichbare Sachverhalte erstreckt.358 Im ersten Fall werden somit im Hinblick auf das Regelungsziel gleichgelagerte Sachverhalte nicht einbezogen, im zweiten Fall anders gelagerte, vom Regelungsziel nicht erforderte Sachverhalte gleichwohl betroffen. Unter dem Aspekt der Gleichbehandlung soll es nunmehr mit dem Rationalitätsstandard regelmäßig vereinbar sein, dass entsprechende Klassifizierungen im Hinblick auf das mit dem Gesetz verfolgte Ziel zu eng oder zu weit gefasst sind.359 Ein schrittweises Vorgehen des Gesetzgebers wird hierbei akzeptiert, da dieser nicht sämtliche Probleme zugleich angehen müsse bzw. bei Neuregelungen hinreichenden Spielraum benötige: „The problem of legislative classification is a perennial one, admitting of no doctrinaire definition. Evils in the same field may be of different dimensions and proportions, requiring different remedies. . . . Or the reform may take one step at a time, adressing itself to the phase of the problem which seems most acute to the legislative mind. The legislature may select one phase of one field and apply a remedy there, neglecting the others.“360 Mit diesem Ansatz werden dem Kläger zugleich mehrere Argumentationsmöglichkeiten im Rahmen des grundrechtlichen Gleichheitssatzes deutlich erschwert. So kann er sich regelmäßig nicht darauf berufen, einer Gruppe anzugehören, deren Einbeziehung in eine gesetzliche Regelung über den hiermit verfolgten Zweck hinausgeht. Andererseits reicht auch bei Zugehörigkeit zu einer durch gesetzliche Regelung belasteten Gruppe für den Rational Basis Test grundsätzlich nicht die Berufung darauf aus, dass die für den Gesetzeszweck erforderliche Einbeziehung anderer unterblieben sei. Dem Gesetzgeber wird somit ein weiter Gestaltungsspielraum im Hinblick darauf überlassen, in welcher Weise der mit einer Regelung verfolgte Zweck erreicht werden soll, was insbesondere mit der Komplexität der bei 357 Ausführlich Tribe, American Constitutional Law, S. 1446 ff.; Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 165 f. 358 Vgl. Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 460; Tribe, American Constitutional Law, S. 1446 ff. 359 Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 165. 360 Williamson v. Lee Optical Co., 348 U.S. 483, 489 (1955).
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der politischen Abwägung einzustellenden Belange begründet wird, weshalb richterliche Zurückhaltung bei der Bewertung dieser Aspekte geboten sei: „We do not sit as a super-legislature to determine the wisdom, need, and propriety of laws that touch economic problems, business affairs, or social conditions.“361 Fälle der under- oder overinclusion, das wird im weiteren Verlauf der Arbeit näher zu beleuchten sein, vermögen vor dem Hintergrund strengerer Prüfungsmaßstäbe einen Verstoß gegen das Gleichheitsgrundrecht durchaus zu begründen. Im Rahmen des Rational Basis Test hingegen hält der U.S. Supreme Court diese regelmäßig für gleichheitskonform und stellt besonders hohe Anforderungen an den Kläger um nachzuweisen, die überprüfte Regelung sei „so underinclusive or overinclusive as to be irrational“362 cc) Problematik des „legitimen Zwecks“ Wenn somit, wie dargestellt, das Verhältnis von Zweck und Mittel im Rahmen des Rational Basis Test weitgehend der Justiziabilität entzogen ist und eine bloße Willkürkontrolle erfolgt, so erklärt dies, weshalb seine Anwendung im Ergebnis regelmäßig zur Annahme der Verfassungsmäßigkeit der überprüften Maßnahme führt.363 Umso mehr kommt denjenigen Entscheidungen besondere Bedeutung zu, in denen ausnahmsweise eine staatliche Maßnahme unter Anwendung dieses weiten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes für verfassungswidrig erklärt wurde. Bei der Betrachtung jüngerer Rechtsprechung des U.S. Supreme Court ist in diesem Zusammenhang insbesondere die umstrittene Entscheidung Romer v. Evans364 aus dem Jahre 1996 von Interesse, in der vor allem die gegenwärtigen Auseinandersetzungen innerhalb des U.S. Supreme Court hinsichtlich der Anwendung des Rational Basis Test zum Ausdruck kommen. In Romer v. Evans ging es um eine Verfassungsänderung im Staat Colorado zum Nachteil Homosexueller. Ausgangspunkt waren Verordnungen der 361
Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479, 482 (1965). Burlington Northern R. Co. v. Ford, 504 U.S. 648 (1992). Der Gerichtshof betont hierbei die Beweislast des Klägers „of showing that the underinclusiveness and overinclusiveness of Montana’s venue rules is so great that the rules can no longer be said rationally to implement Montana’s policy judgment“, 504 U.S. 648, 653 (1992). 363 Vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 35; Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 168; Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 450. 364 Romer v. Evans, 517 U.S. 620 (1996), teilweise abgedruckt in EuGRZ 1997, 624 ff. 362
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Städte Aspen, Boulder und Denver, die Schutz vor Diskriminierungen, etwa im Bereich des Wohnungswesens, der Arbeitsverhältnisse und der Erziehung gewährten. Hierdurch sollten unter anderem auch Homosexuelle geschützt werden. Gegen diese Antidiskriminierungsregelungen initiierte eine Vereinigung namens „Colorado for Family Values“ ein Referendum über einen Zusatz zur Verfassung des Staates Colorado, der 1992 mit der erforderlichen Mehrheit angenommen wurde. Inhalt dieses Verfassungszusatzes ist das generelle Verbot, Regelungen zu erlassen, anzunehmen oder durchzusetzen, wonach „homosexuelle, lesbische oder bisexuelle Orientierung . . . die Grundlage für irgendeinen Minderheitenstatus, bevorzugende Quotenregelungen, einen geschützten Status oder eine Behauptung, diskriminiert zu werden, bilden“. Über die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung hatte der U.S. Supreme Court zu entscheiden. Im Ergebnis erkannte das Gericht in dem Verfassungszusatz einen Verstoß gegen die equal protection-Klausel des 14. Amendment der Bundesverfassung, wobei die Mehrheitsentscheidung von 6 Richtern365 getragen wurde, während sich der abweichenden Meinung von Justice Scalia mit Chief Justice Rehnquist und Justice Thomas zwei weitere Richter anschlossen. Zur Begründung der Entscheidung wurde zunächst bekräftigt, dass nach dem weiten Rational Basis Test eine gesetzgeberische Klassifizierung bereits dann aufrechterhalten wird, wenn sie einen rational nachvollziehbaren Bezug zu einem legitimen Zweck aufweist.366 Auch diesen geringen gleichheitsrechtlichen Prüfungsanforderungen wird die genannte Regelung nach Auffassung des Mehrheitsvotums jedoch nicht gerecht. Hierfür wird maßgeblich auf ein bereits 1973367 vom U.S. Supreme Court formuliertes Argument abgestellt und dessen Geltung im Rahmen des Rational Basis Test bekräftigt: „Falls die Vorstellung der Verfassung von einem ‚gleichen Schutz durch die Gesetze‘ überhaupt etwas bedeutet, dann zumindest, dass ein unverhüllter . . . Wunsch, einer politisch unliebsamen Gruppe Schaden zuzufügen, kein legitimes staatliches Interesse darstellen kann.“368 Die getroffene Regelung wird damit als Klassifizierung um ihrer selbst willen betrachtet369, für die es an einem weitergehenden, legitimen Zweck fehle. Deutlich wird in dem Mehrheitsvotum das Bestreben der Richtermehrheit, den Inhalt des Verfassungszusatzes, nämlich Antidiskriminierungs365 Die Mehrheitsentscheidung wurde getroffen von den Richtern Kennedy, Stevens, O’Connor, Souter, Ginsburg und Breyer. 366 Romer v. Evans, EuGRZ 1997, 624, 626. 367 In: United States Department of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528 (1973). 368 United States Department of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528, 534 (1973). 369 Romer v. Evans, EuGRZ 1997, 624, 627 f.
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regeln zugunsten einzelner Gruppen zu verhindern, auf seine Zweckhaftigkeit hin zu untersuchen. Im Ergebnis wird dabei festgestellt, dass die getroffenen Regelungen nur unter einem Aspekt erklärbar seien, und zwar der Animosität gegen die betroffene Personengruppe370, was für sich genommen keinen legitimen Zweck im Sinne des Rational Basis Test darstelle. Die abweichende Meinung der Richter Scalia, Rehnquist und Thomas betrachtet den Verfassungszusatz dagegen als ein angemessenes Mittel, um den „stückweisen Verfall der Sexualmoral“ zu verhindern, was wiederum als legitimer Zweck angesehen wird.371 Abgestellt wird auf die moralische Missbilligung homosexuellen Verhaltens durch die Bevölkerungsmehrheit, die im Wege des Referendums zum Ausdruck gekommen sei. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung innerhalb des U.S. Supreme Court liegt somit einerseits (normativ) auf der Frage, was als „legitimer Zweck“ im Sinne des Rational Basis Test aufzufassen ist, andererseits (methodisch) in der Problematik, wie dieser bestimmt werden kann. Noch weitgehend konsentiert ist die zuvor beschriebene Ansicht, dass sich die Rechtsprechung bei der Überprüfung insbesondere legislativer Maßnahmen zwar grundsätzlich zurückzuhalten habe, ein legitimer Zweck des Gesetzgebers indes jedenfalls dann abzulehnen sei, wenn eine Regelung lediglich negativ diskriminierend wirken soll, ohne eigenständige positive Zielvorstellungen zu verfolgen.372 Insoweit ist zunächst hervorzuheben, dass mit dieser Formel des U.S. Supreme Court lediglich ein negatives Kriterium im Hinblick auf die Legitimität des Zweckes formuliert wird, ohne eine positive Bestimmung vorzunehmen. Ihre Bedeutung liegt vorrangig darin, dass die Ungleichbehandlung nur dann für zulässig erachtet wird, wenn sie sich „als Mittel begreifen lässt, einen anderen Zweck als den der Ungleichbehandlung selbst zu verfolgen“373. Erhebliche Schwierigkeiten bereitet in diesem Zusammenhang in methodischer Hinsicht vor allem die Untersuchung der mit einer Regelung verbundenen staatlichen Motive.374 Diese ist regelmäßig auf Vermutungen angewiesen, zumal nicht durchgängig von einer einheitlichen Motivation der beteiligten Akteure ausgegangen werden kann. Begründungen dafür, ob die Motivation zu einer bestimmten Maßnahme nur negativer Art ist (hier etwa 370 Romer v. Evans, EuGRZ 1997, 624, 627; vgl. hierzu auch Cohen/Varat, Constitutional Law, S. 690 ff., ebenfalls unter Bezugnahme auf Romer v. Evans. 371 Romer v. Evans, EuGRZ 1997, 624, 630. 372 Vgl. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 168; Knapp JöR 23 (1979), 421, 434. 373 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 313. 374 Ausführlich hierzu Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 169 ff.; Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 318 ff.
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die Abneigung gegenüber Homosexuellen) oder ein positives Ziel verfolgt wird (vorliegend etwa die „Erhaltung der Sexualmoral“) sind schwer zu finden. Selbst in ein und derselben Person können bezüglich einer konkreten Maßnahme unterschiedliche Motive vorhanden sein, sodass eine trennscharfe Abgrenzung kaum möglich erscheint. So verwundert es nicht, dass auch die abweichende Meinung in Romer v. Evans, begründet von Justice Scalia, in dieser Frage keinen weiteren Aufschluss bringt: „Als nächstes behandele ich die Frage, ob es für den eigentlichen Inhalt des Verfassungszusatzes (das Verbot besonderen Schutzes für Homosexuelle) einen legitimen rationalen Grund gab. Da die Frage ganz offensichtlich bejaht werden muß, erstaunt es nicht, daß das Gericht ihre Diskussion vermeidet.“375 Zum Ausdruck kommt, dass der „legitime Zweck“ als Element des Rational Basis Test nicht nur im hier dargestellten Fall Gegenstand richterlicher Kontroversen innerhalb des U.S. Supreme Court war, sondern überdies keine eindeutigen Kriterien dafür existieren, wann es an einem solchen Zweck fehlt. Wie gesehen, ist auch die in diesem Zusammenhang herangezogene Formel von der „lediglich negativ diskriminierenden“ Regelung mit ihrem „bare desire to harm a politically unpopular group“376 nur unzureichend geeignet, der konstatierten Unbestimmtheit entgegen zu wirken. Der U.S. Supreme Court hat daher in jüngerer Zeit die Bedeutung der Ermittlung tatsächlicher gesetzgeberischer Motivation ausdrücklich relativiert. So wird betont, dass die equal protection-Klausel „does not demand for purposes of rational basis review that a legislature or governing decisionmaker actually articulate at any time the purpose or rationale supporting its classification“377. Den Anforderungen des Rational Basis Test genüge vielmehr bereits ein bloß denkbares378 legitimes öffentliches Interesse, zu dem die Differenzierung in einem nur losen, rational nachvollziehbaren Zusammenhang steht.
375
Romer v. Evans, EuGRZ 1997, 624, 629. United States Department of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528, 534 (1973). 377 Nordlinger v. Hahn, 505 U.S. 1, 15 (1992). 378 Daraus erklären sich auch die Ausführungen des U.S. Supreme Court in Federal Communications Commission v. Beach Communications, Inc., 508 U.S. 307, 315 (1993): „Moreover, because we never require a legislature to articulate its reasons for enacting a statute, it is entirely irrelevant for constitutional purposes whether the conceived reason for the challenged distinction actually motivated the legislature. Thus, the absence of ‚legislative facts’ explaining the distinction ‚on the record‘, has no significance in rational basis analysis.“ 376
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b) Anwendungsbereich Der gleichheitsrechtliche Rational Basis Test findet Anwendung, soweit der Staat keine verdächtigen oder quasi-verdächtigen Klassifizierungen benutzt und nicht in fundamentale Rechte eingreift. Verdächtige Klassifizierungen (Rasse, nationale Herkunft, Fremdenstatus), quasi-verdächtige Klassifizierungen (Geschlecht, Unehelichkeit), sowie die sog. fundamentalen Rechte (etwa das Wahlrecht) führen hingegen zu anderen Prüfungsmaßstäben, die weiter unten ausführlich untersucht werden.379 An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass der Rational Basis Test für alle diejenigen Fälle gelten soll, in denen sich der staatliche Eingriff nicht auf Bereiche bezieht oder Klassifizierungen verwendet, die in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court als besonders sensibel beurteilt und einer der vorgenannten Kategorien zugeordnet werden. Der elementare grundrechtliche Rationalitätsstandard stellt damit den traditionellen Ausgangspunkt der Gleichheitsprüfung dar.380 Er hat sich heute vor dem Hintergrund intensivierten Gleichheitsschutzes bei verdächtigen Klassifizierungen und fundamentalen Rechten in gewisser Weise zum „Auffangtest“ bei der Prüfung von Gleichheitsverstößen entwickelt und gelangt so insbesondere bei Klassifikationen im Rahmen der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung zur Anwendung.381 c) Zusammenfassung Der Rational Basis Test unterwirft hoheitliche Maßnahmen nur geringen gleichheitsrechtlichen Prüfungsanforderungen. Eine klassifizierende Maßnahme ist danach bereits dann vereinbar mit der equal protection-Klausel, wenn sie einen rational nachvollziehbaren Bezug zu einem legitimen Zweck aufweist. Wie gezeigt, beschränkt sich die Prüfung des rational nachvollziehbaren Bezuges zu dem angestrebten Zweck im Rahmen des traditionellen Rational Basis Test auf eine Willkürkontrolle, die dem Gesetzgeber insbesondere im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung einen weiten Beurteilungsspielraum belässt und damit funktionell-rechtlich eine deut379 Die Einordnung der hier aufgeführten verdächtigen und quasi-verdächtigen Differenzierungskriterien und fundamentalen Rechte ist im Einzelnen umstritten, worauf bei der Untersuchung der jeweils anzuwendenden gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe genauer einzugehen sein wird. 380 Zu normativen Voraussetzungen und verfassungsgeschichtlicher Herausbildung des elementaren Rationalitätsstandards in den Vereinigten Staaten von Amerika vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 260 ff. 381 Vgl. etwa U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz, 449 U.S. 166, 179 (1980); Exxon Corp. v. Eagerton, 462 U.S. 176, 195 f. (1983); Metropolitan Life Ins. Co. v. Ward, 470 U.S. 869, 876 ff. (1985).
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liche Beschränkung der Rechtsprechung insbesondere zugunsten der Legislative darstellt. Im Hinblick auf das Merkmal des „legitimen Zwecks“ ist festzustellen, dass die vom U.S. Supreme Court zum Teil in Bezug genommene Ermittlung tatsächlicher staatlicher Motivation normativ recht unbestimmt ist und methodisch wenig praktikabel erscheint. Wird dagegen in der Verfassungsrechtsprechung überwiegend auf die Existenz irgendeines denkbaren, die Klassifikation stützenden Zweckes abgestellt, so verliert der ohnehin durchlässige Rational Basis Test weiter an Substanz. Den Grund hierfür hat Somek ebenso zutreffend wie lapidar festgestellt: „irgendein anderer denkbarer Zweck lässt sich so gut wie immer finden.“382 In der Gleichheitsrechtsprechung des U.S. Supreme Court hält denn auch die große Mehrzahl der nach dem Rational Basis Test beurteilten Fälle dessen Prüfungsanforderungen stand. Regelmäßig werden daher staatliche Maßnahmen, die lediglich dem durchlässigen Rationalitätsstandard unterworfen sind, im Hinblick auf den Gleichheitssatz des 14. Amendment für verfassungsgemäß erklärt und damit im Ergebnis aufrechterhalten.383 2. Tendenzen der Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes Auch in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zur equal protection-Klausel des 14. Amendment ist eine Gradualisierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes zu konstatieren, die sich in verschiedenen Bereichen vollzieht. Hierbei ist zunächst die grundsätzliche Unterteilung in drei verschiedene Prüfungsformeln (neben dem dargestellten Rational Basis Test noch Intermediate Scrutiny Test, Strict Scrutiny Test) zu berücksichtigen, auf die im Anschluss ausführlich einzugehen ist. Hinzu kommt eine Tendenz, über diese schematischen Begrenzungen hinaus zu mehr Flexibilität zu gelangen, indem die von der Rechtsprechung entwickelten Anwendungsbereiche der einzelnen Testformen nicht strikt eingehalten werden. So rekurrierte der U.S. Supreme Court in einzelnen Entscheidungen auf den zuvor geschilderten Rational Basis Test, brachte jedoch inhaltlich Anforderungen zur Geltung, die zum Teil deutlich über den traditionellen Rationalitätsstandard hinausgehen.384 Dieses Vorgehen des 382
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 327. Vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 1451 f.; Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 173; Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 186. 384 Vgl. etwa Plyler v. Doe, 457 U.S. 202 (1982), wo zunächst festgestellt wird, dass keine verdächtige Klassifizierung vorliege und keine fundamentalen Rechte betroffen seien. Dennoch gelangt das Gericht im Anschluss daran zu der Auffassung, die untersuchte Ungleichbehandlung könne „hardly be considered rational unless it 383
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Gerichts, unter formeller Bezugnahme auf den Rational Basis Test zu einer verdeckten Intensivierung des Prüfungsmaßstabs zu gelangen, wird in der amerikanischen Verfassungslehre verbreitet als „Covertly Heightened Scrutiny“385 bezeichnet. Es hat vielfältige Kritik erfahren, so von Laurence Tribe, der die „manipulable discretion of judges operating with multiple standards of review all masquerading as ‚minimum rationality‘“386 beklagt. Doch auch innerhalb des U.S. Supreme Court sind die Tendenzen zu einer verdeckten, daher wenig transparenten und zumeist kaum vorhersehbaren Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes im Rahmen von Sondervoten wiederholt angegriffen worden.387 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es innerhalb des U.S. Supreme Court Ansätze dazu gibt, einen gleitenden Prüfungsmaßstab („sliding scale test“) einzuführen und den Charakter des betroffenen Rechts sowie die Schwere der Folgen der Ungleichbehandlung mit den für die Unterscheidung sprechenden öffentlichen Interessen abzuwägen.388 Durchgesetzt hat sich diese Ansicht bislang jedoch nicht, sodass zwar wie beschrieben Tendenzen zu einer Gradualisierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes unverkennbar sind, insoweit jedoch nach wie vor an den unterschiedlichen Testformen und damit auch am zuvor untersuchten Rational Basis Test festgehalten wird. III. Vergleich 1. Entsprechung von Willkürformel und Rational Basis Test Beim Vergleich der amerikanischen und deutschen Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz ist zunächst auf die Übereinstimmungen zwischen deutscher Willkürformel und amerikanifurthers some substantial goal of the State“, Plyler v. Doe, 457 U.S. 202, 224 (1982). Siehe auch Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432 (1985); dazu ausführlich unten, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. III. 385 Tribe, American Constitutional Law, S. 1443 ff. 386 Tribe, American Constitutional Law, S. 1445. 387 Siehe etwa Plyler v. Doe, 457 U.S. 202, 244 (1982) (Burger, White, Rehnquist, O’Connor, dissenting): „by patching together bits and pieces of what might be termed quasi-suspect-class and quasi-fundamental-rights analysis, the Court spins out a theory custom-tailored to the facts of these cases. . . . If ever a court was guilty of an unabashedly result-oriented approach, this case is a prime example“. 388 Vgl. etwa die abweichende Meinung von Justice Marshall in Dandridge v. Williams, 397 U.S. 471, 519 f. (1970); Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 190 ff. m. w. N. zur tendenziellen Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes; Faßbender, EuGRZ 1997, 608, 610.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
schem Rational Basis Test hinzuweisen. In beiden Fällen wenden die Gerichte einen weiten Prüfungsmaßstab an, der staatliche Maßnahmen daraufhin überprüft, ob sich ein „vernünftiger“ Grund für die Differenzierung oder Gleichbehandlung finden lässt.389 Hierfür wird sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika als auch in Deutschland als ausreichend erachtet, dass irgendein sachlich vertretbarer Grund für die überprüfte Maßnahme gegeben ist390, diese mithin nicht „willkürlich“391 bzw. „arbitrary“392 erscheint. Dabei sollen insbesondere Gesetze nicht daraufhin untersucht werden, ob sie die zweckmäßigste oder gerechteste Lösung darstellen393, dem Gesetzgeber wird damit sowohl nach der Willkürformel des Bundesverfassungsgerichts als auch nach dem Rational Basis Test des U.S. Supreme Court grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt. Anzumerken ist, dass diese Gemeinsamkeiten in ihren Ursprüngen wie gezeigt maßgeblich auf den Arbeiten von Leibholz basieren, der bereits 1925 die Grundzüge der amerikanischen gleichheitsrechtlichen Willkürkontrolle in die deutsche rechtswissenschaftliche Diskussion einbrachte394 und später als Mitglied dem 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts angehörte, der die Willkürformel in seine Rechtsprechung einführte. Aufgrund der dargelegten Übereinstimmungen sind die traditionelle deutsche Willkürformel (von Bryde und Kleindiek395 auch als „Rationalitätsprüfung“ bezeichnet) und der amerikanische Rational Basis Test damit in wesentlichen Teilen als ähnlich396 zu bewerten.
389
Vgl. etwa die Formulierungen in BVerfGE 1, 14, 52; 61, 138, 147 und McLaughlin v. Florida, 379 U.S. 184, 191 (1964); Parham v. Hughes, 441 U.S. 347, 352 (1979); Massachusetts Board of Retirement v. Murgia, 427 U.S. 307, 314 f. (1976); Bowen v. Gilliard, 483 U.S. 587, 600 (1987); Sullivan v. Stroop, 496 U.S. 478, 485 (1990). 390 BVerfGE 33, 44, 51; 83, 1, 23; McGowan v. Maryland, 366 U.S. 420, 425 f. (1961); Kadrmas v. Dickinson Public Schools, 487 U.S. 450, 462 (1988); New Orleans v. Dukes, 427 U.S. 297, 303 (1976). 391 BVerfGE 1, 14, 52; 71, 39, 53. 392 Lindsley v. Natural Carbonic Gas Co., 220 U.S. 61, 78 f. (1911); Borden’s Farm Products Co. v. Ten Eyck, 297 U.S. 251, 263 (1936). 393 BVerfGE 3, 162, 182; 9, 201, 206; 18, 315, 325; vgl. Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Anhang zu Art. 3, Rn. 23; U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz, 449 U.S. 166, 175 (1980) m. w. N. 394 Vgl. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 79 ff. zur amerikanischen Judikatur hinsichtlich des Gleichheitssatzes. 395 Jura 1999, 36, 37. 396 So auch Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 35; Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 450; Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 194.
2. Kap.: Allgemeiner Gleichheitssatz
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2. Willkürkontrolle in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Wenngleich demnach eine weitgehende Übereinstimmung von Willkürformel und Rational Basis Test besteht, so sind die tatsächlichen Anforderungen, die U.S. Supreme Court und Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Willkürkontrolle stellen, nicht durchgängig vergleichbar. Im Hinblick auf den U.S. Supreme Court ist dabei hervorzuheben, dass der gleichheitsrechtliche Rational Basis Test, nachdem er bis in die sechziger Jahre in einem sehr umfassenden Sinne zur Anwendung kam, nunmehr vor allem in den Bereichen der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung angewandt wird. Auch das Bundesverfassungsgericht betont, dass dem Gesetzgeber in der Wirtschafts-397 und Sozialgesetzgebung398 grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum einzuräumen ist. In der amerikanischen Rechtsprechungspraxis ist dabei die Gesetzgebung in diesen Bereichen nahezu immer für verfassungsmäßig erklärt worden399, weshalb etwa Brugger in diesem Zusammenhang eine „fast völlige Abdankung verfassungsgerichtlicher Kontrolle“400 konstatiert. Zu höheren Prüfungsanforderungen gelangt die amerikanische Verfassungsrechtsprechung zwar zumindest teilweise im Bereich der Sozialgesetzgebung, sofern der Anwendungsbereich des strengeren Strict Scrutiny Test oder des Intermediate Scrutiny Test betroffen ist. Im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in einer Reihe von Fällen auch im Rahmen der klassischen Willkürkontrolle bejaht hat401, ist die Anwendung des Rational Basis Test durch den U.S. Supreme Court jedoch insgesamt von noch 397
BVerfGE 50, 290, 338. BVerfGE 81, 156, 205 f. 399 So z. B. in Dandridge v. Williams, 397 U.S. 471 (1970); United States v. Kras, 409 U.S. 434 (1973); Ortwein v. Schwab, 410 U.S. 656 (1973); Zobel v. Williams, 457 U.S. 55 (1982); vgl. zur Rechtsprechung des U.S. Supreme Court im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung ausführlich Cohen/Varat, Constitutional Law, S. 677 ff. 400 Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 59; Bezugspunkt ist hierbei zwar die substantielle Interpretation der due process-Klausel des 5. Amendment, in die aber [wie oben erläutert, vgl. Zweiter Teil, 2. Kapitel, A. II. 2. c)] die equal protection-Klausel des 14. Amendment inkorporiert wurde. 401 Vgl. etwa BVerfGE 21, 292, 304 (rabattrechtliche Diskriminierung von Warenhäusern); 23, 1, 6 ff./33, 106 (unterschiedliche Gewährung von Kinderfreibeträgen bei Lohnsteuerpflichtigen bzw. veranlagten Einkommensteuerpflichtigen); 26, 100, 110 ff. (unterschiedliche Besoldung von Richtern verschiedener Gerichtsbarkeit in gleicher Instanz); 74, 9, 24 ff. (genereller Ausschluss der Studenten vom Bezug des Arbeitslosengeldes); 75, 166, 179 ff. (Ungleichbehandlung von Apotheken und sonstigen Einzelhandelsbetrieben bei der Selbstbedienung); 82, 126, 146 ff., 154 (kürzere Kündigungsfristen für Arbeiter als für Angestellte). 398
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
größerer Zurückhaltung gegenüber den Entscheidungen des Gesetzgebers gekennzeichnet.402 3. Unterscheidung von „objektiver“ und „subjektiver“ Willkür Beim Vergleich amerikanischer und deutscher Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz ist weiterhin auf die nähere Bestimmung des Willkürbegriffs durch den U.S. Supreme Court und das Bundesverfassungsgericht hinzuweisen. Das Bundesverfassungsgericht legt seiner Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG einen Willkürbegriff zu Grunde, der nicht in einem subjektiven Sinne als Schuldvorwurf oder Unterstellung böser Absicht verstanden wird.403 Als Differenzierungsgrund kommt grundsätzlich vielmehr jede vernünftige Erwägung in Betracht, wobei eine objektive Betrachtung geboten ist.404 Die Erwägung muss demnach nicht das Motiv des Gesetzgebers oder der sonstigen staatlichen Stellen sein. „Willkür“ wird somit im objektiven Sinne verstanden als tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit einer Regelung in Bezug auf den zu ordnenden Regelungsgegenstand.405 In diesem Zusammenhang weist Herzog406 darauf hin, dass eine solche Annahme objektiver Willkür in zweifacher Hinsicht Vorteile aufweist gegenüber einem subjektiven Willkürbegriff. Einerseits wird hierdurch das Verhältnis zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung weniger belastet als bei der richterlichen Feststellung subjektiver Willkür. Zum anderen ist die verfassungsrechtliche Überprüfung der Vereinbarkeit einer Maßnahme mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht von der eher zweifelhaften Feststellung subjektiver Gesichtspunkte der handelnden staatlichen Stellen abhängig. 402 Vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 36. Ausführlich zu der geringen Prüfintensität des Rational Basis Test: Cohen/Varat, Constitutional Law, S. 690 ff. Siehe auch das Ergebnis der Untersuchung Kokotts, Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 161: „Die für das amerikanische Verfassungsrecht geltende Maxime, wonach ein Erfolg des Beschwerdeführers unter dem Willkürmaßstab quasi ausgeschlossen, bei verdächtigen Klassifikationen unter dem strengen Maßstab der „strict scrutiny“ hingegen so gut wie sicher ist, läßt sich so nicht auf das deutsche Recht übertragen. Die untersuchten Fälle zeigen, daß auch unter dem Willkürmaßstab eine Beschwerde erfolgreich sein . . . kann.“ 403 Siehe hierzu oben, Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 1.; vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 10 m. w. N. 404 BVerfGE 75, 246, 268; 86, 59, 63. 405 Vgl. Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 3, Rn. 28 mit zahlreichen Nachweisen. 406 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Anhang zu Art. 3, Rn. 4.
2. Kap.: Allgemeiner Gleichheitssatz
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Bei der amerikanischen Prüfung des gleichheitsrechtlichen Rational Basis Test gewinnt demgegenüber ein anderer Gesichtspunkt an Bedeutung, der bereits im Fall Romer v. Evans407 dargestellt wurde: die Bestimmung des Willkürbegriffs im Sinne bösartiger staatlicher Motivation.408 Ein solches (subjektives) Verständnis liegt etwa dem Mehrheitsvotum in Romer v. Evans zu Grunde, das zur Motivation für die dort angestrebte Verfassungsregelung zu Lasten von Homosexuellen ausführt, „the amendment seems inexplicable by anything but animus toward the class that it affects“409. Wie bereits dargestellt, führt dies zu nicht unerheblichen Schwierigkeiten, was die richterliche Erforschung der staatlichen Motive zur Vornahme einer bestimmten Maßnahme betrifft. Aus diesem Grunde hat sich auch der Schwerpunkt der gleichheitsrechtlichen Überprüfung durch den U.S. Supreme Court im Laufe der Zeit von der Nachprüfung des tatsächlichen Zwecks auf die Untersuchung des Verhältnisses zwischen denkbarem Zweck und vorgenommener Klassifizierung verlagert410 und entspricht damit der auch im Rahmen der deutschen Willkürformel vorherrschenden Fragestellung, ob sich (objektiv) ein sachlich vertretbarer Grund für die überprüfte Maßnahme finden lässt. Festzustellen bleibt indes, dass auch die aktuelle amerikanische Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz bisweilen auf den Gedanken bösartiger hoheitlicher Motivation Bezug nimmt. In diesem Sinne erklärte etwa Justice Breyer in seiner concurring opinion zu einer Entscheidung aus dem Jahr 2000 die Bedeutung bösartiger hoheitlicher Absichten als einen besonderen Faktor, der die Verletzung der Gleichheitsgarantie begründen könne: „This case, however, does not directly raise the question whether the simple and common instance of a faulty zoning decision would violate the Equal Protection Clause. That is because the Court of Appeals found that in this case respondent had alleged an extra factor as well – a factor that the Court of Appeals called ‚vindictive action‘, ‚illegitimate animus‘, or ‚ill will‘ “411. Zwar betonte demgegenüber die Mehrheitsbegründung, für die konkrete Entscheidung müsse nicht auf „the Village’s subjective motivation“ und einen insofern zu konstatierenden „subjective ill will“ zurückgegriffen werden.412 Gleichwohl kommt die mögliche Berücksichtigung eines intentionalen Moments im 407
Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. II. 1. a) cc). Vgl. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 167 ff. 409 Romer v. Evans, 116 S.Ct. 1620, 1627 (1996). 410 Vgl. Knapp, JöR 23 (1979), 421, 434. 411 Village of Willowbrook v. Olech, 120 S.Ct. 1073, 1075 (2000) (Breyer, concurring in the result). 412 Vgl. Village of Willowbrook v. Olech, 120 S.Ct. 1073, 1075 (2000). 408
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Rahmen der Gleichheitsrechtsprechung auch hier zum Ausdruck, wenn das Gericht ausdrücklich hervorhebt, Zweck der equal protection-Klausel sei es, „to secure every person within the State’s jurisdiction against intentional and arbitrary discrimination“413. Ansätze für eine staatliche Motivationslagen untersuchende, stärker subjektive Bestimmung des Willkürbegriffs, wie sie oben bei der Entscheidung Romer v. Evans näher dargelegt worden sind, finden sich demnach trotz der konstatierten Schwerpunktverlagerung auf eine objektive Willkürbestimmung auch in der gegenwärtigen Gleichheitsjudikatur des U.S. Supreme Court. 4. Originäre und derivative Leistungsrechte Die verfassungsrechtliche Diskussion in Deutschland über grundrechtliche Leistungsrechte ist umfangreich und im Einzelnen äußerst kontrovers.414 Im hier interessierenden Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass nach überwiegender Ansicht aus Art. 3 Abs. 1 GG allein keine originären Ansprüche auf staatliche Leistungen folgen.415 Insofern wird darauf verwiesen, dass sich allein aus dem allgemeinen Gleichheitssatz keine hinreichend präzisen Maßstäbe für eine gerichtliche Zuerkennung konkreter originärer Leistungsrechte ermitteln lassen. Die hier aufgeworfenen Fragen seien nicht justitiabel und vorrangig der sozialpolitischen Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers vorbehalten.416 Demgegenüber wird jedoch zum Teil hervorgehoben, dass die sich aus dem grundrechtlichen Gleichheitssatz ergebende „besonders hohe Erkenntnisunsicherheit“417 im Hinblick auf Verteilungsfragen nicht notwendigerweise eine absolute Schranke für die Gewährung originärer Rechte darstelle. Dabei wird insbesondere im Hinblick auf die Gewährleistung eines Existenzminimums von einzelnen auch die Möglichkeit der Einräumung konkreter subjektiver Rechte aus Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich befürwortet.418 413
Village of Willowbrook v. Olech, 120 S.Ct. 1073, 1075 (2000). Ausführlich mit zahlreichen Nachweisen Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 67. 415 Vgl. BVerfGE 60, 16, 42 f.: „größte Zurückhaltung, dem Gesetzgeber im Bereich darreichender Verwaltung über den Gleichheitsgrundsatz zusätzliche oder neuartige Leistungsverpflichtungen aufzuerlegen“; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 61; Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 280; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 55. 416 Vgl. Huster, Rechte und Ziele, S. 422. 417 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 386. 418 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 388; Huster, Rechte und Ziele, S. 424 m. w. N. 414
2. Kap.: Allgemeiner Gleichheitssatz
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Ungeachtet dieser Kontroverse ist weitgehend anerkannt, dass durch den allgemeinen Gleichheitssatz derivative Leistungsrechte419 begründet werden können.420 Sofern der Staat somit öffentliche Einrichtungen zur Verfügung stellt oder Geld-, Sach- bzw. Dienstleistungen gewährt, kann aus diesem Umstand in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG ein Leistungsanspruch des Einzelnen erwachsen.421 Art. 3 Abs. 1 GG enthält in diesem Zusammenhang ein Recht auf Zuteilung von Leistungen bzw. Zugang zu Einrichtungen, das den Anforderungen des Gleichheitssatzes gerecht werden muss, nur insofern, als der Staat, wenn er Leistungen zuteilt, den Einzelnen hiervon nicht willkürlich ausschließen darf. Dass er die Leistungen zuteilen muss, ergibt sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz nach überwiegender Auffassung hingegen nicht. Wie weit ein solcher, aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleiteter derivativer Leistungsanspruch im Einzelfall dem Umfang nach besteht, ist unter anderem von den zu Verfügung stehenden Kapazitäten abhängig422 und richtet sich letztlich allein nach den vom Gesetzgeber festgelegten – gegebenenfalls korrigierbaren – Leistungsstandards. Für die amerikanische Verfassungsrechtsprechung zur equal protectionKlausel ist im Hinblick auf derivative Leistungsrechte insbesondere der Fall Shapiro v. Thompson423 von Bedeutung. Darin ging es um die Frage, ob Regelungen mit der Verfassung vereinbar sind, in denen die Erlangung von Sozialleistungen nur unter der Voraussetzung einer mindestens einjährigen Wohnsitzdauer ermöglicht wird. Der U.S. Supreme Court entschied, dass solche Vorschriften verfassungswidrig seien, da sie einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des 14. Amendment darstellten.424 Wie Currie425 zu Recht betont hat, stellt die Entscheidung indes in keiner Weise darauf ab, ob und gegebenenfalls inwieweit der Staat zur Gewährung von Sozialleistungen überhaupt verpflichtet ist. Entscheidend sei vielmehr der Gedanke, dass der Staat, wenn er Leistungen gewähre, den Einzelnen hiervon nicht willkürlich 419 Zum Teil auch als derivative Teilhabeansprüche bezeichnet; im Einzelnen ist die Terminologie unterschiedlich, vgl. Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, § 67, II 1 c. 420 So z. B. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 280. 421 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 138. 422 Vgl. etwa BVerfGE 33, 303, 340 (Numerus-clausus-Urteil), in dem das Bundesverfassungsgericht zudem die (bislang unbeantwortete) Frage aufwarf, ob aus grundrechtlichen Wertentscheidungen ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten resultieren könne (BVerfGE 33, 303, 333); Starck, Über Auslegung und Wirkungen der Grundrechte, S. 19 f. 423 Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618 (1969). 424 Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618, 627 ff. (1969). 425 Currie, AöR 111 (1986), 230, 245.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
ausschließen dürfe. Hingegen hätte der Staat durchaus das gesamte Fürsorgeprogramm aufheben können426, so dass auch hier nicht von einem originären Anspruch ausgegangen werden kann. Im Vordergrund steht damit die gleichheitsrechtliche Beurteilung von Verteilungsstrukturen vor dem Hintergrund eines gesetzlich fixierten Leistungsstandards, nicht jedoch die gleichheitsrechtliche Beurteilung des Leistungsstandards selbst. In Dandridge v. Williams427 hat der U.S. Supreme Court die Konsequenzen dieser verfassungsgerichtlichen Zurückhaltung ausdrücklich hervorgehoben und deutlich gemacht, dass auf die Gewährung elementarer Sozialleistungen weder ein originärer verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch bestehe, noch überhaupt eine Anhebung gleichheitsrechtlicher Prüfungsanforderungen geboten sei. Nachdem die äußerst geringen Anforderungen des Rational Basis Test in den Bereichen „economics and social welfare“ anhand von einzelnen Entscheidungen nachgezeichnet sind, gelangt das Gericht zu der Feststellung: „To be sure, the cases cited, and many others enunciating this fundamental standard under the Equal Protection Clause, have in the main involved state regulation of business or industry. The administration of public welfare assistance, by contrast, involves the most basic economic needs of impoverished human beings. We recognize the dramatically real factual difference between the cited cases and this one, but we can find no basis for applying a different constitutional standard.“428 Jedenfalls im Hinblick auf die restriktive Haltung gegenüber originären, aus der Gleichheitsgarantie resultierenden subjektiven Rechten weist die Judikatur des U.S. Supreme Court damit deutliche Parallelen zur deutschen Gleichheitsrechtsprechung auf. Das gilt zudem auch für die grundsätzliche Akzeptanz von derivativen Leistungsrechten, wie sie für den deutschen allgemeinen Gleichheitssatz etwa bezüglich des gleichen Zugangs zum Hochschulstudium anerkannt sind. Im übrigen zeigt sich, dass das Problem gleichheitsspezifischer Leistungsrechte von Berührungspunkten zu dem an anderer Stelle behandelten Verhältnis zwischen rechtlicher und faktischer Gleichheit gekennzeichnet ist429, dessen nähere Untersuchung unter anderem das Fehlen einer Sozialstaatsklausel in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu berücksichtigen haben wird.
426 427 428 429
Currie, AöR 111 (1986), 230, 245 f. Dandridge v. Williams, 397 U.S. 471 (1970). Dandridge v. Williams, 397 U.S. 471, 485 (1970). Dazu unten, Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. III.
2. Kap.: Allgemeiner Gleichheitssatz
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5. Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes Eine wesentliche Gemeinsamkeit der amerikanischen und deutschen Verfassungsrechtsprechung zum grundrechtlichen Gleichheitssatz besteht in der zunehmenden Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes bei der Überprüfung von Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit der equal protection-Klausel bzw. Art. 3 Abs. 1 GG. Wie im Verlauf der Untersuchung aufgezeigt wurde, ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Gleichheitssatz seit 1980 in steigendem Maße durch das Bestreben gekennzeichnet, bei der Überprüfung von Art. 3 Abs. 1 GG zu einer weiter abgestuften Kontrolldichte zu gelangen.430 Im Zusammenhang mit der oben dargestellten Diskussion um die „neue Formel“ ist – unabhängig von den insofern bestehenden Meinungsunterschieden über deren genaue Bedeutung und ihr Verhältnis zur klassischen Willkürformel – eine Tendenz des Bundesverfassungsgerichts zur Differenzierung der Prüfungsintensität unverkennbar.431 Danach soll, sofern als Prüfungsmaßstab nur das Willkürverbot in Betracht kommt, ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG lediglich bei evidenter Unsachlichkeit der Maßnahme vorliegen. Hingegen wird beim Vorliegen bestimmter Differenzierungskriterien oder der Betroffenheit spezifischer Sachbereiche geprüft, ob für die vorgesehene Ungleichbehandlung „Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können“432. Welche Differenzierungen im Einzelnen zu diesen erhöhten gleichheitsrechtlichen Prüfungsanforderungen führen können, ist im Rahmen der Rechtsprechungsanalyse bereits näher erläutert worden433: Hierzu zählen insbesondere Unterscheidungskriterien, die personenbezogen434 sind, deren Vorliegen individueller Disposition entzogen ist435 oder die sich den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten besonderen Diskriminierungsverboten annähern436. Damit ist zunächst festzuhalten, dass die gegenwärtige Gleichheitsrechtsprechung in Deutschland neben den relativ geringen Anforderungen der traditionellen Willkürformel bei Art. 3 Abs. 1 GG und den besonderen Differenzierungsverboten in Art. 3 Abs. 3 GG einen weiteren, im Prüfungs430 Vgl. Jarass, NJW 1997, 2545, 2546 f.; Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, S. 127. 431 Vgl. insbesondere die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im sog. Transsexuellen-Beschluss von 1993, BVerfGE 88, 87, 96 f. 432 BVerfGE 88, 87, 97 unter Verweis auf BVerfGE 82, 126, 146. 433 Vgl. Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. 434 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. a). 435 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. b). 436 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. c).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
niveau zwischen diesen beiden Polen angesiedelten Prüfungsmaßstab kennt, der beim Vorliegen bestimmter Kriterien im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG zur Anwendung gelangt. Der somit beschriebenen Entwicklung der deutschen Verfassungsrechtsprechung steht auf amerikanischer Seite im Verfassungstext ausschließlich die equal protection-Klausel des 14. Amendment gegenüber. Eine bereits vom Verfassungsgeber getroffene Entscheidung bezüglich besonderer Gleichheitssätze, wie sie das deutsche Grundgesetz in mehreren Bestimmungen enthält, findet sich in der amerikanischen Verfassung nicht. Als Reaktion hierauf hat der U.S. Supreme Court im Laufe der Zeit neben dem traditionellen Rational Basis Test weitere Prüfungsmaßstäbe entwickelt, die als Intermediate Scrutiny Test und Strict Scrutiny Test bezeichnet werden und die über die geringen Anforderungen des Rational Basis Test hinaus ein mittleres bzw. hohes Niveau richterlicher Prüfungsintensität gebieten. Dabei erfolgt die Anwendung der einzelnen gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe über die Zuordnung spezifischer Sachbereiche437 und Differenzierungskriterien. Während einzelne Bereiche wie zum Beispiel das Wahlrecht als sog. fundamentale Rechte unter erhöhtem Gleichheitsschutz stehen, werden die Differenzierungskriterien in unverdächtige, quasi-verdächtige und verdächtige Klassifizierungen unterteilt. Jene als (quasi-)verdächtig erachteten, ebenfalls intensivierten Gleichheitsschutz auslösende Klassifizierungen entsprechen vielfach den besonderen Differenzierungsverboten des Grundgesetzes: Hierzu zählen etwa Unterscheidungen nach Rasse, Geschlecht und Unehelichkeit, die im Bereich des Grundgesetzes in speziellen Gleichheitssätzen ausgeprägt sind und daher im weiteren Verlauf der Untersuchung bei den besonderen Diskriminierungsverboten behandelt werden. Im amerikanischen Verfassungsrecht formen diese vom U.S. Supreme Court als besonders rechtfertigungsbedürftig erachteten Faktoren die generelle Formulierung des Gleichheitssatzes im 14. Amendment in besondere Diskriminierungsverbote um438, die den erhöhten Anforderungen des Strict Scrutiny Test bzw. des Intermediate Scrutiny Test unterliegen. Die Darstellung der strengeren Prüfungsmaßstäbe hat daher ebenfalls im Rahmen der besonderen Diskriminierungsverbote zu erfolgen, um den geschilderten verfassungsrechtlichen Besonderheiten gerecht zu werden.
437 438
Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 463. Vgl. Steding, Chancengleichheit und Quoten, S. 66.
2. Kap.: Allgemeiner Gleichheitssatz
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a) Entwicklungslinien gleichheitsrechtlicher Gradualisierung: Kriteriendifferenzierung, Bereichsspezifizierung Bei genauerer Betrachtung lassen die bisherigen Ausführungen zwei grundlegende Entwicklungslinien erkennen, die das Bestreben des U.S. Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts nach einer zunehmenden Gradualisierung gleichheitsrechtlicher Prüfungsanforderungen kennzeichnen: Kriteriendifferenzierung und Bereichsspezifizierung. Zu konstatieren ist zunächst ein Prozess gleichheitsrechtlicher Kriteriendifferenzierung. Angesprochen ist damit jene Entwicklungslinie, in deren Verlauf die durch den Gleichheitssatz vermittelte Schutzintensität zunehmend von der Eigenart des verwendeten Differenzierungskriteriums abhängig gemacht wird. Die Strenge der Prüfungsanforderungen wird demnach in ausdifferenzierter Weise an das einer Ungleichbehandlung zu Grunde liegende Differenzierungskriterium gekoppelt. Die Fortentwicklung der Gleichheitsdogmatik in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika bietet hierfür zahlreiche Beispiele. So ist im deutschen Verfassungsrecht die Einführung und Verbreitung der „neuen Formel“ wie gesehen eng mit der differenzierten Berücksichtigung des verwendeten Unterscheidungsmerkmals verbunden. Dieser Gradualisierung der gleichheitsrechtlichen Anforderungen in Abhängigkeit vom überprüften Differenzierungskriterium korrespondieren auf amerikanischer Seite jene durch den U.S. Supreme Court als „unverdächtig“, „quasi-verdächtig“ oder „verdächtig“ erachteten Unterscheidungsmerkmale. Ihre Verwendung hat ebenfalls eine abgestufte verfassungsgerichtliche Kontrolldichte zur Folge, deren Spektrum von geringen über mäßigen bis hin zu äußerst strengen Anforderungen an die überprüfte Maßnahme reicht. Neben die damit beschriebene Entwicklung einer zunehmenden Gradualisierung gleichheitsrechtlicher Prüfungsintensität im Wege verfassungsgerichtlicher Kriteriendifferenzierung tritt zudem ein weiterer Gesichtspunkt, der sich auf die spezifische Berücksichtigung von den durch Ungleichbehandlungen betroffenen Bereichen bezieht. Diesen Aspekt der Bereichsspezifizierung hat das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit erneut bekräftigt, indem es ausführt: „Genauere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall das Willkürverbot oder das Gebot verhältnismäßiger Gleichbehandlung durch den Gesetzgeber verletzt ist, lassen sich nicht abstrakt und allgemein, sondern nur bezogen auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsmaterien bestimmen.“439 Auch der U.S. Supreme Court geht in seiner Gleichheitsjudi439 BVerfG, 2 BvL 17/99, 6.3.2002, Rn. 174 mit umfangreichen Rechtsprechungsnachweisen.
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katur davon aus, dass bestimmte Sach- und Regelungsbereiche, etwa der Bereich des Wahlrechts, unter erhöhtem Gleichheitsschutz stehen. Andererseits hat die bisherige Untersuchung gezeigt, dass eine bereichsspezifische Absenkung gleichheitsrechtlicher Prüfungsanforderungen von Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court übereinstimmend angenommen wird, wenn sich Differenzierungen auf die Bereiche der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung beziehen. b) Zusammenfassung und Ausblick Festzuhalten bleibt an dieser Stelle zunächst, dass sowohl die amerikanische als auch die deutsche Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz über die klassische Willkürkontrolle (durch Rational Basis Test bzw. Willkürformel) hinaus zu einer abgestuften Kontrolldichte gelangen, indem sie den Prüfungsmaßstab durch Kriteriendifferenzierung und Bereichsspezifizierung zunehmend gradualisieren. Auf weitere Parallelen, insbesondere zwischen den vom Bundesverfassungsgericht nach einem erhöhten Prüfungsniveau beurteilten Differenzierungen und den vom U.S. Supreme Court entwickelten, den Intermediate bzw. Strict Scrutiny Test auslösenden besonderen Diskriminierungsverboten, wird im weiteren Verlauf der Arbeit näher einzugehen sein. Zu klären ist dabei vor allem, ob die Intensivierung des grundrechtlichen Gleichheitsschutzes auf nachvollziehbaren Erwägungen beruht, die in ihrer Aussagekraft über den Einzelfall hinausweisen und damit zu einer überzeugenden Gleichheitsdogmatik beitragen. Anderenfalls drohen die zuvor dargestellten Gradualisierungstendenzen allein einem richterlichen Intuitionismus Vorschub zu leisten, wie er dem U.S. Supreme Court in einer dissenting opinion aus dem Jahre 1996 nachdrücklich vorgeworfen worden ist. Dort erklärte Justice Scalia einerseits die grundsätzliche Zustimmung zu differenzierten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstäben, hielt seinen Richterkollegen indes zugleich vor, bislang würde das Gericht zu einer Erhöhung der Rechtfertigungsanforderungen gelangen „whenever we feel like it“440. Inwieweit diese Bedenken gegenüber einer weitgehend beliebigen, in erster Linie verfassungsgerichtlicher Intuition unterliegenden Anhebung des Kontrollmaßstabs berechtigt sind, hängt nicht zuletzt damit zusammen, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Annahme und Prüfung besonderer Diskriminierungsverbote verfährt. Untersuchungen hierzu stehen daher im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen.
440
United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2292 (1996) (Scalia, dissenting).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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3. Kapitel
Besondere Diskriminierungsverbote in der Gleichheitsrechtsprechung von U.S. Supreme Court und Bundesverfassungsgericht A. Grundlagen im Verfassungstext I. Bundesrepublik Deutschland Neben dem zuvor beschriebenen allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG finden sich im Grundgesetz weitere spezielle Gleichheitsgarantien, die besondere, thematisch ausgerichtete Diskriminierungsverbote enthalten.441 Hierzu zählen unter anderem Art. 3 Abs. 2 (Gleichberechtigung von Männern und Frauen) und Art. 3 Abs. 3 (Unterscheidungsverbot bezüglich der Differenzierungskriterien Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glauben sowie religiöser oder politischer Anschauungen), Art. 6 Abs. 5 (Gleichstellung unehelicher Kinder), Art. 33 Abs. 1 bis 3 (Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, Recht des gleichen Zugangs zu öffentlichen Ämtern, Diskriminierungsverbot aus religiösen und weltanschaulichen Gründen) und Art. 38 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 (Allgemeinheit und Gleichheit der Bundestagswahl und der Wahl in Ländern und Kommunen). Allerdings ist die Einordnung als besondere Gleichheitsgarantie äußerst uneinheitlich, weshalb etwa Sachs442 ohne Anspruch auf Vollständigkeit 13 verschiedene Artikel des Grundgesetzes nachweist, die in der Literatur als solche qualifiziert werden. Im Folgenden sollen vorrangig jene Bestimmungen herangezogen werden, die für den Vergleich amerikanischer und deutscher Verfassungsrechtsprechung zu den besonderen Diskriminierungsverboten von hervorgehobener Bedeutung sind. Dazu gehören insbesondere Art. 3 Abs. 2 und 3, Art. 6 Abs. 5, Art. 33 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, die jeweils besonders geeignet sind, Elemente und Strukturen der von U.S. Supreme Court und Bundesverfassungsgericht zu Grunde gelegten Gleichheitsdogmatik herauszuarbeiten. Im Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gehen die besonderen Gleichheitsgarantien regelmäßig vor, da sie für ihren Bereich spezieller sind.443 Ihnen kommt 441
Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 13. Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 1 ff. m. w. N. 443 BVerfGE 12, 151, 163; 59, 128, 156; anderes galt bislang nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für das Verhältnis der Wahlrechtsgleichheit zu 442
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
allgemein die Funktion zu, den durch den allgemeinen Gleichheitssatz gewährten grundrechtlichen Schutzstandard, wie er oben dargestellt wurde, anzuheben.444 II. Vereinigte Staaten von Amerika Die amerikanische Verfassung enthält wie gesehen nur eine einzelne Bestimmung, die den Gleichheitsgedanken ausdrücklich aufnimmt: die equal protection-Klausel des 14. Amendment. Besondere Diskriminierungsverbote bestehen lediglich im Hinblick auf das Wahlrecht im 15. Amendment (keine Beschränkung aufgrund der Rasse, Hautfarbe oder vormaliger Sklaverei), 19. Amendment (keine Beschränkung aufgrund des Geschlechts), 24. Amendment (keine Beschränkung aufgrund unterlassener Zahlung von Wahlsteuern oder sonstigen Steuern) sowie im 26. Amendment (keine Beschränkung aufgrund des Alters). Ansonsten fehlt es jedoch an ausdrücklich in der Verfassung verankerten besonderen Diskriminierungsverboten, sodass der richterlichen Rechtsfortbildung durch den U.S. Supreme Court insofern herausragende Bedeutung zukommt. Nachdem dieser zunächst nur den oben beschriebenen durchlässigen Rational Basis Test angewandt hatte, entwickelte er in seiner Rechtsprechung jene sog. „suspect classifications“ und „quasi-suspect classifications“ sowie bestimmte „fundamental rights“, die zu einer strengeren Gleichheitskontrolle führen und im weiteren Verlauf der Arbeit genauer zu analysieren sind. III. Zusammenfassung Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz enthält der amerikanische Verfassungstext somit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine besonderen Diskriminierungsverbote. Vor diesem Hintergrund wurde in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz des 14. Amendment zunächst lediglich der wenig prüfungsintensive Rational Basis Test herangezogen, in dessen Rahmen hoheitliche Maßnahmen nur daraufhin untersucht wurden, ob sie gänzlich willkürlich seien.445 In der Verfassung selbst fanden sich (und finden sich noch immer) nur wenig AnhaltsArt. 3 Abs. 1 GG, da die Wahlrechtsgleichheit als „Anwendungsfall“ des allgemeinen Gleichheitssatzes bezeichnet wurde, vgl. z. B. BVerfGE 71, 81, 94; zur Aufgabe dieser Rechtsprechung im Jahre 1998 vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 274. 444 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 16. 445 Aufschlussreich zu dieser durchlässigen Anwendung des Rational Basis Test etwa Lindsley v. Natural Carbonic Gas Co., 220 U.S. 61, 78 f. (1911).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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punkte zur Herausbildung von gleichheitsrechtlichen Maßstäben für die Beurteilung von equal protection-Fällen. Aus diesem Grund übernahm der U.S. Supreme Court in den Vereinigten Staaten von Amerika jene Aufgabe, die in Deutschland dem Verfassungsgeber des Grundgesetzes zugekommen war: Er etablierte bestimmte Klassifizierungen als „verdächtig“ bzw. einzelne Bereiche als „fundamental“, unterwarf sie einem strengen Prüfungsmaßstab und stellte somit selbst besondere Diskriminierungsverbote auf, ohne dass diesen eine textliche Entsprechung in der Verfassung gegenüber stünde.446 Die Ausgangslage für den Umgang von Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court mit den besonderen Diskriminierungsverboten ist somit deutlich verschieden. Ob hieraus vergleichbar große Unterschiede in der heutigen Verfassungsrechtsprechung der beiden Gerichte resultieren, wird nachfolgend näher zu untersuchen sein.
B. Maßstäbe der Gleichheitsprüfung I. Bundesrepublik Deutschland Um den verfassungsgerichtlichen Umgang mit besonderen Diskriminierungsverboten zu verdeutlichen, wird im Folgenden die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu grundlegenden Differenzierungskriterien und Bereichen dargestellt, denen auch in der daran anschließenden Untersuchung der Gleichheitsjudikatur des U.S. Supreme Court zentrale Bedeutung zukommt. Dabei ist insbesondere von Interesse, ob die gleichheitsrechtlichen Prüfungsanforderungen im Hinblick auf einzelne Unterscheidungsmerkmale und spezifische Sach- und Regelungsbereiche im Wesentlichen ähnlich sind, oder ob sich insofern deutliche Differenzen feststellen lassen. 1. Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG) Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist zunächst in Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG ausdrücklich festgeschrieben. Bezogen auf das darin zum Ausdruck kommende Unterscheidungsmerkmal des Geschlechts schließt die Vorschrift die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG aus.447 446
Vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 33 f.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 338. 447 Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 78.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
a) Grundsatz des strikten Differenzierungsverbotes Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG enthält ein strenges Differenzierungsverbot, das den allgemeinen Gleichheitssatz konkretisiert und der dort eingeräumten Ermessens- und Gestaltungsfreiheit feste Grenzen setzt.448 Dabei entspricht der in Art. 3 Abs. 2 GG enthaltene Gleichberechtigungsgrundsatz dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG insoweit, als niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden darf.449 Das Geschlecht scheidet somit als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung regelmäßig aus. Allerdings gilt das Differenzierungsverbot nur dann, wenn der zu ordnende Lebenstatbestand im Wesentlichen vergleichbar ist.450 Die Vergleichbarkeit der geregelten Fälle erweist sich damit, wie Sachs in seiner Analyse der Verfassungsrechtsprechung feststellt, „als ein weithin für die Geschlechtergleichheit spezifisches Begrenzungskriterium“451. Das „strikte“ Differenzierungsverbot findet demnach nur grundsätzlich Anwendung, weshalb das Bundesverfassungsgericht unter engen Voraussetzungen Ausnahmen hiervon zugelassen hat. b) Ausnahmen bei biologischen Unterschieden Eine Ausnahme gilt zunächst insofern, als Differenzierungen nach dem Geschlecht aus biologischen Unterschieden zulässig sein können.452 Hierzu zählen Sachverhalte, die überhaupt nur von einem Geschlecht verwirklicht werden können.453 Die unterschiedliche Behandlung von Frauen und Männern ist also ausnahmsweise zulässig, „soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich“454 ist. Das mag etwa der Fall sein bei der Berücksichtigung spezieller Lebenslagen, die sich im Zusammenhang mit Menstruation, Schwangerschaft, Geburt oder Stillzeit ergeben. Unter Umständen sind bestimmte Differenzierungen unter dem Aspekt des Mutterschutzes nach Art. 6 Abs. 4 GG sogar verfassungsrechtlich geboten.455 448
Vgl. BVerfGE 21, 329, 343; 39, 169, 186. BVerfGE 74, 163, 179; vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 4. 450 Vgl. BVerfGE 6, 389, 422 f.: „daher gilt das Verbot der Differenzierung nach dem Vergleichspaar Mann-Frau nur dann, wenn der zu ordnende soziale Lebenstatbestand essentiell vergleichbar ist, d.h. wenn er, vom Geschlecht der Betroffenen abgesehen, weitere wesentliche Elemente umfaßt, die ihrerseits gleich sind.“ 451 Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 333. 452 Vgl. BVerfGE 3, 225, 242; 52, 369, 374 m. w. N. 453 BVerfGE 85, 191, 207. 454 BVerfGE 92, 91, 109. 449
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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c) Ausnahmen aufgrund besonderer Verfassungsbestimmungen Weiterhin kann eine Differenzierung nach dem Geschlecht vor der grundsätzlichen Wertung des Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG auch dann Bestand haben, wenn sich aus der Verfassung selbst aufgrund besonderer Bestimmungen für spezielle Bereiche anderes ergibt. Insoweit ist insbesondere auf die Regelungen zum Wehrdienst in Art. 12a GG hinzuweisen. Art. 12a Abs. 4 S. 2 GG sah in seiner alten Fassung vor, dass Frauen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten dürften. Die vorherrschende Auffassung in Rechtsprechung und Lehre erkannte hierin ein allgemeines Verbot des Dienstes von Frauen mit der Waffe, das nicht nur den zwangsweisen, sondern auch den freiwilligen Wehrdienst betreffe.456 Hingegen wurde von anderen457 unter Verweis auf den systematischen Zusammenhang von Art. 12a Abs. 4 S. 1 und S. 2 GG betont, Satz 2 verbiete allein den zwangsweisen, nicht jedoch den freiwilligen Dienst mit der Waffe. Ein gänzlicher Ausschluss der Frauen verstoße daher gegen Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG.458 Wesentliche Bedeutung für die damit angesprochene Problematik entfaltete schließlich das Urteil des EuGH vom 11. Januar 2000 in der Rechtssache Kreil.459 Der Gerichtshof entschied, dass die Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg der Anwendung nationaler Bestimmungen entgegenstehe, die wie jene des deutschen Rechts Frauen allgemein vom Dienst mit der Waffe ausschließen und ihnen nur den Zugang zum Sanitätsund Militärmusikdienst erlauben.460 Unter dem Eindruck dieser Entscheidung des EuGH und der Notwendigkeit einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung oder Anpassung des nationalen Rechts hat die Bundesrepublik Deutschland mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 19. Dezember 2000461 den Wortlaut von Art. 12a Abs. 4 S. 2 GG geändert. Danach dürfen Frauen nunmehr „auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe 455 Vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 455; Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 455; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 296. 456 Vgl. Bergmann, in: Seifert/Hömig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 12a, Rn. 6a. 457 Umfangreiche Nachweise dazu bei Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 12a, Rn. 20. 458 Zur Kritik an dieser Position vgl. etwa Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 307 m. w. N. 459 EuGH, Rs. C-285/98, Tanja Kreil/Bundesrepublik Deutschland, 11.1.2000; dazu Schröder/Köster, JuS 2000, 542 ff. 460 EuGH, Rs. C-285/98, Tanja Kreil/Bundesrepublik Deutschland, 11.1.2000, Rn. 32. 461 BGBl. I, 1755.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
verpflichtet werden“. Wie mit der neuen Formulierung klargestellt wird, ist Frauen der Zugang zum freiwilligen Dienst mit der Waffe verfassungsrechtlich nicht länger verschlossen. Trotz des damit zu konstatierenden Wegfalls einer verfassungsrechtlich fundierten, geschlechtsspezifischen und berufsbezogenen Ungleichbehandlung von Frauen und Männern hat sich insoweit an einer weiteren grundgesetzlichen Sonderregelung nichts geändert: Art. 12a Abs. 1 GG bestimmt weiterhin, dass nur Männer ab dem vollendeten 18. Lebensjahr der Wehrpflicht unterliegen. Erst in jüngerer Zeit hat die 4. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts die verfassungsrechtliche Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Differenzierungsverbot aus Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG erneut bekräftigt und dazu ausgeführt: „Auch nach der Neufassung des Art. 12a Abs. 4 S. 2 GG dürfen Frauen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden. Art. 12a Abs. 1 und Abs. 4 S. 2 GG haben unverändert gleichen verfassungsrechtlichen Rang mit Art. 3 Abs. 2 und 3 GG. Das Amtsgericht setzt sich, indem es Art. 12a GG zu einer verfassungswidrigen Verfassungsnorm erklärt, weil sie gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG verstoße, über diese Ranggleichheit hinweg.“462 Festzuhalten bleibt damit, dass die Beschränkung der Wehrpflicht auf Männer in Art. 12a Abs. 1 GG weiterhin eine jener grundgesetzlichen Ausnahmebestimmungen darstellt, denen trotz ihres latenten Widerspruchs zu dem geschlechtsbezogenen Differenzierungsverbot in Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG verfassungsunmittelbare Geltung zukommt. Diskutiert wird eine solche gleichheitsrechtliche Ausnahmefunktion schließlich auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG463 sowie bezüglich des Sozialstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 1 GG464. d) Ausnahmen wegen „funktionaler Unterschiede“? Den Ausnahmen aufgrund biologischer Unterschiede hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zudem lange Zeit „funktionale“ Unterschiede zwischen Mann und Frau gleichgestellt. Danach sollen Maßnahmen mit dem strikten Differenzierungsverbot vereinbar sein, wenn sie „im Hinblick auf die objektiven biologischen und funktionalen (arbeitsteiligen) Unterschiede nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses zwi462
BVerfG, 2 BvL 2/02, 27.3.2002, Rn. 29. Die Bedeutung des Art. 6 Abs. 4 GG als Differenzierungserlaubnis ist im Einzelnen umstritten; vgl. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 278. 464 Ablehnend Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 98; Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 88; differenzierend Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 308. 463
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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schen Männern und Frauen“465 unterscheiden. Hiergegen ist in der Literatur zu Recht eingewandt worden, dass damit eine gefährliche Einbruchstelle in das Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG geschaffen werde, die insbesondere zur Zementierung einer vorgefundenen typischen Arbeitsteilung führen könne.466 Funktionale Unterschiede beruhen regelmäßig auf Herkommen und Sitte.467 Die Geltung des Gleichberechtigungsgrundsatzes soll jedoch gerade nicht von der traditionellen Überzeugung der Betroffenen abhängen.468 Funktionale Verschiedenheiten vermögen daher eine Ausnahme zum geschlechtsbezogenen Differenzierungsverbot nur dann zu begründen, wenn sie ihrerseits auf einem biologischen Unterschied beruhen und eine Ungleichbehandlung zwingend erforderlich ist.469 In jüngeren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht denn auch die gleichheitsrechtliche Bedeutung der „funktionalen Unterschiede“ relativiert und klargestellt, dass allein die traditionelle Prägung eines Lebensverhältnisses nicht ausreichend sei. Ansonsten verlöre das Gleichberechtigungsgebot „seine Funktion, für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchzusetzen, wenn die vorgefundene gesellschaftliche Wirklichkeit hingenommen werden müßte“470. e) Positive Maßnahmen und tatsächliche Gleichberechtigung Einen besonderen Problemkreis stellt die gleichheitsrechtliche Bewertung von positiven Maßnahmen der Frauenförderung dar. Diese auch als „umgekehrte Diskriminierungen“ bezeichneten Maßnahmen zielen regelmäßig darauf ab, mittels gezielter Ungleichbehandlungen zu Gunsten des benachteiligten Geschlechts einen Beitrag zur tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu leisten. Hinsichtlich der Frage nach einem aus Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG resultierenden Auftrag zur tatsächlichen Angleichung der Lebensverhältnisse hat das Bundesverfassungsgericht 1992 ausgeführt, die Vorschrift stelle, insofern über Art. 3 Abs. 3 GG hinausgehend, ein Gleichberechtigungsgebot auf, das sich auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstrecke: „Der Satz ‚Männer und Frauen sind gleichberechtigt‘ will nicht nur Rechtsnormen beseitigen, die Vor- oder Nachteile an Geschlechts465 BVerfGE 52, 369, 374 m. w. N.; vgl. auch BVerfG, 1 BvR 108/96, 18.12.2002, Rn. 16. 466 Vgl. die Anmerkung von Baur, JZ 1959, 443, 444 zur HöfeO-Entscheidung des BGH vom 5. Mai 1959; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 301; Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 455 f. 467 Vgl. Baur, JZ 1959, 443, 444. 468 BVerfGE 48, 327, 340. 469 Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 89. 470 BVerfGE 84, 9, 17.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
merkmale anknüpfen, sondern für die Zukunft die Gleichberechtigung der Geschlechter durchsetzen. Er zielt auf die Angleichung der Lebensverhältnisse.“471 Im Jahre 1994 kam es dann zur Einfügung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG, der nunmehr ausdrücklich einen Auftrag an den Staat enthält, Maßnahmen zur Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung zu treffen sowie auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Das Verhältnis dieser Bestimmung zu dem abwehrrechtlichen Schutzgehalt des Diskriminierungsverbotes aus Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 GG, wie es zuvor beschrieben wurde, ist dabei umstritten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht die Diskrepanz zwischen einer auf den Ausgleich faktischer Nachteile gerichteten, aktiven Frauenförderpolitik und der von Männern im Einzelfall beklagten geschlechtsbezogenen Diskriminierung als Folge einer solchen Politik. Vor diesem Hintergrund wird insbesondere die Verfassungsmäßigkeit von Quotenregelungen, nach denen ein bestimmter Prozentsatz von Stellen mit Frauen zu besetzen ist, kontrovers diskutiert. Angesichts der tatsächlichen und rechtlichen Besonderheiten des damit angesprochenen Themenkomplexes wird dieses gleichheitsrechtliche Spezialproblem im weiteren Verlauf der Arbeit gesondert zu untersuchen sein. 2. Besondere Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG Über das zuvor behandelte Merkmal des Geschlechts hinaus enthält Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG weitere besondere Diskriminierungsverbote im Hinblick auf Merkmale, die nicht als Differenzierungskriterien herangezogen werden dürfen und damit den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG konkretisieren. Sie betreffen Kernbereiche der persönlichen Rechtsgleichheit472 und wurden insbesondere vor dem Hintergrund der Verfolgung und Benachteiligung von Minderheiten im Nationalsozialismus in das Grundgesetz aufgenommen.473 a) Inhalt der Differenzierungsverbote Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG bestimmt, dass niemand wegen eines der dort genannten Merkmale benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Nimmt sich die Regelung ihrem Wortlaut nach zunächst weitgehend eindeutig aus, so ist der Inhalt der darin enthaltenen Differenzierungsverbote gleichwohl nur unter Schwierigkeiten zu bestimmen. In diesem Zusammenhang ist in 471
BVerfGE 85, 191, 207. Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 40. 473 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 105. 472
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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einem Sondervotum des Richters Simon kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Bundesverfassungsgericht auf das „merkwürdige Schattendasein“ des Diskriminierungsverbotes hingewiesen worden.474 Das könne „darauf beruhen, daß für die Anwendung dieses Verbots ein kausaler Zusammenhang zwischen der besonderen Behandlung und den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Gründen erforderlich ist, der häufig nicht vorliegt“475. Im Zentrum der angesprochenen Problematik steht damit die Frage, unter welchen Voraussetzungen Ungleichbehandlungen, wie von Art. 3 Abs. 3 GG gefordert, „wegen“ eines der dort aufgeführten Differenzierungsmerkmale erfolgen. aa) Kausalität und Finalität Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zunächst auf den kausalen Zusammenhang zwischen Differenzierung und verpöntem Differenzierungsmerkmal abgestellt und betont, eine Ungleichbehandlung dürfe „nicht ihre Ursache in den durch Art. 3 Abs. 3 GG bezeichneten Gründen haben“476. Damit ist indes noch nicht eindeutig geklärt, ob über die kausale Verbindung hinaus auch ein finales Element erforderlich ist, um das Diskriminierungsverbot auszulösen. Soll die Benachteiligung oder Bevorzugung „wegen“ also möglicherweise bedeuten, dass die Beweggründe des handelnden Organs zu berücksichtigen sind und hierin der maßgebliche Bezugspunkt für das Differenzierungsverbot liegt? Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht in einigen Entscheidungen maßgeblich auf den Aspekt der Finalität abgestellt. Art. 3 Abs. 3 GG verbiete daher nicht einen Nachteil oder Vorteil, „der die Folge einer ganz anders intendierten Regelung“477 sei. Entscheidende Bedeutung komme somit der Frage zu, ob das verpönte Merkmal „als solche[s] das die Regelung motivierende Element“478 bilde. bb) Verständnis als Anknüpfungsverbot Gegenüber der zuvor dargestellten Position bestehen unterschiedliche Bedenken. So würden die Möglichkeiten für eine Umgehung des Diskriminierungsverbotes erheblich ausgeweitet, wenn bereits die Nennung anderweitiger, mit Art. 3 Abs. 3 GG vereinbarer Motive für die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit einer Regelung ausreichen sollte.479 Darüber hinaus wären 474 475 476 477 478 479
Abweichende Meinung des Richters Simon, BVerfGE 63, 266, 303. Abweichende Meinung des Richters Simon, BVerfGE 63, 266, 303. BVerfGE 2, 266, 286. BVerfGE 75, 40, 70. BVerfGE 19, 119, 126. Vgl. Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 104.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
auch hier jene Probleme der Ermittlung staatlicher Motivation zu konstatieren, wie sie oben im Hinblick auf die amerikanische Gleichheitsrechtsprechung bereits erörtert wurden.480 Schließlich hat Sachs überzeugend dargelegt, dass auch unter Berücksichtigung der traditionellen Auslegungsmethoden keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür bestehen, die Anwendung des Diskriminierungsverbotes von den Beweggründen und Motiven des handelnden Organs abhängig zu machen.481 Erst in seiner neueren Rechtsprechung hat nunmehr auch das Bundesverfassungsgericht die eigene Position zum Inhalt des Differenzierungsverbotes nach Art. 3 Abs. 3 GG weiterentwickelt. Von Bedeutung sind insoweit vor allem zwei Entscheidungen, die sich jeweils auf das Differenzierungskriterium Geschlecht beziehen, aber darüber hinausgreifend auch für die übrigen Unterscheidungsmerkmale Geltung beanspruchen. Zum einen findet sich darin die Klarstellung, dass eine Benachteiligung wegen des Geschlechts im Sinne von Art. 3 Abs. 3 GG bereits dann vorliegt, wenn eine rechtliche Ungleichbehandlung an das Geschlecht anknüpft: Hingegen komme es „nicht darauf an, ob daneben auch andere Gründe maßgeblich waren“482. Der Inhalt des Diskriminierungsverbotes lässt sich damit als Anknüpfungsverbot483 an die verpönten Kriterien begreifen, das unabhängig von den Motiven und Beweggründen für eine Regelung oder Maßnahme zu beachten ist. Entsprechende Ungleichbehandlungen sind einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterwerfen.484 Auf den Umstand, dass Art. 3 Abs. 3 GG nicht generell jede der dort erfassten Differenzierungen verbietet, sondern ein mit hoher Prüfungsintensität versehenes grundsätzliches Anknüpfungsverbot enthält, verweist schließlich eine weitere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Darin heißt es: „Das Geschlecht darf grundsätzlich – ebenso wie die anderen in Absatz 3 genannten Merkmale – nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Das gilt auch dann, wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt.“485
480 481 482 483 484 485
Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. II. 1. a) cc). Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 428 ff. BVerfGE 89, 276, 288. Vgl. BVerfG, 1 BvL 26/97, 17.2.1999, Rn. 15. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 121. BVerfGE 85, 191, 206; vgl. auch BVerfG, 1 BvL 26/97, 17.2.1999, Rn. 13.
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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b) Verbotene Differenzierungskriterien aa) Geschlecht Die zuvor festgestellten besonders strengen Anforderungen an die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit von Ausnahmen zu dem grundsätzlichen Anknüpfungsverbot zeigen sich bei dem Merkmal Geschlecht sehr deutlich. An das Geschlecht anknüpfende differenzierende Regelungen hält das Bundesverfassungsgericht nur für vereinbar mit Art. 3 Abs. 3 GG, „soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind“486. Darüber hinaus enthalte Art. 3 Abs. 2 mit seinem oben beschriebenen Diskriminierungsverbot keine weitergehenden oder speziellen Anforderungen.487 Dem entspricht die vorherrschende Auffassung in der Literatur, wonach das Merkmal „Geschlecht“ in Abs. 3 S. 1 gegenüber Abs. 2 S. 1 keine selbständige Bedeutung besitzt488, so dass diesbezüglich auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann. Allerdings gilt es zur Vermeidung von Missverständnissen zu betonen, dass Art. 3 Abs. 2 GG jedenfalls in seinem Satz 2 durchaus eine über Absatz 3 hinausgehende Bedeutung zukommt. Diese besteht in der Verankerung eines Gleichberechtigungsgebotes, das sich auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt.489 Im Rahmen der vergleichenden Untersuchung zur Zulässigkeit von Maßnahmen der Frauenförderung und Affirmative Action wird hierauf zurückzukommen sein. bb) Abstammung Das verbotene Differenzierungskriterium der Abstammung bezeichnet die natürliche biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren.490 Allerdings ist die praktische Bedeutung des Merkmales begrenzt.491 Auch hier erweist die Gleichheitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG rechtliche Ungleichbehandlungen wegen der Abstammung nicht generell und kategorisch verbietet, sondern gewisse Ausnahmen kennt. So hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Anspruchs auf Waisenrente erklärt, bei einem Anspruch, der „seinem Wesen nach auf der Abstammung“ beruhe, komme das Gebot, niemanden we486
BVerfGE 92, 91, 109. BVerfGE 92, 91, 109. 488 Vgl. nur Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 95 m. w. N. 489 BVerfG, 1 BvR 302/96, 18.11.2003, Rn. 111. 490 BVerfGE 9, 124, 128; vgl. Eckertz-Höfer, AK-GG, Art. 3 Abs. 2, 3, Rn. 113 f.; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 38. 491 Vgl. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 291. 487
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
gen seiner Abstammung zu bevorzugen oder zu benachteiligen „als Prüfungsmaßstab nicht in Betracht“492. Während die Strenge der Gleichheitsprüfung beim zuvor dargestellten Differenzierungskriterium des Geschlechts gerichtlich damit angezeigt wurde, eine entsprechende Unterscheidung müsse „zwingend erforderlich“ sein, erachtet das Gericht Unterscheidungen wegen der Abstammung in ähnlicher Weise als zulässig, wenn bei der rechtlichen Beurteilung eines Falles „notwendig“ von der Abstammung ausgegangen werden muss, wie dies im Versorgungsverfahren für Kriegsopfer der Fall sei.493 Hingegen soll das Differenzierungsverbot vor allem verhindern, dass Kinder von bestimmten Personengruppen allein aufgrund des „Hineingeborenwerdens“494 in ein soziales Umfeld benachteiligt werden, mithin eine Art der „Sippenhaft“ als Grund für Unterscheidungen dient.495 cc) Rasse Das Differenzierungsverbot aufgrund der Rasse ist vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenideologie in das Grundgesetz aufgenommen worden.496 „Rasse“ bezieht sich auf Gruppen mit bestimmten vererbbaren Eigenschaften497, wobei es allerdings nicht auf eine wissenschaftliche Fundierung des Begriffs ankommt498, sondern bereits genügt, wenn das Vorhandensein vererbbarer Eigenschaften von der Staatsgewalt nur behauptet499 und zur Differenzierung als Kriterium herangezogen wird. Als Beispiele werden in diesem Zusammenhang etwa staatliche Unterscheidungen im Hinblick auf Farbige, Mischlinge, Juden, Sinti und Roma genannt.500 So hat das Bundesverfassungsgericht die früheren Ausbürgerungen von Juden aus rassischen Gründen nicht als rechtswirksam anerkannt.501 492
BVerfGE 9, 201, 205. BVerfGE 9, 201, 205 f. 494 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 51. 495 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 356; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 43. 496 Vgl. Eckertz-Höfer, AK-GG, Art. 3 Abs. 2, 3, Rn. 116; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 44. 497 Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 97; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 58. 498 So ausdrücklich Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 358; zu irrationalen Aspekten des Rassenbegriffs vgl. auch Dürig, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 61. 499 Vgl. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 293. 500 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 110. 501 BVerfGE 23, 98, 106 f. 493
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dd) Sprache Mit dem Merkmal der Sprache wird in Art. 3 Abs. 3 GG ein bereits in früheren deutschen Verfassungen enthaltenes Differenzierungsverbot aufgenommen502, das sprachliche Minderheiten unabhängig davon schützt, ob es sich um Deutsche oder Nichtdeutsche handelt.503 Hierzu zählen etwa die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein, die Sorben in der Lausitz, Bürgerkriegsflüchtlinge oder ausländische Gastarbeiter. Erfasst werden sowohl die Muttersprache als auch Dialekte.504 Die Festlegung des Deutschen als Amts- und Gerichtssprache stellt keinen Verstoß gegen das Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG dar, insoweit fehlt es bereits an einer Ungleichbehandlung.505 Zwar wird daran deutlich, worauf Sachs nachdrücklich hingewiesen hat, dass insofern gerade „die Unterschiedslosigkeit, die Identität der Rechtsfolgen, den besonderen Bedürfnissen der betroffenen Personen nicht, jedenfalls nicht in demselben Umfang wie denen der Mehrheitsangehörigen, gerecht wird“506. Doch ergibt sich zumindest aus dem Differenzierungsverbot wegen der Sprache grundsätzlich keine Pflicht des Staates, faktische Nachteile auszugleichen.507 Eine solche Pflicht mag mit anderen Erwägungen, etwa speziellen grundrechtlichen Gewährleistungen wie der Rechtsschutzgleichheit, zu begründen sein – aus der isolierten Betrachtung des hier untersuchten Unterscheidungsverbots des Art. 3 Abs. 3 GG folgt sie jedenfalls nicht. ee) Heimat und Herkunft Als „Heimat“ wird vom Bundesverfassungsgericht die örtliche Herkunft nach Geburt oder Ansässigkeit verstanden.508 Hierdurch sollten ursprünglich insbesondere Flüchtlinge und Vertriebene vor diskriminierenden Benachteiligungen geschützt werden.509 Wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt hat, ist für die Bestimmung der Ansässigkeit indes 502 Vgl. hierzu Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 45. 503 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 360. 504 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 112. 505 Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 256 f. 506 Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 257. 507 Vgl. BVerfGE 64, 135, 157: „Zum Ausgleich sprachbedingter Erschwernisse, die im Tatsächlichen auftreten, verpflichtet das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG nicht.“ 508 BVerfGE 5, 17, 22; vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 75. 509 Umfangreiche Nachweise dazu in der abweichenden Meinung der Richter Kühling, Jaeger und Hohmann-Dennhardt, BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 70.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
nicht bereits der derzeitige Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt einer Person ausreichend.510 Vielmehr soll es insoweit auf jenen örtlichen Bereich ankommen, der in einem frühen Lebensalter prägend wirkt.511 Im Ergebnis führt diese Auffassung zu einer restriktiven Interpretation des Heimat-Begriffes, die das Gericht in jüngerer Zeit prägnant zusammengefasst hat: „Mit dem Begriff der Heimat ist die örtliche Herkunft eines Menschen nach Geburt oder Ansässigkeit im Sinne der emotionalen Beziehung zu einem geographisch begrenzten, den Einzelnen mitprägenden Raum (Ort, Landschaft) gemeint.“512 Dem Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbotes aus Art. 3 Abs. 3 GG werden damit enge Grenzen gesetzt, über deren Berechtigung nunmehr auch innerhalb des Bundesverfassungsgerichts offene Meinungsunterschiede zutage treten. Bereits 1992 hatte Sachs in seiner Kommentierung der besonderen Gleichheitsgarantien festgestellt, es bleibe „abzuwarten, inwieweit die ‚Heimat‘ gegenüber Regelungen zur Bewältigung der Schwierigkeiten der deutschen Vereinigung Bedeutung zurückgewinnen kann“513. Im Jahr 2000 musste sich das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang mit der gleichheitsrechtlichen Zulässigkeit von § 84 a des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) befassen.514 Die Bestimmung hatte zur Folge, dass Kriegsbeschädigte des Zweiten Weltkriegs, die am 18. Mai 1990 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet hatten, bis heute eine niedrigere Grundrente erhalten als diejenigen Kriegsbeschädigten, die zu diesem Zeitpunkt im übrigen Bundesgebiet lebten. In seiner Mehrheitsentscheidung verweist das Gericht zunächst auf den zuvor dargestellten emotionalen Gehalt des Heimatbegriffs. Abgeleitet wird hieraus eine Folgerung, die in dem anschließenden Sondervotum von den Bundesverfassungsrichtern Kühling, Jaeger und Hohmann-Dennhardt abgelehnt wird: „Durch den Wohnsitz oder den ständigen Aufenthalt in einem der beiden vor der Wiedervereinigung bestehenden Teile Deutschlands wird die Heimat eines Menschen nicht bestimmt.“515 Konsequent wird daher von der Mehrheit der Richter Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG als Prüfungsmaßstab verworfen und der allgemeine grundrechtliche Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG herangezogen. Entgegen der Mehrheitsauffassung betonen die drei genannten Richter in ihrer abweichenden Meinung, dass die Beschwerdeführer durch die ange510
Vgl. BVerfGE 38, 128, 135; 48, 281, 287. Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 111. 512 BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 40. 513 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 46. 514 BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000. 515 BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 40. 511
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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griffene Regelung wegen ihrer Heimat benachteiligt würden.516 Die einschränkende Interpretation des Kriteriums Heimat, wonach dieses für sich genommen nicht durch Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt bestimmt werde, gelte nur für die Anknüpfung an den jeweiligen Wohnsitz oder Aufenthalt. Hingegen handele es sich vorliegend um eine Regelung, die ihre Rechtsfolgen allein unter Anknüpfung an den Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt zu einem bestimmten Zeitpunkt „ein für alle Mal“ statuiere.517 Im Folgenden wird unter Rückgriff auf die historische Auslegungsmethode nachgezeichnet, dass der Begriff der Heimat bei seiner Einführung auf das engste mit dem Begriff der Vertreibung verbunden war. Die rechtliche Bestimmung derjenigen indes, die etwa als Heimatvertriebene galten, erfolgte ohne Bezugnahme auf emotionale Bindungen oder die Verwurzelung im Vertreibungsgebiet: So war Heimatvertriebener, wer am 31. Dezember 1937 oder vorher seinen Wohnsitz in einem der Gebiete hatte, die am 1. Januar 1914 zum Deutschen Reich oder zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie oder zu einem späteren Zeitpunkt zu Polen, Estland, Lettland oder Litauen gehörten.518 Eine rechtliche Benachteiligung dieser Menschen wäre in der Nachkriegszeit ohne weiteres dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG unterstellt worden. Wird dem Mehrheitsvotum so einerseits die Entfernung vom Willen des historischen Verfassungsgebers vorgeworfen, konzedieren die abweichenden Richter auf der anderen Seite durchaus, dass Heimat im heutigen Sprachgebrauch eine emotionale Komponente aufweist. Tatsächlich eröffnet eine am Wortsinn orientierte Interpretation kaum die Möglichkeit, das Element gefühlsmäßiger Beziehung gänzlich unberücksichtigt zu lassen. Ist damit ein Spannungsverhältnis zwischen historischer und grammatikalischer Interpretation nicht von der Hand zu weisen, so kommt dem in der abweichenden Meinung zu Recht betonten teleologischen Gesichtspunkt der Wirksamkeit des Diskriminierungsverbots maßgebliche Bedeutung zu. Danach wäre eine allein am Wortlaut ausgerichtete Bestimmung des Differenzierungskriteriums Heimat „für die Auslegung des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG untauglich; denn eine Regelung, die – sei es auch in typisierender Weise – an eine solche Prägung519 anknüpft, ist kaum vorstellbar. Das Diskriminierungsverbot würde praktisch leer laufen.“520 516
Abweichende Meinung der Richter Kühling, Jaeger und Hohmann-Dennhardt, BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 66. 517 Abweichende Meinung der Richter Kühling, Jaeger und Hohmann-Dennhardt, BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 67 f. (Hervorhebungen im Original). 518 Vgl. die abweichende Meinung der Richter Kühling, Jaeger und HohmannDennhardt, BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 72. 519 Rekurriert wird damit auf die von der Senatsmehrheit vorgenommene Bestimmung des Heimatbegriffs als „emotionale Beziehung zu einem . . . den Einzelnen mitprägenden Raum“, wie sie zuvor beschrieben worden ist.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Folge dieser Auffassung ist die Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 3 GG, dessen Berücksichtigung die dissentierenden Richter indes zu dem gleichen Ergebnis wie die Senatsmehrheit führt, wonach die angegriffene Regelung jedenfalls für den Zeitraum bis zum 31. Dezember 1998 noch als verfassungskonform anzusehen ist. Eine solche Entscheidung mag vor dem Hintergrund des von der Senatsmehrheit herangezogenen allgemeinen Gleichheitssatzes wenig überraschend sein. Angesichts der bereits erörterten strengen Prüfungsanforderungen an die Rechtfertigung einer gegen besondere Diskriminierungsverbote verstoßenden Regelung bedarf sie jedoch besonders zwingender Gründe. Deren Vorliegen hat die abweichende Meinung ausdrücklich bejaht und dabei die dogmatischen Leitlinien der Rechtfertigungsprüfung noch einmal deutlich formuliert. Danach ist „nicht jede gegen Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verstoßende Ungleichbehandlung . . . verfassungswidrig. Differenzierende Regelungen können vielmehr zulässig sein, soweit sie zur Lösung von Problemen, die in dem Unterscheidungsmerkmal selbst begründet liegen, zwingend erforderlich sind. So liegt es hier. Die durch die Wiedervereinigung bedingte Überleitung aller Kriegsopferversorgungsansprüche der zuvor in der Deutschen Demokratischen Republik lebenden Menschen auf die Bundesrepublik Deutschland konnte unter Wahrung der Haushaltsstabilität und des inneren sozialen Friedens nur schrittweise bewältigt werden.“521 Im Gegensatz zum dargestellten Differenzierungskriterium der Heimat wird „Herkunft“ vom Bundesverfassungsgericht im Sinne einer ständischsozialen Abstammung und Verwurzelung522 definiert. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass sich die Begriffe „Abstammung“, „Heimat“ und „Herkunft“ wechselseitig überschneiden und ergänzen523, ohne dass deshalb eine möglichst genaue Bestimmung ihrer Inhalte zu unterbleiben hätte.524 Im Rahmen der Bestimmung des Herkunftsbegriffs hat das Bundesverfassungsgericht525 besonders die Herleitung von den Vorfahren betont und damit die in den eigenen Lebensumständen begründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht nicht als ausreichend erachtet, um das Differenzierungsverbot auszulösen. Dennoch erscheint eine eindeutige Trennung von „in den eigenen Lebensumständen begründeter Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht“ einerseits und „von den Vorfahren hergeleite520 Abweichende Meinung der Richter Kühling, Jaeger und Hohmann-Dennhardt, BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 74. 521 Abweichende Meinung der Richter Kühling, Jaeger und Hohmann-Dennhardt, BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 76. 522 BVerfGE 5, 17, 22; 48, 281, 288. 523 BVerfGE 9, 124, 128. 524 Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 38. 525 BVerfGE 9, 124, 129.
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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ter sozialer Verwurzelung“ andererseits nicht durchgängig möglich.526 Dem Merkmal der Herkunft kommt dabei insbesondere die Aufgabe zu, dem Einzelnen unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit nicht den Zugang zu anderen sozialen Schichten zu verwehren, indem es staatliche Maßnahmen, die auf diesem Differenzierungskriterium beruhen, für unzulässig erklärt. ff) Glaube, religiöse oder politische Anschauungen Ein substantieller Unterschied zwischen den Differenzierungsverboten „Glaube“ und „religiöse Anschauungen“ in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG besteht nach ganz überwiegender Auffassung nicht.527 Beide Begriffe beziehen sich neben religiösen ebenso auf nicht religiöse Weltanschauungen, auch soweit diese antireligiösen Charakter haben.528 Damit wird das spezielle Freiheitsrecht der Glaubensfreiheit des Art. 4 GG durch einen besonderen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ergänzt, der zusammen mit Art. 33 Abs. 3 GG (einschließlich der Wiederholung in Art. 136 Abs. 2 WRV) sowie den Vorgaben des Art. 136 Abs. 1 WRV und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG die Verpflichtung des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität enthält.529 Das Differenzierungsverbot umfasst dabei nicht nur die innere Einstellung („forum internum“), sondern erstreckt sich auch auf die Manifestation nach außen530, so zum Beispiel auf die Mitgliedschaft in entsprechenden Gruppierungen. Das Merkmal der „politischen Anschauungen“ ist ebenfalls in einem solchen weiten, auch auf die Manifestation nach außen gerichteten Sinne zu verstehen.531 Der in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts532 geäußerten Ansicht, wonach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG lediglich das „Haben“ einer politischen Anschauung umfasse, nicht jedoch deren Äußerung und 526
Zu Recht differenzierend Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 88. Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 371; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 94 mit Nachweisen auch zur Gegenauffassung. 528 Eckertz-Höfer, AK-GG, Art. 3 Abs. 2, 3, Rn. 121; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 302. 529 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 114; Eckertz-Höfer, AK-GG, Art. 3 Abs. 2, 3, Rn. 121. 530 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 49. 531 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 378; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 116; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 115. 532 BVerfGE 39, 334, 368. 527
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Betätigung, ist im Anschluss an ein Sondervotum Simons weithin widersprochen worden.533 Allerdings sind in der Verfassung selbst mehrere Vorschriften enthalten, die das Diskriminierungsverbot wegen politischer Anschauungen nicht unerheblich einschränken534, so etwa in Art. 9 Abs. 2 (Verbot von Vereinigungen, deren Zwecke oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten), Art. 18 (Verwirkung von Grundrechten), Art. 21 Abs. 2 (Parteiverbot), Art. 33 Abs. 2 (Eignung für den öffentlichen Dienst) und Art. 33 Abs. 5 GG, demzufolge im Rahmen der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums unter anderem die Pflicht zu unparteiische Amtsführung535 und politische Treuepflichten536 zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu berücksichtigen sind. 3. Verbot der Benachteiligung Behinderter (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) Das Verbot der Benachteiligung Behinderter wurde durch die Verfassungsreform von 1994 als Satz 2 des Art. 3 Abs. 3 in das Grundgesetz eingefügt. Zentrales Anliegen des verfassungsändernden Gesetzgebers war es, den Schutz des allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatzes für die Gruppe der Behinderten zu verstärken, indem die Anknüpfung von Benachteiligungen an das Merkmal der Behinderung ausgeschlossen werden sollte. a) Begriff der Behinderung Was unter dem Differenzierungskriterium der Behinderung zu verstehen ist, kommt in den Gesetzesmaterialen nicht eindeutig zum Ausdruck. Allerdings geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass insofern die zur Zeit der Verfassungsänderung gebräuchliche Verwendung des Begriffs heranzuziehen sei. Abgestellt wird daher maßgeblich auf die Formulierung des § 3 Abs. 1 S. 1 des Schwerbehindertengesetzes.537 Eine Behinderung ist danach die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. 533 Vgl. die abweichende Meinung des Richters Simon, BVerfGE 63, 266, 304; zustimmend etwa Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 303; Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 95. 534 Vgl. die Aufzählung bei Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 379 m. w. N. 535 BVerfGE 9, 268, 286. 536 BVerfGE 39, 334, 347 f. 537 BVerfGE 96, 288, 301; vgl. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 309.
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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b) Gewährleistungsgehalt der Neuregelung Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG enthält zunächst ein subjektives Abwehrrecht gegen benachteiligende Ungleichbehandlungen wegen einer Behinderung. Darüber hinaus lässt der Wortlaut der Regelung, zumal in der systematischen Gegenüberstellung zu Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, Bevorzugungen mit dem Ziel einer Angleichung der Verhältnisse von Behinderten und Nichtbehinderten unmissverständlich zu. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die Neuregelung eine Differenzierungserlaubnis538 dar, die bei der Anwendung des allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG zu berücksichtigen ist. Den Hintergrund der gleichheitsrechtlichen Bestimmung hat das Bundesverfassungsgericht in einer grundlegenden Entscheidung539 aus dem Jahre 1997 näher beschrieben. Danach bezeichnet Behinderung nicht nur ein bloßes Anderssein, das sich für den Betroffenen häufig erst im Zusammenwirken mit Einstellungen und Vorurteilen im gesellschaftlichen Umfeld nachteilig auswirkt, bei einer Veränderung dieser Einstellungen die Nachteilswirkung aber auch wieder verlieren kann. Behinderung sei vielmehr eine Eigenschaft, die die Lebensführung für den Betroffenen im Verhältnis zum Nichtbehinderten unabhängig von einem solchen Auffassungswandel grundsätzlich schwieriger mache. Doch solle diese besondere Situation „nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers weder zu gesellschaftlichen noch zu rechtlichen Ausgrenzungen führen. Solche Ausgrenzungen sollen im Gegenteil verhindert oder überwunden werden können. Das erklärt, dass Satz 2 des Art. 3 Abs. 3 GG Differenzierungen nicht wie Satz 1 schlechthin untersagt. Nur an die Behinderung anknüpfende Benachteiligungen sind nach der Neuregelung verboten. Bevorzugungen mit dem Ziel einer Angleichung der Verhältnisse von Nichtbehinderten und Behinderten sind dagegen erlaubt, allerdings nicht ohne weiteres auch verfassungsrechtlich geboten.“540 Anknüpfend an die oben im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes beschriebene Unterscheidung zwischen originären und derivativen Leistungsrechten stellt sich damit auch hier die Frage, ob aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG neben dem dort verankerten Differenzierungsverbot auch subjektiv einklagbare Ansprüche auf bevorzugende Leistungsgewährung abzuleiten sind. Während die deutlich überwiegende Auffassung im verfassungsrechtlichen Schrifttum dies verneint541, hat das Bundesverfas538
Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 383. BVerfG, 1 BvR 9/97, 8.10.1997. 540 BVerfG, 1 BvR 9/97, 8.10.1997, Rn. 51. 541 Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 305; Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 175; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 383. 539
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
sungsgericht die Herleitung originärer Leistungsansprüche aus der Neuregelung insoweit ausdrücklich offen gelassen542. c) Benachteiligung und Bevorzugung Von Bedeutung für die zuvor dargestellte Problematik ist indes ein weiterer Aspekt, der sich auf die Grenzlinie zwischen gleichheitsrechtlich verbotener Benachteiligung und Bevorzugung wegen einer Behinderung bezieht. Insofern hängt die Tragweite der Ablehnung originärer subjektiver Leistungsrechte unter anderem davon ab, wie weit der Nachteilsbegriff in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG gefasst wird. Dessen Ausweitung bewirkt zugleich, dass der Anwendungsbereich der strengen Prüfungsanforderungen des dort normierten Differenzierungsverbotes entsprechende Ausdehnung erfährt. Tatsächlich ist das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zu dem neu eingefügten Diskriminierungsverbot über ein enges Verständnis der „Benachteiligung“ deutlich hinausgegangen. Danach soll eine Benachteiligung „nicht nur bei Regelungen und Maßnahmen vor[liegen], die die Situation des Behinderten wegen seiner Behinderung verschlechtern, indem ihm etwa der tatsächlich mögliche Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen verwehrt wird oder Leistungen, die grundsätzlich jedermann zustehen, verweigert werden. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluß von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird.“543 d) Unzureichende Kompensation als Element von Benachteiligung Verfassungsgerichtlich findet damit wie gesehen eine Charakterisierung der verbotenen Benachteiligung Behinderter unter Rückgriff auf das Element unzureichender Kompensation statt. Insoweit werden die erhöhten Anforderungen des gleichheitsrechtlichen Diskriminierungsverbotes von einem nicht unerheblichen Wertungsspielraum abhängig macht. Denn unter welchen Voraussetzungen ein Ausschluss von bestimmten Leistungen oder Einrichtungen „hinlänglich kompensiert“ ist, sodass er nicht benachteiligend wirkt, lässt sich nicht generell und abstrakt festlegen. Darauf weist auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Gleichheitsrechtsprechung zu Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nachdrücklich hin: „Ob die Ablehnung einer vom Behinderten er542
BVerfGE 96, 288, 302 f.: „Bevorzugungen mit dem Ziel einer Angleichung der Verhältnisse von Nichtbehinderten und Behinderten sind dagegen erlaubt, allerdings nicht ohne weiteres auch verfassungsrechtlich geboten.“ 543 BVerfG, 1 BvR 9/97, 8.10.1997, Rn. 52.
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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strebten Ausgleichsleistung und der Verweis auf eine andere Entfaltungsalternative als Benachteiligung anzusehen sind, wird regelmäßig von Wertungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und prognostischen Einschätzungen abhängen. Nur aufgrund des Gesamtergebnisses dieser Würdigung kann darüber befunden werden, ob eine Maßnahme im Einzelfall benachteiligend ist.“544 Erst wenn damit als Ergebnis feststeht, dass der Betroffene wegen seiner Behinderung von einer Regelung oder Maßnahme tatsächlich in benachteiligender Weise ungleich behandelt wird, stellt sich die Frage nach den damit verbundenen gleichheitsrechtlichen Prüfungsanforderungen des Diskriminierungsverbotes. e) Rechtfertigung nur bei zwingenden Gründen Auch im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot wegen der Behinderung kommt der oben bei den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG aufgeführte Rechtfertigungsmaßstab der Gleichheitsprüfung zum Tragen. Das bedeutet zunächst, dass auch hier die Formulierung als Verbot nicht als kategorischer und ausnahmsloser Ausschluss von Benachteiligungen wegen der Behinderung aufgefasst wird.545 Hingegen führt die gleichheitsrechtliche Überprüfung einer Maßnahme an Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG dazu, dass der Prüfungsmaßstab gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz erheblich intensiviert wird, Rechtfertigungen entsprechender Differenzierungen also nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt werden können. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist somit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „nur zulässig, wenn zwingende Gründe dafür vorliegen. Die nachteiligen Auswirkungen müssen unerläßlich sein, um behinderungsbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen.“546 Solche zwingenden Gründe hat das Gericht in jüngerer Zeit etwa im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde547 untersucht, die sich gegen den generellen Ausschluss schreib- und sprechunfähiger Personen von der Testiermöglichkeit durch die §§ 2232, 2233 BGB, 31 BeurkG richtete. Eine solche erbrechtliche Ungleichbehandlung wurde nur als unerlässlich betrachtet, soweit schreib- und sprechunfähige Personen nicht die für die Testamentserrichtung erforderliche Einsichts- oder Handlungsfähigkeit besitzen. Hingegen sind zwingende Gründe für die Benachteiligung jener Behinderten nicht ersichtlich, die über die erforderliche intellektuelle und physische Selbstbestimmungsfähigkeit verfügen.548 Ihr Ausschluss von der Testiermöglich544 545 546 547 548
BVerfG, BVerfG, BVerfG, BVerfG, BVerfG,
1 1 1 1 1
BvR BvR BvR BvR BvR
9/97, 8.10.1997, Rn. 52. 2161/94, 19.1.1999, Rn. 56. 2161/94, 19.1.1999, Rn. 56. 2161/94, 19.1.1999. 2161/94, 19.1.1999, Rn. 56.
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keit durch die genannten Vorschriften verstößt daher gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG und macht insoweit eine gesetzliche Neuregelung unerlässlich. 4. Gebot der Gleichstellung unehelicher Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG) Art. 6 Abs. 5 GG bildet, wie der zuvor beschriebene Art. 3 Abs. 3 GG, eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes und setzt der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit Grenzen.549 Die Vorschrift enthält neben einem Grundrecht der unehelichen Kinder einen Auftrag an den Gesetzgeber, durch den dieser unmittelbar gebunden wird. Zudem ist Art. 6 Abs. 5 GG eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung, die Gerichte und Verwaltung bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen haben550; nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich um eine „Schutznorm zugunsten nichtehelicher Kinder“551. Der Gesetzgeber wird hierdurch zwar nicht zur schematischen rechtlichen Gleichbehandlung von ehelichen und unehelichen Kindern verpflichtet, sondern kann unter Umständen sogar dazu veranlasst sein, „Sachverhalte ungleich zu regeln, die auf den ersten Blick gleich erscheinen“552. Eine ungleiche Behandlung nichtehelicher Kinder, die zu deren Benachteiligung gegenüber ehelichen Kindern führt, bedarf jedoch immer einer ausreichenden Begründung. Diese erkennt das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur dann an, wenn eine förmliche Gleichstellung in ebenso geschützte Rechtspositionen Dritter eingriffe oder der besonderen sozialen Situation des nichtehelichen Kindes nicht gerecht würde.553 In jedem Falle verlangt Art. 6 Abs. 5 GG die Anwendung eines strengen Prüfungsmaßstabes, wonach „die Voraussetzungen und die Notwendigkeit einer ungleichen Behandlung . . . überzeugend gerechtfertigt“554 sein müssen. Der Gesetzgeber hat weiterhin die Aufgabe, auf die Beseitigung der gesellschaftlichen Diskriminierung unehelicher Kinder hinzuwirken.555 In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen556, dass über die Anglei549
Vgl. BVerfGE 3, 225, 240. BVerfGE 8, 210, 217. 551 BVerfGE 85, 80, 87. 552 BVerfGE 17, 280, 284. 553 BVerfGE 85, 80, 88 unter Verweis auf BVerfGE 74, 33, 39. 554 BVerfGE 74, 33, 39 im Anschluss an Lutter, FamRZ 1967, 65, 68. 555 Vgl. Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 141; Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 6, Rn. 112 ff. 556 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 150. 550
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chung557 der rechtlichen Stellung nichtehelicher Kinder hinaus keine besonderen Aktivitäten des Gesetzgebers zur Bekämpfung gesellschaftlicher Diskriminierung erfolgt seien. Allerdings dürfte sich dieses Problem mit dem zunehmenden Wandel der öffentlichen Anschauungen hinsichtlich der Stigmatisierung von Nichtehelichkeit zumindest relativiert haben. Hingegen sind bis in die jüngste Vergangenheit gesetzgeberische Maßnahmen zu konstatieren, die auf die Angleichung der rechtlichen Stellung nichtehelicher Kinder abzielen. Hierzu zählen das Erbrechtsgleichstellungsgesetz558 und das Kindschaftsreformgesetz559 von 1997 sowie das Kindesunterhaltsgesetz560 aus dem Jahre 1998. 5. Gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 2 GG) Art. 33 Abs. 2 GG gewährt jedem Deutschen das Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung und konkretisiert insoweit den allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz. Sonstige besondere Gleichheitssätze, insbesondere die bereits dargestellten Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG, gewinnen für Art. 33 Abs. 2 GG Bedeutung, indem die dort genannten Kriterien des Ämterzugangs nicht mit den verbotenen Differenzierungskriterien begründet werden dürfen. Das Verhältnis von Art. 33 Abs. 2 GG zu dem Grundrecht der Berufsfreiheit nach Art. 12 GG ist nicht unumstritten.561 Im hier interessierenden Kontext der Gleichheitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist zu konstatieren, dass als Beruf im Sinne von Art. 12 GG auch Tätigkeiten im öffentlichen Dienst verstanden werden. Allerdings erfährt das Grundrecht der Berufsfreiheit nach dieser Auffassung durch Art. 33 Abs. 2 GG Sonderregelungen für den Bereich des öffentlichen Dienstes562, die Vorschrift über den gleichen Ämterzugang tritt insoweit „ergänzend hinzu“563. Gleichheitsrechtliche Besonderheiten weist die Bestimmung des Art. 33 Abs. 2 GG im Hinblick auf die dort normierten Auswahlkriterien auf. Im Gegensatz zu den meisten der bislang behandelten besonderen Differenzierungsverbote wird hier nicht ausdrücklich an einzelne untersagte Differen557
Vgl. insbesondere das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19.8.1969 (BGBl. I, 1243). 558 BGBl. I, 2942. 559 BGBl. I, 2968. 560 BGBl. I, 666. 561 Siehe etwa Höfling, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK, Art. 33 Abs. 1 bis 3, Rn. 303 ff. m. w. N. 562 Vgl. BVerfG, 2 BvR 159/97, 4.5.1998, Rn. 9. 563 BVerfG, 1 BvR 2095/97, 4.8.1998, Rn. 15.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
zierungskriterien angeknüpft. Stattdessen verweist die Vorschrift positiv auf Auswahlkriterien für den öffentlichen Dienst, die damit zum maßgeblichen Inhalt der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung werden und die entscheidenden Hinsichten der Vergleichsperspektive festlegen. Eignung bezieht sich dabei auf die gesamte Person des Bewerbers mit ihren körperlichen, seelischen und charakterlichen Eigenschaften.564 Hingegen ist der Begriff der Befähigung insbesondere auf Vorbildung, Wissen und Lebenserfahrung ausgerichtet und verweist auf die „Gesamtheit derjenigen erlernbaren Merkmale der Person, die für die fachkundige Bewältigung der amtsgeforderten Aufgaben vorausgesetzt wird“565. Mit der fachlichen Leistung sind schließlich vor allem die berufliche Erfahrung und praktische Bewährung in der jeweiligen Berufssparte angesprochen566, die als Kriterien für Auswahlentscheidungen Berücksichtigung zu finden haben. Gilt demnach für den öffentlichen Dienst der verbreitet betonte „Grundsatz der Bestenauslese“, so erstreckt sich dieser nicht allein auf die erstmalige Ernennung, sondern ebenfalls auf Beförderungen. Erst für den Fall, dass sich mehrere gleich qualifizierte Bewerber um ein öffentliches Amt bemühen, können weitere Gesichtspunkte als Hilfskriterien Bedeutung erlangen. Deren Zulässigkeit ist im Einzelnen umstritten, so insbesondere im Hinblick auf das Kriterium Geschlecht und die damit verbundene Problematik der Rechtmäßigkeit von Frauenquoten.567 Als unbestimmte Rechtsbegriffe belassen die in Art. 33 Abs. 2 GG enthaltenen Auswahlkriterien Eignung, Befähigung und fachliche Leistung dem Dienstherrn einen nicht unerheblichen Beurteilungsspielraum. Die gerichtliche Nachprüfung beschränkt sich somit regelmäßig darauf, ob der Dienstherr den gesetzlichen Rahmen oder die anzuwendenden Begriffe verkannt, einen unrichtigen Sachverhalt zu Grunde gelegt, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sonstige sachfremde Erwägungen angestellt hat. Auch wenn Art. 33 Abs. 2 GG grundsätzlich keinen Anspruch auf Übernahme in ein öffentliches Amt gibt, so kann im Einzelfall gleichwohl die Situation eintreten, dass jede andere Entscheidung als die Einstellung eines bestimmten Bewerbers rechtswidrig wäre. Befinden sich die Bewerber hingegen in einem qualifikatorischen Patt, sind sie also vor dem Hintergrund des durch Eignung, Befähigung und fachliche Leistung aus564
Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 33, Rn. 13. So Höfling, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK, Art. 33 Abs. 1 bis 3, Rn. 176. 566 Trute, AK-GG, Art. 33 Abs. 1–3, Rn. 38. 567 Ausführlich dazu Schubert, Affirmative Action und Reverse Discrimination. Zur Problematik von Frauenquoten im öffentlichen Dienst am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland unter Einbeziehung des Rechts der Europäischen Gemeinschaft, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Republik Südafrika. 565
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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geformten Leistungsprinzips im öffentlichen Dienst als gleichwertig anzusehen, so hat der Dienstherr im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung weitere Kriterien zu finden, die eine Auswahl erlauben. Bei Auswahl und Gewichtung dieser Hilfskriterien wiederum steht ihm ein weiter Ermessensspielraum zu.568 Allerdings gilt es auch insoweit den Einfluss der sonstigen gleichheitsrechtlichen Verfassungsbestimmungen zu berücksichtigen, die näheren Aufschluss über die Zulässigkeit der Hilfskriterien bieten können.569 Danach schließt etwa der allgemeine Gleichheitssatz die Heranziehung von Merkmalen aus, die einen Verstoß gegen die oben beschriebene gleichheitsrechtliche Willkürkontrolle begründen würden.570 6. Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG) Neben dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sind Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG die einzigen Gleichheitssätze, die sich gegen Differenzierungen überhaupt richten.571 Spezialität gegenüber Art. 3 Abs. 1 besteht nur unter dem Gesichtspunkt, dass der Anwendungsbereich thematisch spezifiziert ist, indem er sich auf die Bundestagswahlen bzw. Landtags- und Kommunalwahlen bezieht. Im Hinblick auf die verfassungsgerichtliche Gleichheitsrechtsprechung sind dabei die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahlen von Interesse. Allgemeinheit der Wahl bedeutet, dass grundsätzlich alle Bürger wählen und gewählt werden dürfen.572 Damit stellt die Allgemeinheit der Wahl einen Spezialfall der Gleichheit der Wahl dar.573 Dem Gesetzgeber ist es verboten, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen.574 Verfassungswidrig wäre damit ein Ausschluss vom Wahlrecht, der auf einem der in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Differenzierungsverbote beruht. Unzulässig wäre weiterhin, die Gewährung des Wahlrechts von Steu568 Dazu Trute, AK-GG, Art. 33 Abs. 1–3, Rn. 40: „Mit der Feststellung der Gleichwertigkeit ist im Grundsatz der die Auswahl determinierende Gewährleistungsbereich des Art. 33 Abs. 2 verlassen und die weitere Auswahl dem willkürfrei ausgeübten Ermessen des Dienstherrn überlassen.“ 569 Vgl. Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 147. 570 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 147. 571 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 136. 572 Vgl. Trute, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK II, Art. 38, Rn. 19. 573 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 461. 574 BVerfGE 58, 202, 205.
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erzahlungen, einem Mindestvermögen oder einem bestimmten Bildungsniveau abhängig zu machen.575 Ausnahmen vom Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl sind nur zulässig, sofern für sie ein zwingender Grund besteht.576 Hierzu zählt etwa die Festsetzung eines Mindestalters.577 Neben der Allgemeinheit der Wahl ist in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG das Gebot der Gleichheit der Wahl enthalten. Danach gilt für das aktive Wahlrecht, dass jeder Wähler die gleiche Stimmenzahl hat (gleicher Zählwert) und jede Stimme bei der Umsetzung der Stimmen in die Zuteilung von Parlamentssitzen berücksichtigt wird (gleicher Erfolgswert).578 Im Hinblick auf das passive Wahlrecht ist die Chancengleichheit der Wahlbewerber Voraussetzung des Gleichheitserfordernisses. Dabei bezieht sich die Gleichheit auch auf das Wahlvorschlagsrecht und die Wahlwerbung. Im Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz wurde der wahlrechtliche Gleichheitssatz vom Bundesverfassungsgericht lange Zeit als „Anwendungsfall“579 verstanden. Eine Folge diese Auffassung bestand darin, dass Verletzungen des speziellen Wahlrechtsgrundsatzes bei politischen Wahlen in den Ländern unter Hinweis auf Art. 3 Abs. 1 GG mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden konnten. Diese Rechtsprechung ist in jüngerer Zeit aufgegeben worden.580 Das Bundesverfassungsgericht erkennt nunmehr auch in der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl spezialgesetzlich normierte Ausprägungen der vom Grundgesetz in Art. 3 Abs. 1 allgemein gewährleisteten Gleichheit der Bürger, die den Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz und damit die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde bei Wahlen in den Ländern ausschließen.581 Gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist die Wahlrechtsgleichheit in ihren Anforderungen durch eine weit stärkere Formalisierung gekennzeichnet.582 Jedermann soll sein aktives und passives Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise ausüben können.583 Hierdurch verbleibt dem Gesetzgeber auf dem Gebiet des Wahlrechts nur ein enger Spielraum für Differenzierungen. Abweichungen von der dem demokratischen Prinzip entsprechenden formalen Gleichbehandlung aller Bürger 575 Vgl. H.-P. Schneider, AK-GG, Art. 38, Rn. 61; Silberkuhl, in: Seifert/Hömig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 38, Rn. 6. 576 BVerfGE 36, 139, 141; 41, 399, 413; 82, 322, 338. 577 Vgl. BVerfGE 36, 139, 141. 578 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 38, Rn. 6; Trute, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK II, Art. 38, Rn. 52. 579 Vgl. etwa BVerfGE 1, 208, 242; 57, 43, 56. 580 BVerfG, 2 BvR 1953/95, 16.7.1998. 581 Vgl. BVerfG, 2 BvR 1953/95, 16.7.1998, Rn. 42 ff. 582 Vgl. H.-P. Schneider, AK-GG, Art. 38, Rn. 67 m. w. N. 583 Vgl. etwa BVerfGE 34, 81, 98; 48, 64, 81; 58, 177, 190.
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sind daher nur unter „ganz besonderen, schwerwiegenden Voraussetzungen“ gerechtfertigt.584 Ungleichbehandlungen in diesem Bereich bedürfen somit zu ihrer Rechtfertigung stets besonderer zwingender Gründe.585 Die Vornahme von Differenzierungen hinsichtlich des gleichen Zählwertes der Stimmen wird aus diesem Grund vom Bundesverfassungsgericht strikt abgelehnt.586 Hingegen hat das Gericht bei der Rechtfertigung von Sperrklauseln zunächst die Auffassung vertreten, es handele sich um Ausnahmen von der absoluten formalen Gleichheit des Erfolgswertes, die durch den allgemeinen Gleichheitssatz gedeckt seien.587 Grundlage war somit die zuvor beschriebene Bewertung der Wahlrechtsgleichheit als „Anwendungsfall“ des Art. 3 Abs. 1 GG. In späteren Entscheidungen588 wird der unterschiedliche Erfolgswert derjenigen Stimmen, die auf an der Sperrklausel gescheiterte Parteien entfallen, mit der Gefahr einer übermäßigen Parteienzersplitterung und der Funktionsfähigkeit des Parlaments gerechtfertigt. Umstritten ist hingegen, auch innerhalb des Bundesverfassungsgerichts589, die Verfassungsmäßigkeit der ausgleichslosen Einräumung von Überhangmandaten. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass selbst die Wahlrechtsgleichheit als jene Ausprägung des Gleichheitssatzes, die aufgrund ihrer Nähe zum Demokratieprinzip besonders streng beachtet werden muss, kein absolutes Differenzierungsverbot darstellt, sondern ebenso wie die zuvor beschriebenen besonderen Gleichheitssätze durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Ausnahmen erfährt, die entsprechende staatliche Differenzierungen unter bestimmten Voraussetzungen erlauben. Strenge Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen hat das Bundesverfassungsgericht auch in seiner umfangreichen Rechtsprechung zur Chancengleichheit der Parteien gestellt. Dabei wird die Herleitung dieser Chancengleichheit verfassungsgerichtlich nicht einheitlich beantwortet. Bisweilen findet sich insofern der Verweis auf Art. 21 GG in Verbindung mit dem Demokratieprinzip.590 Andere Entscheidungen stellen hingegen maßgeblich auf Art. 21 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ab.591 In jüngerer Zeit wiederum hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass das Grundgesetz „durch Art. 3, Art. 21 und Art. 38“ die Chancengleichheit der Parteien gewährleistet und damit den freien Wettbewerb der Parteien um die Teilnahme an der politi584 585 586 587 588 589 590 591
So Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Anhang zu Art. 3, Rn. 43 m. w. N. Siehe etwa BVerfGE 95, 408, 418; st. Rspr. Vgl. BVerfGE 1, 208, 247. BVerfGE 4, 31, 39 f. So z. B. BVerfGE 34, 81, 99. Vgl. BVerfG NJW 1997, 1553. BVerfGE 73, 40, 65. Vgl. etwa BVerfG, 2 BvK 1/02, 11.3.2003, Rn. 30.
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schen Willensbildung sichert.592 Einigkeit besteht darüber, dass sich der Grundsatz der Chancengleichheit nicht allein auf den Bereich des Wahlrechts im engeren Sinne bezieht, sondern auch die Wahlvorbereitung, den Wettbewerb der Parteien um die Erlangung von Spenden und die Wahlwerbung im Rundfunk umfasst, insgesamt somit auch im gesamten Vorfeld der Wahlen zu berücksichtigen ist.593 Seinem Inhalt nach ist er dabei auf eine proportionale Form von Gleichheit ausgerichtet, die Unterschiede der Parteien in Bezug auf Größe, Bedeutung und Wahlerfolg nicht außer Betracht lässt, sondern entsprechende Abstufungen vornimmt.594 Insoweit wird indes strenge Gleichbehandlung verlangt und eine intensive grundrechtliche Gleichheitsprüfung vorgenommen: Abweichungen vom proportional verstandenen Grundsatz der Chancengleichheit politischer Parteien bedürfen daher auch hier besonderer, als zwingend erachteter Gründe.595 II. Vereinigte Staaten von Amerika Während sich die deutsche Verfassungsrechtsprechung auf die erörterten, verfassungstextlich spezifizierten Diskriminierungsverbote stützen kann, ist der Umgang des U.S. Supreme Court mit den besonderen Diskriminierungsverboten maßgeblich von der Herausbildung unterschiedlicher Prüfungsmaßstäbe geprägt, die sich nicht direkt aus der Verfassung ableiten lassen. Hierzu zählen mit dem Strict Scrutiny Test ein besonders strikter Prüfungsmaßstab sowie der mittlere Prüfungsmaßstab des Intermediate Scrutiny Test, denen in der amerikanischen Rechtsprechung zu Gleichheitsfragen überragende Bedeutung zukommt. 1. Strict Scrutiny Test Der vom U.S. Supreme Court erstmals 1944 in Korematsu v. United States596 formulierte strikte Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test stellt die höchsten Anforderungen an eine staatliche Maßnahme, die auf ihre Ver592
BVerfG, 2 BvE 1/99, 22.5.2001, Rn. 22. BVerfG, 2 BvE 1/99, 22.5.2001, Rn. 22 m. w. N. 594 Vgl. Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK II, Art. 21, Rn. 35. 595 Siehe Silberkuhl, in: Seifert/Hömig (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 21, Rn. 8 m. w. N. 596 Korematsu v. United States, 323 U.S. 214 (1944). Allerdings gab es vereinzelte Ansätze zur Einführung eines neuen, strikten Prüfungsstandards bereits zuvor, so in Skinner v. Oklahoma, 316 U.S. 535 (1942) sowie in der Entscheidung United States v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144 (1938), die in der berühmten „footnote four“ (vgl. Lieberman, The Evolving Constitution, S. 89 f.) von Justice Stone erstmals eine Verschärfung des Prüfungsmaßstabes im Rahmen des 14. Amendment 593
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fassungsmäßigkeit hinsichtlich der equal protection-Klausel überprüft wird. Ursprünglich nur bei Differenzierungen aufgrund der Rasse als Prüfungsmaßstab angelegt597, wurde sein Anwendungsbereich in der Folgezeit erweitert, insbesondere in den letzten Jahren der Amtszeit Earl Warrens, von 1953 bis 1969 Chief Justice des U.S. Supreme Court.598 Im Folgenden wird zunächst untersucht, welche inhaltlichen Vorgaben der Strict Scrutiny Test hinsichtlich der Vereinbarkeit von staatlichen Maßnahmen mit der equal protection-Klausel des 14. Amendment enthält. Im Anschluss daran gilt es, den seinem Umfang nach bis heute umstrittenen Anwendungsbereich des strikten gleichheitsrechtlichen Tests näher zu bestimmen, der bei bestimmten verdächtigen Klassifizierungen (suspect classifications) sowie so genannten fundamentalen Rechten (fundamental rights) eröffnet ist. a) Inhaltsbestimmung Um den Anforderungen des Strict Scrutiny Test zu genügen, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen darf die vorgenommene Differenzierung nur im Hinblick auf ein zwingendes, überragendes öffentliches Interesse erfolgen. Darüber hinaus muss die getroffene Maßnahme zur Verwirklichung dieses Zieles notwendig sein. aa) Zwingendes öffentliches Interesse (compelling government interest) Der Strict Scrutiny Test erfordert zunächst ein zwingendes öffentliches Interesse: „In other words, such classifications are constitutional only if they are narrowly tailored measures that further compelling governmental interests.“599 Eine allgemeine Klärung durch den U.S. Supreme Court, wie andeutet; vgl. zum Ganzen ausführlich Murphy/Fleming/Harris, American Constitutional Interpretation, S. 749 ff. 597 So auch in Korematsu v. United States, 323 U.S. 214, 216 (1944): „legal restrictions which curtail the civil rights of a single racial group are immediately suspect. That is not to say that all such restrictions are unconstitutional. It is to say that courts must subject them to the most rigid scrutiny.“ 598 Vgl. Vile, Politics in the USA, S. 187 ff., 227; Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 40. 599 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2113 (1995) (Hervorhebung S.M.D.). Zu den nicht immer identischen, in der Sache jedoch übereinstimmenden Formulierungen siehe etwa Palmore v. Sidoti, 466 U.S. 429, 432 f. (1984); McLaughlin v. Florida, 379 U.S. 184, 196 (1964); Loving v. Virginia, 388 U.S. 1, 11 (1967). Deutlich auch der Hinweis des U.S. Supreme Court, In re Griffiths, 413 U.S. 717, 722 (1973), wonach „the state interest required has been characterized as ‚overriding‘, . . . ‚compelling‘, . . . ‚important‘, . . . or ‚substantial‘. We attribute no
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
ein solches zwingendes Interesse im Einzelnen zu bestimmen sei, ist nie erfolgt.600 Stattdessen gibt es eine größere Anzahl von Entscheidungen, in denen ein compelling government interest abgelehnt und nur wenige, in denen dies bejaht wurde. Einer der seltenen Fälle, in denen ein zwingendes öffentliches Interesse angenommen wurde, ist Korematsu v. United States601 aus dem Jahre 1944. Während des 2. Weltkrieges waren im Zuge der amerikanisch-japanischen Kriegshandlungen Bestimmungen getroffen worden, denen zufolge an der Westküste der Vereinigten Staaten lebende Personen japanischer Herkunft in Lager interniert werden sollten, um der Gefahr japanischer Sabotageakte zu begegnen. Korematsu, ein US-Staatsbürger, an dessen Loyalität gegenüber den Vereinigten Staaten im Laufe der Verhandlungen von keiner Seite gezweifelt wurde, hatte sich nicht in eines der Lager begeben, sondern war zu Hause in San Leandro, Kalifornien, geblieben und daraufhin strafrechtlich verfolgt worden. Während die drei Richter Roberts, Murphy und Jackson hierin eine ungerechtfertigte rassische Diskriminierung von unverdächtigen Staatsbürgern sahen, entschied die Mehrheit des Gerichts, dass zwar rechtliche Beschränkungen von Bürgerrechten einer bestimmten Rasse verdächtig und daher einer strengen Gleichheitsprüfung zu unterwerfen seien. Indes stellten die Zwecke der Landesverteidigung und der nationalen Sicherheit nach Auffassung des Mehrheitsvotums zwingende öffentliche Interessen dar, weshalb die Klage Korematsus abgewiesen wurde.602 Als weitere compelling government interests anerkannt wurden etwa die Sicherheit und Ordnung in Strafvollzugsanstalten603 oder die Stabilität des politischen Systems604. Wie differenziert die Bestimmung zwingender öffentlicher Interessen im Einzelfall durch den U.S. Supreme Court erfolgt, verdeutlicht die Entscheidung Roe v. Wade605 aus dem Jahre 1973. Darin erklärte das Gericht ein Gesetz des Staates Texas für verfassungswidrig, in particular significance to these variations in diction.“ Nach der Analyse von Lieberman, The Evolving Constitution, S. 120, verwendete der U.S. Supreme Court bis 1992 in 318 Entscheidungen den Ausdruck „compelling interest“ oder „compelling state interest“. Diese vom Gericht vorzugsweise verwendete Formulierung wird daher auch im Folgenden bei der Untersuchung des Strict Scrutiny Test herangezogen. 600 Murphy/Fleming/Harris, American Constitutional Interpretation, S. 833; Lieberman, The Evolving Constitution, S. 121. 601 Korematsu v. United States, 323 U.S. 214 (1944). 602 Vgl. Murphy/Fleming/Harris, American Constitutional Interpretation, S. 833; Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S. Supreme Court, S. 56. 603 Lee v. Washington, 390 U.S. 333 (1968). 604 Storer v. Brown, 415 U.S. 724, 736 (1974). 605 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973); vgl. Epstein/Kobylka, The Supreme Court and Legal Change, S. 167 ff.
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dem Abtreibungen nur dann straffrei gestellt wurden, wenn anderenfalls das Leben der Mutter bedroht war. Im hier interessierenden Zusammenhang konstatierte das Gericht zunächst, der Staat habe fraglos ein wichtiges und legitimes Interesse daran, das Leben der Schwangeren zu schützen. Ein anderes, ebenfalls wichtiges öffentliches Interesse bestehe im Hinblick auf den Schutz ungeborenen Lebens. Diese Interessen indes seien „separate and distinct. Each grows in substantiality as the woman approaches term and, at a point during pregnancy, each becomes ‚compelling‘.“606 Die damit entscheidende Frage, zu welchem Zeitpunkt ein solcher „compelling point“ erreicht sei, beantwortet der U.S. Supreme Court für Mutterschutz und Schutz des ungeborenen Lebens unterschiedlich. Geht es um die Schwangere, so ist nach dieser Auffassung, „with respect to the State’s important and legitimate interest in the health of the mother, the ‚compelling‘ point, in the light of present medical knowledge, . . . at approximately the end of the first trimester“607. Bis zu diesem Zeitpunkt liege die Sterblichkeitsrate bei Schwangerschaftsabbrüchen unter der bei Geburten. Hingegen komme es im Hinblick auf das ungeborene Leben auf die potentielle Lebensfähigkeit an; insofern liege der „ ‚compelling‘ point . . . at viability“ und sei daher „usually placed at about seven months (28 weeks) but may occur earlier, even at 24 weeks“608. Angesichts des Fehlens allgemeiner Maßstäbe für die gerichtliche Annahme eines zwingenden öffentlichen Interesses ist dessen Bestimmung durch den U.S. Supreme Court insgesamt wenig vorhersehbar und erfährt unter diesem Gesichtspunkt auch Kritik von Teilen der verfassungsrechtlichen Literatur609. Die Entscheidung über das Vorliegen eines compelling government interest ist damit in besonderem Maße von den jeweils vorherrschenden Strömungen der Verfassungsinterpretation innerhalb des Gerichts abhängig; hierauf wird im weiteren Verlauf der Untersuchung zurück zu kommen sein. Im Gegensatz zu den dargestellten Entscheidungen hat der U.S. Supreme Court ein zwingendes öffentliches Interesse in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle abgelehnt. Das gilt etwa für Regelungen zur Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens aus Praktikabilitätsgründen610 oder die ausschließliche Gewährung von Sozialleistungen an Bürger des betreffenden Einzelstaates611. Die große Anzahl von Hoheitsakten, denen ein zwingendes öffentliches Interesse abgesprochen wurde612, weist deutlich auf die äußerst 606
Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 162 f. (1973). Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 163 (1973). 608 Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 161 ff. (1973). 609 Vgl. etwa Lieberman, The Evolving Constitution, S. 120: „The ‚compelling interest‘ test is a formula that, depending on . . . political views or degree of cynism, allows the Court to uphold or reject laws that encroach on constitutional rights.“ 610 Siehe etwa Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677, 690 (1973) m. w. N. 607
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hohen Anforderungen des gleichheitsrechtlichen Strict Scrutiny Test hin. Viele der nach dem strikten Prüfungsmaßstab beurteilten Regelungen und Maßnahmen scheitern bereits an dieser ersten Voraussetzung der Gleichheitsprüfung. bb) Notwendigkeit der Maßnahme (close tailoring) Weitere Voraussetzung des Strict Scrutiny Test ist, dass die überprüfte Maßnahme für das Erreichen des mit ihr verfolgten, als zwingend bewerteten öffentlichen Interesses notwendig sein muss. Im Vordergrund steht somit eine qualifizierende Betrachtung des Verhältnisses zwischen eingesetztem Mittel und angestrebtem Ziel. Die Bestimmung von Ziel und Mittel ist in diesem zweiten Prüfungsschritt des strikten Tests kaum problematisch. Ersteres entspricht dem notwendigerweise zuvor bereits untersuchten, als zwingend erachteten öffentlichen Interesse. Eingesetztes Mittel ist die gleichheitsrechtlich überprüfte differenzierende Maßnahme, deren Vereinbarkeit mit der equal protection-Klausel es zu klären gilt. Nicht ganz eindeutig ist hingegen, wie die Beziehung zwischen beiden Faktoren beschaffen sein muss, um dem strikten Prüfungsmaßstab zu genügen. Insoweit hat Chief Justice Rehnquist in einem Mehrheitsvotum aus dem Jahre 1996 angemerkt, der U.S. Supreme Court habe „not always provided precise guidance on how closely the means . . . must serve the end“613. Einigkeit besteht darüber, dass eine differenzierende Maßnahme an den Anforderungen des Strict Scrutiny Test scheitert, „unless shown to be necessary to promote a compelling governmental interest“614. Nach einer weiteren verbreitet herangezogenen Formulierung sind entsprechende Ungleichbehandlungen gleichheitsrechtlich zulässig, „if they are narrowly tailored measures that further compelling governmental interests“615. Steht damit die Frage im Vordergrund, ob die überprüfte Maßnahme hinreichend eng zugeschnitten ist auf das mit ihr verfolgte zwingende öffentliche Interesse, so wird insbesondere untersucht, ob möglicherweise weniger belastende Mittel zur 611 Graham v. Richardson, 403 U.S. 365, 374 f. (1971): „we conclude that a State’s desire to preserve limited welfare benefits for its own citizens is inadequate to justify Pennsylvania’s making noncitizens ineligible for public assistance“. 612 Zu weiteren Entscheidungen, in denen das Vorliegen zwingender öffentlicher Interessen verneint wurde, vgl. Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 177 ff.; Murphy/Fleming/Harris, American Constitutional Interpretation, S. 833. 613 Shaw v. Hunt, 116 S.Ct. 1894, 1905 (1996). 614 Siehe etwa Memorial Hospital v. Maricopa County, 415 U.S. 250, 262 (1974). 615 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2113 (1995).
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Verwirklichung dieses Zieles existieren.616 Im Gegensatz zum Rational Basis Test reicht somit nicht mehr aus, dass zwischen Mittel und Zweck eine lediglich vernünftige, rationale Beziehung besteht. Es findet demnach bei der zweiten Voraussetzung des Strict Scrutiny Test ein Element der Verhältnismäßigkeit Einlass, das nach dem Vorhandensein milderer Mittel („less drastic means“617) fragt: Hierzu zählt auch die gleichheitsrechtliche Überprüfung, ob das vom Staat verfolgte Ziel gleichfalls mit einer „unverdächtigen“ Klassifizierung erreicht werden kann.618 Ist diese Möglichkeit zu bejahen, so genügt die überprüfte Maßnahme den strengen Anforderungen des Strict Scrutiny Test ebenfalls nicht. cc) Zusammenfassung Die zuvor dargestellten inhaltlichen Anforderungen, die im Rahmen des Strict Scrutiny Test bei der gleichheitsrechtlichen Kontrolle staatlicher Maßnahmen herangezogen werden, belegen das hohe Prüfungsniveau des strikten Tests. Dies kommt auch in der vielfach übernommenen Formulierung Gunthers zum Ausdruck, der Prüfungsmaßstab sei „strict in theory“, jedoch „fatal in fact“619. Die hierin liegende Übersteigerung hat ihren Ursprung darin, dass mit der Zuordnung zum Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test zugleich die Entscheidung des U.S. Supreme Court weitgehend präjudiziert wird: So stellt Brugger fest, dass die Anwendung dieses Tests „in aller Regel über das Schicksal des angegriffenen staatlichen Aktes [entscheidet]“620. Zwar hat sich der U.S. Supreme Court in jüngerer Zeit von den auf Gunther zurückgehenden Einschätzungen zu distanzieren versucht, indem er 1995 anmerkte: „Finally, we wish to dispel the notion that strict scrutiny is ‚strict in theory, but fatal in fact‘ “621. Auch diese Bekundung vermag indes nichts daran zu ändern, dass eine nach dem strengsten Prüfungsmaßstab beurteilte Differenzierung nur in den seltensten Ausnah616
Sehr klar insoweit Dunn v. Blumstein, 405 U.S. 330, 343 (1972): „And if there are other, reasonable ways to achieve those goals with a lesser burden on constitutionally protected activity, a State may not choose the way of greater interference. If it acts at all, it must choose ‚less drastic means‘“. 617 Vgl. Shelton v. Tucker, 364 U.S. 479, 488 (1960). 618 Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 173. 619 Gunther/Sullivan, Constitutional Law, S. 630; vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 1451. 620 Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 173; vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 1451; Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 186. 621 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2117 (1995).
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mefällen als gerechtfertigt erachtet wird. Insofern gilt, was Justice O’Connor 1996 in einem Mehrheitsvotum betonte – „Strict scrutiny remains, nonetheless, strict.“622 Angesichts des somit beschriebenen erheblichen Gewichts, das der Bestimmung des gleichheitsrechtlich gebotenen Testverfahrens zukommt, erlangt die Frage nach dem Anwendungsbereich des Strict Scrutiny Test überragende Bedeutung. Sie bildet ohne Zweifel einen besonders intensiv diskutierten Schwerpunkt in der Auseinandersetzung über das Gleichheitsgrundrecht und ist von ebenso hoher praktischer wie theoretischer Relevanz. b) Anwendungsbereich Der Strict Scrutiny Test kommt einerseits zur Anwendung, wenn eine Ungleichbehandlung auf Klassifizierungen beruht, die verfassungsgerichtlich als verdächtig erachtet werden (suspect classifications). Sein Anwendungsbereich ist darüber hinaus eröffnet, wenn die Auswirkungen differenzierender Maßnahmen fundamentale Rechte (fundamental rights) betreffen.623 aa) Verdächtige Klassifizierungen (suspect classifications) Bei der Auseinandersetzung mit den vom U.S. Supreme Court entwickelten verdächtigen Klassifizierungen ist zunächst zu ermitteln, welche Kriterien in der amerikanischen Rechtsprechung für die Einordnung eines Differenzierungsmerkmals als „verdächtig“ herangezogen werden. Im Anschluss daran sind die Fallgruppen zu untersuchen, bei denen nach der aktuellen Gleichheitsrechtsprechung des Gerichts Unterscheidungen als suspekt anzusehen sind und damit dem strengen Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test unterliegen. (1) Kriterien der Verdächtigkeit Eine einheitliche Festlegung von Kriterien, die zur Verdächtigkeit einer Klassifizierung und damit zum strengsten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab führen, ist durch den U.S. Supreme Court bislang nicht erfolgt. Vielmehr bestehen innerhalb des Gerichts zum Teil deutliche Meinungsunterschiede624 darüber, nach welchen Kriterien eine Differenzierung als 622
Bush v. Vera, 116 S.Ct. 1941, 1961 (1996). Vgl. Murphy/Fleming/Harris, American Constitutional Interpretation, S. 828 f., 833 f.; Lockhart/Kamisar/Choper/Shiffrin/Fallon, Constitutional Law, S. 1323 ff.; Berger, The Fourteenth Amendment and the Bill of Rights, S. 105 ff. 623
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verdächtig anzusehen ist. Dennoch lassen sich bei genauerer Untersuchung der Entscheidungen zur equal protection-Klausel bestimmte leitende Gesichtspunkte erkennen, denen für die Beurteilung des Vorliegens von suspect classifications eine wesentliche Bedeutung zukommt. (a) Leicht abgrenzbare Minderheiten (discrete and insular minorities) Für die Einordnung einer staatlichen Maßnahme als verdächtig im Sinne des Strict Scrutiny Test spricht zunächst, wenn diese im Hinblick auf leicht identifizierbare und abgrenzbare Minderheiten Differenzierungen vornimmt. Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung ist eine Anmerkung des Richters Stone in United States v. Carolene Products Co.625 aus dem Jahre 1938. Stone weist in seiner für die amerikanische Verfassungsrechtsprechung bedeutsamen Fußnote626 unter anderem darauf hin, dass unter dem Gesichtspunkt des Minderheitenschutzes Maßnahmen gegen vorurteilsbeladene „discrete and insular minorities“ einer genaueren richterlichen Überprüfung zu unterziehen seien. Wenngleich die Aussage dabei vor dem Hintergrund der Rassenproblematik zu verstehen ist, so bezieht sie sich ihrer allgemeinen Formulierung nach nicht zwangsläufig auf rassische oder ethnische Minderheiten. In der Folgezeit ist die berühmte „footnote 4“ nicht zuletzt aus diesem Grund als Kriterium der Verdächtigkeit oftmals zum Gegenstand von Kontroversen auch innerhalb des U.S. Supreme Court geworden. Es ist die Unbestimmtheit der Formulierung „discrete and insular minorities“, die eine Interpretation im Hinblick auf unterschiedlichste Gruppen von abgrenzbaren Minderheiten ermöglicht, welche in besonderem Maße die Kritik einiger Richter des Gerichts hervorgerufen hat. So bringt etwa Chief Justice Rehnquist sein Unbehagen gegenüber der Offenheit dieses Kriteriums mit den Worten zum Ausdruck: „Es würde kaum der besonderen Findigkeit eines Rechtsanwalts bedürfen, um ‚insular and discrete minorities‘ an jeder Straßenbiegung vorzufinden.“627 Als verdächtige Klassifizierung kommt nach dieser Auffassung grundsätzlich nur das klassische, mit der Einführung der equal protection-Klausel des 14. Amendment ursprünglich verbundene Merkmal der Rasse in Betracht.628 624 Hierzu ausführlich Murphy/Fleming/Harris, American Constitutional Interpretation, S. 828 ff. 625 United States v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144 (1938). 626 United States v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144, 152 (1938); vgl. hierzu Powell, Carolene Products Revisited, 82 Columbia Law Review 1982, 1087 ff.; ausführlich Ackerman, Beyond Carolene Products, 98 Harvard Law Review 1985, 713 ff. 627 Sugarman v. Dougall, 413 U.S. 634, 657 (1973) (Rehnquist, dissenting).
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Entgegen dieser restriktiven Haltung hat der U.S. Supreme Court in seinen Entscheidungen wiederholt auf den Grundgedanken der „Fußnote vier“ hingewiesen, wonach es Aufgabe des Gerichts sei, leicht abgrenzbare Minderheiten davor zu schützen, dass sie von einer vorurteilsbehafteten Mehrheit im politischen Prozess benachteiligt werden.629 Als Konsequenz aus diesen unterschiedlichen Bewertungen der gleichheitsrechtlichen Relevanz von „discrete and insular minorities“ sind mehrere Klassifizierungen hinsichtlich ihrer „Verdächtigkeit“ höchst umstritten, worauf bei der Darstellung der Fallgruppen zurückzukommen sein wird. Zudem haben die bestehenden Meinungsunterschiede zur Suche nach weiteren Kriterien der Verdächtigkeit geführt, die darüber Aufschluss geben können, ob eine Differenzierung als suspect classification anzusehen ist und damit strengsten Rechtfertigungsanforderungen unterliegt. (b) Verwendung irrationaler Gruppenklischees Als Kriterium für die Verdächtigkeit einer Klassifizierung kann weiterhin die Verwendung irrationaler Gruppenklischees herangezogen werden.630 In der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court wird diesbezüglich darauf abgestellt, ob eine Klassifizierung auf unzutreffenden Stereotypen beruht, die der benachteiligten Gruppe zugeschrieben werden.631 Hierzu zählt etwa die Charakterisierung von Frauen als ungeeignet, die Funktion von Geschworenen auszuüben: Nach traditioneller Auffassung „women were thought to be too fragile and virginal to withstand the polluted courtroom atmosphere“632. In der Rechtsprechung des Gerichts ist mehrfach auf die Verwendung irrationaler Gruppenklischees hingewiesen worden, Entscheidungen diesbezüglich betreffen etwa stereotype Auffassungen über den Konsum alkoholischer Getränke durch Frauen und Männer633, über finanzielle Abhängigkeit der Frauen von Männern634, die Voreingenommenheit von Geschworenen aufgrund ihres Geschlechts635 oder „typische Frauenberufe“636. Problematisch 628
Vgl. Murphy/Fleming/Harris, American Constitutional Interpretation, S. 832. Siehe etwa O’Bannon v. Town Court Nursing Center, 447 U.S. 773, 800, Fn. 8 (1980). 630 Vgl. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 175; Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 451. 631 Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677, 684 f. (1973); vgl. Ely, Democracy and Distrust, S. 159, der als Beispiele etwa aufführt, „that whites in general are smarter or more industrious than blacks, men more stable emotionally than women, or native-born Americans more patriotic than Americans born elsewhere“. 632 Vgl. J.E.B. v. Alabama, 114 S.Ct. 1419, 1423 (1994). 633 Craig v. Boren, 429 U.S. 190 (1976). 634 Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677 (1973). 635 J.E.B. v. Alabama, 114 S.Ct. 1419 (1994). 629
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erscheint bei diesem Kriterium der Verdächtigkeit insbesondere die Bestimmung jener Grenze, die das noch zulässige, notwendige Maß an gesetzgeberischer Typisierung einerseits von einer als „irrational“ zu bewertenden, klischeehaften Typisierung andererseits trennt. So könnte im oben637 dargestellten Fall Korematsu v. United States638 durchaus die „verdächtige“, irrational klischeehafte Annahme enthalten sein, weiße Amerikaner seien dem Staat gegenüber loyaler als amerikanische Staatsbürger japanischer Abstammung639, während die Gegenauffassung640 das Handeln des Gesetzgebers noch im Rahmen „rationaler“ Gestaltungsfreiheit ansiedelt und von einer zulässigen Typisierung ausgeht. (c) Stigmatisierung Ein weiteres Kriterium für die Verdächtigkeit von Klassifizierungen und damit der Anwendung des strikten Prüfungsmaßstabes wird angesprochen in der Entscheidung Brown v. Board of Education641 von 1954. Diese markiert eine tief greifende Zäsur in der amerikanischen verfassungsrechtlichen Rassenrechtsprechung. Bis 1954 war das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen nachhaltig geprägt von der Entscheidung Plessy v. Ferguson642 aus dem Jahre 1896. Kläger war der schwarze Plessy643, der sich im Sommer 1892 in einem nur für weiße Fahrgäste reservierten Eisenbahnwaggon niedergelassen hatte, obwohl ein Gesetz des Staates Louisiana bestimmte, „that all railway companies carrying passengers in their coaches in this state, shall provide equal but separate accomodations for the white, and colored races“644. Eine weitere Regelung enthielt das Verbot, sich auf Plätzen niederzulassen, die für Angehörige der anderen Hautfarbe ausgewiesen waren. Bei Nichtbefolgung dieser Vorschriften drohte Passagieren und Zugpersonal eine Freiheitsstrafe bis zu 20 Tagen. Trotz Aufforderung durch den Schaffner hatte sich Plessy 636
Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718 (1982). Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. a) aa). 638 Korematsu v. United States, 323 U.S. 214 (1944). 639 Vgl. hierzu die dissenting opinions der Richter Roberts, Murphy und Jackson zu der Entscheidung Korematsu v. United States, 323 U.S. 214, 225 ff. (1944). 640 Vgl. erneut die Mehrheitsentscheidung, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. a) aa). 641 Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483 (1954). Ausführlich zu den Auswirkungen dieser Entscheidung Hill/Jones (Hrsg.), Race in America. The Struggle for Equality, S. 71 ff. 642 Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896). 643 Plessy selbst stützte die Klage unter anderem darauf, dass sein Blut nur zu einem Achtel afrikanisch, hingegen zu sieben Achteln kaukasischen Ursprungs sei. 644 Vgl. Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537, 540 (1896). 637
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nicht aus dem Abteil entfernt und war daraufhin strafrechtlich verfolgt worden. Der U.S. Supreme Court entschied, dass die unter anderem auf das 14. Amendment gestützte Klage abzuweisen sei. Es könne nicht angenommen werden, „that the enforced separation of the two races stamps the colored race with a badge of inferiority“645. Diese Auffassung, derzufolge die Rassentrennung den Schwarzen keinen „Stempel der Minderwertigkeit“ aufdrücke, wurde zur Grundlage der bis 1954 herrschenden „separate but equal“-Doktrin.646 Lediglich Justice Harlan kritisierte in seinem Sondervotum647 die Mehrheitsentscheidung des Gerichts und erklärte, die Verfassung sei „color-blind, and neither knows nor tolerates classes among citizens“648. Durch die „separate but equal“-Doktrin würden Schwarze als minderwertig herabgesetzt und als unterlegene Rasse stigmatisiert.649 Dieses Zeichen „of servitude and degradation upon a large class of our fellow citizens“650, vom U.S. Supreme Court mit dem Siegel der Verfassungsmäßigkeit versehen, drohe ähnlich verheerende Folgen zu entwickeln wie die berüchtigte Entscheidung im Falle Dred Scott. Damit war die Rassentrennung durch die Mehrheitsentscheidung des U.S. Supreme Court nunmehr in allen Bereichen des öffentlichen Lebens verfassungsrechtlich legitimiert, sofern die voneinander abgegrenzten Bereiche vergleichbar ausgestaltet waren. Wie Justice Harlan in seiner abweichenden Meinung vorausgesagt hatte, kam es in der Folgezeit nach 1896 in zahlreichen Bereichen des öffentlichen Lebens zu einer strikten Trennung der Rassen, die maßgeblich auf das Urteil des U.S. Supreme Court in Plessy v. Ferguson gestützt wurden. Erst durch das Urteil Brown v. Board of Education von 1954 wurde der Gedanke der „separate but equal“-Doktrin zumindest für das öffentliche Schulwesen aufgegeben. Das Gericht entschied, dass die Rassentrennung ein Gefühl der Unterlegenheit auf Seiten der schwarzen Schüler bewirke und erhebliche negative Auswirkungen auf deren Persönlichkeit zur Folge habe: „To separate them from others of similar age and qualifications solely because of their race generates a feeling of inferiority as to their status in the community that may affect their hearts and minds in a way unlikely ever to be undone.“651 Damit wurden entgegen der Entscheidung in Plessy v. Ferguson stigmatisierende Effekte auf die Schwarzen als das zentrale Problem der „separate but equal“-Doktrin he645
Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537, 551 (1896). Vgl. Lively, Foreshadows of the Law: Supreme Court Dissents and Constitutional Development, S. 100 ff.; Tribe, American Constitutional Law, S. 1474 ff. 647 Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537, 552 (1896). 648 Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537, 559 (1896) (Harlan, dissenting). 649 Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537, 562 (1896) (Harlan, dissenting). 650 Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537, 562 (1896) (Harlan, dissenting). 651 Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483, 494 (1954). 646
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rausgestellt und zugleich staatliche Maßnahmen, die zu einer solchen Stigmatisierung führen, als besonders rechtfertigungsbedürftig angesehen. Am selben Tag, an dem diese erste Entscheidung in Brown v. Board of Education erging und einen Verstoß gegen die equal protection-Klausel des 14. Amendment feststellte, kam es zudem in Bolling v. Sharpe652 dazu, dass das Verbot segregierter staatlicher Schulen auch auf die Ebene des Bundes übertragen wurde. Der U.S. Supreme Court hatte damit das Ende der verfassungsrechtlichen „separate but equal“-Doktrin in den öffentlichen Schulen verkündet und den Aspekt der Stigmatisierung als ein Kriterium der Verdächtigkeit in die grundrechtliche Gleichheitsprüfung aufgenommen. (d) Anknüpfung an unveränderbare Persönlichkeitsmerkmale Als weiteres Kriterium für das Vorliegen einer verdächtigen Klassifizierung hat der U.S. Supreme Court wiederholt darauf abgestellt, ob die gleichheitsrechtlich überprüfte Maßnahme mit ihrem Differenzierungskriterium an unveränderbare Persönlichkeitsmerkmale anknüpft.653 Im Vordergrund steht demnach die Frage, ob der von einer Ungleichbehandlung nachteilig Betroffene das verwendete Unterscheidungsmerkmal individuell zu beeinflussen vermag oder ob er der Rechtsfolge ohne jede Einflussnahmemöglichkeit gleichsam ausgeliefert ist. Letzteres ist etwa bei unterscheidenden Regelungen der Fall, die an Charakteristika wie Geschlecht, Rasse oder nationale Herkunft anknüpfen: „Moreover, since sex, like race and national origin, is an immutable characteristic determined solely by the accident of birth, the imposition of special disabilities upon the members of a particular sex because of their sex would seem to violate ‚the basic concept of our system that legal burdens should bear some relationship to individual responsibility.‘ “654 Die Verwendung eines unveränderbaren Differenzierungskriteriums, das hat der U.S. Supreme Court wiederholt betont, geht somit regelmäßig einher mit einer „appearance of unfairness“655. In der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung wird daher davon ausgegangen, dass staatliches Handeln zumindest grundsätzlich in einer Beziehung zu Merkmalen stehen soll, über die der einzelne verfügen kann oder auf die er jedenfalls teilweisen Einfluss auszuüben in der Lage ist.656 Weichen hoheit652 Bolling v. Sharpe, 347 U.S. 497 (1954); vgl. hierzu im Einzelnen oben, Zweiter Teil, 2. Kapitel, A. II. 2. c). 653 Vgl. etwa Parham v. Hughes, 441 U.S. 347, 352 f. (1979). 654 Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677, 686 (1973) unter Hinweis auf Weber v. Aetna Casualty & Surety Co., 406 U.S. 164, 175 (1972). 655 Siehe etwa Lockhart v. McCree, 476 U.S. 162, 175 (1986). 656 Vgl. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 176.
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liche Maßnahmen von diesem Grundsatz ab, so begründet das zwar nicht notwendig die Anwendung des Strict Scrutiny Test – die Heranziehung eines strikten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes durch den U.S. Supreme Court kommt dann jedoch wesentlich eher in Betracht als bei individuell leicht veränderbaren Differenzierungskriterien. (e) Betroffenheit besonders diskriminierungsgefährdeter Gruppen Zeichnen sich bereits die bislang dargestellten Kriterien der Verdächtigkeit nicht zuletzt dadurch aus, dass ihre inhaltlichen Konturen vielfach vage, die konkrete Aussagekraft zum Teil nur schwer zu bestimmen ist, so gilt dies in mindestens ebenso hohem Maße für die Frage nach der nachteiligen Betroffenheit einer besonders diskriminierungsgefährdeten Gruppe. Wohl am deutlichsten zum Ausdruck gebracht hat dieses Kriterium Justice Powell in der von ihm verfassten Mehrheitsentscheidung des U.S. Supreme Court in San Antonio School District v. Rodriguez657. Das Gericht nimmt darin ausdrücklich auf Kriterien der Verdächtigkeit Bezug: „traditional indicia of suspectness“ sollen demnach vorliegen bei Klassen „saddled with such disabilities, or subjected to such a history of purposeful unequal treatment, or relegated to such a position of political powerlessness as to command extraordinary protection from the majoritarian political process“658. Die politische Machtlosigkeit von Gruppen oder ihre Vergangenheit als Opfer von Diskriminierungen zieht der U.S. Supreme Court insoweit als Beleg für die Notwendigkeit einer Anhebung des gleichheitsrechtlich gewährleisteten Schutzstandards heran. Entfaltet die überprüfte Ungleichbehandlung ihre benachteiligende Wirkung hingegen nicht bei solchen als besonders diskriminierungsgefährdet erkannten Gruppen, hat das Gericht hierin wiederholt ein Indiz für die Absenkung der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen erkannt. So wurde etwa festgestellt, dass die Gruppe der alten Menschen keinen traditionell diskriminierten Teil der Bevölkerung darstelle, weshalb entsprechende Klassifizierungen nicht als verdächtig zu qualifizieren und daher nur nach einem zurückgenommenen Kontrollmaßstab zu beurteilen seien.659 (f) Zusammenfassung Die untersuchten, in der Verfassungsrechtsprechung des U.S. Supreme Court herangezogenen Kriterien zur Bestimmung der Verdächtigkeit einer 657 658 659
San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1 (1973). San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 28 (1973). Kimel v. Florida Board of Regents, 120 S.Ct. 631, 645 ff. (2000).
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Klassifizierung sind nicht im Sinne eines geschlossenen Kanons zueinander gewichteter Merkmale zu verstehen. Zwar kann jedes der genannten Kriterien zur Verdächtigkeit einer staatlichen Maßnahme beitragen, hingegen ist keines allein ausschlaggebend.660 Der Grund hierfür liegt maßgeblich darin, dass – trotz überwiegender Akzeptanz im Allgemeinen – die verschiedenen Kriterien bei ihrer Anwendung im Einzelfall nicht einheitlich bewertet werden: Insbesondere die Gesichtspunkte der Stigmatisierung und der Verwendung irrationaler Gruppenklischees sowie die Bestimmung von „discrete and insular minorities“ und der Betroffenheit besonders diskriminierungsgefährdeter Gruppen sind, wie gezeigt, in weitem Sinne auslegungsfähig. Insofern bleibt festzustellen, dass der U.S. Supreme Court die erläuterten Kriterien in einer Art Gesamtschau würdigt, in deren Rahmen auch die Anzahl der verwirklichten Kriterien von Bedeutung für die Frage ist, ob eine bestimmte Klassifizierung als suspekt zu bewerten ist. Je mehr der genannten Merkmale dabei vorliegen, desto verdächtiger ist im Allgemeinen die staatliche Differenzierung und umso strikter ist der vom Gericht anzulegende gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab.661 (2) Fallgruppen Vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen Kriterien der Verdächtigkeit haben sich im amerikanischen Verfassungsrecht im Laufe der Zeit Fallgruppen entwickelt, die relativ unstreitig den suspekten Klassifizierungen zugeordnet werden. Zu diesen vom U.S. Supreme Court nach dem intensiven Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test beurteilten Unterscheidungsmerkmalen zählen Rasse, nationale Herkunft und der Status als Ausländer. (a) Rasse Der U.S. Supreme Court hat in seiner Rechtsprechung zur equal protection-Klausel des 14. Amendment das Differenzierungskriterium „Rasse“ als verdächtige Klassifizierung bewertet und dem Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test unterstellt.662 Wie die Untersuchung der historischen Wurzeln des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgedankens gezeigt hat, bestand der mit der Einfügung des 14. Amendment verfolgte Zweck gerade in 660
Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 451. Vgl. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 202. 662 Vgl. etwa Korematsu v. United States, 323 U.S. 214, 216 (1944); McLaughlin v. Florida, 379 U.S. 184, 192 (1964); Loving v. Virginia, 388 U.S. 1 (1967); Palmore v. Sidoti, 466 U.S. 429 (1984). 661
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der Beseitigung rassischer Diskriminierung, so dass das Merkmal der Rasse den klassischen Hauptanwendungsfall der equal protection-Klausel darstellt. Hinsichtlich der dargestellten Kriterien, die für eine Verdächtigkeit staatlicher Klassifizierungen sprechen, ist zunächst die Anknüpfung an unveränderbare Persönlichkeitsmerkmale gegeben. Rassische Klassifizierungen dürften weiterhin in aller Regel auf irrationalen Gruppenklischees beruhen, wie sie etwa der U.S. Supreme Court in Dred Scott v. Sandford663 (1857) ausführlich darlegte, bevor er sie schließlich seiner Entscheidung selbst zu Grunde legte664. Zudem können sie zur Stigmatisierung von Personen führen, was das Gericht erstmals in Brown v. Board of Education665 (1954) anerkannte. Schließlich ist die Geschichte der Schwarzen in den Vereinigten Staaten von Amerika zugleich die Geschichte beispielloser Diskriminierung einer politisch weitgehend machtlosen Bevölkerungsgruppe. Deutlich wird, dass die Herausbildung der Kriterien für die Verdächtigkeit von Differenzierungen eng mit der Entwicklung der Rassenrechtsprechung des U.S. Supreme Court verknüpft ist, die insofern bis heute fortwirkt. Als paradigmatischer Fall der „suspect classifications“ wird die Unterscheidung nach rassischen Gesichtspunkten auch zum Ende des 20. Jahrhunderts den strengsten Anforderungen unterworfen: Rassenbezogene Differenzierungen sind „subject to the ‚most rigid scrutiny‘ “666. Angesichts dieses strengsten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes stellen entsprechende Differenzierungen unabhängig von der damit verbundenen Motivation regelmäßig einen Verstoß gegen die equal protection-Klausel dar: „A racial classification, regardless of purported motivation, is presumptively invalid and can be upheld only upon an extraordinary justification.“667 Während dabei die traditionellen verfassungsrechtlichen Kontroversen über die grundsätzliche Gleichberechtigung der Schwarzen (Dred Scott v. Sandford) bzw. die „separate but equal“-Doktrin (Brown v. Board of Education) an Bedeutung verloren haben, ist in zunehmendem Maße die Auseinandersetzung mit Begriff und Inhalt der „Affirmative Action“ und den insoweit gebotenen Rechtfertigungsanforderungen in den Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion gerückt. Hierbei geht es im Kern um die Verfassungsmäßigkeit fördernder Maßnahmen zugunsten von Frauen und bestimmten Minderheiten zur Beseitigung von Folgen fortwirkender schwerer Diskriminierung.668 Da somit die Rassenproblematik nur einen (allerdings bedeuten663
60 U.S. (19 How.) 393 (1857). Vgl. hierzu Zweiter Teil, 1. Kapitel, B. V. 3. 665 Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483 (1954). 666 Siehe dazu Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2108 ff. (1995). 667 Washington v. Seattle School District No. 1, 458 U.S. 457, 485 (1982). 668 Vgl. Sechting, Affirmative Action und Frauenförderung, S. 25. 664
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den) Ausschnitt der Debatte um den gleichheitsrechtlichen Umgang mit Maßnahmen der „Affirmative Action“ darstellt, wird dieser Problembereich im weiteren Verlauf der Untersuchung gesondert zu behandeln sein. (b) Nationale Herkunft und Ausländerstatus Bereits sehr früh in seiner Rechtsprechung zur equal protection-Klausel hat der U.S. Supreme Court Klassifizierungen nach der nationalen Herkunft den rassischen Unterscheidungen gleichgestellt.669 Später bekräftigte das Gericht dieses Vorgehen in einer Entscheidung, in der es um den Ausschluss von Personen mexikanischer Herkunft als Geschworene ging: „The Fourteenth Amendment is not directed solely against discrimination due to a ‚two-class theory‘ – that is, based upon differences between ‚white‘ and Negro. . . . The exclusion of otherwise eligible persons from jury service solely because of their ancestry or national origin is discrimination prohibited by the Fourteenth Amendment.“670 Das neben rassischen Klassifizierungen auch Unterscheidungen aufgrund nationaler Herkunft und Ausländerstatus als verdächtig anzusehen sind, wird insbesondere unter Hinweis darauf begründet, dass Ausländer als Klasse ein „prime example of ‚discrete and insular‘ minority“671 seien. Die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court schien das so gefundene Ergebnis zunächst auch ähnlich konsequent in der Form des strikten Prüfungsmaßstabes zur Anwendung bringen zu wollen wie jenes der Rasse. Dafür sprachen nicht zuletzt Formulierungen, die auf eine weitgehende Gleichstellung der Differenzierungskriterien hindeuteten: „[T]he Court’s decisions have established that classifications based on alienage, like those based on nationality or race, are inherently suspect and subject to close judicial scrutiny.“672 In der Folgezeit hat das Gericht indes als Sonderfall die „political function exception“ entwickelt, wonach der Strict Scrutiny Test bei Differenzierungen wegen nationaler Herkunft und Ausländerstatus ausnahmsweise dann nicht zur Anwendung gelangt, wenn Maßnahmen in engem Zusammenhang mit der Ausübung staatlicher Gewalt und der staatsbürgerlichen Gesinnung stehen.673 So wurden etwa Regelungen, die Ausländer von 669 Vgl. Yick Wo v. Hopkins, 118 U.S. 356, 374 (1886), wo es um die Diskriminierung chinesischer Wäscherei-Besitzer ging und der U.S. Supreme Court zu der Feststellung gelangte: „no reason for it exists except hostility to the race and nationality to which the petitioners belong, and which, in the eye of the law, is not justified“. 670 Hernandez v. Texas, 347 U.S. 475, 478 f. (1954). 671 Graham v. Richardson, 403 U.S. 365, 372 (1971). 672 Graham v. Richardson, 403 U.S. 365, 371 f. (1971). 673 Vgl. Murphy/Fleming/Harris, American Constitutional Interpretation, S. 832.
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bestimmten Positionen des Polizeidienstes ausschlossen674 oder den Ausländerstatus bei der Besetzung von Lehrerstellen in öffentlichen Schulen berücksichtigten675, nicht nach dem strikten Prüfungsmaßstab beurteilt. Den maßgeblichen Grund hierfür sieht der U.S. Supreme Court in der besonderen Stellung des Bürgers, nur dieser „belongs to the polity and is entitled to participate in the processes of democratic decisionmaking. Accordingly, we have recognized ‚a State’s historical power to exclude aliens from participation in its democratic political institutions‘ “676. Eine solche benachteiligende Ungleichbehandlung von Ausländern soll jedoch nur dann nach abgesenkten gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen zu beurteilen sein, wenn es um bedeutende staatsbürgerschaftliche Positionen geht – „positions whose operations go to the heart of representative government“677. Anders als bei Polizisten oder Lehrern ist dies verfassungsgerichtlich etwa im Hinblick auf den Beruf des Notars abgelehnt worden.678 Kommt es zu einer solchen Ablehnung der political function exception, so bleibt es bei der Anwendung des strikten Prüfungsmaßstabes und die staatliche Maßnahme stellt sich regelmäßig als Verstoß gegen die grundrechtliche Gleichheitsgarantie dar. In anderen Fällen hingegen, in denen es um den Zugang zu einer der Ausnahmeregelung unterfallenden politischen Funktion geht, gelangt lediglich der durchlässige Rational Basis Test zur Anwendung. Eine nur wenig intensive Überprüfung staatlicher Differenzierungen nimmt der U.S. Supreme Court schließlich auch im Hinblick auf Bundesregelungen vor, die sich mit Fragen des Einwanderungsrechts befassen. Das in der Verfassung enthaltene Recht des Kongresses, einheitliche Bestimmungen zur Einbürgerung festzulegen, bildet den Hintergrund für die Auffassung des Gerichts, „that Congress has ‚plenary power‘ to create immigration law“679. Wird der Bundesgewalt damit in diesem Bereich ein umfassender politischer Handlungsspielraum zugestanden, so findet der strikte Prüfungsmaßstab bei entsprechenden Maßnahmen keine Anwendung, um dem Bund hinreichende politische Gestaltungsmöglichkeiten zu belassen.680 674
Foley v. Connelie, 435 U.S. 291 (1978). Ambach v. Norwick, 441 U.S. 68 (1979). 676 Foley v. Connelie, 435 U.S. 291, 295 (1978). 677 Bernal v. Fainter, 467 U.S. 216, 216 (1984). 678 Vgl. Bernal v. Fainter, 467 U.S. 216, 225 (1984): „We recognize the critical need for a notary’s duties to be carried out correctly and with integrity. But a notary’s duties, important as they are, hardly implicate responsibilities that go to the heart of representative government. Rather, these duties are essentially clerical and ministerial.“ 679 Vgl. Zadvydas v. Davis, 121 S.Ct. 2491, 2501 (2001). 680 Vgl. Kleindienst v. Mandel, 408 U.S. 753, 766 f. (1972); Harisiades v. Shaughnessy, 342 U.S. 580, 588 f. (1952). 675
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bb) Fundamentale Rechte (fundamental rights) Der gleichheitsrechtliche Strict Scrutiny Test kommt nicht allein bei verdächtigen Klassifizierungen zur Anwendung, sondern auch dann, wenn eine differenzierende staatliche Maßnahme so genannte fundamentale Rechte betrifft. Zu einer eindeutigen Klärung, unter welchen Voraussetzungen Rechte als „fundamental“ zu erachten sind, ist der U.S. Supreme Court bisher nicht gelangt. In welchem hohen Maße das Vorliegen eines fundamental rights von der verfassungsgerichtlichen Interpretation abhängig ist, zeigen etwa Erwägungen des Gerichts dazu, ob ein bestimmtes Interesse „is so rooted in the traditions and conscience of our people as to be ranked as fundamental“681. Angesichts der damit verbundenen Gefahren einer insgesamt wenig vorhersehbaren, weitgehend intuitionistischen Bewertung der Fundamentalität bestimmter Rechte, hat der U.S. Supreme Court die Anforderungen hieran vereinzelt zu konkretisieren versucht. In ihrem Kern laufen diese Versuche darauf hinaus, eine uferlose Ausweitung der als fundamental anerkannten Rechte zu verhindern. Den hauptsächlichen Ansatzpunkt für das damit beschriebene Unterfangen hat das Gericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1973682 besonders deutlich herausgestellt, als es darüber zu befinden hatte, ob ein fundamentales Recht auf Erziehung existiere. Dort betonte der U.S. Supreme Court, es sei nicht seine Aufgabe „to create substantive constitutional rights in the name of guaranteeing equal protection of the laws“683. Zwar stelle die Gewährleistung von Bildung und Erziehung die vielleicht wichtigste Funktion des Staates dar. Auch brachte das Gericht seine Überzeugung zum Ausdruck, dass schulische Bildung von überragender Bedeutung für den gesamten Lebensweg des einzelnen Kindes und für die Gesellschaft im Allgemeinen sei. Allerdings gelte es zu berücksichtigen, dass „the importance of a service performed by the State does not determine whether it must be regarded as fundamental for purposes of examination under the Equal Protection Clause. . . . Rather, the answer lies in assessing whether there is a right to education explicitly or implicitly guaranteed by the Constitution.“684 Eine solche ausdrückliche oder implizite Verankerung von Bildung und Erziehung in der Verfassung wurde indes verneint. Daher gebiete der Gleichheitssatz keine Überprüfung nach dem hohen Standard des Strict Scrutiny Test, sondern fordere lediglich die Ra681
Palko v. State of Connecticut, 302 U.S. 319, 325 (1937) m. w. N. San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1 (1973). 683 San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 33 (1973). 684 San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 33 (1973) (Hervorhebung S.M.D.). 682
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tionalität der überprüften Regelung nach dem traditionellen, zurückgenommenen Prüfungsmaßstab. In einer leidenschaftlich verfassten dissenting opinion685 hat Justice Marshall an diesem Mehrheitsvotum Kritik geübt und die mit der Verwendung des Rational Basis Test verbundene verfassungsgerichtliche Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber beklagt: „I, for one, am unsatisfied with the hope of an ultimate ‚political‘ solution sometime in the indefinite future while, in the meantime, countless children unjustifiably receive inferior educations.“686 Benachteiligende Ungleichbehandlungen im Bereich von Bildung und Erziehung sind nach Auffassung Marshalls einer strengen Rechtfertigungsprüfung zu unterziehen. Ebenso wie andere durch den U.S. Supreme Court anerkannte fundamentale Rechte – so insbesondere die nachfolgend behandelte Wahlrechtsgleichheit – stehe Erziehung in einer besonders engen Beziehung zur Verfassung, indem sie von hoher Bedeutung für die effektive Wahrnehmung der im First Amendment verankerten Meinungsfreiheit und die Beteiligung am politischen Geschehen sei.687 Nicht zuletzt diese enge Verbindung gebiete es, die Fundamentalität der zu Grunde liegenden Interessen anzuerkennen und bei entsprechenden Benachteiligungen im Erziehungs- und Bildungsbereich eine strenge Gleichheitsprüfung vorzunehmen. Wenngleich sich Marshall mit seiner Auffassung auch in der Folgezeit nicht durchsetzen konnte, so ist die aufgezeigte Argumentation für die Annahme eines fundamentalen Rechts bis heute von Bedeutung: Der Ermöglichungscharakter des in Rede stehenden Rechts im Hinblick auf andere, ausdrücklich in der Verfassung verankerte Positionen wird insbesondere zur Begründung strikter Wahlrechtsgleichheit herangezogen, die es im Folgenden näher zu untersuchen gilt. (1) Wahlrechtsgleichheit Die amerikanische Verfassung enthält keine ausdrückliche Verbürgung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Sie formuliert allerdings, wie ausgeführt688, besondere wahlrechtliche Diskriminierungsverbote, so namentlich im 15. Amendment (keine Beschränkung aufgrund der Rasse, Hautfarbe oder vormaliger Sklaverei) und 19. Amendment (keine Beschränkung auf685 San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 70 ff. (1973) (Marshall, Douglas, dissenting). 686 San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 71 (1973) (Marshall, Douglas, dissenting). 687 San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 112 ff. (1973) (Marshall, Douglas, dissenting). 688 Zweiter Teil, 3. Kapitel, A. II.
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grund des Geschlechts). Vor dem Hintergrund einer fehlenden ausdrücklichen Verankerung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts hatten die meisten Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts Wählerqualifikationen eingeführt. Diese waren in der Regel beschränkt auf weiße männliche Erwachsene ab 21 Jahren, die einen gewissen Grundbesitz nachweisen konnten.689 Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde das Wahlrecht in vielen Staaten von Lese- und Schreibtests abhängig gemacht oder mit der Entrichtung von Wahlsteuern oder anderen Voraussetzungen verbunden.690 Der U.S. Supreme Court hat den Einzelstaaten lange Zeit großen Gestaltungsspielraum zugestanden, was die Regelung des Wahlrechts betrifft.691 Eine Neubestimmung der verfassungsgerichtlichen Position bedeutete jedoch in diesem Zusammenhang die Entscheidung Reynolds v. Sims692 aus dem Jahre 1964, in der das Gericht seine bisherige Zurückhaltung gegenüber Fragen des Wahlrechts zugunsten einer eher aktivistischen Haltung aufgab. In seiner Urteilsbegründung stellte Chief Justice Warren fest, dass dem Wahlrecht in einer freien und demokratischen Gesellschaft fundamentale Bedeutung zukomme.693 Entsprechende Ungleichbehandlungen müssten daher „carefully and meticulously scrutinized“694 und damit dem bislang angewandten Rational Basis Test entzogen werden. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung gerieten die vor allem in den Südstaaten nach wie vor verbreiteten Tendenzen zur Diskriminierung von Schwarzen zunehmend in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. 1964 konnte Lyndon B. Johnson den Kongress zur Verabschiedung des Civil Rights Act bewegen, der vielfältige Formen von Diskriminierungen, darunter solche aufgrund der Rasse und des Geschlechts, für verboten erklärte. Mit dem Voting Rights Act von 1965 wurden weitere spezielle Regelungen eingeführt, die wahlbezogenen Diskriminierungen, etwa aufgrund von Schreibprüfungen und sonstigen Tests, entgegen wirken sollten. Die Dringlichkeit gesetzgeberischen Handelns gerade im Bereich des Wahlrechts hatte Präsident Johnson gegenüber dem Kongress zuvor vehement deutlich gemacht und dabei insbesondere auf die Situation der Schwarzen im Süden der Vereinig689 Ausführlich zu den Eigentumsbestimmungen im Rahmen des Wahlrechts der Einzelstaaten Beard, Eine ökonomische Interpretation der amerikanischen Verfassung, S. 119 ff. 690 Vgl. Heideking, Geschichte der USA, S. 399 f.; Lieberman, The Evolving Constitution, S. 563 ff. 691 Vgl. etwa Lassiter v. Northampton County Board of Elections, 360 U.S. 45, 51 (1959). 692 Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533 (1964); vgl. Polyviou, The Equal Protection of the Laws, S. 390 ff. 693 Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533, 561 f. (1964). 694 Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533, 562 (1964).
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ten Staaten hingewiesen: „Every device of which human ingenuity is capable has been used to deny [the right to vote]. The Negro citizen may go to register only to be told that the day is wrong, or the hour is late, or the official in charge is absent. And if he persists, and if he manages to present himself to the registrar, he may be disqualified because he did not spell out his middle name or because he abbreviated a word on the application. And if he manages to fill out an application he is given a test. The registrar is the sole judge of whether he passes this test. He may be asked to recite the entire Constitution, or explain the most complex provisions of State law. And even a college degree cannot be used to prove that he can read and write. For the fact is that the only way to pass these barriers is to show a white skin.“695 Ein weiteres, neben die Vornahme von Bildungstests tretendes Mittel, mit dem die Südstaaten seit Ende des 19. Jahrhunderts einer großen Zahl von Schwarzen das Wahlrecht wieder entzogen, bestand in der Einführung von Wahlsteuern (poll taxes). Über die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit dieser Wahlsteuern hatte der U.S. Supreme Court 1966 in Harper v. Virginia Board of Elections696 zu entscheiden. Im Mittelpunkt der Entscheidung steht die von Virginia geforderte Entrichtung von $ 1.50, die als Voraussetzung für die Teilnahme an Wahlen des Bundesstaates festgelegt worden war. In seiner Begründung für die Richtermehrheit erklärt Justice William O. Douglas, dass diese Praxis einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz darstelle. Er betont, dass „Wealth, like race, creed, or color, is not germane to one’s ability to participate intelligently in the electoral process.“697 Die strenge gleichheitsrechtliche Überprüfung der Maßnahme wird damit begründet, dass das Wahlrecht ein zu kostbares Recht darstelle, um auf solche Weise in Abhängigkeit von der finanziellen Leistungsfähigkeit des einzelnen beschränkt zu werden.698 In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass das Gericht auch hier, insofern vergleichbar mit der oben699 dargestellten Entscheidung Shapiro v. Thompson, nicht von einem bestehenden Wahlrecht auf Ebene der Bundesstaaten ausgeht und unter diesem Gesichtspunkt seine Entscheidung begründet, sondern die Gleichheitsfrage im Rahmen der Ausgestaltung einfachgesetzlicher Vorschriften ansiedelt. Erst wenn der Gesetzgeber das Wahlrecht legislativ festlegt, so ist er durch die equal protection-Klausel dazu ver695 Lyndon B. Johnson, Special Message to the Congress: The American Promise, 15. März 1965, abgedruckt in: Public Papers of the Presidents of the United States, Lyndon B. Johnson, 1965: Book 1, January 1 to May 31, Washington 1966, S. 282. 696 Harper v. Virginia Board of Elections, 383 U.S. 663 (1966). 697 Harper v. Virginia Board of Elections, 383 U.S. 663, 668 (1966). 698 „[T]he right to vote is too precious, too fundamental to be so burdened or conditioned“, Harper v. Virginia Board of Elections, 383 U.S. 663, 670 (1966). 699 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. III. 4.
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pflichtet, bei dessen inhaltlicher Ausgestaltung Gleichheitsaspekte zu berücksichtigen.700 Auch im Hinblick auf die Einteilung von Wahlkreisen hat die amerikanische Verfassungsrechtsprechung in den sechziger Jahren unter Chief Justice Warren ihre ursprüngliche Zurückhaltung aufgegeben und zunehmend den gleichen Erfolgswert der Wahlstimmen gefordert.701 Für die Wahlen zum Repräsentantenhaus wird dabei der strengste gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab angelegt. Gestützt auf die in Art. 1 der Verfassung enthaltene Formulierung, wonach die Mitglieder des Repräsentantenhauses „by the People of the several States“ gewählt werden, verlangt der U.S. Supreme Court, dass „as nearly as is practicable one person’s vote in a congressional election is to be worth as much as another’s“702. Gilt dieses Gebot grundsätzlich auch für die Festlegung von Wahlkreisen zu Wahlen in den Bundesstaaten, so hat das Gericht den Staaten insofern einen größeren Spielraum zuerkannt.703 Gewisse Abweichungen des Erfolgswertes werden hier eher toleriert, insbesondere um zersplitterte Wahlkreiseinteilungen zu vermeiden. So ist etwa eine Abweichung der Bevölkerungsstärke in Höhe von 7,83% zwischen den Wahlkreisen für gleichheitsrechtlich zulässig erachtet worden.704 Deutlich wird, dass auch bei dem fundamentalen Recht der Wahlrechtsgleichheit der Strict Scrutiny Test vom U.S. Supreme Court nicht durchgehend als auf gleichem Prüfungsniveau gehaltener Maßstab Anwendung findet, sondern zum Teil Differenzierungen vorgenommen werden, die die Prüfungsanforderungen absenken.705 Insgesamt bleibt allerdings festzuhalten, dass das Gericht seit den sechziger Jahren für sich in Anspruch nimmt, die Wahlrechtsgleichheit nach dem engen Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test zu beurteilen und hohe Anforderungen an Wahlrechtsregelungen stellt, insbesondere wenn diese die Erfolgswertgleichheit 700
Hierzu Tribe, American Constitutional Law, S. 1641 m. w. N.: „the franchise is not independently guaranteed by the Constitution. Nevertheless, . . . granting the vote to some and denying it to others violates the equal protection clause.“ Vgl. auch Kramer v. Union Free School District, 395 U.S. 621, 629 (1969). 701 Vgl. nochmals Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533 (1964), in dem das Gericht die Wahlkreiseinteilung von 6 Staaten für verfassungswidrig erklärte. 702 Wesberry v. Sanders, 376 U.S. 1, 2 (1964). 703 Siehe Mahan v. Howell, 410 U.S. 315 (1973): „[M]ore flexibility is permissible with respect to state legislative reapportionment than with respect to congressional redistricting.“ 704 Gaffney v. Cummings, 412 U.S. 735, 745 (1973): „It is now time to recognize . . . that minor deviations from mathematical equality among state legislative districts are insufficient to make out a prima facie case of invidious discrimination under the Fourteenth Amendment so as to require justification by the State.“ 705 Vgl. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 80 ff.
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der Wahlstimmen beeinflussen: „The conception of political equality from the Declaration of Independence, to Lincoln’s Gettysburg Address, to the Fifteenth, Seventeenth, and Nineteenth Amendments can mean only one thing – one person, one vote.“706 Abweichungen von dem damit formulierten Grundsatz sind regelmäßig nur bei Notwendigkeit der Maßnahme im Hinblick auf ein zwingendes öffentliches Interesse gerechtfertigt. Als Grund für diese hohen Anforderungen betont der U.S. Supreme Court die besonders fundamentale Bedeutung des Wahlrechts, das selbst Voraussetzung für die Wahrnehmung anderer elementarer bürgerlicher und politischer Rechte sei707, was durch die Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit gefährdet werde – „Especially since the right to exercise the franchise in a free and unimpaired manner is preservative of other basic civil and political rights, any alleged infringement of the right of citizens to vote must be carefully and meticulously scrutinized.“708 (2) Gleicher Zugang zu Gericht Das Recht auf gleichen Zugang zum Gericht ist in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zunächst maßgeblich durch die Entscheidung Griffin v. Illinois709 von 1956 geprägt worden, in der es um die Verfassungsmäßigkeit des strafrechtlichen Revisionsverfahrens in Illinois ging. Für die Zulässigkeit der Revision war dabei eine Abschrift des bisherigen Gerichtsverfahrens vorzulegen. Die Kosten für eine solche Abschrift waren vom Revisionsführer zu tragen, was zur Folge hatte, dass mittellosen Angeklagten oftmals keine reale Möglichkeit zustand, gegen das erstinstanzliche Urteil Revision einzulegen. Der U.S. Supreme Court erkannte hierin einen Verstoß gegen die equal protection-Klausel. Zur Begründung erklärte er unter anderem: „There can be no equal justice where the kind of trial a man gets depends on the amount of money he has.“710 In der Folgezeit betrachtete das Gericht den Zugang zu Gericht als fundamentales Recht, das bei Beeinträchtigungen den Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test auslöst.711 Die Ablehnung der kostenlosen Bestellung eines Strafverteidigers im Berufungsverfahren prüfte es daher ebenfalls nach dem strikten Prüfungsmaßstab 706
Gray v. Sanders, 372 U.S. 368, 381 (1963). Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533, 561 f. (1964). 708 Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533, 562 (1964). 709 Griffin v. Illinois, 351 U.S. 12 (1956); vgl. Galloway, Justice for all? The Rich and Poor in Supreme Court History 1790–1990, S. 140 ff. 710 Griffin v. Illinois, 351 U.S. 12, 19 (1956). 711 Vgl. etwa die Entscheidung Bounds v. Smith, 430 U.S. 817, 828 (1977), in der Justice Marshall für die Richtermehrheit von einem „fundamental constitutional right of access to the courts“ ausgeht. 707
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und kam auch in diesem Fall dazu, dass die zu Grunde liegende Regelung aus den gleichen Gründen wie in Griffin v. Illinois gegen die Verfassung verstoße.712 Beide Entscheidungen waren von Beginn an umstritten und wurden schließlich in ihrer Tragweite durch das Urteil in Boddie v. Connecticut713 relativiert. Hierin wurde ein Gesetz für ungültig erklärt, das eine Geldzahlung für die Einleitung des Scheidungsverfahrens vorsah, so dass mittellose Scheidungswillige von diesem Verfahren ausgeschlossen wurden. Zwar steht die Entscheidung im Ergebnis noch in der Tradition von Griffin v. Illinois. Jedoch zeigt der U.S. Supreme Court in seiner Begründung einen restriktiven Weg auf, indem er maßgeblich darauf abstellt, dass mit der Ehe oder deren Auflösung fundamentale Interessen betroffen seien und der Staat bezüglich der Scheidung der Ehe ein Monopol innehabe. Den Klägern stünden daher keine Ersatzwege für die Auflösung der Ehe zur Verfügung, weshalb die angegriffene Regelung einen Verfassungsverstoß darstelle. Wie das Mehrheitsvotum ausdrücklich betont, soll der gleiche Zugang zu Gericht mit dieser Entscheidung nicht generell und unter allen Umständen festgeschrieben werden.714 Das fundamentale Recht auf gleichen Zugang zu Gericht (und demnach die Anwendung des Strict Scrutiny Test) wurde in der Folgezeit insbesondere auf den Bereich des Strafverfahrens bezogen, wie er Gegenstand in Griffin v. Illinois gewesen war. Außerhalb dieses strafverfahrensrechtlichen Bereiches, das hat die Entscheidung Boddie v. Connecticut gezeigt, ist die Anwendung des strikten Prüfungsmaßstabs von weiteren Faktoren abhängig, so etwa Erwägungen zur Monopolstellung des Staates und der Bedeutung des konkret verfolgten Interesses.715 (3) Recht auf Freizügigkeit Als fundamentales Recht hat der U.S. Supreme Court in Shapiro v. Thompson716 zudem das Recht auf Freizügigkeit anerkannt. Dabei ging es um die Verfassungsmäßigkeit gesetzlicher Regelungen von Connecticut, Pennsylvania und des Districts of Columbia. Diese sahen Sozialleistungen nur für solche Personen vor, die ihren Wohnsitz seit mindestens einem Jahr 712
Douglas v. California, 372 U.S. 353 (1963). Boddie v. Connecticut, 401 U.S. 371 (1971); eingehend hierzu sowie zur Abschwächung der „Judicial Intervention on Behalf of the Poor“ Tribe, American Constitutional Law, S. 1647 ff. 714 Boddie v. Connecticut, 401 U.S. 371, 382 f. (1971). 715 Vgl. United States v. Kras, 409 U.S. 434, 445 (1973): „We see no fundamental interest that is gained or lost depending on the availability of a discharge in bankruptcy.“ 716 Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618 (1969). 713
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in dem betreffenden Bundesstaat hatten. Das Gericht erkannte hierin einen Verstoß gegen den grundrechtlichen Gleichheitssatz. Die Ungleichbehandlung von neu eingewanderten Personen gegenüber bereits länger ansässigen Einwohnern stelle eine ungerechtfertigte Benachteiligung dar. Ersteren würden Sozialleistungen vorenthalten, „upon which may depend the ability of the families to obtain the very means to subsist – food, shelter, and other necessities of life“717. Maßgebliche Bedeutung für die Anwendung des Strict Scrutiny Test wurde der Erwägung beigemessen, dass das Recht auf Freizügigkeit in der Verfassung implizit verankert sei: „This Court long ago recognized that the nature of our Federal Union and our constitutional concepts of personal liberty unite to require that all citizens be free to travel throughout the length and breadth of our land uninhibited by statutes, rules or regulations which unreasonably burden or restrict this movement.“718 Die Vorenthaltung elementarer Sozialleistungen wirke daher wie eine „Bestrafung“ der Inanspruchnahme dieses fundamentalen Rechts und sei hohen Rechtfertigungsanforderungen zu unterwerfen. Diesen hohen Anforderungen des strikten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes hielten die von den Staaten vorgebrachten Gründe, etwa die Verhinderung unzulässiger Erschleichung von Sozialleistungen, nicht stand. Insbesondere vermochte der U.S. Supreme Court kein zwingendes öffentliches Interesse auszumachen, das die angegriffenen Regelungen im Rahmen des Strict Scrutiny Test hätte rechtfertigen können. In seinem Dissent weist Justice Harlan auf die eingangs beschriebene Problematik hin, bestimmte Interessen verfassungsgerichtlich als besonders fundamental zu charakterisieren und unter erhöhten Gleichheitsschutz zu stellen, die keine ausdrückliche Verankerung in der Verfassung erfahren haben. Anwendbar sei in diesen Fällen vielmehr der durchlässige Rational Basis Test, wolle der U.S. Supreme Court nicht Gefahr laufen, die Position einer „Super-Legislative“ einzunehmen. Denn „when a statute affects only matters not mentioned in the Federal Constitution and is not arbitrary or irrational, I must reiterate that I know of nothing which entitles this Court to pick out particular human activities, characterize them as ‚fundamental‘, and give them added protection under an unusually stringent equal protection test“719. Diese Kritik ist in jüngerer Zeit insbesondere von Justice Scalia bekräftigt und zugleich auf den Umgang mit dem im Folgenden zu untersuchenden Intermediate Scrutiny Test ausgedehnt worden. Im Zentrum steht dabei der Vorwurf, dass die Bestimmung des Anwendungsbereichs der strikten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe weitgehend richterlichem 717 718 719
Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618, 627 (1969). Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618, 629 (1969). Shapiro v. Thompson, 394 U.S. 618, 662 (1969) (Harlan, dissenting).
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Intuitionismus überlassen sei, „though I think we can do better than applying strict scrutiny and intermediate scrutiny whenever we feel like it“720. Das damit angesprochene Problem zeigt sich beim vermittelnden gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab des Intermediate Scrutiny Test besonders deutlich, dessen Inhalt und Anwendungsbereich es im weiteren Verlauf genauer zu betrachten gilt. 2. Intermediate Scrutiny Test Die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zu Gleichheitsfragen beschränkte sich lange Zeit auf die Anwendung der beiden zuvor dargestellten Prüfungsmaßstäbe des durchlässigen Rational Basis Test und des engen Strict Scrutiny Test. Auf den wahren Kern der Aussage Gunthers, der Strict Scrutiny Test sei fast immer „fatal in fact“ und der Rational Basis Test „none in fact“ wurde bereits hingewiesen721: Ganz überwiegend folgt aus der Anwendung des strikten Tests die Verfassungswidrigkeit, aus der Überprüfung nach dem Maßstab des weiten Tests die Verfassungsmäßigkeit der überprüften Maßnahme. Dies führt in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung dazu, dass mit der Entscheidung über den einschlägigen Maßstab das Resultat der Gleichheitsprüfung regelmäßig vorentschieden ist. Unter dem Eindruck zunehmender Kritik hinsichtlich der mangelnden Flexibilität, die mit den beiden entgegengesetzten Tests verbunden war722, entwickelte der U.S. Supreme Court schließlich im Jahre 1976 einen weiteren Prüfungsmaßstab, der als „Intermediate Scrutiny Test“ bezeichnet wird und in den Anforderungen zwischen den beiden zuvor genannten Polen liegt. a) Inhaltsbestimmung Die Anforderungen des Intermediate Scrutiny Test wurden erstmals 1976 in der Entscheidung Craig v. Boren723 formuliert, die den neuen Prüfungsmaßstab in die Verfassungsrechtsprechung des U.S. Supreme Court einführte: „Klassifizierungen aufgrund des Geschlechts müssen wichtigen öffentlichen Zielen dienen und in einem substantiellen Verhältnis zur Verwirklichung dieser Ziele stehen.“724 Dabei erklärt sich die ausdrückliche Erwäh720
United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2292 (1996) (Scalia, dissenting). Siehe oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. a) cc). 722 Vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 44 f. 723 Craig v. Boren, 429 U.S. 190 (1976). 724 Craig v. Boren, 429 U.S. 190, 197 (1976): „classifications by gender must serve important governmental objectives and must be substantially related to achie721
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nung des Geschlechts aus der Entstehungsgeschichte des Intermediate Scrutiny Test, der ursprünglich auf geschlechtsspezifische Differenzierungen begrenzt war. aa) Wichtiges öffentliches Ziel (important government objective) Voraussetzung ist zunächst, dass mit der klassifizierenden Maßnahme ein wichtiges öffentliches Ziel verfolgt wird. Damit liegt diese Anforderung zwischen den Erfordernissen des „zwingenden öffentlichen Interesses“ (Strict Scrutiny Test) einerseits und des lediglich „legitimen Interesses“ (Rational Basis Test) andererseits. In diesem Zusammenhang hat sich der U.S. Supreme Court mehrfach mit dem Problem der „after-the-fact rationalizations“725 auseinandergesetzt. Hierbei geht es im Kern um die Frage, ob bei der gleichheitsrechtlichen Überprüfung von Maßnahmen insbesondere des Gesetzgebers „wichtige öffentliche Ziele“ auch noch im nachhinein im Wege richterlicher Rechtsfindung angenommen werden können, oder ob der vom Gesetzgeber ursprünglich intendierte Zweck zu Grunde zu legen ist. Das Gericht hat insoweit wiederholt auf den besonderen Stellenwert der mit einer Regelung ursprünglich verfolgten Ziele hingewiesen: „This Court need not in equal protection cases accept at face value assertions of legislative purposes, when an examination of the legislative scheme and its history demonstrates that the asserted purpose could not have been a goal of the legislation.“726 In jüngerer Zeit ist diese Auffassung mit der besonders umstrittenen Entscheidung zum Virginia Military Institute (VMI)727 bekräftigt worden, auf die im weiteren Verlauf näher einzugehen ist. Darin heißt es unter anderem, dass eine Rechtfertigung geschlechtsbezogener Ungleichbehandlungen „must be genuine, not hypothesized or invented post hoc in response to litigation“728. Auch hier ergeben sich somit jene oben729 bereits beschriebenen methodischen Schwierigkeiten, die mit einer Regelung verfolgten Ziele präzise festzustellen. In seiner Rechtsprechung hat der U.S. Supreme Court denn auch nur in wenigen Fällen Maßnahmen mit der Begründung für verfassungswidrig erklärt, dass wichtige öffentliche Ziele zwar vorliegen könnten, diese aber vom Gesetzgeber nicht angestrebt oder nur unzureichend nachgewiesen worden seien.730 Mit ihrer dissenting vement of those objectives“. Vgl. allgemein zur Entstehung dieses mittleren Tests Murphy/Fleming/Harris, American Constitutional Interpretation, S. 835 f. 725 Vgl. etwa Cleveland Board of Education v. LaFleur, 414 U.S. 632, 653 (1974). 726 Weinberger v. Wiesenfeld, 420 U.S. 636, 648 (1975). 727 United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264 (1996). 728 United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2275 (1996). 729 Vgl. hierzu bereits Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. II. 1. a) cc).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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opinion, der sich drei weitere Richter anschlossen, hat Justice O’Connor der Mehrheitsauffassung des U.S. Supreme Court zudem vorgeworfen, das Erfordernis einer Untersuchung der tatsächlich zu Grunde liegenden Motivation zu vernachlässigen und sich mit hypothetischen Erwägungen zu den Zielen der angegriffenen Maßnahmen zu begnügen.731 Als hinreichend wichtige öffentliche Ziele im Sinne des Intermediate Scrutiny Test sind in der verfassungsgerichtlichen Gleichheitsrechtsprechung etwa der öffentliche Gesundheitsschutz und die Verkehrssicherheit erachtet worden732 oder die staatliche Sorge um das Wohlergehen unehelicher Kinder733. Allerdings liegt der Schwerpunkt des Intermediate Scrutiny Test insgesamt deutlich bei dessen zweiter Voraussetzung734, der „substantiellen“ Relation zwischen verfolgtem Zweck und eingesetztem Mittel. Erst auf dieser Ebene gelangt der U.S. Supreme Court zumeist zu einer endgültigen Entscheidung, die maßgeblich davon abhängt, ob das als „wichtig“ erkannte öffentliche Ziel gewichtig genug ist, um die getroffene Klassifizierung zu rechtfertigen. bb) „Substantielle“ Zweck-Mittel-Relation Die klassifizierende Maßnahme muss weiterhin in einem „substantiellen“ Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen. Mit diesem Ausdruck wird erneut versucht, ein mittleres Prüfungsniveau zu formulieren zwischen der im Rahmen des Strict Scrutiny Test geforderten „Notwendigkeit“ bzw. der „rationalen Beziehung“ (Rational Basis Test) von Zweck und Mittel. Verlangt wird eine enge Verbindung („close fit“735) zwischen Klassifikation und angestrebtem Ziel. Bereits in seiner Ausgangsentscheidung (Craig v. Boren736) zum Intermediate Scrutiny Test verdeutlichte der U.S. Supreme Court diese „substantiellen“ Anforderungen. Zu beurteilen war die Verfassungsmäßigkeit einer Regelung des Staates Oklahoma, die den Verkauf von Bier an Frauen unter 730 So etwa in Mississippi University For Women v. Hogan, 458 U.S. 718, 730 (1982): „Thus, we conclude that, although the State recited a ‚benign, compensatory purpose‘, it failed to establish that the alleged objective is the actual purpose underlying the discriminatory classification.“ 731 Tuan Anh Nguyen v. Immigration and Naturalization Service, 121 S.Ct. 2053, 2069 ff. (2001) (O’Connor, Souter, Ginsburg, Breyer, dissenting). 732 Craig v. Boren, 429 U.S. 190, 199 f. (1976). 733 Caban v. Mohammed, 441 U.S. 380, 391 (1979). 734 Vgl. Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den U.S. Supreme Court, S. 50. 735 Vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 1603. 736 Craig v. Boren, 429 U.S. 190 (1976).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
18 Jahren, an Männer hingegen unter 21 Jahren verbot. Craig gehörte zur Gruppe der ungleich behandelten 18 bis 21-jährigen Männer und berief sich auf einen Verstoß gegen die equal protection-Klausel des 14. Amendment. Zur Begründung für die Regelung legten Vertreter des Staates Oklahoma statistische Nachweise vor, dass gerade die vom Bierverkauf ausgeschlossenen Männer zwischen 18 und 21 Jahren weitaus häufiger als gleichaltrige Frauen Trunkenheitsfahrten begingen und hierdurch Verkehrsunfälle verursachten. In seiner Entscheidung stellt der U.S. Supreme Court zunächst fest, dass es sich bei dem von Oklahoma verfolgten Zweck um ein wichtiges öffentliches Ziel handele, nämlich die Sicherheit des Straßenverkehrs und den Gesundheitsschutz der Verkehrsteilnehmer. Im Rahmen der zweiten Voraussetzung des Intermediate Scrutiny Test gelangte das Gericht jedoch zu der Auffassung, dass die differenzierende Norm zu der Erreichung des Zieles nicht in einem hinreichend substantiellen Verhältnis stehe.737 Durchgeführt wurde dabei eine umfassende Güterabwägung, in der unter anderem die diskriminierende Wirkung der Norm, ihre Effektivität bei der Bekämpfung von Trunkenheitsfahrten, die Bewertung der wissenschaftlichen Gutachten zum Alkoholkonsum junger Männer und der Vergleich mit anderen, nicht erfassten alkoholischen Getränken diskutiert wurde.738 Im Gegensatz zu den beiden zuvor beschriebenen gleichheitsrechtlichen Tests ist mit der Zuordnung einer Klassifikation zum Intermediate Scrutiny Standard das Ergebnis der verfassungsgerichtlichen Prüfung weitgehend offen, da den Richtern insofern ein deutlich größerer Entscheidungsspielraum bei der Abwägung der Zweck-Mittel-Relation zukommt. b) Anwendungsbereich Die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Intermediate Scrutiny Test begegnet besonderen Schwierigkeiten. Grund hierfür ist zum einen, dass der 1976 entwickelte gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab den jüngsten der drei Tests darstellt und seine Reichweite in Rechtsprechung und Schrifttum im Einzelnen äußerst umstritten ist.739 Vor allem jedoch führt die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zu gewissen Unklarheiten, da sie den Maßstab des mittleren Tests nicht in allen Fällen ausdrücklich verwendet, sondern dessen Anforderungen bisweilen auch auf den weiten Rational Basis Test überträgt.740 Bereits vor der Einführung des Intermediate Scrutiny Test hatte das Gericht in einzelnen Fällen dessen erhöhte Anforderungen an 737 738 739 740
Craig v. Boren, 429 U.S. 190, 200 ff. (1976). Craig v. Boren, 429 U.S. 190, 201 ff. (1976). Vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 1610 ff. Vgl. etwa Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432 (1985).
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staatliche Maßnahmen gestellt, obwohl es den Formulierungen nach noch im Rahmen des Rational Basis Test blieb.741 aa) Kriterien Eine Ursache für den nicht abschließend zu bestimmenden Anwendungsbereich des Intermediate Scrutiny Test ist die Tatsache, dass es gegenüber dem strikten Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test keine eindeutig abgrenzbaren Kriterien gibt. Vielmehr werden grundsätzlich auch hier die oben erläuterten Kriterien für die Anwendung des strikten Tests herangezogen742: Der anzuwendende Prüfungsmaßstab richtet sich also danach, ob und in welchem Ausmaß Klassifizierungen leicht abgrenzbare Minderheiten betreffen, irrationale Gruppenklischees verwenden, zur Stigmatisierung führen, an unveränderbare Persönlichkeitsmerkmale anknüpfen oder besonders diskriminierungsgefährdete Gruppen benachteiligen. Je mehr dieser Kriterien erfüllt sind, desto eher wird die betreffende Maßnahme dem strengsten Test (als suspect classification) oder zumindest dem mittleren gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab (als sog. quasi-suspect classification) unterstellt. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass gegenüber dem Rational Basis Standard erhöhte Rechtfertigungsanforderungen vom U.S. Supreme Court bisweilen auch dann zur Anwendung gebracht werden, wenn gleichheitsdogmatisch unverdächtige Klassifizierungen zugleich sensible Personengruppen (etwa Behinderte oder Ausländer743) betreffen und auf besonders elementare Bedürfnisse abzielen: So etwa in Cleburne v. Cleburne Living Center744 (Wohngelegenheit für geistig Behinderte), United States Department of Agriculture v. Moreno745 (Essensmarken für Haushalte, die auch nichtverwandte Personen umfassen) oder Plyler v. Doe746 (Schulbildung für Kinder illegaler Zuwanderer). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass über die skizzierten Anhaltspunkte hinaus keine genaueren, allgemeinen Kriterien für eine Zuordnung zum Intermediate Scrutiny Test bestehen. Der U.S. Supreme Court begegnet dieser dogmatischen Unbestimmtheit jedoch auch hier über die Zuordnung von Fallgruppen, wobei im Hinblick auf den Um741
So erstmals in Reed v. Reed, 404 U.S. 71 (1971). Vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 1614 f. 743 Hierbei geht es um jene oben unter B. II. 1. b) aa), (2) (b) aufgeführten Fälle, in denen Differenzierungen hinsichtlich des Ausländerstatus ausnahmsweise nicht bereits als verdächtig angesehen werden und damit den Strict Scrutiny Test auslösen. 744 Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432 (1985). 745 United States Department of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528 (1973). 746 Plyler v. Doe, 457 U.S. 202 (1982). 742
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gang des Gerichts mit den besonderen Diskriminierungsverboten beiden Hauptanwendungsfällen des Intermediate Scrutiny Test besondere Bedeutung zukommt: Dies sind die Unterscheidungsmerkmale des Geschlechts und der Unehelichkeit. bb) Fallgruppen (1) Geschlecht Bis zur Entscheidung Reed v. Reed747 aus dem Jahre 1971 beurteilte der U.S. Supreme Court Regelungen, die Klassifizierungen aufgrund des Geschlechts enthielten, durchgängig nach dem weiten Rational Basis Test und hielt die staatlichen Maßnahmen daher in aller Regel für verfassungsgemäß, sofern sie nur irgendeinen rationalen Bezug zu einem staatlichen Interesse aufwiesen. Dabei bekräftigte der Warren Court noch 1961 einstimmig das traditionelle Rollenbild der Frau, indem er ausführte, diese sei „still regarded as the center of home and family life“748. Aufrechterhalten wurde daher ein Gesetz des Staates Florida, das Frauen im Gegensatz zu Männern nur dann als Geschworene vorsah, wenn sie sich freiwillig hierzu meldeten. Erst in den siebziger Jahren erfolgte eine Rechtsprechungsänderung749, durch die der U.S. Supreme Court eine Reihe von staatlichen Klassifizierungen aufgrund des Geschlechts als Verstoß gegen die equal protectionKlausel bewertete und für verfassungswidrig erklärte. Dabei wurde der Bezeichnung nach zwar noch immer der weite Rational Basis Test angewandt, das Prüfungsniveau jedoch inhaltlich deutlich angehoben und eine strengere gleichheitsrechtliche Überprüfung vorgenommen. 1973, in Frontiero v. Richardson750, erklärten die vier Richter Brennan, Douglas, White und Marshall Geschlechtsklassifizierungen für „verdächtig“ und wollten auf sie den Strict Scrutiny Test anwenden. Zur Begründung verwiesen sie unter anderem darauf, dass zweifelsfrei feststehe, „that our Nation has had a long and unfortunate history of sex discrimination“751. Traditionell sei die Diskriminierung von Frauen durch Vorstellungen eines romantischen Paternalismus rationalisiert worden. Als ein herausragendes verfassungsgerichtliches Beispiel dieser paternalistischen Grundhaltung wird auf die vielzitierte Auffassung des Richters Bradley in einer Entscheidung 747
Reed v. Reed, 404 U.S. 71 (1971). Hoyt v. Florida, 368 U.S. 57, 62 (1961). 749 Vgl. Reed v. Reed, 404 U.S. 71 (1971); Stanton v. Stanton, 421 U.S. 7 (1975). 750 Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677 (1973). 751 Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677, 684 (1973). 748
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aus dem Jahre 1873 hingewiesen. Bradley hatte betont, dass „Man is, or should be, woman’s protector and defender. The natural and proper timidity and delicacy which belongs to the female sex evidently unfits it for many of the occupations of civil life. The constitution of the family organization, which is founded in the divine ordinance, as well as in the nature of things, indicates the domestic sphere as that which properly belongs to the domain and functions of womanhood. The harmony, not to say identity, of interests and views which belong, or should belong, to the family institution is repugnant to the idea of a woman adopting a distinct and independent career from that of her husband.“752 Für die Verdächtigkeit von Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts führten die vier Richter darüber hinaus an, dass das Geschlecht ebenso wie Rasse und nationale Herkunft ein individuell unveränderliches Charakteristikum darstelle, für das der einzelne keine persönliche Verantwortung trage. Daher sei auf entsprechende Klassifizierungen der strikteste gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab anzuwenden. Diese Auffassung fand indes keine Mehrheit innerhalb des Gerichts. Erst 1976 in Craig v. Boren753 konnte sich die Mehrheit des Gerichts schließlich darauf einigen, den Intermediate Scrutiny Test als mittleren Prüfungsmaßstab einzuführen. Seither hat der U.S. Supreme Court den neuen, mittleren Prüfungsmaßstab in ständiger Rechtsprechung angewandt.754 Im Rahmen des damit etablierten Intermediate Scrutiny Test wird insbesondere überprüft, ob eine Klassifikation auf überzogenen Klischees der Frauenrolle basiert. In diesem Zusammenhang kam es 1981 zur Entscheidung Michael M. v. Sonoma County Superior Court755. Ein Gesetz des Staates Kalifornien bestrafte nur Männer, nicht aber Frauen, für einverständlichen Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen unter 18 Jahren. Michael M. hatte im Alter von siebzehn Jahren Geschlechtsverkehr mit einer Sechzehnjährigen gehabt und war daraufhin wegen Verstoßes gegen das Gesetz angeklagt worden. Die Mehrheitsentscheidung, verfasst von Justice Rehnquist, erkannte zunächst ein wichtiges öffentliches Interesse, Schwangerschaften von nichtverheirateten minderjährigen Frauen zu verhindern.756 Weiterhin sei die einseitige, nur Männer betreffende Strafandrohung „sufficiently related“ zu dem verfolgten Zweck, da minderjährige Männer ansonsten einer weitaus geringeren Abschreckung in Bezug auf die Kon752
Bradwell v. Illinois, 83 U.S. (16 Wall.) 130, 141 (1873). Craig v. Boren, 429 U.S. 190 (1976). 754 Vgl. etwa Califano v. Webster, 430 U.S. 313, 316 f. (1977); Orr v. Orr, 440 U.S. 268, 279 (1979); Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718, 723 f. (1982). 755 Michael M. v. Sonoma County Superior Court, 450 U.S. 464 (1981). 756 Michael M. v. Sonoma County Superior Court, 450 U.S. 464, 470 (1981): „the State has a strong interest in preventing such pregnancy.“ 753
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sequenzen einer sexuellen Beziehung ausgesetzt wären. Eine Vielzahl gravierender physischer und psychischer Folgen der Schwangerschaft beträfen überwiegend die Frau, während junge Männer durch den Geschlechtsverkehr nicht vergleichbar gewichtigen Folgen ausgesetzt seien. Die strafrechtliche Sanktionierung des Geschlechtsverkehrs von Männern mit minderjährigen Frauen sei daher aufgrund der biologischen Unterschiede der Geschlechter als ein zusätzliches, ausgleichendes Abschreckungsmittel gerechtfertigt.757 In seinem ablehnenden Sondervotum erklärte Justice Brennan unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes, der Grund für die Regelung liege maßgeblich darin, dass die Jungfräulichkeit von Frauen als besonders wertvoll angesehen worden sei. Während man bei minderjährigen Frauen einen besonderen Schutz des Staates vor sexuellen Handlungen für notwendig hielt, habe man bei jungen Männern angenommen, diese seien „capable of making such decisions for themselves“758, und daher von einem besonderen staatlichen Schutz Abstand genommen. Brennan führt aus, dass demnach keine substantielle Zweck-Mittel-Relation bestehen könne, da die Ungleichbehandlung auf stereotypen Einschätzungen überlieferter Rollenklischees zu basieren scheine, denen zufolge allein die minderjährige Frau besonderen Schutzes bedürfe.759 Die in Michael M. v. Sonoma County Superior Court deutlich gewordene Problematik, inwieweit Klassifizierungen aufgrund des Geschlechts unter dem Intermediate Scrutiny Test als „substantiell“ anzusehen oder als stereotype Festschreibung von Vorurteilen zu bewerten sind, wurde vom U.S. Supreme Court kurz nach der zuvor dargestellten Entscheidung in Rostker v. Goldberg760 abermals behandelt und zum Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Kontroverse. Dabei ging es um die Verfassungsmäßigkeit von Bestimmungen des Military Selective Service Act, einem Bundesgesetz, das die Registrierung für den Wehrdienst auf Männer beschränkte. In der mit 6 zu 3 Stimmen ergangenen Entscheidung erklärte Justice Rehnquist für die Richtermehrheit des U.S. Supreme Court den gänzlichen Ausschluss der Frauen von Wehrpflichtigenlisten als verfassungsgemäß. Die nationale Sicherheit und das Interesse an einer effektiven Organisation der Armee stelle zweifellos ein wichtiges öffentliches Ziel im Sinne des Intermediate Scrutiny Test dar. Dem Kongress komme indes in Fragen der nationalen Sicher757
Michael M. v. Sonoma County Superior Court, 450 U.S. 464, 473 ff. (1981). Michael M. v. Sonoma County Superior Court, 450 U.S. 464, 495 f. (1981) (Brennan, White, Marshall, dissenting). 759 Michael M. v. Sonoma County Superior Court, 450 U.S. 464, 496 (1981) (Brennan, White, Marshall, dissenting). 760 Rostker v. Goldberg, 453 U.S. 57 (1981). 758
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heit und im Hinblick auf militärische Angelegenheiten ein von der Verfassung verbürgter erheblicher Einschätzungsspielraum zu. In diesem Falle habe der Kongress die Frage der Einbeziehung von Frauen unter den Military Selective Service Act, wie sie Präsident Carter vorgeschlagen hatte, ausgiebig erörtert. Dabei sei insbesondere festgestellt worden, dass der vorrangige Zweck der Registrierung in der Zusammenstellung von Kampfverbänden bestehe. Hierfür seien Frauen indes nicht geeignet: „Women as a group, however, unlike men as a group, are not eligible for combat.“761 Der daraus abgeleitete generelle Ausschluss von Frauen aus der Registrierung für den Wehrdienst ist auf deutliche Kritik der dissentierenden Richter Marshall, White und Brennan gestoßen. So erkannte Justice Marshall in der Regelung einen Verstoß gegen den grundrechtlichen Gleichheitssatz.762 Mit seiner Mehrheitsentscheidung bestätige der U.S. Supreme Court verbreitete Stereotype über die traditionelle Rolle der Frau, ohne dass sich der generelle Ausschluss von Frauen aus dem angegriffenen Bundesgesetz in einem substantiellen Verhältnis zu den angestrebten öffentlichen Zielen befinde. Auch von Teilen der verfassungsrechtlichen Literatur wird Kritik dahingehend geäußert, dass sich die Entscheidung auf überkommene stereotype Vorstellungen stütze. Laurence Tribe hat diese Einwände mit besonderem Nachdruck formuliert, als er zu den Folgen von Rostker v. Goldberg anmerkte: „By being excluded from the draft and barred from service in many of the military capacities open to men, including combat, women lose major economic opportunities and are effectively denied equal status as citizens with full civic obligations . . . . In return, women are spared exposure to that traditional bete noire, the threat of sexual molestation at the hands of the enemy or their own male comrades, thereby perpetuating an image of women less as hardy citizens willing and able to pull their own weight than as vulnerable creatures who must be sequestered at home for their own safety. Asked not what they can do for their country, women are told what their countrymen will do for them.“763 Die zuvor aufgeführten Entscheidungen sind Ausdruck einer Diskussion in der amerikanischen Verfassungsrechtslehre, die insbesondere zu klären versucht, welche rechtlichen Ausnahmen von der Gleichheit der Geschlechter vor dem Hintergrund der equal protection-Klausel zu machen sind. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem bereits erwähnten Urteil des U.S. Supreme Court von 1996 zur Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Virginia Military Institute (VMI)764 zu, das in der Folgezeit heftige Kontroversen aus761 762
Rostker v. Goldberg, 453 U.S. 57, 76 (1981). Rostker v. Goldberg, 453 U.S. 57, 86 ff. (1981) (Marshall, Brennan, dissen-
ting). 763 764
Tribe, American Constitutional Law, S. 1573 f. (Hervorhebungen im Original). United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264 (1996).
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löste und zentrale Aussagen über die verfassungsgerichtliche Gleichheitsrechtsprechung bei Geschlechtsklassifikationen enthält. Im Mittelpunkt der Entscheidung steht das 1839 gegründete Virginia Military Institute, ein unter anderem mit staatlichen Mitteln finanziertes College, das ausschließlich Männer aufnimmt. Durch ein besonders rigides Ausbildungssystem sollen die Studenten zu zivilen und militärischen Führungspersönlichkeiten herangezogen werden. Diese Ausbildung umfasst im Kern „physical rigor, mental stress, absolute equality of treatment, absence of privacy, minute regulation of behavior, and indoctrination in desirable values“765. Zur Rechtfertigung der Zugangsbeschränkung auf männliche Studenten führte das Institut insbesondere an, dass die Ausbildungsmethoden anderenfalls gravierende Änderungen erfahren müssten. Zwar könnten durchaus auch einzelne weibliche Bewerber den hohen physischen und psychischen Anforderungen genügen. Im Allgemeinen jedoch würde die Zulassung von Frauen hergebrachte Ausbildungsprinzipien zerstören. So beriefen sich die Vertreter des Instituts etwa darauf, dass Männer regelmäßig eine Atmosphäre der Gegensätzlichkeit benötigten, während Frauen am besten in einem kooperativen Lernumfeld vorankämen.766 Wie die Richterin Ginsburg in ihrem Mehrheitsvotum ausführt, sind es indes gerade solche Formen von Verallgemeinerungen geschlechtsbezogener Charakteristika, die einer genauen verfassungsgerichtlichen Überprüfung bedürfen.767 Die Frage bestehe nicht darin, ob allgemein Frauen oder Männer besser für die Ausbildung der Militärakademie geeignet seien. Entscheidend sei vielmehr die Erwägung, ob Virginia in gleichheitsrechtlich zulässiger Weise interessierten Frauen, die über den Willen und die Fähigkeiten zu einer entsprechenden Ausbildung am VMI verfügen, eine Zulassung allein aufgrund ihres Geschlechts versagen dürfe. Insofern jedoch bestehe „no reason to believe that the admission of women capable of all the activities required of VMI cadets would destroy the Institute rather than enhance its capacity to serve the ‚more perfect Union‘ “768. Daher fehle es an einer hinreichenden Rechtfertigung für den generellen Ausschluss von Frauen aus der Militärakademie, die Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts verstoße daher gegen die equal protection-Klausel. Wie Justice Ginsburg für die Mehrheit von 7 Richtern bekräftigt, hat die grundrechtliche Gleichheitsprüfung von geschlechtsbezogenen Klassifikationen dabei biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen zweifellos zu berücksichtigen. Jedoch dürften solche Klassifikationen heute nicht 765 766 767 768
Vgl. United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2270 (1996). Vgl. United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2279 (1996). United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2280 (1996). United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2287 (1996).
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mehr dazu benutzt werden, um rechtliche, soziale oder ökonomische Unterlegenheiten von Frauen zu perpetuieren.769 Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts bedürften daher des Nachweises durch die differenzierende öffentliche Stelle, dass eine „exceedingly persuasive justification“770 für das angegriffene Staatshandeln vorliege. Diese Passagen der Entscheidung zum Virginia Military Institute haben in der Folgezeit erneut Unsicherheiten über die gleichheitsrechtlichen Anforderungen bei geschlechtsbezogenen Klassifikationen hervorgerufen.771 So bemerkt Cass Sunstein zur Entscheidung des U.S. Supreme Court, dass die Majorität der Richter hiermit „did not merely restate the intermediate scrutiny test but pressed it closer to strict scrutiny“772. Bereits Chief Justice Rehnquist, der dem Mehrheitsvotum im Ergebnis zustimmte, hatte es in seiner concurring opinion als unglücklich bezeichnet, mit dem Erfordernis der „exceedingly persuasive justification“ ein Element der Unsicherheit über die Anforderungen des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes einzuführen.773 Tatsächlich scheinen die Ausführungen der Richtermehrheit in der VMI-Entscheidung tendenziell darauf hinzudeuten, den mittleren Prüfungsmaßstab in der Strenge seiner Anforderungen voll auszuschöpfen und damit dem engen Kontrollmaßstab des Strict Scrutiny Test jedenfalls anzunähern. Indes finden sich auch in der jüngsten Rechtsprechung keine Anhaltspunkte für die in Teilen der Literatur diskutierte Entwicklung hin zu einer Aufgabe oder Zusammenführung des Intermediate Scrutiny Test mit dem striktesten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab. So hat der U.S. Supreme Court seine Auffassung bekräftigt, dass auch die geforderte „außerordentlich überzeugende“ Rechtfertigung auf die oben dargestellten inhaltlichen Komponenten des vermittelnden Intermediate-Standards Bezug nehme: „We have explained that an ‚exceedingly persuasive justification‘ is established ‚by showing at least that the classification serves important governmental objectives and that the discriminatory means employed are substantially related to the achievement of those objectives.‘ “774 In einer vehement ablehnenden dissenting opinion hat Justice Scalia die Entscheidung der Richtermehrheit über die Verfassungswidrigkeit der Nicht769
United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2276 (1996). United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2282 (1996). 771 Vgl. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 145: „Ob es bei dem bisher angelegten mittleren Prüfungsmaßstab bleibt, ob doch ‚strict scrutiny‘ anzuwenden ist oder ob es sich um eine Stufe zwischen diesen beiden Formen handelt, bleibt abzuwarten.“ 772 Sunstein, 110 Harvard Law Review 1996, 4, 75. 773 United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2288 (1996) (Rehnquist, concurring). 774 Tuan Anh Nguyen v. Immigration and Naturalization Service, 121 S.Ct. 2053, 2064 (2001). 770
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zulassung von Frauen zum Virginia Military Institute kritisiert. Die staatlich finanzierte militärische Ausbildung für Männer sei in den Traditionen der Vereinigten Staaten tief verankert. Gegründet 1839, habe man das VMI von Anbeginn als eine ausschließlich Männern vorbehaltene Institution organisiert und gesellschaftlich akzeptiert. Das Volk habe das Recht, diese Tradition auf demokratischem Wege zu ändern. Die Vorstellung indes, der U.S. Supreme Court könne die somit beschriebene langjährige Tradition als verfassungswidrig qualifizieren „is not law, but politics-smuggled-into-law“775. Auf die zu Grunde liegenden tief greifenden Divergenzen über die anzuwendende Methode der Verfassungsauslegung wird im weiteren Verlauf der Untersuchung776 ausführlich einzugehen sein. An dieser Stelle gilt es festzuhalten, dass Justice Scalia den aus seiner Sicht entscheidenden Gesichtspunkt für das kritisierte „Einschmuggeln“ benennt: Methodischer Ansatzpunkt, mit dem die Richtermehrheit ihre unzulässige Politisierung der Verfassung beginne, sei der Rückgriff auf den übermäßig streng bestimmten Inhalt des Intermediate Scrutiny Test. Dessen eingangs beschriebene Anforderungen würden bewusst überzogen, um die Verfassungswidrigkeit der auf Männer beschränkten Zulassungspraxis zum VMI begründen zu können. Mit dem Abstellen auf das Fehlen einer als „exceedingly persuasive“ qualifizierten Rechtfertigung überspiele das Gericht die hergebrachten Voraussetzungen des mittleren Prüfungsmaßstabes. Deren sorgfältige Berücksichtigung ergebe jedoch, dass „Virginia’s election to fund one public all-male institution . . . is substantially related to the Commonwealth’s important educational interests“777. Deutlich wird, dass zwar die Anwendung des für geschlechtsbezogene Klassifizierungen etablierten Intermediate Scrutiny Test im Gegensatz zu den beiden anderen Prüfungsmaßstäben das Ergebnis der Gleichheitsprüfung nicht von vornherein weitgehend festlegt. Dieser Zugewinn an Abwägungsspielraum wird durch den Rekurs auf „wichtige“ Ziele und das „substantielle“ Verhältnis von Zielen und Mittel erreicht – Begriffe, von denen Chief Justice Rehnquist nicht zu Unrecht aussagt, sie seien „hardly models of precision“778. Von umso größerer Bedeutung ist vor diesem Hintergrund die Kenntnis der vom U.S. Supreme Court entschiedenen Fälle, in denen das Gericht über die Verfassungsmäßigkeit von Differenzierungen aufgrund des Geschlechts zu befinden hatte und denen insoweit Präzedenzwirkung zukommt. Weitgehend Einigkeit besteht im amerikanischen Verfassungsrecht zunächst darüber, dass biologische Unterschiede, etwa die Möglichkeit der 775 776 777 778
United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2293 (1996) (Scalia, dissenting). Zweiter Teil, 4. Kapitel, B. II. United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2297 (1996) (Scalia, dissenting). United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2288 (1996) (Rehnquist, concurring).
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Schwangerschaft, Differenzierungen nach dem Geschlecht rechtfertigen können. Dabei sind Klassifizierungen aufgrund der Schwangerschaft vom U.S. Supreme Court allerdings nicht durchgängig als Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts beurteilt worden. So betonte die Mehrheit des Gerichts in der Entscheidung Geduldig v. Aiello779 die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit einer Regelung des kalifornischen Krankenversicherungssystems, mit der Formen von Arbeitsunfähigkeit wegen des Vorliegens einer Schwangerschaft vom Versicherungsschutz ausgenommen wurden. Die geringe Prüfungsintensität basierte auf der Annahme, dass es sich um eine Differenzierung wegen der Schwangerschaft handele, die nicht zugleich eine Unterscheidung aufgrund des Geschlechts darstelle. Zur Begründung verwies das Gericht entscheidend auf die von der Regelung unterschiedenen Gruppen – schwangere Frauen auf der einen, nichtschwangere Personen auf der anderen Seite. Während die erste Gruppe ausschließlich Frauen umfasse, setze sich die zweite, begünstigte Gruppe sowohl aus Männern als auch aus Frauen zusammen780, weshalb eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ausscheide. Folgt man dieser Auffassung781, so kommt eine Anhebung der gleichheitsrechtlich gebotenen Rechtfertigungsanforderungen auf den Maßstab des Intermediate Scrutiny Test aus Gründen der Geschlechtsbezogenheit der Maßnahme insoweit nicht in Betracht. Der U.S. Supreme Court hat weiterhin spezielle Arbeitszeitbegrenzungen für Frauen als verfassungsgemäß erachtet und dies mit Unterschieden in der Konstitution von Mann und Frau gerechtfertigt.782 Auf die Mehrheit der Richter in Michael M. v. Sonoma County Superior Court, die dort den biologischen Unterschied der Schwangerschaft als ausreichende Rechtfertigung für eine gesetzliche Differenzierung zwischen den Geschlechtern ansah, ist bereits hingewiesen worden. Das Gericht hat darüber hinaus funktionale Unterschiede herangezogen, um Geschlechtsklassifizierungen zu rechtfertigen: Hierzu zählt etwa die zuvor erwähnte Einschätzung in Rostker v. Goldberg, dass Frauen für Kampfeinsätze im Rahmen des Militärdienstes nicht geeignet seien. Insoweit wird in der Literatur davor gewarnt, dass die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen aufgrund „funktionaler Unterschiede“ zu einer Fixierung des herkömmlichen Rollenverständnisses führen könne, wenn mit dieser Ausnahme zu expansiv umgegangen werde.783 779
Geduldig v. Aiello, 417 U.S. 484 (1974). Geduldig v. Aiello, 417 U.S. 484, Fn. 20 (1974). 781 Zur Kritik an der dargestellten Position vgl. überzeugend Tribe, American Constitutional Law, S. 1578 ff. m. w. N. 782 Muller v. State of Oregon, 208 U.S. 412 (1908). 783 Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 457; vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 1573 f. 780
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Insgesamt betrachtet ist die amerikanische Verfassungsrechtsprechung zu dem Differenzierungskriterium des Geschlechts in besonderem Maße von dem Bestreben gekennzeichnet, stereotype Auffassungen von der traditionellen Rolle der Frau und des Mannes nicht als Rechtfertigung für klassifizierende Maßnahmen heranzuziehen.784 Diese Entwicklungslinie kommt im Urteil zum Virginia Military Institute für Ungleichbehandlungen zu Lasten von Frauen zum Ausdruck, wenn konstatiert wird, dass „generalizations about ‚the way women are‘, estimates of what is appropriate for most women, no longer justify denying opportunity to women whose talent and capacity place them outside the average description“785. Zwar zeigen die beiden zentralen Entscheidungen Michael M. v. Sonoma County Superior Court und Rostker v. Goldberg, dass der U.S. Supreme Court selbst bisweilen in den Verdacht gerät, Rollenklischees aufrecht zu erhalten. Allerdings steht diesen umstrittenen Entscheidungen eine größere Anzahl von Urteilen gegenüber, in denen das Gericht vormalige Geschlechtsklassifizierungen für verfassungswidrig erklärte, da sie einen Verstoß gegen die gleichheitsrechtlichen Anforderungen der equal protection-Klausel begründeten. So wird etwa in Frontiero v. Richardson786 die generelle Vermutung, dass die Ehefrau finanziell von ihrem Ehemann abhängig sei, als verfassungswidrig angesehen. In Kirchberg v. Feenstra787 erkennt das Gericht eine nicht gerechtfertigte Geschlechterdiskriminierung in einem Gesetz Louisianas, das dem Ehemann die alleinige Verfügungsbefugnis über Dinge einräumt, die im gemeinschaftlichen Eigentum der Ehegatten stehen. Eine Regelung Idahos zur Nachlassverwaltung, durch die innerhalb derselben Stufe von Berechtigten im Streitfalle dem Mann unabhängig von seiner Eignung der Vorzug vor der Frau gebührte, wurde in Reed v. Reed788 noch vor der Einführung des Intermediate Scrutiny Test für ungültig erklärt. Verweisen die Formulierungen insoweit noch auf den traditionellen Rational Basis Test und betonen die Frage nach dem Vorhandensein rationaler, nicht willkürlich anmutender Gründe, so deutet sich hier im Ergebnis die Entwicklung eines strengeren Prüfungsmaßstabes mit intensiveren Rechtfertigungsanforderungen bereits an.789 784 Vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 45. 785 United States v. Virginia, 116 S.Ct. 2264, 2284 (1996). 786 Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677 (1973). 787 Kirchberg v. Feenstra, 450 U.S. 455 (1981). 788 Reed v. Reed, 404 U.S. 71 (1971). 789 Die sich abzeichnende Anhebung gleichheitsrechtlicher Prüfungsanforderungen bei Differenzierungen aufgrund des Geschlechts kommt auch darin zum Ausdruck, dass der U.S. Supreme Court hier auf die recht weitreichende Formulierung aus Royster Guano Co. v. Virginia, 253 U.S. 412, 415 (1920) zurückgreift. Danach muss die überprüfte Klassifizierung „be reasonable, not arbitrary, and must rest
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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In der Folgezeit hat der U.S. Supreme Court seine durch die oben beschriebene Einführung des Intermediate Scrutiny Test erhöhte gleichheitsrechtliche Prüfungskompetenz nicht nur im Hinblick auf die rechtliche Gleichstellung der Frau zur Geltung gebracht, sondern zudem mehrfach Klassifizierungen zum Nachteil des Mannes für verfassungswidrig erklärt. So erkannte das Gericht in der Entscheidung Mississippi University for Women v. Hogan790 einen Verstoß gegen die equal protection-Klausel zu Lasten des Krankenpflegers Joe Hogan. Hogan hatte sich für ein Fortbildungsstudium im Bereich der Krankenpflege entschieden und dazu bei der 1884 gegründeten Ausbildungsstätte beworben. Die Aufnahme war ihm jedoch unter Hinweis auf die geltenden Zulassungsvoraussetzungen versagt worden, nach denen nur ausreichend qualifizierte Frauen Berücksichtigung fanden, nicht hingegen entsprechend qualifizierte Männer. In dem von Justice O’Connor verfassten Urteil bestätigt der U.S. Supreme Court zunächst die Relevanz des Intermediate Scrutiny Test und führt weiterhin aus, dessen Anwendung habe frei zu sein von „fixed notions concerning the roles and abilities of males and females. Care must be taken in ascertaining whether the statutory objective itself reflects archaic and stereotypic notions.“791 Die Praxis der Universität, Männer von der Zulassung prinzipiell auszuschließen, perpetuiere indes gerade die stereotype Vorstellung vom Beruf der Krankenpflege als einem ausschließlichen Frauenberuf. Mit den Zulassungsvoraussetzungen trage die Einrichtung zur Verbreitung dieser klischeehaften Ansicht bei. Die vorurteilsbeladene Auffassung, dass Krankenpflege eine genuin weibliche Beschäftigung sei, werde durch den generellen Ausschluss von Männern zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.792 Durch ihre Ausgestaltung der Zulassungsbeschränkungen habe die Universität daher gegen den grundrechtlich verbürgten Gleichheitssatz verstoßen. Als nicht überzeugend lehnte der U.S. Supreme Court hingegen die zur Verteidigung vorgebrachte Erklärung der Universität ab, vorrangiger Grund für die getroffene Regelung sei es gewesen, vergangene Diskriminierungen gegen Frauen zu kompensieren, mithin eine bildungsbezogene Form der „Affirmative Action“. Auf diesen Bereich, der sowohl das besondere Diskriminierungsverbot der „Rasse“ als auch das hier behandelte Differenzierungsmerkmal des Geschlechts betrifft, wird im weiteren Verlauf der Untersuchung näher einzugehen sein. Wie der U.S. Supreme Court in seiner Entscheidung zur Mississippi University for Women bekräftigt, reicht jedenfalls die bloß nachträgliche Behauptung eines solchen kompensatorisch moupon some ground of difference having a fair and substantial relation to the object of the legislation“, vgl. Reed v. Reed, 404 U.S. 71, 76 (1971). 790 Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718 (1982). 791 Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718, 725 (1982). 792 Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718, 730 (1982).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
tivierten Handelns nicht aus, um den Anforderungen des Intermediate Scrutiny Test zu genügen.793 Vorliegend habe die Universität nicht den Eindruck entkräften können, dass eigentlicher Hintergrund der Zulassungsregelung die beschriebene stereotype Berufsbildfixierung sei, während der wohlmeinende Kompensationsgedanke insoweit vorgeschoben erscheine und verfassungsgerichtlich nicht berücksichtigt werden könne. Erneut ist es damit die Ermittlung der tatsächlichen Motivation hoheitlichen Handelns, die „inquiry into the actual purposes underlying a statutory scheme“794, der im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Gleichheitsprüfung maßgebliche Bedeutung zukommt. (2) Unehelichkeit Ein weiteres nach dem Intermediate Scrutiny Test beurteiltes Unterscheidungsmerkmal ist das der Unehelichkeit. In seiner Rechtsprechung zur equal protection-Klausel hat sich der U.S. Supreme Court für entsprechende Klassifizierungen zunächst nicht auf einen einheitlichen Prüfungsmaßstab festlegen können, sondern wiederholt zwischen den Anforderungen des Rational Basis Test und denen des Strict Scrutiny Test geschwankt. Mittlerweile ist die Anwendung des mittleren Prüfungsmaßstabes in der verfassungsgerichtlichen Gleichheitsrechtsprechung anerkannt.795 Begründet wird dies in Abgrenzung zum strikten Prüfungsmaßstab damit, dass das Kriterium der Unehelichkeit nicht mit dem ursprünglich von der equal protection-Klausel intendierten Schutz der Schwarzen vor rassischer Diskriminierung vergleichbar sei, uneheliche Kinder insbesondere auf keine vergleichbar gravierende Geschichte von Diskriminierungen wie Schwarze oder auch Frauen zurückblicken müssten – „perhaps in part because illegitimacy does not carry an obvious badge, as race or sex do, this discrimination against illegitimates has never approached the severity or pervasiveness of the historic legal and political discrimination against women and Negroes“796. Andererseits werden intensivierte Rechtfertigungsanforderungen gegenüber dem durchlässigen Rational Basis Test vom U.S. Supreme Court maßgeblich darauf zurückgeführt, dass ein Kind keine persönliche Verantwortlichkeit für seine Unehelichkeit trage, mithin ein individuell unver793
Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718, 728 (1982). Mississippi University for Women v. Hogan, 458 U.S. 718, 728 (1982) unter Verweis auf Weinberger v. Wiesenfeld, 420 U.S. 636, 648 (1975). 795 Vgl. Lalli v. Lalli, 439 U.S. 259, 265 (1978): „Although . . . classifications based on illegitimacy are not subject to ‚strict scrutiny‘, they nevertheless are invalid under the Fourteenth Amendment if they are not substantially related to permissible state interests.“ 796 Mathews v. Lucas, 427 U.S. 495, 506 (1976). 794
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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änderbares Persönlichkeitsmerkmal vorliegt, das, wie oben gezeigt, ein Kriterium für erhöhte Prüfungsanforderungen darstellt. Zu benachteiligenden Ungleichbehandlungen unehelicher Kinder stellt das Gericht daher vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Kriterien der Verdächtigkeit fest, dass „imposing disabilities on the illegitimate child is contrary to the basic concept of our system that legal burdens should bear some relationship to individual responsibility or wrongdoing. Obviously, no child is responsible for his birth and penalizing the illegitimate child is an ineffectual – as well as an unjust – way of deterring the parent.“797 Wegen Verstoßes gegen die equal protection-Klausel wurde daher etwa eine Regelung des Staates Illinois für verfassungswidrig erklärt, die unehelichen Kindern das gesetzliche Erbfolgerecht nur mütterlicherseits zuerkannte, während eheliche Kinder in der gesetzlichen Erbfolge beider Eltern standen.798 Das uneheliche Kind konnte danach nur dann in die gesetzliche Erbfolge des Vaters eintreten, wenn dieser die Vaterschaft anerkannte und die Eltern darüber hinaus heirateten. Hingegen bejahte der U.S. Supreme Court in der Entscheidung Lalli v. Lalli799 die substantielle Beziehung zu einem wichtigen öffentlichen Ziel im Sinne des Intermediate Scrutiny Test bei einer Vorschrift des Staates New York, die denselben Regelungsbereich zum Gegenstand hatte. Ausweislich der Vorschrift konnten unehelicher Kinder in die gesetzliche Erbfolge des Vaters nur eintreten, wenn die Vaterschaft zu dessen Lebzeiten gerichtlich festgestellt worden war. Das damit verbundene wichtige öffentliche Ziel erkannte das Gericht in der ordnungsgemäßen Verteilung der Erbmasse im Todesfall.800 Im Vordergrund stand insoweit die Berücksichtigung erheblicher Beweisprobleme im Hinblick auf jene beträchtliche Anzahl von Fällen, in denen die Vaterschaft des Verstorbenen in Frage steht. Zu diesem Zweck stand das Erfordernis der gerichtlichen Feststellung der Vaterschaft zu Lebzeiten in einem substantiellen Verhältnis.801 Demgegenüber war die Regelung des Staates Illinois unter anderem damit begründet worden, über das Erfordernis der späteren Heirat der Eltern auf die Herstellung legitimer Familienbeziehungen hinzuwirken. Der U.S. Supreme Court hatte dieses Ziel als „concern with the family unit, perhaps the most fundamental social institution of our society“802 im Grundsatz 797 Mathews v. Lucas, 427 U.S. 495, 505 (1976) unter Verweis auf Weber v. Aetna Casualty & Surety Co., 406 U.S. 164, 175 (1972). 798 Trimble v. Gordon, 430 U.S. 762 (1977). 799 Lalli v. Lalli, 439 U.S. 259 (1978). 800 Lalli v. Lalli, 439 U.S. 259, 268 (1978): „interest of considerable magnitude“. 801 Lalli v. Lalli, 439 U.S. 259, 271 ff. (1978). 802 Trimble v. Gordon, 430 U.S. 762, 769 (1977).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
akzeptiert. Unakzeptabel sei jedoch das dazu eingesetzte Mittel der Benachteiligung des unehelichen Kindes, das für den Familienstatus der Eltern keine Verantwortung trage. Man habe daher „expressly considered and rejected the argument that a State may attempt to influence the actions of men and women by imposing sanctions on the children born of their illegitimate relationships“803. Für den verbleibenden Begründungsstrang, das Ziel der ordnungsgemäßen Verteilung der Erbmasse, könne der gänzliche Ausschluss unehelicher Kinder mit dem Erfordernis der vorherigen Heirat der Eltern indes nicht als ausreichende Rechtfertigung betrachtet werden. Das eingesetzte Mittel greife insoweit deutlich über den hiermit verfolgten Zweck hinaus. III. Vergleichende Zusammenfassung Wie sich im Verlauf dieser Untersuchung gezeigt hat, ist der Umgang des Bundesverfassungsgerichts und des U.S. Supreme Court mit den besonderen Diskriminierungsverboten zunächst maßgeblich davon geprägt, dass im deutschen Grundgesetz ausdrücklich besondere Gleichheitssätze als thematisch ausgerichtete besondere Diskriminierungsverbote enthalten sind804, während diesen keine Entsprechungen im amerikanischen Verfassungstext gegenüber stehen. Aus diesem Grund hat der U.S. Supreme Court in seiner Gleichheitsrechtsprechung Fallgruppen entwickelt, die bestimmte, überwiegend den besonderen Diskriminierungsverboten des Grundgesetzes entsprechende Differenzierungskriterien und Sachbereiche erhöhten Prüfungsanforderungen unterwerfen: Hierzu zählen, wie dargelegt, etwa Differenzierungen hinsichtlich der Rasse, des Geschlechts, der Unehelichkeit oder im Bereich des Wahlrechts. Hinzuweisen ist zunächst auf die gleichheitsrechtlichen Parallelen zwischen dem amerikanischen Strict Scrutiny Test und dem deutschen Prüfungsmaßstab bei den besonderen Diskriminierungsverboten. So verbietet Art. 3 Abs. 3 GG Klassifizierungen, die an die dort genannten Merkmale anknüpfen. Demgegenüber fordert der U.S. Supreme Court im Rahmen des Strict Scrutiny Test die Notwendigkeit einer Klassifizierung im Hinblick auf ein zwingendes öffentliches Interesse. Wie die Untersuchung der Verfassungsrechtsprechung ergeben hat805, ist der Umgang des Gerichts mit diesen Anforderungen dadurch gekennzeichnet, dass hieran überprüfte Unterscheidungen in aller Regel wegen Verstoßes gegen die equal protectionKlausel für verfassungswidrig erklärt werden. Das Bundesverfassungsgericht wiederum hat Ausnahmen vom grundsätzlichen Differenzierungsver803 804 805
Trimble v. Gordon, 430 U.S. 762, 769 (1977). Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 13. Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. a) cc).
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bot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG für zulässig erachtet, wenn sie zur Lösung von Problemen beitragen, die ihrer Natur nach nur bei Personen der einen Gruppe auftreten können806 oder wenn das Kriterium „das konstituierende Element des zu regelnden Lebenssachverhalts bildet“807. Zudem müsse eine solche Diskriminierung zwingend erforderlich sein.808 Sowohl Bundesverfassungsgericht als auch U.S. Supreme Court gehen somit von der grundsätzlichen Unzulässigkeit entsprechender Differenzierungen aus und halten Ausnahmen hiervon nur in sehr engen Grenzen für zulässig. Die zuvor dargestellten Ähnlichkeiten gelten zum einen für das in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG aufgeführte besondere Diskriminierungsverbot der „Rasse“. Während diesem Merkmal in der deutschen Gleichheitsrechtsprechung jedoch keine große praktische Relevanz zukommt809, ist es für die Judikatur des U.S. Supreme Court zur equal protection-Klausel von erheblicher Bedeutung, da insofern die lange amerikanische Tradition der Versklavung und Benachteiligung der schwarzen Bevölkerung, wie sie eingangs beschrieben wurde, bis heute fortwirkt. Weiterhin wird in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung der Bereich des Wahlrechts den strengen Anforderungen des Strict Scrutiny Test unterstellt, während diesbezüglich im Grundgesetz die speziellen Gleichheitssätze von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG zur Anwendung gelangen. Das Bundesverfassungsgericht hält dabei Differenzierungen, die die Allgemeinheit oder Gleichheit der Wahl betreffen, nur dann für verfassungsgemäß, wenn zwingende Gründe für eine solche Regelung vorliegen.810 Auch der U.S. Supreme Court verlangt im Rahmen des strikten Prüfungsmaßstabes, dass Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit notwendig im Hinblick auf ein zwingendes öffentliches Interesse sind811 und beschränkt damit den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in diesem als besonders bedeutsam erachteten Bereich. Zumindest teilweise anders stellt sich der Umgang des U.S. Supreme Court mit den Klassifizierungen „Geschlecht“ und „Unehelichkeit“ dar, die als besondere Diskriminierungsverbote im deutschen Verfassungsrecht in Art. 3 Abs. 2, Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 6 Abs. 5 GG enthalten sind. 806
Vgl. BVerfGE 85, 191, 207. BVerfG NVwZ 1994, 477; BVerfGE 7, 155, 171. 808 BVerfGE 85, 191, 207. Vgl. auch die abweichende Meinung der Richter Kühling, Jaeger und Hohmann-Dennhardt, BVerfG, 1 BvR 284/96, 14.3.2000, Rn. 76. 809 Eine Ausnahme stellt BVerfGE 23, 98, 106 f. dar, in der das Bundesverfassungsgericht die Anerkennung der Rechtswirksamkeit von rassisch motivierten Ausbürgerungen der Juden als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG bewertete; vgl. zur ansonsten geringen praktischen Bedeutung Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 76. 810 Vgl. oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 6. 811 Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb), (1). 807
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Während das Bundesverfassungsgericht auch hier grundsätzlich von einem strengen Differenzierungsverbot ausgeht, werden beide Fallgruppen in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung dem vermittelnden Prüfungsmaßstab des Intermediate Scrutiny Test zugeordnet. Um dessen Anforderungen zu genügen, muss die klassifizierende Maßnahme einem wichtigen öffentlichen Ziel dienen und zwischen eingesetztem Mittel und angestrebtem Ziel ein „substantielles“ Verhältnis bestehen. Der mittlere gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab verlangt demnach eine umfassende Güterabwägung, die vergleichbar ist mit der vom Bundesverfassungsgericht bei Art. 3 Abs. 1 GG betonten Möglichkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, die über das bloße Willkürverbot hinausgeht.812 Wie ausgeführt, legt der U.S. Supreme Court dabei im Hinblick auf geschlechtsbezogene Klassifizierungen besonderes Gewicht auf die Feststellung, dass ein substantielles Verhältnis zwischen Zweck und Mittel zu verneinen sei, sofern die differenzierende Maßnahme lediglich auf traditionellen Rollenklischees beruht.813 Im gleichen Sinne betont das Bundesverfassungsgericht814, dass Art. 3 Abs. 2 GG „eine Festschreibung überkommener Rollenverteilungen zum Nachteil von Frauen verbietet.“ In der Verfassungsrechtsprechung beider Gerichte wird weiterhin eine Differenzierung aufgrund des Geschlechts für zulässig erachtet, wenn biologische Unterschiede von Mann und Frau das zu ordnende Lebensverhältnis so entscheidend prägen, dass vergleichbare Elemente daneben vollkommen zurücktreten.815 Zudem werden gewisse funktionale Unterschiede anerkannt, die ebenfalls Ungleichbehandlungen rechtfertigen können, hierzu gehört nach Ansicht des U.S. Supreme Court etwa die Untauglichkeit der Frau zur Teilnahme an militärischen Kampfhandlungen816. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Gleichheitsrechtsprechung funktionale (arbeitsteilige) Unterschiede zwischen Mann und Frau als mögliche Ausnahme vom strikten Differenzierungsverbot angesehen.817 Sowohl in der amerikanischen als auch in der deutschen Verfassungsrechtslehre818 wird aller812 BVerfGE 88, 87, 96; vgl. zu dieser Rechtsprechungsentwicklung des Bundesverfassungsgerichts Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 2. Zur Vergleichbarkeit von Intermediate Scrutiny Test und Verhältnismäßigkeitsprüfung auch Cho, Verfassungsgerichtliche Gleichheitsprüfung in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, S. 257. 813 Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 2. b) bb), (1); vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 45. 814 BVerfGE 87, 234, 258 m. w. N. 815 Vgl. etwa BVerfGE 10, 59, 74; Michael M. v. Sonoma County Superior Court, 450 U.S. 464, 471 ff. (1981). 816 Rostker v. Goldberg, 453 U.S. 57, 76 f. (1981). 817 So z. B. BVerfGE 43, 213, 225; 68, 384, 390.
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dings eine restriktive Anwendung dieser Fallgruppe gefordert, um der Gefahr einer Festschreibung von bestehenden Rollenklischees zu begegnen. Über die genannten Klassifizierungen hinaus ist zudem festzustellen, dass im Grundgesetz weitere besondere Diskriminierungsverbote existieren, deren Behandlung in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung umstritten ist. Hierzu zählt der Umgang mit Ungleichbehandlungen aufgrund von geistigen Behinderungen. So hatte sich der U.S. Supreme Court in Cleburne v. Cleburne Living Center819 mit einem Bebauungsplan der Stadt Cleburne in Texas zu befassen, der für ein Wohngebiet zwar Pflegeheime, Krankenhäuser und Sanatorien zuließ, nicht jedoch Heime für geistig Behinderte. Diese konnten daher nur mit einer speziellen Erlaubnis errichtet werden. Anlässlich der geplanten Errichtung eines Heimes für 13 geistig behinderte Menschen wurde eine solche Erlaubnis indes verweigert. Im anschließenden Rechtsstreit hatte das Berufungsgericht benachteiligende Ungleichbehandlungen von geistig behinderten Menschen als „quasi-suspect“ bewertet und war so unter Anwendung des Intermediate Scrutiny Test zu der Annahme eines Verstoßes gegen die equal protection-Klausel gelangt. In seiner anschließenden Entscheidung setzte sich der U.S. Supreme Court ausführlich mit der Frage auseinander, ob geistige Behinderung (neben den akzeptierten Fallgruppen des Geschlechts und der Unehelichkeit) eine weitere quasi-suspekte Klassifizierung darstelle und verneinte dies im Ergebnis.820 Die Begründung verdeutlicht die Schwierigkeiten der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung im Umgang mit Klassifizierungen, die in Deutschland bereits als besondere Diskriminierungsverbote im Grundgesetz aufgeführt sind. Zunächst versucht das Gericht nachzuweisen, weshalb Differenzierungen nach geistiger Behinderung nicht als „quasi-verdächtig“ einzustufen seien. Hierbei wird maßgeblich darauf abgestellt, dass es vielfältige Bemühungen des Gesetzgebers zugunsten geistig Behinderter gebe sowie ein beträchtliches Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit für deren Belange bestehe, weshalb die Gruppe im politischen Prozess nicht als machtlos einzuschätzen sei: „[T]he legislative response, which could hardly have occured and survived without public support, negates any claim that the mentally retarded are politically powerless in the sense that they have no ability to attract the attention of the lawmakers.“821 818 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 301; Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 455 f.; Tribe, American Constitutional Law, S. 1573 f. 819 Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432 (1985); vgl. Note, 100 Harvard Law Review 1987, 1146, 1162, sowie Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht, S. 153 ff. 820 Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432, 442 ff. (1985). 821 Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432, 445 (1985).
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Nach diesen Ausführungen erwähnt das Gericht eher beiläufig, was ein wesentlicher Grund für die Zurückhaltung bei der gleichheitsrechtlichen Anerkennung neuer quasi-verdächtiger Klassifizierungen sein dürfte. Zum Ausdruck gebracht wird die Befürchtung, dass damit ein Präzedenzfall für eine Vielzahl weiterer Gruppen geschaffen werden könnte, die auf diese Weise ebenfalls unter den erhöhten Schutzstandard des Intermediate Scrutiny Test fallen würden – „if the large and amorphous class of the mentally retarded were deemed quasi-suspect . . ., it would be difficult to find a principled way to distinguish a variety of other groups who have perhaps immutable disabilities setting them off from others, who cannot themselves mandate the desired legislative responses, and who can claim some degree of prejudice from at least part of the public at large“822. Das Gericht verweist insofern auf jene Gruppen, die mit plausiblen Gründen denselben gleichheitsrechtlichen Status einfordern könnten. Hierzu gehörten etwa die Gruppe der Alten, der Behinderten, der psychisch Kranken oder der Gebrechlichen. Für eine solche Ausweitung erhöhten Gleichheitsschutzes auf weitere Personenkreise und Regelungsbereiche sieht der U.S. Supreme Court indes keine ausreichenden Anhaltspunkte, weshalb er den geistig behinderten Menschen im vorliegenden Falle die allgemeine Zuerkennung eines intensivierten Prüfungsniveaus versagte. Doch trotz der damit beschriebenen unterbliebenen Einordnung der Differenzierung als quasi-suspekt wird die Regelung der Stadt Cleburne letztlich als gleichheitswidrig beurteilt, da sie selbst gegen den weiten Rational Basis Test verstoße, insbesondere kein legitimes öffentliches Interesse für eine solche Ungleichbehandlung bestehe.823 Bei der Erläuterung der von der Stadt vorgebrachten Gründe wird deutlich, dass sich das Gericht von seinen sonstigen durchlässigen Maßstäben im Rahmen des Rational Basis Test entfernt und höhere Anforderungen stellt, die ansonsten eher dem Abwägungsbereich des mittleren Tests zugeordnet werden. Es handelt sich somit um einen Fall der nicht ausdrücklich benannten Erhöhung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes („covertly heightened scrutiny“824), durch den eine generelle Ausweitung des Anwendungsbereiches des Intermediate Scrutiny Test verhindert werden soll. Die Gründe hierfür sind vorwiegend kompetenzrechtlicher Natur und betreffen das Verhältnis von Judikative und Legislative. Bei der Darstellung der Konsequenzen dieser Gleichheitsrechtsprechung für die Gesetzgebung wird darauf näher einzugehen sein. Die Entscheidung Cleburne v. Cleburne Living Center ist nur ein Beispiel für die in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung diskutierte 822 823 824
Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432, 445 (1985). Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432, 448 ff. (1985). Tribe, American Constitutional Law, S. 1612.
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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Frage, ob und gegebenenfalls welche weiteren Klassifizierungen als verdächtig oder quasi-verdächtig zu bewerten sind.825 So sind weitere Gruppen, bei deren Ungleichbehandlung ein erhöhter gleichheitsrechtlicher Prüfungsmaßstab in Erwägung gezogen wird etwa die Homosexuellen, alte Menschen oder die Armen.826 Die überwiegende Auffassung im U.S. Supreme Court sieht jedoch nur die oben beschriebenen Klassifizierungen aufgrund des Geschlechts oder der Unehelichkeit als quasi-verdächtig an und kommt somit regelmäßig nur bei diesen zur Anwendung des mittleren Prüfungsmaßstabes. Auch in Deutschland ist eine vergleichbare Diskussion über die Erhöhung des Prüfungsmaßstabes bei besonderen Differenzierungen zu konstatieren. Hierbei ist auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu verweisen, wie sie oben827 analysiert wurde. Danach sind erhöhte Anforderungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zu stellen, wenn sich diese auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann.828 Aus ähnlichen Erwägungen legt der U.S. Supreme Court einen verschärften gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab zu Grunde, wenn Differenzierungen auf fundamentale Rechte (fundamental rights) treffen.829 In diesem Fall ist nach der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung wie ausgeführt der Strict Scrutiny Test einschlägig. Weiterhin soll nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ein erhöhter Kontrollmaßstab dann anzulegen sein, wenn sich das Differenzierungskriterium den besonderen Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG annähert.830 Hierbei wird insbesondere darauf abgestellt, ob der einzelne das Differenzierungskriterium beeinflussen kann oder ob dieses für ihn „unentrinnbar“ ist.831 Insofern bestehen deutliche Parallelen zu dem Kriterium der Anknüpfung an unveränderbare Persönlichkeitsmerkmale832, das der U.S. Supreme Court, wie gezeigt, für die Bestimmung der verdächtigen Klassifizierungen heranzieht. Die zugespitzte Formulierung von Bryde und Kleindiek833, derzufolge das Bundesverfassungsgericht die besonderen „Diskriminierungsverbote des Ab825
Vgl. die Nachweise bei Cohen/Varat, Constitutional Law, S. 906 ff. Vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 1610 ff. 827 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. 828 Vgl. Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 43; Kischel, AöR 124 (1999), 174, 190; Söllner, Die Bedeutung des Gleichberechtigungsgrundsatzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 11. 829 Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb). Vgl. auch Hesse, AöR 109 (1984), 174, 198; Sachs, JuS 1997, 124, 127. 830 BVerfGE 88, 87, 96; 92, 26, 51. 831 Sachs, JuS 1997, 124, 129. 832 Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (1) (d). 833 Jura 1999, 36 ff. 826
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
satzes 3 nicht als abschließend, sondern lediglich als illustrierend betrachtet“834, scheint dabei angesichts der detaillierten, ausdrücklich aufgeführten Merkmale in Art. 3 Abs. 3 GG835 nicht gänzlich überzeugend, zumal mit der Anhebung des Prüfungsniveaus bei solchen „angenäherten“ Differenzierungskriterien, wie etwa dem Ausländerstatus836, nicht notwendig eine Kontrolldichte erreicht werden muss, die derjenigen des Art. 3 Abs. 3 GG entspricht.837 Sie belegt jedoch, dass in der deutschen Verfassungsjudikatur die Trennung zwischen allgemeinem Gleichheitssatz und besonderen Diskriminierungsverboten zunehmend durch „vermittelnde“ Prüfungsanforderungen ergänzt wird, wobei diese Tendenz zur Ausdifferenzierung der gleichheitsrechtlichen Prüfungsintensität auch in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court, insbesondere durch die Einführung des vermittelnden Prüfungsmaßstabes des Intermediate Scrutiny Test, festzustellen ist.
C. Spezielle Probleme des Gleichheitsschutzes durch besondere Diskriminierungsverbote Spezielle Probleme des Gleichheitsschutzes durch besondere Diskriminierungsverbote sind auf mehreren Ebenen zu konstatieren. Im Folgenden wird insoweit auf drei besonders wichtige Themenbereiche eingegangen, nämlich auf die Bewertung positiver Fördermaßnahmen zugunsten von Frauen und ethnischen Minderheiten (I.), die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung (II.) sowie auf das Verhältnis von rechtlicher und faktischer Gleichheit (III.). I. Frauenförderung und Affirmative Action 1. Frauenförderung vor dem Hintergrund von Art. 3 Abs. 2 und 3 GG Maßnahmen der Frauenförderung sind im deutschen Verfassungsrecht insbesondere an den Vorgaben von Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu messen. 834
Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 43. Vgl. zum abschließenden Charakter des Art. 3 Abs. 3 GG Dürig, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 28; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 40. 836 Dieser wird als solcher nicht bereits von den Begriffen Heimat und Herkunft erfasst, vgl. BVerfGE 51, 1, 30; Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 51 m. w. N. 837 Vgl. die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfG, 1 BvL 2/91, 2.3.1999, Rn. 67, wonach die Bindung des Gesetzgebers an Verhältnismäßigkeitserfordernisse „um so enger [ist], je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern“. 835
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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Dabei enthalten Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 GG ein abwehrrechtliches Diskriminierungsverbot, während im 1994 eingefügten Art. 3 Abs. 2 S. 2 ein Verfassungsauftrag normiert wird, Maßnahmen zur Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung zu treffen und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Von Bedeutung ist somit insbesondere das Verhältnis zwischen dem Förderungsgebot einerseits und abwehrrechtlichem Schutzgehalt des Diskriminierungsverbotes andererseits. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht allgemein ausgeführt, dass sich eine Ungleichbehandlung im Wege der Abwägung mit kollidierendem Verfassungsrecht rechtfertigen lasse und insoweit das Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG in Betracht komme, das den Gesetzgeber berechtige, faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, durch begünstigende Regelungen auszugleichen.838 Problematisch ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Verfassungsmäßigkeit von Quotenregelungen, durch die ein bestimmter Prozentsatz von Stellen mit Frauen zu besetzen ist.839 Insoweit wird in der verfassungsrechtlichen Diskussion zwischen verschiedenen Quotenregelungen differenziert. Bereits in den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission840 wurde die Einführung von „starren“ Quotenregelungen im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG abgelehnt. Mit „starren“ Quoten werden in diesem Zusammenhang verbindliche Anordnungen zur Bevorzugung von Frauen bis zum Erreichen eines bestimmten Frauenanteils bezeichnet, die keine Ausnahmen in Form von Öffnungs- oder Härtefallklauseln enthalten.841 Doch auch „weiche“ Quotenregelungen, in denen eine Bevorzugung von Frauen nur bei gleicher Eignung und Befähigung erfolgen soll und die zudem mit Öffnungsklauseln versehen sind, begegnen verfassungsrechtlichen Bedenken. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass schon in der Gemeinsamen Verfassungskommission Uneinigkeit darüber bestand, ob mit der Einführung des neuen Satzes 2 in Art. 3 Abs. 2 GG lediglich Chancengleichheit eingeräumt, oder ob damit auch eine Form der Ergebnisgleichheit842 verbunden 838
BVerfGE 92, 91, 109 unter Hinweis auf BVerfGE 74, 163, 180; 85, 191, 207. Ausführlich zur Diskussion über die Zulässigkeit von Quotenregelungen zu Gunsten von Frauen Schubert, Affirmative Action und Reverse Discrimination. Zur Problematik von Frauenquoten im öffentlichen Dienst am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland unter Einbeziehung des Rechts der Europäischen Gemeinschaft, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Republik Südafrika. 840 Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, 5.11.1993, S. 50. 841 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 2, Rn. 65. 842 Zum problematischen Begriff der „Ergebnisgleichheit“, ebenso wie dem der „faktischen Gleichheit“ vgl. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 399 f. sowie Starck, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 47 (1989), S. 80, die zu839
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
sein sollte. Während eine Auffassung durch die Ergänzung des Art. 3 GG bevorzugende Ungleichbehandlungen zur Förderung von Frauen als verfassungsrechtlich zulässig betrachtete, betonte die Gegenposition, dass die in Abs. 2 aufgenommene Formulierung nur die Gleichheit der Ausgangschancen betreffe, ohne jedoch auf Ergebnisgleichheit abzuzielen.843 Letztlich wurde bewusst auf die Festschreibung der Begriffe „Quotenregelung“ und „Gleichstellung“ verzichtet844 und es blieb bis zuletzt umstritten, ob die Bevorzugung von Frauen bei gleicher Eignung und Befähigung verfassungsgemäß sei. In Fortführung dieser bereits bei Einfügung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG bestehenden Diskrepanzen wird nunmehr zum Teil vertreten, dass der Gesetzgeber das Recht habe, durch Abwägung des subjektiven Abwehrrechts aus Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG gegenüber der objektiven Wertentscheidung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG Regelungen zu erlassen, denen ansonsten das besondere Diskriminierungsverbot entgegenstünde.845 Nach überwiegender Auffassung rechtfertigt dagegen die Staatszielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG nicht die Verletzung des aus dem besonderen Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 GG) resultierenden subjektiven Rechts.846 Enthalten sei nur der Auftrag zur rechtlichen Gleichstellung, nicht jedoch zur faktischen Angleichung; dies könne nur allmähliche tatsächliche Folge sein.847 Damit ist etwa beim Zugang zu öffentlichen Ämtern auch eine „weiche“ Quotenregelung als verfassungswidrig anzusehen, da das Geschlecht kein im Rahmen von Art. 33 Abs. 2 GG erlaubtes Differenzierungskriterium bildet und dem dargestellten besonderen Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 GG widerspricht. Auch eine Interpretation von Art. 3 Abs. 2 S. 1 als Gruppengrundrecht848 wird von der herrschenden Meinung abgelehnt, mithin eine generelle Bevorzugung von Frauen wegen früherer Benachteiligung der Frauen als Gruppe treffend darauf hinweisen, dass auch von den Befürwortern hiermit regelmäßig keine gänzliche Egalisierung bestehender Unterschiede gemeint ist, sondern es vielmehr um eine Angleichung der faktischen Verhältnisse geht. 843 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, 5.11. 1993, S. 50. 844 Vgl. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, 5.11.1993, S. 49 ff. 845 Vgl. Rüfner, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK, Art. 3 Abs. 2 und 3, Rn. 711 ff. m. w. N. 846 Siehe etwa Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 287 f. m. w. N.: „Im übrigen sind Staatsziele unter Beachtung der subjektiven Individualrechte zu verwirklichen.“ 847 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 284. 848 Slupik, Die Entscheidung des Grundgesetzes für Parität im Geschlechterverhältnis, S. 77 ff.
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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im Hinblick auf den individualrechtlichen Charakter des Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG für verfassungswidrig erachtet.849 Hinzuweisen ist schließlich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der 1995850 zu dem Ergebnis kam, dass eine nationale Regelung, die den Frauen bei Ernennungen oder Beförderungen absolut und unbedingt den Vorrang einräume, über die Förderung der Chancengleichheit hinausgehe und daher nicht im Einklang stehe mit Art. 2 Abs. 1, Abs. 4 der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207 EWG. Dagegen wurden 1997 Quotenregelungen mit Öffnungsklauseln zugunsten männlicher Mitbewerber für vereinbar mit Art. 2 Abs. 1, Abs. 4 der Gleichbehandlungsrichtlinie erklärt.851 Einzelheiten dieser gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsjudikatur werden im weiteren Verlauf der Arbeit bei der Untersuchung des grundrechtlichen Gleichheitsschutzes auf europäischer Ebene näher zu beleuchten sein. An dieser Stelle gilt es zunächst festzuhalten, dass sich das Bundesverfassungsgericht zur Problematik der Quotenregelungen bislang nicht geäußert hat; entsprechende Richtervorlagen, die insoweit zu einer Klärung hätten führen können, sind zurückgezogen worden. 2. Affirmative Action Unter dem Begriff der Affirmative Action (wörtlich: „bejahende“ oder „unterstützende“ Handlung) werden im amerikanischen Verfassungsrecht Fördermaßnahmen zugunsten bestimmter Minderheiten oder zugunsten von Frauen bezeichnet, die darauf abzielen, historisch bedingte Diskriminierungen auszugleichen.852 Hierzu gehört eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsweisen853, deren Beurteilung durch den U.S. Supreme Court nicht nur vor dem Hintergrund der equal protection-Klausel erfolgt, sondern unter anderem auch anhand des Civil Rights Act von 1964. Dieser verbietet Diskriminierungen in Programmen oder Einrichtungen, die Bundesmittel erhalten (Titel VI) sowie Diskriminierungen im Arbeitsleben (Titel VII). 1972 wurde 849
Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 2, Rn. 68. EuGH, Rs. C-450/93, Eckhard Kalanke/Freie Hansestadt Bremen, 17.10. 1995, Slg. 1995, 3069. 851 EuGH, Rs. C-409/95, Hellmut Marschall/Land Nordrhein-Westfalen, 11.11. 1997, JZ 1998, 139 mit Anm. von Starck. 852 Lieberman, The Evolving Constitution, S. 42 f.; vgl. Steding, Chancengleichheit und Quoten, S. 6 f. m. w. N. zu unterschiedlichen Definitionen des Begriffes. Einen Überblick über die politische Diskussion zu Maßnahmen der Affirmative Action geben Beckwith/Jones (Hrsg.), Affirmative Action: Social Justice or Reverse Discrimination?, S. 9 ff. Zu geschichtlichen Grundlagen von Affirmative Action vgl. Howard, Affirmative Action in Historical Perspective, S. 19 ff. 853 Vgl. Steding, Chancengleichheit und Quoten, S. 11 ff. 850
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
der Anwendungsbereich des Titel VII durch den Equal Employment Opportunity Act beträchtlich erweitert und auch auf Geschlechterdiskriminierungen ausgedehnt. Für die im Folgenden zu untersuchende Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zu den besonderen Diskriminierungsverboten sind insbesondere die Fälle der so genannten „Reverse Discrimination“ (auch als „Benign Discrimination“ bezeichnet) umstritten.854 Dabei handelt es sich um Regelungen, durch die bestimmte Personen aus wohlmeinender („benign“) Motivation heraus eine Begünstigung erfahren, während sich dieser Umstand für Mitbewerber und Konkurrenten unmittelbar negativ auswirkt und insofern die Gefahr umgekehrter Diskriminierung begründet. a) Regents of the University of California v. Bakke (1978) Ausgangspunkt der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zur Problematik der Affirmative Action ist die Entscheidung Regents of the University of California v. Bakke855, in der es um die Zulässigkeit einer leistungsunabhängigen Quotenregelung ging. Bakke, ein junger Weißer, klagte gegen seine Nichtzulassung zum Medizinstudium an der staatlichen Medical School der University of California. Das Auswahlverfahren der Universität sah vor, dass 84 der Studienplätze im regulären Auswahlverfahren vergeben wurden, während 16 weitere Studienplätze bevorzugt für bestimmte Minderheiten (Schwarze, Mexikaner, Asiaten und Indianer) und „economically and/or educationally disadvantaged applicants“ vorgesehen waren. Bakke begründete seine Klage damit, dass er in zwei aufeinander folgenden Jahren nicht zum Studium zugelassen worden sei, obwohl er im Vergleich zu vielen der bevorzugt zugelassenen Studenten bessere Prüfungsleistungen erbracht habe. In seiner Entscheidung sprach der U.S. Supreme Court Bakke zwar mit 5 zu 4 Stimmen ein Recht auf Zulassung zum Studium zu, innerhalb des Gerichts wurden dabei jedoch gravierende Differenzen zwischen den einzelnen Richtern erkennbar. Vier Richter (Stevens, Burger, Stewart und Rehnquist) sahen in der Zulassungsordnung einen Verstoß gegen eine einfachgesetzliche Vorschrift des Civil Rights Act856, ohne sich zu den verfassungsrechtlichen Aspekten des Falles zu äußern.857 Dagegen betonten vier weitere 854
Vgl. ausführlich Döring, Frauenquoten und Verfassungsrecht, S. 29 ff. Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265 (1978). 856 Title VI, Sec. 601 des Civil Rights Act von 1964. 857 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 411 f. (1978) (Stevens, Burger, Stewart, Rehnquist, concurring in the judgement in part and dissenting in part): „Our settled practice, however, is to avoid the decision of a constitutional issue if a case can be fairly decided on a statutory ground.“ 855
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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Richter (Brennan, White, Marshall und Blackmun), dass die equal protection-Klausel Differenzierungen nach der Rassenzugehörigkeit erlaube, sofern der Staat damit nicht eine rassische Gruppe herabsetzen, sondern Nachteile aufgrund früherer vorurteilsbeladener Diskriminierung ausgleichen wolle.858 Justice Powell wiederum hielt das konkret in Frage stehende Zulassungsverfahren und die darin zum Ausdruck kommende strikte Quotierung für einen Verstoß gegen die equal protection-Klausel. Zugleich verwies er auf die nach seiner Auffassung grundsätzlich bestehende Möglichkeit der Verfassungsmäßigkeit von Maßnahmen der Affirmative Action, mit denen die Rassenzugehörigkeit als einer unter mehreren Faktoren Berücksichtigung finde, um das zwingende öffentliche „interest of diversity“ in der Zusammensetzung der Studentenschaft zu fördern.859 Da Ungleichbehandlungen aufgrund der Rasse stets verdächtig seien, müsse jedoch eine Überprüfung am strengen Maßstab des Strict Scrutiny Test erfolgen.860 Dies wurde von den Richtern Brennan, White, Marshall und Blackmun abgelehnt, da trotz des Differenzierungskriteriums der Rasse keine verdächtige Klassifizierung vorliege, die den striktesten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab auszulösen vermöge. So seien Weiße in den Vereinigten Staaten insbesondere nicht historisch benachteiligt und wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert worden.861 Auch von einer Stigmatisierung könne nicht ausgegangen werden, da die Benachteiligung Bakkes im Rahmen des Auswahlverfahrens nicht auf der Annahme der Unterlegenheit der weißen Rasse beruhe.862 Aus diesem Grund sei bei solchen Maßnahmen der Affirmative Action der mittlere gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab des Intermediate Scrutiny Test anzuwenden.863
858 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 325 (1978) (Brennan, White, Marshall, Blackmun, concurring in the judgment in part and dissenting in part). 859 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 314 ff. (1978). 860 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 291 (1978): „Racial and ethnic distinctions of any sort are inherently suspect and thus call for the most exacting judicial examination.“ 861 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 357 (1978) (Brennan, White, Marshall, Blackmun, concurring in the judgment in part and dissenting in part). 862 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 357 f. (1978) (Brennan, White, Marshall, Blackmun, concurring in the judgment in part and dissenting in part). 863 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 359 (1978) (Brennan, White, Marshall, Blackmun, concurring in the judgment in part and dissenting in part).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
b) Fullilove v. Klutznick (1980) Im Gegensatz zur Entscheidung Regents of the University of California v. Bakke bestätigte der U.S. Supreme Court zwei Jahre später in Fullilove v. Klutznick864 die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme der Affirmative Action mit 6 zu 3 Richterstimmen. Dabei ging es um ein Bundesgesetz, das für die Vergabe öffentlicher Bauaufträge eine Berücksichtigung von Minderheitengruppen („Negroes, Spanish-speaking, Orientals, Indians, Eskimos, and Aleuts“) vorsah, an die mindestens 10% des Auftragsvolumens zu vergeben sein sollte, auch wenn Konkurrenten günstigere Angebote unterbreiteten. Die Mehrheitsmeinung stützte ihr Urteil unter anderem auf Abschnitt 5 des 14. Amendment, wonach der Kongress auch befugt sei, gegen Einzelstaaten vorzugehen, wenn diese der grundrechtlichen Gleichheitsgarantie des 14. Amendment nicht in ausreichender Weise nachkommen. Hierbei müsse dem Gesetzgeber ein weiter Ermessensspielraum zugestanden werden.865 Eine Einigung auf den anzuwendenden gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab konnte jedoch auch hier nicht erzielt werden. Drei Richter des U.S. Supreme Court (Marshall, Brennan, Blackmun) hielten ebenso wie in der Entscheidung von 1978 die Anwendung des Intermediate Scrutiny Test bei Maßnahmen der Affirmative Action für geboten und bekräftigen die dort vertretene Auffassung „that such programs should not be subjected to conventional ‚strict scrutiny‘ – scrutiny that is strict in theory, but fatal in fact“866. Justice Powell sprach sich demgegenüber erneut für den Prüfungsstandard des Strict Scrutiny Test aus, dessen strenge Voraussetzungen er jedoch im vorliegenden Fall als erfüllt ansah, da die gesetzliche Regelung dem von ihm als zwingend erachteten öffentlichen Ziel der Beseitigung fortwährender Auswirkungen früherer Diskriminierungen diene.867 Hingegen betonte Richter Stewart als einer der drei dissentierenden Richter (Stewart, Stevens, Rehnquist), dass die Verfassung „color-blind“ sei.868 Rassische Diskriminierungen, auch jene in guter Absicht und als Reaktion auf früheres Unrecht vorgenommenen, würden von der equal protection-Klausel gleichermaßen missbilligt, weshalb die überprüfte Regelung einen Verstoß gegen die grundrechtliche Gleichheitsgarantie darstelle.869 864
Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448 (1980). Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448, 476 ff. (1980). 866 Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448, 519 (1980) (Marshall, Brennan, Blackmun, concurring in the judgment). 867 Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448, 496 (1980) (Powell, concurring). 868 Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448, 522 f. (1980) (Stewart, Rehnquist, dissenting). 869 Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448, 531 f. (1980) (Stewart, Rehnquist, dissenting). 865
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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c) Wygant v. Jackson Board of Education (1986) 1986 hatte sich der U.S. Supreme Court erneut mit verfassungsrechtlichen Fragen der Affirmative Action zu befassen. Die Schulbehörde des Ortes Jackson (Jackson Board of Education) hatte im Tarifvertrag mit einer Gewerkschaft festgelegt, dass zukünftig Lehrer, die Minderheitengruppen angehörten, besonderen Schutz vor möglicherweise notwendig werdenden Entlassungen genießen sollten. Zwar seien Lehrer mit höherem Dienstalter von Entlassungen grundsätzlich auszunehmen. Von diesem Senioritätsgrundsatz müsse jedoch abgewichen werden, wenn der Prozentsatz der zu entlassenden Lehrer aus Minderheitengruppen höher auszufallen drohe als ihr Anteil am gesamten Lehrkörper. In der Folgezeit kam es tatsächlich zu Entlassungen, bei denen Lehrer, die keiner Minderheit angehörten, entlassen wurden, während Lehrer aus Minderheiten mit geringerem Dienstalter ihre Stelle behielten. Die Entscheidung Wygant v. Jackson Board of Education870 erging mit 5 zu 4 Stimmen und erklärte die angegriffene Regelung für verfassungswidrig wegen Verstoßes gegen die equal protection-Klausel des 14. Amendment. Über den anzuwendenden gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab konnte erneut keine Einigung erzielt werden. Fünf Richter (Powell, Burger, Rehnquist, mit Abstrichen auch O’Connor und White) hielten den Strict Scrutiny Test für einschlägig, während die Richter Marshall, Brennan und Blackmun auf die geringeren Anforderungen des Intermediate Scrutiny Test abstellten.871 Von den Befürwortern des strikten Tests wurde dabei insbesondere betont, dass ein zwingendes öffentliches Interesse nur angenommen werden könne, wenn eine konkrete vorherige Diskriminierungspraxis der Schulbehörde nachzuweisen sei, woran es vorliegend fehle.872 Darüber hinaus stehe die Affirmative Action-Maßnahme der Schulbehörde in keinem notwendigen Verhältnis zu dem damit angestrebten Ziel, da Entlassungen gravierende Maßnahmen seien und mit ihnen die gesamte Last der angestrebten rassischen Gleichstellung einzelnen Weißen in gleichheitswidriger Weise aufgebürdet werde.873 Demgegenüber stellten die Befürworter 870
Wygant v. Jackson Board of Education, 476 U.S. 267 (1986). Wygant v. Jackson Board of Education, 476 U.S. 267, 301 (1986) (Marshall, Brennan, Blackmun, dissenting) unter Hinweis auf die Entscheidung in der Rechtssache Bakke und die dort von vier Richtern vertretene Auffassung, dass „while racial distinctions are irrelevant to nearly all legitimate state objectives and are properly subjected to the most rigorous judicial scrutiny in most instances, they are highly relevant to the one legitimate state objective of eliminating the pernicious vestiges of past discrimination; when that is the goal, a less exacting standard of review is appropriate“. 872 Wygant v. Jackson Board of Education, 476 U.S. 267, 277 f. (1986). 873 Wygant v. Jackson Board of Education, 476 U.S. 267, 283 (1986). 871
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des milderen Prüfungsniveaus die wohlmeinende Absicht der in Rede stehenden Ungleichbehandlung in den Vordergrund, eine gemischte Lehrerschaft auch im Falle von Entlassungen zu bewahren und die eingeleitete rassische Integration im Bereich des Schulwesens auf diese Weise längerfristig abzustützen.874 d) United States v. Paradise (1987) In United States v. Paradise875 war über die Verfassungsmäßigkeit einer Beförderungsregelung zu entscheiden, durch die der Anteil der Schwarzen in den einzelnen Dienstgraden des Polizeidienstes von Alabama erhöht werden sollte. Vorgesehen war, für einen bestimmten Zeitraum Schwarze und Weiße in zahlenmäßig gleichem Maße zu befördern, sofern der Anteil der Schwarzen im jeweiligen Dienstgrad unter 25% lag und ausreichend qualifizierte Bewerber zur Verfügung standen. Der U.S. Supreme Court entschied, dass diese Regelung mit ihrem „one-black-for-one-white promotion requirement“876 im Hinblick auf die equal protection-Klausel des 14. Amendment verfassungsgemäß sei. Erneut wurde die Entscheidung lediglich von einer knappen Mehrheit von 5 zu 4 Richterstimmen getragen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass jedenfalls die grundsätzliche Möglichkeit bewusster rassischer Bevorzugung zum Ausgleich für vorangegangene Diskriminierungen von keinem der Richter prinzipiell ausgeschlossen wird. Richter Brennan, der das Mehrheitsvotum verfasste, weist zunächst auf die unterschiedlichen richterlichen Auffassungen über den anzuwendenden Prüfungsmaßstab im Rahmen der zuvor dargestellten Urteile hin und betont dann, dass es insoweit im vorliegenden Falle keiner Entscheidung bedürfe, da die fragliche Ungleichbehandlung selbst den Anforderungen des Strict Scrutiny Test standhalte.877 So diene die vom District Court verfügte Regelung des Beförderungsverfahrens insbesondere einem zwingenden öffentlichen Interesse, da sie die systematische Diskriminierungspraxis des Ministeriums für öffentliche Sicherheit in der Vergangenheit ausgleichen wolle: „The Government unquestionably has a compelling interest in remedying past and present discrimination by a state actor.“878 Die Maßnahme sei zudem „narrowly tailored“, stelle mithin ein notwendiges Mittel zur Er874
Wygant v. Jackson Board of Education, 476 U.S. 267, 303 (1986) (Marshall, Brennan, Blackmun, dissenting). 875 United States v. Paradise, 480 U.S. 149 (1987). 876 United States v. Paradise, 480 U.S. 149, 150 (1987). 877 United States v. Paradise, 480 U.S. 149, 167 (1987). 878 United States v. Paradise, 480 U.S. 149, 167 (1987).
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reichung der mit ihr verfolgten Ziele dar.879 Auch die Gegenauffassung der Richter O’Connor, Rehnquist, Scalia und White erkennt das Vorliegen eines zwingenden öffentlichen Interesses an, das in dem Bestreben liege, die von Alabamas Ministerium für öffentliche Sicherheit in der Vergangenheit praktizierte Diskriminierung der Schwarzen zu heilen. Verneint wird jedoch die Notwendigkeit der Maßnahme, da eine starre Quotenregelung, die 50% der Beförderungen für Schwarze festschreibe, um deren Anteil in den höheren Dienstgraden anzuheben, nicht alternativlos dastehe. Vielmehr kämen weitere, weniger einschneidende Maßnahmen in Betracht, die jedoch von den handelnden Stellen nicht in Erwägung gezogen worden seien. Angesichts der unterbliebenen Auseinandersetzung mit möglichen Alternativen könne die Beförderungsregelung nicht als notwendig gelten und vor dem Strict Scrutiny Test Bestand haben, denn „the least that strict scrutiny requires is that the District Court expressly evaluate the available alternative remedies“880. e) Johnson v. Transportation Agency (1987) Um Maßnahmen der Affirmative Action zugunsten von Frauen ging es erstmals in der Entscheidung Johnson v. Transportation Agency881. Die Verkehrsbehörde in Santa Clara County, Kalifornien, hatte einen freiwilligen Affirmative Action-Plan beschlossen, in dem das Geschlecht als einer von mehreren Faktoren bei der Beförderung qualifizierter Bewerber berücksichtigt werden sollte, sofern Frauen in dem jeweiligen Bereich deutlich unterrepräsentiert waren. Hingegen wurde bewusst keine Quote festgesetzt, sondern auf eine längerfristige Angleichung der Geschlechterrepräsentation abgezielt. Bei der Entscheidung über eine Beförderung war der männliche Arbeitnehmer Johnson seiner Mitbewerberin Joyce unterlegen, die in einem Testergebnis geringfügig schlechter abgeschnitten hatte als er selbst und zu deren Gunsten unter anderem die Vorgaben des Affirmative Action-Plans und damit der Plusfaktor Geschlecht berücksichtigt wurde. Daraufhin klagte Johnson wegen Verletzung des einfachgesetzlichen Diskriminierungsverbotes aus dem oben erwähnten Titel VII des Civil Rights Act von 1964. 879 Der U.S. Supreme Court führt insoweit eine umfassende Prüfung der ZweckMittel-Relation durch und verweist dazu auf unterschiedliche Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt. Hierzu zählen vor allem die Notwendigkeit der Maßnahme, die Effizienz möglicher Alternativen sowie Flexibilität und Dauer des eingesetzten Mittels, vgl. United States v. Paradise, 480 U.S. 149, 171 (1987). 880 United States v. Paradise, 480 U.S. 149, 201 (1987) (O’Connor, Rehnquist, Scalia, dissenting). 881 Johnson v. Transportation Agency, 480 U.S. 616 (1987).
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Der U.S. Supreme Court erklärte die getroffene Affirmative Action-Regelung für rechtmäßig. Richter Brennan, der die Mehrheitsentscheidung begründete, orientierte sich dabei an der Entscheidung United Steelworkers of America v. Weber882 aus dem Jahre 1979, in der eine private Affirmative Action-Maßnahme als verfassungsrechtlich zulässig erachtet wurde. Darin waren zwei Voraussetzungen aufgestellt worden, die Brennan nunmehr auch im Fall Johnson zu Grunde legte. Zum einen wird eine offenkundige Unterrepräsentation von Frauen in Berufen verlangt, die traditionell segregierte Strukturen aufweisen; die überprüfte Maßnahme muss insoweit darauf gerichtet sein „to ‚eliminate a manifest racial imbalance‘“883. Zudem hat die fördernde Maßnahme eine inhaltliche Ausgestaltung zu erfahren, die gewährleistet, dass männliche Beschäftigte nicht unnötigerweise in ihren Rechten behindert oder unüberwindbare Hürden für ihr Fortkommen errichtet werden.884 Nach der Mehrheitsauffassung der Richter Brennan, Marshall, Blackmun, Powell, Stevens und O’Connor war im vorliegenden Fall durch die lediglich zusätzliche Heranziehung des Geschlechts als Plusfaktor für eine Beförderung den männlichen Konkurrenten nicht von vornherein die Möglichkeit für ihr berufliches Weiterkommen genommen worden. Die überprüfte Maßnahme erinnere daher an jene von Richter Powell in der Bakke-Entscheidung als positive Beispiele herangezogenen Zulassungsprogramme, in denen „race or ethnic background may be deemed a ‚plus‘ in a particular applicant’s file, yet it does not insulate the individual from comparison with all other candidates for the available seats“885. Nach der Gegenauffassung von Scalia, der sich Rehnquist und teilweise auch White anschlossen, stellt sich im einfachgesetzlichen Bereich des Civil Rights Act ein Problem, das ebenso bei der verfassungsrechtlichen equal protection-Klausel zu beachten ist. Die neutral gehaltene Fassung von Titel VII, wonach Differenzierungen aufgrund der Unterscheidungskriterien Rasse oder Geschlecht unzulässig sind, müsse ausnahmslos angewandt werden, wenn man sich dem Ziel einer diskriminierungsfreien Gesellschaft nähern wolle. Sie dürfe daher nicht zu Bestrebungen führen, eine rassisch und geschlechtlich proportional zusammengesetzte Belegschaft am Arbeitsplatz zu erzwingen.886
882 Steelworkers v. Weber, 443 U.S. 193 (1979); vgl. Horne, Reversing Discrimination, S. 34 f.; Belz, Equality Transformed, S. 157 ff. 883 Johnson v. Transportation Agency, 480 U.S. 616, 630 (1987). 884 Johnson v. Transportation Agency, 480 U.S. 616, 637 f. (1987). 885 Johnson v. Transportation Agency, 480 U.S. 616, 638 (1987). 886 Johnson v. Transportation Agency, 480 U.S. 616, 658 ff. (1987) (Scalia, Rehnquist, dissenting).
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f) City of Richmond v. J.A. Croson Co. (1989) Die 1989 ergangene Entscheidung City of Richmond v. J.A. Croson Co.887 ist insofern von besonderer Bedeutung, als sich eine Mehrheit der Richter des U.S. Supreme Court in der noch immer ungeklärten Frage nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen der equal protection-Klausel an Maßnahmen der Affirmative Action erstmals auf einen gemeinsamen Prüfungsstandard einigen konnte. Ein Plan der Stadt Richmond hatte vorgesehen, dass Unternehmen, die öffentliche Bauaufträge erhielten, mindestens 30% des Auftragsvolumens an solche Subunternehmen vergeben mussten, die Angehörigen bestimmter Minderheiten gehörten. In der Mehrheitsentscheidung von 6 zu 3 Stimmen führte Richterin O’Connor aus, dass der Prüfungsmaßstab der equal protection-Klausel einheitlich sei, das heißt unabhängig davon, welche Rasse im konkreten Fall durch eine Maßnahme begünstigt oder benachteiligt werde.888 Unter Hinweis auf eine von Richter Powell vertretene Ansicht wird bekräftigt, dass der grundrechtliche Gleichheitssatz „cannot mean one thing when applied to one individual and something else when applied to a person of another color“889. Für die Anwendung des Strict Scrutiny Test spreche auch, dass es praktisch nur unter Schwierigkeiten möglich sei, zwischen „wohlmeinenden“ rassischen Klassifizierungen auf der einen und solchen rassischen Klassifizierungen auf der anderen Seite zu unterscheiden, denen unzulässige Vorstellungen rassenbezogener Unterschiede zu Grund liegen. Insofern bedürfe es äußerst intensiver gerichtlicher Nachprüfung, um unzulässige Diskriminierungen durch Ungleichbehandlungen aufgrund der Rasse auszufiltern. Gerade hierin indes liegt nach Auffassung der Richter O’Connor, Rehnquist, White, Kennedy und Scalia der Sinn einer nach dem striktesten Prüfungsstandard vorgehenden Gleichheitskontrolle: „Indeed, the purpose of strict scrutiny is to ‚smoke out‘ illegitimate uses of race by assuring that the legislative body is pursuing a goal important enough to warrant use of a highly suspect tool.“890 Angesichts erheblicher Stigmatisierungsgefahren müsse daher die Verwendung rassischer Klassifizierungen mit größter Strenge überprüft werden.891 Den gleichheitsrechtlichen Anforderungen des strengsten Tests halte der Plan jedoch nicht stand, da mangels konkret nachgewiesener Diskriminierungspraktiken der Baubranche in Richmond kein zwingendes öffentliches Interesse angenommen werden könne. Dagegen bekräftigten die Richter Marshall, Brennan und Blackmun ihre bereits in vorherigen Ent887 888 889 890 891
City City City City City
of of of of of
Richmond Richmond Richmond Richmond Richmond
v. v. v. v. v.
J.A. J.A. J.A. J.A. J.A.
Croson Croson Croson Croson Croson
Co., Co., Co., Co., Co.,
488 488 488 488 488
U.S. U.S. U.S. U.S. U.S.
469 (1989). 469, 493 (1989). 469, 494 (1989). 469, 493 (1989). 469, 493 (1989).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
scheidungen zum Ausdruck gebrachte Interpretation des Gleichheitsgrundrechts, wonach bei wiedergutmachenden Differenzierungen die Heranziehung des Intermediate Scrutiny Test ausreichend sei.892 Die fragliche Regelung der Affirmative Action stelle aus diesem Grunde keinen Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz dar. g) Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission (1990) Eine überraschende Rechtsprechungsänderung des U.S. Supreme Court im Bereich der Affirmative Action erfolgte 1990 in der Entscheidung Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission893. Der Federal Communications Commission war 1934 vom Kongress die exklusive Befugnis übertragen worden, Lizenzen für die Errichtung und den Betrieb von Radio- und Fernsehstationen zu vergeben. Zu ihren Aufgaben gehörte dabei insbesondere, auf programmatische Vielfalt und Ausgewogenheit hinzuwirken. Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Kontroverse standen nunmehr einzelne Maßnahmen zugunsten von Minderheiten, die dieser Aufgabe dienen sollten, so etwa die Berücksichtigung des Minderheitenstatus als einem positiven Faktor bei der Lizenzvergabe. Die Entscheidung erfolgte mit 5 zu 4 Stimmen und wertete die Maßnahmen im Ergebnis als verfassungsgemäß, wobei sich eine unerwartete Mehrheit, nämlich 5 der 9 Richter, für die Anwendung des Intermediate Scrutiny Test aussprach.894 Maßnahmen der Affirmative Action, die – wie hier – auf das Betreiben des Kongresses zurückgingen, seien gleichheitsrechtlich zulässig, sofern sie wichtigen öffentlichen Zielen dienten und hierzu in einem substantiellen Verhältnis stünden.895 Angesichts dieser gegenüber dem Strict Scrutiny Standard deutlich herabgesetzten Anforderungen konnten die Richter Brennan, White, Marshall, Blackmun und Stevens in den überprüften Maßnahmen keinen Verstoß gegen den gleichheitsrechtlichen Gehalt der in das 5. Amendment inkorporierten equal protection-Klausel erkennen. Dem widersprachen die Richter O’Connor, Rehnquist, Scalia und Kennedy in einem von Justice O’Connor verfassten Sondervotum mit dem Argument, dass der grundrechtliche Gleichheitssatz zum Inhalt habe, die Bürger als Individuen 892 Vgl. City of Richmond v. J.A. Croson Co., 488 U.S. 469, 551 ff. (1989) (Marshall, Brennan, Blackmun, dissenting). 893 Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission, 497 U.S. 547 (1990). 894 Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission, 497 U.S. 547, 563 ff. (1990). 895 Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission, 497 U.S. 547, 565 (1990).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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zu behandeln und nicht als Angehörige von rassischen, religiösen oder geschlechtlichen Gruppen.896 Jeder einzelnen Person werde damit das verfassungskräftig verbürgte Recht auf Gleichbehandlung gewährt und dieser Grundsatz werde vorliegend verletzt, da sich eine als „wohlmeinend“ (benign) bezeichnete Klassifizierung zugleich nachteilig auf andere Personen auswirke. Deshalb sei die Bezeichnung als „wohlmeinende rassische Klassifizierung“ ein Widerspruch an sich – „To the person denied an opportunity or right based on race, the classification is hardly benign.“897 Rassisch motivierte Ungleichbehandlungen müssten somit durchgehend nach dem gleichheitsrechtlichen Strict Scrutiny Test beurteilt werden. Das gelte sowohl für fördernde Maßnahmen des Bundes als auch der Einzelstaaten, da die Verfassung insoweit keine unterschiedliche Intensität der Bindung an die Gleichheitsgarantie vorsehe. Aus diesem Grunde habe die überprüfte Differenzierung einem zwingenden öffentlichen Interesse zu dienen. Als solches komme indes allein das Bestreben nach einem Ausgleich konkreter, im Einzelfall nachgewiesener Diskriminierungspraxis der handelnden Stelle in der Vergangenheit in Betracht, was vorliegend nicht geltend gemacht werde. Der vom Kongress und der Federal Communications Commission vorgetragene Grund einer auch ethnisch ausgewogenen „programming diversity“ reiche hierfür hingegen nicht aus. h) Adarand Constructors, Inc. v. Pena (1995) Eine weitere Entscheidung des U.S. Supreme Court zur Affirmative Action erging im Jahr 1995 und bezieht sich auf fördernde Maßnahmen des Bundes, so dass auch hier das mit dem 14. Amendment übereinstimmende Gleichheitselement der due process-Klausel des 5. Amendment heranzuziehen war. Wie schon in Fullilove v. Klutznick ist Ausgangspunkt des Urteils in Adarand Constructors, Inc. v. Pena898 die staatliche Vergabe von Bauaufträgen an Bauunternehmer. Regelmäßig enthalten solche Aufträge aufgrund zwingender gesetzlicher Vorgaben Klauseln, die dem privaten Auftragnehmer finanzielle Vorteile gewähren, sofern dieser bei Subverträgen Unternehmen wählt, die als förderungswürdige „Minderheitenunternehmen“ anerkannt sind. Auf der Grundlage einer solchen Vertragsgestaltung war in 896 Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission, 497 U.S. 547, 602 (1990) (O’Connor, Rehnquist, Scalia, Kennedy, dissenting). 897 Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission, 497 U.S. 547, 609 (1990) (O’Connor, Rehnquist, Scalia, Kennedy, dissenting). 898 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097 (1995). Vgl. die ausführliche Stellungnahme Präsident Clintons zu dieser Entscheidung in seinem Beitrag „Mend It, Don’t End It“, in: Curry (Hrsg.), The Affirmative Action Debate, S. 258 ff.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Adarand Constructors, Inc. v. Pena der Sachverhalt zu beurteilen, dass ein Straßenbauunternehmen einen Subauftrag an eine als förderungswürdig anerkannte hispano-amerikanische Firma vergeben und gleichzeitig das günstigere Angebot der Firma Adarand Constructors, Inc. abgelehnt hatte. Nachdem die Vorinstanzen den großzügigeren Intermediate Scrutiny Test angewandt und das Förderprogramm zugunsten von Minderheiten unter Berufung auf Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission als verfassungsmäßig anerkannt hatten, verwarf die Mehrheitsentscheidung des U.S. Supreme Court diesen Ansatz. Das Gericht hob mit 5 zu 4 Stimmen die Urteile der Vorinstanzen auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück. Die Richter O’Connor, Rehnquist, Kennedy, Thomas und Scalia betonten, dass bei jeglichen rassischen Klassifizierungen der Strict Scrutiny Test Anwendung finden müsse. Soweit die Metro Broadcasting-Entscheidung von 1990 davon abweichende Aussagen getroffen habe, sei sie unter Ausnahme vom Grundsatz der bindenden Kraft vorangegangener Urteile („stare decisis“) aufzuheben: „Accordingly, we hold today that all racial classifications, imposed by whatever federal, state, or local governmental actor, must be analyzed by a reviewing court under strict scrutiny. . . . To the extent that Metro Broadcasting is inconsistent with that holding, it is overruled.“899 Die Richter Scalia und Thomas gehen in ihren zustimmenden Sondervoten sogar noch einen Schritt weiter in Richtung völliger „Colorblindness“900 der Verfassung, wonach ein zwingendes öffentliches Interesse überhaupt nicht vorstellbar sei, das die Verwendung des Rassenbegriffes als Unterscheidungskriterium rechtfertigen könne. So weist Scalia darauf hin, dass staatliche Hilfe durch Bevorzugung einer Rasse selbst dann verfassungswidrig sei, wenn sie zur Erreichung höchst anerkennenswerter Ziele erfolge. Maßnahmen der Affirmative Action mit ihrer gleichheitsrechtlichen Akzentuierung des Rassenbegriffs dienten vielmehr der Stärkung und Aufrechterhaltung gerade jener Anschauungen, die zur Entstehung von Sklaverei, von Rassenprivilegien und Rassenhass geführt hätten.901 Hingegen wird von vier Richtern (Stevens, Ginsburg, Souter und Breyer) weiterhin für eine weniger intensive Gleichheitsprüfung eingetreten. Insbesondere müsse dem Gesetzgeber angesichts der langen Geschichte von 899 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2113 (1995). Zustimmend Welch, The Supreme Court Ruled Correctly in Adarand, S. 157 ff. 900 Zu den verfassungsrechtlichen Ursprüngen dieses Begriffes vgl. Lively, Foreshadows of the Law: Supreme Court Dissents and Constitutional Development, S. 98 ff., 110 f.; Siegel, The Racial Rhetorics of Colorblind Constitutionalism, S. 48 ff.; Skrentny, The Ironies of Affirmative Action, S. 19 ff.; Kull, The ColorBlind Constitution, S. 7 ff. 901 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2118 f. (1995) (Scalia, concurring in part and concurring in the judgment).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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Rassendiskriminierung in den Vereinigten Staaten und deren bis heute andauernden Folgen die Möglichkeit zugestanden werden, vorsichtig konzipierte Affirmative Action-Programme zugunsten von Minderheiten zu verwirklichen. Hierfür indes sei der strikteste gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab mit seinem regelmäßigen Ergebnis der Verfassungswidrigkeit nicht geeignet.902 Trotz der damit beschriebenen fortbestehenden Differenzen zwischen den Richtern des U.S. Supreme Court zeigt die Adarand-Entscheidung deutlich das Bestreben des Gerichts, Klarheit in die zum Teil unübersichtliche verfassungsrechtliche Diskussion über die Zulässigkeit entsprechender Maßnahmen der Affirmative Action zu bringen. Ausdruck dieser Bemühungen sind insbesondere drei gleichheitsrechtlich bedeutsame Prinzipien, denen die urteilsverfassende Richterin O’Connor in ihrem Mehrheitsvotum Nachdruck verleiht. Danach sind staatliche Klassifikationen aufgrund der Rasse anhand bestimmter Leitlinien zu beurteilen903: Zunächst bedarf jede Bevorzugung aus rassischen Gründen der strengsten gerichtlichen Überprüfung (principle of skepticism). Die Intensität der gleichheitsrechtlichen Kontrolle soll dabei unabhängig von der Rasse der im konkreten Fall bevorzugten oder benachteiligten Personen sein (principle of consistency). Schließlich entspreche die grundrechtliche Gleichheitsprüfung nach dem 5. Amendment derjenigen im Rahmen des 14. Amendment, weshalb an Maßnahmen des Bundes und solche der Einzelstaaten ebenfalls der gleiche Maßstab anzulegen sei (principle of congruence). Hat sich somit die restriktive verfassungsgerichtliche Auffassung gegenüber der Zulässigkeit von Affirmative Action-Maßnahmen in der Entscheidung Adarand mehrheitlich durchgesetzt, so versucht Richterin O’Connor zugleich dem Eindruck entgegen zu treten, dass hiermit ein gleichheitsrechtlicher Automatismus geschaffen würde: Nicht jede am Strict Scrutiny Standard überprüfte Maßnahme der Affirmative Action müsse an dessen Anforderungen scheitern. Ausdrücklich zurückgewiesen wird daher die Einschätzung, der strengste Test sei „strict in theory, but fatal in fact“.904 Das Gericht ist insoweit deutlich darum bemüht, sich jedenfalls einen gewissen Spielraum bei der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung zu bewahren, wenngleich die in Adarand erfolgte generelle Festlegung auf den striktesten Teststandard den Ausgang der Überprüfung – das haben die bisherigen Untersuchungen gezeigt – zumindest regelmäßig evoziert. 902 Vgl. Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2120 ff. (1995) (Stevens, Ginsburg, dissenting). Zur Diskussion über den gleichheitsrechtlich gebotenen Prüfungsmaßstab vgl. auch Slocum, Strict Scrutiny: The Law and its Special Favorites, S. 205 ff. 903 Zu den unterschiedlichen Prinzipien vgl. im Einzelnen Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2111 (1995). 904 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2117 (1995).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
i) Entwicklung seit 1995 Die Entwicklung der Rechtsprechung ist in der Folgezeit nach dem wegweisenden Adarand-Urteil von mehreren certiorari-Verfahren gekennzeichnet, in denen der U.S. Supreme Court Maßnahmen der Affirmative Action betreffende Fälle nicht zur Entscheidung angenommen hat. So überprüfte der Fourth Circuit Court of Appeals in Podberesky v. Kirwan905 ein speziell für afro-amerikanische Studenten reserviertes Stipendienprogramm der University of Maryland. In Übereinstimmung mit den in Adarand entwickelten Leitlinien wird trotz der wohlmeinenden Förderungsabsicht der strikte Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test zur Anwendung gebracht. Angesichts der damit verbundenen hohen Rechtfertigungsanforderungen gelangt das Appellationsgericht zur Verfassungswidrigkeit des Programms, da ein zwingendes öffentliches Interesse (der konkrete Ausgleich von „present effects of past discrimination“) durch die Universität nicht nachgewiesen und die Regelung überdies nicht notwendig sei. Da der U.S. Supreme Court den Fall 1995 nicht zur Entscheidung annahm, hatte das Urteil des Court of Appeals mit dem festgestellten Gleichheitsverstoß der rassenspezifischen Förderungsregelung Bestand. Über eine der oben dargestellten Bakke-Entscheidung vergleichbare Konstellation hatte 1996 der Fifth Circuit Court of Appeals in Hopwood v. Texas906 zu befinden. Dabei ging es um die gleichheitsrechtliche Beurteilung des Zulassungsverfahrens an der University of Texas Law School. Die Law School verfolgte das Ziel, die Anzahl der afro-amerikanischen und mexikanisch-amerikanischen Studierenden zu erhöhen und orientierte sich insoweit an den Absolventenzahlen der Colleges in Texas, von denen die erste Gruppe 5%, die zweite rund 10% ausmachte. Bewerbungen der aufgeführten Minderheitengruppen wurden von den restlichen Bewerbungen getrennt und niedrigeren Anforderungen an die zu erreichende Qualifikationspunktzahl unterworfen. Über Minderheitenbewerber, die in einen anhand der Punktzahl definierten Ermessensbereich fielen, erfolgte zudem eine gesonderte und intensive Beratung innerhalb eines hierfür eingerichteten Gremiums, was für andere Kandidaten nicht galt. Cheryl Hopwood und drei weiteren weißen Studenten, denen trotz höherer Qualifikationspunktzahlen als angenommenen Minderheitenbewerbern keine Zulassung erteilt worden war, klagten daraufhin gegen die Affirmative Action-Praxis der Universität. Der Fifth Circuit Court of Appeals legte seiner Entscheidung den vom U.S. Supreme Court in Adarand befürworteten striktesten Prüfungsmaßstab zu Grunde. Im Gegensatz zum erstinstanzlichen Urteil des District Court ver905 906
Podberesky v. Kirwan, 38 F.3d 147 (4th Cir. 1994). Hopwood v. Texas, 78 F.3d 932 (5th Cir. 1996).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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mochte das Gericht indes bereits kein zwingendes öffentliches Interesse auszumachen, das die Regelung der Law School rechtfertigen könne. Das von Justice Powell in der Bakke-Entscheidung für ausreichend befundene Interesse an „diversity“ – hier das Abzielen der Universität auf eine ethnisch gemischte Zusammensetzung der Studentenschaft – stelle kein verfassungsgerichtlich anerkanntes zwingendes öffentliches Anliegen dar. Als solches komme zwar der Ausgleich gegenwärtiger, fortwirkender Auswirkungen einer konkret festgestellten Diskriminierungspraxis in der Vergangenheit in Betracht. Die im vorliegenden Fall geltend gemachten fortwirkenden Folgen früherer Diskriminierungen deuteten indes nicht hinreichend deutlich auf eine konkrete frühere Benachteiligungspraxis der Law School hin: Diese hatte insbesondere auf ihren verbreiteten Ruf als „weiße“, minderheitenfeindliche Ausbildungsstätte und die Unterrepräsentation von Minderheiten in der Studentenschaft hingewiesen. Der Court of Appeals erkannte hierin in erster Linie die Auswirkungen gegenwärtiger sozialer Diskriminierung, was für die Annahme eines zwingenden öffentlichen Interesses jedoch nicht als ausreichend erachtet wird, denn „to direct a racial preference program at the Law School, it must be because of past wrongs at that school“907. Nachdem das Gericht die überprüfte Affirmative Action-Regelung aufgrund des Fehlens eines zwingenden öffentlichen Interesses für gleichheitswidrig erklärte, änderte die Law School der Universität von Texas in der Folgezeit ihre Zulassungspraxis. Den Antrag auf Annahme des Verfahrens vor dem U.S. Supreme Court lehnte dieser 1996 ab, verwies dabei jedoch zugleich auf die grundsätzliche Bedeutung der behandelten Problematik und die Möglichkeit einer zukünftigen verfassungsgerichtlichen Klärung durch den Obersten Bundesgerichtshof. Die zuvor beispielhaft aufgeführten Urteile der Appellationsgerichte belegen, dass Maßnahmen der Affirmative Action nicht zuletzt seit der Adarand-Entscheidung des U.S. Supreme Court in den neunziger Jahren zunehmend unter Druck geraten. Diese wachsende Kritik kommt auch in der vehement geführten Auseinandersetzung über die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit der Proposition 209 im Bundesstaat Kalifornien zum Ausdruck.908 Dort hatte 1996 eine Mehrheit von 54% der rund 9 Millionen Abstimmenden in einem Volksbegehren die California Civil Rights Initiative befürwortet, deren Proposition 209 eine gegen Affirmative Action gerichtete Ergänzung der Verfassung Kaliforniens vorsah. Dem Staat wurde darin verboten, 907
Hopwood v. Texas, 78 F.3d 932, 952 (5th Cir. 1996). Vgl. Jones, Life after Proposition 209: Affirmative Action may be Dying, but the Dream Lives on, 84 Academe 1998, 22 ff.; Carcieri, A Progressive Reply to the ACLU on Proposition 209, 39 Santa Clara Law Review 1998, 141 ff.; Frankel, Proposition 209: A New Civil Rights Revolution?, 18 Yale Law and Policy Review 2000, 431 ff. 908
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
„[to] discriminate against, or grant preferential treatment to, any individual or group on the basis of race, sex, color, ethnicity, or national origin in the operation of public employment, public education, or public contracting“. Der zuständige District Court erkannte in diesem Verbot von Affirmative Action aufgrund der Rasse oder des Geschlechts einen Verstoß gegen die equal protection-Klausel. Frauen und rassische Minderheiten würden hierdurch Benachteiligungen im politischen Prozess erfahren, indem sie – nicht aber etwa anderen Gruppen wie die der Kriegsveteranen – von Förderungsmaßnahmen generell ausgeschlossen seien. Im Gegensatz zur Auffassung des District Courts konnte der Ninth Circuit Court of Appeals in der fraglichen Bestimmung jedoch keinen Verstoß gegen die grundrechtliche Gleichheitsgarantie der equal protection-Klausel erkennen.909 Im Zentrum der Argumentation steht die Überlegung, dass eine Maßnahme überhaupt nur dann in Widerspruch mit dem Gleichheitssatz des 14. Amendment geraten könne, wenn sie zwischen Individuen klassifiziere. An einer solchen Klassifikation fehle es indes im vorliegenden Fall: Anstatt Individuen nach Rasse oder Geschlecht zu unterscheiden, verbiete Proposition 209 vielmehr gerade entsprechende Klassifikationen von Seiten des Staates. Weder nach der konventionellen Gleichheitsprüfung, noch nach der vom District Court in Anspruch genommenen, maßgeblich auf den politischen Prozess abstellenden Grundrechtskontrolle könne daher ein Gleichheitsverstoß angenommen werden: „A law that prohibits the State from classifying individuals by race oder gender a fortiori does not classify individuals by race or gender.“910 Ein Verstoß könne ferner auch nicht daraus hergeleitet werden, dass bestimmte Maßnahmen der Affirmative Action (nämlich solche, die den Anforderungen des Strict Scrutiny Test genügen) von der equal protection-Klausel gedeckt und daher verfassungsrechtlich zulässig seien, die kalifornische Regelung jedoch sämtliche Affirmative Action-Maßnahmen verbiete. Ein gleichheitsrechtlicher Bestandsschutz für verfassungsrechtlich als zulässig erachtete Fördermaßnahmen wird somit im Ergebnis abgelehnt – ein Ergebnis, das der Court of Appeals auf die ebenso kurze wie prägnante Formel zurückführt, das Gleichheitsgrundrecht könne „nicht erfordern, was es kaum erlaube“911. Der darin enthaltene Verweis auf jene „kaum erlaubten“ Förderregelungen macht erneut die zunehmend verbreitete verfassungsgerichtliche Skepsis gegenüber Programmen der Affirmative Action in der zweiten Hälfte der 90er Jahre deutlich. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass der U.S. Su909
Coalition for Economic Equity v. Wilson, 122 F.3d 692 (9th Cir. 1997). Coalition for Economic Equity v. Wilson, 122 F.3d 692, 702 (9th Cir. 1997). 911 Coalition for Economic Equity v. Wilson, 122 F.3d 692, 709 (9th Cir. 1997): „The Fourteenth Amendment, lest we lose sight of the forest for the trees, does not require what it barely permits.“ 910
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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preme Court den ihm vorgelegten Rechtsstreit über die kalifornische Proposition 209 Ende des Jahres 1997 nicht zur Entscheidung annahm, das Urteil des Appellationsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des Verbots von rassen- und geschlechtsspezifischer Affirmative Action insoweit Bestand hat. j) Grutter v. Bollinger (2003) und Gratz v. Bollinger (2003) Betrachtet man die beschriebene Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, so wird eine zunehmend restriktive Tendenz im Hinblick auf minderheitenfördernde, insbesondere rassenbezogene Maßnahmen sichtbar. Insbesondere mit der Adarand-Entscheidung des U.S. Supreme Court von 1995 und den darin enthaltenen, oben aufgeführten Leitlinien der Gleichheitsprüfung zeichnet sich deutlich ab, dass Maßnahmen der Affirmative Action nur unter ganz erheblich intensivierten gleichheitsrechtlichen Prüfungsanforderungen Bestand haben. Doch gerade die so gekennzeichnete Entwicklung seit 1995 hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass weithin Unsicherheiten über die gleichheitsrechtliche Beurteilung der politisch brisanten Problematik und die Zulässigkeit entsprechender Förderprogramme entstanden sind. Vor diesem Hintergrund wurde seit langem eine klärende, Rechtssicherheit herbeiführende Leitentscheidung des U.S. Supreme Court auf dem unübersichtlichen und umstrittenen Gebiet der rassenbezogenen Affirmative Action gefordert. Die Gründe dafür, dass eine solche Entscheidung lange Zeit ausblieb, sind vor allem in zwei Stränge zu unterteilen: Zum einen konnten sich die Richter des U.S. Supreme Court wie gesehen wiederholt nicht auf die Annahme entsprechender Fälle im Rahmen eines certiorari-Verfahrens einigen, für dessen Einleitung es nach dem Gerichtsgebrauch mindestens vier der neun Stimmen bedarf. Im Rechtsstreit Taxman v. Piscataway Township Board of Education912 wiederum hatte sich das Gericht bereits zur Annahme entschieden und damit den Boden für ein richtungsweisendes Urteil im Jahre 1998 bereitet. Zuvor kam es indes zu einer außergerichtlichen Einigung der Parteien unter erheblicher finanzieller Unterstützung der Klägerin Taxman durch Gruppierungen, die ein gegen Affirmative Action gerichtetes, entsprechende Maßnahmen endgültig für unzulässig erklärendes Urteil des U.S. Supreme Court befürchteten und es auf diese Weise zu verhindern halfen. Nach Jahren der Unsicherheit über die verfassungsrechtlichen Perspektiven von Affirmative Action beschloss der U.S. Supreme Court schließlich im Dezember 2002, zwei gegen die University of Michigan gerichtete Klagen über die Verfassungsmäßigkeit des Zulassungsverfahrens zur Entschei912 Taxman v. Piscataway Township Board of Education, 91 F.3d 1547 (3d Cir. 1996), cert. granted 521 U.S. 1117, cert. dismissed 522 U.S. 1010 (1997).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
dung anzunehmen. Bereits die ersten Reaktionen auf diese Ankündigung belegten, welch fundamentaler Charakter dem Vorgehen des Gerichtshofs beigemessen wird. Während Vertreter der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) vom wichtigsten Urteil des U.S. Supreme Court zu den Bürgerrechten seit 25 Jahren sprachen, betonte Terence Pell vom Center for Individual Rights, einem maßgeblichen Opponenten der Affirmative Action-Programme, das Gericht könne nun nicht mehr umhin, eine historische Entscheidung zu treffen913. Mary Sue Coleman, Präsidentin der im Zentrum des Rechtsstreits stehenden Universität von Michigan, befand in einer ersten Stellungnahme zum Annahmebeschluss des U.S. Supreme Court: „This is a moment of great significance in our nation’s history. We stand at the threshold of a decision that will profoundly effect America’s higher education system and race relations in general.“914 Den beiden Klagen gegen das Zulassungsverfahren der University of Michigan liegen Sachverhalte zu Grunde, die in ihren Grundzügen zunächst durchaus ähnlich gelagert sind. Beide Klägerinnen, die weißen Schülerinnen Grutter und Gratz, hatten sich für einen Studienplatz an der Universität beworben und waren abgelehnt worden. Hingegen hatte die Bewerbung einiger Angehöriger von Minderheitengruppen Erfolg, obgleich diese nach ihren Testergebnissen und Vornoten weniger gute Qualifikationen aufweisen konnten. Sowohl die University of Michigan Law School, für die sich Grutter bewarb, als auch das University of Michigan’s College of Literature, Science, and the Arts, an dem Gratz zu studieren beabsichtigte, berücksichtigten in ihren Auswahlverfahren ethnische Gesichtspunkte zu Gunsten von Minderheitenbewerbern, die daher den Vorzug vor den Klägerinnen erhielten. Im Fall Grutter v. Bollinger915 hatte der Sixth Circuit Court of Appeals – zuständig für die Bundesstaaten Michigan, Ohio, Kentucky und Tennessee – am 14. Mai 2002 im Gegensatz zum erstinstanzlichen Urteil des District Court zu Gunsten der Law School der Universität entschieden, die ethnische Gesichtspunkte im Rahmen des Zulassungsverfahrens berücksichtigt, um eine gemischte Zusammensetzung der Studentenschaft zu fördern. Unter Berufung auf die Bakke-Entscheidung erklärte der Court of Appeals, dass in diesem Ziel der Herstellung von ethnischer Diversität ein zwingendes öffentliches Interesse liege, das dem Strict Scrutiny Test standhalte. Angesichts der Präzedenzwirkung des Urteils in Bakke sah sich das Gericht inso913 Vgl. Jackson, Trying to Negate Affirmative Action, The Boston Globe, 4.12.2002, S. A 19. 914 Mary Sue Coleman, Editorial: No Time for Colorblindness, Washington Post, 15.12.2002, S. B 7. 915 Grutter v. Bollinger, 288 F.3d 732 (6th Cir. 2002).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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weit als gebunden an, wenngleich das Urteil der U.S. Supreme Court von 1978 wie oben gesehen insgesamt wenig eindeutig ausfällt, kaum Einigkeit zwischen den urteilenden Richtern bestand und seine Interpretation bis heute umstritten ist. So hatte es der District Court insbesondere abgelehnt, dem 1978 von Justice Powell als zwingend anerkannten Interesse an der „Diversität“ der Studentenschaft bindende Kraft zuzuerkennen, da es nicht von der Mehrheit der Richter getragen worden sei. Das Berufungsgericht hingegen hält sich eng an die von Powell verfasste Pluralitätsmeinung in der Bakke-Entscheidung. Nicht allein die erste Voraussetzung des Strict Scrutiny Standards, das zwingende öffentliche Interesse, wird insofern aufgrund des Diversitätsarguments anerkannt. Vielmehr findet auch die Notwendigkeit der Maßnahme ihre Begründung in enger Anlehnung an die Leitentscheidung von 1978. Danach sollen separate Zulassungssysteme mit strikten Quotierungen zwar gleichheitsrechtlich unzulässig sein. Anderes gilt jedoch für Zulassungsverfahren, die dem von Powell ausdrücklich hervorgehobenen Harvard-Programm entsprechen und ethnische Gesichtspunkte lediglich als ein Kriterium unter mehreren betrachten, das als Plusfaktor im Rahmen einer individuellen Bewertung des Bewerbers Berücksichtigung finden kann. Um ein solches, ohne strikte Quotierung auskommendes Zulassungsverfahren handelt es sich bei dem angegriffenen Modell der University of Michigan Law School, das dem in der Bakke-Entscheidung erwähnten positiven Beispiel Harvards nachgebildet ist. Der Sixth Circuit Court of Appeals gelangte so zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung, da der U.S. Supreme Court das Urteil in der Rechtssache Bakke nie eindeutig „overruled“ habe. Zweifel an der inhaltlichen Schlüssigkeit und fortbestehenden Aussagekraft des Urteils und damit an der aktuellen gleichheitsrechtlichen Bewertung von Affirmative Action könnten letztlich nur durch den Obersten Bundesgerichtshof selbst geklärt aufgelöst werden – „Bakke remains the law until the Supreme Court instructs otherwise“916. Der U.S. Supreme Court hat in seiner lange erwarteten Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit des Zulassungsverfahrens der Law School im Fall Grutter v. Bollinger917 und damit das Ergebnis des Court of Appeals mit knapper Mehrheit bestätigt. Übereinstimmend wird in den Urteilen Grutter und Gratz v. Bollinger918 das universitäre Interesse an „diversity“ im Hinblick auf die ethnische Herkunft der Studierenden als ein zwingendes öffentliches Interesse angesehen, wodurch die erste Voraussetzung des Strict Scrutiny Standard erfüllt ist.919 Als Gründe für die Annahme eines solchen zwin916 917 918
Grutter v. Bollinger, 288 F.3d 732, 739 (6th Cir. 2002). Grutter v. Bollinger, 123 S.Ct. 2325 (2003). Gratz v. Bollinger, 123 S.Ct. 2411 (2003).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
genden öffentlichen Interesses führt die von Justice O’Connor verfasste Mehrheitsentscheidung in Grutter unterschiedliche Gesichtspunkte auf. Betont werden insoweit insbesondere „educational benefits that diversity is designed to produce, including cross-racial understanding and the breaking down of racial stereotypes. The Law School’s claim is further bolstered by numerous expert studies and reports showing that such diversity promotes learning outcomes and better prepares students for an increasingly diverse workforce, for society, and for the legal profession. . . . Moreover, because universities, and in particular, law schools, represent the training ground for a large number of the Nation’s leaders, the path to leadership must be visibly open to talented and qualified individuals of every race and ethnicity.“920 Während damit die erste Voraussetzung für den strengsten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab in beiden Entscheidungen des U.S. Supreme Court bejaht wird, gelangt der Gerichtshof im Rahmen des zweiten Prüfungsschrittes – der Notwendigkeit der Maßnahme bezüglich des Differenzierungsziels – in Grutter zu einem anderen Ergebnis als in Gratz. Dem Zulassungsverfahren der Law School wird insoweit bescheinigt, die Person jedes einzelnen Bewerbers hinreichend flexibel und individuell zu beurteilen und dabei neben ethnischen Gesichtspunkten eine Vielzahl weiterer „weicher“ Faktoren in die Erwägungen mit einzubeziehen, etwa Sprachkenntnisse, soziales Engagement, vorherige Berufserfahrung oder familiären Hintergrund. Demgegenüber wird das Auswahlverfahren in der Rechtssache Gratz als zu schematisch und starr bewertet und als nicht notwendig abgelehnt.921 Die Universität machte hier ihre Auswahlentscheidung von einem Punktesystem abhängig, wobei jedem Bewerber mit mindestens 100 erreichten Punkten die Zulassung garantiert war. An jeden Bewerber einer ethnischen Minderheit wurden dabei automatisch 20 zusätzliche Punkte vergeben, was für die Zulassungsentscheidung vielfach ausschlaggebend war. Eine solche schematisierte, entscheidungserhebliche Berücksichtigung der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit hält der U.S. Supreme Court in seinem von Chief Justic Rehnquist verfassten Mehrheitsvotum nicht für „narrowly tailored“ zur Erreichung des angestrebten Diversitäts-Zieles. Die Zulassungsentscheidung basiere insbesondere nicht auf einem individualisierten, dem Einzelnen gerecht werdenden Auswahlverfahren, da sie den „Faktor Rasse“ generell zu einem derart bestimmenden Faktor werden lasse. Justice O’Connors Urteilsbegründung in Grutter sieht hierin den maßgeblichen Unterschied zum Vorgehen der Law School, das ethnische 919 Grutter v. Bollinger, 123 S.Ct. 2325, 2339 (2003); Gratz v. Bollinger, 123 S.Ct. 2411, 2427 (2003); vgl. Empt, DÖV 2004, 239, 242. 920 Grutter v. Bollinger, 123 S.Ct. 2325, 2340 f. (2003). 921 Gratz v. Bollinger, 123 S.Ct. 2411, 2427 ff. (2003).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
237
Zugehörigkeit zu einer Minderheit nur als einen Plusfaktor unter mehreren berücksichtige und für den einzelnen Bewerber ein hinreichend individuelles Verfahren gewährleiste. Werden Maßnahmen der Affirmative Action nach den Entscheidungen des U.S. Supreme Court in Grutter und Gratz demnach unter den engen Voraussetzungen des Strict Scrutiny Standard für zulässig erklärt, so bleibt an dieser Stelle abschließend auf die weiterhin bestehenden, im Verlauf der Untersuchung deutlich gewordenen erheblichen Spannungen innerhalb des Gerichtshofs hinzuweisen. So erging das Urteil in Grutter erneut mit der knappsten Mehrheit von fünf zu vier Richterstimmen. Die dissenting opinions der Richter Rehnquist, Scalia, Kennedy und Thomas zeigen in ihrer vehementen Ablehnung des Mehrheitsvotums zudem, dass bereits das Ausscheiden eines einzelnen Richters in der Zukunft eine erneute Rechtsprechungsänderung zur Folge haben mag. Einstweilen scheint sich dagegen jedenfalls die grundsätzliche Zulässigkeit der Affirmative Action unter den beschriebenen hohen Anforderungen durchgesetzt zu haben. Wie die Mehrheit der Richter in diesem Zusammenhang bekräftigt, stehen entsprechende nach Rassen differenzierende Maßnahmen indes im latenten Widerspruch zur grundrechtlichen Gleichheitsgarantie und sind daher nur so lange gerechtfertigt, als dies zur Verwirklichung des hiermit verfolgten Ziels unabdingbar notwendig erscheint. Die Entscheidung schließt aus diesem Grunde mit einem Rückbezug auf die Bakke-Entscheidung von 1978 und der Formulierung einer zeitlichen Perspektive, mit der die Erwartung ausgesprochen wird, dass binnen der nächsten 25 Jahre die Notwendigkeit rassenbezogener Affirmative Action im Hochschulbereich entfalle: „It has been 25 years since Justice Powell first approved the use of race to further an interest in student body diversity in the context of public higher education. Since that time, the number of minority applicants with high grades and test scores has indeed increased. We expect that 25 years from now, the use of racial preferences will no longer be necessary to further the interest approved today.“922 3. Vergleichende Zusammenfassung Fördermaßnahmen zugunsten von Minderheiten sind sowohl im amerikanischen als auch im deutschen Verfassungsrecht umstritten, soweit durch sie andere, nicht der Minderheit angehörende Personen unmittelbar benachteiligt werden. Während sich dabei die Diskussion in Deutschland maßgeblich auf Klassifizierungen nach dem Geschlecht bezieht, umfasst die zuvor dargestellte amerikanische Gleichheitsrechtsprechung zu Affirmative Action 922
Grutter v. Bollinger, 123 S.Ct. 2325, 2347 (2003).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
sowohl Differenzierungen nach dem Geschlecht als auch nach rassischen Gesichtspunkten. Eine Systematisierung der zuvor skizzierten, im Einzelnen recht unübersichtlichen und vielfach uneinheitlichen Rechtsprechung des U.S. Supreme Court lässt in diesem Zusammenhang drei aufeinander aufbauende Problemkomplexe erkennen, die auch für das deutsche Verfassungsrecht von Bedeutung sind. Ausgangspunkt der streitigen Auffassungen im U.S. Supreme Court über Maßnahmen der Affirmative Action ist die Frage, ob vor dem Hintergrund der equal protection-Klausel Klassifizierungen aufgrund der Rasse überhaupt möglich sind, oder ob gezielte rassische Ungleichbehandlungen, unabhängig von der mit ihnen verfolgten Motivation, verfassungsrechtlich absolut ausgeschlossen sind. Bereits auf dieser primären Ebene finden sich Aussagen der Richter Stewart923, Scalia924 und Thomas925, die die Verfassung prinzipiell als „colorblind“ bewerten und damit jegliche Differenzierung ablehnen. Da Stewart dem Gericht nicht mehr angehört, verbleiben somit gegenwärtig zwei der neun Richter, die auch wohlmeinende („benign“) Ungleichbehandlungen nachdrücklich für verfassungswidrig erklären, während die Mehrheit kompensatorische, auf Diskriminierungen in der Vergangenheit zurückzuführende Maßnahmen jedenfalls nicht kategorisch ausschließt. Dem steht in Deutschland zunächst der scheinbar eindeutige Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG gegenüber, wonach niemand wegen eines der dort aufgeführten Merkmale benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Dennoch bestehen auch hier gewisse Einschränkungen, die eine Klassifizierung nach Merkmalen des Absatzes 3 ausnahmsweise zulassen. Dazu gehören hinsichtlich des Unterscheidungskriteriums Geschlecht die bereits ausgeführten biologischen Unterschiede, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts926 als Ausnahmegruppe anerkannt sind. Weiterhin relativieren „funktionale“ Unterschiede sowie spezielle verfassungsrechtliche Ausnahmen927 die Absolutheit des besonderen Diskriminierungsverbots „Geschlecht“. Ob kompensatorische Maßnahmen zugunsten von Frauen, etwa Quotenregelungen, im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG als zulässig zu bewerten 923 Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448, 522 f. (1980) (Stewart, Rehnquist, dissenting). 924 So etwa in City of Richmond v. J.A. Croson Co., 488 U.S. 469, 521 (1989) (Scalia, concurring in the judgment). 925 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2119 (1995) (Thomas, concurring in part and concurring in the judgment). 926 Vgl. BVerfGE 52, 369, 374 m. w. N. 927 Siehe hierzu oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 1.
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
239
sind, ist wie oben dargestellt umstritten, wird jedoch von der überwiegenden Auffassung verneint. Auch die Anknüpfung an weitere Differenzierungsmerkmale des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG aus Kompensationsgründen wird vorwiegend abgelehnt, da dies zu einer nicht vom Wortlaut umfassten Relativierung des gleichheitsrechtlichen Schutzstandards führen würde: So wäre eine bevorzugte Vergabe öffentlicher Aufträge an Angehörige rassischer Minderheiten, wie sie der U.S. Supreme Court in Fullilove v. Klutznick928 für verfassungsgemäß erklärte, mit Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG unvereinbar.929 Hinzuweisen ist darauf, dass die aufgezählten Merkmale in der verfassungsrechtlichen Diskussion zwar vorwiegend930, aber nicht durchgehend als strenge Differenzierungsverbote aufgefasst werden, sondern zum Teil ausdrücklich die Zulässigkeit wertungsoffener Differenzierung931 gefordert wird. Während hierüber jedoch, wie die dargestellten Entscheidungen des U.S. Supreme Court belegen, in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung gravierende Differenzen bestehen, kann sich die deutsche Verfassungsrechtslehre insoweit auf die ausdrücklichen Differenzierungsverbote in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG stützen, die sowohl Benachteiligungen als auch Bevorzugungen aufgrund der genannten Merkmale untersagen. Ein weiterer Schwerpunkt der Auseinandersetzung innerhalb des U.S. Supreme Court über Maßnahmen der Affirmative Action betrifft die Frage nach dem anzuwendenden gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab. Hierbei verdeutlichen die dargestellten Entscheidungen, dass sich im Wesentlichen zwei Lager gegenüber stehen, die jeweils den strengen Strict Scrutiny Test bzw. den flexibleren Intermediate Scrutiny Test anwenden. Die Befürworter des vermittelnden Tests argumentieren vorrangig im Wege einer historischen Interpretation der equal protection-Klausel des 14. Amendment, die 1868 in die Verfassung eingefügt wurde, um die Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung sicherzustellen.932 Eine solche Bestimmung dürfe daher nicht so ausgelegt werden, dass staatliche Maßnahmen zur Abhilfe der Folgen früherer Diskriminierung unzulässig seien.933 Die Gegenauffassung wiederum nimmt eine enger am Wortlaut orientierte Interpretation der 928
Fullilove v. Klutznick, 448 U.S. 448 (1980). Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 343. 930 Vgl. etwa Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 59. 931 Vgl. Heckel, Art. 3 III GG. Aspekte des Besonderen Gleichheitssatzes, S. 241 ff. (vgl. insbesondere S. 244 unter 2.). Vgl. ebenfalls relativierend Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 239 ff., die sich „gegen eine kategorische Einheitslösung“ ausspricht, die „praktisch einem Verbot teleologisch differenzierender Interpretation des Verfassungstextes“ gleichkomme (Rn. 241). 932 Siehe Zweiter Teil, 1. Kapitel, B. VII. 933 Vgl. das Sondervotum von Justice Marshall in Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 397 f. (1978). 929
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
equal protection-Klausel vor und verweist darauf, dass diese für jeden Bürger gelte und jedem einzelnen das Recht auf Gleichbehandlung garantiere.934 Ungleichbehandlungen aufgrund der Rassenzugehörigkeit kennzeichneten einzelne Individuen als Mitglieder von Gruppen in diskriminierender Weise und würden daher gegen den Grundsatz verstoßen, Bürger als individuelle Persönlichkeiten zu behandeln.935 Die zuletzt erwähnte, von den Befürwortern des Strict Scrutiny Test herangezogene Argumentation gleicht der oben dargestellten, im deutschen Verfassungsrecht vorherrschenden Ablehnung der Interpretation von Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG als Gruppengrundrecht: Hiernach soll eine generelle Bevorzugung von Frauen wegen früherer Benachteiligung deshalb nicht in Betracht kommen, weil mit einem solchen Verständnis das subjektive Abwehrrecht gegenüber individuellen Diskriminierungen auf eine nur schwer zu bestimmende kollektivrechtliche Ebene verlagert würde.936 Ebenso wie von den Befürwortern des Strict Scrutiny Test wird damit betont, dass ein einzelner nicht das Unrecht ausgleichen müsse, welches einer Gruppe in der Vergangenheit widerfahren sei. Zwar könne der Gesetzgeber etwa, soweit Frauen in der Vergangenheit typischerweise benachteiligt worden seien, diese Nachteile auszugleichen versuchen und hierdurch eine mittelbare Benachteiligung der Männer herbeiführen, indem diese nicht ebenfalls eine entsprechende Förderung erfahren. Eine unmittelbare Benachteiligung des Mannes durch geschlechtliche Klassifizierung in der konkreten Wettbewerbssituation ist nach dieser Auffassung jedoch abzulehnen. Auch in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung scheint sich gegenüber kompensatorisch motivierten Fördermaßnahmen zugunsten von Minderheiten, durch die Einzelne in ihrem Gleichheitsrecht aus der equal protection-Klausel betroffen sind, die restriktive Tendenz der Befürworter des Strict Scrutiny Standard durchgesetzt zu haben. Wie gezeigt, hatten sich in der Entscheidung City of Richmond v. J.A. Croson Co.937 aus dem Jahre 1989 fünf Richter auf einen strengen Prüfungsmaßstab geeinigt. Nur ein Jahr später kam es jedoch in Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission938 zu der Festlegung von fünf Richtern (Brennan, White, Marshall, Blackmun und Stevens) auf den Intermediate Scrutiny 934 So etwa Justice O’Connor in Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission, 497 U.S. 547, 602 (1990) (O’Connor, Rehnquist, Scalia, Kennedy, dissenting). 935 Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission, 497 U.S. 547, 603 f. (1990) (O’Connor, Rehnquist, Scalia, Kennedy, dissenting). 936 Vgl. dazu Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 2, Rn. 68. 937 City of Richmond v. J.A. Croson Co., 488 U.S. 469 (1989). 938 Metro Broadcasting, Inc. v. Federal Communications Commission, 497 U.S. 547 (1990).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
241
Test, was zu massiver Kritik der übrigen Mitglieder des U.S. Supreme Court führte. Drei Kritiker der damaligen Absenkung der Prüfungsintensität (Scalia, Kennedy und O’Connor) gehören dem Gericht auch gegenwärtig noch an, hingegen sind vier der fünf für den mittleren gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab votierenden Richter mit Ausnahme von Justice Stevens mittlerweile ausgeschieden. Aus diesem Grunde hat sich seit Adarand Constructors, Inc. v. Pena939 von 1995 die Anwendung des Strict Scrutiny Standards durchgesetzt940: Danach sollen nunmehr sowohl böswillige Ungleichbehandlungen zu Lasten von Minderheiten als auch kompensatorisch motivierte, wohlwollende Ungleichbehandlungen im Rahmen von Affirmative Action-Programmen den strengsten gleichheitsrechtlichen Prüfungsanforderungen unterzogen werden. Mit der Zuordnung jeglicher rassischer Klassifizierungen zum Strict Scrutiny Standard hat der U.S. Supreme Court die oben erläuterten Voraussetzungen941 eines zwingenden öffentlichen Interesses sowie der Notwendigkeit einer Ungleichbehandlung im Hinblick auf das erstrebte Ziel auch für Maßnahmen der Affirmative Action eingeführt. Dabei wird als zwingendes öffentliches Interesse die Kompensation andauernder Fortwirkungen konkret nachgewiesener Diskriminierungen in der Vergangenheit anerkannt und die Notwendigkeit einer Maßnahme im Wege einer strengen Verhältnismäßigkeitsüberprüfung beurteilt. Wie der U.S. Supreme Court im Jahr 2003 in Grutter v. Bollinger festgestellt hat, soll zudem auch das Ziel der Herstellung ethnischer Diversität im Bereich des Bildungswesens als hinreichend „zwingendes“ öffentliches Interesse gelten und damit zur Rechtfertigung entsprechender Fördermaßnahmen herangezogen werden können. Ungewiss ist schließlich, inwiefern die dargestellte Verfassungsrechtsprechung auch auf den Bereich der Frauenförderung übertragbar ist. Die einzige Entscheidung des U.S. Supreme Court zu einem frauenfördernden Affirmative Action-Programm, Johnson v. Transportation Agency942, bezog sich auf den einfachgesetzlichen Titel VII des Civil Rights Act, so dass es bislang an einer eindeutigen verfassungsrechtlichen Bewertung fehlt. Sofern – was allerdings nicht unumstritten ist – auf öffentliche Arbeitgeber die verfassungsrechtlichen Anforderungen der equal protection-Klausel anzuwenden sind und nicht lediglich der Civil Rights Act Anwendung findet, 939
Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097 (1995). Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass dem U.S. Supreme Court erneut vier Richter angehören, die Maßnahmen der Affirmative Action weniger zurückhaltend gegenüberstehen als die (knappe) Mehrheit: Neben dem mit 85 Jahren ältesten Richter Stevens sind hierzu zu rechnen die Justices Ginsburg, Souter und Breyer. 941 Vgl. Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. a). 942 Johnson v. Transportation Agency, 480 U.S. 616 (1987). 940
242
2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
wird sich der U.S. Supreme Court aufgrund der von ihm selbst entwickelten Struktur der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung zukünftig möglicherweise mit einer brisanten Problematik konfrontiert sehen. Bleibt es auch im Rahmen „wohlwollender Diskriminierung“ bei den üblichen Zuordnungen943, so müssten klassifizierende Maßnahmen der Frauenförderung anhand des flexiblen Intermediate Scrutiny Standard beurteilt werden. Somit würden kompensatorische Maßnahmen zugunsten von Frauen wesentlich eher gebilligt als kompensatorische Programme zugunsten der schwarzen Bevölkerung, deren Gleichberechtigung durch die konstitutionelle Verankerung des 14. Amendment gerade angestrebt wurde. Sollte sich der U.S. Supreme Court stattdessen dafür entscheiden, die Anforderungen an Affirmative Action-Maßnahmen zugunsten von Frauen ebenso wie rassische Klassifizierungen dem Strict Scrutiny Test zu unterstellen, so könnte dies zu einer widersprüchlichen Wertung innerhalb der von dem Gericht entwickelten gleichheitsrechtlichen Prüfungssystematik führen: In diesem Falle würden „wohlwollende“ Geschlechtsdifferenzierungen zur Frauenförderung nach dem strengen Strict Scrutiny Standard beurteilt, während es im Hinblick auf „bösartige“ Differenzierungen bei dem deutlich milderen Intermediate Scrutiny Test bliebe. Als Lösung könnte sich dann die Ausdehnung des strikten Tests auf sämtliche Ungleichbehandlungen anbieten, womit freilich der gerade für Geschlechtsdifferenzierungen entwickelte, eine Güterabwägung in die amerikanische Gleichheitsrechtsprechung einführende Intermediate Scrutiny Test seines Anwendungsbereiches weitgehend entkleidet wäre. Es zeigt sich, dass der gerichtliche Umgang mit bewussten Ungleichbehandlungen zur Kompensation früherer Diskriminierungspraktiken für den U.S. Supreme Court im Bereich des Geschlechts zu Problemen führt, die selbst über den wie gezeigt höchst umstrittenen Bereich rassischer Ungleichbehandlungen hinausgehen dürften. In der deutschen Verfassungsrechtsprechung kommt dagegen im Bereich der Frauenförderung, wie ausgeführt, insbesondere dem Verhältnis der Staatszielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG zu dem abwehrrechtlichen Schutzgehalt des besonderen Diskriminierungsverbotes in Art. 3 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 GG große Bedeutung zu. Diesbezüglich sind vor allem Fragen der Verfassungsmäßigkeit von Frauenquoten umstritten, wobei festzuhalten bleibt, dass weder der U.S. Supreme Court noch das Bundesverfassungsgericht bislang eine abschließende Entscheidung über die Zulässigkeit von Frauenquoten getroffen haben.
943
Siehe hierzu Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 2. b) bb), (1).
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
243
II. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung Der Umfang des durch die besonderen Diskriminierungsverbote vermittelten grundrechtlichen Gleichheitsschutzes richtet sich weiterhin danach, ob lediglich Anknüpfungen an die einzelnen Merkmale wie zum Beispiel Rasse oder Geschlecht unzulässig sein sollen oder ob auch Maßnahmen erfasst werden, denen zwar andere Differenzierungskriterien zu Grunde liegen, die sich aber überwiegend auf eine der betreffenden Personengruppen auswirken.944 Verfassungsrechtlich zu klären ist demnach, ob neutral formulierte Regelungen, die zu diskriminierenden Auswirkungen führen, gegen die besonderen Diskriminierungsverbote verstoßen. Grundlegende Aussagen des U.S. Supreme Court zu dieser Problematik finden sich in der Entscheidung Washington v. Davis945 aus dem Jahre 1976. Darin ging es insbesondere um einen Test, der Bewerbern für eine Stelle im Polizeidienst vorgelegt wurde und der unter anderem die sprachlichen Fähigkeiten, den Wortschatz, Lesen und Textverständnis überprüfte. Im Ergebnis kam es zu Unterschieden zwischen schwarzen und weißen Bewerbern insofern, als Schwarze den Test insgesamt weitaus seltener erfolgreich absolvierten als Weiße. Der U.S. Supreme Court entschied, dass ein solcher „disproportionate impact“ – erheblich unterschiedliche Auswirkungen neutral formulierter Regelungen – für sich genommen nicht ausreiche, um eine strenge Gleichheitsprüfung anhand des Strict Scrutiny Standard zu begründen: „Disproportionate impact is not irrelevant, but it is not the sole touchstone of an invidious racial discrimination forbidden by the Constitution. Standing alone, it does not trigger the rule, that racial classifications are to be subjected to the strictest scrutiny and are justifiable only by the weightiest of considerations.“946 Somit können erheblich unterschiedliche, bestimmte Personengruppen tatsächlich weitaus häufiger oder intensiver benachteiligende Wirkungen von einer staatlichen Maßnahme ausgehen, ohne zugleich den Prüfungsmaßstab des besonderen Diskriminierungsverbotes auszulösen, dessen Anwendung an zusätzliche Voraussetzungen gebunden ist. Entscheidende Bedeutung spricht der U.S. Supreme Court insoweit der Frage zu, ob von einer diskriminierenden Motivation des Gesetzgebers oder anderer staatlicher Stellen ausgegangen werden kann. Auf die bei einer solchen Ausforschung staatlicher Motive auftretenden praktischen Probleme wurde bereits hingewiesen.947 Das Gericht betont, dass gravierend unterschiedliche Auswirkungen scheinbar neutraler Regelungen ein mögliches Indiz für die 944 Vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 46. 945 Washington v. Davis, 426 U.S. 229 (1976). 946 Washington v. Davis, 426 U.S. 229, 242 (1976). 947 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. II. 1. a) cc).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Feststellung des „discriminatory purpose“ darstellen, ihre isolierte Betrachtung jedoch keine hinreichend sicheren Aufschlüsse über das Vorliegen staatlicher Diskriminierungsabsicht bietet. Da die Polizeibehörde vorliegend das legitime Ziel verfolgt habe, bei der Einstellung von Polizisten auch deren kommunikative Fähigkeiten zu berücksichtigen, könne eine gegen rassische Minderheiten gerichtete Motivation der handelnden Stellen im Ergebnis nicht angenommen werden. Im deutschen Verfassungsrecht ist umstritten, ob die besonderen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG nur eingreifen, wenn sie unmittelbar als Differenzierungskriterium herangezogen werden. In seiner Gleichheitsrechtsprechung betont das Bundesverfassungsgericht insoweit, dass ein Verstoß nur dann vorliege, wenn eine Ungleichbehandlung ihre Ursache in den durch Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG aufgeführten Merkmalen habe, das heißt wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen einem dieser Merkmale und der Benachteiligung oder Bevorzugung besteht.948 Wie das Gericht 1992 klargestellt hat, gilt das Diskriminierungsverbot allerdings nicht allein dann, wenn die überprüfte Regelung auf eine nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern auch, wenn in erster Linie andere Ziele verfolgt werden.949 In jüngerer Zeit ist zudem ausdrücklich auf die Möglichkeit der Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG hingewiesen worden, ohne hiermit jedoch eine eindeutige und klärende Stellungnahme zu verbinden.950 Damit bleibt es einstweilen bei dem 1999 auch verfassungsgerichtlich bestätigten Befund, dass die gleichheitsrechtliche Bewertung mittelbarer Diskriminierungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bislang noch nicht abschließend geklärt ist.951 Im verfassungsrechtlichen Schrifttum sind die Auffassungen zu dem angesprochenen Problemkreis uneinheitlich. Teilweise wird eine Begrenzung auf unmittelbare Anknüpfungen abgelehnt und die bloß mittelbare Diskriminierung ebenfalls für unzulässig erachtet, gleichgültig an welchem Differenzierungsgesichtspunkt diese ansetzt.952 Andere wiederum sprechen sich zwar für die Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den Anwendungsbereich der speziellen Gleichheitssätze aus, betonen jedoch zugleich die geringere Intensität der maßgeblichen Rechtfertigungsanforderungen.953 Nach der Gegenansicht soll die bloß mittelbare Diskriminierung, die an 948 949 950 951 952 953
BVerfGE 75, 40, 70 m. w. N. Vgl. BVerfGE 85, 191, 206. BVerfGE 97, 35, 43 f. BVerfG, 1 BvL 26/97, 17.2.1999, Rn. 16. Vgl. Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 86. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 256 f.
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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Gegebenheiten anknüpft, welche lediglich typischerweise bei bestimmten Gruppen vorkommen, nicht von den speziellen Gleichheitssätzen erfasst sein.954 Einschlägig sei insoweit der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, der allein einen hinreichend flexiblen Prüfungsmaßstab für die Beurteilung entsprechender Differenzierungen gewährleiste.955 Allerdings müsse hierbei darauf geachtet werden, ob Maßnahmen nicht unter Umständen „verdeckt“956 an besondere Differenzierungskriterien anknüpfen: In diesem Falle bleibe es gleichheitsrechtlich bei der Anwendung der Differenzierungsverbote in Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Deutlich wird, dass hierbei ebenso wie im amerikanischen Verfassungsrecht durch den U.S. Supreme Court die Ermittlung staatlicher Motivation für die Beantwortung der Frage herangezogen wird, ob eine nicht ausdrücklich an besondere Differenzierungsmerkmale anknüpfende Maßnahme gleichheitsrechtlich zulässig ist. Welche Schwierigkeiten indes hiermit verbunden sind, kommt in einer Entscheidung des amerikanischen Gerichts von 1987, McCleskey v. Kemp957, zum Ausdruck, in der es um die Verhängung der Todesstrafe ging. Warren McCleskey, ein Schwarzer, war 1978 im Bundesstaat Georgia zum Tode verurteilt worden, weil er einen weißen Polizisten getötet hatte. Er wehrte sich gegen das Urteil mit der Begründung, in Georgia werde die Todesstrafe in diskriminierender Weise verhängt, weshalb ein Verstoß gegen die equal protection-Klausel vorliege. Hierbei stützte er sich auf die so genannte Baldus-Studie, eine groß angelegte empirische Untersuchung zur rechtlichen Behandlung von Mordfällen in Georgia, deren statistische Aussagekraft auf über 2.000 untersuchten Mordfällen in Georgia im Laufe der siebziger Jahre beruht. Wie die Studie aufzeigte, wurde bei Morden an Weißen in 11% der Fälle die Todesstrafe ausgesprochen, bei Morden an Schwarzen hingegen erfolgte nur in 1% der Fälle die Verurteilung zum Tode. Die Kombination von schwarzem Täter und weißem Opfer führte in 22% der Fälle zur Verhängung der Todesstrafe, umgekehrt hingegen lediglich in 3%. Trotz dieser Anzeichen für einen diskriminierenden Umgang bei der Verhängung der Todesstrafe wies der U.S. Supreme Court die Klage in seiner mit 5 zu 4 Richterstimmen ergangenen Mehrheitsentscheidung mit der Begründung ab, statistische Indizien könnten den Nachweis diskriminierender staatlicher Motivation im Einzelfall nicht ersetzen.958 Auch das Wis954 Vgl. etwa Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 32, 88 ff. 955 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 89. 956 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 90. 957 McCleskey v. Kemp, 481 U.S. 279 (1987). 958 McCleskey v. Kemp, 481 U.S. 279, 292 ff. (1987).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
sen des Gesetzgebers von Georgia im Hinblick auf die diskriminierenden Wirkungen bei der Anwendung gesetzlicher Bestimmungen zur Verhängung der Todesstrafe reiche nicht aus, um ihm bereits aus diesem Grunde eine entsprechende Motivation zu unterstellen. Der Kläger müsse vielmehr nachweisen, dass die Staatenlegislative „selected or reaffirmed a particular course of action at least in part ‚because of‘, not merely ‚in spite of‘ its adverse effects upon an identifiable group“959. Damit stellt das Gericht hohe Anforderungen an den Nachweis, dass eine mittelbar diskriminierende staatliche Maßnahme von einer entsprechenden Absicht getragen ist und so gegen den grundrechtlichen Gleichheitssatz verstößt, während das Bundesverfassungsgericht über die gleichheitsrechtliche Bewertung mittelbarer Anknüpfungen an eines der in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG genannten Merkmale wie gesehen bislang keine endgültige Entscheidung getroffen hat. III. Rechtliche und faktische Gleichheit Für den Umgang mit den besonderen Diskriminierungsverboten ist schließlich von Bedeutung, ob und gegebenenfalls inwieweit hierbei Verpflichtungen des Staates zur Herstellung faktischer Gleichheit anzunehmen sind. Aufgrund der tatsächlichen Verschiedenheit der Menschen und ihrer Lebenssituationen bedeutet Gleichbehandlung durch das Recht nicht notwendig faktische Angleichung im Ergebnis. Andererseits erfordert die Herstellung faktischer Gleichheit oftmals rechtliche Ungleichbehandlungen, wie zuvor am Beispiel der Affirmative Action deutlich wurde. Auf die unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Interpretation des allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatzes auch im Sinne einer staatlichen Verpflichtung zur Angleichung der tatsächlichen Lebensverhältnisse wurde bereits hingewiesen.960 Doch auch im Hinblick auf die besonderen Diskriminierungsverbote kommt dieser Diskussion Bedeutung zu. So enthält der Merkmalskatalog des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG grundsätzlich keinen Auftrag an den Staat, entsprechende faktische Ungleichheiten auszugleichen.961 In diesem Zusammenhang betonte das Bundesverfassungsgericht, dem Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 2 GG komme ebenso wie dem des Abs. 3 nur die Bedeutung zu, „daß die aufgeführten faktischen Verschiedenheiten keine rechtliche, nicht aber auch daß sie keine gesellschaftliche, soziologische, psychologische oder sonstige Wirkung haben dürfen“962. In der 959 McCleskey v. Kemp, 481 U.S. 279, 298 (1987) unter Verweis auf Personnel Administrator of Massachusetts v. Feeney, 442 U.S. 256, 279 (1979). 960 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. e). 961 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 351. 962 BVerfGE 3, 225, 241.
3. Kap.: Besondere Diskriminierungsverbote
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Folgezeit hat sich indes zumindest im Bereich der Gleichberechtigung der Geschlechter eine gewisse Änderung dahin vollzogen, dass der Staat durch die Staatszielbestimmung des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG auch zur tatsächlichen Verwirklichung der Gleichberechtigung und damit gegebenenfalls zu Korrekturen hinsichtlich bestehender faktischer Unterschiede verpflichtet ist. Wie dargestellt963, bestehen insoweit allerdings unterschiedliche Auffassungen darüber, ob mit der Einführung von Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG lediglich die Gleichheit der Ausgangschancen beabsichtigt ist oder darüber hinaus auf Ergebnisgleichheit abgezielt wird. Auch in der Verfassungsrechtsprechung des U.S. Supreme Court ist der normative Gehalt des Gleichheitsbegriffes im Hinblick auf Elemente faktischer Gleichheit umstritten. Dabei kommt dieser Auseinandersetzung zum einen im Bereich der Affirmative Action Bedeutung zu, in der es maßgeblich darum geht, ob die rechtliche Gleichbehandlung durch den Staat in der Gegenwart als ausreichend zu erachten ist, oder ob aufgrund der Folgen historischer und bis heute fortwirkender Diskriminierung staatliche Maßnahmen zur Herstellung faktischer Gleichheit notwendig sind. Zum anderen sind Auseinandersetzungen innerhalb des U.S. Supreme Court insbesondere bei Entscheidungen zu konstatieren, in denen es um den grundrechtlichen Gleichheitsschutz von Armen geht. Ob im Hinblick auf Armut ein besonderes Differenzierungsverbot anzunehmen und entsprechende Klassifizierungen als verdächtig zu bewerten seien, wurde in der Rechtsprechung lange Zeit nicht einheitlich beantwortet.964 Im oben965 dargestellten Fall Griffin v. Illinois966 hatte das Gericht die Verfassungsmäßigkeit des strafrechtlichen Revisionsverfahrens in Illinois verneint, da die Zulässigkeit einer Revision von der Vorlage einer stenographischen Abschrift der erstinstanzlichen Verhandlung abhängig gemacht wurde und diese nur gegen eine Gebühr zu erwerben war. Mittellose Angeklagte hatten damit faktisch verschlechterte Revisionsmöglichkeiten, obwohl sie formal rechtlich gleichbehandelt wurden, was nach Auffassung der Richtermehrheit einen Verstoß gegen das Gleichheitsgrundrecht begründete. Diese Auslegung der equal protection-Klausel in einem über die rechtliche Gleichheit hinausgehenden Sinne wurde insbesondere von Richter Harlan kritisiert. In seiner abweichenden Meinung bekräftigte er, dass der Staat Illinois alle Personen gleich behandle, indem er die stenographische Abschrift von der Erstattung entstandener Kosten abhängig mache. Illinois könne daher allenfalls der Vorwurf treffen, vom Staat 963
Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. I. 1. Vgl. Cohen/Varat, Constitutional Law, S. 1025 ff.; Polyviou, The Equal Protection of the Laws, S. 437 ff. 965 Vgl. Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb), (2). 966 Griffin v. Illinois, 351 U.S. 12 (1956). 964
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
nicht zu verantwortende ökonomische Unterschiede unzureichend berücksichtigt zu haben. Es gehe demnach nicht um die für das Gleichheitsgrundrecht charakteristische Frage nach der Zulässigkeit einer benachteiligenden Klassifikation, sondern um die „reasonableness of the State’s failure to remove natural disabilities“967 – eine Problematik, die außerhalb der equal protection-Klausel angesiedelt sei. Die angegriffene Regelung verstoße daher nicht gegen den grundrechtlich verbürgten Gleichheitssatz. Auch in der Entscheidung Douglas v. California968, in der die Mehrheit der Richter des U.S. Supreme Court entschied, der Staat müsse einem mittellosen Angeklagten bei seiner Berufung einen Anwalt zur Seite stellen, wird auf die grundlegenden Aussagen im Fall Griffin verwiesen. Danach könne von „equal justice“ nicht die Rede sein, wenn die Art der Berufung von den finanziellen Möglichkeiten des Angeklagten abhängig gemacht werde. Erneut ist es der dissentierende Richter Harlan, der die unterschiedlichen Auffassungen zur rechtlichen bzw. faktischen Gleichheit deutlich herausstellt. Im Gegensatz zur Richtermehrheit vermag Harlan einen Verstoß gegen die equal protection-Klausel nicht zu erkennen, da diese den Einzelstaaten nicht die positive Pflicht auferlege, Benachteiligungen aufzuheben, die aus Unterschieden in den wirtschaftlichen Umständen resultieren.969 Die gegenteilige Auffassung bedeute vielmehr, eine Philosophie der Gleichmacherei in die Verfassung hineinzulesen, die der U.S. Constitution fremd sei. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der U.S. Supreme Court die Gleichheitsgarantie des 14. Amendment nicht durchgängig im Sinne rechtlicher Gleichbehandlung interpretiert. Elemente der Ergebnisgleichheit, das heißt die Verpflichtung des Staates zur Herstellung faktischer Gleichheit, scheinen neben dem Bereich der Affirmative Action insbesondere dort auf, wo das Merkmal der Armut auf fundamentale Rechte trifft und diese zu beeinträchtigen droht: Hierzu zählen einerseits die zuvor genannten Fälle des prozessualen strafrechtlichen Schutzes. Weiterhin wird staatliches Hinwirken auf die weitgehende Herstellung faktischer Gleichheit auch im Bereich des fundamentalen Rechts der Wahlrechtsgleichheit verlangt, wie dies oben970 anhand der Leitentscheidung Harper v. Virginia Board of Elections971 dargestellt wurde. Auch im deutschen Verfassungsrecht sind insoweit Bereiche anerkannt, in denen es um den Ausgleich faktischer Nachteile 967 968 969
Griffin v. Illinois, 351 U.S. 12, 36 (1956) (Harlan, dissenting). Douglas v. California, 372 U.S. 353 (1963). Douglas v. California, 372 U.S. 353, 362 (1963) (Harlan, Stewart, dissen-
ting). 970 971
Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb), (1). Harper v. Virginia Board of Elections, 383 U.S. 663 (1966).
4. Kap.: Konsequenzen für die Gesetzgebung
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geht, ohne dass sich der Staat lediglich auf formale rechtliche Gleichbehandlung beschränken kann. Hierzu zählt ebenfalls die Rechtsschutzgleichheit972, wobei die Angleichung der tatsächlichen prozessualen Stellung von Bemittelten und Unbemittelten vom Bundesverfassungsgericht zunächst durch das Zusammenspiel des allgemeinen Gleichheitssatzes mit dem Sozialstaatsprinzip, später auch unter Hinweis auf Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein verankerten Rechtsstaatsprinzip begründet wurde.973 Während dabei in der deutschen Verfassungsrechtslehre im Einzelnen Uneinigkeit darüber besteht, inwieweit die Problematik der „faktischen Gleichheit“ dem Sozialstaatsprinzip zuzuordnen ist974 oder der grundrechtlichen Gleichheitsgarantie975, findet eine vergleichbare Auseinandersetzung in der amerikanischen Verfassungsrechtslehre im Rahmen der equal protection-Klausel statt, da die Verfassung kein Sozialstaatsprinzip enthält. Probleme des Verhältnisses von rechtlicher und faktischer Gleichheit werden somit im deutschen Verfassungsrecht vor dem Hintergrund des allgemeinen Gleichheitssatzes, des Sozial- und Rechtsstaatsprinzips sowie der besonderen Gleichheitssätze (insbesondere bezüglich der Gleichberechtigung von Mann und Frau) diskutiert. Der U.S. Supreme Court hingegen setzt sich hiermit auf der Grundlage der von ihm selbst entwickelten Dogmatik zur equal protection-Klausel auseinander, wobei, wie zuvor gezeigt, die Schwerpunkte auf der Frage nach der verfassungsrechtlichen Gebotenheit staatlichen Handelns zur Angleichung faktischer Unterschiede beim Aufeinandertreffen des Kriteriums Armut mit fundamentalen Rechten sowie im Bereich der Affirmative Action liegen. 4. Kapitel
Konsequenzen der Gleichheitsrechtsprechung für die Gesetzgebung Im Folgenden sollen die Konsequenzen der zuvor dargestellten verfassungsgerichtlichen Gleichheitsrechtsprechung für die Gesetzgebung behandelt werden. Vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung sind dabei zunächst die Rechtsfolgen eines Gleichheitsverstoßes nach dem Urteilsausspruch des Bundesverfassungsgerichts und des U.S. Supreme Court von Bedeutung. Im Anschluss daran ist näher auf die Korrelation von 972
Dazu Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 204 ff. m. w. N. Vgl. BVerfGE 81, 347, 356. 974 Für eine deutliche Unterscheidung von Gleichheitsgarantie und Sozialstaatsprinzip Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 6. 975 Vgl. hierzu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 388 f. 973
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
gleichheitsrechtlichem Prüfungsmaßstab und legislativer Gestaltungsfreiheit im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes und der besonderen Diskriminierungsverbote einzugehen.
A. Urteilsausspruch und Gewaltenteilung I. Bundesrepublik Deutschland Die Rechtsfolgen eines Gleichheitsverstoßes des Gesetzgebers unterscheiden sich vom verfassungswidrigen Eingriff in Freiheitsrechte vor allem dadurch, dass zur Behebung der rechtswidrigen Ungleichbehandlung regelmäßig mehrere Möglichkeiten in Betracht kommen. So kann die erste Vergleichsgruppe wie die zweite behandelt werden, die zweite wie die erste, oder es kann eine neue Regelung getroffen werden, die sich auf beide Gruppen erstreckt.976 Eine besondere Problematik des Urteilsausspruches bei Gleichheitsverstößen durch den Gesetzgeber betrifft demnach den Gesichtspunkt der Gewaltenteilung, da es grundsätzlich nicht Aufgabe der Rechtsprechung ist, als verfassungswidrig erachtete Rechtslagen gestaltend durch die Auswahl einer von mehreren möglichen Alternativen zu beheben. Zu unterscheiden ist zunächst zwischen ungleich vorenthaltenen Begünstigungen und ungleich auferlegten Belastungen. Verletzt eine gesetzliche Regelung aufgrund vorenthaltener Begünstigungen durch die Nichtberücksichtigung einer bestimmten Gruppe den grundrechtlichen Gleichheitssatz, so könnte dieser Gleichheitsverstoß durch das Bundesverfassungsgericht im Wege der Erweiterung der Begünstigung auf den Nichtberücksichtigten oder durch die gänzliche Beseitigung der Vergünstigung behoben werden. Dem Gericht stehen dabei grundsätzlich mehrere Möglichkeiten zur Auswahl: Die gesetzliche Regelung kann gemäß §§ 78, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG für nichtig erklärt werden. Weiterhin kommt die Feststellung der Unvereinbarkeit einer Regelung mit dem Gleichheitsgrundrecht in Betracht, eine Rechtsfolge, die auch in den §§ 31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG ihren Ausdruck gefunden hat. Denkbar erscheint schließlich die Ausdehnung der Begünstigung auf jene Gruppe von Bürgern, denen diese vorenthalten wird. Um dem Gesetzgeber einen möglichst weiten Entscheidungsspielraum darüber zu belassen, wie er dem Gleichheitsgebot der Verfassung zu entsprechen sucht, begnügt sich das Bundesverfassungsgericht vielfach damit, die gleichheitsrechtliche Unvereinbarkeit der überprüften Regelung festzustellen.977 Steht eine Norm mit dem Grundgesetz nicht in Einklang, so kommt 976
Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 40. Zur Entwicklung der Unvereinbarkeitserklärung durch das Bundesverfassungsgericht Seer, NJW 1996, 284 ff. 977
4. Kap.: Konsequenzen für die Gesetzgebung
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zwar grundsätzlich die Nichtigkeitserklärung in Betracht. Hiervon ist jedoch zu Gunsten der bloßen Feststellung der Unvereinbarkeit abzusehen, „wenn der verfassungswidrige Teil der Norm nicht klar abgrenzbar ist, wenn die Verfassungswidrigkeit darin besteht, dass eine Personen- oder Fallgruppe nicht einbezogen worden ist, oder wenn der Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten hat, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen“978. Durch einen solchen Feststellungstenor wird der Gesetzgeber zur Herstellung eines verfassungskonformen Zustands verpflichtet. Diese Verpflichtung erstreckt sich im Grundsatz auf den gesamten von der Feststellung erfassten Zeitraum.979 Der Gesetzgeber ist indes nicht dazu verpflichtet, in seiner Neuregelung auch die bestandskräftig gewordenen Entscheidungen der Verwaltung und der Gerichte zu berücksichtigen.980 Die Erklärung der Unvereinbarkeit führt zudem regelmäßig dazu, dass Gerichte und Verwaltung die betreffenden Normen bis zu einer Neuregelung in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang nicht mehr anwenden dürfen und entsprechende Verfahren auszusetzen haben.981 Bisweilen setzt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber darüber hinaus Fristen, innerhalb derer dieser eine verfassungsgemäße Lösung zu finden hat982 oder trifft Übergangsregelungen, die zum Teil in der vorläufigen Weitergeltung der verfassungswidrigen Norm bestehen, hierüber aber auch hinausgehen können. Im Gegensatz zur damit beschriebenen Unvereinbarkeitsfeststellung enthält die Nichtigkeitserklärung gesetzlicher Bestimmungen bereits insofern ein gestalterisches Element, als eine der Möglichkeiten zur Behebung des konstatierten Gleichheitsverstoßes realisiert wird. Sie erfolgt aus diesem Grunde in der Rechtsprechung nur ausnahmsweise983 und wird im Kontext des Gleichheitsrechts zumeist besonders begründet. Von Zurückhaltung geprägt ist insbesondere der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit richterrechtlichen Ausdehnungen einer gleichheitswidrigen Begünstigung auf bislang nicht erfasste Gruppen. Ein solches Vorgehen erfolgt in der Gleichheitsjudikatur des Gerichts nur unter besonderen Voraussetzungen, da hiermit das Gewaltenteilungsprinzip durchbrochen zu werden droht. Liegt eine Situation des sog. teilweisen Unterlassens des Gesetzgebers vor, das heißt verletzt eine gesetzliche Regelung durch die Nichtberücksichtigung einer bestimmten Gruppe den Gleichheitssatz, so er978
BVerfG, 1 BvR 321/96, 18.1.2000, Rn. 45. BVerfG, 2 BvL 8/95, 27.2.2000, Rn. 27 m. w. N. 980 BVerfG, 2 BvL 8/95, 27.2.2000, Rn. 27. 981 BVerfG, 1 BvR 1926/96, 28.4.1999, Rn. 101. 982 Vgl. etwa BVerfG, 1 BvR 1926/96, 28.4.1999, Rn. 102. 983 Vgl. Rüfner, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (Hrsg.), BK, Art. 3 Abs. 1, Rn. 125 ff. m. w. N. 979
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
streckt das Gericht die Begünstigung lediglich dann auf diese Gruppe, wenn der gebotene gleichheitskonforme Zustand allein auf einem einzigen Wege herbeigeführt werden kann. Hiervon ist insbesondere auszugehen, wenn eine Verfassungsbestimmung bestimmte begünstigende Regelungen erforderlich macht und der Gesetzgeber einer Gruppe die Begünstigung gleichheitswidrig vorenthält984, wenn der Gesetzgeber in Kenntnis des Gleichheitsverstoßes die ausgeschlossene Gruppe mit Sicherheit in die fragliche Regelung einbezogen hätte985 oder wenn er ein Regelungssystem geschaffen hat, an dem er ersichtlich festhalten will und dessen Stimmigkeit die entsprechende Ausdehnung der Begünstigung verlangt986. Zudem muss die Ausdehnung der Begünstigung nach der Gesetzestechnik möglich sein987, indem etwa ein Rechtssatz die Begünstigung allen Bürgern zuspricht, während weitere Normen eine bestimmte Gruppe hiervon ausschließen. In diesem Falle kann durch Aufhebung der einschränkenden Regelungen die Begünstigung auf weitere Gruppen übertragen werden, da das Bundesverfassungsgericht insoweit kassatorisch tätig wird und nicht etwa selbst positiv regelnd eingreift. Bei gleichheitswidrig auferlegten Belastungen kann die angegriffene Vorschrift mit einem kassatorischen Urteil für nichtig erklärt werden, wenn außer Zweifel steht, dass der Gesetzgeber die sonstige gesetzliche Regelung auch ohne den verfassungswidrigen Teil aufrechterhalten hätte.988 Das gleiche gilt, wenn eine Verfassungsbestimmung diese Belastung verbietet. In Betracht kommt jedoch auch bei gleichheitswidrigen Belastungen die bloße Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem grundrechtlichen Gleichheitssatz. Im Grundsatz ist danach festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht eine gesetzliche Regelung wegen Verstoßes gegen den grundrechtlichen Gleichheitssatz im Urteilsausspruch („nur“) für verfassungswidrig erklärt, wenn dieser Verstoß auf unterschiedliche Weise behoben werden kann und somit aufgrund des Prinzips der Gewaltenteilung eine Entscheidung dem Gesetzgeber zusteht. Hingegen kommt die Feststellung der Nichtigkeit eines Gesetzes in Betracht, wenn für die Aufhebung des Gleichheitsverstoßes nur eine Möglichkeit besteht.
984 985 986 987 988
BVerfGE 22, 349, 361 f. BVerfGE 88, 87, 101 f. Vgl. BVerfGE 22, 163, 174 f. Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 232. BVerfGE 4, 219, 250.
4. Kap.: Konsequenzen für die Gesetzgebung
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II. Vereinigte Staaten von Amerika Sofern eine gesetzliche Regelung nach den in dieser Untersuchung dargelegten Maßstäben der Gleichheitsprüfung gegen die equal protection-Klausel verstößt, erklärt sie der U.S. Supreme Court für verfassungswidrig. Für das Verständnis der Tenorierung ist dabei das grundlegende Urteil Marbury v. Madison989 aus dem Jahr 1803 zu beachten. Mit diesem Urteil wurde bereits frühzeitig in der Geschichte der Vereinigten Staaten entschieden, dass dem U.S. Supreme Court trotz fehlender ausdrücklicher Bestimmung in der Verfassung auch die Kompetenz zur Überprüfung von Bundesgesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zukomme. Allerdings besitzt das Gericht bis heute nicht die Kompetenz, als verfassungswidrig erachtete gesetzliche Regelungen für nichtig zu erklären.990 Normen, die gegen das grundrechtliche Gleichheitsgebot verstoßen, werden somit nur für verfassungswidrig erklärt und finden im konkret überprüften Fall keine Anwendung. Dieser bloßen Feststellung eines Verfassungsverstoßes kommt im amerikanischen case law indes erhebliche Bedeutung zu. Zum einen entfaltet sie Präjudizwirkung für die nachfolgenden Entscheidungen des U.S. Supreme Court selbst. Vor dem Hintergrund der stare decisis-Doktrin ist auch der Oberste Bundesgerichtshof grundsätzlich bemüht, seine Rechtsprechung an den tragenden Erwägungen früherer Urteile auszurichten und so zu einer möglichst konsistenten Judikatur zu gelangen: „Although adherence to precedent is not rigidly required in constitutional cases, any departure from the doctrine of stare decisis demands special justification.“991 Überdies sind insbesondere die unteren Gerichte durch die Lehre der stare decisis an die Entscheidungen der übergeordneten Gerichte gebunden und haben damit unter anderem die verfassungsrechtlichen Vorgaben des U.S. Supreme Court bei ihrer Urteilsfindung zu berücksichtigen. Im Ergebnis kommt demnach zumeist die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Regelung aufgrund Verstoßes gegen den Gleichheitssatz der Nichtigkeitserklärung in ihren praktischen Auswirkungen gleich.992
989
Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803); vgl. Brugger, JuS 2003, 320 ff. Vgl. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 20. 991 Arizona v. Rumsey, 467 U.S. 203, 212 (1984). 992 Vgl. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 21; Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 254. 990
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
III. Vergleich Die Tenorierung des U.S. Supreme Court bei Entscheidungen, die Gleichheitsverstöße durch Gesetze betreffen, erklärt die betreffenden gesetzlichen Regelungen für verfassungswidrig. Eine Nichtigkeitserklärung erfolgt mangels verfassungsrechtlicher Kompetenz nicht. Im Gegensatz dazu ist dem Bundesverfassungsgericht in §§ 78, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG die Kompetenz zur Nichtigerklärung von Gesetzen ausdrücklich eingeräumt, es weicht jedoch von dieser Regel wie gesehen häufig zugunsten einer bloßen Unvereinbarkeitserklärung ab. Die Ursache hierfür liegt im Prinzip der Gewaltenteilung begründet, da das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber die Wahl zu überlassen versucht, ob dieser etwa eine Begünstigung auf die bisher Ausgeschlossenen ausdehnen, die tatbestandlichen Voraussetzungen umgestalten oder die Begünstigung ganz abschaffen will. Der Gesetzgeber wird hierdurch, zum Teil unter Setzung einer Frist, auf die Beseitigung des Verfassungsverstoßes verpflichtet. Allerdings kommt bei der Feststellung eines gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses unter engen, oben dargestellten Voraussetzungen, eine Ausdehnung der Begünstigung auch auf nicht erfasste Personengruppen in Betracht. Der U.S. Supreme Court hingegen hat, soweit ersichtlich, eine solche richterrechtliche Ausdehnung der Begünstigung auf bestimmte Personen bislang nicht vorgenommen, sondern sich auf Urteile beschränkt, mit denen der Gleichheitsverstoß als solcher festgestellt wird. Dabei führen die Feststellung der Verfassungswidrigkeit sowie die Nichtigerklärung einer gesetzlichen Einzelregelung im amerikanischen ebenso wie im deutschen Verfassungsrecht nicht automatisch zur Ungültigkeit des ganzen Gesetzes. Hierfür kommt es vielmehr entscheidend darauf an, ob die fragliche Einzelregelung ein so wesentliches und unverzichtbares Element des gesamten Gesetzes darstellt, dass mit ihrer Ungültigkeit zugleich die Zielrichtung und inhaltliche Ausgestaltung des Gesetzes insgesamt erheblich verfälscht würde. Verfassungsgerichtlich gilt es somit zu berücksichtigen, worauf der U.S. Supreme Court in seiner Judikatur nachdrücklich hinweist: „A statute bad in part is not necessarily void in its entirety. Provisions within the legislative power may stand if separable from the bad. But a provision, inherently unobjectionable, cannot be deemed separable unless it appears both that, standing alone, legal effect can be given to it and that the legislature intended the provision to stand, in case others included in the act and held bad should fall.“993 Diese Auffassung stimmt mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überein, das ebenfalls maßgeblich darauf abstellt, ob die verfassungswidrige Regelung einen untrennbaren Bestandteil des gesetzgeberischen Gesamtkonzepts dar993
Dorchy v. State of Kansas, 264 U.S. 286, 289 f. (1924).
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stellt. Gelangt das Gericht im konkreten Fall zu dieser Auffassung, so weist die damit vorgenommene Einschätzung des überprüften Gesetzeswerkes auf die gleiche Rechtsfolge wie im amerikanischen Recht. Danach „verfallen Teile einer in ihrem Kernbestand für verfassungswidrig erkannten Regelung demselben Ausspruch“994.
B. Korrelation von Prüfungsintensität und legislativer Gestaltungsfreiheit Der Umgang von Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court mit dem allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz und den besonderen Diskriminierungsverboten, wie er im Verlauf dieser Untersuchung dargelegt wurde, ist insbesondere vor dem Hintergrund des Gewaltenteilungsprinzips von grundlegender Bedeutung. Dabei sind die Konsequenzen für die Gesetzgebung maßgeblich durch die wechselseitige Abhängigkeit von gleichheitsrechtlicher Prüfungsintensität und legislativer Gestaltungsfreiheit gekennzeichnet. Steigende Anforderungen im Rahmen der Gleichheitsprüfung führen zu einer Reduzierung des Ermessens der Gesetzgebung, während im gegenteiligen Fall der legislative Differenzierungsspielraum995 erhöht wird. Funktionellrechtlich ist demnach im Hinblick auf den verfassungsgerichtlichen Umgang mit allgemeinem Gleichheitsgrundrecht und besonderen Diskriminierungsverboten die Frage verbunden, inwieweit gerichtliche Kontrolle über die Einhaltung des Gleichheitssatzes in Aufgaben des Gesetzgebers eingreift und damit die Kompetenzordnung beeinflusst. I. Richterlicher Aktivismus und judicial self-restraint Die verschiedenen Ausgangspunkte im deutschen und amerikanischen Verfassungstext erklären zu einem wesentlichen Teil das unterschiedliche Gewicht, welches dem Gesichtspunkt von richterlichem Aktivismus bzw. richterlicher Selbstbeschränkung („judicial self-restraint“) im Umgang mit Gleichheitsfragen zukommt. Während das Grundgesetz etwa die diskriminierende Anknüpfung an Merkmale wie Geschlecht, Abstammung, Rasse, Glauben oder Behinderung ausdrücklich untersagt und damit für die gerichtliche Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht vergleichsweise klare Vorgaben enthält, beschränkt sich die amerikanische Verfassung auf die allgemeine Formulierung der equal protection-Klausel im 14. Amendment. Für die entsprechende Herausbildung und Anwendung bestimmter 994 995
BVerfG, 1 BvR 1554/89, 15.7.1998, Rn. 109 m. w. N. Vgl. H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2109.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
verdächtiger oder quasi-verdächtiger Merkmale und fundamentaler Rechte durch den U.S. Supreme Court kommt somit der Frage nach richterlicher Zurückhaltung oder richterlichem Aktivismus in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung ein äußerst großer Stellenwert zu.996 Dies soll zunächst am Differenzierungsmerkmal der Behinderung beispielhaft verdeutlicht werden. Im deutschen Verfassungsrecht ist mit der Einfügung von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG das Verbot der Benachteiligung Behinderter ausdrücklich in das Grundgesetz aufgenommen worden. Es stellt eine besondere Ausprägung des Sozialstaatsprinzips zugunsten Behinderter dar997 und enthält, wie oben ausgeführt998, insbesondere ein subjektives Abwehrrecht gegen diskriminierende Benachteiligungen. Die Einfügung des Benachteiligungsverbotes war dabei in den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission umstritten und wurde schließlich erst im Rahmen eines politischen Kompromisses beschlossen.999 Im Gegensatz zum Umgang des U.S. Supreme Court mit dem Merkmal der Behinderung kann sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Judikatur somit auf Elemente einer Diskussion beziehen, die bereits vom verfassungsändernden Gesetzgeber geführt worden ist, worauf das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung, wie bereits erörtert1000, etwa bei der Auslegung des Begriffs der Behinderung zurückgreift. Im Unterschied zum deutschen Verfassungsrecht ist eine Änderung der amerikanischen Verfassung an deutlich höhere Anforderungen geknüpft, da neben einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Bundesparlamentes die Stimmen von drei Vierteln der einzelnen Bundesstaaten erforderlich sind. Dies hat zur Folge, dass gesellschaftliche Veränderungen nur selten zu Änderungen des Verfassungstextes geführt haben und die Bedeutung der Gerichte, insbesondere des U.S. Supreme Court, umso höher ist, als sie die Interpretation der über 200 Jahre alten Verfassung vor dem Hintergrund sich wandelnder Lebens- und Gesellschaftsverhältnisse vorzunehmen haben. Aufgrund des Fehlens eines ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbotes im Hinblick auf das Merkmal der Behinderung liegt somit die Klärung der Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen legislative Differenzierungen aufgrund von Behinderungen im Rahmen der equal protection-Klausel vorgenommen werden dürfen, bei der 996 Siehe hierzu aus jüngerer Zeit die umfangreiche Studie zur Rechtsprechung des U.S. Supreme Court von Stoevesandt, Aktivismus und Zurückhaltung im United States Supreme Court. 997 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 3, Rn. 174 f. 998 Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 3. 999 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 382 m. w. N. 1000 Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 3.
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Rechtsprechung. Der grundrechtliche Gleichheitssatz im 14. Amendment liefert hierfür keine konkreten Anhaltspunkte, so dass mit der Entscheidung des U.S. Supreme Court über das anzuwendende Prüfungsniveau zugleich kompetenzrechtlich bedeutsame Abgrenzungen zwischen Legislative und Judikative verbunden sind. Der Umgang des U.S. Supreme Court mit Ungleichbehandlungen aufgrund von (geistigen) Behinderungen steht dabei exemplarisch für eine zurückhaltende richterliche Überprüfung von Maßnahmen des Gesetzgebers. Die Erwägungen des Gerichts kommen in diesem Zusammenhang in der bereits behandelten Entscheidung Cleburne v. Cleburne Living Center1001 deutlich zum Ausdruck. Darin wird insbesondere auf die Frage eingegangen, inwieweit Regelungen des Gesetzgebers im Hinblick auf geistig Behinderte unter Gleichheitsgesichtspunkten gerichtlich überprüfbar sind. Richter White erklärte in der von ihm formulierten Mehrheitsentscheidung des U.S. Supreme Court zur Gruppe der geistig behinderten Menschen: „How this large and diversified group is to be treated under the law is a difficult and often a technical matter, very much a task for legislators guided by qualified professionals and not by the perhaps ill-informed opinions of the judiciary. Heightened scrutiny inevitably involves substantive judgments about legislative decisions, and we doubt that the predicate for such judicial oversight is present where the classification deals with mental retardation.“1002 Das Gericht betont damit die vorrangige Kompetenz des Gesetzgebers, Belange der geistig Behinderten einzuschätzen und entsprechende Regelungen zu treffen, die dem grundrechtlichen Gleichheitsgebot entsprechen. Gleichzeitig begründet es die eigene Zurückhaltung mit der Komplexität der Materie, weshalb es in erster Linie der legislativen Gestaltungsfreiheit überlassen bleiben solle, angemessene Gesetze zu verabschieden.1003 Methodisches Korrelat dieses weiten gesetzgeberischen Ermessens ist eine verminderte gerichtliche Kontrolldichte, die in der Anwendung des durchlässigen Rational Basis Test ihren Ausdruck findet. Die Problematik eines solchen niedrigen Prüfungsniveaus wurde bereits angedeutet1004: Bei genauer Befolgung der vom U.S. Supreme Court entwickelten durchlässigen Voraussetzungen des weiten Prüfungsmaßstabes sind gesetzgeberische Regelungen fast ausnahmslos als verfassungsgemäß 1001 Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432 (1985); vgl. hierzu Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. III. 1002 Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432, 443 f. (1985). 1003 Zu verminderter Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts bei „komplexen Sachverhalten“ vgl. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 256. 1004 Vgl. Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. III.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
zu beurteilen, weshalb das Gericht in Cleburne v. Cleburne Living Center die gegenüber geistig Behinderten als diskriminierend empfundene Regelung unter verdeckter Erhöhung des Prüfungsniveaus als gleichheitswidrig beurteilte. Dies wurde unter anderem von dem dissentierenden Richter Marshall kritisiert, dessen Auffassung sich die Richter Brennan und Blackmun anschlossen. Danach führe der Umstand, dass geistig Behinderte in einer langen und tragischen Geschichte von Segregation und Diskriminierung benachteiligt worden seien zur Anwendung des mittleren gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes.1005 Vergleichbare Probleme bezüglich der von der equal protection-Klausel gebotenen Rechtfertigungsintensität gibt es bei Differenzierungen aufgrund von Alter, Armut oder Homosexualität, bei denen jeweils der Rational Basis Test zur Anwendung gelangt, teilweise jedoch Tendenzen zu einer verdeckten Anhebung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsniveaus festzustellen sind. Für die Gesetzgebung hat die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zur Konsequenz, dass im Hinblick auf die Verwendung der angesprochenen Unterscheidungskriterien grundsätzlich ein weiter legislativer Gestaltungsspielraum besteht und Regelungen nur daraufhin überprüft werden, ob sie in irgendeiner rationalen Beziehung zu einem legitimen öffentlichen Interesse stehen. Weitere Folge der beschriebenen Unsicherheiten über das tatsächlich angewandte Prüfungsniveau ist ein gewisser Mangel an Rechtssicherheit hinsichtlich der zu erwartenden gerichtlichen Kontrolldichte. Insgesamt bleibt jedoch insoweit festzustellen, dass im Gegensatz zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG enthaltenen besonderen Diskriminierungsverbot gegenüber Behinderten dem amerikanischen Gesetzgeber durch die Verfassungsrechtsprechung des U.S. Supreme Court in diesem Bereich weitergehende Gestaltungsfreiheit eingeräumt wird, da das Gericht hierbei regelmäßig nur eine zurückhaltende Kontrollfunktion ausübt.1006 Im Gegensatz zu der zuvor behandelten Form richterlicher Selbstbeschränkung trat der U.S. Supreme Court unter Chief Justice Warren in den Jahren ab 1953 in eine Phase des richterlichen Aktivismus ein, in der insbesondere die due process-Klausel sowie die equal protection-Garantie forcierte Anwendung fanden. So wurden etwa verstärkt Anstrengungen zur Durchsetzung der Wahlrechtsgleichheit unternommen und die Gleichheit im 1005 Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432, 470 (1985) (Marshall, Brennan, Blackmun, concurring in the judgment in part and dissenting in part): „The fact that retardation may be deemed a constitutional irrelevancy in some circumstances is enough, given the history of discrimination the retarded have suffered, to require careful judicial review of classifications singling out the retarded for special burdens.“ 1006 Vgl. Heller v. Doe, 509 U.S. 312, 320 f. (1993) m. w. N.
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Bereich des Strafprozessrechts verankert. Mit besonderem Nachdruck intensivierte der Warren Court darüber hinaus vor allem die Anwendung und Auslegung des Gleichheitsgrundrechts im Hinblick auf die Gleichstellung der Schwarzen und anderer Minderheiten. So leitete die mehrfach erwähnte, von Warren verfasste grundlegende Entscheidung Brown v. Board of Education1007 aus dem Jahre 1954 das Ende der „separate but equal“-Doktrin ein, indem festgestellt wurde, dass die Rassentrennung von Kindern in öffentlichen Schulen die Schwarzen als minderwertig stigmatisiere und daher ihre Entwicklungschancen massiv beeinträchtige. Das nach Rassen getrennte öffentliche Schulsystem wurde aus diesem Grunde als Verstoß gegen den Gleichheitssatz für verfassungswidrig erklärt.1008 Ein Jahr darauf erging eine zweite Entscheidung Brown v. Board of Education1009, in der das Gericht die tatsächliche Aufhebung der Rassentrennung im öffentlichen Schulwesen anmahnte und dabei die Verpflichtung zur Durchsetzung schulischer Integration „with all deliberate speed“1010 aussprach. In der Folgezeit ging der U.S. Supreme Court unter Chief Justice Warren über den Gehalt der Brown-Entscheidungen deutlich hinaus. Waren diese noch auf den Schulsektor begrenzt gewesen, so wurden nun Praktiken der Rassentrennung in zahlreichen weiteren öffentlichen Bereichen – etwa öffentlichen Verkehrsmitteln, Schwimmbädern und Stränden, Parks, Sportplätzen oder Gerichtssälen – überprüft und unter Berufung auf die Leitentscheidung Brown v. Board of Education in kurzer Folge für verfassungswidrig erklärt. Damit begann eine Phase aktivistischer Rechtsprechung durch den U.S. Supreme Court, in der dieser unter anderem den Katalog der als fundamental erachteten Rechte ausdehnte sowie weitere Unterscheidungskriterien wie Unehelichkeit oder Armut nach einer erhöhten gleichheitsrechtlichen Prüfungsintensität beurteilte. Während der U.S. Supreme Court unter Präsident Franklin Delano Roosevelt zunächst vor allem als Gegenspieler der Legislative und des Präsidenten in Erscheinung getreten war, wurde der Warren Court so zwischen 1953 und 1969 zum bedeutenden Schrittmacher von Grundrechtsentwicklung und Bürgerrechtsbewegung.1011 Vor diesem Hintergrund geriet das Gericht indes zunehmend in die Kritik vornehmlich konservativer Kreise, seine verfassungsrechtlichen Kompetenzen zu überschreiten, indem es selbst 1007
Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483 (1954). Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483, 495 (1954). 1009 Brown v. Board of Education of Topeka, 349 U.S. 294 (1955). Zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Brown-Entscheidungen vgl. Jackson, Even the Children of Strangers, S. 86 ff. 1010 Brown v. Board of Education of Topeka, 349 U.S. 294, 300 f. (1955). Zur Umsetzung dieser Forderung siehe Graglia, Disaster by Decree. The Supreme Court Decisions on Race and the Schools, S. 33 ff. 1008
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
politisch gestaltend tätig werde und damit in unzulässiger Weise Funktionen der Gesetzgebung für sich beanspruche. Im Hinblick auf die einsetzende Bürgerrechtsgesetzgebung gewährte der U.S. Supreme Court dem Gesetzgeber einen grundsätzlich weiten Spielraum. Auf der anderen Seite wurde der gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test etabliert, da man die geringen Anforderungen des traditionellen Rational Basis Test als unzureichend befand, um einen angemessenen grundrechtlichen Gleichheitsschutz besonders gefährdeter Gruppen und fundamentaler Interessen zu gewährleisten. Insbesondere die Differenzierungskriterien Rasse, nationale Herkunft und Fremdenstatus1012 werden somit bis heute den höchsten Prüfungsanforderungen unterstellt. Die Konsequenzen dieser intensiveren Überprüfung des Gleichheitsgrundrechts für die Gesetzgebung sind tief greifend. Bei der Anwendung des traditionellen weiten Rational Basis Test liegt der Schwerpunkt der Anforderungen an die Legislative bei der bloßen „Vernünftigkeit“ der getroffenen Regelung. Das Verhältnis von Mittel und Zweck ist demnach so weit gefasst, dass dem Gesetzgeber ein großer Ermessensspielraum verbleibt, um Differenzierungen gleichheitskonform zu begründen. Ein solcher Ermessensspielraum wird dem Gesetzgeber hingegen bei Ungleichbehandlungen aufgrund von Rasse, nationaler Herkunft und Fremdenstatus versagt, da ihm im Rahmen des Strict Scrutiny Test auferlegt wird, nur solche Mittel zu wählen, die zur Erreichung des Zieles unbedingt notwendig sind.1013 Zudem unterliegt darüber hinaus das Ziel selbst einer strengen gerichtlichen Überprüfung. Auch im deutschen Verfassungsrecht sind Differenzierungen des Gesetzgebers aufgrund von Rasse und Heimat durch die Aufzählung als besondere Diskriminierungsverbote in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG untersagt. Hingegen ist der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit dem Fremdenstatus dadurch gekennzeichnet, dass die Staatsangehörigkeit nicht unter den Begriff der Heimat fallen soll.1014 Differenzierungen wegen der Nationalität sind somit am allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz zu messen, weshalb die deutsche Verfassungsrechtsprechung dem Gesetzgeber insoweit grundsätzlich größere Gestaltungsfreiheit einräumt, als dies dem amerikanischen Gesetzgeber durch den Umgang des U.S. Supreme Court mit dem Merkmal Fremdenstatus zugestanden wird. 1011
Vgl. Schwartz, A History of the Supreme Court, S. 263 ff.; Graham, The Civil Rights Era, S. 366 ff.; Kahn, The Supreme Court and Constitutional Theory, 1953–1993, S. 30 ff. 1012 Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (2). Hinsichtlich der Anwendung des Strict Scrutiny Test auf den Fremdenstatus gelten allerdings die im Zweiten Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (2) (b) dargelegten Einschränkungen. 1013 Vgl. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 41. 1014 BVerfGE 51, 1, 30.
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Während der gleichheitsrechtliche Umgang des U.S. Supreme Court mit den zuvor beschriebenen Klassifizierungen auch gegenwärtig in der Tradition der Entscheidungen des Warren Court steht, führte die Kritik an dessen aktivistischer Ausrichtung nach der Amtsniederlegung von Chief Justice Warren im Jahre 1969 dazu, dass das nunmehr unter Chief Justice Burger tagende Gericht jedenfalls in manchen Bereichen eine eher zurückhaltende Position hinsichtlich der Auslegung der equal protection-Klausel einnahm. So wurde etwa die Unehelichkeit nicht als „verdächtiges“, den striktesten Prüfungsmaßstab auslösendes Differenzierungskriterium etabliert, sondern den vermittelnden Anforderungen des Intermediate Scrutiny Test unterstellt. Auf Ablehnung stieß auch die Verdächtigkeits-Qualifizierung des Differenzierungskriteriums der Armut – einem Merkmal, dessen klassifizierende Verwendung in der Zeit des Warren Court noch als „traditionally disfavored“1015 bezeichnet worden war. Der U.S. Supreme Court unter Chief Justice Burger betonte demgegenüber in Fragen des grundrechtlichen Gleichheitsschutzes wieder stärker die Kompetenz des Gesetzgebers, sich mit der angemessenen Lösung sozialer und wirtschaftlicher Problemlagen zu befassen. Vor diesem Hintergrund urteilte das Gericht in San Antonio School District v. Rodriguez1016 1973 auch zurückhaltend, als es über die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit der Finanzierung des Schulsystems im Bundesstaat Texas zu befinden hatte. In Texas erfolgte ein wesentlicher Teil der Finanzierung von Schulen in den einzelnen Schulbezirken aus den dort erhobenen Vermögenssteuern. Während so etwa im ärmeren Schulbezirk Edgewood $ 356 je Schüler zur Verfügung standen, waren es im wohlhabenderen Bezirk Alamo Heights je $ 594. Der U.S. Supreme Court vermochte hierin einen Verstoß gegen den grundrechtlichen Gleichheitssatz nicht zu erkennen. Unter vorsichtiger Abkehr von den aktivistischen Tendenzen der vorherigen Gleichheitsrechtsprechung ließ das Gericht entsprechenden Entscheidungen des Warren Court eine einschränkende Interpretation zuteil werden. Dort habe es sich bei Klassifikationen, die die Vermögensverhältnisse betrafen, jeweils um den gänzlichen Ausschluss unbegüterter Personen von der begehrten Leistung gehandelt. Nur eine solche „absolute deprivation of a meaningful opportunity to enjoy that benefit“ wie im oben1017 untersuchten Fall Griffin v. Illinois habe zum Verdikt der Gleichheitswidrigkeit geführt.1018 Hingegen fehle es im vorliegenden Fall an einer hinreichend abgrenzbaren Gruppe von Opfern ebenso wie an einem absoluten Ausschluss vom Gut schulischer 1015 1016 1017 1018
Harper v. Virginia Board of Elections, 383 U.S. 663, 668 (1966). San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1 (1973). Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb), (2). San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 20 f. (1973).
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Bildung.1019 Eine Ausdehnung der bisherigen Rechtsprechung auf solche Konstellationen lehnte der U.S. Supreme Court ab. Fehlte es somit nach Auffassung des Gerichts an einer verdächtigen Klassifizierung, so kam es für die von den Klägern geforderte Anwendung des Strict Scrutiny-Standards nunmehr entscheidend darauf an, ob schulische Bildung ein als fundamental zu bewertendes Recht darstelle. In seinem Urteil bekräftigt der U.S. Supreme Court zunächst die bekannte Formulierung aus Brown v. Board of Education, wonach „education is perhaps the most important function of state and local governments“1020. Trotz dieser unbestritten besonders großen Bedeutung von Bildung wird indes die Annahme eines fundamentalen Rechts und damit die Gebotenheit der strikten Gleichheitsprüfung verneint. Hierfür könne es nicht ausreichen, auf die besondere gesellschaftliche Bedeutung bestimmter Güter abzustellen. Überlasse man es der verfassungsgerichtlichen Einschätzung, welchen Rechten ein so hoher Stellenwert beizumessen sei, um sie als „fundamental“ zu qualifizieren, so bringe man den Obersten Bundesgerichtshof in die Position einer Super-Legislative: „We would, indeed, then be assuming a legislative role and one for which the Court lacks both authority and competence.“1021 Aus diesem Grunde könnten alleine ausdrücklich oder zumindest implizit in der Verfassung gewährleistete Rechte als fundamental betrachtet und damit dem gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab des Strict Scrutiny Test unterstellt werden. Das Recht auf Bildung indes zähle nicht zu den so angesprochenen Rechten, weshalb entsprechende Ungleichbehandlungen nur den Anforderungen des weiten Rationalitätstests zu genügen hätten. Ausdrücklich weist das Gericht zudem daraufhin, dass die Behandlung von sozialen und ökonomischen Problemlagen regelmäßig der Legislative obliege, nicht jedoch zu den allgemeinen Aufgaben der Verfassungsrechtsprechung gehöre1022, weshalb die vorherige, aktivistische Ausrichtung in der Folgezeit tendenziell zugunsten einer verminderten gleichheitsrechtlichen Kontrolldichte gegenüber dem Gesetzgeber aufgegeben wurde. Diese Rechtsprechungsänderung erfolgte insbesondere vor dem Hintergrund scharfer Kritik an der vom Warren Court praktizierten Methode der Verfassungsauslegung. Bis heute kommt der Auseinandersetzung hierüber sowohl für das Verständnis der equal protection-Klausel als auch für das Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung überaus große Bedeutung zu.
1019
San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 25 (1973). San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 29 (1973) unter Verweis auf Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483, 493 (1954). 1021 San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 29, 31 (1973). 1022 San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 29, 32 f. (1973). 1020
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II. Methode der Verfassungsauslegung Der Umgang des Warren Court mit der Gleichheitsgarantie des 14. Amendment ist maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass das Gericht vielfach eine teleologisch orientierte Auslegung vornahm und dabei erklärte, grundrechtlicher Gleichheitsschutz sei im Laufe der Zeit Wandlungen unterworfen. Insbesondere, so führte das Gericht aus, sei die equal protectionKlausel „not shackled to the political theory of a particular era. In determining what lines are unconstitutionally discriminatory, we have never been confined to historic notions of equality . . . . Notions of what constitutes equal treatment for purposes of the Equal Protection Clause do change.“1023 Eine solche, die Veränderlichkeit der Verfassungsauslegung in Abhängigkeit vom zeitlichen Kontext betonende Auffassung steht in starkem Kontrast zur historischen Auslegungsmethode, der im amerikanischen Verfassungsrecht insgesamt weitaus größere Bedeutung zukommt als in der deutschen Verfassungsrechtsprechung. Historische Auslegung meint dabei in diesem Zusammenhang nach amerikanischem Verständnis subjektiv-historische Auslegung, das heißt die Untersuchung der Vorstellungen und Absichten jener vielfach glorifizierten Verfassungsväter, deren „original intent“1024 für die Verfassungsinterpretation maßgeblich sein soll. Von dieser Orientierung an den Vorstellungen der „Framers of the Constitution“ hat sich der U.S. Supreme Court im Laufe seiner wechselvollen Gleichheitsrechtsprechung in erheblich unterschiedlichem Maße leiten lassen. So weist das Gericht zum Teil ausdrücklich daraufhin, dass dem Grundrechtsverständnis derjenigen, die das 14. Amendment ratifizierten, entscheidende Bedeutung zukomme.1025 Hingegen betonte das Gericht in der von Chief Justice Warren verfassten Entscheidung Brown v. Board of Education von 1954, die zu beurteilenden Gleichheitsfragen ließen sich nicht dadurch beantworten, dass man „die Uhr auf das Jahr 1868 zurückdrehe“, als das 14. Amendment verabschiedet wurde.1026 Vehemente Kritik erfährt die damit gekennzeichnete Auffassung Warrens indes von den Vertretern einer stärker historisch ausgerichteten Interpretationsmethode, zu denen etwa Chief Justice Rehnquist, Justice Scalia, Justice Thomas oder auch der 1987 von Präsident Reagan für den U.S. Supreme Court nominierte Robert H. Bork1027 gehören. Borks prononcierte Befürwortung einer Ver1023
Harper v. Virginia Board of Elections, 383 U.S. 663, 669 (1966). Ausführlich dazu Levy, Original Intent and the Framers’ Constitution; Rakove (Hrsg.), Interpreting the Constitution. The Debate over Original Intent. 1025 Richardson v. Ramirez, 418 U.S. 24, 54 (1974). 1026 Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483, 492 (1954). 1027 Zu den Auseinandersetzungen um die Nominierung Borks vgl. Bronner, Battle for Justice: How the Bork Nomination Shook America. 1024
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
fassungsinterpretation im Sinne der „Original Intention“ führte zu einer breiten öffentlichen Diskussion über seine Berufung zum Obersten Bundesgerichtshof, für die sich schließlich im Senat keine Mehrheit fand. Trotz beträchtlicher Meinungsunterschiede im Einzelnen verbindet die Fürsprecher der historischen Verfassungsauslegung ihre deutlich kritische Position gegenüber als unzulässig erachteten Öffnungen der Verfassungsinterpretation für ideologische und moralische Wertvorstellungen des urteilenden Richters. Dabei geht es im Kern um jenen Vorwurf, den ein viel beachtetes Symposium des konservativen Magazins First Things von 1996 zum Titel wählte und das in der Folgezeit erneut Anlass zu erheblichen Kontroversen gab1028: Unter der Überschrift „The End of Democracy? The Judicial Usurpation of Politics“ sah sich der U.S. Supreme Court vehementen Angriffen ausgesetzt, seine Machtfülle in expansiver Weise ohne Legitimation durch die Verfassung auf Kosten des Gesetzgebers ausgedehnt zu haben. Erneut war es Bork, der den Tenor des Symposiums prägnant zusammenfasste, als er erklärte: „This last term of the Supreme Court brought home to us with fresh clarity what it means to be ruled by an oligarchy. The most important moral, political, and cultural decisions affecting our lives are steadily being removed from democratic control. . . . A majority of the court routinely enacts its own preference as the command of our [Constitution]. . . . [A] majority of justices have decided to rule us without any warrant in law.“1029 Diese dem U.S. Supreme Court vorgeworfene widerrechtliche Inanspruchnahme von Kompetenzen, die nach der historischen Auslegung durch Proponenten eines „original intent“ angeblich dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben sollten, bezieht sich auf ein breites Spektrum verfassungsrechtlicher Streitfragen.1030 Im Rahmen der equal protection-Klausel wird die Auseinandersetzung über die Bedeutung einer historischen Verfassungsinterpretation so etwa bei der gerichtlichen Überprüfung von Differenzierungen aufgrund des Geschlechts oder bei der Bewertung von Maßnahmen der Affirmative Action besonders intensiv geführt. Bei einer historischen Auslegung der equal protection-Klausel ist zunächst festzustellen, dass sich die grundrechtliche Gleichheitsgarantie des 14. Amendment, wie im ersten Kapitel dieses Teils der Untersuchung dargestellt wurde, ursprünglich auf die Gleichstellung der Rassen und nicht auf 1028 Die Beiträge des Symposiums sowie eine Zusammenstellung wichtiger Reaktionen hierauf bei Muncy (Hrsg.), The End of Democracy? The Celebrated First Things Debate with Arguments Pro and Con. 1029 Bork, Our Judicial Oligarchy, in: Muncy (Hrsg.), The End of Democracy? The Celebrated First Things Debate with Arguments Pro and Con, S. 10, 14. 1030 Vgl. dazu die Beiträge von Bork, Hittinger, Arkes, Colson und George in Muncy (Hrsg.), The End of Democracy? The Celebrated First Things Debate with Arguments Pro and Con, S. 10–62.
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die Gleichstellung der Geschlechter bezog.1031 Vor dem Hintergrund der Sklavenfrage zielte die Regelung zudem speziell auf die Rechte der Schwarzen, deren rechtlicher Status angesichts der diskriminierenden Gesetzgebung durch die Südstaaten gesichert werden sollte.1032 Dem steht der vermeintlich eindeutige, offen gehaltene Wortlaut der equal protectionKlausel gegenüber, die sich ihrer Formulierung nach nicht speziell auf das Merkmal der Rasse bezieht. Dennoch vertrat der U.S. Supreme Court wie gesehen in den Slaughterhouse Cases zunächst die Auffassung, dass sich die Gleichheitsgarantie aufgrund einer historischen Interpretation wohl nur auf die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung anwenden lasse. Wenngleich diese Zweifel in der nachfolgenden Gleichheitsrechtsprechung des Gerichts bald abgelegt wurden und sich die Gesetzgebung auch bezüglich anderer Klassifizierungen an den Anforderungen der equal protection-Klausel zu orientieren hatte, so bleibt der historische Interpretationsansatz zum 14. Amendment bis heute von Bedeutung und wird durch die Richter des U.S. Supreme Court in unterschiedlicher Weise zur Geltung gebracht.1033 In der bereits dargestellten Ausgangsentscheidung zu Affirmative ActionMaßnahmen, Regents of the University of California v. Bakke1034, kommen die unterschiedlichen Akzentuierungen des entstehungsgeschichtlichen Hintergrundes der Gleichheitsgarantie besonders deutlich zum Ausdruck. So führt Richter Powell in seiner Urteilsbegründung aus, dass der Gleichheitssatz des 14. Amendment zwar von vielen der an seiner Einführung beteiligten „Framers“ vorrangig im Hinblick auf die Gleichstellung der Schwarzen verankert worden sei. Dies könne indes nichts an dem Umstand ändern, dass man eine allgemeine, universale Formulierung gewählt habe, deren Schutz sich gleichermaßen auf alle wegen ihrer Rasse benachteiligten Gruppen erstrecke: „The guarantee of equal protection cannot mean one thing when applied to one individual and something else when applied to a person of another color. If both are not accorded the same protection, then it is not equal.“1035 Diese Auslegung der Bestimmung versucht Powell zudem mit der Vermutung zu stützen, unter den Framers hätten viele einer solchen allgemeinen Interpretation des Gleichheitssatzes durchaus zugestimmt.1036 Weiße dürften deshalb rechtlich nicht schlechter behandelt werden als Schwarze, weshalb auch kompensatorisch motivierte Differenzierungen zu1031
Zweiter Teil, 1. Kapitel, B. VII. Zu den „black codes“ der Südstaaten vgl. Zweiter Teil, 2. Kapitel, A. II. 1. 1033 Zu zeitgenössischen Strömungen in der amerikanischen Verfassungsinterpretation vgl. Bungert, AöR 117 (1992), 71 ff. 1034 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265 (1978). 1035 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 289 f. (1978). 1036 Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 293 (1978). 1032
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
gunsten von Schwarzen nach dem striktesten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstab beurteilt werden müssten. Hingegen weist Richter Brennan in seiner Begründung darauf hin, dass die equal protection-Klausel gerade vor dem Hintergrund der Sklavenproblematik entstanden und gegen die rassische Diskriminierung von Schwarzen gerichtet gewesen sei. Trotz dieses Entstehungszusammenhangs jedoch habe man die verfassungsrechtliche Ausformung des Gleichheitsgedankens zunächst dazu herangezogen, um die Segregation der schwarzen Bevölkerung zu legitimieren – „the Clause was early turned against those whom it was intended to set free, condemning them to a ‚separate but equal‘ status before the law“1037. Brennan betont, dass rassische Diskriminierungen nicht der Vergangenheit angehörten, sondern auch ein Problem der Gegenwart darstellten. Angesichts dieser Situation erscheine es kurzsichtig, unter der Formel einer angeblich „farbenblinden“ Verfassung von der Wirklichkeit abzusehen, in der rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierungen von Minderheiten noch immer eine bedeutende Rolle spielten.1038 Da es bei Affirmative Action um Maßnahmen zum Ausgleich der beschriebenen langen Tradition von Diskriminierungspraktiken gehe und Weiße zudem keine traditionell benachteiligte Gruppe bildeten, seien entsprechende Maßnahmen nicht dem striktesten Prüfungsmaßstab zu unterstellen, sondern nur nach dem vermittelnden Test zu beurteilen.1039 Auch Richter Marshall, seit 1967 der erste schwarze Richter am U.S. Supreme Court, geht ausführlich auf die amerikanische Geschichte der Sklaverei und Rassendiskriminierung ein.1040 Die Gleichheitsklausel des 14. Amendment habe ursprünglich darauf abgezielt, den aus dem Sklavenstatus befreiten Schwarzen Schutz zu bieten vor weiterer Unterdrückung und Diskriminierung. Gehe es um die bis in die Gegenwart reichenden Folgen der im 19. und 20. Jahrhundert weit verbreiteten rechtlichen und gesellschaftlichen Unterdrückung der Schwarzen, so könne deren Aufhebung nicht an einer Interpretation des Gleichheitsgrundrechts scheitern, die im Widerspruch zu den damit ursprünglich verfolgten Zielen stehe. Ein solches Resultat, so Marshall, „would pervert the intent of the Framers by substituting abstract equality for the genuine equality the Amendment was intended to achieve“1041. Vor diesem Hintergrund einer historischen Auslegung des Gleichheitssatzes hält Marshall in jenen Fällen, in denen der Ausgleich früherer Diskriminierungen angestrebt wird, einen asymmetrischen Gleichheits1037 1038 1039 1040 1041
Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 326 f. (1978). Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 326 f. (1978). Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 357 ff. (1978). Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 387 ff. (1978). Regents of the University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 398 (1978).
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schutz durch die equal protection-Klausel für geboten: Entsprechende staatliche Maßnahmen zu Gunsten der schwarzen Bevölkerung werden daher als gleichheitsrechtlich zulässig erachtet und mit der besonders intensiven Leidensgeschichte von Unterdrückung und Ausgrenzung begründet.1042 Neben Ungleichbehandlungen aufgrund der Rasse sind es weiterhin insbesondere Differenzierungen wegen des Geschlechts, bei deren Bewertung der U.S. Supreme Court bzw. einzelne Richter des Gerichts wiederholt auf historische Erwägungen zur Auslegung der equal protection-Klausel Bezug nehmen. Dies geschieht zumeist, um die Wahl des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes und damit die gerichtliche Kontrolldichte gegenüber dem Gesetzgeber zu begründen. Beispielhaft sei insofern auf die oben bereits dargestellte1043 Leitentscheidung Craig v. Boren1044 hingewiesen, mit der die Richtermehrheit des U.S. Supreme Court den neuen Prüfungsmaßstab des Intermediate Scrutiny Test in die Gleichheitsrechtsprechung einführte. Aufschlussreich sind hier insbesondere die abweichenden Meinungen jener beiden Richter, die sich gegen die Etablierung eines dritten, vermittelnden Prüfungsmaßstabes aussprachen und bei geschlechtsbezogenen Klassifizierungen allein den durchlässigen Rational Basis Test zur Anwendung bringen wollten. Sowohl der damalige Chief Justice Burger, als auch sein Nachfolger im Amt des Chief Justice, Rehnquist, vermochten keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Anhebung der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen gegenüber dem traditionellen Rationalitätstest zu erkennen und gelangten daher zur Verfassungsmäßigkeit der überprüften Regelung. Die dissentierenden Richter betonten, für das Vorgehen der Gerichtsmehrheit fehle es an einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Grundlage. Den Kern dieser Auffassung fasste Chief Justice Burger mit den Worten zusammen: „Without an independent constitutional basis supporting the right asserted or disfavoring the classification adopted, I can justify no substantive constitutional protection other than the normal . . . protection afforded by the Equal Protection Clause.“1045 Bemerkenswert an dieser Aussage zur verfassungsgerichtlichen Beschränkung auf den „normalen“ Rationalitätsstandard ist insbesondere die damit implizierte historische Auslegung der grundrechtlichen Gleichheitsgarantie, die allerdings erst offenbar wird, wenn man den Vergleich mit dem gerichtlichen Prüfungsmaßstab bei rassischen Klassifizierungen berücksichtigt. Innerhalb des U.S. Supreme Court ist insoweit unumstritten, dass Ungleichbe1042 Regents of the (1978). 1043 Zweiter Teil, 3. 1044 Craig v. Boren, 1045 Craig v. Boren,
University of California v. Bakke, 438 U.S. 265, 400 ff. Kapitel, B. II. 2. a) bb). 429 U.S. 190 (1976). 429 U.S. 190, 217 (1976) (Burger, dissenting).
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handlungen aufgrund der Rasse grundsätzlich als verdächtig anzusehen und nach dem Strict Scrutiny Test zu beurteilen sind.1046 Wenn Burger nun auf das Fehlen einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Basis für die Bestimmung der Rechtfertigungsintensität bei Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts hinweist, so schließt diese Annahme zunächst die Voraussetzung ein, dass es für das Merkmal Geschlecht (anders als für das Merkmal der Rasse) überhaupt einer besonderen Verfassungsgrundlage bedarf, um das gleichheitsrechtliche Prüfungsniveau zu steigern. Der maßgebliche Grund für die darin zum Ausdruck kommende Besonderheit, wonach trotz der allgemeinen Formulierung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes im 14. Amendment bei rassischen Klassifizierungen keine weitere „independent constitutional basis“ erforderlich sein soll, um die Kontrolldichte auf das Niveau des Strict Scrutiny Test anzuheben, liegt in der Entstehungsgeschichte der Vorschrift begründet: Erneut ist es die ursprünglich mit der Gleichheitsgarantie verfolgte Intention, rassisch motivierte Diskriminierungen der schwarzen Bevölkerung zu verhindern, die nach (insoweit einhelliger) Auffassung der Richter des U.S. Supreme Court einen rechtlichen Sonderstatus des Differenzierungskriteriums Rasse legitimiert. Besonders deutlich wird dieser durch Abstellen auf den „original intent“ im Wege historischer Interpretation gewonnene Sonderstatus auch im Rahmen umfangreicher Diskussionen, die in der amerikanischen Verfassungslehre über Reichweite und Aussagekraft so genannter „Race-Gender Analogien“ geführt werden.1047 Dabei geht es vorrangig um die Frage, ob das Unterscheidungsmerkmal des Geschlechts so weitgehende Parallelen mit dem der Rasse aufweist, dass es in analoger Weise zu behandeln und damit gleichheitsrechtlich ebenfalls einer erheblich intensivierten Rechtfertigungsprüfung zu unterziehen ist. Die dogmatischen Implikationen der damit angesprochenen Diskussion für den grundrechtlich gewährleisteten Gleichheitsschutz werden im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer zu untersuchen sein. An dieser Stelle bleibt zunächst zu konstatieren, dass die für rassische Ungleichbehandlungen etablierte historische Methode der Verfassungsauslegung bei der Berücksichtigung von Race-Gender Analogien eine indirekte Ausweitung erfahren kann, indem der Prüfungsmaßstab bei geschlechtsbezogenen Differenzierungen mittelbar auf originalistische Erwägungen zum Merkmal der Rasse zurückgeführt wird. Beispielhaft für ein 1046 Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (2) (a). Anderes gilt wie gesehen für die im Einzelnen umstrittene Beurteilung von Maßnahmen der Affirmative Action, bei der jedoch ebenfalls die Mehrzahl der Richter des U.S. Supreme Court den Strict Scrutiny Test zur Anwendung bringt; hierzu Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. I. 2. 1047 Einen guten Überblick über die Entwicklung von Race-Gender Analogien im amerikanischen Rechtssystem gibt Mayeri, 110 Yale Law Journal 2001, 1045 ff.
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solches Vorgehen des U.S. Supreme Court steht die Urteilsbegründung des Richters Brennan in der Entscheidung Frontiero v. Richardson1048. Vier Richter sprachen sich hier dafür aus, den Strict Scrutiny Test bei geschlechtsbezogenen Differenzierungen ebenso anzuwenden wie bei rassischen Klassifizierungen. Zur Begründung erklärte Brennan, dass die Situation der Frauen in der amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit der der schwarzen Sklaven vor dem Bürgerkrieg in vielen Aspekten vergleichbar gewesen sei: „Neither slaves nor women could hold office, serve on juries, or bring suit in their own names, and married women traditionally were denied the legal capacity to hold or convey property or to serve as legal guardians of their own children. . . . And although blacks were guaranteed the right to vote in 1870, women were denied even that right. . . .“1049 Zudem werden weitere strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Merkmalen Rasse und Geschlecht hervorgehoben, so insbesondere deren Unveränderlichkeit und Sichtbarkeit.1050 Aufgrund der damit in den Vordergrund gestellten Übereinstimmungen gelangt Brennan in seiner Begründung zu der Auffassung, Klassifizierungen nach dem Geschlecht müssten gleichheitsrechtlich jenem striktesten Prüfungsmaßstab unterstellt werden, den eine originalistische Verfassungsinterpretation bei der Beurteilung von rassischen Ungleichbehandlungen erfordere – dem Strict Scrutiny Standard. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Methode, nach der die Auslegung der equal protection-Klausel erfolgt, von entscheidender Bedeutung für die Intensität der gleichheitsrechtlichen Überprüfung gesetzlicher Regelungen ist. Während dabei eine stärker teleologisch ausgerichtete Interpretation, wie sie insbesondere der Warren Court in den sechziger Jahren wiederholt vornahm, zu einer inhaltlichen Anreicherung der grundrechtlichen Gleichheitsgarantie über den „original intent“ hinaus führen kann, wird die historische Auslegung zumeist – aber nicht durchgehend – herangezogen, um die richterliche Kontrolldichte gegenüber der Legislative zu verringern und damit die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu vergrößern. So richtet sich die dargestellte historische Argumentation des Richters Marshall im Hinblick auf Maßnahmen der Affirmative Action gegen die Anwendung des strengsten gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes: Dem Gesetzgeber soll nach dieser Auffassung ein höheres Maß an legislativer Gestaltungsfreiheit verbleiben, um den bis heute zu konstatierenden Auswirkungen der Rassendiskriminierung gegenüber der schwarzen Bevölkerung effektiv entgegenwirken zu können. Auch Chief Justice Burger wendet sich in seiner abweichenden Meinung in Craig v. Boren gegen die Anwendung eines er1048 1049 1050
Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677 (1973). Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677, 685 (1973). Frontiero v. Richardson, 411 U.S. 677, 686 (1973).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
höhten Prüfungsniveaus, nämlich die Beurteilung geschlechtsbezogener Klassifizierungen nach dem Intermediate Scrutiny Test. Da Burger bei Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts keinen ausreichenden Grund für eine erhöhte richterliche Kontrolldichte gegenüber entsprechenden legislativen Maßnahmen zu erkennen vermag, fordert er insoweit die gerichtliche Beschränkung auf den traditionellen Rational Basis Standard. Dem Gesetzgeber soll auf diese Weise die politische Entscheidung über Differenzierungen zwischen Männern und Frauen weitgehend selbst überlassen bleiben. Indes ist die Verallgemeinerung der hier beschriebenen Tendenz, eine historische Auslegung der equal protection-Klausel zugunsten legislativer Gestaltungsfreiheit unter Zurücknahme gerichtlicher Prüfungsintensität vorzunehmen, nicht ohne weiteres möglich, da Elemente der historischen Auslegung von den einzelnen Richtern des U.S. Supreme Court in unterschiedlichen Begründungszusammenhängen verwendet werden. Hierzu trägt maßgeblich die Diskrepanz zwischen der weiten Formulierung der equal protection-Klausel einerseits sowie dem primär verfolgten Ziel rechtlicher Gleichstellung der schwarzen Bevölkerung andererseits bei, die auch im Rahmen des Abstellens auf den „original intent“ hinreichend Raum für differierende Interpretationen des Gleichheitsgrundrechts eröffnet.1051 Zudem ist zu berücksichtigen, dass der U.S. Supreme Court in seiner Verfassungsrechtsprechung auf eine klare methodologische Trennung der verschiedenen Auslegungsarten verzichtet und keiner interpretatorischen Vorgehensweise eine grundsätzliche Vorrangstellung zuerkennt. Demgegenüber kommt aufgrund der ausdrücklich in das Grundgesetz aufgenommenen besonderen Diskriminierungsverbote der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht insoweit keine vergleichbar fundamentale Bedeutung zu, wie dies für den U.S. Supreme Court festzustellen ist, dessen Verfassungsrechtsprechung zu Gleichheitsfragen letztlich alleine auf der Interpretation der allgemein formulierten equal protection-Klausel basiert. Dass jedoch auch im Rahmen ausdrücklich normierter besonderer Diskriminierungsverbote Auslegungsprobleme auftreten, zeigt etwa die Diskussion über das Differenzierungsverbot aufgrund des Geschlechts und die dabei umstrittene Frage nach dem Verhältnis des 1994 neu eingefügten Satzes 2 in Art. 3 Abs. 2 GG zu dem abwehrrechtlichen Schutzgehalt des Diskriminierungsverbotes aus Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 GG.1052 In diesem Zusammenhang ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die 1051
Zu den zahlreichen praktischen und theoretischen Problemen, die mit der Ermittlung des original intent in den Vereinigten Staaten von Amerika verbunden sind vgl. Heun, AöR 116 (1991), 185, 187 ff. 1052 Siehe hierzu Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. I. 1.
4. Kap.: Konsequenzen für die Gesetzgebung
271
Tragweite des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG schon in der Gemeinsamen Verfassungskommission umstritten war und letztlich keine Übereinstimmung über das Verhältnis zu dem besonderen Diskriminierungsverbot erzielt werden konnte. Der große Interpretationsbedarf wurde aus diesem Grunde bereits bei der Verfassungsänderung erkannt1053, ohne dass bislang eine abschließende Klärung durch das Bundesverfassungsgericht, etwa im Bereich der Quotenregelungen, erfolgt wäre.1054 Angesichts der bereits bei Einfügung des Verfassungsauftrages bestehenden Diskrepanzen würde insbesondere die beschriebene amerikanische subjektiv-historische Grundrechtsinterpretation zu praktischen Schwierigkeiten führen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht bereits früh in seiner Rechtsprechung zu den unterschiedlichen Auslegungsmethoden Stellung bezogen und erklärt, dass für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift der objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend sei, so wie er sich aus dem Wortlaut und der systematischen Stellung ergebe. Als nicht entscheidend erachtet wurde hingegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder.1055 Ob diese Grundsätze auch uneingeschränkt für die Interpretation von Verfassungsbestimmungen gelten, hat das Gericht in der Folgezeit zwar ausdrücklich offen gelassen.1056 Die grundsätzlich zurückhaltende Position gegenüber einer subjektiv-historischen Verfassungsauslegung kommt indes in mehreren Entscheidungen deutlich zum Ausdruck, etwa wenn dargelegt wird, der Entstehungsgeschichte, den Vorstellungen und den Motivationen des Verfassungsgebers komme für die Auslegung einzelner Bestimmungen des Grundgesetzes „ausschlaggebende Bedeutung . . . in der Regel nicht zu“1057. Wenngleich somit der Auslegung auch der besonderen Diskriminierungsverbote des Grundgesetzes durchaus Bedeutung zukommt, so ist doch zu konstatieren, dass deren ausdrückliche verfassungsrechtliche Verankerung den legislativen Gestaltungsspielraum bereits beträchtlich einengt, indem die Anknüpfung gesetzlicher Regelungen an bestimmte Differenzierungskriterien explizit ausgeschlossen wird. Für die verfassungsgerichtliche Gleichheitsjudikatur, insbesondere für den Umgang des Bundesverfassungsgerichts und des U.S. Supreme Court mit den besonderen Diskriminierungsverboten ergeben sich daraus im Hinblick auf die Konsequenzen für die Gesetzgebung zwei gegenläufige Tendenzen, die etwa am Beispiel geschlechtsbezogener Klassifizierungen zu belegen sind. Wie die Betrachtung der 1053 1054 1055 1056 1057
Vgl. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 397 f. Vgl. Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. I. 1. BVerfGE 1, 299, 312. BVerfGE 62, 1, 45. BVerfGE 62, 1, 45 unter Verweis auf BVerfGE 45, 187, 227.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Gleichheitsrechtsprechung des U.S. Supreme Court gezeigt hat, werden durch Auslegung der equal protection-Klausel bestimmte Differenzierungskriterien nach einem intensivierten Prüfungsmaßstab beurteilt, was die gerichtliche Kontrolldichte gegenüber der Legislative beträchtlich erhöht. Hierzu gehört wie gezeigt das Merkmal Geschlecht, welches bis 1971 durchgängig nach dem weiten Rational Basis Test beurteilt und damit als Anknüpfungspunkt gesetzgeberischer Ungleichbehandlung in aller Regel als verfassungsgemäß akzeptiert wurde. Erst eine engere Auslegung der Gleichheitsgarantie des 14. Amendment seit den siebziger Jahren führte dazu, dass gegenwärtig Maßnahmen des Gesetzgebers, denen Klassifizierungen nach dem Geschlecht zu Grunde liegen, den höheren Anforderungen des Intermediate Scrutiny Test zu genügen haben, das heißt wichtige öffentliche Ziele verfolgen und hierzu in einem substantiellen Verhältnis stehen müssen.1058 Dieser Tendenz zu einer Anhebung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsniveaus steht im deutschen Grundgesetz das bereits ausdrücklich normierte, der Formulierung nach uneingeschränkte Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 GG gegenüber. Für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht daher im Gegensatz zur Judikatur des U.S. Supreme Court kein Anlass, den grundrechtlichen Gleichheitsschutz bei Differenzierungen aufgrund des Geschlechts gegenüber den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes zu effektivieren, da insoweit bereits ein verfassungsrechtliches Anknüpfungsverbot existiert. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht Ausnahmen vom strikten Anknüpfungsverbot des Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 S. 1 GG entwickelt, die allerdings nur in den beschriebenen engen Grenzen als zulässig erachtet werden und auch in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung anerkannt sind.1059 Wenngleich damit im Ergebnis die Kontrolldichte gegenüber der Gesetzgebung bei geschlechtsbezogenen Klassifizierungen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des U.S. Supreme Court im Wesentlichen vergleichbar ist1060, so zeigt sich insbesondere in den dargestellten Entscheidungen des U.S. Supreme Court, dass der Umfang der tatsächlich in Anspruch genommenen verfassungsgerichtlichen Prüfungskompetenz gegenüber der Gesetzgebung maßgeblich von der Auslegungsmethode beeinflusst wird, mit der das Gericht die equal protection-Klausel des 14. Amendment interpretiert.
1058
Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 2. Hierzu Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. III. 1060 Siehe im Einzelnen Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. III.; vgl. Bungert, ZVglRWiss 89 (1990), 441, 463 ff. 1059
4. Kap.: Konsequenzen für die Gesetzgebung
273
III. Wahlrechtsgleichheit und Minderheitenschutz als Voraussetzungen parlamentarischer Demokratie Von großer Bedeutung für die Gesetzgebung in der parlamentarischen Demokratie ist schließlich der verfassungsgerichtliche Umgang mit der Wahlrechtsgleichheit, die als thematisch ausgerichtetes besonderes Diskriminierungsverbot1061 in einer besonders engen Beziehung zum demokratischen Prinzip steht. Sowohl die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch die Judikatur des U.S. Supreme Court legen hierbei wie gesehen äußerst strenge gleichheitsrechtliche Prüfungsmaßstäbe an, denen differenzierende Maßnahmen des Gesetzgebers in diesem Bereich zu genügen haben. Danach hält das Bundesverfassungsgericht Ausnahmen von der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl nur dann für zulässig, wenn zwingende Gründe dies erfordern.1062 Auch der U.S. Supreme Court wendet mit dem Strict Scrutiny Test den Maßstab mit dem höchsten Prüfungsniveau an und stellt darauf ab, ob die fragliche Ungleichbehandlung notwendig ist im Hinblick auf ein als zwingend erachtetes öffentliches Interesse.1063 Als Konsequenz hieraus ist die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei Differenzierungen im Bereich des Wahlrechts somit in erheblichem Maße eingeschränkt. Zur Begründung für diese besonders strengen Prüfungsanforderungen führt der U.S. Supreme Court aus, dass die Wahlrechtsgleichheit selbst Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung anderer bürgerlicher und politischer Rechte sei: „[R]egulation of the electoral process receives unusual scrutiny because ‚the right to exercise the franchise in a free and unimpaired manner is preservative of other basic civil and political rights‘. In other words, the right to vote is accorded extraordinary treatment because it is, in equal protection terms, an extraordinary right: a citizen cannot hope to achieve any meaningful degree of individual political equality if granted an inferior right of participation in the political process.“1064 Dem liegt eine Auffassung zu Grunde, die in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung wiederholt Betonung erfährt, wenn es um die gerichtliche Überprüfung von Maßnahmen des Gesetzgebers geht. Insoweit wird eine hohe Kontrolldichte namentlich dann gefordert, wenn sich staatliche Differenzierungen auf Elemente des politischen Prozesses im Vorfeld demokratischer Mehrheitsentscheidungen beziehen.1065 So verhält es sich insbesondere bei 1061
Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 13. Dazu oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 6. 1063 Vgl. Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb), (1). 1064 Plyler v. Doe, 457 U.S. 202, 233 (1982) (Blackmun, concurring), unter Hinweis auf die grundlegende Entscheidung Reynolds v. Sims, 377 U.S. 533, 562 (1964). 1062
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
Ungleichbehandlungen im Bereich des Wahlrechts. Hingegen wird bei der Überprüfung demokratisch getroffener Mehrheitsentscheidungen des Gesetzgebers grundsätzlich davon ausgegangen, dass diese aus einem fairen Wettstreit miteinander konkurrierender Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen hervorgegangen sind, mithin eine weniger intensive gerichtliche Kontrolle geboten ist, sofern nicht die Verwendung bestimmter verdächtiger Kriterien oder die Betroffenheit fundamentaler Rechte eine Abweichung vom traditionellen gleichheitsrechtlichen Rationalitätsstandard gebietet. In ihrem Kern weist die dargestellte Argumentation zahlreiche Parallelen zu der einflussreichen Demokratiekonzeption John Hart Elys auf, die 1980 unter dem Titel „Democracy and Distrust“ erschien und in der Folgezeit zum Gegenstand einer bis heute anhaltenden Diskussion über das Ausmaß verfassungsgerichtlicher Prüfungskompetenzen wurde. Dabei hat der prozedurale Ansatz des Werkes in der demokratietheoretischen Auseinandersetzung neben viel Zustimmung auch beträchtlichen Widerspruch erfahren.1066 Im Mittelpunkt des Interesses steht insoweit die Auffassung Elys, dass der amerikanischen Bundesverfassung vordringlich prozedurale Bedeutung zukomme, während die Befassung mit substantiellen Werten typischerweise dem Gesetzgeber obliege.1067 Vor diesem Hintergrund wird einem funktionierenden demokratischen Prozess und den daraus resultierenden Entscheidungen des Gesetzgebers grundsätzlich Vorrang vor den Entscheidungen der Verfassungsrechtsprechung eingeräumt. Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit erfährt in der Theorie Elys demgemäß eine spezifische Ausrichtung: Ihre maßgebliche, konstitutionell zugedachte Aufgabe wird darin erkannt, das Funktionieren des politischen Prozesses zu gewährleisten. Dazu bedarf es nach dem von Ely vertretenen Demokratieverständnis eines verfassungsgerichtlichen Vorgehens, das in der überwiegenden Judikatur des Warren Court zum Ausdruck gekommen sei und im Wesentlichen an zwei 1065 Vgl. Washington v. Seattle School District No. 1, 458 U.S. 457, 467 ff. (1982). 1066 Zusammenfassend zum partizipations-orientierten Modell Elys: Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, S. 256 ff. Vgl. auch den Überblick bei Boynton, 53 Stanford Law Review 2000, 397, 415 ff. Ely selbst hat seine in „Democracy and Distrust“ dargelegte Auffassung in der Folgezeit wiederholt verteidigt, sie dabei aber auch teilweise modifiziert, vgl. etwa ders., 77 Virginia Law Review 1991, 833 ff. 1067 Vgl. Ely, Democracy and Distrust, S. 87: „[I]n fact the selection and accomodation of substantive values is left almost entirely to the political process and instead the [Constitution] is overwhelmingly concerned, on the one hand, with procedural fairness in the resolution of individual disputes (process writ small), and on the other, with what might capaciously be designated process writ large – with ensuring broad participation in the processes and distributions of government.“
4. Kap.: Konsequenzen für die Gesetzgebung
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Voraussetzungen gebunden ist. So müssten zum einen die politischen Kanäle für Veränderungen offen gehalten werden. Zum anderen ist darauf zu achten, dass Minderheiten von der politisch repräsentierten Majorität nicht systematisch aufgrund von Vorurteilen diskriminiert werden. Beide Voraussetzungen – „clearing the channels of political change . . . and . . . correcting certain kinds of discrimination against minorities“1068 – sind in der Verfassungsrechtsprechung des U.S. Supreme Court zur equal protection-Klausel von grundlegender Bedeutung und prägen damit das Verhältnis zur Gesetzgebung in maßgeblicher Weise. Zunächst ist auf den von Ely hervorgehobenen Gesichtspunkt der verfassungsgerichtlichen Gewährleistung eines offenen politischen Prozesses hinzuweisen. Im fünften Kapitel von „Democracy und Distrust“ finden sich hierzu nähere Ausführungen; sie betreffen im Einzelnen die elementare Bedeutung des Schutzes der Meinungsfreiheit1069, die Anforderungen an ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren1070 sowie insbesondere den gerichtlichen Umgang mit Fragen des Wahlrechts1071. Ungleichbehandlungen, die sich auf den Bereich des Wahlrechts beziehen und damit das Vorfeld demokratischer Entscheidungsfindung betreffen, sind nach Ely einer strikten Kontrolle zu unterwerfen. Insoweit erfordere die Nähe zum demokratischen Prozess eine umfassende und intensive richterliche Prüfungskompetenz, was den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers entsprechend einschränke. In diesem Zusammenhang hat die hier vorgenommene Untersuchung verdeutlicht, dass den Bedingungen der Möglichkeit politischer Veränderung im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht so essentielle Bedeutung beigemessen wird, dass Differenzierungen des Gesetzgebers unter dem Aspekt der Wahlrechtsgleichheit höchsten Anforderungen unterliegen. Methodisch kommt dies wie gesehen im amerikanischen Verfassungsrecht durch die Anerkennung der Fundamentalität des Wahlrechts und die damit verbundenen Anwendung des Strict Scrutiny Test zum Ausdruck, während das Bundesverfassungsgericht den streng formalen Charakter der in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG geforderten Gleichheit der Wahl betont und ausführt, dem Gesetzgeber verbleibe „bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen . . . . In diesem Bereich bedürfen Differenzierungen besonderer rechtfertigender, zwingender Gründe.“1072 Beide Gerichte stellen somit die behandelten wahlrechtlichen Voraussetzungen des 1068
Ely, Democracy and Distrust, S. 74. Ely, Democracy and Distrust, S. 105 ff. 1070 Ely, Democracy and Distrust, S. 125 ff. 1071 Ely, Democracy and Distrust, S. 116 ff. 1072 BVerfGE 34, 81, 99 unter Verweis auf BVerfGE 1, 208, 249; 28, 220, 225. Zum formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit vgl. H.-P. Schneider, AK-GG, Art. 38, Rn. 67 m. w. N. 1069
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
demokratischen Entscheidungsprozesses unter das Kriterium strikter Gleichbehandlung, während sich die Überprüfung der aus einem solchen politischen Prozess hervorgegangenen Mehrheitsentscheidungen grundsätzlich an – wie gezeigt wurde: im Wesentlichen vergleichbaren – Rationalitätsstandards orientiert, deren Anhebung besonderer Begründung bedarf. Elys Akzentuierung der Gleichheitsproblematik im Vorfeld des institutionellen Entscheidungsprozesses befindet sich demnach weitgehend im Einklang mit der deutschen und amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zur Wahlrechtsgleichheit.1073 Das Ausmaß des legislativen Gestaltungsspielraums hängt schließlich maßgeblich davon ab, inwieweit der von Ely betonte Gesichtspunkt des Minderheitenschutzes in der verfassungsgerichtlichen Gleichheitsprüfung Berücksichtigung findet. Nach Ely hat die Verfassungsrechtsprechung jenen Minderheiten verstärkten Schutz vor Benachteiligungen zu gewährleisten, deren Interessen trotz Öffnung der politischen Kanäle von einer fairen Repräsentation ausgeschlossen zu werden drohen. Hierzu zählten insbesondere Minoritäten, die verbreitet Opfer von Herabsetzungen und Vorurteilen seien und bei denen daher die Gefahr bestehe, dass legislatives Handeln die bestehenden Vorurteile aufnehme und in diskriminierende Gesetzgebung umsetze. Auf diese Weise könnten Vorurteile dazu führen, eine faire Berücksichtigung von Minoritätsinteressen zu verhindern: „For whatever else it may or may not be, prejudice is a lens that distorts reality. We are a nation of minorities and our system thus depends on the ability and willingness of various groups to apprehend those overlapping interests that can bind them into a majority on a given issue; prejudice blinds us to overlapping interests that in fact exist.“1074 Gesetzliche Ungleichbehandlungen zu Lasten von vorurteilsbeladenen Minderheiten sind demzufolge einer genauen gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen und gleichheitsrechtlich nach den hohen Anforderungen des Strict Scrutiny Standard zu beurteilen. Für das amerikanische Verfassungsrecht hat der U.S. Supreme Court dem damit angesprochenen Gedanken des Minderheitenschutzes wie gesehen wiederholt zentrale Bedeutung auch im Hinblick auf die equal protectionKlausel zugesprochen.1075 Entsprechende Erwägungen stehen in der Tradi1073 Zum amerikanischen Verfassungsrecht vgl. dazu aus jüngerer Zeit Boynton, 53 Stanford Law Review 2000, 397 ff. Im Hinblick auf die gleichheitsrechtliche Kontrolldichte bei Wahlrechtsfragen gelangt der Autor ebenfalls zu der Annahme zahlreicher Übereinstimmungen zwischen Ely’s Theorie und der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court, vgl. im Einzelnen Boynton, a. a. O., 433 ff. 1074 Ely, Democracy and Distrust, S. 153. 1075 Vgl. etwa San Antonio School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 28 (1973); Davis v. Bandemer, 478 U.S. 109, 151 f. (1986) (O’Connor, Burger, Rehnquist, concurring in the judgment). Zum Gedanken des Minderheitenschutzes auch H.-P.
4. Kap.: Konsequenzen für die Gesetzgebung
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tion jener wegweisenden „Fußnote 4“ von Justice Stone, mit der dieser bereits im Jahre 1938 erklärte, das Bestehen von Vorurteilen gegenüber abgrenzbaren Minderheiten „may be a special condition, which tends seriously to curtail the operation of those political processes ordinarily to be relied upon to protect minorities, and which may call for a correspondingly more searching judicial inquiry“1076. Der juristische Schutz von Minderheiten, die im politischen Prozess nicht angemessen geschützt werden, ist bis heute eine der grundlegenden Aufgaben des U.S. Supreme Court geblieben und stellt wie gesehen im Hinblick auf die Intensivierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabes ein klassisches Kriterium der Verdächtigkeit dar. Dabei hat die Betrachtung der verfassungsgerichtlich herangezogenen Kriterien der Verdächtigkeit gezeigt, dass erst die Gesamtschau unterschiedlicher Faktoren Rückschlüsse auf eine mögliche Erhöhung der Kontrolldichte erlaubt. Im Rahmen dieser Gesamtschau koppelt der U.S. Supreme Court den Gedanken des Minderheitenschutzes oftmals an Erwägungen zur Stellung der betroffenen Minorität im politischen Entscheidungsprozess: Grundsätzlich ist hierbei die Tendenz zu erkennen, Ungleichbehandlungen durch den Gesetzgeber umso intensiver zu überprüfen, je stärker sie sich auf Gruppen von Personen beziehen, die ihre Interessen im politischen Prozess nicht ausreichend zur Geltung bringen können.1077 Die von Ely nachdrücklich betonte Überprüfung der Gesetzgebung daraufhin, ob sie diskriminierende Ungleichbehandlungen zu Lasten politisch nicht hinreichend geschützter Minoritäten vornimmt, findet damit in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court bei der Wahl des anzuwendenden gleichheitsrechtlichen Kontrollmaßstabes Berücksichtigung. Allerdings ergeben sich trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmungen zwischen der Auffassung Elys und der verfassungsgerichtlichen Gleichheitsjudikatur auch Unterschiede, die insbesondere die gleichheitsrechtliche Bewertung von Differenzierungen aufgrund der Rasse betreffen. So hat der Schneider, Diskussionsbeitrag, in: Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, S. 86 f.; Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen und Probleme im Verfassungsrecht der USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 41. 1076 United States v. Carolene Products Co., 304 U.S. 144, 152 (1938). 1077 So stellte der U.S. Supreme Court etwa bei der Überprüfung von Legislativakten, die zu einer Ungleichbehandlung von geistig Behinderten führen, wie oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. III. beschrieben maßgeblich darauf ab, dass bereits die umfangreiche Gesetzgebung zur Integration Behinderter gegen die Annahme einer politisch machtlosen Minderheit und damit gegen eine Erhöhung des Prüfungsniveaus spreche: „[T]he legislative response, which could hardly have occurred and survived without public support, negates any claim that the mentally retarded are politically powerless in the sense that they have no ability to attract the attention of the lawmakers“, Cleburne v. Cleburne Living Center, 473 U.S. 432, 445 (1985).
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
U.S. Supreme Court in seiner oben untersuchten Adarand-Entscheidung1078 aus dem Jahre 1995 mit dem so genannten „principle of consistency“ bekräftigt, dass rassenbezogene Ungleichbehandlungen unabhängig von ihrer Zielrichtung und der jeweiligen Rasse der bevorzugten oder benachteiligten Personen nach dem striktesten Prüfungsmaßstab zu beurteilen seien. Demgegenüber sieht Ely bei Maßnahmen der Affirmative Action keinen Anlass für eine solche Intensivierung des gerichtlichen Gleichheitsschutzes, da es insoweit an einer Minderheit ebenso fehle wie an einer gesteigerten Gefahr vorurteilsbehafteter Benachteiligungen: „Whites are not going to discriminate against all whites for reasons of racial prejudice“1079. Im Mittelpunkt der Kontroverse steht somit eine in der grundrechtlichen Gleichheitsdogmatik bislang nur wenig erschlossene Facette des Gleichheitssatzes, die man als dessen Kriterienspezifik bezeichnen könnte: Sie umfasst unter anderem die Frage, in wie weit grundrechtlicher Gleichheitsschutz vorrangig auf die Verwendung spezifischer, als besonders problematisch erachteter Klassifikationen ausgerichtet ist (symmetrischer Gleichheitsschutz), oder ob – asymmetrisch – bestimmten Klassen von schutzbedürftigen Minderheiten ein besonders intensives Schutzniveau zuteil wird. Die damit angedeuteten gleichheitsrechtlichen Problemlagen werden im weiteren Verlauf der Arbeit näher zu untersuchen sein. An dieser Stelle gilt es insoweit zunächst festzuhalten, dass die verfassungsrechtliche Gleichheitsjudikatur des U.S. Supreme Court keinen der beiden Ansätze prinzipiell ausschließt. Vielmehr wird bisweilen, wie etwa in der Adarand-Entscheidung, der symmetrische Charakter des Gleichheitsschutzes betont, während andere Urteile wie gesehen in stärkerem Maße auf die Ungleichbehandlung bestimmter als besonders schutzbedürftig erachteter Minderheiten abstellen und damit einen asymmetrischen Begründungsansatz akzentuieren. Im Gegensatz zur Rechtsprechung des U.S. Supreme Court kommt dem Gedanken des Minderheitenschutzes in der deutschen Verfassungsrechtsprechung zum Gleichheitssatz eher geringe Bedeutung zu. Das Bundesverfassungsgericht kann insoweit wiederum auf ausdrücklich normierte Diskriminierungsverbote, insbesondere auf die Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zurückgreifen. Hingegen enthält das Grundgesetz keine Minderheitenklausel. Zwar haben die in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG aufgeführten Merkmale maßgeblich vor dem Hintergrund der Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten zur Zeit des Nationalsozialismus Einlass in das Grundgesetz gefunden. Eine ausdrückliche Verankerung des Minderheitenschutzes als Staatszielbestimmung, wie sie im Abschlussbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat 1993 1078 1079
Vgl. Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. I. 2. h). Ely, Democracy and Distrust, S. 170.
5. Kap.: Schlussbemerkung
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empfohlen wurde1080, erfolgte indes nicht. In jüngerer Zeit hat das Bundesverfassungsgericht den Minderheitenbegriff bei seiner Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 GG gleichwohl wiederholt verwandt, und zwar im Hinblick auf die „Annäherung“ von Merkmalen an jene des Art. 3 Abs. 3 GG. Die Bindung des Gesetzgebers an das Gleichheitsgrundrecht soll hier umso enger sein, je mehr sich die (anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes überprüften) fraglichen Differenzierungskriterien „den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, daß eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt“1081. Diese kausale und relationale Verknüpfung von Annäherungsgrad und Diskriminierungsgefahr1082 verlangt eine striktere Gleichheitsprüfung wie gesehen insbesondere bei differenzierenden Regelungen, deren Unterscheidungsmerkmale für den Einzelnen nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten beeinflussbar sind und die sich nachteilig auf Interessen von Minderheitengruppen auszuwirken drohen. Bildet eine solche Regelung des Gesetzgebers den Gegenstand verfassungsgerichtlicher Gleichheitskontrolle, so haben die angelegten Rechtfertigungsanforderungen über den eingangs beschriebenen gleichheitsrechtlichen Rationalitätsstandard hinauszugehen und sich an den Anforderungen der besonderen Diskriminierungsverbote zu orientieren, die insoweit eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung gebieten.
5. Kapitel
Schlussbemerkung Die vergleichende Untersuchung der Gleichheitspostulate des deutschen und amerikanischen Verfassungsrechts hat zahlreiche Gemeinsamkeiten und Differenzen nachweisen können. Dennoch dominieren, in einer Gesamtbetrachtung der Arbeitsergebnisse, zu Beginn des 21. Jahrhunderts ungeachtet unterschiedlicher Entstehungs- und Entwicklungsprozesse über 200 Jahre insgesamt Konvergenzen des verfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichen Gleichheitsschutzes in den beiden demokratischen Verfassungsstaaten. Bei genauerer Berücksichtigung der untersuchten Vergleichsparameter ergibt sich insoweit ein konkreteres und präziseres Bild. Es kann auf vier Ebenen bezogen werden: 1. Hinsichtlich der geistesgeschichtlichen Wurzeln bestehen weitreichende und grundsätzliche Gemeinsamkeiten auf der Grundlage der neu1080 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, 5.11. 1993, S. 15. 1081 BVerfG, 1 BvL 2/91, 2.3.1999, Rn. 67. 1082 Vgl. Kallina, Willkürverbot und Neue Formel, S. 115 ff.
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2. Teil: Der Gleichheitssatz im Rechtsvergleich
zeitlichen Philosophie und Staatstheorie des aufgeklärten Natur- und Vernunftrechts. Diese finden ihren Ausdruck in den bedeutenden Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Dabei wird die Gleichheitsidee insbesondere von der Virginia Bill of Rights und der französischen Déclaration des droits de l’homme et du citoyen aufgenommen und durch beide Dokumente gleichsam an den Beginn des konstitutionellen Zeitalters gestellt. 2. Verfassungsgeschichtlich bestehen demgegenüber tief greifende Unterschiede. Auf der einen Seite vollzieht sich die auch gleichheitsspezifische Entwicklung im Rahmen der revolutionären Ablösung kolonialer Territorien der „neuen Welt“ vom europäischen Mutterland sowie der ambivalenten Verhältnisse zwischen Gleichheitspathos und dem widersprechender Rassendiskriminierung und Sklaverei. Demgegenüber ist der verfassungsrechtliche Gleichheitsschutz des Grundgesetzes insbesondere das Resultat der verfassungshistorischen Entwicklung der „alten Welt“ in der bürgerlichen Revolution des 19. Jahrhunderts, der Auseinandersetzung um den Gleichheitssatz in der Weimarer Reichsverfassung sowie Reaktion auf die Totalitarismuserfahrungen des 20. Jahrhunderts. 3. Auf der Ebene der Verfassungstexte zeigen sich dementsprechend ebenfalls große Unterschiede. Das Gleichheitsgebot der amerikanischen Verfassung findet seinen Niederschlag insbesondere im 14. Amendment von 1868 und basiert damit auf einer Normierung, die speziell auf die Beseitigung von Rassendiskriminierung und Sklaverei nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges zielte. Die allmähliche Ausweitung dieses spezifischen Ausgangspunktes bis zur Reichweite eines allgemeinen Gleichheitssatzes bleibt demgemäß Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung. Demgegenüber enthält der Verfassungstext des Grundgesetzes von 1949 bereits die ausdrückliche Normierung eines allgemeinen Gleichheitssatzes sowie ausdifferenzierte besondere Gleichheitssätze. Angesichts dieser verschiedenen Ausgangslagen stellen sich den Verfassungsgerichtsbarkeiten beider Staaten unterschiedliche Aufgaben. 4. Vor diesem Hintergrund konnten für Verfassungsgerichtsbarkeit und aktuelle Verfassungsrechtslage bei allen verbleibenden Differenzen weitreichende Gemeinsamkeiten nachgewiesen werden. Dies gilt sowohl für die Ausformung der allgemeinen Gleichheitsgebote als auch für den Umgang mit beziehungsweise die Herausbildung von besonderen Diskriminierungsverboten. Grundsätzliche Parallelen bestehen insbesondere hinsichtlich der zunehmenden Gradualisierung gleichheitsrechtlicher Schutzintensität. Demgegenüber weisen die methodischen Orientierungen der beiden Gerichte zwischen subjektiv-historischen und objektiv-teleologischen Auslegungselementen teilweise unterschiedliche Akzentuierungen auf.
5. Kap.: Schlussbemerkung
281
Im Übrigen sind strukturell vergleichbare Problemlagen zum Verhältnis von Legislative und Verfassungsgerichtsbarkeit herausgearbeitet worden. Insofern bietet sich das Bild kommunizierender Röhren: Das was eine aktivistische Gleichheitsrechtsprechung an Beurteilungskompetenz für sich in Anspruch nimmt, geht der Legislative an Gestaltungsspielraum (Differenzierungsspielraum) verloren. Soweit sich die Verfassungsgerichte umgekehrt in judicial self-restraint üben, bleibt die gleichheitsrelevante Regelungskompetenz der Parlamente unangetastet. Die Ausrichtung gerichtlicher Prüfintensität zwischen diesen beiden Polen wird von zahlreichen Parametern bestimmt. Zu ihnen gehören neben der angesprochenen Kursbestimmung durch juristische Methode nicht zuletzt verfassungsnormative Differenzierungen zwischen „allgemeinen“ Gleichheitslagen und „besonderen“ Diskriminierungsgefahren – sei es auf der Grundlage verfassungspositiver Sondernormen oder richterrechtlich entwickelter „verdächtiger Klassifizierungen“ bzw. „fundamentaler Rechte“. Die Untersuchung hat insoweit ein zunehmend breites Spektrum unterschiedlicher Ansätze zur Konkretisierung von Maßstäben der Gleichheitsprüfung aufgezeigt. Ihren hervorragenden Ausdruck findet die damit angesprochene Entwicklung im Aufstieg der verfassungsgerichtlich konzipierten Tests, den es nachfolgend genauer zu beleuchten gilt.
Dritter Teil
Antinomien und Legitimationsprobleme verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstäbe 1. Kapitel
Aufstieg der Tests und verbleibende Begründungsprobleme Nach den bisherigen Ausführungen zum Aufstieg der Tests stehen diese heute im Zentrum grundrechtlichen Gleichheitsschutzes. Daher wird das gleichheitsrechtliche Schicksal des angegriffenen Aktes maßgeblich von der gerichtlichen Zuordnung zu einem Test und dessen inhaltlicher Ausgestaltung bestimmt. Die darin zum Ausdruck kommende, einzelfallbezogene Entscheidung über den konkret anzuwendenden Prüfungsmaßstab hat bei zahlreichen der untersuchten Entscheidungen zu erheblichen Auseinandersetzungen über die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen geführt. Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion stehen insoweit regelmäßig Überlegungen, die die Applikation gerichtlich etablierter Testformen unter Berücksichtigung der dafür etablierten Anwendungsvoraussetzungen betreffen. Hingegen werden die einmal eingeführten Faktoren, an denen sich die gleichheitsrechtliche Kontrolldichte orientieren soll, zumeist nicht näher hinterfragt: Als Elemente der testförmigen Grundrechtsprüfung sind sie Bestandteil einer extensiven Gleichheitsjudikatur, die ihren wertungsbedürftigen Voraussetzungen im Normalfall keine weitere Aufmerksamkeit schenkt. Das wäre kaum zu beanstanden, wenn die richterliche Ausdifferenzierung von Maßstäben der Gleichheitsprüfung und die damit verbundene Bestimmung kontrollintensivierender oder -reduzierender Faktoren auf einer konsistenten, dogmatisch überzeugenden Grundlage beruhte. Tatsächlich jedoch wirft die untersuchte Verfassungsrechtsprechung in dieser Hinsicht eine ganze Reihe von Problemen auf, die es im Folgenden näher zu beleuchten gilt. Das Zentralproblem kann als die Begründungslücke bezeichnet werden, die zwischen dem Einsatz einer Testvariante im Einzelfall und einer vorauszusetzenden, aber gleichwohl fehlenden „Letztbegründung“ für eben diese Variantenwahl besteht. Die unzulängliche Antwort auf die Frage „wieso
2. Kap.: Antinomien
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wann welcher Test?“ verweist auf notwendige weitere theoretische Reflexion. Solche Reflexion findet sich ansatzweise in der internationalen Literatur und soll hier für die weitere Entwicklung des eigenen, noch zu erarbeitenden Dogmatikkonzepts fruchtbar gemacht werden. Von Interesse sind insoweit insbesondere zwei konzeptionelle Ansätze, die einerseits auf der Ebene eines sozialwissenschaftlichen „law and society“-Konzepts Antinomien in der Verfassungsgerichtspraxis des Gleichheitsschutzes zum Gegenstand haben1, andererseits Fragen nach einer normativen Theorie der gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstäbe aufwerfen2. Insofern kommt diesem Teil der Arbeit eine Brückenfunktion zwischen der voranstehenden vergleichenden Rechtsprechungsanalyse und der später folgenden in das europäische Gemeinschaftsrecht integrierten eigenen Weiterentwicklung gleichheitsrechtlicher Dogmatik zu. 2. Kapitel
Antinomien Auf einer ersten Ebene geht es um eine eher deskriptiv und sozialwissenschaftlich orientierte Analyse von Spannungslagen und innergerichtlichen Konsensbildungsprozessen bei der gleichheitsrechtlichen Entscheidungsfindung. Insofern wird auf Antinomien im verfassungsgerichtlichen Begründungsprozess verwiesen, die auch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Auswahl und Anwendung einer bestimmten Testvariante gesehen werden können. So sind unlängst von Julie A. Nice zweipolige Antinomien als Orientierungsgrößen für den tatsächlichen Rechtsfindungsprozess zur Diskussion gestellt worden, die auch für die Frage nach den jeweils gewählten normativen Begründungsansätzen Aussagekraft entfalten.3 Insbesondere drei zentralen Antinomien grundrechtlichen Gleichheitsschutzes ist insoweit besondere Bedeutung zuzumessen: So kann der verfassungsgerichtliche Umgang mit dem Gleichheitssatz zunächst danach differieren, ob dessen Zielrichtung maßgeblich auf die Herbeiführung von Assimilation oder die Gewährleistung von Antisubordination bezogen wird (Assimilation oder Antisubordination, Antinomie 1). Unterschiede bestehen weiterhin in Bezug darauf, ob gleichheitsrechtlich suspekte Differenzierungskriterien und daraus entwickelte besondere Differenzierungsverbote von ihrem historischen Kontext abgelöst und in formell neutraler Weise angewandt werden können, oder ob es gerade der bewussten Berücksichtigung spezifischer Diskriminie1 2 3
Nice, 85 Cornell Law Review 2000, 1392 ff. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 247 ff. Nice, 85 Cornell Law Review 2000, 1392, 1394 ff.
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3. Teil: Antinomien und Legitimationsprobleme
rungslagen einzelner Gruppen von Merkmalsträgern bedarf. Im Mittelpunkt steht damit die Unterscheidung von Klassifikationen und Klassen: Waren es ursprünglich zumeist besonders vorurteilsbehaftete, verbreitet diskriminierte Klassen von Personen wie die der Schwarzen oder Frauen, denen besonderer Gleichheitsschutz gewährt werden sollte, so führt die Akzentverlagerung auf erhöhten Gleichheitsschutz bei der Verwendung entsprechender Klassifikationen – etwa Rasse oder Geschlecht – zu einem intensivierten Schutz auch jener traditionell überlegenen, nichtdiskriminierten Klassen wie Weißen oder Männern (Klassifikationen oder Klassen, Antinomie 2). Der verfassungsgerichtliche Umgang mit dem Gleichheitsgrundrecht hängt schließlich davon ab, inwieweit die Rechtsprechung für die Beurteilung einer Maßnahme vorrangig auf deren Effekte oder die ihr zu Grunde liegenden Absichten abgestellt (Intentionen oder Effekte, Antinomie 3). Zu berücksichtigen gilt es, dass sich die dargestellten Antinomien in vielfacher Weise überschneiden und oftmals nur in Nuancen voneinander abweichen. Gleichwohl kommt jede von ihnen, wie Nice betont, zumindest gelegentlich als eigener und unabhängiger gleichheitsrechtlicher Argumentationsstrang zum Ausdruck.4 Insgesamt kann der empirische und normative Status dieses Konzepts kaum als abschließend geklärt angesehen werden.5 Dennoch verweist es auf Spannungslagen im gleichheitsrechtlichen Begründungsprozess, auf die erhebliche Unsicherheiten beim Einsatz der einzelnen Testvarianten und Prüfungsmaßstäbe zurückzuführen sind. Die Systematisierung dieser Spannungslagen der untersuchten Gleichheitsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts und des U.S. Supreme Court vermag insoweit zu einem tieferen Verständnis der Prüfungsmaßstäbe grundrechtlichen Gleichheitsschutzes beizutragen.
A. Assimilation oder Antisubordination Für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des U.S. Supreme Court hat die vorliegende Untersuchung eine gemeinsame, auf Assimilation gerichtete Grundorientierung verfassungsrechtlichen Gleichheitsschutzes nachgewiesen. Das kommt in der analysierten Gleichheitsjudikatur vor allem durch Tendenzen zum Ausdruck, die faktische Anpassungsfähigkeit von Gruppen im Wege generell abgesenkter gleichheitsrechtlicher Prüfungsanforderungen zu einem nachhaltigen Assimilierungsdruck zu verdichten. Eine solche Reduzierung gleichheitsrechtlicher Prüfungsintensität konnte in der deutschen und amerikanischen Verfassungsrechtsprechung 4
Nice, 85 Cornell Law Review 2000, 1392, 1394. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den hier angesprochenen Antinomien bleibt daher einer gesonderten Bearbeitung vorbehalten. 5
2. Kap.: Antinomien
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übereinstimmend festgestellt werden, soweit der fraglichen Ungleichbehandlung ein individuell veränderbares Differenzierungskriterium zu Grunde liegt. Neben den Faktor der Veränderlichkeit tritt in der Gleichheitsjudikatur des U.S. Supreme Court zudem die Frage nach der Auffälligkeit des Unterscheidungsmerkmales. Die Kehrseite intensivierten Gleichheitsschutzes für leicht identifizierbare und abgrenzbare Minderheiten besteht insoweit in der Annahme eines verminderten Schutzniveaus für solche Gruppen, deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit durch Formen der Anpassung sozial unauffällig zu stellen imstande sind. Ob die damit verbundene Rücknahme des Gleichheitsschutzes für Personen, denen Formen der Anpassung zur Verfügung stehen, grundrechtsdogmatisch berechtigt ist, ist bislang weitgehend ungeklärt. Jedenfalls fehlt es in dieser Hinsicht bis heute an einer überzeugenden verfassungsgerichtlichen Begründung. Im Mittelpunkt des verfassungsgerichtlich vorherrschenden, assimilationsorientierten Gleichheitsverständnisses stehen Fragen, die die Bewertung von Gleichheit und Differenz der Vergleichsgruppen betreffen. Unter dem Gesichtspunkt des tertium comparationis wird dabei die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung im Hinblick auf ein als maßgeblich erachtetes Merkmal zum Ausgangspunkt der Grundrechtsprüfung. Erst die Ungleichbehandlung von als im Wesentlichen vergleichbar erachteten Sachverhalten bedarf der Rechtfertigung. Weitgehend aus dem Blick geraten bei einer solchen Interpretation des Gleichheitsgrundrechts indes hierarchische Strukturen zwischen den Vergleichsgruppen. Einem anderen Ansatz zufolge soll grundrechtlicher Gleichheitsschutz daher nicht in erster Linie auf Vergleichbarkeit, Differenz und Rechtfertigung ausgerichtet sein, sondern Herrschaftsund Unterordnungsverhältnisse berücksichtigen: Eine solche gleichheitsrechtliche Position „fragt nicht, ob Unterschiede sachlich gerechtfertigt sind oder wie sie begründet werden – so aber die Dogmatik zu Art. 3 GG –, sondern, ob ein hierarchisches Verhältnis vorliegt, das sich in Benachteiligung äußert“6. Im Zentrum grundrechtlichen Gleichheitsschutzes stehen somit Erwägungen zu Herrschaft und Unterordnung sowie das Ziel, entsprechenden Subordinationsverhältnissen entgegen zu wirken. Diese auf die Abwehr sozialer Unterordnung zielende, bisweilen als „Dominierungsverbot“ bezeichnete Auffassung7 betont die Gefahren, die sich aus der vorherrschenden verfassungsgerichtlichen Gleichheitsprüfung ergeben. Deren wesentliches Kennzeichen besteht darin, hierarchischen Strukturen regelmäßig keine besondere Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Diese weitgehende Ausblendung sozialer Machtgefälle aus der Interpretation des Gleichheitsgrundrechts steht indes in auffälligem Kontrast zu der Tatsache, dass der 6 7
Baer, Würde oder Gleichheit?, S. 237. Vgl. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 312 ff.
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3. Teil: Antinomien und Legitimationsprobleme
verfassungsgerichtliche Prozess des Vergleichens zumeist in der Hand gesellschaftlich dominanter Gruppen liegt. Die Maßstäbe der Gleichheitsprüfung und die Bestimmung des Vergleichsstandards durch Festlegung eines tertium comparationis orientieren sich somit überwiegend an der Perspektive gesellschaftlich überlegener Gruppen – „the judicial default rule has been to treat individuals deemed superior as the standard“8. Vor dem damit beschriebenen Hintergrund sind in der grundrechtlichen Gleichheitsjudikatur nur bisweilen Ansätze erkennbar, Erwägungen zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu berücksichtigen und grundrechtlichen Gleichheitsschutz stärker auf das Ziel der Antisubordination zu beziehen. Mit besonderer Deutlichkeit ist diese Position in der Adarand-Entscheidung des U.S. Supreme Court von Richter Stevens zum Ausdruck gebracht worden, dessen dissenting opinion sich die Richterin Ginsburg anschloss. Stevens betont, es bestehe „no moral or constitutional equivalence between a policy that is designed to perpetuate a caste system and one that seeks to eradicate racial subordination. Invidious discrimination is an engine of oppression, subjugating a disfavored group to enhance or maintain the power of the majority.“9 Wird die gleichheitsrechtliche Aufmerksamkeit dergestalt auf unterdrückte Gruppen gerichtet, so liegt die Annahme eines besonderen Gleichheitsschutzes für solche Gruppen nahe. Als Konsequenz dieser Auffassung ist das oben10 beschriebene principle of consistency (die Annahme gleicher Prüfungsanforderungen bei unterschiedlichen Gruppen unter Nichtbeachtung differierender tatsächlicher Machtverhältnisse) abzulehnen.11 Anklänge an eine solche stärker auf tatsächliche Lebens- und Machtverhältnisse abstellende Grundrechtsinterpretation zeigen sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum geschlechtsbezogenen Gleichberechtigungsgrundsatz, wie sie oben dargestellt wurde. Dessen strikte Anwendung wird vom Bundesverfassungsgericht namentlich dort gefordert, wo es um die Überprüfung benachteiligender Ungleichbehandlungen von Frauen geht.12 Festgestellt wird insoweit, dass Art. 3 Abs. 2 GG gerade dem Abbau jener Differenzierungen dienen sollte, die zur Benachteiligung von Frauen führen.13 Trotz dieser beispielhaft aufgeführten Tendenzen zu einem auch hierarchische Strukturen mitberücksichtigenden, auf Antisubordination zielenden Gleichheitsverständnis bleibt jedoch insgesamt fest8
Nice, 85 Cornell Law Review 2000, 1392, 1396. Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2120 (1995) (Stevens, Ginsburg, dissenting). 10 Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. I. 2. h). 11 Vgl. Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2120 ff. (1995) (Stevens, Ginsburg, dissenting). 12 BVerfGE 74, 163, 179. 13 BVerfGE 74, 163, 179. 9
2. Kap.: Antinomien
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zuhalten, dass die untersuchte Verfassungsrechtsprechung schwerpunktmäßig einen assimilationsorientierten Ansatz verfolgt, wie ihn etwa Richter Scalia in der Entscheidung Adarand zum Ausdruck gebracht hat. Danach besteht im Rahmen der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung kein Raum, unterschiedliche soziale Stellungen rassischer Gruppen, die sich in Dominanz und Unterlegenheit äußern, zu beachten, denn: „In the eyes of government, we are just one race here. It is American.“14 Grundlegende Implikationen dieser verfassungsgerichtlich vorherrschenden Ausrichtung des Gleichheitsrechts werden in den weiteren Antinomien zum Vorschein kommen. Im Gegensatz zu der hier dargestellten ersten Antinomie beschreiben die nachfolgenden indes nicht die Zielrichtung grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, sondern Mittel zu dessen Realisierung.
B. Klassifikationen oder Klassen Wie die Untersuchung der verfassungsgerichtlichen Gleichheitsprüfung in den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland gezeigt hat, kann grundrechtlicher Gleichheitsschutz maßgeblich auf Klassifikationen oder auf Klassen Bezug nehmen. Deutlich geworden ist dabei zunächst, dass sowohl der U.S. Supreme Court als auch das Bundesverfassungsgericht Erhöhungen des gleichheitsrechtlichen Schutzniveaus insbesondere von der Verwendung bestimmter Klassifikationen abhängig machen. In den Mittelpunkt der Gleichheitsprüfung rückt insoweit die Betrachtung des verwendeten Differenzierungskriteriums. Dessen Qualifizierung als „suspekt“ oder „verboten“ und die verfassungsgerichtlich vorherrschende Fixierung auf Klassifikationen werfen indes nicht unerhebliche Probleme auf, die zumeist nur wenig reflektiert werden. Das betrifft vorrangig die damit verbundene Tendenz zur Substitution folgenorientierter Erwägungen durch Abstellen auf den differenzierenden Akt als solchen. Die Annahme eines Gleichheitsverstoßes richtet sich insofern maßgeblich nach Art und Umständen der Ungleichbehandlung, während die Auswirkungen der überprüften Maßnahme demgegenüber in den Hintergrund treten.15 Als Folge dieser Strömung der Verfassungsrechtsprechung erfährt das Gleichheitsgrundrecht eine Formalisierung, die von den Konsequenzen differenzierenden Handelns weitgehend abstrahiert. Das steht im Einklang mit der im Rahmen der ersten Antinomie konstatierten verfassungsgerichtlich vorherrschenden Ablehnung einer auf Antisubordination zielenden Konzeption grundrechtlichen Gleichheitsschutzes. Beide dominierenden Stränge der Gleichheitsjudikatur stimmen darin 14 Adarand Constructors, Inc. v. Pena, 115 S.Ct. 2097, 2119 (1995) (Scalia, dissenting). 15 Vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 457.
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3. Teil: Antinomien und Legitimationsprobleme
überein, die Intensität des Gleichheitsschutzes unter Absehung von der tatsächlichen Situation der ungleich behandelten Personen zu bestimmen, die konkret benachteiligt werden. Zu beobachten ist daher die unlängst von Somek konstatierte „charakteristische Substitution der Berücksichtigung der sozialen Lage von Gruppen und Klassen durch die Aufmerksamkeit auf bestimmte Unterscheidungsmerkmale“16. Ob eine dergestalt limitierte, gegenüber der sozialen Lage ungleich behandelter Klassen weitgehend desensibilisierte Form grundrechtlichen Gleichheitsschutzes ein angemessenes Verständnis des Gleichheitsgrundrechts zum Ausdruck bringt, ist nicht unumstritten und stellt einen Problemkreis dar, welcher auch in Teilen der verfassungsgerichtlichen Judikatur seinen Niederschlag findet. Für die Verfassungsrechtsprechung hat die vorliegende Untersuchung wiederholt Ansätze nachgewiesen, die auf eine stärkere Berücksichtigung von Klassen hindeuten. Einzelne Kriterien der Verdächtigkeit, etwa stigmatisierende Effekte staatlicher Ungleichbehandlungen, das Verwenden irrationaler Gruppenklischees oder eine lange Geschichte vorurteilsbeladener Diskriminierung auf Seiten der benachteiligten Personengruppe, beziehen sich auf die Lage der konkret betroffenen Klasse von Personen. Besonders deutlich wird der Klassenbezug bei gleichheitsrechtlichen Erwägungen zum Minderheitenschutz. Insoweit hat die Untersuchung der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung einen hohen gleichheitsrechtlichen Stellenwert der Betroffenheit leicht identifizierbarer und abgrenzbarer Minderheiten aufgezeigt.17 Die klassenbezogene Ausdeutung des Gleichheitsgrundrechts findet hier ihren wohl prononciertesten Ausdruck. Demgegenüber kommt dem Gedanken des Minderheitenschutzes in der Gleichheitsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts wie gesehen eine geringere Bedeutung zu. Dort, wo er Erwähnung findet, wird indes zugleich das ganze Spannungsfeld der zweiten Antinomie mit ihren beiden Polen sichtbar: So soll die Intensität des Gleichheitsschutzes umso größer sein, je mehr sich die verwendeten Unterscheidungsmerkmale „den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, daß eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt“18. Neben dem klassenbezogenen Aspekt des Minderheitenschutzes wird hier mit dem Näherungselement insbesondere auf die individuelle Unveränderlichkeit der meisten der in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten Differenzierungskriterien verwiesen und damit auf einen zentralen Gesichtspunkt klassifikationsorientierten Gleichheitsschutzes, dessen grundrechtsdogmatische Berechtigung im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauerer Untersuchung bedarf. Hingegen 16 17 18
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 482 f. Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (1) (a). BVerfG, 1 BvL 2/91, 2.3.1999, Rn. 67.
2. Kap.: Antinomien
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finden sich Anklänge an die stärkere Berücksichtigung der sozialen Lage von Klassen über den Minderheitenaspekt hinaus auch im Rahmen des geschlechtsbezogenen Gleichberechtigungsgebotes, sofern es um die benachteiligende Ungleichbehandlung von Frauen geht.19 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle gleichwohl, dass die amerikanische Gleichheitsrechtsprechung insgesamt weitaus häufiger als die deutsche Judikatur Erwägungen zur sozialen Lage von Klassen heranzieht, um die Rechtfertigungsintensität bei entsprechenden Benachteiligungen zu bestimmen. Nicht selten ist ein solches Vorgehen indes gerade dann zu beobachten, wenn es um die Ablehnung einer erhöhten Kontrolldichte geht. In jüngerer Zeit hat sich der U.S. Supreme Court auf diese Weise etwa gegen einen besonderen Gleichheitsschutz für ältere Menschen ausgesprochen. Die entscheidende Passage des insoweit maßgeblichen Urteils Kimel v. Florida Board of Regents20 aus dem Jahre 2000 bringt den klassenbezogenen Ansatz deutlich zum Ausdruck, wenn es heißt: „Older persons, again, unlike those who suffer discrimination on the basis of race or gender, have not been subjected to a ‚history of purposeful unequal treatment.‘ Old age also does not define a discrete and insular minority because all persons, if they live out their normal life spans, will experience it. Accordingly, . . . age is not a suspect classification under the Equal Protection Clause.“21 Bemerkenswert ist insbesondere, wie selbstverständlich und weitgehend begründungsfrei der U.S. Supreme Court seine Ausführungen zur Klasse der älteren Menschen in eine Aussage zum allgemeinen gleichheitsrechtlichen Status der Klassifikation „Alter“ überführt. Erneut zeigt sich hier die eingangs konstatierte vorherrschende Ausrichtung des untersuchten verfassungsgerichtlichen Gleichheitsschutzes, die Somek unlängst als gerichtliche „Obsession mit Klassifikationen“ bezeichnet hat.22 Die damit skizzierte zweite Antinomie erstreckt sich – ebenso wie die übrigen Antinomien – auf den verfassungsgerichtlichen Gleichheitsschutz insgesamt und ist nicht etwa auf den Umgang mit besonderen Gleichheitssätzen oder speziellen Diskriminierungsverboten beschränkt. Vielmehr hat die bisherige Untersuchung Tendenzen der Gleichheitsrechtsprechung erkennen lassen, anhand von etablierten „suspekten“ oder „verbotenen“ Klassifikationen einen über diese hinausgreifenden (als verfassungskräftig erachteten) Aussagegehalt auch hinsichtlich weiterer Klassifikationen zu entwickeln. Eine Folge dieser Entwicklung besteht in der zunehmenden Verzahnung „allgemeinen“ und „besonderen“ Gleichheitsschutzes zu einer 19 20 21 22
Vgl. dazu die Nachweise im Rahmen der ersten Antinomie. Kimel v. Florida Board of Regents, 120 S.Ct. 631 (2000). Kimel v. Florida Board of Regents, 120 S.Ct. 631, 645 f. (2000). Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 483.
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3. Teil: Antinomien und Legitimationsprobleme
einheitlichen, abgestuften Prüfung des Gleichheitsgrundrechts, der eine zunehmende Gradualisierung des Rechtfertigungsniveaus korrespondiert. Dogmatisch findet die so beschriebene Verzahnung in der Gleichheitsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts ihren Ausdruck durch die rechtfertigungstheoretische Anerkennung von an Art. 3 Abs. 3 GG „angenäherten“ Merkmalen. Ein methodisch ähnliches Vorgehen hat auch die Analyse der Verfassungsrechtsprechung des U.S. Supreme Court sichtbar werden lassen. Danach orientiert sich das Gericht bei der Bewertung des rechtfertigungsbedürftigen Gewichts von Ungleichbehandlungen maßgeblich an echten oder vermeintlichen strukturellen Gemeinsamkeiten der bereits anerkannten, verfassungsrechtlich etablierten Diskriminierungsverbote und vergleicht diese mit den Eigenarten der gleichheitsrechtlich überprüften Differenzierung und der ihr zu Grunde liegenden Differenzierungsmerkmale. Analogien zwischen verfassungsgerichtlich anerkannten, intensivierten Gleichheitsschutz gebietenden Klassifikationen wie Rasse und Geschlecht – so etwa die Auffälligkeit oder Unveränderlichkeit des Merkmals – werden somit zu bestimmenden Faktoren für die gerichtliche Festlegung der gleichheitsrechtlichen Schutzintensität. Eine dogmatisch überzeugende Begründung für dieses verfassungsgerichtliche Vorgehen fehlt bislang. Es wird daher im weiteren Verlauf der Arbeit näher zu betrachten und auf seine Berechtigung hin zu überprüfen sein.
C. Intentionen oder Effekte Im Mittelpunkt der dritten Antinomie steht die Unterscheidung von mit der Maßnahme verfolgten Intentionen und deren Effekten. Wie zuvor dargestellt, korrespondiert dem auf Assimilation und Klassifikationen ausgerichteten Strang grundrechtlichen Gleichheitsschutzes eine Tendenz zur Substitution folgenorientierter Betrachtungen durch die Berücksichtigung von Art und Umständen des differenzierenden Aktes, insbesondere der damit verfolgten Intentionen. Die Untersuchung der deutschen und amerikanischen Verfassungsrechtsprechung hat insofern zahlreiche Beispiele für diesen intentionalistischen Pol des Gleichheitsschutzes geliefert. Besonders deutlich kommt er in der Gleichheitsjudikatur des U.S. Supreme Court zum Ausdruck. Das gilt vor allem für die gleichheitsrechtliche Bewertung mittelbarer Diskriminierungen, wo es wie gesehen maßgeblich auf das Vorliegen einer diskriminierenden Absicht ankommen soll. Dem Kläger fällt danach die zumeist nur schwer zu erfüllende Aufgabe zu, den Nachweis zu erbringen, ob die Diskriminierung einen „motivating factor“23 des staatlichen 23 Siehe etwa Arlington Heights v. Metropolitan Housing Corp., 429 U.S. 252, 264 ff. (1977).
2. Kap.: Antinomien
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Handelns darstellte. Der Beweisführung stehen insoweit beträchtliche Probleme entgegen, die mit den Schwierigkeiten einer nachträglichen Ermittlung subjektiver Faktoren wie den Umständen staatlicher Motivation zusammenhängen.24 Der U.S. Supreme Court hat diese Schwierigkeiten des intentionalistisch geprägten Gleichheitsschutzes nicht ignoriert, sondern in seiner Rechtsprechung bisweilen sogar ausdrücklich artikuliert, ohne deshalb jedoch seine auf staatliche Motivationslagen zielende Judikatur zu revidieren. So räumte das Gericht beispielsweise ein, dass „inquiries into congressional motives or purposes are a hazardous matter“25. Als Folge der damit erkannten problematischen Beweislastverteilung zu Lasten des Klägers hat das Gericht in seiner Rechtsprechung zum Gleichheitsgrundrecht indes wiederholt auf gewisse Indizien hingewiesen, die Anhaltspunkte für eine entsprechende staatliche Motivation darstellen können. Hierzu zählen etwa die Vorhersehbarkeit erheblich ungleicher Auswirkungen einer Regelung (foreseeable disparate impact26) oder der historische Hintergrund legislativen Handelns (legislative history27). Regelmäßig soll erst die Gesamtheit der tatsächlichen Begleitumstände eine abschließende Bewertung der legislativen Intentionen erlauben: Mit diesem Abstellen auf die „totality of the circumstances“28 behält sich das Gericht einen äußerst weiten Spielraum bei der Beurteilung staatlicher Motivationslagen vor. Deutlich wird, dass die gleichheitsrechtliche Untersuchung von Intentionen bisweilen in engem Zusammenhang mit den zu konstatierenden Effekten steht. So geraten die Konsequenzen differenzierenden Handelns im Rahmen der „disparate impact“-Doktrin mit ihrem indiziellen Charakter für die Bestimmung der zu Grunde liegenden Intentionen in das Blickfeld der Verfassungsrechtsprechung. Dieser indizielle Zusammenhang beider Pole der dritten Antinomie geht indes nicht so weit, als dass bloßes Wissen um die vorhersehbaren Konsequenzen der fraglichen Differenzierung für die Annahme einer Diskriminierungsabsicht ausreicht: „ ‚Discriminatory purpose‘ . . . implies more than intent as volition or intent as awareness of consequences. It implies that the decisionmaker . . . selected or reaffirmed a particular 24
Dazu oben, Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. II. 1. a) cc). Hunter v. Underwood, 471 U.S. 222, 228 (1985) unter Verweis auf United States v. O’Brien, 391 U.S. 367, 383 f. (1968). 26 Siehe etwa Columbus Board of Education v. Penick, 443 U.S. 449, 464 (1979): „Nevertheless, the District Court correctly noted that actions having foreseeable and anticipated disparate impact are relevant evidence to prove the ultimate fact, forbidden purpose.“ 27 Hunter v. Underwood, 471 U.S. 222, 229 (1985): „The evidence of legislative intent available to the courts below consisted of the proceedings of the convention, several historical studies, and the testimony of two expert historians.“ 28 Washington v. Davis, 426 U.S. 229, 242 (1976): „an invidious discriminatory purpose may often be inferred from the totality of the relevant facts“. 25
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3. Teil: Antinomien und Legitimationsprobleme
course of action at least in part ‚because of‘, not merely ‚in spite of‘, its adverse effects upon an identifiable group.“29 In ähnlicher Weise hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Gleichheitsrechtsprechung zu den besonderen Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG bisweilen darauf abgestellt, ob das verpönte Unterscheidungsmerkmal als solches „das die Regelung motivierende Element“ darstelle.30 Dieser den intentionalistischen Pol der dritten Antinomie betonende Ansatz ist in der Folgezeit indes nicht weiter vertieft worden. Wie die Untersuchung verdeutlicht hat, tritt insoweit zunehmend ein Verständnis als Anknüpfungsverbot in das Zentrum der Gleichheitsjudikatur31, wodurch die gleichheitsrechtliche Bedeutung von Motiven und Beweggründen für die überprüfte Regelung in den Hintergrund gerät. Inwiefern den Absichten des handelnden staatlichen Organs bei der Überprüfung mittelbarer Diskriminierungen Bedeutung beizumessen ist, ist insoweit noch wenig geklärt. Ursache hierfür ist der oben32 konstatierte Umstand, dass die Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den grundrechtlichen Gleichheitsschutz bislang noch weitgehend ungeklärt, die Grundrechtsdogmatik des Bundesverfassungsgerichts dem entsprechend noch wenig entwickelt ist. Der auf Effekte bezogene Strang verfassungsgerichtlichen Gleichheitsschutzes kommt in der Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court zunächst darin zum Ausdruck, dass die Betroffenheit des Adressaten in bestimmten Rechten zur Bestimmung des rechtfertigungsbedürftigen Gewichts einer differenzierenden Maßnahme herangezogen wird. So hat die Untersuchung der deutschen Gleichheitsjudikatur das Gewicht der Freiheitsgrundrechte für die zu Grunde gelegte Rechtfertigungsintensität verdeutlicht. Auch für das amerikanische Verfassungsrecht konnte ein solcher Ansatz, mit dem die Effekte differenzierenden Handelns auf besonders geschützte Freiheitsrechte in den Blick geraten, aufgezeigt werden: Insofern sind es die Folgen gleichheitsrechtlich überprüfter Maßnahmen im Hinblick auf die Wahrnehmung fundamentaler Rechte, mit denen eine Anhebung des Schutzniveaus verbunden ist. Die stärker folgenorientierte Interpretation des Gleichheitsgrundrechts, das ist im Rahmen der zweiten Antinomie bereits angeklungen, eröffnet unter anderem die Möglichkeit, den spezifischen sozialen Lagen benachteiligter Klassen Rechnung zu tragen. Je genauer insoweit auf die spezifischen Konsequenzen differenzierenden staatlichen Handelns geachtet wird und 29 Personnel Administrator of Massachusetts v. Feeney, 442 U.S. 256, 279 (1979). 30 BVerfGE 19, 119, 126. 31 Vgl. Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 2. a) bb). 32 Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. II.
2. Kap.: Antinomien
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entsprechende Folgenabschätzungen gleichheitsrechtliches Gewicht erhalten, desto stärker rückt die tatsächliche Situation der benachteiligten ungleich Behandelten in den Vordergrund. Ein besonders markantes und historisch bedeutsames Beispiel für diese konsequenzialistische Ausdeutung grundrechtlichen Gleichheitsschutzes findet sich in der wegweisenden Entscheidung Brown v. Board of Education des U.S. Supreme Court von 1954. Der Gerichtshof hatte darüber zu befinden, ob die formell neutrale Rassensegregation im öffentlichen Schulwesen gegen den Gleichheitssatz verstoße. Im Mittelpunkt stand daher die vom U.S. Supreme Court aufgegriffene Frage: „Does segregation of children in public schools solely on the basis of race, even though the physical facilities and other ‚tangible‘ factors may be equal, deprive the children of the minority group of equal educational opportunities?“33 Das Vorgehen der Verfassungsrechtsprechung im Hinblick auf diese klassenbezogenen Erwägungen verdeutlicht, in welcher Weise die Berücksichtigung tatsächlicher Effekte Einfluss auf die Prüfung des Gleichheitsrechts gewinnen kann. So wird in der Entscheidung insbesondere die soziale Lage der betroffenen Klasse der Schwarzen berücksichtigt und die formelle Neutralität des segregierten Schulwesens hinterfragt. Das Bereitstellen separater Bildungseinrichtungen für rassisch getrennte Gruppen war bis zu diesem Zeitpunkt zumeist als gleichheitsrechtlich unbedenklich verstanden worden, solange die materielle Gleichwertigkeit der Bildungseinrichtungen gesichert schien. Insofern hatte sich die „separate but equal“Doktrin des Urteils Plessy v. Ferguson, wie sie oben dargestellt wurde34, durchgesetzt. Vor dem Hintergrund der dritten Antinomie des Gleichheitsrechts eröffneten sich dem U.S. Supreme Court damit zwei grundsätzliche Möglichkeiten, unter Abkehr von der bisherigen „separate but equal“-Judikatur zu einer Intensivierung des grundrechtlichen Schutzniveaus zu gelangen und dem staatlich vorangetriebenen Segregationsgedanken entgegen zu wirken. Denkbar gewesen wäre zum einen, den eingangs beschriebenen intentionalistischen Strang grundrechtlichen Gleichheitsschutzes zu akzentuieren. Gegenstand der Betrachtungen wäre dann die mit der staatlich forcierten Rassentrennung verbundene Motivationslage gewesen. Dass diese in ihrem Kern keine gegenüber den segregierten Klassen neutrale Ausrichtung aufwies, sondern sich vorrangig gegen die schwarze Bevölkerungsminderheit richtete, hätte bei einer solchen Betrachtung kaum Zweifeln unterliegen können. Allerdings – und hier dürfte ein wesentlicher Grund für die gerichtliche Zurückhaltung bei der Untersuchung konkreter staatlicher Intentionen im Rahmen der viel diskutierten Brown-Entscheidung liegen – war sich der 33 34
Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483, 493 (1954). Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (1) (c).
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3. Teil: Antinomien und Legitimationsprobleme
U.S. Supreme Court unter Chief Justice Warren der enormen politischen Brisanz des Urteils deutlich bewusst. Den massiven Widerstand der Südstaaten gegen die Aufhebung der Rassentrennung im öffentlichen Schulwesen vorausahnend, versuchte der Gerichtshof daher, seine eigene Autorität zu wahren und die Akzeptanz der Entscheidung zu fördern. Warren unternahm deshalb erhebliche Anstrengungen, um zur Einstimmigkeit der Richter zu gelangen. In seiner Urteilsbegründung vermied er es zudem sorgsam, speziell die Südstaaten wegen ihrer Politik der Rassentrennung zu kritisieren und so die sich abzeichnenden erbitterten Reaktionen im Süden zusätzlich anzuheizen. Vor diesem Hintergrund hätte eine tiefer gehende Untersuchung der einzelstaatlich mittels Segregationspolitiken verfolgten Intentionen genau das Gegenteil bewirkt und die Konfliktlinien und Spannungen in der Rassenfrage weiter verschärft. Um die mit dem intentionalistischen Ansatz verbundene weitere Zuspitzung zu vermeiden, ließ der U.S. Supreme Court in der Brown-Entscheidung Erwägungen zu einzelstaatlichen Motivationslagen bei der Rassentrennung im öffentlichen Schulwesen gänzlich unberücksichtigt. Stattdessen richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf die Konsequenzen dieser Politik für die davon betroffenen Personen. Hier erkannte der Gerichtshof nachteilige psychologische Effekte auf Seiten der segregierten schwarzen Schülerinnen und Schüler. Bedeutendster Effekt der staatlichen Rassentrennungspolitik sei die Herbeiführung und Aufrechterhaltung eines Gefühls der Minderwertigkeit bei dieser Gruppe von Schülern: „To separate them from others of similar age and qualifications solely because of their race generates a feeling of inferiority as to their status in the community that may affect their hearts and minds in a way unlikely ever to be undone.“35 Als Konsequenz des damit angesprochenen Minderwertigkeitsgefühls wird ausdrücklich auf nachteilige Bildungschancen hingewiesen, die mit dem Eindruck der eigenen Unterlegenheit verbunden sind. Die geistige Entwicklung des Kindes drohe dadurch ernsten Schaden zu nehmen: „A sense of inferiority affects the motivation of a child to learn. Segregation with the sanction of law, therefore, has a tendency to [retard] the educational and mental development of negro children“36. Eine solche Einbeziehung psychologischer Folgewirkungen verdeutlicht den konsequenzialistischen Pol grundrechtlichen Gleichheitsschutzes. In der Brown-Entscheidung tritt er soweit in den Vordergrund der verfassungsrechtlichen Erwägungen, dass Überlegungen zur einzelstaatlichen Motivation dahinter völlig verschwinden. Die Betonung von Effekten an Stelle von Intentionen ist damit zugleich Ausdruck des gerichtlichen Bemühens, das Verhältnis der Verfassungsrechtsprechung 35 36
Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483, 494 (1954). Brown v. Board of Education of Topeka, 347 U.S. 483, 494 (1954).
3. Kap.: Die Suche nach einem „Basistest“
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zu den Legislativen der Einzelstaaten nicht über Gebühr zu strapazieren und zusätzlichen, vermeidbaren Belastungen auszusetzen. 3. Kapitel
Die Suche nach einem „Basistest“ Im Zentrum der gleichheitsrechtsdogmatischen Aufmerksamkeit stehen seit jeher Fragen nach der Bestimmung der Rechtfertigungsintensität.37 Die tatsächliche Verschiedenheit der Menschen und Lebenssituationen drängt dabei zu Überlegungen, welche Prüfungsmaßstäbe gelten, um gleich oder ungleich zu behandeln.38 Gerade hier jedoch werden grundsätzliche und gravierende Unsicherheiten konstatiert.39 Übereinstimmend gilt, worauf das Bundesverfassungsgericht nachdrücklich hinweist: Für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen gibt der allgemeine Gleichheitssatz keinen einheitlichen Prüfungsmaßstab vor.40 Allerdings hat die Untersuchung der Verfassungsrechtsprechung zum Gleichheitsgrundrecht deutlich aufgezeigt, dass ein einziger, einheitlicher Prüfungsmaßstab nicht auszureichen scheint, sondern vielfältige Gradualisierungsbestrebungen festzustellen sind. Entscheidendes Gewicht erlangt vor diesem Hintergrund die von Somek geäußerte Einschätzung: „Ein Grund, an der Differenz von Prüfungsmaßstäben in unterschiedlicher Strenge festzuhalten, müßte, um als vernünftiger Grund gelten zu können, die Differenz aus der Einheit des Gleichheitsrechts begründen. Er hätte verständlich zu machen, weshalb es dem Gleichheitsrecht angemessen ist, in einer bestimmten Gruppe von Fällen einen strengeren Prüfungsmaßstab anzulegen als in anderen.“41 Nun ist bei Betrachtung der Antinomien deutlich geworden, dass die verschiedenen Prüfungsmaßstäbe durchaus von differenzierenden und ausdifferenzierten Begründungsansätzen flankiert werden. Insofern besteht kein Mangel. Hingegen fehlt es offenkundig an konsistenten Leitlinien, unter welchen Prämissen und in welchen Situationen welche Ansätze tatsächlich durchgreifen sollen. Von entscheidender Bedeutung für die normative Überzeugungskraft des in der vorangegangenen Rechtsprechungsanalyse behandelten Aufstiegs der Tests ist somit die Frage nach der eigenen verfassungsrechtlichen Legitimation des Einsatzes und der Eigengestalt der Testvarianten selbst. Man könnte dies im 37 Vgl. etwa Kokott, Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 129 ff. 38 Vgl. Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, S. 332. 39 Sachs, JuS 1997, 124, 124 ff. 40 BVerfG, 1 BvL 15/87, 27.1.1998, Rn. 42. 41 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 622 (Hervorhebungen im Original).
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3. Teil: Antinomien und Legitimationsprobleme
Sinne des Einforderns eines „Basistests“ verstehen, aus dem erst die Legitimität der Einzeltests resultiert. Diese Forderung behauptet letztlich eine normativ defizitäre Struktur einer bloß praxeologischen und kasuistischen Umgangsweise mit den Einzeltestvarianten. Es ist kaum zufällig, dass gerade im Rahmen einer auch rechtstheoretisch orientierten Konzeption des Gleichheitsrechts insofern von einem „Grundparadoxon der testförmigen Verfassungsstaatlichkeit“ ausgegangen worden ist. Damit wird zu Recht geltend gemacht, dass die Verwendung gleichheitsrechtlicher Tests im Grunde nur dann normativ konsistent sei, wenn sie auf einer Art „Grundtest“ beruhte, aus dem sich die Voraussetzung für die Selektion des Tests ergebe. „Einen solchen Grundtest haben wir aber noch nie gesehen“42.
4. Kapitel
Vorblick Der angesprochenen normativen Grundsatzfrage nach der verfassungsrechtlichen Legitimation der Testselektion soll im Rahmen dieser Arbeit weiter nachgegangen werden. Insoweit vermag die Berücksichtigung der Antinomien nicht allein zur Herausstellung von bestehenden Defiziten und Ungereimtheiten der untersuchten Gleichheitsjudikatur zu dienen. Vielmehr kann gerade die Kenntnis der bestehenden Unsicherheiten verfassungsgerichtlichen Gleichheitsschutzes für die Entwicklung einer überzeugenden Dogmatik grundrechtlichen Gleichheitsschutzes hilfreich sein. Mit dem nachfolgenden vierten Teil dieser Untersuchung wird ein solches Anliegen verfolgt. Dabei wird es um gleichheitsrechtlich relevante Grundorientierungen (Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit) und eine Flankierung des Verfassungsrechts durch politische Philosophie gehen. Im Mittelpunkt steht insoweit der Versuch der Erarbeitung einer tragfähigen Dogmatik des Gleichheitsgrundrechts im Rahmen und am Gegenstand des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitskonzepts. Damit wird das eigene gleichheitsrechtliche Dogmatikkonzept absichtlich im Rahmen der insofern jüngsten Normordnung entwickelt, einer Rechtsordnung, deren Grundrechtsentwicklung noch relativ junger Natur ist und die daher über vergleichsweise wenig verfestigte Strukturen im Umgang mit dem grundrechtlichen Gleichheitssatz verfügt. Gerade hier, auf dem bislang wenig bestellten Feld der Gemeinschaftsgrundrechte, besteht besonders großer Bedarf an weitergehender theoretisch reflektierter Konturierung. Bei dieser Aufgabe vermag die Berücksichtigung der rechtsvergleichend gewon42
Alle Zitate bei Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 248.
4. Kap.: Vorblick
297
nenen Erkenntnisse zum verfassungsgerichtlichen Umgang mit dem Gleichheitsrecht dazu beizutragen, nähere Aufschlüsse über die Dogmatik des Gleichheitsschutzes zu erhalten. Insofern gilt, worauf Somek hingewiesen hat, nämlich dass „das Studium von unterschiedlichen Varianten der Rechtsprechung zum Gleichheitssatz dazu verhilft, die Bedeutung dieses Grundrechts besser zu verstehen. . . . Die Grundrechte sprechen etwas Universelles aus. In unterschiedlichen Kulturen der Verfassungsinterpretation werden unterschiedliche Aspekte eines Problems entfaltet, das allen Verfassungsstaaten gemeinsam ist. Deswegen sind diese Aspekte für jeden Verfassungsstaat westlicher Prägung in gleicher Weise relevant.“43 Den im rechtsvergleichenden Teil dieser Studie behandelten Problemlagen wird denn auch bei der dogmatischen Entfaltung des gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Gleichheitsschutzes wesentliche Bedeutung zukommen. Allerdings ist der Ertrag eines solches Vorgehens nicht zuletzt davon abhängig, dass Ansätze der untersuchten Verfassungsjudikatur keine unreflektierte Übernahme erfahren, sondern auf ihre Berechtigung im Einzelnen überprüft werden. Insoweit hat die Betrachtung der Antinomien verfassungsgerichtlichen Gleichheitsschutzes erhebliche Spannungslagen verdeutlicht, die es zu berücksichtigen gilt. Eine stimmige Dogmatik des Gleichheitsgrundrechts hat diese widerstreitenden Elemente der Gleichheitsinterpretation in ihrem Konfliktpotential aufzunehmen und überzeugenden Lösungen zuzuführen. Dabei sind es insbesondere die Maßstäbe der Grundrechtsprüfung, deren herausragende Bedeutung rechtsvergleichend zum Ausdruck gekommen ist, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung um das Gleichheitsrecht stehen. Wie die Antinomien der analysierten Verfassungsrechtsprechung belegen, besteht gerade hier beträchtlicher Bedarf an einer tragfähigen theoretischen Fundierung. Die nachfolgende Erarbeitung der Grundlagen des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsschutzes wird sich daher an den antinomisch aufgeworfenen Problemstellungen orientieren und die damit verbundenen Ungewissheiten zu berücksichtigen haben. So werden Fragen nach Assimilation und Antisubordination bei der Untersuchung der Dimension komplexer Gleichheit eine zentrale Rolle spielen: In den Vordergrund rücken insoweit die Auseinandersetzung mit Dominanz und Vorherrschaft im Rahmen der Walzer’schen Theorie komplexer Gleichheit (Vierter Teil, 4. Kapitel, C. IV. 5.), die Verhaltensformen des Konvertierens, Verbergens und Abschwächens als Formen der Anpassung (4. Kapitel, C. V. 5.) sowie die Folgen dieser Anpassungsleistungen und der damit einhergehende „assimilationist bias“ grundrechtlichen Gleichheitsschutzes (4. Kapitel, C. V. 6.). Der Unterscheidung von Klassifikationen und Klassen wird vor allem bei der näheren Un43
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 105 (Hervorhebung im Original).
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3. Teil: Antinomien und Legitimationsprobleme
tersuchung von Kriterienspezifik und Diskriminierung (4. Kapitel, C. V. 1.), bei der Auseinandersetzung mit den Grundstrukturen gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion (4. Kapitel, C. V. 3.) sowie dort besondere Bedeutung zukommen, wo es um die Eigenart des verwendeten Differenzierungskriteriums und dessen Relevanz für den grundrechtlichen Gleichheitsschutz geht (4. Kapitel, A. III. 2.). Sie wird darüber hinaus bei der Betrachtung besonderer Gefährdungslagen bestimmter Gruppen (4. Kapitel, C. V. 8.) und bei Fragen nach einem herabgesetzten Gleichheitsschutz für Gruppen mit veränderlichen, unauffälligen Merkmalen (4. Kapitel, C. V. 4.) zu berücksichtigen sein. Die gleichheitsrechtliche Bewertung von Intentionen und Effekten wiederum ist von maßgeblicher Bedeutung, soweit die Betroffenheit personaler Basisrechte (4. Kapitel, A. III. 1.) und Eingriffe in freiheitsrechtlich geschützte Positionen (4. Kapitel, B. II.) in Rede stehen oder es die Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den grundrechtlich Gleichheitsschutz (5. Kapitel, B.) zu untersuchen gilt. Dabei wird es jeweils nicht nur um spezifische Eigenarten europarechtlichen Gleichheitsschutzes gehen, sondern um den Versuch einer repräsentativen und Rechtsordnungsgrenzen transzendierenden Gleichheitsrechtsdogmatik. Aus diesem Blickwinkel haben nicht nur die bisher angestellten Überlegungen Relevanz für die nachfolgende konzeptionelle Arbeit, vielmehr sind auch Rückwirkungen dieser Arbeit auf nationalstaatliche Gleichheitskonzepte in Rechnung zu stellen.
Vierter Teil
Der grundrechtliche Gleichheitssatz im europäischen primären Gemeinschaftsrecht 1. Kapitel
Überblick: Grundlagen des Gleichheitssatzes im primären Gemeinschaftsrecht Auf der Ebene des primären Gemeinschaftsrechts finden sich zahlreiche Elemente, die den Gleichheitsgedanken aufgreifen und ihn näher ausgestalten. Hierzu gehören die besonderen Diskriminierungsverbote des geschriebenen sowie ein allgemeiner Gleichheitssatz als Teil des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts.
A. Besondere Diskriminierungsverbote des geschriebenen Gemeinschaftsrechts I. Unterscheidung von inländischen und ausländischen Sachverhalten Das geschriebene Gemeinschaftsrecht enthält keinen allgemeinen Gleichheitssatz, sondern lediglich spezielle Diskriminierungsverbote für bestimmte Bereiche und Kriterien. Im Rahmen des Primärrechts wird Art. 12 EGV1 zwar verbreitet als „allgemeines Diskriminierungsverbot“2 bezeichnet. Art. 12 Abs. 1 verbietet jedoch im Anwendungsbereich des EG-Vertrages nur Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und stellt daher lediglich einen kriterienspezifischen Ausschnitt des allgemeinen Gleichheitssatzes dar. Normiert wird somit ein „allgemeines“ Diskriminierungsverbot ausschließlich im Hinblick auf das Differenzierungskriterium der Staatsangehörigkeit. Im Verhältnis zu weiteren an dieses Differenzierungskriterium anknüpfenden Diskriminierungsverboten ist Art. 12 subsidiär, da die Vorschrift ausweislich ihres Wortlauts nur „unbeschadet besonderer Be1 2
Artikel ohne nähere Kennzeichnung sind im Folgenden solche des EGV. Vgl. etwa Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263, 265.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
stimmungen dieses Vertrages“ gilt. Zu diesen Vorschriften, die dem Diskriminierungsverbot des Art. 12 vorgehen, zählen insbesondere die Grundfreiheiten, soweit sie – wie etwa Art. 39 Abs. 2 (Freizügigkeit der Arbeitnehmer), Art. 43 (Niederlassungsfreiheit), Art. 49 (Dienstleistungsfreiheit) – das Merkmal der Staatsangehörigkeit in sich aufnehmen3, auch wenn sich ihr Inhalt nicht in einem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit erschöpft.4 Weitere Diskriminierungsverbote finden sich im Bereich des freien Warenverkehrs der Art. 23 ff. So sind nach Art. 28 f. mengenmäßige Einfuhrbzw. Ausfuhrbeschränkungen grundsätzlich unzulässig, Ausnahmen hiervon lässt Art. 30 nur insofern zu, als sie keine willkürliche Diskriminierung darstellen. Art. 31 Abs. 1 bezieht sich demgegenüber auf staatliche Handelsmonopole und untersagt den Mitgliedsstaaten jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedsstaaten. Hinsichtlich der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs verbietet Art. 56 entsprechende Beschränkungen, während Art. 58 Abs. 3 klarstellt, dass die in den Absätzen 1 und 2 genannten Maßnahmen und Verfahren weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs darstellen dürfen. Eine Ergänzungsfunktion5 insbesondere bezüglich des freien Warenverkehrs erfüllen zudem die abgabenrechtlichen Diskriminierungsverbote der Art. 90 bis 92, die das Prinzip steuerlicher Gleichbehandlung bei den inländischen Abgaben sicherstellen sollen.6 Gemeinsames Kennzeichen der aufgeführten Vorschriften ist, dass sich die Gleichheitsproblematik jeweils maßgeblich auf die Gegenüberstellung inländischer und ausländischer Sachverhalte zurückführen lässt. Neben den bereits dargestellten Diskriminierungsverboten im Bereich der Grundfreiheiten7 gilt dies noch für Art. 87 Abs. 2 lit. a, der Beihilfen sozialer Art an einzelne Verbraucher mit dem Gemeinsamen Markt dann für vereinbar erklärt, wenn sie ohne Diskriminierung nach der Herkunft der Waren gewährt werden. Hierdurch soll verhindert werden, dass eine einseitige Bevorzugung von Unternehmen aus dem die Beihilfe gewährenden Mitgliedstaat erfolgt. Zu diesem Zweck wird eine Unterscheidung nach inländischen und Waren aus anderen Mitgliedstaaten für unzulässig erklärt. Auf 3 Vgl. Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 12, Rn. 18. 4 Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 12, Rn. 11. 5 Oppermann, Europarecht, Rn. 1153 f. 6 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 13. 7 Allgemein zu den Grundfreiheiten als Gleichheitsrechten vgl. Jarass, EuR 1995, 202, 216 ff.
1. Kap.: Überblick
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dem Vergleich von inländischen und ausländischen Sachverhalten basieren darüber hinaus Art. 72, der die Benachteiligung ausländischer gegenüber inländischen Verkehrsunternehmen verbietet, sowie Art. 294, wonach einzelne Mitgliedstaaten die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten den eigenen Staatsangehörigen im Hinblick auf die Beteiligung an Gesellschaftskapital gleichzustellen haben. Insgesamt dient diese Gruppe besonderer Diskriminierungsverbote damit der Überwindung des Nationalen als eines Merkmales „sonst als gerechtfertigt praktizierter Ungleichbehandlung in der Marktteilnahme“8. Für den Binnenmarkt und seine Grundfreiheiten stellt sie sich als wesentliches Strukturprinzip dar, worauf noch näher einzugehen sein wird. II. Unterscheidungen nach dem Geschlecht Anders als zuvor beschrieben, das heißt nicht auf die Gleichbehandlung inländischer und ausländischer Sachverhalte bezogen, verhält es sich hingegen bei den Regelungen des Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 sowie des Art. 141. Art. 141 stellt für die Mitgliedstaaten den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit auf. Maßgebliches Unterscheidungskriterium ist damit das Geschlecht. Das geschriebene Primärrecht enthält diesbezüglich unterschiedliche Vorschriften, die den Gleichheitsgedanken hinsichtlich der Gleichbehandlung der Geschlechter aufnehmen. Art. 141 entspricht dabei in seinen Absätzen 1 und 2 im Wesentlichen Art. 119 a. F., der den Grundsatz der Entgeltgleichheit normierte. Es handelt sich mithin nur um einen Teilbereich der Gleichbehandlung von Mann und Frau, der indes durch den Vertrag von Amsterdam um die Absätze 3 und 4 erweitert wurde, in denen mit unterschiedlichen Formulierungen auf ein allgemeineres arbeitsrechtliches Gleichbehandlungsgebot verwiesen wird. Absatz 3 ermächtigt den Rat zu Maßnahmen, die die Gewährleistung der Anwendung des „Grundsatzes der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“ zum Ziel haben. Absatz 4 enthält eine an die Mitgliedstaaten gerichtete Öffnungsklausel, nach der von diesem Gleichbehandlungsgrundsatz im Arbeitsleben abgewichen werden kann, um Maßnahmen der positiven Diskriminierung zugunsten des unterrepräsentierten Geschlechts beizubehalten oder zu beschließen. Auf welchen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz damit Bezug genommen wird, ist allerdings unklar9; das geschriebene Primärrecht der Gemeinschaft jedenfalls kennt 8
Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 592. Vgl. Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 75 ff. zu den unterschiedlichen Begründungsansätzen. 9
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
einen solchen allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz bislang nicht. Neben der Aufnahme des Geschlechts als unzulässiges Differenzierungskriterium in Art. 141 enthalten Art. 2 sowie Art. 3 Abs. 2 Aussagen zur Gleichstellung von Männern und Frauen. Im Gegensatz zu Art. 141 stellt die durch den Vertrag von Amsterdam erfolgte Verankerung als Vertragsziel im Rahmen von Art. 2 allerdings kein unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht dar.10 Ebenfalls neu eingefügt wurde die Querschnittsklausel des Art. 3 Abs. 2, wonach die Organe der Gemeinschaft auf die Beseitigung von Ungleichheiten und die Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen verpflichtet werden. Während die deutsche Fassung dabei nicht eindeutig erkennen lässt, ob mit der „Beseitigung von Ungleichheiten“ ein allgemeiner Gleichheitssatz in den EG-Vertrag aufgenommen oder ob nur auf Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern Bezug genommen werden sollte, spricht maßgeblich die englische Formulierung11 für die zweite Auffassung. Es bleibt daher auch nach dem Vertrag von Amsterdam bei der Beschränkung des geschriebenen Primärrechts auf besondere Diskriminierungsverbote, die entweder spezielle Differenzierungskriterien – wie Staatsangehörigkeit und Geschlecht – für unzulässig erklären oder sich auf Diskriminierungen in bestimmten Lebensbereichen beziehen; zu letzteren gehören insbesondere Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 mit ihrer Ausrichtung auf die gemeinsame Agrarpolitik. III. Unterscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 untersagt im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik jede Diskriminierung zwischen Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft. Eine konkrete Ausprägung dieses Grundsatzes im Hinblick auf eine gemeinsame Preispolitik findet sich in Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 3. Erfasst werden vom Diskriminierungsverbot allerdings nur Ungleichbehandlungen innerhalb der beiden Gruppen (Erzeuger, Verbraucher), nicht jedoch zwischen ihnen.12 Hingegen sind die Begriffe „Erzeuger“ und „Verbraucher“ in einem weiten Sinne zu interpretieren, der alle Wirtschaftsteilnehmer einschließt, die zwischen Erzeuger und Endverbraucher stehen.13 10
Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2, Rn. 9. „In all the activities referred to in this Article, the Community shall aim to eliminate inequalities, and to promote equality, between men and women.“ 12 v. Rijn, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 34, Rn. 59. 13 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 2; Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 34, Rn. 42 m. w. N. 11
1. Kap.: Überblick
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Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist das Diskriminierungsverbot des Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 nur ein spezifischer Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes des Gemeinschaftsrechts.14 Der Vorschrift kommt damit zugleich maßgebliche Bedeutung für die Entwicklung und Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in der Grundrechtsjudikatur des Gerichtshofes zu.
B. Allgemeiner Gleichheitssatz als Teil des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts Zum primären Gemeinschaftsrecht zählen neben den Gründungsverträgen weiterhin die vom EuGH anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze. Diese werden abgeleitet aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie aus den von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen. Art. 6 Abs. 2 EUV, demzufolge die Union die Grundrechte achtet, „wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“, normiert insofern lediglich den zuvor auf der Grundlage von Art. 220 bereits erfolgten gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz durch die Rechtsprechung des EuGH.15 Auch der allgemeine Gleichheitssatz wird vom EuGH in ständiger Rechtsprechung als „Grundprinzip“, „wesentlicher Grundsatz“ oder „allgemeiner Rechtsgrundsatz“ des Gemeinschaftsrechts anerkannt.16 Nachdem der Gerichtshof bereits zu Beginn der siebziger Jahre das Gleichbehandlungsgebot als eines der Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts bezeichnete17, erging die zentrale Entscheidung für die Anerkennung eines allgemeinen Gleichheitssatzes 1977 in der Rechtssache Ruckdeschel18. Hierin wurde das in Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 (vormals Art. 40 Abs. 3 14 Vgl. EuGH, Rs. C-56/99, Gascogne Limousin viandes SA/Office national interprofessionnel des viandes de l’élevage et de l’aviculture (Ofival), 11.5.2000, Rn. 37; Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 39; Rs. C-309/96, Daniele Annibaldi/Sindaco del Comune di Guidonia und Presidente Regione Lazio, 18.12.1997, Rn. 18. 15 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 17. 16 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-36/99, Idéal tourisme SA/Belgischer Staat, 13.7.2000, Rn. 35; Rs. C-368/96, The Queen/The Licensing Authority established by the Medicines Act 1968, 3.12.1998, Rn. 61; Rs. C-150/94, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland/Rat der Europäischen Union, 19.11.1998, Rn. 97; verb. Rs. C-364/95 und C-365/95, T. Port GmbH & Co./Hauptzollamt Hamburg-Jonas, 10.3.1998, Rn. 81; Rs. C-309/96, Daniele Annibaldi/Sindaco del Comune di Guidonia und Presidente Regione Lazio, 18.12.1997, Rn. 18. 17 EuGH, Rs. 1/72, Rita Frilli/Belgischer Staat, 22.6.1972, Slg. 1972, 457, 467.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
Unterabs. 2) für den Bereich der Landwirtschaft ausgesprochene besondere Diskriminierungsverbot ausdrücklich als „Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, der zu den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört“19, bezeichnet. Nach diesem Grundsatz dürften vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, „es sei denn, daß eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre“20. Genauere Ausführungen zu Herleitung und Struktur des Gleichheitssatzes fehlen allerdings ebenso wie eine nähere Bestimmung des Verhältnisses von allgemeinem Gleichheitssatz zu den besonderen Diskriminierungsverboten. Auf die daraus resultierenden Unsicherheiten und Folgeprobleme wird im Anschluss (2. Kapitel, A.) näher einzugehen sein. Im Rahmen eines Überblicks über die Grundlagen des Gleichheitssatzes im primären Gemeinschaftsrecht ist an dieser Stelle zunächst festzuhalten, dass ein allgemeiner Gleichheitssatz vom EuGH als allgemeiner Rechtsgrundsatz des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts anerkannt und wegen seines verfassungsrechtlichen Charakters auf derselben Ebene wie die Gründungsverträge angesiedelt wird.21
C. Weitere gleichheitsrelevante Bestimmungen I. Art. 13 EGV Die durch den Vertrag von Amsterdam neu aufgenommene Bestimmung des Art. 13 ermächtigt den Rat, im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Es handelt sich somit um eine Rechtsgrundlage, die dem Rat die Kompetenz zur Bekämpfung der entsprechenden Diskriminierungen einräumt. Zum Teil wird darüber hinaus von einer unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 13 ausgegangen, d.h. eine einklagbare Rechtspflicht zu Gunsten des Einzelnen angenommen.22 Mit dem auf 18 EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., Hansa-Lagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753 ff. 19 EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., Hansa-Lagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753, 1770. 20 EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., Hansa-Lagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753, 1770. 21 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 496. 22 Cirkel, NJW 1998, 3332, 3333; in diese Richtung auch Szczekalla, EuZW 1998, 215, 216.
1. Kap.: Überblick
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der Grundlage der Vorschrift ergehenden Sekundärrecht sollten Diskriminierungen innerhalb der Gesellschaft bekämpft werden, während die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten „auch ohne eine zusätzliche Sekundärrechtsetzung die entsprechenden Diskriminierungsverbote beachten müssen“23. Problematisch erscheint hierbei insbesondere die Annahme, Art. 13 selbst statuiere bestimmte Diskriminierungsverbote. Mit dem Wortlaut der Vorschrift ist dies indes kaum zu vereinbaren. Vielmehr legt die Formulierung („kann der Rat . . . Vorkehrungen treffen“) nahe, von einer bloßen Ermächtigungsnorm auszugehen, derzufolge der Rat geeignete Vorkehrungen grundsätzlich nach freiem Ermessen treffen kann.24 Mit ihrer Anknüpfung an bestimmte Differenzierungskriterien normiert die Bestimmung in ihrer derzeitigen Form somit weder einen allgemeinen Gleichheitssatz25 noch stellt sie unmittelbar anwendbares Recht dar26, auf das sich der Unionsbürger ohne vorheriges Tätigwerden des Rates berufen könnte. II. Art. 14 EMRK Hinzuweisen ist weiterhin auf Art. 14 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), der den Gleichheitsgedanken ebenfalls aufgreift. Hiernach sind die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauungen, nationalen oder sozialen Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status zu gewährleisten. Bedeutung im Hinblick auf das gemeinschaftliche Primärrecht gewinnt die Vorschrift insbesondere dadurch, dass der EuGH die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge als Rechtserkenntnisquelle für die Gemeinschaftsgrundrechte betrachtet, wobei der EMRK ein besonders hoher Stellenwert zugemessen wird.27 Während Art. 6 Abs. 2 EUV in diesem Zusammenhang den Grundrechtsschutz erstmals ausdrücklich in den Text der Gründungsverträge aufnimmt und die Union auf die Achtung der Grundrechte verpflichtet, bleibt die Frage nach einer unmittelbaren Geltung der EMRK im Gemeinschaftsrecht nach wie vor um23
So Cirkel, NJW 1998, 3332, 3333. Lenz, in: ders./Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 13, Rn. 11. 25 Vgl. Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 13, Rn. 1. 26 Bergmann, in: Bergmann/Lenz (Hrsg.), Der Amsterdamer Vertrag, Kapitel 1, Rn. 30, 42; Lenz, in: ders./Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 13, Rn. 11; Schilling, EuGRZ 2000, 3, 5. 27 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-260/89, Elliniki Radiophonia Tileorassi Anonimi Etairia/Dimotiki Etairia Pliroforisis (DEP), Sotirios Kouvelas, 18.6.1991, Slg. 1991, 2951, 2963. 24
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
stritten.28 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle zunächst, dass sich der EuGH bislang nicht zu einer unmittelbaren Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die EMRK bekannt hat. Auch das Gutachten 2/94 des EuGH von 199629, demzufolge ein Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur EMRK einer Vertragsänderung bedürfe und nicht gemäß Art. 308 erfolgen könne, lässt Vorbehalte des Gerichtshofes gegenüber einer unmittelbaren Bindung an die EMRK erkennen. Von einem allgemeinen Gleichheitssatz ist Art. 14 EMRK zudem insofern zu unterscheiden, als die Vorschrift lediglich unselbständiger Natur ist, da sich die in ihr verankerten Diskriminierungsverbote nur auf die in der Konvention gewährten Rechte und nicht etwa auf ungleiche Behandlungen schlechthin beziehen.30 III. Art. 26 IPbpR Zu beachten ist schließlich der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) vom 16. Dezember 1966. Nach dem Beitritt Griechenlands im Jahre 1997 ist er nunmehr von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert worden. Unter dem Gesichtspunkt eines von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Vertrages kann der IPbpR daher ebenfalls als Rechtserkenntnisquelle für die Herleitung gemeinschaftlicher Grundrechte herangezogen werden. Dabei kommt den Themen Gleichheit und Nichtdiskriminierung im Rahmen des Paktes eine herausragende Rolle zu.31 So sieht etwa Art. 2 Abs. 1 die Rechtsgewährleistung ohne Diskriminierung vor, während Art. 3 die Gleichberechtigung von Mann und Frau betrifft. Von größter Bedeutung erscheint indes Art. 26, der seiner Formulierung nach ein besonders hohes Schutzniveau gewährleistet: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Her28
Dazu Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 35, 38 m. w. N. 29 Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759 ff. 30 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 11; Oppermann, Europarecht, Rn. 94, der aufgrund des umfassenden Kataloges von Freiheitsrechten in der Konvention allerdings auch auf die Annäherung von Art. 14 EMRK an ein allgemeines Diskriminierungsverbot hinweist. 31 Ramcharan, Equality and Nondiscrimination, S. 246: „Equality and non-discrimination constitute the dominant single theme of the Covenant.“
2. Kap.: Gleichheit als europäisches Grundrecht
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kunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.“ Trotz der weitreichenden Formulierung ist der materielle Gehalt des Gleichheitssatzes umstritten. So wird etwa vertreten, Art. 26 gehe nicht über die übliche Form der Gleichheit vor dem Gesetz hinaus.32 Hingegen scheint der Wortlaut eher darauf hinzudeuten, dass die Gesetzgeber der Vertragsstaaten auch positiv dazu verpflichtet werden, wirksamen Schutz vor Diskriminierungen durch Private zu gewährleisten.33 In welchem Umfang eine verstärkte Berücksichtigung des Paktes als Rechtserkenntnisquelle zu einer Anhebung des gleichheitsrechtlichen Schutzniveaus auf Gemeinschaftsebene durch den EuGH führen könnte, ist angesichts der bestehenden Meinungsunterschiede kaum abzuschätzen. Es können jedoch keine Zweifel daran bestehen, dass der Pakt zu den völkerrechtlichen Übereinkünften über den Schutz der Menschenrechte zählt, denen der Gerichtshof bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen hat.34 2. Kapitel
Gleichheit als europäisches Grundrecht: Ausgangsüberlegungen einer Dogmatik des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatzes A. Problemlagen des gleichheitsrechtlichen Partikularismus Wie der Überblick über die europarechtlichen Verankerungen des Gleichheitsgedankens gezeigt hat, existieren im primären Gemeinschaftsrecht zahlreiche Bestimmungen, die Elemente des Gleichheitssatzes aufgreifen. Dokumentiert wird damit zum einen die große Bedeutung, die der Vermeidung und Bekämpfung von Diskriminierungen im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses zukommt. Zugleich drängt sich jedoch die Frage auf, inwieweit eine solche Vielzahl gleichheitsrechtlicher Normierungen in der Lage ist, zu einem effektiven und transparenten Gleichheitsschutz beizutragen. Dies hängt entscheidend davon ab, in welchem Maße es gelingt, die im Primärrecht enthaltenen speziellen Diskriminierungsverbote 32 Tomuschat, Equality and Non-Discrimination under the International Covenant on Civil and Political Rights, S. 716. 33 Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 26, Rn. 28; Nickel, Gleichheit und Differenz in der vielfältigen Republik, S. 101 f. 34 So ausdrücklich EuGH, Rs. C-249/96, Lisa Jacqueline Grant/South-West Trains Ltd, 17.2.1998, Rn. 44 m. w. N.
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in eine allgemeine Dogmatik des Gleichheitssatzes einzustellen35 und damit zu einer überzeugenden Systematik der Gleichheitsprüfung zu gelangen. Im Bereich des Gleichheitssatzes hat die dargestellte Zersplitterung in eine Vielzahl primärrechtlicher Bestimmungen sowie das Fehlen einer schlüssigen Systematik gerichtlicher Gleichheitsprüfung dabei zu einer Form des gleichheitsrechtlichen Partikularismus geführt, der sowohl in der Rechtsprechung des EuGH als auch im Schrifttum zahlreiche bislang ungeklärte Probleme aufwirft. I. Verhältnis des allgemeinen Gleichheitssatzes zu den besonderen Diskriminierungsverboten: ungeklärte Ausgangslage Das Verhältnis der im Primärrecht enthaltenen besonderen Diskriminierungsverbote zum allgemeinen Gleichheitssatz wird in der Rechtsprechung des EuGH weitgehend im Unklaren gelassen. Oftmals werden sowohl ein spezieller als auch der allgemeine Gleichheitssatz aufgeführt, ohne dass eine eindeutige Zuordnung durch den Gerichtshof erfolgt, worauf konkret Bezug genommen wird.36 Bereits in der für die Anerkennung des allgemeinen Gleichheitssatzes grundlegenden Entscheidung Ruckdeschel37 wurde zunächst auf Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 (ex-Art. 40 Abs. 3 Unterabs. 2) verwiesen, der Diskriminierungen zwischen Erzeugern des gleichen Produkts verbiete, jedoch „nicht mit der gleichen Deutlichkeit“ auch auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Handels- und Gewerbezweigen abziele.38 Im Anschluss daran folgt die seitdem regelmäßig wiederkehrende Wendung, wonach das in der Vorschrift ausgesprochene Diskriminierungsverbot nur „der spezifische 35
Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 11. Vgl. etwa EuGH, verb. Rs. 103/77 und 145/77, Royal Scholten-Honig (Holdings) Limited/Intervention Board for Agricultural Produce, 25.10.1978, Slg. 1978, 2037, 2074 f. und 2082; Rs. 147/79, Rene Hochstrass/Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 16.10.1980, Slg. 1980, 3005, 3019; Rs. 245/81, Edeka Zentrale AG/Bundesrepublik Deutschland, 15.7.1982, Slg. 1982, 2745, 2754; Rs. 59/83, SA Biovilac NV/Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 6.12.1984, Slg. 1984, 4057, 4078; Rs. 84/87, Marcel Erpelding/Secrétaire d’Etat à l’agriculture et à la viticulture, 17.5.1988, Slg. 1988, 2665, 2674; Rs. C-280/93, Bundesrepublik Deutschland/ Rat der Europäischen Union, 5.10.1994, Slg. 1994, 5039, 5062; verb. Rs. C-296/93 und C-307/93, Französische Republik/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 29.2.1996, Slg. 1996, 828, 847. 37 EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., Hansa-Lagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753. 38 EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., Hansa-Lagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753, 1770. 36
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Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes [ist], der zu den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört. Nach diesem Grundsatz dürfen vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, daß eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre.“39 Bereits diese Ausgangsentscheidung gibt keinen klaren Aufschluss darüber, worauf die nachfolgende Gleichheitsprüfung letztlich basiert. Bis heute wird vielfach überhaupt nicht oder erst durch spätere Selbstauslegung des EuGH deutlich, ob sich der Gerichtshof auf ein besonderes Diskriminierungsverbot oder auf den allgemeinen Gleichheitssatz stützt.40 Durch die parallele Nennung von allgemeinem und besonderem Gleichheitssatz wird oftmals eine eindeutige Festlegung des Gerichtshofs auf den konkret anzuwendenden Gleichheitssatz vermieden und eine klare Abgrenzung der einzelnen Gleichheitssätze erschwert. Die Rechtsprechung des EuGH trägt somit in erheblichem Maße zu der nur geringen dogmatischen Durchdringung der Gleichheitsproblematik auf europäischer Ebene bei. II. Rechtfertigung von Gleichheitsverstößen: Anzuwendender Prüfungsmaßstab Zur mangelnden Deutlichkeit, mit der zwischen allgemeinem und speziellen Gleichheitssätzen unterschieden wird, trägt weiterhin die bislang weitgehend ungeklärte Frage bei, inwiefern die Wahl des einschlägigen Gleichheitssatzes Einfluss auf den jeweils anzuwendenden Prüfungsmaßstab ausübt. Die Judikatur des EuGH erweckt vielfach den Eindruck, dass die über den allgemeinen Gleichheitssatz hinausgehende Nennung besonderer Diskriminierungsverbote keine Änderung der Prüfungsintensität zur Folge habe.41 So sollen im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, dass eine Differenzierung „objektiv gerechtfertigt“42 wäre. Zum besonderen Gleichheitssatz des Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 führt der EuGH aus, dass eine unterschiedliche Behandlung nur dann als eine nach dieser Vorschrift verbotene Diskriminierung anzusehen sei, wenn sie sich als willkürlich darstellt, „oder wenn sie, wie es in anderen Urteilen heißt, nicht hinreichend 39
EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., Hansa-Lagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753, 1770. 40 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 172; Kischel, EuGRZ 1997, 1, 3 f. m. w. N. 41 Vgl. Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263, 284. 42 St. Rspr., vgl. aus jüngerer Zeit etwa EuGH, Rs. C-36/99, Idéal tourisme SA/ Belgischer Staat, 13.7.2000, Rn. 35; Rs. C-242/97, Königreich Belgien/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 18.5.2000, Rn. 131.
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gerechtfertigt und nicht auf objektive Gründe gestützt“43, mithin: nicht objektiv gerechtfertigt ist. In der neueren Rechtsprechung wird denn auch vielfach – unter gleichzeitiger Bezugnahme auf den allgemeinen Gleichheitssatz – nur noch darauf abgestellt, ob eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist.44 Ein ähnliches, das heißt ebenfalls nicht wesentlich vom allgemeinen Gleichheitssatz abweichendes Bild ergibt sich bei Betrachtung des Grundsatzes der Entgeltgleichheit nach Art. 141 Abs. 1 und 2. Zwar hat sich der Gerichtshof im Bereich der unmittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bislang nicht eingehend mit den Rechtfertigungsmöglichkeiten bei entgeltbezogenen Differenzierungen auseinandergesetzt. Im praktisch bedeutsamen Bereich der mittelbaren Diskriminierung hingegen betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass Ungleichbehandlungen „durch objektive Faktoren gerechtfertigt“ werden können.45 Selbst bei Art. 12, der ausweislich seines Wortlauts „jede Diskriminierung“ aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, soll eine Rechtfertigung mittelbarer Diskriminierungen durch objektive Gründe in Betracht kommen.46 Die aufgeführten Beispiele verdeutlichen, dass der im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes zur Anwendung kommende Prüfungsmaßstab sich kaum von den Prüfungsmaßstäben der besonderen Diskriminierungsverbote unterscheidet. Zudem fehlen konkretere Aussagen darüber, was unter einer „objektiven Rechtfertigung“ zu verstehen ist und welche Anforderungen hieran zu stellen sind. Auch eine Abstufung der Prüfungsintensität etwa dergestalt, dass Differenzierungen im Bereich der besonderen Diskriminierungsverbote allgemein höheren Rechtfertigungsanforderungen zu unterstellen seien als Differenzierungen im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes, nimmt der EuGH in seiner Rechtsprechung nicht vor. Lediglich für Art. 34 Abs. 2 findet sich der Hinweis, dass die Gemeinschaftsorgane mit Rücksicht auf die Verantwortung, die ihnen der EG-Vertrag in der gemeinsamen Agrarpolitik zuweist, über ein besonders weites Ermessen verfügen.47 Das gerichtliche Prüfungsniveau wird damit für den Bereich dieses besonderen Diskriminierungsverbotes sogar weiter abgesenkt. 43 EuGH, Rs. 106/81, Julius Kind KG/Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 15.9.1982, Slg. 1982, 2885, 2921. 44 So etwa EuGH, Rs. C-56/99, Gascogne Limousin viandes SA/Office national interprofessionnel des viandes de l’élevage et de l’aviculture (Ofival), 11.5.2000, Rn. 37; Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 39. 45 Siehe z. B. EuGH, Rs. C-243/95, Kathleen Hill, Ann Stapleton/The Revenue Commissioners, Department of Finance, 17.6.1998, Rn. 34, 35, 43, 44. 46 Vgl. EuGH, Rs. C-398/92, Firma Mund & Fester/Firma Hatrex Internationaal Transport, 10.2.1994, Slg. 1994, 474, 479 f. Zur umstrittenen Einordnung von Art. 12 als absolutes oder relatives Diskriminierungsverbot vgl. im Anschluss unter III.
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Nur vor dem Hintergrund einer solchen Rechtsprechungspraxis, wonach der anzuwendende Rechtfertigungsmaßstab weitgehend unabhängig ist vom jeweils einschlägigen Gleichheitssatz, lassen sich auch die zuvor beschriebenen Unsicherheiten über den konkret angewandten Gleichheitssatz erklären. Sofern nämlich mit der Entscheidung über den im Einzelfall heranzuziehenden Gleichheitssatz zugleich die Entscheidung über einen spezifischen Prüfungsmaßstab verbunden wäre, könnte eine eindeutige gerichtliche Festlegung auf den allgemeinen oder einen besonderen Gleichheitssatz nicht in dem aufgezeigten Maße unterbleiben. Den besonderen Diskriminierungsverboten wird somit durch die Rechtsprechung des EuGH eine eigenständige normative Funktion im Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz fast vollständig genommen.48 III. Absolute oder relative Diskriminierungsverbote Die normative Funktion der besonderen Diskriminierungsverbote könnte indes darin bestehen, jede Möglichkeit der Rechtfertigung von Gleichheitsverstößen von vornherein auszuschließen. So wird das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach Art. 12 Abs. 1 zum Teil als absolutes Diskriminierungsverbot verstanden, das jegliche unterschiedliche Behandlung, die an die Staatsangehörigkeit anknüpft, strikt untersagt.49 Nach anderer Auffassung enthält Art. 12 Abs. 1 lediglich ein relatives Diskriminierungsverbot, das ebenso wie der allgemeine Gleichheitssatz Rechtfertigungen zulässt.50 Eine dritte, vermittelnde Ansicht unterscheidet zwischen unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen, wobei letztere durch objektive Gründe gerechtfertigt werden könnten, während unmittelbare Diskriminierungen keiner Rechtfertigung zugänglich seien.51 47 EuGH, Rs. C-56/99, Gascogne Limousin viandes SA/Office national interprofessionnel des viandes de l’élevage et de l’aviculture (Ofival), 11.5.2000, Rn. 38; Rs. C-375/96, Galileo Zaninotto/Ispettorato Centrale Repressione Frodi – Ufficio di Conegliano – Ministero delle risorse agricole, alimentari e forestali, 29.10.1998, Rn. 46. 48 So zutreffend Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263, 284. 49 Vgl. etwa Feige, Der Gleichheitssatz im Recht der EWG, S. 44 ff.; Reitmaier, Inländerdiskriminierungen nach dem EWG-Vertrag, S. 43 f.; Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 10; Bungert, Das Recht ausländischer Kapitalgesellschaften auf Gleichbehandlung im deutschen und US-amerikanischen Recht, S. 557 ff. 50 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 12, Rn. 2 f.; ders., Betrachtungen zum Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 481 f.; Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 725; Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263, 285. 51 Arnull, The General Principles of EEC Law and the Individual, S. 273 f.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
Der EuGH wiederum hat bislang entschieden, dass Art. 12 Abs. 1 bei mittelbaren Diskriminierungen nur ein relatives Diskriminierungsverbot darstelle, eine Rechtfertigung also möglich sei.52 Im Hinblick auf unmittelbare Diskriminierungen legen einzelne Entscheidungen zumindest nahe, auch insoweit von einer Rechtfertigungsmöglichkeit auszugehen.53 Ebenso hat der Gerichtshof im Rahmen von Art. 141 die Möglichkeit einer Rechtfertigung jedenfalls bei mittelbaren Diskriminierungen anerkannt.54 Ob auch unmittelbare Diskriminierungen einer Rechtfertigung zugänglich sein können oder ob dies generell auszuschließen ist, ist in der Rechtsprechung bislang nicht eindeutig geklärt. Insofern bleibt es einstweilen dabei, dass „keine Rechtsquelle existiert, die eine objektive Rechtfertigung der unmittelbaren Diskriminierung anerkennt, es aber auch kein maßgebliches Gerichtsurteil dagegen gibt“55. In der Literatur werden diesbezüglich beide Standpunkte vertreten, wobei die wohl überwiegende Auffassung sich auch hier für die grundsätzliche Möglichkeit einer Rechtfertigung ausspricht.56 Es bleibt somit festzustellen, dass in der Rechtsprechung des EuGH bislang keine einzige gleichheitsrechtliche Bestimmung des gemeinschaftlichen Primärrechts ausdrücklich als absolutes Diskriminierungsverbot anerkannt ist. Auch dieser Gesichtspunkt trägt somit nicht entscheidend dazu bei, die dargestellten Ungereimtheiten im Verhältnis von besonderen Diskriminierungsverboten zum allgemeinen Gleichheitssatz aufzuklären. Vielmehr kommt es aufgrund der verbreiteten Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung und der daran anknüpfenden, bislang jedoch nicht eindeutig geklärten Frage nach Relevanz und Folgen einer solchen Unterscheidung zu weiteren Unklarheiten im Rahmen der Gleichheitsprüfung.
B. Notwendigkeit einer allgemeinen Dogmatik des Gleichheitssatzes Wie gezeigt, ist die europäische Ebene von einer nur geringen dogmatischen Durchdringung der Gleichheitsproblematik gekennzeichnet. Die recht52 Vgl. EuGH, Rs. C-398/92, Firma Mund & Fester/Firma Hatrex Internationaal Transport, 10.2.1994, Slg. 1994, 474, 479 f. 53 So etwa EuGH, Rs. C-122/96, Stephen Austin Saldanha und MTS Securities Corporation/Hiross Holding AG, 2.10.1997, Slg. 1997, 5336, 5345 f.; Rs. C-323/95, David Charles Hayes, Jeanette Karen Hayes/Kronenberger GmbH, 20.3.1997, Slg. 1997, 1718, 1724 ff. 54 EuGH, Rs. 170/84, Bilka-Kaufhaus GmbH/Karin Weber von Hartz, 13.5.1986, Slg. 1986, 1620, 1627 f. 55 So zusammenfassend Rust, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EGVertrag, Art. 141, Rn. 450. 56 Siehe etwa Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 61 m. w. N. auch zur Gegenansicht.
2. Kap.: Gleichheit als europäisches Grundrecht
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liche Diskussion hat sich bislang überwiegend auf einzelne gleichheitsrechtliche Normierungen konzentriert, wodurch die Frage nach einer allgemeinen Systematik weitgehend aus dem Blickfeld geraten ist.57 Doch auch im Rahmen einer ausformulierten europäischen Grundrechtscharta bleibt der Grundrechtsschutz so hochgradig von der Rechtsprechung des EuGH bestimmt, dass der Ausarbeitung einer europäischen Grundrechtsdogmatik hervorragende Bedeutung beizumessen ist.58 Dabei bedarf gerade der Gleichheitssatz einer dogmatischen Präzisierung in besonderem Maße59: Das große Gewicht wertender Gesichtspunkte, die in die Gleichheitsprüfung einfließen, macht insbesondere die Suche nach überzeugenden Prüfungskriterien für Differenzierungen unerlässlich.60 Sollten die speziellen primärrechtlichen Ausprägungen des Gleichheitssatzes dabei in eine allgemeine Dogmatik aufgenommen werden können, so würde dies den rechtlichen Umgang mit Gleichheitsaspekten deutlich erleichtern. Insbesondere könnte hiermit ein Beitrag zur Klärung zentraler gleichheitsrechtlicher Problemlagen geleistet werden, wie sie zuvor beschrieben wurden. Zutreffend wird insofern davon ausgegangen, dass Kennzeichen effektiven Grundrechtsschutzes ein möglichst lückenloses, ausdifferenziertes Schutzkonzept ist.61 Um die Ausarbeitung eines solchen Schutzkonzepts soll es im Folgenden gehen. Aufgabe einer entsprechenden Dogmatik ist es, allgemein gesprochen, einerseits, die maßgeblichen Inhalte des Rechtsgebietes in nötiger Komplexität aufzunehmen. Andererseits soll eine allgemeine Dogmatik dem Rechtsanwender die Prüfung des Gleichheitssatzes erleichtern62, weshalb eine Beschränkung auf das Notwendige namentlich aus Gründen der Praktikabilität geboten erscheint.
C. Herleitung und Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundrechte Vor einer genaueren Betrachtung des Gleichheitssatzes als Teil der Gemeinschaftsgrundrechte ist zunächst auf deren Herleitung und Konkretisierung in der Grundrechtsdogmatik des EuGH einzugehen. Denn bereits auf dieser Ebene zeigen sich Abweichungen in der Entwicklung des Gleichheitssatzes von den übrigen Grundrechten. Durch die zunehmende Übertra57
Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 11. Ausführlich Pauly, EuR 1998, 242, 252 f. m. w. N.; zum Begriff der Dogmatik vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 22 ff. m. w. N. 59 Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, S. 223. 60 Vgl. Weber, EuGRZ 1994, 537, 546. 61 Pauly, EuR 1998, 242, 254. 62 Zu dieser „Gratwanderung“ der Rechtsdogmatik Jarass, EuR 1995, 202 f. 58
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gung von Zuständigkeiten auf die europäische Ebene wächst die Bedeutung der Grundrechte in dem Maße, in dem ein Zuwachs an Berührungspunkten der Gemeinschaftsgewalt mit elementaren Individualrechtspositionen zu verzeichnen ist.63 Gleichzeitig wächst das Bedürfnis nach größerer methodischer Genauigkeit bei der Herleitung und inhaltlichen Konkretisierung der Grundrechte.64 In diesem Zusammenhang ist zunächst die im Europarecht verbreitete Unterscheidung65 von „Rechtsquellen“ und „Rechtserkenntnisquellen“ zu berücksichtigen. I. Rechtsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte Die Gemeinschaftsgrundrechte werden in der Rechtsprechung des EuGH66 als „allgemeine Rechtsgrundsätze“ bezeichnet, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern habe. Bereits in der Stauder-Entscheidung aus dem Jahre 1969 stellte der EuGH erstmals fest, dass auch die Grundrechte zu den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung gehören.67 Genaue Aussagen über den Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte hat der EuGH hingegen nicht getroffen, so dass sich aus der Judikatur bislang keine eindeutige Rechtsquelle erkennen ließ. Hingegen wurde in der Literatur68 verbreitet auf Art. 220 (ex-Art. 164) verwiesen, wonach der Gerichtshof „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages“ zu sichern habe. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze und damit insbesondere die Grundrechte wurden so als „Recht“ im Sinne dieser Bestimmung verstanden und normativ in Art. 220 verankert. Eines solchen Rückgriffs auf Art. 220 als Rechtsquelle bedarf es jedoch seit dem Vertrag von Maastricht nicht mehr. Mit diesem wurde Art. 6 Abs. 2 EUV (ex-Art. F Abs. 2 EUV) eingeführt, demzufolge der Union die Achtung der Grundrechte ausdrücklich aufgegeben wird. Anders als noch durch Art. L a. F. ist Art. 6 Abs. 2 EUV nunmehr gem. Art. 46 lit. d EUV ausdrücklich der Rechtsprechung des EuGH unterstellt. Der Gerichtshof bezieht sich in seiner Rechtsprechung zu 63
Hierzu Dause, JöR 1982, 1, 3. Vgl. Nowak, Konkurrentenschutz in der EG, S. 408 m. N. zur Kritik an mangelnder inhaltlicher Konkretisierung anerkannter Grundrechte sowie zu Bedenken gegenüber der grundrechtsdogmatischen Position des EuGH. 65 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 33 m. w. N. 66 St. Rspr. seit EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft mbH/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, 17.12.1970, Slg. 1970, 1125, 1135. 67 EuGH, Rs. 29/69, Erich Stauder/Stadt Ulm, Sozialamt, 12.11.1969, Slg. 1969, 419, 425. 68 Vgl. etwa Pernice, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 164, Rn. 48 (8. EL Mai 1995). 64
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den Grundrechten nach anfänglichem Zögern denn auch zunehmend auf diese Bestimmung.69 Die alleinige Rechtsquelle der Gemeinschaftsgrundrechte ist damit gegenwärtig in Art. 6 Abs. 2 EUV zu sehen.70 II. Rechtserkenntnisquellen Vom Geltungsgrund der Grundrechte, verankert in der Rechtsquelle des Art. 6 Abs. 2 EUV, sind die sog. Rechtserkenntnisquellen zu unterscheiden. Hiermit sind die für Auslegung und Konkretisierung der Grundrechte maßgebenden normativen Vorgaben gemeint.71 Wenngleich Art. 6 Abs. 2 EUV nicht selbst eine solche Rechtserkenntnisquelle darstellt, so verweist die Bestimmung doch auf die insoweit entscheidenden Gesichtspunkte, nach denen sich die Grundrechtskonkretisierung zu richten hat: Dies sind zum einen die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sowie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten.72 Damit sind in den EU-Vertrag 1992 gerade jene Rechtserkenntnisquellen aufgenommen worden, die in der Grundrechtsjudikatur des EuGH seit Beginn der siebziger Jahre eine zentrale Rolle einnehmen. Im Rahmen der Entscheidung Internationale Handelsgesellschaft73 von 1970 wurden die Grundrechte erstmals mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten in Verbindung gebracht. 1974 kam es dann in der Entscheidung Nold74 zur vorsichtigen Einbeziehung auch der internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Ob über diese beiden Rechtserkenntnisquellen hinaus auch Erklärungen der politischen Gemeinschaftsorgane zu den Grundrechten Bedeutung bei deren Konkretisierung erlangen sollen oder Grundsätze des geschriebenen Primärrechts zu berücksichtigen sind, wird in der Literatur nicht einheitlich beurteilt.75 In 69 Vgl. aus der jüngeren Rspr. EuGH, Rs. C-274/99 P, Bernard Connolly, 6.3.2001, Rn. 37 f.; Rs. C-7/98, Dieter Krombach/André Bamberski, 28.3.2000, Rn. 25 ff.; Rs. C-199/92 P, Hüls AG, 8.7.1999, Rn. 149. 70 So auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 33. 71 Kingreen, JuS 2000, 857, 859; vgl. dazu Streinz, Europarecht, Rn. 361 m. w. N. 72 Zu diesen Rechtserkenntnisquellen für die Grundrechtsjudikatur des EuGH Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 54 ff. 73 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft mbH/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, 17.12.1970, Slg. 1970, 1125, 1135. 74 EuGH, Rs. 4/73, J. Nold, Kohlen- und Baustoffgroßhandlung/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 14.5.1974, Slg. 1974, 491, 507. 75 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 37, mit ausführlichen Nachweisen zu den unterschiedlichen Auffassungen in Fn. 94.
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seiner Rechtsprechung lässt der EuGH jedenfalls keinen Zweifel daran, dass er sich entscheidend von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den Hinweisen leiten lässt, die die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, wobei der EMRK in diesem Rahmen ausdrücklich eine besondere Bedeutung zugesprochen wird.76 Während die zuvor beschriebenen Gesichtspunkte für die Auslegung und Konkretisierung grundsätzlich aller Grundrechte gelten, zeigen sich indes bei der Betrachtung des primärrechtlichen Gleichheitssatzes gewisse Besonderheiten. Hierauf wird im weiteren Verlauf (unter V.) näher einzugehen sein. III. Methodik der Ermittlung von Gemeinschaftsgrundrechten Nach heute ganz überwiegender Auffassung lässt sich die vom EuGH bei der Ermittlung von Gemeinschaftsgrundrechten angewandte Methodik als „wertende Rechtsvergleichung“ bezeichnen.77 Wertungen erfolgen dabei vornehmlich im Hinblick auf die den allgemeinen Rechtsgrundsatz umgebende Gesamtverfassung, so dass es insbesondere darauf ankommt, ob sich das auszulegende Grundrecht in die Struktur und die Ziele des Gemeinschaftsrechts einfügt.78 Gesucht wird mithin nicht nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Verfassungen der Mitgliedstaaten, sondern danach, was sich aufgrund einer rechtsvergleichenden Umschau als die beste Lösung darstellt.79 Kritik an einer solchen Methodik wird vor allem unter dem Gesichtspunkt unzureichender Rechtssicherheit vorgebracht, da es keine hinreichend klaren Kriterien für die Bestimmung der „besten“ Lösung gebe.80 Kein eigentliches Defizit der „wertenden Rechtsvergleichung“ als Methode, sondern eher einen Mangel in deren Handhabung durch den EuGH stellt hingegen die zu Recht kritisierte mangelnde Transparenz in der Rechtsprechung des Gerichtshofes dar81, der im Bereich der Grundrechte fast durchgängig auf methodische Ausführungen verzichtet. 76 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-7/98, Dieter Krombach/André Bamberski, 28.3.2000, Rn. 25; Rs. 222/84, Marguerite Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, 15.5.1986, Slg. 1986, 1663, 1682. 77 Zur Methode der „wertenden Rechtsvergleichung“ Pernice/Mayer, in: Grabitz/ Hilf (Hrsg.), EU, nach Art. 6 EUV, Rn. 13 ff. m. w. N.; Bleckmann, Die wertende Rechtsvergleichung bei der Entwicklung europäischer Grundrechte, S. 29 ff. 78 Vgl. EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft mbH/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, 17.12.1970, Slg. 1970, 1125, 1135. 79 Zweigert, RabelsZ 1964, 601, 611. 80 Vgl. Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, nach Art. 6 EUV, Rn. 14. 81 Hierzu Nowak, Konkurrentenschutz in der EG, S. 413 m. w. N. zur Kritik an der mangelnden methodischen Transparenz in der Rechtsprechung des EuGH.
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IV. Impulse durch die Grundrechtscharta der EU Bedeutende Impulse für den Grundrechtsschutz in Europa könnten zukünftig von einer ausformulierten Charta der Grundrechte ausgehen.82 Die EU-Grundrechtscharta wurde beim Rat von Nizza am 7. Dezember 2000 von Rat, Europäischem Parlament und Kommission unterzeichnet. Allerdings ist mit diesem Akt keine Verbindlichkeit der Charta im Recht der EU verbunden. Somit bleibt es zunächst bei den zuvor beschriebenen zwei hauptsächlichen Rechtserkenntnisquellen für die Gemeinschaftsgrundrechte. Gleichwohl wird zum Teil von einer zumindest „weichen“ normativen Wirkung der Charta ausgegangen.83 Jedenfalls scheint es durchaus als möglich, dass der EuGH zukünftig Ergebnisse seiner auf Art. 6 Abs. 2 EUV gestützten Rechtsprechung zusätzlich mit dem Inhalt der Charta begründen wird84 und es so zu einer losen Verbindung von Grundrechtsjudikatur und Grundrechtscharta kommt. Darüber hinaus dürfte die Charta weitere Impulse für einen vertieften europäischen Diskurs über die Konzeption der Grundrechte geben, auf dessen Bedeutung auch für die Rechtsprechung des EuGH zu Recht hingewiesen wird.85 Dies ist umso wahrscheinlicher, als das politische Gewicht der Charta bereits durch die Möglichkeit einer zukünftigen Aufnahme in das Primärrecht der EU im Rahmen des Vertrages über eine Verfassung für Europa gestärkt wird. Trotz fehlender aktueller Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtscharta stellt diese damit bereits gegenwärtig einen Ausgangspunkt für weitere Konkretisierungen der europäischen Gemeinschaftsgrundrechte dar. Insofern könnte auch eine in ihrem Gewicht gegenüber den anderen Rechtserkenntnisquellen noch deutlich nachrangige Charta gleichwohl zu einer präziseren Handhabung und genaueren Konturierung der Grundrechte durch den EuGH beitragen.86 82
Einen Überblick über Entstehung und Inhalt der Grundrechtscharta gibt Baer, ZRP 2000, 361. Zur Charta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht vgl. Schmitz, JZ 2001, 833 ff. 83 Zur rechtlichen Qualität der Charta und ihrer Bedeutung nach der Proklamation vgl. Grabenwarter, DVBl 2001, 1, 11; Pache, EuR 2001, 475, 485 ff. Kritisch zur substantiellen Funktion der Charta Haltern, Gestalt und Finalität, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 830 ff., der die Ratio des Grundrechtskatalogs vorrangig in dessen Ästhetik verortet. 84 Grabenwarter, DVBl 2001, 1, 11 hält dies für besonders nahe liegend bei Berücksichtigung von EuGH, Rs. 44/79, Liselotte Hauer/Land Rheinland-Pfalz, 13.12.1979, Slg. 1979, 3727, 3745, wo die kurz zuvor zur EMRK verabschiedete Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission in die Urteilsbegründung mit einfließt. Die Bedeutung der Grundrechtscharta für die Rechtsprechung des EuGH betont auch Mahlmann, ZEuS 2000, 419, 426. 85 Vgl. Pernice, DVBl 2000, 847, 850.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
Aufgrund der dargestellten, von der Grundrechtscharta der EU zu erwartenden Impulse soll abschließend die Behandlung des Themas Gleichheit im Rahmen der Charta betrachtet werden. Während Kapitel I die Würde des Menschen an die Spitze der Charta stellt und Kapitel II unterschiedliche Freiheitsrechte enthält, ist Kapitel III mit „Gleichheit“ überschrieben. Zu Beginn des Kapitels findet sich in Art. 20 ein allgemeiner Gleichheitssatz, der dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes sehr nahe kommt, wenn postuliert wird: „Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich“. Im Anschluss daran werden in Art. 21 spezielle Diskriminierungsverbote aufgestellt und dabei Differenzierungskriterien aufgenommen, die bereits in Art. 13 EGV87, Art. 14 EMRK88 und Art. 11 des Übereinkommens über Menschenrechte und Biomedizin enthalten sind: Verboten sind danach gemäß Art. 21 Abs. 1 der Grundrechtscharta Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Zu diesem umfangreichen Katalog fügt Art. 21 Abs. 2 der Grundrechtscharta das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit hinzu, wie es in Art. 12 EGV seinen Ausdruck gefunden hat. Die Charta gewährleistet weiter die Gleichheit von Männern und Frauen in Art. 23, wo zudem – wie in Art. 141 Abs. 4 EGV – die Beibehaltung oder Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht mit dem Gleichheitssatz für vereinbar erklärt wird. Schließlich enthält Kapitel III weitere Bestimmungen, deren Verbindung mit dem Gleichheitssatz zum Teil nur äußerst lose ist.89 Festzuhalten bleibt, dass der Gleichheitssatz in der Grundrechtscharta eine zentrale Rolle einnimmt, so dass zutreffend von einer europäischen Grundrechtstrias, bestehend aus Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit, die Rede ist.90
86
Dazu v. Bogdandy, JZ 2001, 157, 167. Siehe oben, Vierter Teil, 1. Kapitel, C. I. 88 Hierzu Vierter Teil, 1. Kapitel, C. II. 89 Vgl. etwa Art. 24 der Grundrechtscharta, in dem es um die Rechte des Kindes geht. Kritisch zur Grundrechtsqualität dieser und weiterer Bestimmungen in Kapitel III sowie zu ihrer Verbindung zum Gleichheitssatz Grabenwarter, DVBl 2001, 1, 6. 90 Vgl. Baer, ZRP 2000, 361, 364. 87
2. Kap.: Gleichheit als europäisches Grundrecht
319
V. Besonderheiten des Gleichheitssatzes Bei Betrachtung der maßgeblichen Rechtserkenntnisquellen für die Gemeinschaftsgrundrechte wurde bereits erwähnt, dass Herleitung und Konkretisierung des Gleichheitssatzes durch Besonderheiten gekennzeichnet sind. Diese ergeben sich daraus, dass der EuGH den Gleichheitssatz nicht aus den üblichen Rechtserkenntnisquellen ableitet, wie sie oben beschrieben worden sind. Vielmehr erfolgt die Ableitung des Gleichheitssatzes insbesondere auf der Grundlage einer Zusammenschau der konkreten Gleichheitssätze des Europäischen Gemeinschaftsrechts.91 Damit ist der Gleichheitssatz das einzige bislang vom EuGH anerkannte Grundrecht, dessen Konkretisierung nicht vornehmlich anhand der EMRK oder der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen erfolgt. In der europarechtlichen Literatur92 wird insoweit zutreffend konstatiert, dass die inhaltliche Ausgestaltung des Gleichheitssatzes durch den Gerichtshof vorwiegend an die Aussagen der speziellen Diskriminierungsverbote anknüpft sowie an die allgemeinen Ziele des Vertrages. Gegen diese Bezugnahme des EuGH auf die im Primärrecht enthaltenen speziellen Diskriminierungsverbote spricht indes die damit einhergehende Gefahr, ihrem Anwendungsbereich nach beschränkte Vorschriften des Primärrechts, wie etwa die speziellen Gleichheitssätze oder die Grundfreiheiten, unzulässig auszudehnen. Zu Recht hat der Gerichtshof93 daher etwa das Grundrecht der Berufsfreiheit nicht aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten entwickelt.94 Es sollten daher die von Rechtsprechung und Literatur übereinstimmend akzeptierten und nunmehr in Art. 6 Abs. 2 EUV primärrechtlich verankerten Erkenntnisquellen auch im Hinblick auf den Gleichheitssatz herangezogen werden, wobei dessen Ableitung aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten nahe liegt.95 Von diesem Ansatz her erfolgt der Rückgriff auf allgemeine Ziele des Vertrages sodann im Rahmen der Methode wertender Rechtsvergleichung, bei der, wie gesehen96, auch zu be-
91
Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 1779 m. w. N. Siehe Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 33. 93 Vgl. EuGH, Rs. 44/79, Liselotte Hauer/Land Rheinland-Pfalz, 13.12.1979, Slg. 1979, 3727, 3750. 94 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 40. 95 Ebenso Bleckmann, Europarecht, Rn. 1779; vgl. auch die Nachweise bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 170, Fn. 485 zu dem in sämtlichen Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich verbürgten allgemeinen Gleichheitssatz. 96 Vierter Teil, 2. Kapitel, C. III. 92
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
rücksichtigen ist, wie sich das auszulegende Grundrecht in die Ziele und Strukturen des Gemeinschaftsrechts einfügt.
D. Einheitlichkeit des grundrechtlichen Gleichheitssatzes Das Verhältnis von allgemeinem Gleichheitssatz zu den besonderen primärrechtlichen Gleichheitssätzen wird herkömmlich als Spezialitätsverhältnis beschrieben: Soweit danach besondere Gleichheitssätze betroffen sind, soll der allgemeine Gleichheitssatz als subsidiär zurücktreten.97 Dem ist im Grundsatz zuzustimmen. Gleichwohl trägt diese auf den ersten Blick unproblematische Annahme nicht unwesentlich zum oben beschriebenen gleichheitsrechtlichen Partikularismus mit seinen zahlreichen Folgeproblemen bei. Die Gründe hierfür sind insbesondere darin zu sehen, dass durch die vermeintlich trennscharfe Unterscheidung von allgemeinem Gleichheitssatz und besonderen Gleichheitssätzen strukturell durchaus ähnlich gelagerte Aspekte der Gleichheitsprüfung mit unterschiedlichen Begriffen belegt werden98 und sich die gleichheitsrechtliche Diskussion weitgehend innerhalb der Grenzen der einzelnen Gleichheitssätze bewegt.99 Hingegen spricht die Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH, wie gesehen100, dafür, dass eine Entscheidung über die Anwendung des allgemeinen oder eines besonderen Gleichheitssatzes oftmals vermieden wird und die Festlegung auf einen konkreten Gleichheitssatz unterbleiben kann, da hiermit keine wesentliche Änderung der nachfolgenden Grundrechtsprüfung verbunden ist. Angesichts dieses Befundes stellt sich umso dringender die Frage nach einer allgemeinen Dogmatik des Gleichheitssatzes, die diesen in seiner Einheitlichkeit begreift und daraufhin untersucht, welche Gemeinsamkeiten er mit seinen „Ausformungen“101 teilt. Zutreffend wird von Teilen der europarechtlichen Literatur in diesem Zusammenhang angenommen, alle Gleichheitssätze bildeten inhaltlich eine Einheit, weshalb „der Gleichheitssatz“ auch in seiner Gesamtheit zu behandeln und zu entwickeln sei.102 Für das 97 Vgl. etwa Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 46; Feige, Der Gleichheitssatz im Recht der EWG, S. 195. 98 Siehe zum Beispiel die unterschiedlichen Formulierungen für die Rechtfertigung von Gleichheitsverstößen bei einzelnen Gleichheitssätzen durch den EuGH, Vierter Teil, 2. Kapitel, A. II. 99 Kischel, EuGRZ 1997, 1, 11. 100 Hierzu oben, Vierter Teil, 2. Kapitel, A. 101 Von „Ausformungen“ des allgemeinen Gleichheitssatzes spricht Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 88. 102 Wegweisend Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4; vgl. auch Rossi, EuR 2000, 197, 209.
2. Kap.: Gleichheit als europäisches Grundrecht
321
deutsche Verfassungsrecht hat bereits Dürig103 auf die Verbindungslinien der einzelnen Gleichheitssätze hingewiesen: „Die Interdependenz zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz und seinen Spezialisierungen ‚schnurrt‘ aber nicht so einfach nach dem normlogischen Schema von lex generalis und leges speziales.“ Vielmehr habe das Bundesverfassungsgericht richtigerweise auch bei den entferntesten Spezialisierungen die Seile zum allgemeinen Gleichheitssatz niemals endgültig zerschnitten und keine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in die völlige Isolierung von ihm entlassen.104 Nachfolgend soll daher der Versuch unternommen werden, die dogmatischen Grundlagen des grundrechtlichen Gleichheitssatzes zu entwickeln, der in dem zuvor beschriebenen umfassenden Sinne verstanden wird und sich nicht in einer Gegenüberstellung von allgemeinem Gleichheitssatz und besonderen Gleichheitssätzen erschöpft. Es ist letztlich diese einheitlichere Perspektive, auf die Bezug genommen wird, wenn im europarechtlichen Schrifttum formuliert wird: „Daneben gibt es, oder besser gesagt, diese ausdrücklichen [Gleichheits-]Rechte sind eingebettet in einen allgemeinen Gleichheitssatz.“105 Soweit demnach die einzelnen vom EuGH konstatierten „Ausprägungen“ des allgemeinen Gleichheitssatzes mit diesem gemeinsame systematische Strukturen aufweisen, ist eine einheitliche Entwicklung der Gleichheitsdogmatik – insbesondere im Hinblick auf die Rechtfertigung von Gleichheitsverstößen – anzustreben, die über die Grenzen der einzelnen Gleichheitssätze hinausgeht.
E. Grundstruktur des Gleichheitssatzes Der Begriff „Gleichheit“ ist von einer besonders vielschichtigen Verwendung in unterschiedlichen Bereichen gekennzeichnet. So kommt ihm etwa Bedeutung im Rahmen der Logik, der Mathematik, der Rechtswissenschaft, politischen Wissenschaft und nicht zuletzt als einem Grundbegriff der Umgangssprache zu.106 Es erscheint daher notwendig, zunächst auf die allgemeine Grundstruktur einzugehen, die dem Begriff der Gleichheit zukommt, bevor im Anschluss daran das Prüfungsschema des grundrechtlichen Gleichheitssatzes im Einzelnen entwickelt werden soll.
103
Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 261. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 253 m. w. N. 105 Rohde/Lorenzmeier, Europarecht, S. 151. 106 Zum Gleichheitsbegriff vgl. ausführlich Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 16 ff. 104
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
I. Gleichheit als Beziehung „Gleichheit“ bezeichnet keine Eigenschaft von Personen und Dingen. Weder einer einzelnen Person noch einem einzelnen Gegenstand kann „Gleichheit“ zukommen. Vielmehr wird Gleichheit erst durch den menschlichen Verstand konstituiert und ist an den reflektierenden Prozess des Vergleichens gebunden.107 Der Begriff bezeichnet daher keine Eigenschaft, sondern eine Beziehung zwischen Dingen oder deren Eigenschaften.108 Gegenstand des Vergleichens sind demnach mindestens zwei Dinge, die auf Übereinstimmung in gewisser Hinsicht (hierzu sogleich unter II.) untersucht werden. Der Begriff der Gleichheit ist somit durch die Eigenart charakterisiert, „relativ“ zu sein, das heißt Aussagen über ein Verhältnis zu treffen. II. Gleichheit und tertium comparationis Gleichheit kennzeichnet also eine Beziehung zwischen Sachverhalten. Jedoch ist diese Gleichheit nie in einem umfassenden Sinne anzutreffen, sondern immer nur Gleichheit in bestimmter Hinsicht. Dieser bestimmte Gesichtspunkt, unter dem ein Vergleich erfolgt, wird als tertium comparationis bezeichnet109. Die Aussage der Gleichheit bezeichnet damit die Übereinstimmung in einem bestimmten Merkmal bei Verschiedenheit in anderen Merkmalen. In einem solchen Sinne sind auch die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts110 zu verstehen, wonach zwei menschliche Individuen oder menschliche Lebenssituationen niemals in allen Hinsichten gleich sind – anderenfalls würde es sich um Identität handeln (dazu im Anschluss unter III.). Vor diesem Hintergrund sind die verbreiteten Hinweise auf subjektive Faktoren des Vergleichens111 zu berücksichtigen. Die Auswahl des tertium comparationis, das heißt die Frage, unter welchem Gesichtspunkt verglichen wird, ist grundsätzlich in das Belieben des vergleichenden Subjekts gestellt. Damit ist eine wesentliche Einbruchstelle subjektiver Ermessenserwägungen 107 Zum Prozess des Vergleichens siehe auch Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 1 ff. 108 Herwig, Gleichbehandlung und Egalisierung, S. 58. 109 Vgl. Herwig, Gleichbehandlung und Egalisierung, S. 60 ff. 110 Vgl. BVerfGE 50, 177, 186: „Dabei ist davon auszugehen, daß sich die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG immer auf den Vergleich von Lebensverhältnissen bezieht, die nie in allen, sondern stets nur in einzelnen Elementen gleich sind.“ 111 Siehe etwa Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, S. 24 ff.; Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 18.
2. Kap.: Gleichheit als europäisches Grundrecht
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in die Gleichheitsprüfung benannt, die bei Betrachtung der Rechtsprechung des EuGH von größerer Bedeutung sein wird. Angesichts der Möglichkeit, durch die Wahl des entscheidenden Vergleichsmerkmals das Ergebnis des Vergleichens zu beeinflussen, ist dieser Aspekt im Rahmen des Gleichheitssatzes besonders sorgfältig zu untersuchen. Gleichwohl bleibt trotz der berechtigten Hinweise auf die subjektiven Faktoren des Vergleichens hervorzuheben, dass die aus dem Prozess des Vergleichens resultierenden Urteile durchaus eine objektive Grundlage in der Beschaffenheit der Vergleichsobjekte haben.112 So basiert der Vergleich zweier Pflanzen zunächst zwar auf der (subjektiven) Auswahl der zu vergleichenden Objekte und ist gefolgt von der ebenfalls subjektiven Auswahl eines bestimmten Gesichtspunktes (tertium comparationis), unter dem der Vergleich erfolgen soll. Ist jedoch erst einmal festgelegt worden, dass etwa die Blattstellung der Pflanzen den maßgebliche Vergleichsgesichtspunkt darstellen soll, so hat das Urteil des Vergleichens in der tatsächlichen, zum Beispiel wechselständigen oder gegenständigen Beschaffenheit von Blättern der Vergleichsobjekte, seine objektive Grundlage. III. Ähnlichkeit, Gleichheit, Identität Gleichheit in dem zuvor beschriebenen Sinne der Übereinstimmung mehrerer Vergleichsobjekte in einem bestimmten Merkmal bei Verschiedenheit in anderen Merkmalen ist zu unterscheiden von den Begriffen der Identität und der Ähnlichkeit. „Ähnlichkeit“ bezeichnet eine nur annähernde Übereinstimmung bestimmter Merkmale.113 Von Identität wird hingegen üblicherweise dann gesprochen, wenn sich die Übereinstimmung nicht – wie im Rahmen des Gleichheitsurteils – auf ein bestimmtes Merkmal bezieht, sondern auf sämtliche Merkmale erstreckt.114 Diesem vorherrschenden philosophischen Verständnis von Identität als Übereinstimmung in allen Merkmalen wird zum Teil eine ontologische Interpretation entgegengestellt, die Identität als seinsmäßige Konstanz bei möglicherweise wechselnden Eigenschaften begreift.115 Vorliegend bedarf es diesbezüglich indes keiner wei112
Herwig, Gleichbehandlung und Egalisierung, S. 60. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 17 m. w. N. Im Ergebnis wohl übereinstimmend, der Formulierung nach jedoch missverständlich Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 10 („Fast-Identität in einer bestimmten Hinsicht“). 114 Vgl. etwa Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 10: „Ununterscheidbarkeit in jeder Hinsicht“; Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 27; Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 50. 115 Siehe Herwig, Gleichbehandlung und Egalisierung, S. 65 ff. m. w. N. Zu den Besonderheiten des rechtlichen Identitätsbegriffes gegenüber demjenigen der Phi113
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
teren Vertiefung des Identitätsbegriffes, um die Grundstruktur des Gleichheitssatzes zu verdeutlichen. Festzuhalten bleibt, dass der Gleichheitsbegriff im Hinblick auf den Grad der geforderten Übereinstimmung der Vergleichsobjekte zwischen demjenigen der Ähnlichkeit (nur annähernde Übereinstimmung) und dem der Identität (verstanden als Übereinstimmung sämtlicher Merkmale) anzusiedeln ist. 3. Kapitel
Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen Die Notwendigkeit der Entwicklung einer allgemeinen Dogmatik des Gleichheitssatzes wurde weiter oben116 bereits unterstrichen. Von zentraler Bedeutung für ein solches Vorhaben sind insbesondere die Klärung des anzuwendenden Prüfungsschemas sowie die Erarbeitung einer überzeugenden Konzeption des Prüfungsmaßstabs. Als Prüfungsmaßstab werden dabei im Folgenden die inhaltlichen Anforderungen des Gleichheitsgrundrechts an hoheitliches Handeln bezeichnet. Hingegen bezieht sich der Begriff des Prüfungsschemas auf die Abfolge der einzelnen Prüfungsschritte im Rahmen der Gleichheitsprüfung. Welches Prüfungsschema für den Gleichheitssatz heranzuziehen ist, wird im Europarecht nicht einheitlich beurteilt. Dieser Befund für die europarechtliche Gleichheitsprüfung ist indes wenig überraschend wenn man berücksichtigt, dass selbst vor dem Hintergrund der von Rechtsprechung und Literatur ungleich länger fortentwickelten dogmatischen Strukturen verfassungsrechtlicher Gleichheitssätze der Mitgliedstaaten Diskrepanzen über die einzelnen Prüfungsschritte verbleiben. So wird etwa zum allgemeinen Gleichheitssatz in Deutschland ein zweistufiges117 Prüfungsschema ebenso vertreten wie ein dreistufiges118, während andere sogar von einer vierstufigen119 Gleichheitsprüfung ausgehen. Für den Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht hat Schilling die Rechtsprechung des EuGH unlängst im Sinne eines dreistufigen Prüfungsschemas analysiert.120 Danach sei zunächst die Vergleichbarkeit der Sachverhalte festzustellen. Anschließend müsse überprüft werden, ob objektive Umstände die Differenzierung rechtfertigen. Ablosophie vgl. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 18. 116 Vierter Teil, 2. Kapitel, B. 117 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 501. 118 Vgl. etwa Müller, Fallanalysen zur juristischen Methodik, S. 17 f. 119 Kirchhof, NJW 1987, 2354, 2356. 120 Schilling, EuGRZ 2000, 3, 14.
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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schließend soll es darauf ankommen, ob die Differenzierung in einem angemessenen Verhältnis zu den rechtfertigenden Umständen steht. Zweifel an dem Aufbau der Gleichheitsprüfung in der zuvor dargestellten Form ergeben sich insbesondere unter zwei Gesichtspunkten. Zum einen ist auf das Element der Ungleichbehandlung hinzuweisen, welches durch das Prüfungsschema nicht hinreichend berücksichtigt wird. Darüber hinaus ist die Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Gleichheitsprüfung durch den EuGH unklar121 und bedarf deshalb im weiteren Verlauf der Untersuchung einer genaueren Betrachtung.122 Im Hinblick auf die Bestimmung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsschemas genügt an dieser Stelle jedoch zunächst die Formel, durch die der EuGH in ständiger Rechtsprechung den Inhalt des Gleichheitssatzes charakterisiert. Danach „dürfen vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, sofern nicht eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist“123. Noch deutlicher wird der Gerichtshof mit der Feststellung, ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz liege immer dann vor, wenn „vergleichbare Sachverhalte in unterschiedlicher Weise behandelt und dadurch bestimmte Betroffene gegenüber anderen benachteiligt [werden], ohne daß diese Ungleichbehandlung durch das Vorliegen objektiver Unterschiede von einigem Gewicht gerechtfertigt wäre“124. Die Formulierungen des EuGH weisen auf die maßgeblichen Prüfungsschritte im Rahmen des Gleichheitssatzes hin. Hierzu gehört zunächst die Frage nach der Vergleichbarkeit der Sachverhalte. Weiterhin muss eine (benachteiligende) Ungleichbehandlung vorliegen. Schließlich ist zu prüfen, ob eine Rechtfertigung in Betracht kommt. Diese Auffassung vom Prüfungsaufbau des Gleichheitssatzes mit dem Merkmal der „Vergleichbarkeit“ an der Spitze erinnert damit an die klassische Formel des Bundesverfassungsgerichts, wonach nicht ausnahmslos alles, sondern lediglich „Gleiches gleich“ (und Ungleiches ungleich) zu behandeln sei.125 Bereits bei Aristoteles findet sich eine ähnliche Aussage: „So hält man zum Beispiel das Recht 121
Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 182. Ausführlich hierzu unten, Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. b). 123 Siehe etwa EuGH, Rs. C-168/98, Großherzogtum Luxemburg/Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union, 7.11.2000, Rn. 23; Rs. C-242/97, Königreich Belgien/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 18.5.2000, Rn. 131; Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 39; Rs. C-85/97, Société financière d’investissements SPRL (SFI)/État belge, 19.11.1998, Rn. 30; verb. Rs. C-248/95 und C-249/95, SAM Schiffahrt GmbH, Heinz Stapf/Bundesrepublik Deutschland, 17.7.1997, Rn. 50. 124 EuGH, Rs. 250/83, Finsider/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 15.1.1985, Slg. 1985, 142, 152. 125 Vgl. BVerfGE 42, 64, 72 m. w. N. 122
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
für Gleichheit, und das ist es auch, aber als Gleichheit für gleiche, nicht für alle. Und so hält man auch die Ungleichheit für Recht, und sie ist es ja auch, aber nicht für alle, sondern für ungleiche.“126 Die Aufgliederung der Gleichheitsprüfung in die Elemente Vergleichbarkeit (1), Ungleichbehandlung (2) und Rechtfertigung (3) greift damit auf ein bis in die griechische Antike reichendes Konzept zurück, das heute als Rechtsüberzeugung in der gemeineuropäischen Kulturgemeinschaft verankert ist127 und in der Rechtsprechung des EuGH zum grundrechtlichen Gleichheitssatz seinen Ausdruck gefunden hat.
A. Vergleichbarkeit I. Zum Begriff der „Vergleichbarkeit“ Ausgangspunkt der Gleichheitsprüfung durch den EuGH ist regelmäßig die Frage, ob vergleichbare Sachverhalte vorliegen. Nur wenn dies bejaht wird, kann eine Ungleichbehandlung bei fehlender Rechtfertigung überhaupt eine verbotene Diskriminierung darstellen. Angesichts der Bedeutung des Merkmals der Vergleichbarkeit hat zunächst eine Präzisierung des Begriffes zu erfolgen. Dabei ist hervorzuheben, dass Vergleichbarkeit nicht zwingend Gleichheit oder gar Identität bedeutet, wie sie oben128 dargestellt wurden.129 Insofern ist es irreführend, wenn der EuGH selbst vereinzelt davon spricht, das Diskriminierungsverbot verbiete es, „gleiche“130 Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln, sofern eine solche Behandlung nicht gerechtfertigt sei. Hingegen wird in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle ausdrücklich die „Vergleichbarkeit“131 der Sachverhalte gefordert. 126
Aristoteles, Politik III 9, 1280a. Kischel, AöR 124 (1999), 174, 180 m. w. N.; vgl. Hesse, AöR 109 (1984), 174, 194 ff., mit Nachweisen zur Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts, des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, des italienischen Verfassungsgerichtshofs sowie des U.S. Supreme Court. 128 Vierter Teil, 2. Kapitel, E. III. 129 Zur Abgrenzung der Vergleichbarkeit von Gleichheit und Identität vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 50 f. m. w. N. Allgemein zum Merkmal der Vergleichbarkeit siehe Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 223 ff. 130 Vgl. EuGH, Rs. C-148/02, M. Carlos Garcia Avello/Belgischer Staat, 2.10.2003, Rn. 31. 131 EuGH, Rs. C-168/98, Großherzogtum Luxemburg/Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union, 7.11.2000, Rn. 23; Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/ Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 51; Rs. C-242/97, Königreich Belgien/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 18.5.2000, Rn. 131; Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 39; Rs. C-85/97, Société financière d’investissements SPRL (SFI)/État belge, 19.11.1998, Rn. 30; verb. Rs. C-248/95 127
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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Wenn auch „Vergleichbarkeit“ somit dem Begriffe nach von demjenigen der „Gleichheit“ zu unterscheiden ist, so verbleiben doch bedeutende Unsicherheiten hinsichtlich einer genaueren Charakterisierung der jeweiligen Anforderungen. Um zu einer stärkeren Konturierung zu gelangen, wird daher vorgeschlagen, Vergleichbarkeit anzunehmen, wenn zwei Sachverhalte „in Merkmalen übereinstimmen, die sie entscheidend prägen oder die wesentlich sind“132. Für die daran anschließende Frage, wonach sich die Bewertung als „wesentlich“ konkret zu orientieren habe, wird indes eine allgemeine Aussage vermieden und auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalles verwiesen.133 Auch dieser Ansatz trägt damit nur wenig dazu bei, den Begriff der Vergleichbarkeit genauer zu bestimmen.134 Die bisherigen Ausführungen belegen, weshalb trotz der unterschiedlichen Wortbedeutungen von „vergleichbar“ und „gleich“ ähnliche Probleme entstehen, wenn diese im Rahmen des ersten Prüfungsschrittes der Gleichheitsprüfung herangezogen werden. So ist die vom Bundesverfassungsgericht verwendete Formel des Gleichbehandlungsgrundsatzes, wonach weder „wesentlich Gleiches“ willkürlich ungleich, noch „wesentlich Ungleiches“ willkürlich gleich behandelt werden dürfe, von Unsicherheiten bezüglich der Bestimmung „wesentlicher“ (Un-)Gleichheit gekennzeichnet, die mit denen der europäischen Gleichheitsprüfung weitgehend übereinstimmen.135 Maßgeblicher Grund hierfür ist die oben (2. Kapitel, E.) erläuterte Grundstruktur des Gleichheitssatzes. Danach sagt allein die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einzelner Merkmale noch nichts darüber aus, ob der Gleichheitssatz im konkreten Fall die Gleichbehandlung erfordert. Vielmehr bedarf es einer wertenden Entscheidung des Urteilenden im Hinblick darauf, was „wesentlich gleich“136 ist bzw. welche Übereinstimmung von Merkmalen für die „Vergleichbarkeit“ der Sachverhalte spricht.137 Angesichts der bislang konstatierten Offenheit des Begriffes und C-249/95, SAM Schiffahrt GmbH, Heinz Stapf/Bundesrepublik Deutschland, 17.7.1997, Rn. 50; vgl. auch Generalanwalt Alber, Rs. C-366/99, Josef Griesmar/ Ministre de l’économie, des finances et de l’industrie, Ministre de la fonction publique, de la réforme de l’Etat et de la décentralisation, 22.2.2001, Rn. 81. 132 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 52. 133 Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 52 m. w. N. 134 In diese Richtung auch Crones, Selbstbindungen der Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 61. 135 Vgl. oben, Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 1. 136 Zur Formel des BVerfG, wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich zu behandeln vgl. auch Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 66: „Durch eine formale Analyse kann dies [die Entscheidung, was rechtlich gleich und was ungleich ist] nicht geschehen; vielmehr liegt in der Auswahl des Unterscheidungskriteriums notwendig eine subjektive Beurteilung, ein – außerjuristisches – Werturteil“.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
kommt der Rechtsprechung des EuGH zur Vergleichbarkeit von Sachverhalten bei der Suche nach verengenden Anhaltspunkten daher besondere Bedeutung zu. II. Mangelnde Klarheit der Rechtsprechung des EuGH Bevor die Rechtsprechung des EuGH nachfolgend daraufhin untersucht werden soll, ob Maßstäbe existieren, um zu einer genaueren Bestimmung des Tatbestandsmerkmals der Vergleichbarkeit zu gelangen, ist vorab auf eine besondere Schwierigkeit hinzuweisen. Die Rechtsprechung des EuGH ist im Bereich des Gleichheitssatzes unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass der Gerichtshof die von ihm geforderten Prüfungsschritte oftmals selbst nicht klar einhält. So wird in manchen Entscheidungen nicht deutlich, ob sich Erwägungen auf die Vergleichbarkeit der Sachverhalte beziehen oder bereits die Ebene der Rechtfertigung betreffen.138 Zutreffend wird insofern bemängelt, dass die teilweise unzureichende Systematik des EuGH ein umfassendes Verständnis der Dogmatik des Gleichheitssatzes deutlich erschwere.139 Bei der Frage nach den Ursachen für das zuvor konstatierte Defizit ist zu berücksichtigen, dass der Schwerpunkt der Gleichheitsprüfung durch den EuGH regelmäßig auf der Ebene der Rechtfertigung liegt. Erwägungen, die die Vergleichbarkeit von Sachverhalten betreffen, werden somit oftmals nicht gänzlich unterlassen, sondern im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung herangezogen. Die Gleichheitsprüfung wird daher insoweit verkürzt, als die Feststellung einer im konkreten Fall anzunehmenden Rechtfertigung die (systematisch vorgängige) Frage nach der Vergleichbarkeit für das Ergebnis bedeutungslos werden lässt. Auf die Ursachen der damit angesprochenen Entwicklung wird im weiteren Verlauf zurückzukommen sein.
137 An dieser Stelle könnte die parallele Nennung von „wesentlich gleich“ und „Vergleichbarkeit“ darauf hindeuten, dass beide Formulierungen austauschbar sind. Tatsächlich heißt es bei Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 431: „Daher kann wesentliche Gleichheit nur bedeuten, daß Personen, Personengruppen oder Situationen vergleichbar sind.“ Hiergegen zutreffend Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, S. 226 f., wonach Vergleichbarkeit zweier Sachverhalte begrifflich auch vorliegen kann, ohne dass diese notwendig als „wesentlich gleich“ zu betrachten sind. 138 Vgl. etwa EuGH, Rs. 119/83, Edmund Appelbaum/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 11.7.1985, Slg. 1985, 2447, 2455. Allgemein zu diesem Problem Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 220 ff. m. w. N. 139 Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 49 f.
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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III. Versuch der Maßstabsgewinnung und verbleibende Bedeutung von Einzelfall und Wertung Weiter oben140 wurde bereits auf die Versuche hingewiesen, genauere Maßstäbe für die Feststellung der Vergleichbarkeit zu entwickeln, indem auf besonders „prägende“ bzw. „wesentliche“ Merkmale abgestellt wird. Solche Ansätze tragen indes kaum zu einer Konkretisierung der Vergleichbarkeit bei, sondern verlagern lediglich das Wertungsproblem auf eine begrifflich andere Ebene. Hingegen zeigt die Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH, dass zwar bislang keine allgemeingültigen Maßstäbe existieren, gleichwohl zumindest Versuche der Gewinnung von Maßstäben in einzelnen Fallgruppen zu konstatieren sind. Es soll daher nachfolgend die Vergleichbarkeit von Personen, Produkten, Unternehmen und Mitgliedstaaten näher betrachtet und nach konkretisierenden Anhaltspunkten in der Grundrechtsjudikatur für das Vergleichbarkeitsurteil gesucht werden. 1. Feststellung der Vergleichbarkeit im Rahmen einzelner Fallgruppen a) Vergleichbarkeit von Personen Mit der Vergleichbarkeit von Personen hat sich der EuGH in seiner Rechtsprechung insbesondere bei Fragen der Gleichbehandlung der Geschlechter sowie im Bereich des Beamtenrechts auseinandergesetzt.141 Eine aufschlussreiche Prüfung im Hinblick auf die Vergleichbarkeit von Personen findet sich dabei in jüngerer Zeit im Schlussantrag des Generalanwalts Alber sowie dem diesem folgenden Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Abdoulaye.142 In dem Vorabentscheidungsverfahren ging es insbesondere um die Auslegung des Art. 141, der Diskriminierungen von Männern und Frauen im Hinblick auf das Entgelt verbietet. Im zu Grunde liegenden Rechtsstreit hatte das vorlegende Gericht über die Anträge von 244 männlichen Arbeitnehmern der Firma Renault zu entscheiden, die eine einmalige Zahlung durch ihren Arbeitgeber in Höhe von 7.500 FF für jedes ihrer Kinder forderten. Hintergrund war eine tarifvertragliche Regelung, derzufolge schwangere Frauen bei Antritt ihres Mutterschaftsurlaubs einen entsprechenden Betrag ausgezahlt bekamen. Die Kläger sahen hierin einen Verstoß gegen den in Art. 141 enthaltenen Grundsatz des gleichen Entgelts für 140
Vierter Teil, 3. Kapitel, A. Vgl. Crones, Selbstbindungen der Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 61 f. m. w. N. 142 Generalanwalt Alber, Rs. C-218/98, Oumar Dabo Abdoulaye u. a./Régie nationale des usines Renault SA, 3.6.1999; EuGH, Rs. C-218/98, Oumar Dabo Abdoulaye u. a./Régie nationale des usines Renault SA, 16.9.1999. 141
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Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit. Zwar seien bestimmte Ungleichbehandlungen, wie der den Frauen vorbehaltene Mutterschaftsurlaub, aufgrund der biologischen Besonderheiten eines Geschlechts gerechtfertigt. Anders gelagert sei indes die im vorliegenden Fall fragliche einmalige Zahlung an die Mutter. Zwar betreffe die Geburt eines Kindes aus streng biologischer Sicht alleine die Frau, jedoch stelle sie zugleich mindestens in demselben Maße ein soziales Ereignis dar, das die ganze Familie und damit auch den Vater angehe. Dieser dürfe nicht durch Vorenthaltung der Beihilfe ausgeschlossen werden, da sonst eine unzulässige Ungleichbehandlung vorliege. In wünschenswerter, wie gesehen nicht durchgängig anzutreffender Klarheit bezeichnen sowohl der EuGH als auch Generalanwalt Alber im vorliegenden Fall ihre konkreten Prüfungsschritte. So stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass „der Grundsatz des gleichen Entgelts, ebenso wie das allgemeine Diskriminierungsverbot, von dem er eine besondere Ausformung darstellt, [voraussetzt], daß die betroffenen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sich in vergleichbaren Situationen befinden. Die Vereinbarkeit einer Beihilfe . . . mit Art. 141 hängt somit von der Frage ab, ob sich die Arbeitnehmerinnen im Hinblick auf diese Beihilfe in einer mit derjenigen der Arbeitnehmer vergleichbaren Situation befinden“143. Zur Verdeutlichung dieses hier maßgeblichen Prüfungsschrittes weist der Generalanwalt zudem daraufhin, dass „der hier beschrittene Lösungsweg systematisch auf der Tatbestandsseite des Gleichbehandlungsgrundsatzes liegt. Es bedarf daher weder des Eingreifens eines Ausnahmetatbestands noch eines Rechtfertigungsgrundes“144. Ausgangspunkt der nachfolgenden Prüfung ist das Argument der Kläger, wonach bei Abstellen auf die Geburt als sozialem Ereignis die Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vergleichbar sei. Entscheidend ist, ob hierin eine zutreffende Auswahl desjenigen Merkmals liegt, an dem sich die Vergleichbarkeit der Sachverhalte zu orientieren hat. Zur Klärung dieser Frage ist insbesondere die Zielrichtung der angegriffenen Ungleichbehandlung zu konkretisieren. Gegen die Annahme, dass mit der umstrittenen einmaligen Zahlung an das soziale Ereignis der Geburt angeknüpft werden sollte, können vorliegend vor allem drei Gesichtspunkte aufgeführt werden.145 Zum einen erfolgte die Auszahlung des Geldbetrages bereits zu Be143 EuGH, Rs. C-218/98, Oumar Dabo Abdoulaye u. a./Régie nationale des usines Renault SA, 16.9.1999, Rn. 16 f. 144 Generalanwalt Alber, Rs. C-218/98, Oumar Dabo Abdoulaye u. a./Régie nationale des usines Renault SA, 3.6.1999, Rn. 58. 145 Vgl. Generalanwalt Alber, Rs. C-218/98, Oumar Dabo Abdoulaye u. a./Régie nationale des usines Renault SA, 3.6.1999, Rn. 43.
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ginn des Mutterschaftsurlaubs und nicht etwa erst zur Zeit der Geburt. Darüber hinaus wurde die Auszahlung nicht in Frage gestellt, sofern es nicht zur Geburt eines lebenden Kindes kam. Schließlich stand die Regelung im Zusammenhang mit weiteren tarifvertraglichen Maßnahmen zum Schutz der schwangeren Arbeitnehmerin. Ihrer Zielrichtung nach war die Regelung daher auf das engste mit dem Antritt des Mutterschaftsurlaubs durch die Arbeitnehmerin verknüpft, während der Bezug zum Ereignis der Geburt lediglich von nachrangiger Bedeutung war. Der Vortrag der Kläger stellte somit auf ein Merkmal ab, das vor dem Hintergrund der konkreten Regelung zur Bestimmung der Vergleichbarkeit nicht geeignet war. Neben dem zuvor aufgeführten Gesichtspunkt ist ein weiterer Umstand zu berücksichtigen, der Auswirkungen auf die Wertung haben kann, welche Merkmale für das Vergleichbarkeits-Urteil heranzuziehen sind. Dieser basiert auf den Zielen und dem Inhalt des einschlägigen Gründungsvertrages.146 In der Sache Abdoulaye finden sich sowohl in den Ausführungen des Generalanwalts als auch im Urteil des EuGH entsprechende Hinweise. So zitiert Generalanwalt Alber in seinen Schlussanträgen unter anderem Art. 141 Abs. 4 und lässt dessen Inhalt in seine Betrachtungen einfließen. Die durch den Vertrag von Amsterdam neu in den EG-Vertrag aufgenommene Bestimmung besagt, dass im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, „zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Begünstigungen beizubehalten oder zu beschließen“. Sowohl Generalanwalt als auch Gerichtshof stützen ihre Erwägungen zur Vergleichbarkeit der Sachverhalte maßgeblich darauf, ob Arbeitnehmerinnen durch Antritt des Mutterschaftsurlaubs Benachteiligungen im Sinne von Art. 141 Abs. 4 erfahren, wenngleich ihre während des Mutterschaftsurlaubs bezogenen Einkünfte dem Lohn während der vorausgegangenen aktiven Erwerbstätigkeit durchaus entsprechen.147 In diesem Zusammenhang betont der EuGH ausdrücklich einzelne Nachteile, die einer Vergleichbarkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im vorliegenden Fall entgegenstehen. So kann der Frau während des Mutterschaftsurlaubs keine Beförderung angeboten werden. Weiterhin ist ihre Berufserfahrung nach Rückkehr in den 146 Vgl. hierzu in Anlehnung an Börner: Zuleeg, Betrachtungen zum Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 478. 147 Generalanwalt Alber, Rs. C-218/98, Oumar Dabo Abdoulaye u. a./Régie nationale des usines Renault SA, 3.6.1999, Rn. 55, 45; EuGH, Rs. C-218/98, Oumar Dabo Abdoulaye u. a./Régie nationale des usines Renault SA, 16.9.1999, Rn. 18 f.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
Betrieb entsprechend ihrer Abwesenheitsdauer geringer. Auch eine mit der persönlichen Leistung verbundene Gehaltserhöhung komme nicht in Betracht, ebenso wenig die Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen. Schließlich könne sich die Wiederverwendung einer Arbeitnehmerin nach ihrer Rückkehr als schwierig erweisen, da neue Technologien den Arbeitsplatz ständig fortentwickelten. Auch der Generalanwalt hatte zuvor auf diese Nachteile hingewiesen und war zu dem Schluss gelangt, dass der im Mutterschaftsurlaub befindlichen Frau während fast sechs Monaten nicht die gleichen Karrierechancen zukommen wie ihren männlichen Kollegen.148 Die Berücksichtigung des in Art. 141 Abs. 4 beschriebenen Ausgleichs von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn für die Feststellung der Vergleichbarkeit verdeutlicht die knappe Zusammenfassung des EuGH als Ergebnis dieses Prüfungsschrittes: Danach „steht Art. 141 der Zahlung einer Beihilfe wie der im Ausgangsverfahren streitigen allein an die Arbeitnehmerinnen nicht entgegen, sofern sie darauf abzielt, berufliche Nachteile . . . auszugleichen. In einem solchen Fall befänden sich die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nämlich nicht in der gleichen Lage“149. Die Formulierung des Gerichtshofs enthält so durch Anknüpfung an den in Art. 141 Abs. 4 geregelten Ausgleich von Benachteiligungen zugleich den Hinweis auf die Zielrichtung der angegriffenen Maßnahme. Insgesamt nehmen damit beide zuvor erläuterten Elemente eine zentrale Rolle ein bei der Bestimmung jener Merkmale, auf die sich das Urteil der Vergleichbarkeit bezieht. Als entscheidende Merkmale im Hinblick auf die Vergleichbarkeit von Personen wurden in der Rechtsprechung des EuGH zur Besoldung von Beamten auf dieser Grundlage etwa die Laufbahngruppe150 oder der Dienstort151 angesehen. Im Rahmen des Beamtenrechts, das einen Schwerpunkt der Rechtsprechung zu Fragen der Vergleichbarkeit darstellt, wird zudem von der grundsätzlichen Vergleichbarkeit von Gemeinschaftsbeamten auch dann ausgegangen, wenn sie bei unterschiedlichen Organen beschäftigt sind.152 Der Grund hierfür liegt maßgeblich darin, dass Art. 24 Abs. 1 des Fusionsvertrages153 auf der Ebene des Primärrechts eine ausdrückliche Festlegung 148 Generalanwalt Alber, Rs. C-218/98, Oumar Dabo Abdoulaye u. a./Régie nationale des usines Renault SA, 3.6.1999, Rn. 55. 149 EuGH, Rs. C-218/98, Oumar Dabo Abdoulaye u. a./Régie nationale des usines Renault SA, 16.9.1999, Rn. 20. 150 Vgl. EuGH, Rs. 9/81, Calvin E. Williams/Rechnungshof der Europäischen Gemeinschaften, 6.10.1982, Slg. 1982, 3301, 3315. 151 EuGH, verb. Rs. 63–75/70, Fritz-August Bode u. a./Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1971, 549, 555. 152 Vgl. Generalanwalt Alber, verb. Rs. C-432/98 P und C-433/98 P, Rat der Europäischen Union/Christiane Chvatal u. a. und Antoinette Losch, 6.6.2000, Rn. 62. 153 Vertrag vom 8. April 1965 zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ABl. 152, 13.7.1967.
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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trifft, wonach alle Beamten als Teil einer einheitlichen Verwaltung der Gemeinschaft zu betrachten sind. Die Berücksichtigung solcher im konkreten Fall einschlägigen Bestimmungen des Primärrechts sowie des Inhalts und der Zielrichtung einer am Gleichheitssatz überprüften Maßnahme stellen damit zumindest verengende Anhaltspunkte dar, die der enormen Wertungsoffenheit dieses Prüfungsschritts jedenfalls in begrenztem Maße entgegenwirken können. b) Vergleichbarkeit von Produkten Zur Vergleichbarkeit von Produkten finden sich in der Rechtsprechung des EuGH genauere Kriterien und oftmals ausführlichere Betrachtungen als bei den anderen Fallgruppen. Dabei ist zunächst auf die Bedeutung von Art. 90 hinzuweisen, gemäß dessen Absatz 1 „die Mitgliedstaaten . . . auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten weder unmittelbar noch mittelbar höhere inländische Abgaben gleich welcher Art [erheben], als gleichartige inländische Waren unmittelbar oder mittelbar zu tragen haben“. In seiner Rechtsprechung zu Art. 90 verwendet der Gerichtshof den Begriff der Gleichartigkeit und den der Vergleichbarkeit oftmals in austauschbarer Weise nebeneinander, wenngleich letzterer dem Wortlaut nach zweifellos umfassender ist als der erste.154 Daher sind in der nachfolgenden Betrachtung auch Ausführungen des EuGH zu diesem Bereich zu berücksichtigen, soweit sie Aufschluss geben über die Vergleichbarkeit von Produkten. Ausgangspunkt der Frage, ob zwei Produkte miteinander vergleichbar sind, ist regelmäßig die Untersuchung, ob diese untereinander austauschbar sind.155 Eine Präzisierung im Hinblick auf das Kriterium der Austauschbarkeit erfolgt unter Berücksichtigung der Sicht der Verbraucher. Danach ist Austauschbarkeit anzunehmen und damit von der Vergleichbarkeit der Produkte auszugehen, wenn diese in den Augen des Verbrauchers gleiche Ei154 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 51 m.N. Zur parallelen Verwendung der beiden Begriffe vgl. aus jüngerer Zeit auch Generalanwalt Alber, Rs. C-265/99, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Französische Republik, 26.10.2000, Rn. 36 ff. So fasst der Generalanwalt zur Rechtsprechung des EuGH in Rn. 41 zusammen, dass „der Gerichtshof bei der Auslegung von Art. 90 maßgeblich auf die Vergleichbarkeit der betreffenden inländischen und eingeführten Waren abgestellt hat“. 155 EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., Hansa-Lagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753, 1770: „Es ist deshalb zu untersuchen, ob für Quellmehl und Stärke vergleichbare Sachverhalte bestehen, insbesondere ob Quellmehl in seiner herkömmlichen spezifischen Verwendung durch Stärke ersetzt werden kann“; verb. Rs. 103/77 und 145/77, Royal Scholten-Honig (Holdings) Limited/Intervention Board for Agricultural Produce, 25.10.1978, Slg. 1978, 2037, 2075.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
genschaften aufweisen und denselben Bedürfnissen dienen.156 In engem Zusammenhang hiermit steht die Auffassung des EuGH, dass Produkte vergleichbar sind, wenn sie aufgrund ihrer Eigenschaften und der Bedürfnisse, denen sie dienen, miteinander im Wettbewerb stehen.157 Vor diesem Hintergrund hat sich die Rechtsprechung etwa mit der Vergleichbarkeit von Fahrzeugmodellen auseinandergesetzt. Dabei wird der Grad des Wettbewerbs zwischen einzelnen Modellen davon abhängig gemacht, „inwieweit sie verschiedenen Vorstellungen, insbesondere über den Preis, die Größe, den Komfort, die Leistung, den Kraftstoffverbrauch, die Haltbarkeit und die Zuverlässigkeit entsprechen“158. Die in der Formulierung aufgeführten Eigenschaften werden somit anhand von Vorstellungen aus der Perspektive der Verbraucher auf ihre Übereinstimmungen hin untersucht. Erhöhtes Gewicht kommt hierbei der Frage zu, ob die Produkte gleiche Verwendungsmöglichkeiten bieten159, das heißt, ob sie in weitgehendem Maße den gleichen Bedürfnissen dienen. In diesem Falle wird regelmäßig derselbe Kundenkreis angesprochen sein, so dass die Vergleichbarkeit der Produkte aus Sicht der Verbraucher besonders nahe liegt. Hingegen ist eine Vergleichbarkeit von Produkten abzulehnen, wenn diese aufgrund unterschiedlicher Verwendungsmöglichkeiten nicht untereinander austauschbar sind und sich damit in keinem echten Wettbewerb zueinander befinden. c) Vergleichbarkeit von Unternehmen Mit der Vergleichbarkeit von Unternehmen hat sich der EuGH in seiner Rechtsprechung zum Gleichheitssatz bislang nur vereinzelt auseinandergesetzt. Als Merkmale, die für eine Beurteilung der Vergleichbarkeit von Bedeutung sein können, hat der Gerichtshof etwa auf die rechtliche Struktur160 und die Produktionsverhältnisse161 der Unternehmen hingewiesen. Weitere Anhaltspunkte können sich zudem daraus ergeben, ob und in wel156 Vgl. etwa EuGH, Rs. 45/75, Rewe-Zentrale des Lebensmittel-Großhandels GmbH/Hauptzollamt Landau/Pfalz, 17.2.1976, Slg. 1976, 181, 193; Rs. C-265/99, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Französische Republik, 15.3.2001, Rn. 42. 157 Vgl. EuGH, C-421/97, Yves Tarantik/Direction des services fiscaux de Seineet-Marne, 15.6.1999, Rn. 28; weitere Nachweise bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 177, sowie bei Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 223 f. 158 EuGH, Rs. C-265/99, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Französische Republik, 15.3.2001, Rn. 43. 159 Vgl. EuGH, Rs. 168/78, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Französische Republik, 27.2.1980, Slg. 1980, 347, 360. 160 EuGH, verb. Rs. 17/61 und 20/61, Klöckner-Werke AG/Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 13.7.1962, Slg. 1962, 659, 693.
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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chem Maße die betroffenen Unternehmen untereinander in Wettbewerb stehen.162 Genauere Aussagen sind der Rechtsprechung bislang indes nicht zu entnehmen, wobei die bereits erörterte mangelnde Klarheit des EuGH in einzelnen Gleichheitsprüfungen auch hier festzustellen ist. So geht insbesondere nicht immer deutlich hervor, ob sich der Gerichtshof auf den Prüfungsschritt der Vergleichbarkeit bezieht oder ob die Ausführungen bereits auf der Ebene der Rechtfertigung angesiedelt sind.163 d) Vergleichbarkeit von Mitgliedstaaten Neben Personen, Produkten und Unternehmen kommen weiterhin auch die Mitgliedstaaten als Vergleichsobjekte in Betracht. Dabei soll an dieser Stelle keine vertiefte Auseinandersetzung mit den im Einzelnen umstrittenen Fragen nach Trägerschaft und Adressatenkreis des Gleichheitssatzes erfolgen. Für die grundsätzliche Möglichkeit der Vergleichbarkeit der Mitgliedstaaten spricht jedenfalls die Annahme des EuGH, dass von der „Gleichheit der Mitgliedstaaten vor dem Gemeinschaftsrecht“164 auszugehen sei. Bei näherer Betrachtung zeigt sich indes, dass der Gerichtshof lediglich auf eine Ausprägung des Gebots formaler Rechtsanwendungsgleichheit verweist, derzufolge das Gemeinschaftsrecht in allen Mitgliedstaaten gleich anzuwenden sei.165 Dieser Aspekt mag damit zwar durchaus, wie in der europarechtlichen Literatur vertreten166, einen möglichen Anknüpfungspunkt für das Vergleichbarkeitsurteil darstellen. Die prinzipielle Bezug161 Vgl. EuGH, verb. Rs. 17/61 und 20/61, Klöckner-Werke AG/Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 13.7.1962, Slg. 1962, 659, 693, wo allerdings trotz vergleichbarer Produktionsverhältnisse davon ausgegangen wurde, dass sich die Klägerinnen „wegen ihrer rechtlichen Struktur, die zur Aufgliederung in mehrere Unternehmen geführt hat, nicht in einer vergleichbaren Lage mit denjenigen ihrer Konkurrenten [befinden], die eine einheitliche Rechtsstruktur aufweisen“. 162 Vgl. Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 223 m. w. N. 163 Siehe Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 53, m. N. in Fn. 314. 164 EuGH, Rs. 231/78, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, 29.3.1979, Slg. 1979, 1447, 1462; Rs. 128/78, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland, 7.2.1979, Slg. 1979, 419, 429; Rs. 39/72, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Italienische Republik, 7.2.1973, Slg. 1973, 101, 115. 165 Vgl. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Band I, S. 642. 166 Vgl. etwa Beck, Abgestufte Integration im Europäischen Gemeinschaftsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Umweltrechts, S. 180 f. m. w. N.; Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 53.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
nahme hierauf würde jedoch die Prüfung der Vergleichbarkeit in unzulässiger Weise einschränken, da andere Merkmale vorliegen können, die im konkreten Fall die Hinsicht der Vergleichbarkeit genauer bestimmen. In diesem Zusammenhang ist das in jüngerer Zeit ergangene Urteil des EuGH in der Rs. C-242/97167 zu berücksichtigen. Darin hatte der Gerichtshof über eine Klage des Königreichs Belgien gegen die Kommission der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 230 Abs. 1 zu befinden. Gegenstand der Klage war eine Entscheidung der Kommission von 1997 über den Rechnungsabschluss der Mitgliedstaaten für die vom Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) finanzierten Ausgaben. In dieser von Belgien angefochtenen Entscheidung wurde eine Pauschalberichtigung (Abzug in Höhe von 10%) für sämtliche Ausgaben vorgenommen, die in Belgien im relevanten Haushaltsjahr im Rahmen der Vorfinanzierung von Ausfuhrerstattungen bei Rindfleisch und Getreide getätigt wurden. Dieses Vorgehen hätte somit zu einer Reduzierung der entsprechenden Gemeinschaftsfinanzierung in Höhe von 10% geführt. Die belgische Regierung sah hierin einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, da die Kommission für Belgien eine Berichtigung von 10% vorgesehen habe, für Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande hingegen lediglich eine Berichtigung von 5%. Zwar fänden sich in den anderen Mitgliedstaaten ähnliche Mängel wie die in Belgien festgestellten, doch sei Belgien härter bestraft worden. Rechtsgrundlage des beanstandeten Vorgehens der Kommission war Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 729/70168, der unter anderem folgende Bestimmung enthält: „Die Kommission . . . bestimmt die Ausgaben, die von der . . . gemeinschaftlichen Finanzierung auszuschließen sind, wenn sie feststellt, daß Ausgaben nicht in Übereinstimmung mit den Gemeinschaftsvorschriften getätigt worden sind. . . . Die Kommission bemisst die auszuschließenden Beträge insbesondere unter Berücksichtigung der Tragweite der festgestellten Nichtübereinstimmung. Die Kommission trägt dabei der Art und Schwere des Verstoßes sowie dem der Gemeinschaft entstandenen finanziellen Schaden Rechnung.“ Deutlich wird, dass sich hier die Frage nach der Vergleichbarkeit insbesondere an der Zielrichtung der angegriffenen Maßnahme zu orientieren hat, die vorliegend in einer angemessenen Sanktionierung der Mitgliedstaaten im Falle der Verletzung von Gemeinschaftsrecht besteht und unter Berücksichtigung des entstandenen Schadens zu erfolgen hat. Konkretisierende Anhaltspunkte für die Hinsicht der Vergleichbarkeit können sich dabei aus 167
EuGH, Rs. C-242/97, Königreich Belgien/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 18.5.2000. 168 Verordnung (EWG) Nr. 729/70 des Rates vom 21. April 1970 über die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik, ABl. L 94, S. 13, 28.4.1970.
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primär- oder sekundärrechtlichen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ergeben. Im hier aufgeführten Urteil des EuGH war der entstandene finanzielle Schaden zu Lasten der Gemeinschaft nicht genau feststellbar. Für diesen Fall enthält bereits der sog. Belle-Bericht der Kommission Leitlinien im Umgang mit finanziellen Berichtigungen im Rahmen des EAGFL, die später in wesentlichen Teilen Inhalt des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung 729/70 wurden. Hiernach muss der Schaden durch eine Beurteilung des Risikos bestimmt werden, dem der Gemeinschaftshaushalt aufgrund des Mangels in dem Kontrollsystem ausgesetzt war. Dieser Mangel „kann sich auf die Art oder die Qualität der durchgeführten Kontrollen, aber auch auf ihre Zahl beziehen . . .“169. Angesichts der dargestellten detaillierten Vorgaben waren die maßgebenden Gesichtspunkte der Vergleichbarkeit derart konkretisiert, dass ein Rekurs des Gerichtshofs auf die oben erwähnte grundsätzliche Vergleichbarkeit der Mitgliedstaaten aus deren formeller Gleichheit vor dem Gemeinschaftsrecht unzutreffend gewesen wäre und im Ergebnis fehlerhaft zum Urteil der Vergleichbarkeit geführt hätte. Folgerichtig beschränkt sich der EuGH auf die zuvor erörterten Anhaltspunkte, wenn er ausführt: „Im vorliegenden Fall ist die Liste der das Königreich Belgien betreffenden Mängel länger als die Liste für die übrigen kontrollierten Mitgliedstaaten, und die Mängel und Unzulänglichkeiten des belgischen Kontrollsystems waren schwerwiegender als in den Mitgliedstaaten, die von der angefochtenen Entscheidung betroffen sind. Folglich waren die Sachverhalte nicht ähnlich gelagert, und es liegt kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vor.“170 Die formelle Gleichheit der Mitgliedstaaten vor dem Gemeinschaftsrecht kann somit nur dann als Anknüpfungspunkt für die Vergleichbarkeit herangezogen werden kann, sofern keine spezielleren Gesichtspunkte die Hinsicht des Vergleichs weiter konkretisieren. Doch auch hinsichtlich der materiellen Seite der Vergleichbarkeit ist auf die Gefahr einer übermäßigen Verallgemeinerung hinzuweisen. So wird zum Teil von fehlender Vergleichbarkeit ausgegangen, soweit „in einzelnen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Unterschiede in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und den Lebensverhältnissen“171 bestehen. Aufgrund der beträchtlichen Wertungsoffenheit dieser Formulierung sollten dabei im Einzelfall jedoch zunächst weitere Konkretisierungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, die genaueren 169 Belle-Bericht der Kommission, insoweit wiedergegeben in EuGH, Rs. C-242/97, Königreich Belgien/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 18.5.2000, Rn. 20. 170 EuGH, Rs. C-242/97, Königreich Belgien/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 18.5.2000, Rn. 132 f. 171 Beck, Abgestufte Integration im Europäischen Gemeinschaftsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Umweltrechts, S. 181.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
Aufschluss über die Vergleichbarkeit geben könnten. Insbesondere die Zielrichtung der Maßnahme sowie das anwendbare Gemeinschaftsrecht sind insofern, wie gesehen, von maßgeblicher Bedeutung. Vor diesem Hintergrund sind auch jene Maßnahmen zu betrachten, deren Schwerpunkt auf der Herstellung materieller Gleichheit zur Erreichung der Integrationsziele liegt.172 So erklärt Art. 2 die harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens173 zu einem Vertragsziel der Gemeinschaft. Nähere Ausführungen hierzu finden sich im fünften Erwägungsgrund der Präambel zum EG-Vertrag und in Art. 158 Abs. 2, demzufolge die Gemeinschaft anstrebt, „Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete . . . zu verringern“. Die Gemeinschaft wird somit gerade zur Berücksichtigung entsprechender Unterschiede angehalten, da ein Fortschreiten der Integration nicht allein durch die formelle Gleichheit der Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann, sondern überdies Angleichungen auch in materieller Hinsicht voraussetzt.174 Maßnahmen der Gemeinschaft, die in einzelnen Bereichen auf eine Verringerung bestehender Unterschiede des Entwicklungsstands abzielen, sind daher regelmäßig mit dem Gleichheitssatz vereinbar. Die Zulässigkeit der Differenzierung zur Herstellung materieller Gleichheit ergibt sich hierbei bereits im Rahmen des ersten Prüfungsschrittes, da die Zielrichtung der Maßnahme sowie die beschriebenen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts der Annahme einer Vergleichbarkeit der Sachverhalte entgegenstehen. 2. Schlussfolgerung Die Bestimmung der Vergleichbarkeit zweier Sachverhalte ist Ausgangspunkt der Prüfung des europarechtlichen Gleichheitssatzes. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH dürfen als vergleichbar erachtete Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, sofern nicht eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist. Häufig stellt bereits die Frage nach der Vergleichbarkeit einen maßgeblichen Streitpunkt zwischen den Parteien des Rechtsstreits dar.175 Von entscheidender Bedeutung ist daher, nach welchen Maßstäben hierbei vorzugehen ist. Die Untersuchung der einschlägigen Judikatur des EuGH hat in diesem Zusammenhang Kriterien im Rahmen ein172
Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 57. Zum Vertragsziel der harmonischen und ausgewogenen Entwicklung des Wirtschaftslebens vgl. Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2, Rn. 14 ff. 174 So auch Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 56. 175 Vgl. etwa Generalanwalt Alber, Rs. C-311/97, Royal Bank of Scotland Plc/ Griechische Republik, 19.11.1998, Rn. 49. 173
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zelner Fallgruppen ergeben, bei deren Vorliegen die Feststellung der Vergleichbarkeit besonders nahe liegt. Hierzu zählt etwa der Gesichtspunkt, ob einzelne Produkte oder Unternehmen untereinander in Wettbewerb stehen. Hingegen zeigt sich vor allem bei Betrachtung der Vergleichbarkeit von Personen oder Mitgliedstaaten die Schwierigkeit, zu verengenden Anhaltspunkten zu gelangen. Dieses Problem nimmt mit steigender Komplexität der verglichenen Sachverhalte weiter zu.176 Die eigentliche Problematik des Gleichheitsgrundrechts im Hinblick auf die Prüfung der Vergleichbarkeit ist jedoch von tief greifender struktureller Natur. Wir sind ihr eingangs177 eher beiläufig begegnet. Dort wurde festgestellt, dass der EuGH in seiner Gleichheitsrechtsprechung oftmals nicht hinreichend deutlich zwischen Vergleichbarkeit und Rechtfertigung unterscheidet, gelegentlich sogar unter Hinweis auf eine „jedenfalls gerechtfertigte“ Ungleichbehandlung die systematisch vorgängige Frage nach der Vergleichbarkeit unbeantwortet lässt. Die isolierte Kritik an der insoweit wenig überzeugenden Gleichheitsjudikatur, wie sie verbreitet geäußert wird, ist für sich genommen zwar berechtigt; indem sie jedoch die der kritisierten Rechtsprechung zu Grunde liegenden dogmatischen Schwierigkeiten nicht erkennt, verfehlt sie den strukturellen Hintergrund des Problems: Dieser besteht darin, dass eine auch nur annähernd trennscharfe Abgrenzung des Inhalts der beiden Prüfungsschritte „Vergleichbarkeit“ und „Rechtfertigung“ praktisch kaum möglich ist. Das ist in jüngerer Zeit auch von Alexander Somek in seiner ausführlichen Studie zum Gleichheitssatz zum Ausdruck gebracht worden. Danach ist „die fehlende Vergleichbarkeit ein synonymer Ausdruck dafür, daß die Gründe, eine Differenzierung . . . vorzunehmen, gewichtig genug sind, um eine Ungleichbehandlung rechtfertigen zu können“178. Insofern stellt sich notwendig die Frage nach der Berechtigung einer separaten, die Grundrechtsprüfung einleitenden Klärung der „Vergleichbarkeit“ von Sachverhalten. Tatsächlich könnte der Prüfungsschritt der Vergleichbarkeit mit dem der Rechtfertigung wohl zu einem Prüfungsschritt zusammengefasst werden179, da das Ausmaß der bestehenden Ähnlichkeiten und Unterschiede von Sachverhalten auch auf Ebene der Rechtfertigung stets von Bedeutung ist. Dennoch erscheint die Feststellung der Vergleichbarkeit als sinnvoller Ausgangs176 Zur komplexen Struktur von Staaten und den damit verbundenen Gleichheitsproblemen vgl. Langeheine, Rechtliche und institutionelle Probleme einer abgestuften Integration in der Europäischen Gemeinschaft, S. 67. 177 Vierter Teil, 3. Kapitel, A. II. 178 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 437. 179 Vgl. für das deutsche Verfassungsrecht Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz, S. 56.
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punkt der Gleichheitskontrolle, weshalb der EuGH diesen Prüfungsschritt auch zu Recht grundsätzlich beibehält. So bestimmt die Prüfung der Vergleichbarkeit die Schutzwirkung des Gleichheitssatzes im konkreten Fall insofern, als der Gleichheitssatz nur bei vergleichbaren Sachverhalten eine Gleichbehandlung erfordert, während umgekehrt unvergleichbare Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen.180 Der Gesichtspunkt der Vergleichbarkeit entscheidet somit darüber, ob eine Gleichbehandlung zu rechtfertigen ist oder ob sich der Rechtfertigungsbedarf auf die Ungleichbehandlung von Sachverhalten bezieht und bündelt so bereits zu Beginn der Grundrechtsprüfung kennzeichnende Ähnlichkeiten oder Unterschiede, deren Relevanz für die Zulässigkeit der fraglichen hoheitlichen Maßnahme auf der Rechtfertigungsebene einer genaueren Untersuchung zu unterziehen ist. Darüber hinaus werden Erwägungen der Praktikabilität als weiterer Grund für einen solchen ersten Prüfungsschritt genannt, da diese Art der „Vorprüfung“ ein Ausscheiden derjenigen Sachverhalte ermögliche, „die solche Unterschiede aufweisen, daß eine Ungleichbehandlung [vor dem allgemeinen Gleichheitssatz] jederzeit Bestand hätte“181. Dem ist im Grundsatz beizupflichten, doch gilt es den Ausnahmecharakter der Unvergleichbarkeit zu betonen. Wie Sachs182 herausgestellt hat, kann nur in seltenen Ausnahmefällen von der logischen oder natürlichen Unvergleichbarkeit von Sachverhalten ausgegangen werden. Insofern ist gerade bei der gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsprüfung, in der es lediglich um Vergleichbarkeit und nicht etwa wie im deutschen Verfassungsrecht um die Frage nach „wesentlich Gleichem“ geht, Zurückhaltung geboten. Dabei wird zwar zutreffend darauf verwiesen, dass die Bestimmung der für die Vergleichbarkeit zweier Sachverhalte maßgeblichen Kriterien letztlich stets von den Umständen des Einzelfalles abhängig sei.183 Einer übermäßigen Wertungsoffenheit kann allerdings, wie zuvor gesehen, zumindest dadurch entgegengewirkt werden, dass das Regelungsanliegen der überprüften Maßnahme und die normativen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts zur Konkretisierung herangezogen werden. Durch eine solche Bezugnahme auf Ziele und Inhalt des einschlägigen Primär- und Sekundärrechts sowie auf die Zielrichtung der angegriffenen Maßnahme lassen sich die Kriterien des Vergleichbarkeits180
Vgl. EuGH, Rs. C-217/91, Königreich Spanien/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 7.7.1993, Slg. 1993, 3943, 3953; ausführlicher zur Frage der Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte sogleich im Anschluss. 181 Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz, S. 57. 182 Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 35 f. 183 Crones, Selbstbindungen der Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 62.
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urteils, wie oben beispielhaft gezeigt, jedenfalls oftmals weiter eingrenzen.184 Im Ergebnis ist damit an der Feststellung der Vergleichbarkeit als eigener Voraussetzung des Gleichheitssatzes trotz der inhaltlichen Nähe zur Rechtfertigungsebene und ungeachtet der teilweise mangelnden Klarheit der Rechtsprechung festzuhalten und dabei auf die beschriebenen Konkretisierungsansätze sowie die später im Einzelnen zu entwickelnden Maßstäbe der Rechtfertigungsprüfung zurückzugreifen.185
B. Ungleichbehandlung Als möglicher Verstoß gegen den grundrechtlichen Gleichheitssatz kommt insbesondere die Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte in Betracht, worauf nachfolgend zunächst eingegangen wird. Hingegen sind Fragen der Gleichbehandlung als unvergleichbar erachteter Sachverhalte lediglich von untergeordneter praktischer Bedeutung und sollen erst im Anschluss daran behandelt werden. Insgesamt betrachtet ist der Gesichtspunkt der Ungleichbehandlung sicherlich der am wenigsten problematische Prüfungsschritt im Rahmen der Gleichheitsprüfung, was auch an der recht geringen Anzahl von Entscheidungen deutlich wird, in denen sich der EuGH mit dieser Thematik ausführlicher befasst. I. Ungleiche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte Sofern der zuvor dargestellte erste Prüfungsschritt im Ergebnis zur Annahme vergleichbarer Sachverhalte geführt hat, kann ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz nur bei deren ungleicher Behandlung durch einen Hoheitsträger vorliegen. Ob eine solche Ungleichbehandlung gegeben ist, richtet sich dabei alleine nach objektiven Kriterien. Für subjektive Erwägungen, etwa bestimmte Gründe im Hinblick auf eine Differenzierung oder die Kenntnis von deren Folgen, bleibt an dieser Stelle kein Raum. Maßgebend ist ausschließlich das Ergebnis der Behandlung, während sonstige Umstände lediglich im Rahmen der Rechtfertigung Bedeutung erlangen können.
184
Vgl. Zuleeg, Betrachtungen zum Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 478. 185 So auch Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 220: „Although in some cases the Court does not distinguish clearly between [comparability and objective justification], it is better to treat them, in principle, as separate requirements.“ Zur schwierigen Abgrenzung von Gründen, die die Vergleichbarkeit betreffen und Rechtfertigungskriterien vgl. auch Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 151 f.
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II. Benachteiligung Eine gleichheitsrechtlich relevante Ungleichbehandlung kommt nur dann in Betracht, wenn das Ergebnis der Behandlung zu einer Benachteiligung desjenigen geführt hat, der sich auf den Gleichheitssatz beruft.186 Dabei ist das Erfordernis der Benachteiligung in einem weiten Sinne zu verstehen als jede irgendwie fassbare Schlechterstellung des Betroffenen gegenüber anderen.187 Auch hier kommt es somit lediglich auf die objektive Schlechterstellung an, während subjektive Gesichtspunkte, wie etwa die Frage nach der Absicht einer Benachteiligung, ohne Belang sind. In der Rechtsprechung des EuGH wird zumeist lediglich auf die „Ungleichbehandlung“ vergleichbarer Sachverhalte ausdrücklich Bezug genommen. Allerdings erfolgt die Prüfung des Vorliegens einer Benachteiligung dann regelmäßig im Rahmen der Bestimmung der Ungleichbehandlung. In jüngerer Zeit hat der Gerichtshof zudem auch explizit darauf hingewiesen, dass eine Diskriminierung vorliege, wenn „vergleichbare Sachverhalte ungleich behandelt und dadurch bestimmte Wirtschaftsteilnehmer gegenüber anderen benachteiligt werden, ohne dass diese Ungleichbehandlung . . . gerechtfertigt wäre“188. III. Keine Gleichheit im Unrecht Eine weitere Einschränkung erfährt der Kreis jener Ungleichbehandlungen, die zu einer Verletzung des Gleichheitssatzes führen können, unter dem Gesichtspunkt fehlender Gleichheit im Unrecht. Danach kann der Kläger unter Berufung auf den Gleichheitssatz nicht erfolgreich geltend machen, dass ihm eine fehlerhafte Rechtsanwendung zum Vorteil Dritter zugute kommen müsse.189 Eine gleichheitsrechtlich relevante Ungleichbehandlung bestimmter Sachverhalte liegt somit nicht vor, sofern der Vergleichssachverhalt rechtsfehlerhaft behandelt wurde, da in diesem Falle die Rechtsbindung der Gemeinschaftsorgane gegenüber dem Gleichheitssatz überwiegt.190
186
Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 179. Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 103. 188 EuGH, Rs. C-462/99, Connect Austria Gesellschaft für Telekommunikation GmbH/Telekom-Control-Kommission, 22.5.2003, Rn. 115 (Hervorhebung S.M.D.). 189 EuGH, Rs. C-403/95 P, Dieter Obst, 15.1.1998, Rn. 38. 190 Vgl. Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, nach Art. 6 EUV, Rn. 169 m. w. N. Allgemein zu den Grenzen einer administrativen Selbstbindung kraft Gleichheitssatzes Crones, Selbstbindungen der Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 81 ff. 187
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IV. Zur Bedeutung der Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte Nach der Rechtsprechung des EuGH verbietet der Gleichheitssatz nicht nur die unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte, sondern auch die gleiche Behandlung unterschiedlicher Sachverhalte bei fehlender Rechtfertigung.191 Dabei ist die vom Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung verwendete Formulierung „unterschiedlicher“ Sachverhalte jedenfalls missverständlich, da sie die Abgrenzung gegenüber gleichen Sachverhalten nahe legt. Hingegen zielt der EuGH in seiner Judikatur auf die Unterscheidung zum Begriff der Vergleichbarkeit, der, wie oben erläutert, nicht mit dem der „Gleichheit“ zu verwechseln ist. Begrifflich präziser ist es daher, von der Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte zu sprechen, wobei das Urteil der Nichtvergleichbarkeit auf den oben (3. Kapitel, A.) dargelegten Maßstäben zu basieren hat. Insgesamt nimmt die Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte im Rahmen des Gleichheitssatzes eine weniger zentrale Rolle ein als die Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte. Ausschlaggebend hierfür sind insbesondere zwei Faktoren. Zum einen kann eine beträchtliche Zahl von Fällen durch entsprechende Wahl einer geeigneten Bezugsgruppe statt mit dem Differenzierungsgebot auch mit dem Gleichbehandlungsgebot gelöst werden, da die Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte oftmals zugleich eine Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte darstellt.192 Aus diesem Grund wird eine eigenständige Bedeutung der Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte zum Teil gänzlich verneint.193 Allerdings kann dem Differenzierungsgebot zumindest dann eine eigene Berechtigung nicht abgesprochen werden, wenn die überprüften Vergleichsgruppen gleich behandelt werden, ohne dass es einen Dritten gibt, dem gegenüber sie ungleich behandelt werden.194 In diesen Fällen kommt ein weiterer Gesichtspunkt zum Tragen, der verdeutlicht, weshalb die Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte in der Praxis weitaus mehr gleichheitsrechtliche Probleme aufwirft als das Differenzierungsgebot. Denn 191 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 39; verb. Rs. C-9/97 und C-118/97, Raija-Liisa Jokela und Laura Pitkäranta, 22.10.1998, Rn. 45. 192 Vgl. im Anschluss an Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 53 ff. etwa Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 436 f. 193 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 436 f. Ausführlich hierzu mit weiteren Nachweisen Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, S. 219 ff. 194 Zutreffend Huster, Rechte und Ziele, S. 230 f.
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nach wie vor gilt, wie in der europarechtlichen Literatur bereits zu Beginn der neunziger Jahre festgestellt195, dass Rechtfertigungsgründe für die Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte kaum vorstellbar sind und die Gleichheitsrechtsprechung des EuGH bislang selten beschäftigt haben. Insofern bleibt im Hinblick auf die geringere Bedeutung des gleichheitsrechtlichen Differenzierungsgebotes zusammenfassend festzuhalten, dass vielfach der Rückgriff auf den Gleichbehandlungsgrundsatz zur grundrechtlichen Lösung entsprechender Problemlagen ausreicht und zudem bei der Untersuchung jener Fälle, in denen ein solcher Rückgriff ausnahmsweise nicht in Betracht kommt, der Schwerpunkt regelmäßig auf den ersten beiden Prüfungsschritten liegt. Somit konzentriert sich das zentrale Problem des grundrechtlichen Gleichheitssatzes, die Frage nach der Rechtfertigung gleichheitsrelevanter Handlungen, auf die ungleiche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte.
C. Rechtfertigung Die Gleichheitsprüfung, wie sie bislang erörtert wurde, nimmt bereits wesentliche Elemente des Gleichheitssatzes in sich auf. Dennoch entscheidet letztlich erst die Entwicklung der Rechtfertigungsebene über den tatsächlichen Schutzgehalt des Gleichheitsgrundrechts. Wie allgemein die Frage nach zulässigen Grundrechtseinschränkungen einen Kristallisationspunkt effektiven Grundrechtsschutzes darstellt196, so kommt den Voraussetzungen, unter denen eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein kann, überragende Bedeutung im Rahmen des Gleichheitssatzes zu. Zugleich sind hier vielfältige und tief greifende Auseinandersetzungen über Bedeutung und Grenzen des Gleichheitspostulats festzustellen, auf deren oftmals grundsätzlichen Charakter im Hinblick auf die Qualität der Gleichheit im weiteren Verlauf näher einzugehen sein wird. Dabei ist zunächst die Frage zu behandeln, ob überhaupt sämtliche Ungleichbehandlungen der Möglichkeit einer Rechtfertigung zugänglich sind, oder ob gewisse „absolute“ Diskriminierungsverbote existieren, die eine Rechtfertigung bestimmter Ungleichbehandlungen von vornherein ausschließen. Im Anschluss daran werden mit dem Willkürverbot und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die zentralen Inhalte der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung untersucht und auf ihre europarechtliche Relevanz hin überprüft. Der Schwerpunkt liegt schließlich in der logisch daran anknüpfenden Problematik, an welchen Maßstäben sich die Intensität der Recht195
Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 48. Zutreffend Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 212. 196
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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fertigungsanforderungen auszurichten hat, das heißt mit anderen Worten, welche Umstände die Kontrolldichte im Rahmen des Gleichheitssatzes bestimmen. In diesem Zusammenhang wird eine Konzeption des Gleichheitssatzes vorgestellt, die im Wesentlichen auf drei Dimensionen des Gleichheitsschutzes basiert. Nach dieser Konzeption kann die gleichheitsrechtliche Kontrolldichte in jedem Einzelfall hinreichend konkretisiert werden, indem ein Rückgriff auf die unterschiedlichen Dimensionen des Gleichheitsschutzes erfolgt. Angestrebt wird hierdurch ein Beitrag zur Systematisierung der Rechtfertigungsanforderungen und damit die stärkere dogmatische Durchdringung eines Gesichtspunktes des Gleichheitsgrundrechts, dem auch auf europäischer Ebene besonders hohe praktische Relevanz197 zukommt. I. Absolutes oder relatives Diskriminierungsverbot Eine umfassende Dogmatik des Gleichheitssatzes setzt im Bereich der Rechtfertigungsanforderungen zunächst die Klärung der Frage voraus, welche Ungleichbehandlungen überhaupt einer Rechtfertigung zugänglich sind. Wie bereits bei der Darstellung gleichheitsrechtlicher Problemlagen im Gemeinschaftsrecht gezeigt wurde198, ist insbesondere im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 und Art. 141 umstritten, ob diese als „absolute“ Diskriminierungsverbote jede Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit bzw. des Geschlechts verbieten oder ob auch hier grundsätzlich eine Rechtfertigungsmöglichkeit besteht. Das mit der vorliegenden Untersuchung verfolgte Ziel einer über die Grenzen der einzelnen Gleichheitssätze hinausgehenden, auf gemeinsamen Strukturen basierenden einheitlichen Entwicklung der Gleichheitsdogmatik erfordert daher an dieser Stelle eine genauere Betrachtung der Problematik sowie eine Entscheidung darüber, ob die Annahme absoluter Diskriminierungsverbote im Gemeinschaftsrecht überhaupt haltbar ist. Übereinstimmend als relative, das heißt als rechtfertigungsfähige Diskriminierungsverbote angesehen werden der allgemeine Gleichheitssatz sowie Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 für Ungleichbehandlungen im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik. Hingegen ist vor allem zu Art. 12 eine Kontroverse darüber entbrannt, ob Rechtfertigungen hier überhaupt in Erwägung gezogen werden können. Ausgangspunkt der Diskussion ist der Wortlaut der Vorschrift, demzufolge „unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrages in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist“. 197 198
Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 2. Siehe oben, Vierter Teil, 2. Kapitel, A. III.
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Befürworter eines absoluten Diskriminierungsverbotes sehen ihre Auffassung bereits durch die Formulierung des Verbots „jeder“ Diskriminierung gestützt.199 In systematischer Hinsicht wird außerdem der Vergleich mit weiteren speziellen Diskriminierungsverboten herangezogen, für die ausdrückliche Einschränkungs- und Rechtfertigungsmöglichkeiten existieren, so etwa bei Art. 39 Abs. 3, Art. 46 Abs. 1.200 Das Fehlen einer entsprechenden Regelung bei Art. 12 legt zumindest den Schluss nahe, dass hier ausnahmslos alle Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit unzulässig sind, ohne dass eine Rechtfertigungsmöglichkeit besteht. Neben einer eng am Wortlaut orientierten Auslegung sowie den aufgeführten systematisch-vergleichenden Gründen könnten schließlich teleologische Gründe auf ein absolutes Diskriminierungsverbot hindeuten.201 So wird Art. 12 verbreitet als „Leitmotiv“202 des Vertrages bezeichnet, dessen strenge Beachtung erst die Voraussetzungen für einen Gemeinsamen Markt unter Aufhebung der Binnengrenzen schaffe.203 Angesichts dieser fundamentalen Bedeutung müsse „entschieden allen Versuchen begegnet werden . . . die Grenzen zum allgemeinen Gleichheitssatz . . . zu verwischen und Art. 6 [nunmehr Art. 12] zu einem bloßen Willkürverbot zu degradieren“204. Wie die zitierte Stellungnahme verdeutlicht, wird mit der Entscheidung über das Vorliegen eines absoluten oder relativen Diskriminierungsverbots zugleich das Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz wesentlich beeinflusst. Die vorliegend angestrebte Betrachtung des Gleichheitsgrundrechts in seinen die einzelnen Gleichheitssätze übergreifenden Strukturen würde an dieser Stelle zumindest auf einen tief greifenden strukturellen Unterschied stoßen, sollte bei einzelnen Ausprägungen des Gleichheitssatzes die komplette Rechtfertigungsebene entfallen. Ist hingegen – wie nachfolgend gezeigt werden soll – die Möglichkeit der Rechtfertigung bei sämtlichen Ausprägungen des Gleichheitssatzes und somit auch bei Art. 12 gegeben, so hat sich die Untersuchung in einem zweiten Schritt damit zu befassen, ob Art. 12 hierdurch tatsächlich „zu einem bloßen Willkürverbot degra199 Vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 6, Rn. 23 (7. EL September 1994): „Dieses Verständnis wird bereits durch das Indefinitpronomen ‚jede‘ indiziert“. 200 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 6, Rn. 23 (7. EL September 1994). 201 Vgl. Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 12, Rn. 41. 202 Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 12, Rn. 1. 203 So schon Feige, Der Gleichheitssatz im Recht der EWG, S. 45: „Taugliches Instrument für diese Zwecke ist Art. 7 I aber nur dann, wenn er streng verstanden wird.“ 204 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 6, Rn. 25 (7. EL September 1994).
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diert“ wird. Diese Befürchtung indes, das werden die späteren Untersuchungen belegen, ist unbegründet. Nach der hier vertretenen Auffassung ist ein absolutes Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit abzulehnen. Den dargestellten, durchaus gewichtigen Argumenten zugunsten eines absoluten Verständnisses von Art. 12 steht zunächst, allerdings ohne nähere Begründung, die Rechtsprechung des EuGH gegenüber. So ist der Gerichtshof in der Entscheidung Mund & Fester205 aus dem Jahre 1994 davon ausgegangen, dass allein die Feststellung der diskriminierenden Wirkung einer Bestimmung wie § 917 Abs. 2 ZPO nicht ausreicht, um einen Verstoß gegen Art. 12 zu begründen. Voraussetzung sei stets, dass die Ungleichbehandlung „nicht durch objektive Umstände gerechtfertigt ist“206. Allerdings handelt es sich bei § 917 Abs. 2 ZPO nicht um eine unmittelbar, sondern lediglich um eine mittelbar diskriminierende Vorschrift, da hierin nicht direkt auf die Staatsangehörigkeit des Antragstellers abgestellt wird, sondern auf die Notwendigkeit einer Urteilsvollstreckung im Ausland. Um vor diesem Hintergrund die Auffassung von einem absoluten Diskriminierungsverbot zumindest teilweise in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung aufrecht halten zu können wird daher vertreten, dass zwischen unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen zu unterscheiden sei und Art. 12 jedenfalls bei unmittelbaren Diskriminierungen jegliche Ungleichbehandlungen ausnahmslos verbiete.207 Überzeugende Gründe für eine solche Unterscheidung sind indes kaum auszumachen, insbesondere wird der Bürger durch mittelbare Diskriminierungen nicht weniger belastet als durch unmittelbare.208 Es erscheint daher durchaus folgerichtig, dass sich auch der EuGH in jüngeren Entscheidungen209 eingehend mit Fragen beschäftigt hat, die die Möglichkeit der Rechtfertigung unmittelbarer Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit betreffen. 205 EuGH, Rs. C-398/92, Firma Mund & Fester/Firma Hatrex Internationaal Transport, 10.2.1994, Slg. 1994, 474. 206 EuGH, Rs. C-398/92, Firma Mund & Fester/Firma Hatrex Internationaal Transport, 10.2.1994, Slg. 1994, 474, 479. 207 So etwa Arnull, The General Principles of EEC Law and the Individual, S. 273 f. 208 Zutreffend Rossi, EuR 2000, 197, 213 f. Ebenfalls ablehnend gegenüber der Unterscheidung unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung im Hinblick auf das Bestehen einer Rechtfertigungsmöglichkeit Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 12, Rn. 42. 209 EuGH, Rs. C-122/96, Stephen Austin Saldanha und MTS Securities Corporation/Hiross Holding AG, 2.10.1997, Slg. 1997, 5336, 5345 f.; Rs. C-323/95, David Charles Hayes, Jeanette Karen Hayes/Kronenberger GmbH, 20.3.1997, Slg. 1997, 1718, 1724 ff.
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Wenngleich die eine Zeit lang wenig eindeutige210 Rechtsprechung des EuGH zu Art. 12 nunmehr wie gezeigt ein Verständnis der Vorschrift als relatives Diskriminierungsverbot nahe legt, so bleibt angesichts der dargestellten Argumentation zugunsten eines ausnahmslosen Differenzierungsverbots zu klären, welche Gründe letztlich für die Annahme einer Rechtfertigungsmöglichkeit sprechen. Hier ist insbesondere der Auffangcharakter von Art. 12 zu berücksichtigen, da dieser nur dann Anwendung findet, wenn keine „besonderen Bestimmungen“ eingreifen. Als solche gelten Vorschriften, in denen der Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit weiter konkretisiert wird211, wie dies etwa bei Art. 28, 31, 39 Abs. 2, 43 der Fall ist. Somit erlangt Art. 12 namentlich in den Bereichen Bedeutung, die von den Grundfreiheiten gerade nicht erfasst werden und in denen die Mitgliedstaaten regelmäßig über vergleichsweise umfassende Regelungsbefugnisse verfügen.212 Weshalb jedoch gerade in diesen Bereichen eine Rechtfertigungsmöglichkeit prinzipiell auszuschließen sein sollte und damit strengere Anforderungen zu gelten hätten als bei den Grundfreiheiten selbst, die eine Rechtfertigungs- bzw. Schrankenstufe213 kennen, ist nicht ersichtlich.214 Gegen die Annahme absoluter Diskriminierungsverbote spricht weiterhin in allgemeinerer Hinsicht der Umstand, dass zwingende Ausnahmegründe bei jedem untersagten Differenzierungskriterium vorstellbar sind.215 So hat die rechtsvergleichende Untersuchung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes im zweiten Teil dieser Arbeit ergeben, dass zwar in Deutschland ebenso wie in den USA versucht wird, „besonderen“ Diskriminierungsgefahren durch eine striktere Gleichheitsprüfung zu begegnen.216 Wie die Betrach210
Vgl. hierzu Streinz/Leible, IPRax 1998, 162, 168. Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 12, Rn. 7. 212 Rossi, EuR 2000, 197, 212 f. 213 Allgemein zur Rechtfertigung von Diskriminierungen im Rahmen der Grundfreiheiten Jarass, EuR 1995, 202, 220 ff. Zur Rechtfertigung selbst unmittelbar diskriminierender Eingriffe am Beispiel der Warenverkehrsfreiheit Heselhaus, EuZW 2001, 645 ff., mit aufschlussreichem Überblick über die vom EuGH und in der Literatur vertretenen Auffassungen. 214 Vgl. auch Streinz/Leible, IPRax 1998, 162, 168; Rossi, EuR 2000, 197, 212 f. 215 So zutreffend Zuleeg, Betrachtungen zum Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 481. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang auch der Erwägungsgrund 18 des Rates zur Richtlinie 2000/43/EG vom 29.6.2000, in dem es selbst hinsichtlich des regelmäßig strengsten gleichheitsrechtlichen Prüfungsanforderungen unterworfenen Differenzierungskriteriums der Rasse heißt: „Unter sehr begrenzten Bedingungen kann eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein, wenn ein Merkmal, das mit der Rasse oder ethnischen Herkunft zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen legitimen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“ 216 Oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel. 211
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tung der vor diesem Hintergrund maßgeblichen verfassungspositiven Sondernormen bzw. richterrechtlich entwickelten verdächtigen Klassifizierungen gezeigt hat, ist der Umgang des Bundesverfassungsgerichts sowie des U.S. Supreme Court mit diesen besonderen Diskriminierungsverboten unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass selbst bei den am strengsten überprüften Unterscheidungsverboten gewisse Ausnahmen in Betracht zu ziehen sind.217 So wurde etwa darauf hingewiesen, dass sogar die als besonders fundamental erachtete Wahlrechtsgleichheit kein „absolutes“ und damit ausnahmsloses Differenzierungsverbot darstellt, sondern bestimmte Ausnahmen unter engen Voraussetzungen als zulässig erachtet werden.218 Nicht zuletzt angesichts der offenkundig werdenden Schwierigkeiten, mit starren absoluten Diskriminierungsverboten die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles hinreichend zu berücksichtigen, sollte ein Verständnis des Art. 12 als „absoluter“, keinerlei Abweichung duldender Verbotsnorm aufgegeben werden.219 Diese Auffassung entspricht auch, wie gezeigt, der Rechtsprechung des EuGH, wonach das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit lediglich eine besondere Ausformung des allgemeinen Gleichheitssatzes darstellt und demzufolge vergleichbare Lagen nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen, es sei denn, eine Differenzierung ist objektiv gerechtfertigt.220 Wie bereits erwähnt, ist neben Art. 12 auch für Art. 141 umstritten, ob eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gerechtfertigt werden kann. Weitgehend übereinstimmend wird der Rechtsprechung des EuGH insoweit gefolgt, als mittelbare Diskriminierungen, ebenso wie bei Art. 12, einer Rechtfertigung zugänglich sind.221 Die wohl überwiegende 217
Vgl. Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. Siehe hierzu für Deutschland Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 6., sowie für die US-amerikanische Seite Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb), (1). Zur grundsätzlichen Unzulässigkeit von Differenzierungen bei den besonderen Diskriminierungsverboten sowie den nur in engen Grenzen akzeptierten Ausnahmen hiervon vgl. auch die Zusammenfassung, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. III. 219 So auch Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 12, Rn. 3; ders., Betrachtungen zum Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 481; Kischel, EuGRZ 1997, 1, 5; Streinz/Leible, IPRax 1998, 162, 168; Rossi, EuR 2000, 197, 212 f.; vgl. auch Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 12, Rn. 41 m. w. N. in Fn. 72. 220 EuGH, Rene Hochstrass/Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 16.10.1980, Slg. 1980, 3005, 3019. 221 Vgl. etwa EuGH, Rs. 170/84, Bilka-Kaufhaus GmbH/Karin Weber von Hartz, 13.5.1986, Slg. 1986, 1620, 1628; Rs. C-249/97, Gabriele Gruber/Silhouette International Schmied GmbH & Co. KG, 14.9.1999, Rn. 26; Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4; Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 61. Einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung gibt Hepple, The Principle of Equal Treatment in Article 119 EC and the Possibilities for Reform, S. 146 ff. 218
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Auffassung geht zudem dahin, auch bei unmittelbaren Diskriminierungen eine Rechtfertigungsmöglichkeit anzuerkennen.222 Hingegen nehmen Teile der Literatur223 auch im Rahmen von Art. 141 die bislang unterbliebene eindeutige Erwähnung der Rechtfertigung unmittelbarer Diskriminierungen durch den EuGH zum Anlass, in diesen Fällen von einem absoluten Diskriminierungsverbot auszugehen. Ein solches Vorgehen, das heißt die Unterscheidung von mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierungen im Hinblick auf die Rechtfertigungsfähigkeit von Differenzierungen, begegnet auch hier den gleichen Bedenken, wie sie bereits bei Art. 12 dargelegt wurden: Insbesondere ist kein Grund ersichtlich, weshalb Maßnahmen, die im Ergebnis gleichermaßen gegen Art. 141 verstoßen, nur dann gerechtfertigt werden können, wenn sie ohne explizite Anknüpfung an das Merkmal Geschlecht erfolgen. Zu Recht wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen224, dass mit Art. 141 nicht der Weg oder die subjektiven Beweggründe der handelnden Stelle sanktioniert werden sollen, sondern Maßnahmen, die im Ergebnis mit der angestrebten Gleichbehandlung der Geschlechter im Arbeitsleben unvereinbar sind. Zusammenfassend ist somit auch für Art. 141 zu konstatieren, dass es sich bei der Vorschrift lediglich um ein relatives Diskriminierungsverbot handelt und Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts daher stets auf die Möglichkeit ihrer Rechtfertigung zu untersuchen sind. Im Ergebnis führen die vorherigen Überlegungen zu folgendem Bild, das im weiteren Gang der Untersuchung stärker präzisiert werden soll: Sowohl der allgemeine Gleichheitssatz als auch die von ihm umfassten besonderen Ausprägungen in der Gestalt spezieller Gleichheitssätze sind grundsätzlich einer Rechtfertigung zugänglich.225 Insofern ist eine einheitliche Entwicklung der Dogmatik des Gleichheitsgrundrechts auch im Hinblick auf dessen Charakter als relatives Diskriminierungsverbot möglich und notwendig. Allerdings wirft die Anerkennung einer Rechtfertigungsmöglichkeit auch bei Art. 12 und Art. 141 das Problem auf, welche Bedeutung den darin ausdrücklich untersagten Differenzierungskriterien angesichts der Existenz eines allgemeinen Gleichheitssatzes zukommen kann. Dabei ist die von den Befürwortern eines absoluten Diskriminierungsverbotes geäußerte Befürchtung der „Aufweichung“226 etwa des Art. 12 durchaus ernst zu nehmen. 222 Langenfeld, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 141, Rn. 27, 91 ff.; Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4 m. w. N. 223 So etwa Classen, JZ 1996, 921, 924; weitere Nachweise bei Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 61, Fn. 217. 224 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4 f. 225 So auch Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 725; Kischel, EuGRZ 1997, 1, 5; Zuleeg, Betrachtungen zum Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 481.
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
351
Anstatt sich jedoch vordringlich mit der Frage nach einem prinzipiellen Ausschluss jeglicher Rechtfertigung zu beschäftigen, sollte sich die Diskussion zukünftig in verstärktem Maße darauf konzentrieren, die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen im Einzelnen genauer zu bestimmen. Angesichts des aufgezeigten relativen Charakters sowohl des allgemeinem Gleichheitssatzes als auch von dessen speziellen Ausprägungen liegt allein hierin die adäquate Möglichkeit, den Besonderheiten einzelner Diskriminierungslagen Rechnung zu tragen, indem an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen differenzierte Anforderungen gestellt werden. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden unter anderem aufzuzeigen sein, dass die zuvor erörterten besonderen Diskriminierungsverbote aus Gründen der Staatsangehörigkeit bzw. des Geschlechts nur solche Rechtfertigungen zulassen, die nach einem strengen Maßstab auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz überprüft worden sind. II. Präzisierung der Schutzintensität: Das Spektrum gerichtlicher Kontrolldichte Infolge der grundsätzlich bestehenden Rechtfertigungsmöglichkeiten gewinnt die Präzisierung der Schutzintensität des Gleichheitssatzes zentrale Bedeutung. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung geht es dabei vorrangig um die Frage, welche Anforderungen an die Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung von vergleichbaren Sachverhalten gestellt werden. Nachfolgend wird zunächst das Spektrum der gerichtlichen Kontrolldichte im Hinblick auf den Gleichheitssatz untersucht. Es geht somit an dieser Stelle noch nicht darum, Kriterien für eine strengere oder weniger strenge Prüfung der fraglichen Maßnahme im Rahmen des konkreten Falles zu entwickeln (hierzu im Anschluss, 4. Kapitel), sondern um die allgemeine Klärung der möglichen gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen. Dem Spektrum gerichtlicher Kontrolldichte korrespondiert dabei auf Seiten des benachteiligten ungleich Behandelten die durch den Gleichheitssatz gewährte Schutzintensität gegenüber Differenzierungen bei vergleichbaren Sachverhalten. 1. Willkürprüfung und Verhältnismäßigkeit als zentrale Inhalte der Gleichheitsprüfung Als zentrale Inhalte der Gleichheitsprüfung hat die rechtsvergleichende Untersuchung für das deutsche und US-amerikanische Verfassungsrecht ins226 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 6, Rn. 25 (7. EL September 1994).
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
besondere zwei Elemente aufgezeigt, die – in unterschiedlicher Ausprägung – maßgeblicher Bestandteil der Gleichheitsrechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und U.S. Supreme Court geworden sind.227 Hierzu zählt zum einen die Willkürprüfung, der im US-amerikanischen Recht wie gesehen weitgehend der gleichheitsrechtliche Rational Basis Test entspricht.228 Darüber hinaus wurde im Rahmen der Untersuchung festgestellt, dass sich in beiden Ländern eine deutliche, bislang nicht als abgeschlossen zu betrachtende Entwicklung hin zu einer stärkeren Gradualisierung229 des Prüfungsmaßstabes zu vollziehen scheint. Im Zuge dieser Entwicklung hat das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im deutschen Verfassungsrecht für den Gleichheitssatz einen zentralen Stellenwert erlangt230 und auch Einlass in die Gleichheitsrechtsprechung des U.S. Supreme Court231 gefunden. Inwieweit auch auf europäischer Ebene der Umgang mit dem grundrechtlichen Gleichheitssatz von den Elementen Willkürprüfung und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geprägt ist, soll nachfolgend überprüft werden. Bedingt durch die noch wenig entwickelte europarechtliche Dogmatik des Gleichheitssatzes sowie eine diesbezüglich in der Regel äußerst knappe, zumeist kaum nähere Aufschlüsse gestattende Rechtsprechung des EuGH ist die Bedeutung von Willkürkontrolle und Verhältnismäßigkeitsprüfung bislang in vielerlei Hinsicht unklar und umstritten232. So stellt etwa die Frage, welche Position der Gerichtshof in diesem Zusammenhang einnimmt, gerade einen der Hauptstreitpunkte dar233. Mit der anschließenden Betrachtung wird daher der Versuch unternommen, zu einer Klärung dieser Grundrechtsproblematik des europäischen Gemeinschaftsrechts beizutragen.
227
Vgl. Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 1. und II. 1. Zur Entsprechung von Willkürformel und Rational Basis Test siehe oben, Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. III. 1. 229 Vgl. Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. und II. 2. 230 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 2. 231 Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. III. 232 Vgl. hierzu im Einzelnen die Nachweise im Anschluss, Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. a) und b). Einen allgemeinen Überblick über die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den EuGH gibt Kischel, EuR 2000, 380 ff. 233 Vgl. etwa zur unklaren Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Gleichheitsprüfung des EuGH Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 182. 228
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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a) Willkürprüfung aa) Willkürkontrolle durch den EuGH Wie zuvor angedeutet, ist die Bedeutung der Willkürprüfung im Rahmen des primären gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatzes nur schwer zu bestimmen. Noch Anfang der siebziger Jahre stellte Feige fest, dass der allgemeine Gleichheitssatz im Wege der wertenden Rechtsvergleichung als „allgemeines Willkürverbot“234 zu charakterisieren sei. Hingegen kommt Mohn in ihrer Analyse der Rechtsprechung des EuGH zu Beginn der neunziger Jahre zu der Einschätzung, dass es sich hierbei jedenfalls nicht um ein „einfaches Willkürverbot“235 in dem Sinne handeln könne, wie es für das deutsche Verfassungsrecht oben236 bereits beschrieben wurde. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der gemeinschaftsrechtliche Gleichheitssatz ein „Willkürverbot in einer besonderen Ausprägung“237 darstelle, worauf im weiteren Verlauf zurückzukommen sein wird. Schließlich wird in aktuellen Darstellungen der europarechtlichen Gleichheitsprüfung oftmals gänzlich auf Formulierungen verzichtet, die ausdrücklich an den Begriff der Willkür anknüpfen.238 Eine genauere Untersuchung der aktuellen Rechtsprechung des EuGH ergibt zunächst die explizite Anknüpfung an den Willkürbegriff für den Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik bei Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2, dem wie oben gezeigt eine grundlegende Rolle bei der Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatzes zukommt. So betrachtet der Gerichtshof eine Ungleichbehandlung nur dann als durch Art. 34 Abs. 2 verbotene Diskriminierung, „wenn sie sich als willkürlich darstellt“239. In anderen Entscheidungen zur gemeinsamen Agrarpolitik wird hingegen lediglich darauf verwiesen, dass die Ungleichbehandlung „auf objektiven Unterschieden“240 beruhe, weshalb keine verbotene Diskriminierung vorliege. Auch für das in Art. 12 Abs. 1 enthaltene Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit finden sich ähnlich Ausführungen, denenzufolge 234
Feige, Der Gleichheitssatz im Recht der EWG, S. 190. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 111. 236 Siehe Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 1. 237 So Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 112. 238 Vgl. etwa die Darstellungen bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 6 EUV, Rn. 180 ff.; Crones, Selbstbindungen der Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 62 f.; Schilling, EuGRZ 2000, 3, 14. 239 EuGH, Rs. 106/81, Julius Kind KG/Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 15.9.1982, Slg. 1982, 2885, 2921. 240 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-289/97, Eridania SpA/Azienda Agricola San Luca di Rumagnoli Viannj, 6.7.2000, Rn. 75. 235
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
eine Differenzierung nur gerechtfertigt werden könne, wenn sie „auf objektiven Erwägungen“241 basiert. Im Hinblick auf die von Art. 141 geforderte Entgeltgleichheit für Männer und Frauen bei gleichwertiger Arbeit sieht der EuGH eine Differenzierung dann als zulässig an, wenn die entgeltbezogene Ungleichbehandlung „durch objektive Faktoren gerechtfertigt“242 ist. An anderer Stelle wird entscheidend darauf abgestellt, ob die überprüfte Maßnahme „durch Faktoren sachlich gerechtfertigt“243 werden könne, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Schließlich ist auch die Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes von ähnlichen Formulierungen geprägt, wonach eine verbotene Diskriminierung nur dann vorliegt, wenn vergleichbare Sachverhalte in unterschiedlicher Weise behandelt und dadurch bestimmte Betroffene gegenüber anderen benachteiligt werden, „sofern die unterschiedliche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist“244. Wie diese Rechtsprechung des EuGH verdeutlicht, stimmen die Formulierungen auf der Rechtfertigungsebene bei den einzelnen Gleichheitssätzen nicht vollständig überein, woraus sich einige der bestehenden Unklarheiten über den Inhalt der Rechtfertigungsprüfung erklären lassen. Allerdings konzentriert sich die Prüfung des Gerichtshofes offenkundig auf die Frage nach dem Vorliegen „objektiver Umstände“, welche die getroffene Differenzierung rechtfertigen können. Vertiefte Aussagen im Hinblick darauf, was unter diesen objektiven Umständen zu verstehen ist, sind der Rechtsprechung indes ebenso wenig zu entnehmen wie eine genauere Klärung des bei Art. 34 Abs. 2 zu Grunde gelegten Willkürbegriffs.245 Jedoch sprechen die untersuchten Entscheidungen gegen eine grundsätzliche Unterscheidung beider Ansätze. Vielmehr sollte von einer willkürlichen Differenzierung gerade dann ausgegangen werden, wenn für die unterschiedliche Behandlung keine hinreichend deutlichen objektiven Umstände erkennbar sind, die diese rechtfertigen könnten. Ein solches Verständnis wird gestützt durch das Urteil des EuGH in der Rechtssache Kind, in dem sich der Gerichtshof ausdrücklich auf das Verhältnis von Willkür und objektiven Umständen be241 EuGH, Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 59. 242 EuGH, Rs. C-381/99, Susanna Brunnhofer/Bank der österreichischen Postsparkasse AG, 26.6.2001, Rn. 66. 243 EuGH, Rs. C-236/98, Jämställdhetsombudsmannen/Örebro läns landsting, 30.3.2000, Rn. 50; Rs. C-50/96, Deutsche Telekom AG/Lilli Schröder, 10.2.2000, Rn. 28. 244 EuGH, Rs. C-127/00, Hässle AB/Ratiopharm GmbH, 11.12.2003, Rn. 35. 245 So auch Kischel, EuGRZ 1997, 1, 5. Vgl. Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 34, Rn. 127, der ebenfalls das Fehlen einer genaueren Auseinandersetzung des EuGH mit dem Begriff der Willkür beklagt.
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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zieht: Danach ist eine unterschiedliche Behandlung nur dann als verbotene Diskriminierung anzusehen, wenn „sie sich als willkürlich darstellt oder wenn sie, wie es in anderen Urteilen heißt, nicht hinreichend gerechtfertigt und nicht auf objektive Gründe gestützt ist“246. Die Willkürkontrolle durch den EuGH überlässt der handelnden Stelle damit regelmäßig einen weiten Spielraum und markiert lediglich eine einzuhaltende äußerste Grenze, nämlich das Vorliegen objektiver rechtfertigender Gründe, die der fraglichen Differenzierung zu Grunde liegen. Bevor nachfolgend im Einzelnen auf den besonderen Inhalt des gleichheitsrechtlichen Willkürverbots einzugehen ist, soll an dieser Stelle bereits auf eine Tendenz hingewiesen werden, der für den weiteren Gang der Untersuchung besondere Bedeutung zukommt. So ist für den primären gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz eine zunehmende Gradualisierung des Prüfungsmaßstabs ebenso zu konstatieren, wie dies bereits im Rechtsvergleich zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zum Ausdruck kam. In diesem Zusammenhang ist neben dem Element der Verhältnismäßigkeit247 bereits im Rahmen der Willkürkontrolle eine gewisse Abstufung der Rechtfertigungsanforderungen festzustellen. So betont der EuGH einerseits etwa für Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 den weiten Ermessensspielraum des Gemeinschaftsgesetzgebers248 und nimmt lediglich eine sehr zurückhaltende Willkürkontrolle249 vor. Hingegen wird in anderen Entscheidungen nicht bereits das Vorliegen objektiver Umstände als ausreichend erachtet und damit die weiteste Form der Willkürkontrolle zur Anwendung gebracht, sondern zusätzlich verlangt, dass die rechtfertigenden objektiven Umstände „von Gewicht“250 sein müssen. Im Ergebnis führt dies zu einer Anhebung des Prüfungsstandards der Willkürkontrolle251, die somit nicht mehr ausschließlich auf die Frage nach dem bloßen Vorhandensein objektiver Gründe für eine bestimmte Unterscheidung beschränkt ist. Auf die Folgerungen, die sich aus den beschriebenen Tendenzen zur Ausdifferenzierung ergeben, wird unter Einbeziehung der Erkenntnisse zur Kontrolle der Verhältnismäßigkeit zurückzukommen sein. Hier genügt zunächst die zusammenfassende Feststellung, dass der europarechtliche 246 EuGH, Rs. 106/81, Julius Kind KG/Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 15.9.1982, Slg. 1982, 2885, 2921. 247 Hierzu anschließend unter b). 248 Siehe etwa EuGH, verb. Rs. C-267-285/88, Gustave Wuidart/Genossenschaft Laiterie coopérative eupenoise u. a., 21.2.1990, Slg. 1990, 467, 481. Vgl. ausführlich und m. w. N. Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 114 ff. 249 Vgl. Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 34, Rn. 127. 250 EuGH, Rs. 250/83, Finsider/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 15.1.1985, Slg. 1985, 142, 153. 251 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 109 ff.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
Gleichheitssatz durchaus ein Willkürverbot enthält252, dessen Anforderungen an die Rechtfertigung einer Maßnahme jedoch wie erörtert im Einzelfall variieren können. bb) Besonderer Inhalt des Willkürverbots im Gleichheitsrecht: vergleichsbezogene Willkürformel Nach dem gleichheitsrechtlichen Willkürverbot ist eine differenzierte Behandlung vergleichbarer Sachverhalte also nur dann zu beanstanden, wenn für sie keine objektiven Gründe bestehen253. In diesem Falle fehlt es an einer objektiven Rechtfertigung und es liegt ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz vor. Allerdings ist dem Inhalt des Willkürverbots nicht bereits damit genüge getan, dass nach irgendeinem Grund für die Ungleichbehandlung gefragt wird. Anderenfalls würde die Willkürprüfung in ihrer Bedeutung auf ein bloßes Begründungsgebot reduziert werden. Erforderlich ist vielmehr, dass die vorgebrachten Gründe einen objektiv nachprüfbaren inhaltlichen Bezug zu der vorgenommenen Differenzierung aufweisen.254 Erst wenn ein solcher Bezug offensichtlich und eindeutig nicht gegeben ist, liegt ein Verstoß gegen das gleichheitsrechtliche Willkürverbot vor. In diesem Sinne sind auch die Ausführungen des Generalanwalts Alber aus dem Jahre 2000 in seinen Schlussanträgen zu den verbundenen Rechtssachen C-432/98 P und C-433/98 P255 zu verstehen. Dabei ging es um die unterschiedliche Behandlung von Beamten des Gerichtshofes und Beamten des Parlaments im Hinblick auf ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Dienst. Das Gericht erster Instanz war davon ausgegangen, dass dem Gesetzgeber bei Regelungen zur Änderung der Struktur des öffentlichen Dienstes der Gemeinschaft ein breiter Ermessensspielraum zur Verfügung stehe und daher eine Rechtfertigung nur dann ausscheide, wenn die Unterscheidung „willkürlich oder . . . offensichtlich unangemessen“ sei. Hingegen betont der Generalanwalt, dass es sich dabei nicht um eine Alternative handele, sondern „um die Definition von Willkür als eine offensichtlich unangemessene Maßnahme“256. 252 So auch Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 69 f.; Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 225 f. 253 Vgl. v. Rijn, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 34, Rn. 55. 254 In diesem Sinne ist auch die zuvor unter aa) erwähnte Formulierung des EuGH zu interpretieren, wonach die überprüfte Maßnahme durch bestimmte Faktoren „sachlich gerechtfertigt“ sein müsse. 255 Generalanwalt Alber, verb. Rs. C-432/98 P und C-433/98 P, Rat der Europäischen Union/Christiane Chvatal u. a. und Antoinette Losch, 6.6.2000. 256 Generalanwalt Alber, verb. Rs. C-432/98 P und C-433/98 P, Rat der Europäischen Union/Christiane Chvatal u. a. und Antoinette Losch, 6.6.2000, Rn. 66, unter
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Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen, dass ein Verstoß gegen den grundrechtlichen Gleichheitssatz nach der Willkürformel nur dann anzunehmen ist, wenn sich für eine Ungleichbehandlung keine objektiven Gründe finden lassen, wobei das Fehlen dieser Gründe offensichtlich sein muss. Somit führt erst die evidente Unsachlichkeit einer Differenzierung dazu, dass eine hoheitliche Maßnahme der Überprüfung nicht standhält. Die geringe Schutzintensität der gleichheitsrechtlichen Willkürkontrolle für den benachteiligten ungleich Behandelten kommt daher treffend zum Ausdruck, wenn hinsichtlich des Willkürmaßstabs des europarechtlichen Gleichheitssatzes davon die Rede ist, hiermit werde lediglich eine „rechtliche Notwehrlinie“257 gegen schlechthin unvertretbare Regelungen gezogen. (1) Willkürverbot, Gleichheit und Gerechtigkeit Gegenstand der Untersuchung war bislang ein am Begriff der Willkür orientierter Kontrollmaßstab, der sich auf die Rechtfertigung von Differenzierungen im Rahmen des Gleichheitssatzes bezieht. Ein solches Verständnis ist indes nicht die einzige Möglichkeit, mit dem Willkürverbot umzugehen. Vielmehr können Regelungen auch unabhängig von der Frage nach einer Ungleichbehandlung daraufhin untersucht werden, ob das evidente Fehlen sachlicher Gründe den Vorwurf des willkürlichen Vorgehens begründet. Aus diesem Grunde ist es begrifflich ungenau, von „dem“ Willkürverbot im Sinne eines allgemeinen Kontrollmaßstabs zu sprechen.258 Zuvor war daher lediglich von dessen gleichheitsrechtlichem Gehalt die Rede. Zu klären ist nun, ob dem Willkürverbot noch eine weitere, für den Gleichheitssatz relevante Bedeutung zukommt, die sich stärker an der Gerechtigkeitsidee orientiert. Ausgangspunkt für die Annahme eines allgemeinen Willkürverbots, das nicht auf Vergleichspaare bezogen wird und dennoch dem Gleichheitssatz unterfallen soll, ist die traditionell häufig vorzufindende weitgehende Identifizierung von Gleichheit und Gerechtigkeit. Nach dieser herkömmlichen Auffassung werden „der Begriff der Gerechtigkeit und der Gleichheit . . . nahezu bedeutungsgleich verwendet“259. Angesichts eines solchen Befundes Hinweis auf das Gericht erster Instanz, verb. Rs. T-481/93 und T-484/93, Vereniging van Exporteurs in Levende Varkens/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 13.12.1995, Slg. 1995, II-2945, 2982 sowie EuGH, verb. Rs. 116/77 und 124/77, G.R. Amylum NV und Tunnel Refineries Limited/Rat und Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 5.12.1979, Slg. 1979, 3497, 3561. 257 Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 70. 258 Vgl. Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, S. 285.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
liegt die Versuchung nahe, auch ein allgemeines Willkürverbot als Kriterium der Gerechtigkeit unter das Rechtsprinzip der Gleichheit zu fassen.260 Vor diesem Hintergrund hat das deutsche Bundesverfassungsgericht mehrfach Maßnahmen für unvereinbar mit dem Gleichheitssatz erklärt, bei denen es auf einen Vergleich bzw. eine Ungleichbehandlung überhaupt nicht ankam. So wurde etwa die Entscheidung eines Amtsgerichts als „sachlich schlechthin unhaltbar und mithin objektiv willkürlich“261 bewertet und hierin ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG erblickt. Auch für die europäische Ebene wird zum Teil konstatiert, dass sich das Willkürverbot zum eigenständigen, nicht mehr allein auf dem Vergleich verschiedener Sachverhalte beruhenden Prüfungsmaßstab zu entwickeln scheine.262 Der Rechtsprechung des EuGH lassen sich insoweit bislang allerdings keine eindeutigen Anhaltspunkte für eine Willkürkontrolle auch über die vergleichsbezogene Willkürformel hinaus entnehmen. Den beschriebenen Ansätzen, eine allgemeine Willkürkontrolle im Rahmen des Gleichheitssatzes vorzunehmen, stehen jedoch gewichtige Bedenken gegenüber. Nach der hier vertretenen Auffassung sind unterschiedliche Einwände zu berücksichtigen, die im Ergebnis zu einer Beschränkung des gleichheitsrechtlichen Inhalts der Willkürkontrolle auf eine vergleichsbezogene Willkürformel führen. Zunächst erscheint die zuvor beschriebene traditionell verbreitete Auffassung einer weitgehenden Identifizierung von Gleichheit und Gerechtigkeit durchaus nicht zwingend. Zwar wurde im Rahmen des rechtsvergleichenden zweiten Teiles dargelegt, dass der maßgeblich auf Leibholz zurückgehende verfassungsrechtliche Willkürbegriff in Deutschland ausdrücklich als „gegensätzlicher Korrelatbegriff von Gerechtigkeit“263 Einführung fand.264 Ohne Zweifel steht der Gleichheitssatz zudem jedenfalls in engem Zusammenhang mit der Gerechtigkeitsidee.265 259 So zusammenfassend Schramme, Analyse & Kritik 1999, 171, 171. Einen Überblick über die Konzeptionen der Gerechtigkeit als Gleichheit gibt Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 10 ff. 260 Vgl. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, S. 20 m. w. N. 261 BVerfGE 58, 163, 167 f. 262 In diese Richtung etwa, jedoch ohne weitere Nachweise Priebe, in: Grabitz/ Hilf (Hrsg.), EU, Art. 34, Rn. 127. 263 Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), S. 72. 264 Zweiter Teil, 1. Kapitel, A. VI. 265 Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 214. Vgl. auch Brecht, Politische Theorie, S. 367, der bei seiner Untersuchung von Höchstwerten im 20. Jahrhundert für den Wert der Gleichheit eingangs feststellt: „Daß Gerechtigkeit etwas mit Gleichheit zu tun hat, ist niemals zweifelhaft gewesen.“ Ausführlich zu Fragen nach der Gleichheit als Wesensmerkmal der Gerechtigkeit Tammelo, Rechtslogik und materiale Gerechtigkeit, S. 56 ff. Zum Zusammenhang von Gleichheit und Gerechtigkeit in der Rechtsprechung des Bundes-
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Hieraus gewinnt er zwar teilweise seinen Gehalt, darf jedoch damit nicht gleichgesetzt werden.266 So wird in der neueren Egalitarismuskritik in zunehmendem Maße bezweifelt, dass Gleichheit tatsächlich als Herzstück der Gerechtigkeit aufzufassen sei.267 Insbesondere drei Typen von Kritik lassen sich in dem Zusammenhang voneinander unterscheiden.268 Gemeinsames Merkmal dieser Einwände ist, dass sie sich gegen Konzeptionen der Gerechtigkeit richten, in deren Mittelpunkt eine Form der Gleichheit als wesentliches und unabgeleitetes Ziel von Gerechtigkeit steht. Ein erster, grundlegender Einwand gegen egalitaristische Gerechtigkeitskonzeptionen besteht darin, dass die Herstellung von Gleichheit nicht als wesentliches Ziel der Gerechtigkeit aufgefasst werden könne, da elementare Standards der Gerechtigkeit, insbesondere die Gewährleistung menschenwürdiger Lebensbedingungen, nicht-relationaler Art seien.269 Gleichheit kann in diesem Zusammenhang lediglich ein von Gerechtigkeit abgeleiteter Wert zukommen, sie stellt sich also allenfalls „bei Gelegenheit“ als Nebenprodukt ein, das heißt im Rahmen der Distribution von Gütern aus einer nicht-egalitaristischen Motivation heraus. Diese auch als „Nebenprodukteinwand“270 bezeichnete Kritik betont, dass etwa dem Kranken medizinische Versorgung zuteil kommen müsse, um dem Übel der Krankheit zu begegnen, nicht aber deshalb, weil es anderen besser gehe: Entscheidend ist danach, dass „das Übel etwas anderes ist als Ungleichheit und die zu ergreifenden Maßnahmen nicht Gleichheit herstellen sollen, sondern vielmehr ein anderes Gut“271. Auf eine bedeutende Ausprägung dieser Egalitarismuskritik, nämlich die Herstellung von Gleichheit als „Nebenprodukt“ zur Gewährleistung der Freiheit272, wird an späterer Stelle bei der Untersuchung der freiheitsbezogenen Dimension grundrechtlichen Gleichheitsschutzes (4. Kapitel, B.) zurückzukommen sein. verfassungsgerichts vgl. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, S. 123, sowie allgemein zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheitssatz Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, S. 232 ff. 266 Müller, Der Gleichheitssatz, in: VVDStRL 47 (1989), S. 42. 267 Überblick bei Horster, Formen der Gerechtigkeit. Annotationen zu einer neuen Debatte, Handlung-Kultur-Interpretation 2001, S. 203 ff. 268 Vgl. Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 17 ff., die im Einzelnen vier Grundpositionen unterscheidet sowie Horster, Handlung-Kultur-Interpretation 2001, 203, 205 ff. 269 Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 17 f. 270 Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 17. 271 Raz, Strenger und rhetorischer Egalitarismus, S. 64. 272 Vgl. Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, S. 37 ff.
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Gegen den Gleichheitsgedanken als zentrales Merkmal der Gerechtigkeit wird weiterhin vorgebracht, dass ein solches Verständnis aus verschiedenen Gründen inhuman sei. Dieser Typus von Kritik richtet sich dabei gegen die am weitesten verbreitete Konzeption des Egalitarismus, in der dem Kriterium der Nicht-Verantwortlichkeit wesentliche Bedeutung zukommt: Danach erscheint als moralisch bedenklich nicht bereits die Feststellung, dass Menschen überhaupt in ungleicher Weise Nachteilen ausgesetzt sind, sondern dass sie ungleich unter Nachteilen leiden, für die sie nicht verantwortlich sind.273 Die hiermit verbundene Beschränkung egalitaristischer Bestrebungen auf unverdiente bzw. unverschuldete Umstände sieht sich dem Vorwurf der Inhumanität unter mehreren Gesichtspunkten ausgesetzt. So würden Menschen, die ihr Elend selbst verschulden, im Stich gelassen; dies gelte selbst für vorsichtige Menschen, bei denen sich ein eingegangenes Risiko verwirkliche und schweres Leid bewirke.274 Hingegen würden jene Opfer reinen Pechs, das heißt Menschen, denen keine Verantwortlichkeit für ihre spezielle Situation zuzuschreiben sei, als von Natur aus minderwertig gebrandmarkt und ihnen mit herablassendem Mitleid geholfen.275 Die ohnehin schwierige Beantwortung der Frage, wann eine Person überhaupt als verantwortlich oder nicht verantwortlich im Sinne einer Egalitarismus-Konzeption anzusehen ist276, wirft zudem als Folgeprobleme die Gefahren einer zunehmenden Entmündigung des Bürgers sowie der Beeinträchtigung seiner Privatsphäre durch eine erhebliche Ausweitung staatlicher Informationsbeschaffungsbürokratie auf.277 Wie die Untersuchungen zur personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes (4. Kapitel, A.) zeigen werden, ist der Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit hierbei von zentraler Bedeutung und wird daher in diesem Zusammenhang genauer zu entwickeln sein. Ein letzter wesentlicher Kritikpunkt an der weitgehenden Identifizierung von Gleichheit und Gerechtigkeit betrifft die Unterschätzung der Komplexität von Gerechtigkeitskultur und menschlichem Leben in egalitaristischen Konzeptionen. Angesichts der Vielzahl unterschiedlichster Gerechtigkeitsaspekte, denen bei der Verteilung einzelner Güter eine Rolle zukommt, sowie deren wechselseitiger Überlagerung und unklaren Gewichtung im Einzelfall könne eine auf wenige Prinzipien reduzierte Konzeption der Gleichheit nicht zu überzeugenden Ergebnissen gelangen.278 Zudem sei bereits die Realisierbarkeit umfassender egalitaristischer Bestrebungen vor dem Hinter273 274 275 276 277 278
Siehe etwa Nagel, Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit, S. 102. Vgl. Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 128 ff. Vgl. Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 137 ff. Hierzu Nagel, Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit, S. 103. Vgl. Horster, Handlung-Kultur-Interpretation 2001, 203, 208. Vgl. Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 27.
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grund der Kontingenz menschlichen Lebens skeptisch zu beurteilen. Die damit angesprochenen Bedenken bilden den Ausgangspunkt der Erwägungen zur Komplexität von Gleichheit, die im Rahmen der dritten Dimension des Gleichheitsschutzes (4. Kapitel, C.) ausführlich behandelt werden. Im Hinblick auf die Verbindung von Willkürverbot, Gleichheit und Gerechtigkeit bedarf es an dieser Stelle noch keiner eingehenden Untersuchung der Berechtigung von Grundpositionen der Egalitarismuskritik, wie sie bislang dargestellt wurden. Für die Frage nach der Berechtigung einer allgemeinen, vergleichspaarfreien Willkürkontrolle als Bestandteil des Gleichheitssatzes genügt vorläufig die Feststellung, dass nicht-relationale Standards und Komplexität der Gerechtigkeit ebenso wie die nachdrückliche Kritik im Rahmen der neueren Egalitarismus-Debatte an dem Kriterium der Verantwortlichkeit gegen eine Überfrachtung des Gleichheitsgrundrechts mit der Gerechtigkeitsidee sprechen. Angesichts der zuvor dargestellten Zweifel an einer weitgehenden Identifizierung von Gleichheit und Gerechtigkeit und des damit bis heute ungeklärten Verhältnisses beider Elemente zueinander würde ein Verständnis des Gleichheitssatzes als Gerechtigkeitspostulat dem Gleichheitsrecht seine Berechenbarkeit nehmen und die Gefahr des Abgleitens in eine diffuse allgemeine Gerechtigkeitskontrolle befördern.279 Eine allgemeine, nicht auf dem Vergleich von Sachverhalten basierende Willkürkontrolle führt damit im Ergebnis zu einer Deutung des Gleichheitssatzes als Grundrecht auf Gerechtigkeit; einem Grundrecht, das gemeinschaftsrechtlich nicht existiert. (2) Zwischenergebnis Aus den beschriebenen Erwägungen heraus sollte an der oben dargestellten vergleichsbezogenen Willkürformel als alleiniger Willkürprüfung des Gleichheitssatzes festgehalten werden. Voraussetzung gleichheitsrechtlicher Kontrolle ist somit immer der Vergleich mehrerer Sachverhalte, ohne dass von diesem Grundsatz zugunsten einer wie auch immer gearteten „Gerechtigkeitskontrolle“ abgewichen werden könnte. Für die Einbeziehung einer weitergehenden, allgemeinen Willkürkontrolle in das Gleichheitsrecht besteht daher wie gesehen kein Raum. Das so verstandene Willkürverbot stellt den Ausgangspunkt für eine Kontrolle anhand des Gleichheitssatzes dar. Ob und in welchem Umfang darüber hinaus der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Bedeutung als Kontrollmaßstab des europäischen Gleichheitssatzes erlangt, soll nachfolgend geklärt werden. Erst im Anschluss hieran ist schließ279 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 364, der in diesem Zusammenhang vor einem nur schwer durchschaubaren „Subsumtionsbrei“ warnt; Stein, AK-GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 30 ff.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
lich näher auf das Verhältnis von Willkürverbot und Kontrolle der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Gleichheitsgrundrechts einzugehen. b) Verhältnismäßigkeit aa) Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den EuGH Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung und in der Gleichheitsrechtsprechung des EuGH ist noch weitgehend ungeklärt. In der europarechtlichen Literatur findet sich eine Vielzahl einander widersprechender Aussagen zu unterschiedlichen Aspekten der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die diesen Befund belegen.280 Bereits über die grundsätzliche Frage, ob eine Kontrolle der Verhältnismäßigkeit überhaupt regelmäßig bei der Prüfung des Gleichheitssatzes vorzunehmen ist, bestehen Zweifel.281 Die Analyse der Rechtsprechung des EuGH wird zudem dadurch erschwert, dass gewisse Unsicherheiten über den dogmatischen Standort der Verhältnismäßigkeitsprüfung bestehen.282 (1) Grundlagen im Gemeinschaftsrecht Festzustellen ist zunächst, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört und als solcher vom EuGH in ständiger Rechtsprechung anerkannt wird.283 Weitgehend Einigkeit284 besteht zudem darüber, dass Art. 5 Abs. 3 auf diesen vom Gerichtshof entwickelten Grundsatz mit der Formulierung hinweist, Maßnahmen der Gemeinschaft dürften nicht über das zur Erreichung der 280 Zu den Unklarheiten über die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den EuGH vgl. etwa Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 182 mit Hinweisen auf unterschiedliche Auffassungen im Schrifttum sowie allgemein Kischel, EuR 2000, 380 ff. m. w. N. 281 Bejahend Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, nach Art. 6 EUV, Rn. 164; Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 726. Zweifelnd Kingreen, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 182. 282 Vgl. Kischel, EuR 2000, 380, 384 f. mit ausführlichen Rechtsprechungsnachweisen sowie Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 115. 283 Aus jüngerer Zeit vgl. etwa EuGH, Rs. C-189/01, H. Jippes, Afdeling Groningen van de Nederlandse Vereniging tot Bescherming van Dieren u. a./Minister van Landbouw, Natuurbeheer en Visserij, 12.7.2001, Rn. 81. Zur Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Gemeinschaftsrecht siehe ausführlich Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Band II, S. 690 ff.; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, nach Art. 6 EUV, Rn. 304 ff.; Kischel, EuR 2000, 380 ff. 284 Vgl. die Nachweise bei Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 5, Rn. 45.
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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Vertragsziele „erforderliche Maß“ hinausgehen. Wenngleich sich die gemeinschaftsrechtliche Kontrolle der Verhältnismäßigkeit dabei in hohem Maße an das deutsche Verfassungsrecht anlehnt, so ist die Terminologie des EuGH diesbezüglich nicht immer einheitlich und trotz oftmals gleichlautender Formulierungen nicht ohne weiteres auf die deutsche Dogmatik zu übertragen.285 Dennoch entspricht die aus dem deutschen Verfassungsrecht geläufige Untergliederung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in die Elemente der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit durchaus der Rechtsprechung des EuGH.286 Hiernach dürfen Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des mit der Maßnahme verfolgten legitimen Zieles geeignet und erforderlich ist; ferner wird überprüft, ob die verursachten Nachteile in einem angemessenen Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.287 (2) Umfassende Bedeutung für die Gleichheitsprüfung Für die Klärung der bereits angesprochenen Frage, inwieweit eine Kontrolle der Verhältnismäßigkeit regelmäßig im Rahmen der Gleichheitsprüfung erfolgt oder ob sich diese Kontrolle lediglich auf einzelne Ausprägungen des Gleichheitssatzes beschränkt, ist insbesondere die neuere Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen, in der sich der Gerichtshof ausdrücklich mit Elementen der Verhältnismäßigkeit auseinandersetzt. Bestätigt wird hier zunächst die Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen von Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 als besonderem Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes.288 Doch auch für das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 12 Abs. 1 finden sich in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH Belege für eine entsprechende Prüfung. So wird in der Rechtssache Ferlini zunächst eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit festgestellt.289 Im Anschluss daran führt der Gerichtshof aus, dass die zu Grunde liegende Differenzierung nur 285 Vgl. v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 3 b, Rn. 42 (7. EL September 1994). 286 So auch Kischel, EuR 2000, 380, 391. 287 So etwa EuGH, Rs. C-189/01, H. Jippes, Afdeling Groningen van de Nederlandse Vereniging tot Bescherming van Dieren u. a./Minister van Landbouw, Natuurbeheer en Visserij, 12.7.2001, Rn. 81; Rs. 265/87, Hermann Schräder HS Kraftfutter GmbH & Co. KG/Hauptzollamt Gronau, 11.7.1989, Slg. 1989, 2263, 2269. Ausführlich zur Entsprechung der dreistufigen Verhältnismäßigkeitsprüfung im Gemeinschaftsrecht und deutschen Verfassungsrecht Kischel, EuR 2000, 380, 383 ff. mit umfangreichen Nachweisen der Rechtsprechung des EuGH. 288 EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 39, 58 ff. 289 EuGH, Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 58.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
dann gerechtfertigt werden könne, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruhte, die von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängig sind, und zudem „gemessen am rechtmäßig verfolgten Zweck verhältnismäßig wäre“290. Auch im Hinblick auf geschlechtsbezogene Differenzierungen wird die Möglichkeit einer Rechtfertigung von Erwägungen der Verhältnismäßigkeit abhängig gemacht.291 Was schließlich den allgemeinen Gleichheitssatz betrifft, so sind der Rechtsprechung bislang nur wenig Anhaltspunkte zu entnehmen. Allerdings findet sich eine große Zahl von Urteilen, in denen vor der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht lediglich das einschlägige besondere Gleichheitsrecht genannt wird, sondern darüber hinaus ein Hinweis auf die Einheitlichkeit des Gleichheitssatzes erfolgt, da das spezielle Diskriminierungsverbot „lediglich ein besonderer Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes“292 sei. Die Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit auch im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes liegt somit zumindest nahe, zumal der EuGH hiervon in einer – allerdings missverständlich formulierten293 – Entscheidung294 bereits ausdrücklich ausgegangen ist. Für ein solches Verständnis spricht insbesondere die Tatsache, dass angesichts des Fehlens spezieller kodifizierter Grundrechtsschranken gerade dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit herausragende Bedeutung für die Beurteilung der Zulässigkeit von Eingriffen in Grundrechte zukommt.295 Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit hat sich daher über die beschriebenen besonderen Diskriminierungsverbote hinaus auf das gesamte Grundrecht zu erstrecken.296 Bei der Überprüfung von Maßnahmen am Maßstab des gemein290 EuGH, Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 59. Die Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der aktuellen Rechtsprechung zu Fragen der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verdeutlichen weiterhin die Urteile EuGH, verb. Rs. C-102/98 und C-211/98, Ibrahim Kocak/Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken, 14.3.2000, Rn. 52; Rs. C-124/99, Carl Borawitz/Landesversicherungsanstalt Westfalen, 21.9.2000, Rn. 26. 291 Vgl. EuGH, Rs. C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Sygesikringens Forhandlingsudvalg, 6.4.2000, Rn. 42. 292 So zum Beispiel EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 39. 293 Die Ausführungen des EuGH legen den Schluss nahe, dass die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Gerichtshof ein Element der Willkürkontrolle darstelle. 294 EuGH, Rs. 245/81, Edeka Zentrale AG/Bundesrepublik Deutschland, 15.7. 1982, Slg. 1982, 2745, 2754. 295 v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 3 b, Rn. 43 (7. EL September 1994). 296 In diese Richtung wohl auch Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 112 ff.; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, nach Art. 6 EUV,
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schaftsrechtlichen Gleichheitssatzes sind demnach die Elemente der Verhältnismäßigkeit durchgängig zu beachten. (3) Dogmatischer Standort Keine einheitliche Einschätzung besteht in der europarechtlichen Literatur weiterhin bezüglich des dogmatischen Standorts der Verhältnismäßigkeitskontrolle. So wird etwa darauf hingewiesen297, dass der EuGH die Verhältnismäßigkeit als eigenen Prüfungspunkt behandele, der selbständig neben die Überprüfung von Grundrechten trete. Eine andere Auffassung298 betont demgegenüber gerade die regelmäßige Integration der Verhältnismäßigkeitsprüfung in die Grundrechtskontrolle durch den Gerichtshof, während eine separate Prüfung ohne grundrechtlichen Bezug seltener festzustellen sei. Die Unklarheiten resultieren vornehmlich daraus, dass in der Rechtsprechung nicht durchgängig auf eine eigenständige Kontrolle des Grundsatzes zurückgegriffen wird299, sondern oftmals durchaus die besondere Nähe von Grundrechten und Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck kommt.300 Dabei wird die zum Teil vertretene Annahme eines deutlichen Unterschiedes zwischen Gemeinschaftsrecht und deutschem Verfassungsrecht im Hinblick auf den dogmatischen Standort der Verhältnismäßigkeitsprüfung301 durch verstärkt zu beobachtende Tendenzen in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH relativiert, wonach Elemente der Verhältnismäßigkeit bereits im Rahmen der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigung Berücksichtigung finden.302 Beispielhaft ist etwa auf die Entscheidung in der Rechtssache KarlsRn. 164; vgl. zudem die zutreffende Zusammenfassung bei Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 726. 297 Vgl. Kischel, EuR 2000, 380, 384. 298 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 73. 299 So aber zum Beispiel EuGH, verb. Rs. C-248/95 und C-249/95, SAM Schiffahrt GmbH, Heinz Stapf/Bundesrepublik Deutschland, 17.7.1997, Rn. 66. Weitere Nachweise bei Kischel, EuR 2000, 380, 384, Fn. 23. 300 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 115. Zu der diesbezüglich im Einzelnen recht uneinheitlichen Rechtsprechung des EuGH vgl. Kischel, EuR 2000, 380, 384 f. 301 Kischel, EuR 2000, 380, 395. 302 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 59; Rs. C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Sygesikringens Forhandlingsudvalg, 6.4.2000, Rn. 42. Siehe auch Koenig/ Haratsch, Europarecht, Rn. 726, die die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung für möglich halten, sofern sachliche Gründe für die vorgenommene Differenzierung bestehen und sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Zur rechtlichen Qualität der Verknüpfung von Verhältnismäßigkeit und Gleichheitssatz vgl. auch Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 115, derzufolge jedenfalls die Angemessenheit im Rahmen der Rechtfertigung zu berücksichtigen sein soll.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
son303 hinzuweisen, in der zunächst304 auf einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz in seiner Ausprägung nach Art. 34 Abs. 2 eingegangen wird. Im weiteren Verlauf305 befasst sich der Gerichtshof auch ausdrücklich mit der Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Erst im Anschluss hieran erfolgt schließlich die Feststellung des Ergebnisses, das „aus all diesen Erwägungen zu einer eventuellen Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes“306 folge. Für eine solche enge Verbindung von Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeit, wie sie der aufgeführten Rechtsprechung zu entnehmen ist, sprechen gewichtige Gründe, die auf eine dogmatische Verankerung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen307 hindeuten. Diese ergeben sich vor allem aus dem besonderen Inhalt der Verhältnismäßigkeit im Gleichheitsrecht, was nachfolgend im Einzelnen untersucht werden soll. bb) Besonderer Inhalt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Gleichheitsrecht: gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit Eingangs wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Grundstruktur der gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung hinsichtlich ihrer Elemente der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit weitgehend der Dogmatik des deutschen Verfassungsrechts entspricht. In dieser ursprünglich für die Freiheitsrechte entwickelten dreistufigen Form ist Ausgangspunkt der Überprüfung einer hoheitlichen Maßnahme die Frage, ob hiermit ein legitimer Zweck verfolgt wird.308 Das eingesetzte Mittel wird daraufhin untersucht, ob es zur Förderung des somit festgestellten Zweckes geeignet und erforderlich ist.309 Schließlich hat eine Abwägung zu erfolgen, bei der die von dem angewandten Mittel ausgehende Intensität der Freiheitsbeeinträchtigung in ein Verhältnis gesetzt wird zum Gewicht des mit der Maßnahme verfolgten Zweckes. In seiner Rechsprechung zum Gleichheitssatz greift der EuGH dabei oftmals wie selbstverständlich auf diese 303
EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000. EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 39 ff. 305 EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 58 ff. 306 EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 61. 307 Zur Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Ebene der Rechtfertigung vgl. bereits Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 206 f. 308 v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 3 b, Rn. 50 (7. EL September 1994). 309 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 5, Rn. 46; Oppermann, Europarecht, Rn. 521. 304
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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Elemente des an den Freiheitsrechten orientierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zurück310, ohne sich allerdings näher damit zu befassen, inwiefern eine Übertragbarkeit auf die Gleichheitsrechte überhaupt in Betracht kommt. Eine solche Möglichkeit ist indes keinesfalls selbstverständlich und setzt eine genauere Untersuchung der freiheitsrechtlichen und gleichheitsrechtlichen Form der Verhältnismäßigkeit voraus, die deren Besonderheiten in ihre Betrachtung mit aufnimmt. Zu berücksichtigen ist zunächst die bipolare Struktur der Verhältnismäßigkeit, soweit es um die Beeinträchtigung von Freiheitsrechten geht311: Hierbei stehen sich Hoheitsträger und Grundrechtsberechtigter gegenüber, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt dabei im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation die Funktion zu, übermäßige Eingriffe in das betroffene Freiheitsrecht zu unterbinden. Im Gleichheitsrecht dagegen wird die hoheitliche Maßnahme nicht nur zu dem Grundrechtsberechtigten in Beziehung gesetzt, sondern auch zu jenen Personen, deren Situation sich als vergleichbar darstellt. Dabei geht es nicht um die Verhältnismäßigkeit der aus einem Eingriff resultierenden Belastung, sondern um die Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung.312 Hierin besteht ein erster, wesentlicher Unterschied zwischen beiden Ausprägungen der Verhältnismäßigkeit, den es zu berücksichtigen gilt.313 310 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 59 (Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung nur dann, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und „gemessen am rechtmäßig verfolgten Zweck verhältnismäßig wäre“); Rs. C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Sygesikringens Forhandlingsudvalg, 6.4.2000, Rn. 42 (Differenzierende Maßnahmen können gerechtfertigt sein, wenn sie einem „legitimen sozialpolitischen Ziel dienen und für die Erreichung dieses Zieles geeignet und erforderlich sind“); Rs. C-124/99, Carl Borawitz/Landesversicherungsanstalt Westfalen, 21.9.2000, Rn. 26 (Im Hinblick auf eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist zu klären, ob die fraglichen Maßnahmen durch objektive Erwägungen gerechtfertigt sind und „in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stehen, der . . . zulässigerweise verfolgt wird“). 311 Ausführlich Brüning, JZ 2001, 669, 670. 312 Vgl. Jarass, NJW 1997, 2545, 2549. 313 Huster, Rechte und Ziele, S. 165 ff. unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen gerechtigkeitsorientierten Differenzierungen aus „internen Zwecken“, die gerade darauf abzielen, den Gleichheitssatz zu verwirklichen und Ungleichbehandlungen zur Verfolgung „externer Zwecke“, deren Legitimation auf gesamtgesellschaftlichen Zweckmäßigkeitserwägungen gründet. Nur im letzteren Fall soll ein Eingriffsmodell des Gleichheitssatzes zum tragen kommen, während es für interne Zwecke aufgrund des Fehlens kollidierender Rechtsgüter bei einer bloßen Willkürprüfung bleiben müsse, vgl. Huster, JZ 1994, 541, 544. Für den Gleichheitssatz kommt dieser Auffassung zufolge jedenfalls eine teilweise Berücksichtigung des auf Eingriffe bezogenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Betracht. Gegen die so skizzierte Auffassung Husters spricht jedoch insbesondere, dass – wie nachfolgend
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Nach dem zuvor Dargestellten ist Gegenstand der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung also die rechtliche Verschiedenbehandlung zweier Sachverhalte im Verhältnis zu einem Rechtfertigungsgrund314; das gilt unabhängig von einem eventuellen Eingriff in Freiheitsrechte. An dieser Stelle kommt nun ein weiterer Unterschied zur freiheitsrechtlichen Form der Verhältnismäßigkeit zum tragen, der mit der inhaltlichen Konkretisierung des „Rechtfertigungsgrundes“ in Zusammenhang steht. Wie gesehen findet beim Eingriff in Freiheitsrechte eine Güterabwägung statt, die dem beeinträchtigten Rechtsgut das Gewicht des mit der Maßnahme bezweckten Regelungszieles gegenüberstellt. Hingegen ist im Rahmen des Gleichheitssatzes nicht allgemein auf das Regelungsziel abzustellen, um eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, sondern auf das konkrete Differenzierungsziel. Zur Verdeutlichung dieser Unterscheidung ist die Struktur rechtlicher Maßnahmen zu berücksichtigen. Jegliche Rechtsfolge basiert auf einem bestimmten Tatbestand, der sich in seinen Voraussetzungen von anderen Tatbeständen abhebt. Das einzelne Tatbestandsmerkmal wird so zum Differenzierungskriterium im Hinblick auf die spezielle Rechtsfolge. Besteht danach das ganze Recht aus Differenzierungen315, dann ist es nahe liegend, dass Ungleichbehandlungen einen mehr oder weniger engen Bezug zum mit der fraglichen Maßnahme verfolgten Regelungsziel aufweisen können. So ist eine direkte Ableitung bestimmter Differenzierungen aus dem mit der Maßnahme verfolgten Ziel zwar möglich; eine Differenzierung kann sich jedoch ebenfalls als bloße Nebenfolge ergeben316 und zufällig oder unbeabsichtigt gezeigt werden wird – dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durchaus umfassende Bedeutung im Rahmen des Gleichheitssatzes zukommt. Zutreffend konstatiert daher Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, S. 264 f. die Bedeutung der Verhältnismäßigkeit auch in den von Huster lediglich der Willkürprüfung unterstellten Fällen von Differenzierungen aufgrund „interner“ Zwecke. Zu weiteren Einwänden gegen die Konzeption Husters, auf die im weiteren Verlauf nur zum Teil näher eingegangen werden kann, vgl. etwa Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 15 (problematische Unterscheidung interner und externer Regelungszwecke); Jarass, NJW 1997, 2545, 2549 (Berufung auf „vagen Gerechtigkeitsmaßstab“ im Rahmen der Gleichheitsprüfung); Michael, JuS 2001, 148, 153 (ungenügende gleichheitsrechtliche Anpassung der Verhältnismäßigkeitsprüfung); Brüning, JZ 2001, 669, 671 (Gleichsetzung von Regelungsziel und Differenzierungsgrund). Trotz zahlreicher erhobener Bedenken ist allerdings auf den reichhaltigen Ertrag der Untersuchungen Husters für die Diskussion um den Inhalt des Gleichheitssatzes hinzuweisen, vgl. etwa die kritische Würdigung von Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 60 ff. 314 Vgl. Kischel, AöR 124 (1999), 174, 192. 315 So zutreffend Stein, AK-GG, Art. 3, Rn. 34. 316 Hesse, AöR 109 (1984), 174, 190; Robbers, DÖV 1988, 749, 752; Kischel, AöR 124 (1999), 174, 191 f.
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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eintreten, „je nachdem wie vorkonturiert der Regelungsgegenstand und sein Pendant sind“317. In jedem Falle erfordert eine Überprüfung am Gleichheitssatz zunächst eine möglichst genaue Bestimmung der konkreten Differenzierungsziele, die – wie gesehen – mit dem Regelungsziel identisch sein können, aber nicht sein müssen. Verfehlt wäre daher die Schlussfolgerung, dass das Verhältnis von Regelungsziel und Ungleichbehandlung für die Frage der Rechtfertigung bedeutungslos ist.318 Vielmehr kommt der Untersuchung des mit einer Maßnahme verfolgten Anliegens gleichheitsrechtlich die bedeutsame Funktion zu, Anhaltspunkte für die Ermittlung der einschlägigen Differenzierungsziele zu gewinnen. Sofern die Verschiedenbehandlung indes nicht final als Mittel zur Erreichung des Regelungszweckes vorgenommen wird, so ist in einem objektiven Sinne nach Gründen zu suchen, die die fragliche Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten.319 Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten: Ebenso wie die freiheitsrechtliche Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfordert dessen gleichheitsrechtliche Variante zunächst eine präzise Festlegung im Hinblick darauf, worin genau das maßgebliche zu untersuchende Verhältnis bestehen soll. Diese nur scheinbare Selbstverständlichkeit wird nicht selten übersehen, wenn die Übertragung der am Eingriffsschema orientierten Verhältnismäßigkeit auf den Gleichheitssatz abgelehnt wird, ohne die Besonderheiten der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Für das Gleichheitsrecht haben die hier vorgenommenen Betrachtungen ergeben, dass es auf das Verhältnis des Gewichts der Verschiedenbehandlung zu den Differenzierungszielen bzw. Differenzierungsgründen ankommt. Erst im Anschluss an diese vorrangig zu treffende Feststellung ist abschließend zu klären, in welchem Sinne das Verhältnis der somit gewonnenen Ge317
Brüning, JZ 2001, 669, 670. So aber missverständlich Brüning, JZ 2001, 669, 670, da es an einer unmittelbaren Finalbeziehung zwischen hoheitlichem Regelungsziel und Ungleichbehandlung fehle. 319 Vgl. Michael, JuS 2001, 148, 153. In diesem Zusammenhang ist auf die sorgfältige Untersuchung der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit von Brüning, JZ 2001, 669 ff. hinzuweisen, der – im Grundsatz zutreffend – die Unterscheidung von Regelungsziel und Differenzierungsgrund betont. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Erkenntnis, dass nicht allgemein auf das Ziel der Regelung, sondern speziell auf die mit der Differenzierung verbundenen „Ziele“ (Jarass, NJW 1997, 2545, 2549; Stein, AK-GG, Art. 3, Rn. 34 ff.), „Zwecke“ (Michael, JuS 2001, 148, 153 f.) oder „Gründe“ (Brüning, JZ 2001, 669, 670 f.) abzustellen ist. Nicht überzeugen kann allerdings die Auffassung Brünings a. a. O., wonach allein der Differenzierungsgrund dem Inhalt gleichheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit gerecht werde. Vielmehr ist es bei beabsichtigten Ungleichbehandlungen wie gesehen durchaus zutreffend, von Differenzierungszielen auszugehen, während bei nicht final zur Erreichung des Regelungszwecks erfolgenden Ungleichbehandlungen auf den objektiv bestimmten Differenzierungsgrund abzustellen ist. 318
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
sichtspunkte beschaffen sein muss, um dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall zu genügen. Weitgehend Einigkeit besteht zunächst hinsichtlich des Elements der Geeignetheit. Zu untersuchen ist, ob die Differenzierung geeignet ist, das mit ihr verfolgte Ziel zu fördern.320 Die Verschiedenbehandlung muss also einen objektiv nachprüfbaren inhaltlichen Bezug zu den Differenzierungszielen aufweisen. In den so formulierten Anforderungen des gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird bereits die besondere Nähe deutlich, in der dieser erste Prüfungsschritt zum oben321 beschriebenen Inhalt des vergleichsbezogenen Willkürverbots steht. Hierauf wird bei der Betrachtung des Verhältnisses von Willkürprüfung und Verhältnismäßigkeit zurückzukommen sein. Im Gegensatz zur Geeignetheit ist hinsichtlich der von den Freiheitsrechten geläufigen Voraussetzung der Erforderlichkeit streitig, ob diese auch im Rahmen des Gleichheitssatzes Bedeutung erlangt, sofern es um die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit geht. In der Rechtsprechung des EuGH322 zu den Gleichheitsrechten und in Teilen des europarechtlichen Schrifttums323 finden sich Ausführungen, die auf eine solche Berücksichtigung der Erforderlichkeit schließen lassen. Danach wäre eine Ungleichbehandlung nur dann erforderlich, wenn das Differenzierungsziel nicht ebenso wirksam mit einer Maßnahme erreicht werden kann, bei der das Gewicht der Verschiedenbehandlung geringer ist.324 Hiergegen wird eingewandt, dass die Erforderlichkeitsprüfung eine zu große Einschränkung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums bewirke.325 Aus diesem Grund sei die Prüfung der 320 Siehe etwa EuGH, Rs. C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Sygesikringens Forhandlingsudvalg, 6.4.2000, Rn. 42. Vgl. auch Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 112; Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 206. 321 Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. a) bb). 322 EuGH, Rs. C-381/99, Susanna Brunnhofer/Bank der österreichischen Postsparkasse AG, 26.6.2001, Rn. 67; Rs. C-322/98, Bärbel Kachelmann/Bankhaus Hermann Lampe KG, 26.9.2000, Rn. 30; C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Sygesikringens Forhandlingsudvalg, 6.4.2000, Rn. 42; Rs. C-167/97, Regina/Secretary of State for Employment, 9.2.1999, Rn. 69. 323 Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 112; Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 206; vgl. auch Rossi, EuR 2000, 197, 214. 324 Vgl. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, S. 269 f. 325 Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 74 f.; Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 29; Michael, JuS 2001, 148, 154. Aufschlussreich zum gleichen Problem aus der Perspektive des kanadischen Verfassungsrechts Weber, EuGRZ 1994, 537, 545.
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
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gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit auf die Prüfungsschritte der Geeignetheit und Angemessenheit zu beschränken. Dem ist insoweit zuzustimmen, als zumindest bei der Verfolgung von Förderungszwecken durch den Hoheitsträger regelmäßig eine solche Vielzahl von Möglichkeiten in Betracht kommt, dass ein striktes Verständnis der Erforderlichkeit leicht zu einer übermäßigen Einschränkung des Ermessensspielraums führen könnte326, weshalb die gerichtliche Kontrolldichte hier einer Rücknahme bedarf.327 Hingegen bleibt es in den übrigen Fällen bei der Untersuchung, ob durch weniger gewichtige Ungleichbehandlungen oder gar unter Verzicht auf jegliche Ungleichbehandlung das mit der Differenzierung verfolgte Ziel in ebenso effektiver Weise erreicht werden kann. Von praktisch größter Bedeutung ist schließlich die Prüfung der Angemessenheit. Entscheidend für die gleichheitsrechtliche Variante der Verhältnismäßigkeit ist dabei die Frage, ob Ausmaß und Gewicht der Verschiedenbehandlung und die zur Rechtfertigung herangezogenen Umstände in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.328 Als rechtfertigende Umstände werden vom EuGH auch hier insbesondere die mit einer Differenzierung verbundenen Ziele bzw. die ermittelten Differenzierungsgründe berücksichtigt.329 In Abhängigkeit davon, welches Gewicht der Ungleichbehandlung konkret zugemessen wird (zu den Maßstäben hierfür sogleich im 4. Kapitel), reicht somit nicht mehr jedes zulässigerweise verfolgte Differenzierungsziel für die Rechtfertigung der fraglichen Ungleichbehandlung aus.330 Nach den bisherigen Ausführungen zur Angemessenheit der Verschiedenbehandlung im Hinblick auf die Differenzierungsziele könnte allerdings ein Missverständnis nahe liegen, dem es vorzubeugen gilt. Es betrifft die Be326
Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 442 f. So auch Brüning, JZ 2001, 669, 672 in Anlehnung an Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 442. Für die Rechtsprechung des EuGH vgl. Kingreen, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 74 f. Ausführlich zu den Einzelheiten der Intensität gerichtlicher Kontrolldichte im Bereich des Gleichheitssatzes unten, Vierter Teil, 4. Kapitel. 328 Vgl. etwa EuGH, verb. Rs. C-102/98 und C-211/98, Ibrahim Kocak/Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken, 14.3.2000, Rn. 52; Rs. C-124/99, Carl Borawitz/Landesversicherungsanstalt Westfalen, 21.9.2000, Rn. 26; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, nach Art. 6 EUV, Rn. 164 m. w. N. 329 Siehe beispielhaft EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 58 („unter Berücksichtigung ihres Zieles unverhältnismäßig“); Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 59 („gemessen am rechtmäßig verfolgten Zweck verhältnismäßig“); verb. Rs. C-102/98 und C-211/98, Ibrahim Kocak/Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken, 14.3.2000, Rn. 52 („angemessenes Verhältnis zu den Zwecken“). 330 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 113. 327
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
rücksichtigung „tatsächlicher Unterschiede“, denen bislang keine ausdrückliche Bedeutung im Rahmen des dritten Prüfungsschrittes der Verhältnismäßigkeit zugemessen wurde. Vielmehr könnte die vorliegend als gleichheitsrechtlich relevant erachtete Beziehung von Ausmaß und Gewicht der Ungleichbehandlung einerseits sowie Differenzierungszielen bzw. Differenzierungsgründen andererseits den Eindruck erwecken, dass hiermit eine Betrachtung der den Vergleichssachverhalten innewohnenden faktischen Unterschiede entbehrlich werde. Diese Annahme trifft indes nicht zu. Um beurteilen zu können, ob eine Differenzierung nach ihrem Ausmaß und Gewicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem damit verfolgten Anliegen steht, bedarf es der Untersuchung, in welchem Maße sachliche, in der Wirklichkeit angelegte Gründe die Ungleichbehandlung im Hinblick auf die gleichen und ungleichen Eigenschaften aufwiegen können.331 Der Grad der Ungleichbehandlung darf demnach zu dem Grad der tatsächlichen Unterschiede der Vergleichsfälle nicht außer Verhältnis stehen.332 In diesem Sinne kommt es für die Prüfung der Angemessenheit durchaus auf die Betrachtung faktischer Verschiedenheiten in einzelnen Merkmalen an, die als Anknüpfungspunkte der Differenzierung dienen.333 Hinzuweisen ist schließlich darauf, dass keiner der genannten Gesichtspunkte die Wertungsproblematik des Gleichheitsgrundrechts auflöst. Das Ausmaß der Ungleichbehandlung, die Gewichtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der verglichenen Sachverhalte oder die Bedeutung der Differenzierungsziele sind Elemente, deren „angemessenes“ Verhältnis zueinander die Vornahme rechtlicher Wertungen erfordert, ohne dass der Gleichheitssatz selbst hierzu eindeutige Maßstäbe bereithält.334 Der Herausarbeitung solcher Maßstäbe der Gleichheit, wie sie nachfolgend im Rahmen des 4. Kapitels erfolgen soll, kommt daher fundamentale Wichtigkeit für den konkreten Umgang mit dem Gleichheitssatz zu. Hingegen war es Ziel der bisherigen Untersuchungen, zunächst das mögliche Spektrum gerichtlicher Kontrolldichte darzustellen. Hierzu wurden der besondere Inhalt des Willkürverbots und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Gleichheitsrecht 331
Zutreffend Kischel, AöR 124 (1999), 174, 192. Michael, JuS 2001, 148, 154; Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 112. Vgl. bereits Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 206: „Die Unterschiedlichkeit der Behandlung darf zu derjenigen der Sachverhalte nicht außer Verhältnis stehen.“ 333 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, derzufolge es seit BVerfGE 55, 72, 88 darauf ankommen soll, ob „Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“, hierzu Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 2. 334 Vgl. Brüning, JZ 2001, 669, 672, der insoweit die „Wirkungsgrenze“ des Gleichheitssatzes erreicht sieht und auf dessen inhaltliche Unbestimmtheit verweist. 332
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
373
aufgezeigt, wobei allerdings die Frage nach dem Zusammenhang beider Prüfungsformen bislang weitgehend unberücksichtigt blieb und daher abschließend behandelt werden soll. 2. Verhältnis von Willkürverbot und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Das Verhältnis von vergleichsbezogener Willkürprüfung und der gleichheitsrechtlichen Variante des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist im Europarecht noch überwiegend ungeklärt.335 Dieser Befund ähnelt der Situation im deutschen Verfassungsrecht, wo bislang ebenfalls keine Einigkeit bezüglich des Zusammenhangs beider Gesichtspunkte besteht.336 Denkbar erscheinen vor allem zwei Lösungen. Die Willkürprüfung könnte einerseits als selbständiger Prüfungsmaßstab neben den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit treten und immer dann anwendbar sein, wenn keine Gründe für eine erhöhte gerichtliche Kontrolldichte vorliegen. Dann wäre das Willkürverbot der Regelstandard, die Verhältnismäßigkeit der Maßstab einer strikteren Prüfung.337 Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit unter anderem auch den Inhalt des Willkürverbots mit umfasst. Durch eine entsprechende Reduzierung der Prüfungsdichte auf diesen zurückgenommenen Kontrollmaßstab würde dann die Berechtigung einer gesonderten Willkürprüfung im Rahmen des Gleichheitssatzes entfallen.338 Von wesentlicher Bedeutung ist zunächst, dass Willkürprüfung und Verhältnismäßigkeit nach jeder der zuvor genannten Auffassungen nicht ausschließlich als Gegensätze verstanden werden können, sondern ebenso als Elemente eines einheitlichen Rechtfertigungsmaßstabs, dessen Kontrolldichte von den geringen Anforderungen der Willkürformel bis hin zu einer strengen Form der Verhältnismäßigkeitsprüfung reicht.339 Dabei hat die bisherige Untersuchung gezeigt, dass das europarechtliche Willkürverbot sei335 Zur Rechtsprechung des EuGH etwa Rossi, EuR 2000, 197, 214; vgl. auch Manolkidis, The Principle of Equality from a Comparative Constitutional Perspective: Lessons for the EU, S. 100 ff. 336 Darstellungen der unterschiedlichen Positionen bei Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, S. 129 ff.; Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 72 f. 337 Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, S. 130. 338 Zu dieser Auffassung etwa Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, S. 275; vgl. auch Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme, S. 288. 339 Vgl. Kischel, AöR 124 (1999), 174, 189 m. w. N.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
nem Inhalt nach dem Prüfungsschritt der Geeignetheit entspricht: Willkürlich ist eine Differenzierung dann, wenn für sie keine objektiven Gründe bestehen.340 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ist zu untersuchen, ob die Differenzierung geeignet ist, ein mit ihr verfolgtes Ziel zu fördern.341 Ist eine solche Geeignetheit zu bejahen, so liegt bereits hierin ein ausreichender sachlicher Grund im Sinne der Willkürformel.342 Aufgrund dieser Übereinstimmungen und angesichts der in der Rechtsprechung des EuGH343 vielfach wahrgenommenen Möglichkeit, die Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeitsprüfung bis auf das Niveau einer reinen Willkürprüfung abzusenken, bleibt für eine eigenständige Willkürkontrolle neben dem gleichheitsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kein Raum mehr. Die „Kultivierung eines Reservats für die Willkürformel“344 ist daher abzulehnen345, während gegen die terminologische Bezugnahme auf „sachliche Gründe“ bzw. die Verwendung des Willkürbegriffs nichts einzuwenden ist346, solange damit keine Abweichungen von den beschriebenen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit und ihrer Elemente verbunden sind. 3. Zusammenfassung: Willkürprüfung und Verhältnismäßigkeit als Elemente einer einheitlichen, abgestuften Rechtfertigungsskala Als Ergebnis der bisherigen Überlegungen ist festzustellen, dass Willkürprüfung und Verhältnismäßigkeit ihrem Inhalt nach Elemente einer einheit340
Siehe oben, Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. a) bb). Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. b) bb). 342 So auch Michael, JuS 2001, 148, 153: „Die Geeignetheit ist das gleichheitsbezogene Willkürverbot: Willkürlich ist eine Differenzierung, wenn für sie keine rational nachvollziehbaren Gründe bestehen, d.h. wenn sie nicht geeignet ist, einem Differenzierungsziel zu dienen.“ 343 Dazu ausführlich Manolkidis, The Principle of Equality from a Comparative Constitutional Perspective: Lessons for the EU, S. 100 ff. m. w. N. sowie Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 74. 344 So Brüning, JZ 2001, 669, 673. 345 Ebenso Brüning, JZ 2001, 669, 673; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 33. Vgl. auch Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 30, Rn. 50, derzufolge „das Vorliegen einer willkürlichen Diskriminierung oder einer verschleierten Beschränkung des Handels im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen ist“. 346 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Anhang zu Art. 3, Rn. 8. Hingegen spricht Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 72 f., von der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Willkürverbot und Verhältnismäßigkeit. Die Gründe hierfür reduzieren sich allerdings letztlich darauf, dass mit der terminologischen Trennung eine „Signalwirkung“ verbunden sei, die den Grundrechtsinterpreten bei Anwendung der Willkürformel vor einer zu strengen Gleichheitsprüfung warnen solle. 341
3. Kap.: Die Gleichheitsprüfung im Einzelnen
375
lichen, abgestuften Rechtfertigungsskala für Ungleichbehandlungen sind. Wie gesehen spricht vieles dafür, im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den Kern der Gleichheitsprüfung zu sehen, wobei der Prüfungsschritt der Geeignetheit das vergleichsbezogene Willkürverbot in sich aufnimmt. Ob vor diesem Hintergrund weiterhin die von der Willkürprüfung geläufige Suche nach „objektiven Gründen“ als Anknüpfungspunkt für die Untersuchung der Geeignetheit gewählt wird, ist dann lediglich eine Frage der Formulierung. Die hier vertretene Auffassung wird auch durch die Rechtsprechung des EuGH gestützt, in der oftmals zunächst danach gefragt wird, ob eine Ungleichbehandlung durch objektive Erwägungen gerechtfertigt ist, bevor anschließend darauf eingegangen wird, inwieweit die Differenzierung gemessen an den verfolgten Zielen verhältnismäßig sei.347 Durch eine graduelle Abstufung der Anforderungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erlangt der Gerichtshof dabei eine hinreichende Flexibilität im Umgang mit Ungleichbehandlungen, die wegen ihres unterschiedlichen Ausmaßes und Gewichts eine differenzierte Berücksichtigung erfordern. Die darin zum Ausdruck kommende Notwendigkeit, unterschiedlich schwerwiegende Ungleichbehandlungen nach einer variablen Prüfungsintensität zu beurteilen, entspricht auch der rechtsvergleichend konstatierten verfassungsrechtlichen Entwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Deutschland im Hinblick auf eine zunehmende Gradualisierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabs.348 Wenn somit die Kontrolle von Differenzierungen auf ihre Verhältnismäßigkeit im Sinne einer einheitlichen Dogmatik umfassende Bedeutung für den gesamten Gleichheitssatz erlangt349, so ist hiermit der dogmatische Weg für eine strikte bzw. weniger intensive Prüfung des Grundrechts aufgezeigt. Was fehlt, ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit der in theoretischer wie praktischer Hinsicht zentralen Frage, unter welchen Voraussetzungen eine solche strikte oder weniger intensive Gleichheitsprüfung geboten ist. Dies soll im Folgenden geschehen.
347 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 59; verb. Rs. C-102/98 und C-211/98, Ibrahim Kocak/Landesversicherungsanstalt Oberfranken und Mittelfranken, 14.3.2000, Rn. 52. 348 Siehe oben, Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. und II. 2. sowie III. 5. 349 So auch Brüning, JZ 2001, 669, 673.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
4. Kapitel
Maßstäbe der Gleichheit und Intensität der Rechtfertigungsanforderungen: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes Wie die Ausführungen zum Spektrum gerichtlicher Kontrolldichte verdeutlichen, findet das Konzept differenzierter Prüfungsintensität im Rahmen des grundrechtlichen Gleichheitssatzes sowohl in der Rechtsprechung des EuGH als auch in der Literatur breite Zustimmung. Allerdings wird zu Recht darauf hingewiesen350, dass die schwierige Frage, von welchen Umständen die Intensität der Prüfung abhängig ist, bislang in allgemeiner Form kaum beantwortet sei. Angemahnt wird insofern die Entwicklung „einsichtiger, möglichst einheitlicher, gleichmäßig angewandter und damit vorhersehbarer Regeln“351, die dem zunehmend gradualisierten Prüfungsmaßstab Rechnung tragen. Diesem Anspruch wird der EuGH in seiner Rechtsprechung zum Gleichheitssatz gegenwärtig nicht gerecht. Auch in der europarechtlichen Literatur fehlt bislang eine genauere Untersuchung des Problemkreises.352 Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte darin bestehen, dass bereits auf nationaler Ebene wenig Einigkeit über die Umstände besteht, nach denen sich die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen richtet. So ist bei Betrachtung der verfassungsrechtlichen Gleichheitsprüfung in den USA und in Deutschland eine im Fluss befindliche Diskussion aufgezeigt worden, die sich auf Fragen der Gebotenheit einer strikten oder weniger strikten Gleichheitskontrolle bezieht.353 Im Ergebnis wurde dabei eine große Zahl unterschiedlicher Gesichtspunkte festgestellt, die näheren Aufschluss über die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen geben sollen, deren Berechtigung jedoch im Einzelnen umstritten ist.354 Angesichts der Unklarheiten über den normativen Gehalt des grundrechtlichen Gleichheitssatzes im Bereich der Rechtfertigungsanforderungen so350
Vgl. Jarass, EuR 2000, 705, 723. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, S. 127. 352 Eine gewisse Ausnahme bildet Kischel, EuGRZ 1997, 1, 5 f., der sich ausführlicher mit der Frage des Rechtfertigungsmaßstabs auseinandersetzt und dabei für eine Anlehnung an die Gleichheitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eintritt. 353 Vgl. insbesondere Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4.; III. 5.; 3. Kapitel, B. 354 Vgl. etwa Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 65 ff., zu der aus seiner Sicht misslungenen Unterscheidung von personen- und sachverhaltsbezogenen Merkmalen im deutschen Verfassungsrecht. 351
4. Kap.: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
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wie der insgesamt geringen dogmatischen Durchdringung dieses Grundrechts auf europäischer Ebene ist allerdings in besonderem Maße auf die Gefahr voreiliger Übernahmen nationaler verfassungsrechtlicher Positionen in das Gemeinschaftsrecht hinzuweisen. Eine Anlehnung an die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, wie sie zum Teil vertreten wird355, muss begründet werden und kommt nur insoweit in Betracht, als sie ihre Stütze im primären Gemeinschaftsrecht findet. Nur unter dieser Voraussetzung kann zudem der US-amerikanische Umgang mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz Aufschlüsse auch für das Europarecht bieten.356 Die nachfolgende Untersuchung des für Gleichheitsfragen zentralen Aspekts der Rechtfertigung hat daher zunächst von den europarechtlichen Vorgaben des Primärrechts auszugehen, die im Zusammenspiel mit dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz drei Dimensionen des Gleichheitsschutzes sichtbar werden lassen. Erst auf dieser primärrechtlichen Grundlage kann die Auseinandersetzung mit Erkenntnissen aus dem deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrecht genutzt werden, um zu einem vertieften Verständnis der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen zu gelangen. Wie bei Betrachtung der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit gezeigt wurde, kommt es für die grundrechtliche Gleichheitsprüfung entscheidend auf das Verhältnis des Gewichts der Verschiedenbehandlung zu den Differenzierungszielen an. Bereits die vergleichende Untersuchung der verfassungsrechtlichen Situation in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Deutschland hat jedoch verdeutlicht, dass insbesondere die Bestimmung des „Gewichts“ einer Ungleichbehandlung enorme Schwierigkeiten bereitet. Zwar mögen die Umstände des zu entscheidenden Einzelfalles eine eher intuitive Bewertung der Differenzierung als besonders gravierend oder weniger bedeutsam nahe legen. Die Bedeutung einer allgemeinen Dogmatik des Gleichheitsschutzes wird hierdurch allerdings nicht relativiert. Anhebungen des Gewichts von Ungleichbehandlungen und damit intensivere Anforderungen an deren Rechtfertigung kommen vor allem unter drei grundsätzlichen Gesichtspunkten in Betracht. Zum einen kann bereits das Differenzierungskriterium als solches unabhängig von der Berücksichtigung weiterer Faktoren eine besondere Schwere der Ungleichbehandlung begründen. So wurde im Rahmen des Rechtsvergleichs für die USA und Deutschland übereinstimmend festgestellt, dass die Frage nach der Beeinflussbarkeit 355
Eine solche Anlehnung befürwortet insbesondere Kischel, EuGRZ 1997, 1, 5 f., ihm folgend etwa Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 725. 356 Zur Berücksichtigung US-amerikanischer Erfahrungen mit dem Gleichheitssatz im Rahmen der europäischen Gleichheitsdogmatik vgl. Manolkidis, The Principle of Equality from a Comparative Constitutional Perspective: Lessons for the EU, S. 80 ff.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
eines Differenzierungskriteriums durch den ungleich Behandelten für die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen von Bedeutung sei.357 Das Gewicht einer Differenzierung hängt weiterhin von deren Auswirkungen ab. Hierzu zählt etwa die mit einer Verschiedenbehandlung verbundene mögliche Beeinträchtigung von Freiheitsrechten.358 Ein dritter Gesichtspunkt besteht schließlich darin, weder auf das zu Grunde liegende Differenzierungskriterium noch auf die Auswirkungen der Ungleichbehandlung abzustellen, sondern vielmehr den Sachbereich zu berücksichtigen, in dem die Differenzierung vorgenommen wird. Als ein im Hinblick auf Ungleichbehandlungen besonders sensibler Bereich ist für das deutsche und US-amerikanische Verfassungsrecht etwa das Wahlrecht behandelt worden, während nach diesem bereichsspezifischen Ansatz insbesondere die Sozialund Wirtschaftsgesetzgebung eher geringen Rechtfertigungsanforderungen unterliegt.359 Auch auf europäischer Ebene sind die zuvor genannten Aspekte von wesentlicher Bedeutung für die dogmatische Entwicklung des Gleichheitssatzes. Dessen Anforderungen für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen finden ihre Grundlage im Primärrecht der Gemeinschaft und werden dabei sowohl von speziellen gleichheitsrechtlichen Ausprägungen beeinflusst als auch von weiteren, nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz stehenden Inhalten des primären Gemeinschaftsrechts. In diesem Zusammenhang ist auf jenen Dreiklang hinzuweisen, der verbreitet als „europäische Grundrechtstrias“360 bezeichnet wird und sich aus den Elementen Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit zusammensetzt. Wie nachfolgend gezeigt wird, sind drei Dimensionen des Gleichheitsschutzes zu unterscheiden, die für die Bestimmung der Rechtfertigungsanforderungen von fundamentaler Wichtigkeit sind. Die erste Dimension betrifft den Zusammenhang von Menschenwürde und Gleichheit und die hieraus resultierenden Konsequenzen für die Gleichheitsprüfung. Gegenstand der zweiten Dimension sind Erkenntnisse, die sich aus dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit ergeben. In einer dritten Dimension schließlich geht es um Fragen komplexer Gleichheit, bei denen primärrechtliche Spezifika eine maßgebliche Bedeutung besitzen, ohne dass es hierbei auf den gleichheitsrechtlichen Bezug zu Menschenwürdegarantie oder Freiheitsrechten ankäme. 357
Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. b); 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (1) (d). Vgl. Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. d). 359 Zur Wahlrechtsgleichheit siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 6.; B. II. 1. b) bb), (1). Hinsichtlich der weniger intensiven Rechtfertigungsprüfung im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung vgl. Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. II. 1. a) aa); B. III. 2. 360 Baer, ZRP 2000, 361, 364 m. w. N. 358
4. Kap.: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
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A. Menschenwürde und Gleichheit Ausgangspunkt der elementarsten Dimension grundrechtlichen Gleichheitsschutzes ist die Garantie der Menschenwürde. Dies setzt zunächst voraus, dass dem europäischen Primärrecht entsprechende Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines solchen Grundrechts überhaupt entnommen werden können. I. Achtung der Menschenwürde als europäisches Grundrecht Zwar wird in der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsentfaltung durch den EuGH das Gebot der Menschenwürde bislang nur vereinzelt ausdrücklich erwähnt.361 Jedoch ist als bedeutende Ausprägung mit besonders engem Würdebezug vor allem das Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre bereits seit langem auch europarechtlich anerkannt.362 Darüber hinaus hat der EuGH in jüngerer Zeit in deutlicher Weise auf seine Verpflichtung hingewiesen, die Würde der Person in seiner Grundrechtsjudikatur zu berücksichtigen. So setzt sich der Gerichtshof in der Rechtssache P. gegen S. vom 30. April 1996 mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auseinander und führt diesbezüglich aus: „Würde eine solche Diskriminierung toleriert, so liefe dies darauf hinaus, daß gegenüber einer solchen Person gegen die Achtung der Würde und der Freiheit verstoßen würde, auf die sie Anspruch hat und die der Gerichtshof schützen muß.“363 Mit der Entscheidung Omega vom 14. Oktober 2004 bekräftigt der EuGH zudem, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung „unbestreitbar auf die Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde als eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes“364 abziele. Auch die Grundrechtscharta der EU verdeutlicht den zentralen Stellenwert der Menschenwürde, indem diese in Artikel 1 an die Spitze der Charta gestellt wird: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Auf die Verankerung in einer gemeinsamen europäischen Grundrechtstradition weist zudem die Präambel mit der Formulierung hin, dass sich die Europäische Union „in dem Bewusstsein ihres geistig-religiö361 Zu Ausnahmen, insbesondere den Urteilen des EuGH in der Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council vom 30.4.1996 und in der Rs. C-36/02, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs GmbH/Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn vom 14.10.2004, sogleich. 362 Vgl. etwa EuGH, Rs. 136/79, National Panasonic (UK) Limited/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 26.6.1980, Slg. 1980, 2033, 2056 f. 363 EuGH, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 30.4.1996, Slg. 1996, 2159, 2165. 364 EuGH, Rs. C-36/02, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs GmbH/ Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, 14.10.2004, Rn. 34.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
sen und sittlichen Erbes . . . auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“ gründe. Die Achtung der Menschenwürde als Ausdruck des Respekts vor der Person gehört somit auch auf europäischer Ebene zum Kernbestand der geschützten Grundrechte.365 II. Gehalt der Menschenwürde Finden sich, wie zuvor erwähnt, in der Rechtsprechung des EuGH nur wenig Aussagen im Hinblick auf den Schutz der Menschenwürde, so ist es kaum verwunderlich, dass nähere Ausführungen zu deren Gehalt bislang gänzlich fehlen. Die verfassungsrechtliche Konkretisierung der Würde des Menschen begegnet besonderen Schwierigkeiten, die über das Maß der bei sonstigen Grundrechtsinterpretationen auftretenden Unsicherheiten deutlich hinausgehen.366 Hieraus erklärt sich auch das Nebeneinander von Theorien, die eine positive Bestimmung der Menschenwürde zum Gegenstand haben und Ansätzen, bei denen die Bestimmung des Verletzungstatbestandes im Vordergrund steht.367 Zu letzteren gehört die im deutschen Verfassungsrecht geläufige, von Dürig in Anlehnung an Kant weiterentwickelte „Objektformel“, derzufolge ein Würdeverstoß vorliegen soll „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“368. Während dieser Ansatz zunächst ohne eine nähere Explikation im Hinblick darauf auskommt, worin die Würde des Menschen begründet liegt, so unterscheiden sich die Versuche einer positiven Begriffsklärung insbesondere in Bezug darauf, ob Menschenwürde einen ursprünglichen Eigenwert 365 Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 6 EUV, Rn. 31. Vgl. auch Generalanwalt Cosmas, verb. Rs. C-50/96, C-234/96, C-235/96, C-270/97, C-271/97, Lilli Schröder/Deutsche Bundespost Telekom, 8.10.1998, Rn. 80: „In einer Rechtsgemeinschaft, die die Menschenrechte achtet und schützt, gründet sich die Forderung nach gleichem Arbeitsentgelt für Männer und Frauen hauptsächlich auf die Grundsätze der Würde des Menschen und der Gleichheit von Männern und Frauen.“ Einen Überblick über die Normierung der Menschenwürde im Rechtsvergleich gibt Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, § 22, Rn. 1 ff. 366 Vgl. Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1, Rn. 6; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 353. Zur Offenheit des Würdebegriffs Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 22 ff. 367 Überblick bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 51 ff. Zu den unterschiedlichen Würdekonzeptionen im Einzelnen vgl. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 5 ff. 368 So die Formulierung Dürigs, wiedergegeben bei Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 33.
4. Kap.: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
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darstelle oder ob sie erst durch eigene Leistung herzustellen sei.369 Dabei verfehlen leistungsbezogene Würdekonzeptionen den elementaren Gehalt des Grundrechts allerdings insoweit, als damit gerade jenen besonders schutzbedürftigen Menschen die Achtung ihrer Menschenwürde versagt zu werden droht, die zu der geforderten Leistung außerstande sind.370 Vor diesem Hintergrund erscheinen entsprechende, zumeist am Prozess der Selbstdarstellung orientierte Konzeptionen nur dann als vertretbar, wenn auch diejenigen in den Schutzbereich des Grundrechts einbezogen werden, deren „würderealisierenden Versuche misslingen“371. Festzuhalten bleibt somit zunächst, dass jedem Menschen, ohne Rücksicht auf seine konkreten Eigenschaften, Leistungen oder einen bestimmten Status, Würde zukommt. Im Zentrum der Menschenwürde steht danach die Autonomie und Personalität des Menschen. Dieser ist in seiner sozialen und personalen Identität zu achten und zu schützen. Dabei schließt die Anerkennung eines abwehrrechtlichen Schutzgehalts nicht aus, dem Grundrecht weitere Funktionen zuzusprechen, die dessen fundamentalem Charakter Rechnung tragen. Hierzu zählt neben einer Auffangfunktion372 insbesondere auch die Funktion als Auslegungshilfe für sonstige Grundrechte, deren Interpretation sich am Maßstab der Menschenwürde zu orientieren hat.373 Gerade im Hinblick auf den Gehalt des Gleichheitssatzes ergeben sich daraus nähere Aufschlüsse, die im Folgenden beleuchtet werden sollen. III. Gleichheit in Personalität und Würde Die grundrechtlichen Verbürgungen von Würde und Gleichheit weisen ein besonders hohes Maß an Gemeinsamkeiten auf.374 Dazu gehört vor allem ihr gemeinsamer Charakter als modal ausgerichtete Generalklau369
Zu dieser grundlegenden Unterscheidung Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, § 22, Rn. 39. Vgl. auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), GG I, Art. 1, Rn. 10, 20. 370 Abzulehnen daher etwa Luhmann, Grundrechte als Institution, S. 61, demzufolge es auf die Bedingung gelingender Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit ankommen soll. Zur Kritik hieran vgl. auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 1, Rn. 20; Sachs, Verfassungsrecht II, B 1, Rn. 9; Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, § 22, Rn. 44. 371 So Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1, Rn. 31. 372 Streitig. Kritisch gegenüber einer Funktion als Auffanggrundrecht etwa Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 1 Abs. 1, Rn. 162. 373 Vgl. Sachs, Verfassungsrecht II, B 1, Rn. 4. 374 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 25 f.; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1, Rn. 7 f.
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seln375, denen kein spezifizierter sachlicher Lebensbereich korrespondiert, sondern die sich grundsätzlich auf alle denkbaren Lebenszusammenhänge beziehen können. Konkretisiert wird diese besondere Offenheit der normativen Grundrechtsgehalte allerdings durch ein gemeinsames Charakteristikum, das zuvor bereits bei der Bestimmung des Würdebegriffs seinen Ausdruck fand: der elementaren Bedeutung der Personalität des Menschen. Zutreffend ist daher von der Menschenwürde als „Ausdruck des personalen Selbstseins des Menschen und seiner Eigenwertigkeit“376 bzw. allgemein vom „Wert, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt“377 die Rede. Wenn somit vorliegend die Person und der ihr zukommende Eigenwert als Kern des Menschenwürdegehalts angesehen werden, so entspricht dies einer in der Grundrechtsinterpretation durchaus verbreiteten Auffassung. Weniger geläufig ist hingegen der enge Zusammenhang von Person und Gleichheit, der eine elementare Dimension des Gleichheitsschutzes konstituiert. So enthält die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung verwendete Formulierung, wonach der Gleichheitssatz die „unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte“ verbiete, sofern die Differenzierung nicht gerechtfertigt werden könne, keinen Hinweis auf den Träger des Grundrechts und vermeidet so jeden begrifflichen Bezug zur Person. Allerdings spricht der Gerichtshof in seiner Judikatur bisweilen ausdrücklich von den „Grundrechten der Person“378. In diesem Sinne lautet auch der im Rahmen der EU-Grundrechtscharta vorgesehene Gleichheitssatz des Artikel 20: Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich. Die besondere Nähe des Gleichheitssatzes zum Personenbegriff wird indes deutlicher, wenn man über das Europarecht hinausgehende generalisierende Betrachtungen der Gleichheitsdiskussion einbezieht. Wie die Untersuchung der US-amerikanischen und deutschen Verfassungsgeschichte gezeigt hat, entwickelt sich der Inhalt des grundrechtlichen Gleichheitspostulats in enger Anlehnung an die zeitgenössischen Vorstellungen von der Personalität des Menschen. Beispielhafter Ausdruck dieser 375
So Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1, Rn. 8. Allerdings ist der modale Charakter des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht unumstritten, vgl. Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 2 m. w. N. 376 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, § 58 II 7. Vgl. auch Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, § 22, Rn. 47: „Sicherung personaler Identität als Kern der Menschenwürde“. 377 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 1, Rn. 13. 378 So bereits EuGH, Rs. 29/69, Erich Stauder/Stadt Ulm, Sozialamt, 12.11.1969, Slg. 1969, 419, 425: „Bei dieser Auslegung enthält die streitige Vorschrift nichts, was die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen könnte.“
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„unlösbaren Verknüpfung von Gleichheitsorientierung und Personenauffassung“379 ist auf US-amerikanischer Seite insbesondere der rechtliche Status von Sklaven, die bis weit in das 19. Jahrhundert hinein als „Besitz, nicht als Personen“380 betrachtet wurden. Ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung fand die ungleiche Behandlung aller Schwarzen (das heißt unabhängig von ihrer Stellung als Sklaven) noch im Jahre 1857, als es der U.S. Supreme Court sorgsam vermied, im Zusammenhang mit den „negroes“ von „Menschen“ oder „Personen“ zu sprechen, sondern stattdessen auf deren Charakter als einer „subordinate and inferior class of beings“381 hinwies. Erst der 14. Zusatzartikel der Verfassung von 1868 bezieht den Gleichheitssatz ausdrücklich auf „any person“, nachdem der an der Gleichheitsfrage entzündete Bürgerkrieg mit dem Sieg der Nordstaatler geendet hatte und die gänzliche Ablehnung personaler Rechtsgleichheit im Hinblick auf die schwarzen Sklaven nicht mehr hinnehmbar schien. Wie die sich verändernde Personenauffassung zu einer Veränderung der Idee der Gleichheit führt, zeigt nachdrücklich auch die in der Folgezeit nach 1868 einsetzende Diskussion darüber, ob sich der – ausweislich seiner Formulierung „jede Person“ schützende – grundrechtliche Gleichheitssatz des 14. Amendments überhaupt auf weitere Gruppen außerhalb der schwarzen Bevölkerung erstrecke.382 Im Zuge dieser von nun an festzustellenden exegetischen Ausweitung der equal protection-Klausel wurde der Kreis jener, die als „Personen“ im Sinne der Gleichheitsklausel anzuerkennen seien, kontinuierlich ausgedehnt.383 So verwies der U.S. Supreme Court384 etwa auf die ebenfalls im 14. Zusatzartikel enthaltene Garantie bestimmter Rechte lediglich für „Bürger“ und folgerte hieraus, dass der Personenbegriff des Gleichheitssatzes nunmehr auch Ausländer zu umfassen habe. Neben der damit angesprochenen Sklavenproblematik verweist eine Reihe weiterer historischer Problemlagen auf die Verknüpfung des Personenbegriffs mit erheblich veränderten Gleichheitsauffassungen.385 Diese 379 Menke, Spiegelungen der Gleichheit, S. 29. Zur neuzeitlichen Konturierung des Personenbegriffs durch die Postulate der Gleichheit und Freiheit vgl. R. Damm, Personenrecht. Klassik und Moderne der Rechtsperson, AcP 202 (2002), 841, 849 ff. 380 Vgl. Madison, in: Hamilton/Madison/Jay, Federalist Papers, Nr. 54 (S. 334). Hierzu oben, Zweiter Teil, 1. Kapitel, B. III. 381 Zu der Entscheidung des U.S. Supreme Court in Dred Scott v. Sandford, 60 U.S. (19 How.) 393 (1857) oben, Zweiter Teil, 1. Kapitel, B. V. 3. 382 Vgl. Zweiter Teil, 2. Kapitel, A. II. 2. a). 383 Knapp, JöR 23 (1979), 421, 426. 384 Yick Wo v. Hopkins, 118 U.S. 356, 369 (1886). 385 Exemplarisch sei etwa auf die Rechtsstellung der Frau oder auf die ideologische Verengung des Personenkonzepts im Recht des Nationalsozialismus hingewiesen, dazu R. Damm, AcP 202 (2002), 841, 853 ff.
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Entwicklungslinien des Gleichheitssatzes bestätigen zunächst den eingangs betonten engen Zusammenhang von Person und Gleichheit: „Die Geschichte der Gleichheit ist eine Geschichte unserer Auffassungen davon, was eine Person ausmacht“386. Allerdings ist dieser Befund zu konkretisieren. Es wäre ein Missverständnis des hier vorgestellten gleichheitsrechtlichen Personenbezuges, wenn darin ausschließlich jene Entwicklung verortet würde, die – wie etwa bei der US-amerikanischen Auseinandersetzung in der Sklavenfrage – von der gänzlichen Negation der Personalität hin zu einer gleichen Berücksichtigung als Rechtsperson führt. Eine solche fundamentale Verneinung der Personeigenschaft des Menschen stellt zwar fraglos die gravierendste, nicht aber die am weitesten verbreitete Form der Ausgrenzung dar. Daher sind vor dem Hintergrund eines bestimmten Personenkonzepts neben den hiermit verbundenen korrespondierenden Gesichtspunkten verweigerter Personalität auch Aspekte eingeschränkter Personalität zu berücksichtigen. Dies führt für den vorliegend interessierenden Zusammenhang zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei bestimmten Ungleichbehandlungen ein derart intensiver Personenbezug gegeben ist, dass gleichheitsrechtlich von einer erhöhten Schutzintensität auszugehen ist. Die Antwort hierauf ergibt sich aus der bereits angesprochenen Auslegungsfunktion des Grundrechts der Menschenwürde, die auch bei der Interpretation des Gleichheitssatzes Geltung erlangt. Zum einen kann der vom Gehalt der Menschenwürde umfasste personale Kern des grundrechtlichen Gleichheitspostulats betroffen sein, indem sich eine Differenzierung auf bestimmte egalitäre Basisrechte auswirkt, die in einer besonderen Nähebeziehung zur Person stehen (hierzu sogleich unter 1.). Systematisch davon zu unterscheiden ist eine Anhebung des Gewichts von Ungleichbehandlungen, die nicht primär mit deren Auswirkungen zu begründen ist, sondern aus der Eigenart des verwendeten Differenzierungskriteriums resultiert. Soweit dieses durch die betroffene Person nicht oder nur schwer beeinflussbar ist, könnte der entsprechenden Ungleichbehandlung aufgrund ihrer verstärkten Personenbezogenheit ebenfalls ein erhöhter Würdebezug zukommen und daher eine Anhebung der Anforderungen im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung geboten sein. In wie weit eine solche am Unterscheidungsmerkmal orientierte Intensivierung des Gleichheitsschutzes berechtigt ist, wird im Anschluss (unter 2.) genauer zu untersuchen sein. 1. Personstatus und Gleichheitsschutz: Personale Basisrechte Der personale, vom Menschenwürdegehalt umfasste Kern des Gleichheitssatzes stellt gewisse fundamentale Rechte des einzelnen unter erhöhten 386
So zutreffend Menke, Spiegelungen der Gleichheit, S. 27.
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Schutz vor Ungleichbehandlungen, die sich hierauf auszuwirken drohen. Gegenstand dieser „elementaren Rechtsgleichheit als Element der Menschenwürde“387 ist somit die Gleichheit jedes Menschen in Personalität und Würde. Für den derart beschriebenen, auch europarechtlich388 anerkannten engen Zusammenhang von Gleichheit und Würde werden unterschiedliche Bezeichnungen verwandt. So ist etwa die Rede vom „Kern absolut normierter oder normierender Gleichheit“389, dem „egalitären Standard des Gleichheitssatzes“390, einem zu schützenden „Egalitärbereich“391 bzw. schlicht der „Statusgleichheit“392. Vorliegend wird, ausgehend von dem zuvor aufgezeigten personenbezogenen Fundament des Gleichheitssatzes, die Existenz bestimmter „personaler Basisrechte“ angenommen. Diesen Basisrechten ist gemeinsam, dass sie unabdingbare Voraussetzungen für die Berücksichtigung des Menschen in seiner Personalität darstellen und wegen der jedem Menschen zukommenden Würde allen gleichermaßen zugesprochen werden müssen. Differenzierungen, die sich auf solche Rechte auswirken, betreffen mithin einen besonders eng an die Person angelagerten Rechtskreis, der aufgrund der Menschenwürdegarantie unter erhöhtem Schutz steht.393 Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass die Achtung personaler Basisrechte auch auf europäischer Ebene an den Ausgangstatbestand des in Würde und Freiheit gleichen Menschen anknüpfe und insofern zugleich „Forderung einer gemeineuropäischen Kulturgemeinschaft und Rechtsüberzeugung“394 sei. 387
Sachs, Verfassungsrecht II, B 1, Rn. 20. Zur engen Verbindung von Gleichheit und Menschenwürde Manolkidis, The Principle of Equality from a Comparative Constitutional Perspective: Lessons for the EU, S. 81; Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 60 f. Vgl. auch die oben bereits erwähnten Ausführungen des EuGH in der Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 30.4.1996, Slg. 1996, 2159, 2165. 389 Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 100 in Anlehnung an Dürig, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 21. 390 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 22. 391 Kim, Zur Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, S. 216 ff. 392 So Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 193 mit anschließender Konkretisierung des Inhalts in Rn. 194 ff. 393 In diese Richtung auch Kim, Zur Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, S. 209, wonach die eigene Person und ihr Privatbereich den individuell beherrschten, gegen den Hoheitsträger abgeschirmten Lebensbereich darstellen sowie Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 43: „Ein gegen staatliche Einwirkung schlechthin abgeschirmter Ausgangsbefund sind die Individualität und personale Würde des Menschen.“ 388
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Zu klären ist nun, worin die personalen Basisrechte des einzelnen bestehen. Jedem Menschen kommt die gleiche Würde zu. Das Prinzip der Menschenwürde kann die hieraus abgeleitete gleiche Behandlung jedoch nur in gewisser Hinsicht und grundsätzlich erfordern.395 Wie weit sich das Prinzip erstreckt, ist näher zu untersuchen. Hierbei sollte allerdings ein restriktives Verständnis des Menschenwürdeansatzes gewahrt werden, das sich auf schwere Beeinträchtigungen der Personalität des Menschen beschränkt396, um so dem elementaren Charakter des Grundrechts gerecht zu werden und einer Aufweichung von dessen Normgehalt entgegen zu wirken. Die nachfolgende, nicht abschließende Aufzählung personaler Basisrechte bezieht sich aus diesen Gründen auf Kerngewährleistungsinhalte des gleichheitsrechtlichen Menschenwürdegehalts. Hierzu gehört zunächst die Gleichheit in der Unverletzlichkeit von Leib und Leben.397 Hinzu kommt das gleiche Recht auf geistige Unverletzlichkeit, wie es etwa in elementaren Bereichen des Rechts der persönlichen Ehre zum Ausdruck kommt.398 Ein personales Basisrecht ist zudem die gleiche Rechtsfähigkeit des Menschen.399 Dabei geraten die in diesem Zusammenhang besonders kontrovers diskutierten Fragen nach dem Verhältnis von Person und Mensch400 angesichts der rasanten Entwicklungen im Bereich von Medizin- und Biotechnik401 zunehmend in den Blickpunkt des Interesses. Umso wichtiger erscheint vor diesem Hintergrund der Hinweis, dass es sich beim Basisrecht der gleichen Rechtsfähigkeit „verfassungsrechtlich um ein originäres . . . Attribut jedes Menschen 394
Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 60. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kischel, EuGRZ 1997, 1, 6. 395 Vgl. Tammelo, Rechtslogik und materiale Gerechtigkeit, S. 60. 396 So etwa Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1, Rn. 17 f. 397 Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 18; vgl. auch Art. 2 EMRK, Art. 2 und 3 EU-GC. 398 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 1, Rn. 92. Siehe auch Art. 3 EU-GC, wonach jeder Person neben dem Recht auf körperliche Unversehrtheit auch das Recht auf geistige Unversehrtheit zuerkannt wird. 399 Grundlegend Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 29 ff.: „Unabdingbare und voraussetzungslose Gleichheit besteht in der gleichen Rechtsfähigkeit des Menschen.“ Zum „Recht auf Rechtsfähigkeit“ vgl. Knieper, Gesetz und Geschichte. Ein Beitrag zu Bestand und Veränderung des Bürgerlichen Gesetzbuches, S. 55 ff. Allgemein zur Geschichte der Person als rechtsfähigem Subjekt Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, S. 8 ff. 400 Zur aktuellen Diskussion über die Natur des Menschen und menschliche Personalität im Hinblick auf die humantechnologische Entwicklung vgl. R. Damm, AcP 202 (2002), 841, 871 ff. 401 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die von Dürig vor nunmehr 30 Jahren getroffene Prophezeiung, „zur ganz großen Konfrontation der Juristen (wenn sie wirklich welche sind) mit den sog. exakten Wissenschaften“ werde es „ganz gewiß kommen, wenn diese an das Gen herangehen“, ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 31.
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handelt, und nicht nur die ‚zivile‘, sondern die allgemeine Rechtsfähigkeit überhaupt unmittelbar verfassungsrechtlich zwingend ist“402. Neben den genannten Rechten ist weiterhin das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum403 unterschiedslos zu gewährleisten und damit gegenüber Differenzierungen, die sich hierauf in einschränkender Weise auswirken, besonders zu schützen. Es gehört demnach zur Gruppe jener personalen Basisrechte, die auf eine Gleichstellung aller Menschen zumindest im Hinblick auf die Sicherung ihrer individuellen Existenz bezogen sind. Darüber hinaus gehört zum personalen Kern des Gleichheitssatzes die Rechtsschutzgleichheit. Hierzu zählt zunächst das Recht auf gleichen Zugang zu Gericht404, wobei Parallelen zum US-amerikanischen Verfassungsrecht deutlich werden, in dem wie gesehen405 ausdrücklich ein solches „fundamentales“ und damit die strengste Form der Gleichheitsprüfung auslösendes Recht anerkannt ist. Vom Menschenwürdegehalt umfasste Gewährleistungen sind weiterhin die Gleichheit in der Anwendung des Gesetzes sowie das gleiche Recht auf ein unparteiisches Gerichtsverfahren.406 Egalitäre Basisrechte sind demnach auch die vom EuGH anerkannten zentralen Verfahrensgrundrechte, so insbesondere das vom Gerichtshof in einem weiten Sinne verstandene gleiche Recht auf rechtliches Gehör407 sowie der aus Art. 6 und 13 EMRK abgeleitete grundrechtliche Anspruch auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes408. Schließlich ist auch das Recht auf eine „gegen staatliches Fragen und Beobachten abgeschirmte Privatheit“409 zum 402
Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 30. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 100; allgemein zur Sicherung des Existenzminimums als Gehalt der Menschenwürdegarantie Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 1, Rn. 24 ff. 404 Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 42 ff. Zum Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vgl. Art. 13 EMRK, Art. 47 EU-GC. 405 Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb), (2). 406 Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 48 ff.; Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 100. Zum Recht auf ein unparteiisches Gerichtsverfahren siehe auch Art. 6 EMRK, Art. 47 Abs. 2 EU-GC. 407 EuGH, Rs. 85/76, Hoffmann-La Roche & Co. AG/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 13.2.1979, Slg. 1979, 461, 511; Rs. C-301/87, Französische Republik/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, 14.2.1990, Slg. 1990, 351, 358 f.; vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 194 ff. 408 EuGH, Rs. 222/84, Marguerite Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, 15.5.1986, Slg. 1986, 1663, 1682; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 198 ff. m. w. N. 409 So Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 199. 403
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personalen Kern des Gleichheitssatzes zu zählen. Dem entspricht auf europäischer Ebene das vom EuGH in ständiger Rechtsprechung anerkannte410, in Anlehnung an Art. 8 EMRK entwickelte Recht jedes einzelnen auf Achtung des Privatlebens. Eine Zusammenschau der aufgeführten personalen Basisrechte zeigt, dass sich diese nicht auf einen speziellen Teilbereich des Menschenwürdegehalts beschränken. Vielmehr beziehen sie sich sowohl auf die Achtung und den Schutz menschlicher Existenz in ihrer körperlichen Integrität als auch auf die Wahrung personaler Identität sowie die Gewährleistung elementarer Rechtsgleichheit in der Zugehörigkeit zur Rechtsgemeinschaft. Dabei verdeutlicht namentlich das Recht auf respektierte Privatsphäre die allen Basisrechten gemeinsame Tendenz, an Differenzierungen umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr sich diese auf den grundlegenden Status des einzelnen als Mensch, als Person und als Persönlichkeit auswirken.411 Ein Mindestmaß an Rechtsgleichheit ist demnach dort zu fordern (und somit die strengste Form der Rechtfertigungsprüfung vorzunehmen), wo die personale Würde des Grundrechtsträgers betroffen ist, das heißt dessen personale Basisrechte in Frage stehen. Dieser Ansatz entspricht auch weitgehend den Gleichheitsvorstellungen, die der EMRK zu Grunde liegen: Danach darf die Gleichheit vor dem Gesetz „als absolute bezeichnet werden, soweit sie die Menschenwürde und den Kernbereich der Persönlichkeit . . . betrifft“412. Hingegen ist eine weniger intensive Rechtfertigungsprüfung geboten, soweit sich Ungleichbehandlungen vom personalen Kern des Gleichheitssatzes entfernen und vorrangig auf das gemeinschaftserhebliche, stärker veränderbare Umfeld der Person abzielen.413 Es wurde bereits erwähnt, dass der vorliegenden Aufzählung personaler Basisrechte kein abschließender Charakter zukommt. Vor allem gilt es für die hier vorgenommene Konkretisierung eines von der Menschenwürde umfassten personalen Kerns der Gleichheit zu berücksichtigen, dass die Bestimmung der aus dem Würdegehalt resultierenden Anforderungen in besonderem Maße zeit- und situationsabhängig ist414, weshalb zwar bestimmte 410 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-62/90, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Bundesrepublik Deutschland, 8.4.1992, Slg. 1992, 2601, 2609. Neben Art. 8 EMRK enthält nun auch Art. 7 EU-GC ein ausdrückliches Bekenntnis zur grundrechtlichen Achtung des Privat- und Familienlebens. 411 Vgl. Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 18 f. 412 Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 197. 413 Vgl. Kim, Zur Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, S. 209 f. 414 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 353.
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Minimalstandards der Gleichheit aufgezeigt werden können, eine von Zweifeln befreite erschöpfende Liste der Basisrechte jedoch schon aus diesem Grund kaum möglich erscheint. Hinzu kommt die dynamische Fortentwicklung des primären Gemeinschaftsrechts und der Gemeinschaftskompetenzen, woraus sich ebenfalls gewisse Einschränkungen hinsichtlich der Bestimmung des personalen Kerns des Gleichheitssatzes ergeben. So wird etwa für die nationalstaatliche Ebene vertreten, dass auch die egalitäre Zählwertgleichheit bei Wahlen als harter Kern des Gleichheitssatzes aus der Menschenwürdegarantie abzuleiten sei.415 Dem Stand des Gemeinschaftsrechts entsprechend wird hingegen auf europäischer Ebene die Wahlrechtsgleichheit durch die primärrechtlichen Bestimmungen des Art. 190 teilweise ausdrücklich suspendiert.416 Auch die sonstigen Vorgaben des gemeinschaftlichen Primärrechts sind daher bei der Bestimmung personaler Basisrechte zu berücksichtigen, soweit sie konkrete Aussagen über den Inhalt des Gleichheitssatzes enthalten. Insofern kann dessen Gehalt (auch in seinem personalen Zentrum) zu keinem Zeitpunkt in abschließendem Sinne „absolut“ festgelegt werden, sondern er ist in seiner Interpretation an den jeweiligen Stand und Anwendungsbereich des primären Gemeinschaftsrechts gebunden und von den darin zum Ausdruck gebrachten europaspezifischen Anforderungen abhängig. 2. Gleichheit und Verantwortung: Individuelle Beeinflussbarkeit Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen ist – ebenso wie bei den personalen Basisrechten – eine elementare Form der Rechtsgleichheit, die im Verhältnis von Person und Gleichheit ihren Ursprung findet. Auch in diesem Zusammenhang, so wird sich zeigen, kommt dem Begriff der Menschenwürde maßgebliche Bedeutung zu. Im Gegensatz zu den erhöhten Rechtfertigungsanforderungen bei Ungleichbehandlungen, die sich auf bestimmte Basisrechte auswirken, geht es hier jedoch um einen systematisch davon zu unterscheidenden Gesichtspunkt. Eine intensivere Gleichheitsprüfung resultiert hier nicht aus den Wirkungen, die an ein Differenzierungskriterium geknüpft werden, sondern aus der Eigenart des Differenzierungskriteriums selbst. Auf die Beurteilung der Folgen, die sich aus einer Ungleichbehandlung ergeben, kommt es somit nicht an. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage, in welchem Maße der einzelne dazu in der Lage ist, auf die Verwirklichung des Differenzierungskriteriums Einfluss zu nehmen. Ein solcher Ansatz ist in übereinstimmender Weise sowohl für das deutsche 415
Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 114 ff. Vgl. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 190, Rn. 10 m. w. N. zu Einschränkungen der Wahlrechtsgleichheit bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. 416
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als auch für das US-amerikanische Verfassungsrecht festgestellt worden417 und soll daher vorliegend im Hinblick auf seine Berechtigung und mögliche Berücksichtigung auch im Europarecht untersucht werden. a) Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit Eingegangen werden soll zunächst auf die Herleitung einer alleine auf das Differenzierungskriterium abstellenden Intensivierung der Gleichheitsprüfung. Diese kann sich, wie bereits erwähnt, nur aus dem gemeinschaftlichen Primärrecht selbst ergeben. Ausgangspunkt ist auch hier die Garantie der Menschenwürde, welche zuvor als europäisches Grundrecht aufgezeigt wurde. Danach wird der Mensch in seiner Autonomie und Personalität geschützt und seine grundsätzliche Unverfügbarkeit respektiert, weshalb der freien Selbstbestimmung und personalen Selbstverwirklichung des Einzelnen ein zentraler Stellenwert zukommt. Insbesondere lässt sich aus der Würde des Menschen als eigenverantwortlich handelnder Person ein allgemeiner Grundsatz der Verantwortlichkeit ableiten.418 Dieser – hier zunächst ohne Bezug zum grundrechtlichen Gleichheitspostulat eingeführte – Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit basiert somit auf einem autonomiegeprägten Würdebegriff, dessen Gleichheitsrelevanz nicht unmittelbar sichtbar wird und den es nun zu vertiefen gilt. In der Auseinandersetzung mit egalitaristischen Fragen hat die umfangreiche philosophische Diskussion seit dem Erscheinen von John Rawls’ „Theory of Justice“ im Jahre 1971 zu einer wahren Flut an Theorien sozialer Gerechtigkeit geführt, in denen das Gleichheitspostulat in unterschiedlichster Weise Berücksichtigung findet.419 Daher überrascht es wenig, wenn in diesem Zusammenhang festgestellt wird es gebe „ebenso viele Varianten von Definitionen der Gleichheit wie Autoren“420. Dennoch lässt sich, ungeachtet der konstatierten gravierenden Differenzen, zumindest in einer Hinsicht weitgehende Übereinstimmung eines Großteils der egalitaristischen Auffassungen ausmachen: Sie besteht darin, dass dem Zusammenhang von Gleichheit und Verantwortung fast durchgängig eine herausragende Bedeutung zugemessen wird.421 In diesem Sinne wird die zu Grunde liegende Ge417 Für Deutschland vgl. Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. b). Zur US-amerikanischen Seite siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (1) (d). 418 Vgl. Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 157. 419 Einen aktuellen und ausführlichen Überblick gibt Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, S. 68 ff. 420 So Desai, Introduction, in: ders. (Hrsg.), On Equality. A Centenary Anthology, S. 1. 421 Vgl. hierzu die ausführlichen Untersuchungen von Ripstein aus dem Jahre 1999, „Equality, Responsibility, and the Law“, die auf der Annahme einer elemen-
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rechtigkeitsvorstellung zutreffend als „responsibility-sensitive egalitarian justice“422 bezeichnet. Ihr wesentliches Kennzeichen besteht darin, dass sich die darin enthaltene Gleichheitskonzeption auf eine moralische Grundintuition zurückführen lässt, deren Formulierung in geradezu kanonischer Weise von unterschiedlichsten egalitaristischen Positionen aufgenommen wird: Danach soll niemand gegenüber anderen benachteiligt werden aufgrund von Dingen, für die er nicht verantwortlich ist.423 „Als schlecht erscheint nämlich nicht etwa, daß Individuen überhaupt ungleich profitieren oder in ungleichem Maße unter Nachteilen leiden, sondern daß sie ungleich unter Nachteilen zu leiden haben (resp. von Vergünstigungen profitieren), für die sie nichts können“424. An dieser Stelle ist zunächst innezuhalten und eine möglicherweise voreilige Übertragung des zuvor Ausgeführten im Hinblick auf den rechtlichen Umgang mit dem Gleichheitssatz zu vermeiden. Festzustellen ist, dass bislang (lediglich) der Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit aus dem Gehalt der Menschenwürde abgeleitet und auf dessen Relevanz im Rahmen egalitaristischer Gerechtigkeitsvorstellungen hingewiesen wurde. Inwieweit hieraus Schlussfolgerungen für die Konzeption der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung zu ziehen sind, ist allerdings unter mehreren Gesichtspunkten fraglich. Hierzu gehört zunächst die Notwendigkeit, den rechtswissenschaftlich wie philosophisch umstrittenen Fundamentalbegriff der Verantwortung425 so zu konkretisieren, dass er für den gerichtlichen Umgang mit dem verfassungsrechtlichen bzw. primärrechtlichen Gleichheitssatz fruchtbar gemacht werden kann. Wie der rechtsvergleichende Teil dieser Untersuchung gezeigt hat, wird insbesondere die Anknüpfung an unveränderbare Merkmale der Person sowohl vom U.S. Supreme Court als auch vom deutschen Bundesverfassungsgericht nach einem erheblich erhöhten Prüfungsmaßstab beurteilt. Es handelt sich somit um einen Aspekt, der rechtswissenschaftlich verbreitet als individuelle Beeinflussbarkeit bezeichnet426 und auf den in der philosophischen Diskussion zum Teil als persönliche Kontrollfähigtaren Verbindung von individueller Verantwortlichkeit und sozialer Gleichheit beruhen. 422 Vandenbroucke, Social Justice and Individual Ethics in an Open Society. Equality, Responsibility, and Incentives, S. 2. 423 Vgl. Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, S. 6; Vandenbroucke, Social Justice and Individual Ethics in an Open Society. Equality, Responsibility, and Incentives, S. 11; Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 7. 424 So Nagel, Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit, S. 102 (Hervorhebungen im Original). 425 Zur juristischen und philosophischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Verantwortung vgl. aus jüngerer Zeit etwa Neumann/Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral.
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keit427 Bezug genommen wird. In welcher Beziehung das damit angesprochene Kriterium einer erhöhten Prüfungsintensität zum Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit steht, bedarf der näheren Betrachtung. b) Willensfreiheit und Kontrollfähigkeit als Kernbestandteile persönlicher Verantwortlichkeit Die vielschichtige Diskussion um den Verantwortungsbegriff ist, nicht zuletzt seit dem Erscheinen von Hans Jonas’ „Das Prinzip Verantwortung“ 1979428, um zahlreiche allgemeine Ansätze zur Systematisierung bereichert worden. Trotz der insoweit zu konstatierenden Differenzen im Einzelnen spiegeln diese Ansätze eine grundsätzliche Ausweitung des Horizonts menschlicher Verantwortlichkeit, die mit tief greifenden technologischen Entwicklungen und vielfältigen Globalisierungsprozessen eng verbunden ist. Dabei bleibt der Kern des von der Menschenwürde umfassten Grundsatzes persönlicher Verantwortlichkeit auf ein spezifisches Verständnis von Verantwortung bezogen, das an die Autonomie der Person anknüpft und danach fragt, ob die Person „erstens den Verantwortungsbereich y kausal beeinflußt hat, hätte beeinflussen können oder beeinflussen kann, und zweitens ihr Einfluß nicht wiederum selbst zur Gänze durch externe Bedingungen determiniert, sondern in gewissem Maße in einer freien Entscheidung für ein Tun oder Unterlassen begründet war oder ist“429. Das normative Fundament der moralischen wie der rechtlichen Verantwortlichkeit liegt nach diesem Verständnis im Vermögen des Menschen begründet, aus freiem Willen zu handeln.430 Wird Verantwortung somit unter der Annahme freier Selbstbestimmung zugeschrieben, so rückt die Frage nach möglichen Alternativen zu einem bestimmten Verhalten gleichsam automatisch in den Blickpunkt.431 Es 426
Zum Aspekt der Beeinflussbarkeit vgl. etwa BVerfGE 88, 87, 96; 96, 288, 302; Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit. Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, S. 26; Kim, Zur Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, S. 214 f.; Weber, EuGRZ 1994, 537, 540. 427 Ladwig, Gerechtigkeit und Verantwortung. Liberale Gleichheit für autonome Personen, S. 134 ff. 428 Zusammenfassend und kritisch dazu Banzhaf, Philosophie der Verantwortung, S. 68 ff. 429 Werner, Dimensionen der Verantwortung, S. 304. 430 Vgl. Banzhaf, Philosophie der Verantwortung, S. 151. 431 Siehe Nagel, Der Blick von nirgendwo, S. 208; Ingarden, Über die Verantwortung, S. 15 f.; Brieskorn, Verantwortungsstrukturen in sozialethischer Sicht, S. 198. Ausführlich und kritisch zu dem damit angesprochenen Problemkreis die Beiträge in dem Sammelband von Widerker/McKenna (Hrsg.), Moral Responsibility and Alternative Possibilities. Essays on the Importance of Alternative Possibilities.
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ist eben dieser Gesichtspunkt, der in jener für Dworkin zentralen Unterscheidung von choice (Entscheidung bei Wahlmöglichkeit) und circumstances (Lebensumstände) zum Ausdruck kommt. Auch in der jüngsten, umfangreichen Auseinandersetzung Dworkins mit dem Thema Gleichheit, „Sovereign Virtue“432, findet sich ein solcher Gedanke, der die besondere Bedeutung bewusster Entscheidungen hervorhebt und damit auf dem (Nicht-)Vorliegen von Alternativen basiert. Dworkin selbst sieht hierin die wohl grundlegendste These seines Werkes: „This book’s argument . . . is dominated by these two principles acting in concert. The first principle requires government to adopt laws and policies that insure that its citizens’ fates are, so far as government can achieve this, insensitive to who they otherwise are – their economic backgrounds, gender, race, or particular sets of skills and handicaps. The second principle demands that government work, again so far as it can achieve this, to make their fates sensitive to the choices they have made“433. Hintergrund der somit beschriebenen Auffassung ist ein spezifisches Verständnis von persönlicher Verantwortlichkeit in dem eingangs dargelegten Sinne: Danach ist der einzelne, der gegenüber anderen aufgrund eines Differenzierungsmerkmals benachteiligt wird, auf dessen Vorliegen er keinerlei Einfluss nehmen kann, in seiner Selbstbestimmung insoweit eingeschränkt und damit der Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit im Hinblick auf die benachteiligende Rechtsfolge nicht zum Tragen gekommen. Verantwortlichkeit ist somit grundsätzlich zuzuschreiben für Umstände, auf die der einzelne Einfluss ausüben kann, das heißt die seiner Kontrollfähigkeit unterliegen. Ein solches Verantwortungsverständnis nimmt insbesondere die Willensfreiheit als zentrales Strukturelement434 der Verantwortlichkeit in sich auf und bietet für die vorliegend untersuchte rechtliche Konkretisierung des Gleichheitssatzes einen tragfähigen Ausgangspunkt, den es im Anschluss weiter zu entwickeln gilt. c) Empirie und Normativität individueller Beeinflussbarkeit Nach den bisherigen Überlegungen zur grundlegenden Bedeutung persönlicher Kontrollfähigkeit bzw. individueller Beeinflussbarkeit im Rahmen des Gleichheitspostulats stellt sich nunmehr die Aufgabe, den Begriff der „Beeinflussbarkeit“ soweit zu konkretisieren, dass er im Rahmen der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung zur näheren Bestimmung der Rechtfer432
Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality. Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, S. 6. 434 Zu Verantwortungsstrukturen vgl. Brieskorn, Verantwortungsstrukturen in sozialethischer Sicht, S. 193 ff. 433
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tigungsanforderungen herangezogen werden kann. Dabei wird im Folgenden auf die Bezeichnung als „Kontrollfähigkeit“ weitgehend verzichtet, da dieser Ausdruck den (wie sich zeigen wird: unzutreffenden) Schluss nahe legen könnte, es ginge lediglich um die Unterscheidung von Merkmalen, die sich der persönlichen Kontrolle völlig entziehen bzw. ihr gänzlich unterliegen. Doch unter welchen Voraussetzungen ist ein Differenzierungskriterium als unbeeinflussbar oder beeinflussbar zu qualifizieren und damit einem erhöhten oder abgesenkten Rechtfertigungsdruck auszusetzen? Die scheinbar triviale, daher zumeist nicht weiter problematisierte Frage birgt bei genauerer Betrachtung erhebliche Probleme. Sie verweist – das wird im weiteren Verlauf der Untersuchung näher zu erläutern sein – auf ein Spektrum empirischer und normativer Gehalte, die der Annahme individueller Beeinflussbarkeit zu Grunde liegen. Hingegen ist die oben untersuchte verfassungsrechtliche Gleichheitsdogmatik in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika insoweit bislang wenig ausdifferenziert. Insbesondere in der Rechtsprechung, die bei Differenzierungen aufgrund unveränderlicher Merkmale oder Umstände wie gesehen in weitgehend übereinstimmender Weise von einer erhöhten Prüfungsintensität ausgeht, fehlt eine vertiefte Auseinandersetzung nahezu gänzlich.435 Dabei hat es überwiegend den Anschein, als erschöpfe sich die am Paradigma der Verfügung orientierte Prüfung in der Feststellung empirischer Gründe für die gänzliche Beeinflussbarkeit oder Unbeeinflussbarkeit des Unterscheidungsmerkmals.436 Die Grenzen eines solchen Vorgehens werden indes sichtbar, wenn man als „unbeeinflussbar“ etablierte Kriterien darauf untersucht, ob sie tatsächlich außerhalb jeder Verfügbarkeit angesiedelt und insoweit faktisch unveränderlich sind. Es zeigt sich, dass selbst bei traditionell als unveränderlich anerkannten Merkmalen wie etwa dem Geschlecht oder der Hautfarbe empirische Gründe für die Annahme faktischer Beeinflussbarkeit sprechen. In einer der wenigen Entscheidungen, die sich bislang mit den hier angesprochenen Problemen auseinandersetzen, hat der U.S. Court of Appeals for the Ninth Circuit auf diese Einbruchstellen in das Konzept der Unverfügbarkeit hingewiesen und betont: „The [Supreme] Court has never meant strict immutability in the sense that members of the class must be physically unable to change . . . the trait defining their class. People can have operations to change their sex. Aliens can ordinarily become naturalized citizens. The 435 Eine Ausnahme bildet allerdings die Entscheidung des U.S. Court of Appeals for the Ninth Circuit in der Rechtssache Watkins v. United States Army; dazu sogleich im Anschluss. 436 Dazu Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 494: „The Supreme Court’s jurisprudence, however, emphasizes the descriptive issue of whether a person can control a characteristic“ (Hervorhebung im Original) sowie S. 496: „the Court targets effective and corporeal immutability“.
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status of illegitimate children can be changed. . . . Some people can even change their racial appearance with pigment injections.“437 Wenn somit die Handlungsmacht des einzelnen in unterschiedlichen Hinsichten empirisch begründete Ausweitungen erfährt, so ist diese Ausweitung gleichwohl nicht koextensiv mit dem Grad der Beeinflussbarkeit. Das liegt daran, dass für die Einschätzung einer solchen Handlungsmacht die normative Frage an Bedeutung gewinnt, „in welchem Ausmaß von Menschen zur Vermeidung eines Nachteils ein ausweichendes oder adaptives Verhalten erwartet werden darf“438. Die Beurteilung individueller Beeinflussbarkeit erschöpft sich insoweit nicht im Dualismus von Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit sondern stellt einen gradualisierten Maßstab dar, der lediglich an seiner Spitze auf Differenzierungskriterien Bezug nimmt, die komplett außerhalb der persönlichen Beeinflussbarkeit stehen und somit strengste Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen begründen (näher dazu sogleich unter d). Unterhalb dieses Bereichs empirisch gänzlich unbeeinflussbarer Merkmale öffnet sich ein Feld von Merkmalsgruppen, bei denen das Ausmaß der Beeinflussbarkeit erheblich differiert. So mag etwa die Änderung der Hautfarbe mittels Pigmentinjektionen gegen die faktische Unmöglichkeit individueller Beeinflussbarkeit sprechen. Gleichwohl stellt sie für den Einzelnen einen so zentralen Aspekt seiner personalen Identität dar, dass ihre Veränderbarkeit für den aufgrund dieses Merkmals ungleich Behandelten nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich ist. Selbst wenn demnach Differenzierungskriterien wie dasjenige der Hautfarbe nicht zu den strikt unbeeinflussbaren Merkmalen gerechnet werden können (und damit aus dem Rahmen der ersten Klasse von Merkmalsgruppen fallen), so führt die steigende Intensität des Identitätsbezuges doch zu zunehmenden Hindernissen, die der freien Beeinflussbarkeit entgegenstehen. Diese normative Komponente, die der Annahme individueller Beeinflussbarkeit zu Grunde liegt, kommt auch in der bereits erwähnten Entscheidung des U.S. Court of Appeals for the Ninth Circuit zum Ausdruck, wenn es heißt: „‚Immutability‘ may describe those traits that are so central to a person’s identity that it would be abhorrent for government to penalize a person for refusing to change them, regardless of how easy that change might be physically.“439 Im weiteren Verlauf wird auf solche grundsätzlich veränderlichen Merkmale und Umstände, die wegen ihres besonders engen Identitätsbezuges jedoch individuell nur unter großen Schwierigkeiten beeinflussbar sind, im An437 Watkins v. United States Army, 875 F.2d 699, 711, 726 (9th Cir. 1989) (Norris, concurring). 438 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 370 (Hervorhebung im Original). 439 Watkins v. United States Army, 875 F.2d 699, 711, 726 (9th Cir. 1989) (Norris, concurring).
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schluss an die prinzipiell unbeeinflussbaren Differenzierungskriterien näher eingegangen (e). Schließlich gilt es jene Klasse von Merkmalen zu berücksichtigen, deren Beeinflussbarkeit weder faktisch ausgeschlossen noch deutlich erschwert ist. Im Gegensatz zu den anderen Fallgruppen besteht insoweit kein Spannungsverhältnis zum Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit, weshalb die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen im Rahmen des grundrechtlichen Gleichheitssatzes hier am geringsten ausfällt (f). d) Individuell unbeeinflussbare Differenzierungsmerkmale Als individuell „unveränderbar“ werden in der gleichheitsrechtlichen Diskussion zunächst insbesondere die Differenzierungskriterien Geschlecht und Rasse qualifiziert.440 Beide Merkmale sind indes in jeweils unterschiedlichen Hinsichten weniger eindeutig, als dies bisweilen den Anschein haben mag. So wurde für das Merkmal Geschlecht bereits auf die Möglichkeit von Geschlechtsumwandlungen hingewiesen, bei denen im Wege hormoneller und chirurgischer Maßnahmen eine Veränderung der Geschlechtsmerkmale herbeigeführt werden soll. In insgesamt seltenen und quantitativ als weitgehend konstant bezeichneten Fällen kommt es zudem vor, dass kein eindeutiges Geburtsgeschlecht festgestellt werden kann441, woraufhin regelmäßig medizinische Maßnahmen vorgenommen werden, die auf die Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht abzielen. Zu erwähnen ist darüber hinaus die Möglichkeit einer Insemination selektionierter Spermatozoen, die mittlerweile eine relativ sichere Auswahl des Geschlechts erlaubt.442 Beide zuletzt genannten Gesichtspunkte sind offenkundig der Beeinflussbarkeit des hiervon betroffenen geborenen bzw. noch ungeborenen Lebens entzogen. Gleichwohl belegen auch sie, dass die verbreitete Vorstellung vom eindeutig bestimmbaren, angeborenen und unwandelbaren Charakter des Geschlechts zunehmend fragwürdig erscheint.443 Wenn vorliegend angesichts der Möglichkeit medizinischer Geschlechtsumwandlungen dennoch vom Geschlecht als einem persönlich nicht verfügbaren, individuell unbeeinflussbaren Merkmal ausgegangen wird, so gründet diese Einschätzung auf der 440 Vgl. Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit. Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, S. 26; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 311; Sachs, JuS 1997, 124, 129; vgl. auch Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt. Freiheit und Gleichheit in der Einwanderungsgesellschaft, S. 107. 441 Vgl. Wille, Sexualität, in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 3, S. 329. 442 Heywinkel/Beck, Geschlecht/Geschlechtsbestimmung, in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 2, S. 84. 443 Vgl. auch Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 42.
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rechtlich vorausgesetzten und medizinisch notwendigen psychischen Disposition, um eine „Umwandlung“ bzw. „Anpassung“ des Geschlechts erfolgreich vorzunehmen. Die Notwendigkeit einer solchen nicht erzwingbaren, der Kontrolle des einzelnen weitgehend entzogenen Disposition rechtfertigt daher die Einordnung des Differenzierungskriteriums Geschlecht als individuell unbeeinflussbare444 Eigenschaft, ohne hiermit der zuvor beschriebenen Gefahr „unzulässiger Vereinfachung“445 im Hinblick auf das Charakteristikum Geschlecht zu erliegen. Neben dem Geschlecht wird insbesondere das Merkmal der „Rasse“ als individuell unbeeinflussbar betrachtet.446 Anders als beim Geschlecht, dessen Bestimmung auf einer vergleichsweise eindeutigen biologischen Zuordnung beruht, ergeben sich hier bereits bei der Suche nach einer angemessenen Definition enorme Schwierigkeiten. Ursprünglich wurde der naturwissenschaftliche Rassenbegriff maßgeblich von Charles Darwin und dessen Abstammungslehre geprägt. Er bezeichnete eine Gruppe von Lebewesen, die sich durch gemeinsame Erbanlangen von anderen Artangehörigen unterscheiden, wobei diese Unterschiede zwischen den Rassen (Unterarten) einer Spezies den Folgen ihrer geographischen Isolierung und hieraus resultierender Anpassung an Umwelteinflüsse zugeschrieben wurden. Die seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in der Anthropologie festzustellende Intensivierung der Forschung nach objektiven Anhaltspunkten für eine Einteilung der Menschheit in Gruppen stützte sich dabei lange Zeit insbesondere auf Beobachtungen von Weltreisenden und Kolonialisten seit dem 15. Jahrhundert und bekam so vielfach eine eurozentrische Perspektive.447 Die dramatischen Gefahren der missbräuchlichen Heranziehung einer solchen wertenden Rasseneinteilung sind im 19. und 20. Jahrhundert offenbar geworden und haben in der jüngeren biologischen Forschung zu einer kritischen Hinterfragung des Rassenbegriffs geführt. Während so noch in den siebziger Jahren die „Wiederentdeckung der Ungleichheit“448 mit Rassen444 Im Ergebnis ebenso Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 354 mit dem Hinweis, dass Transsexualismus auch bei operativer Nachhilfe keine „echte Veränderung“ darstelle, weil wesentliche Merkmale des angenommenen Geschlechts fehlten. Vgl. auch Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 311, die in diesem Zusammenhang unter ausdrücklicher Berücksichtigung der Möglichkeit einer Geschlechtsumwandlung vom Geschlecht als einem „praktisch unveränderlichen“ Merkmal spricht. 445 Zu Recht warnend Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 42. 446 Vgl. etwa Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (1) (d); B. II. 1. b) aa), (2) (a). 447 Lilienthal, Rassismus, in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 3, S. 143. 448 Darlington, Die Wiederentdeckung der Ungleichheit.
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unterschieden begründet wurde, geht die neuere biologische Wissenschaft zunehmend davon aus, dass einer rassischen Einteilung der Menschen keine Berechtigung zukomme.449 So haben genetische Untersuchungen gezeigt, dass die Variationen genetischer Merkmale innerhalb einer „rassischen“ Gruppe durchaus groß sind, zwischen den verschiedenen Gruppen hingegen verhältnismäßig gering.450 Aus diesem Grund wird Rasse zunehmend als soziales Konstrukt verstanden, das auf eine Gruppe von Menschen zielt, die aufgrund unabänderlicher vererbbarer Merkmale von der Gesellschaft oder ihren eigenen Mitgliedern als unterschiedlich betrachtet werden451, ohne dass es hierbei auf eine wissenschaftliche Fundierung des Begriffes ankomme452. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in den Erwägungsgründen des Rates zur Richtlinie 2000/43/EG über die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder ethnischen Herkunft vom 29. Juni 2000. In Erwägungsgrund 6 heißt es dort: „Die Europäische Union weist Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz 449 Dazu Kattmann, Warum und mit welcher Wirkung klassifizieren Wissenschaftler Menschen?, in: Kaupen-Haas/Saller (Hrsg.), Wissenschaftlicher Rassismus. Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, S. 65 ff.; vgl. auch Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit. Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, S. 28; Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt. Freiheit und Gleichheit in der Einwanderungsgesellschaft, S. 266 m. w. N. 450 Vgl. die einstimmig verabschiedete Erklärung der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe zur UNESCO-Konferenz „Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung“ von 1995: „‚Rassen‘ des Menschen werden traditionell als genetisch einheitlich, aber untereinander verschieden angesehen. . . . Neue, auf den Methoden der molekularen Genetik und mathematischen Modellen der Populationsgenetik beruhende Fortschritte der modernen Biologie zeigen jedoch, dass diese Definition völlig unangemessen ist. Die neuen wissenschaftlichen Befunde stützen nicht die frühere Auffassung, dass menschliche Populationen in getrennte ‚Rassen‘ wie ‚Afrikaner‘, ‚Eurasier‘ . . . oder irgendeine größere Anzahl von Untergruppen klassifiziert werden könnten. Im einzelnen können zwischen den menschlichen Populationen, einschließlich kleineren Gruppen, genetische Unterschiede festgestellt werden. Diese Unterschiede vergrößern sich im allgemeinen mit der geografischen Entfernung, doch die grundlegende genetische Variation zwischen Populationen ist viel weniger ausgeprägt. Das bedeutet, dass die genetische Diversität beim Menschen gleitend ist und keine größere Diskontinuität zwischen den Populationen anzeigt. Befunde, die diese Schlussfolgerungen stützen, widersprechen der traditionellen Klassifikation in ‚Rassen‘ und machen jedes typologische Vorgehen völlig unangemessen. Darüber hinaus hat die Analyse von Genen, die in verschiedenen Versionen (Allelen) auftreten, gezeigt, dass die genetische Variation zwischen den Individuen innerhalb jeder Gruppe groß ist, während im Vergleich dazu die Variation zwischen den Gruppen verhältnismäßig klein ist.“ Siehe auch van den Berghe, Race – as synonym, in: Cashmore, Dictionary of Race and Ethnic Relations, S. 296 ff. 451 Vgl. Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt. Freiheit und Gleichheit in der Einwanderungsgesellschaft, S. 108. 452 So ausdrücklich Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 358.
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verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriffes ‚Rasse‘ in dieser Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Theorien.“453 Nicht zuletzt die Unschärfen und Fragwürdigkeiten des Rassenbegriffes sind es auch, die zu den enormen Schwierigkeiten bei der Bestimmung von „Rassismus“ führen.454 Bleibt es somit bei dem erläuterten Verständnis von Rasse als zugeschriebenem sozialen Konstrukt, so ergeben sich daraus Konsequenzen für die Frage nach der Beeinflussbarkeit des entsprechenden Differenzierungsmerkmals. Danach gründet sich die prinzipielle Unverfügbarkeit des Merkmals Rasse nicht auf einer wie auch immer gearteten vererbbaren genetischen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Im Vordergrund steht vielmehr die der individuellen Beeinflussbarkeit entzogene, zumeist aufgrund äußerer Charakteristika erfolgende soziale Zuordnung zu einer als „Rasse“ deklarierten Gruppe von Menschen. Es ist dies die entscheidende Hinsicht, in der die verbreitete Auffassung von der persönlichen Unveränderbarkeit eigener Rassenzugehörigkeit ihre Rechtfertigung erfährt, weshalb Differenzierungen in Anknüpfung an ein solches Merkmal strengsten Anforderungen zu unterliegen haben. Als ein individuell unbeeinflussbares Unterscheidungsmerkmal kommt weiterhin das Kriterium der Behinderung in Betracht. Angesichts der Unbestimmtheit des Begriffes ist dabei der zu Grunde gelegten Definition auch hier maßgebliche Bedeutung für die Beurteilung der Beeinflussbarkeit zuzumessen. Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) setzt Behinderung eine durch einen Gesundheitsschaden verursachte funktionelle Einschränkung voraus, die die Fähigkeit, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen, nicht nur vorübergehend beeinträchtigt. Nach einer im deutschen Recht geläufigen Begriffsbestimmung gilt als Behinderung die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht.455 Den Auffassungen ist gemeinsam, dass sie Behinderung als eine dauerhafte Beeinträchtigung des physischen oder psychischen Zustands einer Per453 Kritisch zur Aufnahme des umstrittenen Begriffs der Rasse in die Formulierung der Richtlinie Nickel, NJW 2001, 2668, 2670: „Es fragt sich dann allerdings, warum der Begriff überhaupt Verwendung findet und nicht durch Hautfarbe, nationale Herkunft und ethnische Zugehörigkeit ersetzt wurde.“ 454 Vgl. Lilienthal, Rassismus, in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 3, S. 143: „Eine schlüssige Definition des Rassismus gibt es nicht.“ Zur rassistischen Diskriminierung als Rechtsbegriff Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit. Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, S. 32 ff. m. w. N. 455 So die Formulierung in § 3 Abs. 1 SchwbG, hierzu oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 3. Kritisch zu den beiden der „medizinisch-biologischen Sichtweise verhafteten“ Definitionen Degener, KJ 2000, 425, 426 f.
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son begreifen. Damit wird dem einzelnen nicht die Möglichkeit abgesprochen, seine Lebensentwürfe in freier Selbstbestimmung zu verfolgen und hierbei Einfluss nehmen zu können auf jene Lebensumstände, die mit seiner Behinderung in Zusammenhang stehen. Zutreffend wird jedoch darauf hingewiesen, dass Behinderung bislang ganz überwiegend im Sinne einer die Existenz des betroffenen Menschen schicksalhaft begleitenden Besonderheit verstanden wird: Während danach Krankheit einen transienten Zustand beschreibt, der insbesondere durch das Eingreifen des Menschen umkehrbar oder veränderbar ist, so gelte dies bei Behinderungen gerade nicht.456 Letztere sind „vielleicht in ihren Auswirkungen abzumildern, eine Rückführung in den ursprünglichen Zustand der Gesundheit kann jedoch nicht erreicht werden“457. Aus den soeben genannten Erwägungen heraus ist die individuelle Beeinflussbarkeit des Unterscheidungsmerkmals der Behinderung auf der Grundlage des vorherrschenden Begriffsverständnisses nicht gegeben.458 Es ist somit ebenso wie bei rassischen oder geschlechtlichen Differenzierungen im Rahmen der gleichheitsrechtlichen Untersuchung eventueller Rechtfertigungsgründe ein besonders strenger Prüfungsmaßstab anzulegen. Ein individuell unveränderbares Merkmal ist auch das Alter des Menschen. Zwar wird in diesem Zusammenhang zum Teil darauf hingewiesen, dass es sich beim Alter um eine grundsätzliche Erfahrung für jeden Menschen handele, weshalb es „[nahe liege], altersbedingte Regelungen einem weniger strengen Test zu unterziehen“459. Dem kann im Rahmen der personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes indes nicht gefolgt werden. Die Tatsache, dass ein solches Differenzierungskriterium grundsätzlich im Erfahrungshorizont eines jeden Menschen liegt, ändert nichts an dem Befund, dass aufgrund der individuellen Unbeeinflussbarkeit des Merkmals der Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit berührt ist, soweit eine entsprechende Ungleichbehandlung vorgenommen wird. Eine strikte Über456
Lanzerath, Behinderung/Behinderte (ethisch), in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 1, S. 327. 457 Radtke, Wehret den Fortschritten – Subjektive Ansichten eines zum „Liegenlassen“ Bestimmten, in: Kleinert u. a. (Hrsg.), Der medizinische Blick auf Behinderung. Ethische Fragen zwischen Linderung und Minderung, S. 64. Vgl. aber auch Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 104 c mit dem Hinweis, die Anerkennung einer Behinderung auch für nur vorübergehende Zeit sei zumindest „denkbar“. 458 Etwas zurückhaltender in der Formulierung, aber nicht im Ergebnis BVerfGE 96, 288, 302: „Wie bei den schon von Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG erfaßten Merkmalen etwa des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse oder der Sprache handelt es sich dabei [bei der Behinderung, S. M. D.] um eine persönliche Eigenschaft, auf deren Vorhandensein oder Fehlen der Einzelne keinen oder nur einen begrenzten Einfluß nehmen kann.“ 459 So Weber, EuGRZ 1994, 537, 542.
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prüfung von altersbezogenen Differenzierungen ist vor diesem Hintergrund ebenso vorzunehmen wie bei den sonstigen, individuell unbeeinflussbaren Merkmalen.460 Als solche kommen dabei neben den bereits genannten insbesondere in Betracht: Die Abstammung461, Geburt als uneheliches Kind462, nationale und ethnische Herkunft463, soziale Herkunft464, die Muttersprache465 sowie bestimmte unabänderliche körperliche Eigenschaften466. Schließlich ist als weiteres, praktisch ebenfalls bedeutsames Unterscheidungsmerkmal dasjenige der Homosexualität (hier verstanden in einem geschlechtsneutralen, auch die lesbische Sexualität umfassenden Sinne) zum Gegenstand einer beständigen gleichheitsrechtlichen Diskussion geworden.467 Weitgehend außer Frage steht dabei der hohe Stellenwert sexueller Orientierung für die Identitätsfindung des homo- wie heterosexuellen Menschen.468 Hingegen sind Stellungnahmen zur prinzipiellen Unbeeinflussbarkeit sexueller Orientierung zum Teil deutlich zurückhaltender, ein Befund, der angesichts von immer noch ungeklärten Fragen zur Entstehung der Homosexualität wenig überraschen kann. Damit tritt die gleichheitsrechtliche Relevanz der nachfolgend erörterten Klasse von individuell schwer beeinflussbaren, identitätsbezogenen Merkmalen hervor: Sie kommt besonders deutlich in der vorherrschenden wissenschaftlichen Auffassung zu diesem Problemkreis zum Ausdruck, derzufolge „nicht nur in der klinischen Literatur davon ausgegangen [wird], daß die homosexuelle Orientierung ebenso wie die heterosexuelle tief und unabänderlich mit der Persönlichkeit verknüpft ist“469. Aufgrund der engen Verknüpfung sexueller Orientierung mit 460
Vgl. auch Koenig/Haratsch, Europarecht, Rn. 725. Vgl. BVerfGE 96, 288, 302; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 354. 462 Vgl. Mathews v. Lucas, 427 U.S. 495, 506 (1976): „The legal status of illegitimacy, however defined, is, like race or national origin, a characteristic determined by causes not within the control of the illegitimate individual, and it bears no relation to the individual’s ability to participate in and contribute to society.“ 463 Mathews v. Lucas, 427 U.S. 495, 506 (1976). Vgl. auch Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt. Freiheit und Gleichheit in der Einwanderungsgesellschaft, S. 108 f. sowie deutlicher S. 111. 464 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 354; Sachs, JuS 1997, 124, 129. 465 Vgl. Sachs, Besondere Gleichheitsgarantien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 126, Rn. 45, wonach die Muttersprache einen Menschen „prinzipiell unabänderlich“ präge. 466 Vgl. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 276, mit Hinweis auf die Körpergröße. 467 Siehe dazu etwa aus jüngerer Zeit Gerstmann, The Constitutional Underclass. Gays, Lesbians, and the Failure of Class-Based Equal Protection. 468 Vgl. Holderegger, Homosexualität (ethisch), in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 2, S. 229. 461
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der Identität des einzelnen sind entsprechende individuell schwer beeinflussbare Differenzierungen bereits aus diesem im Anschluss näher dargestellten Grunde nach strengen Rechtfertigungsanforderungen zu beurteilen. Hingegen verliert die Diskussion bezüglich der prinzipiellen Unbeeinflussbarkeit sexueller Orientierung an gleichheitsrechtlicher Bedeutung; der Rückgriff auf problematische Auseinandersetzungen etwa darüber, ob „some heterosexuals and homosexuals can change their sexual orientation through extensive therapy, neurosurgery or shock treatment“470 wird somit für die Bestimmung der Rechtfertigungsintensität im Rahmen des grundrechtlichen Gleichheitssatzes entbehrlich. e) Individuell schwer beeinflussbare, identitätsbezogene Differenzierungsmerkmale Im Laufe der bisherigen Ausführungen hat die exemplarische Untersuchung zentraler Differenzierungskriterien ergeben, dass diese außerhalb jeder individuellen Beeinflussbarkeit anzusiedeln sind, ihre Verwendung mithin eine besonders strenge Überprüfung gleichheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit gebietet. Was aber ist mit jenen Merkmalen, denen zwar eine hohe Relevanz für die Ausbildung und Wahrung personaler Identität zukommt, die jedoch nicht als prinzipiell unbeeinflussbar gelten können? Eine Antwort auf die damit angesprochene Frage hat zunächst zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Verantwortlichkeit ebenso wie das hieraus abgeleitete Konzept der Beeinflussbarkeit Gradualisierungen zugänglich ist und sich nicht in der dualistischen Unterscheidung verantwortlich/nichtverantwortlich bzw. beeinflussbar/unbeeinflussbar erschöpft. Daher wird in philosophischen Zusammenhängen die „Mannigfaltigkeit verschiedener möglicher Weisen . . . der Verantwortlichkeit“ betont471, während die juristische Egalitarismus-Betrachtung in besonderer Weise auf die Bedeutung des „degree of control“472 hinsichtlich des gewählten Unterscheidungsmerkmales Bezug nimmt. Nach der hier vertretenen Auffassung ist dieser Ansatz auf identitätsbezogene, nicht prinzipiell unbeeinflussbare Merkmale des Menschen zu übertragen. Der dabei zu Grunde gelegte Identitätsbegriff ist selbstreflexiver Art. Identität wird also auf die Innenperspektive des sich selbst Erfahrenden 469 Dannecker, Homosexualität (zum Problemstand), in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 2, S. 225 m. w. N. (Hervorhebung S.M.D.). 470 Watkins v. United States Army, 875 F.2d 699, 711, 726 (9th Cir. 1989) (Norris, concurring). 471 Ingarden, Über die Verantwortung, S. 21. 472 Vgl. etwa Vandenbroucke, Social Justice and Individual Ethics in an Open Society. Equality, Responsibility, and Incentives, S. 44 f.
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bezogen. Im Zentrum steht die immer wiederkehrende Aufgabe des einzelnen, neue Erfahrungen in aktuellen Lebenslagen und unter wechselnden sozio-kulturellen Rahmenbedingungen so zu verarbeiten, dass die persönliche Kontinuität und Konsistenz gewahrt bleibt. Diese Form der Selbst-Erfahrung ist in der Selbstkonzeptforschung traditionell so verstanden worden, dass „das Individuum im Normalfall im Zuge des Sozialisationsprozesses ein verhältnismäßig stabiles, überdauerndes Selbstkonzept erwirbt. Dieses Kern-Konzept bleibt während seines ganzen Lebens erhalten, bestimmt seine Handlungen, vermittelt ihm das notwendige Erlebnis der personalen Kontinuität und Identität und liefert hauptsächlich einen konzeptuellen Anker für eine ansonsten chaotische Existenz.“473 Allerdings haben neuere psychologische und soziologische Forschungen bestätigt, dass in der damit skizzierten traditionellen Auffassung die Stabilität und Homogenität menschlicher Identitätsbildung deutlich überakzentuiert werden.474 Danach ist der einzelne kein konstantes, einheitliches Selbst, das auf einem singulären und weitgehend stabilen Selbstkonzept basiert. Eine solche eher statische Vorstellung wird hauptsächlich durch zwei Erwägungen modifiziert, die den hier vertretenen Identitätsbegriff maßgeblich konturieren. Zum einen lässt sich menschliche Identität nicht auf die kognitive Komponente des individuellen Selbstkonzepts reduzieren. Vielmehr treten neben das kognitive Selbstbild der Person auch emotionale und motivationale Bezüge, durch die die Identität des einzelnen wesentlich ausgeformt wird. Dem entspricht eine Identitätstheorie, wie sie insbesondere von Haußer entwickelt worden ist. Identität ist danach zu begreifen als die „Einheit aus Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Kontrollüberzeugung eines Menschen, die er aus subjektiv bedeutsamen und betroffen machenden Erfahrungen über Selbstwahrnehmung, Selbstbewertung und personale Kontrolle entwickelt und fortentwickelt“475. In den Vordergrund rückt somit der prozesshafte Charakter von Identität, die keine Eigenschaft im Sinne dauernden Besitzes darstellt, sondern durch Selbstreflexion hergestellt werden muss und dabei kontinuierlicher Aktualisierung bedarf. Mit Haußer können drei Ebenen der Identitätsregulation unterschieden werden: Identität als situative Erfahrung (Selbstwahrnehmung, Selbstbewertung, Kontrollbewusstsein), als übersituative Verarbeitung und Generalisierung derselben (Selbstkonzept, Selbstwertgefühl, Kontrollüberzeugung) sowie als motivationale Quelle. Entscheidende Bedeutung gewinnt damit die Frage, welcher Art der situative und übersituative Kontext ist, in dem reflexive Prozesse zur identitäts473 So zusammenfassend Gergen, Advances in Experimental Social Psychology 17 (1984), 49, 76. 474 Vgl. dazu Nick, Ohne Angst verschieden sein, S. 142 ff. m. w. N., insbesondere S. 143, 157, 163. 475 Haußer, Identitätsentwicklung, S. 103.
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bildenden Erfahrung des Selbst ablaufen. Das verweist auf einen zweiten Strang von Erwägungen, die den hier zu Grunde gelegten Identitätsbegriff weiter konkretisieren. Wie die grundlegenden Untersuchungen Meads gezeigt haben, ist die Entwicklung und Fortentwicklung menschlicher Identität nur im Kontext sozialer Interaktion und Kommunikation zu verstehen.476 Dabei werden, in Fortführung von Gedanken Leibniz’ und Kants, zwei Komponenten des Selbst unterschieden. Der reflektierende Teil der Person, das „Ich“ („I“) ist das Subjekt, die Instanz der Spontaneität. Das Selbst als Objekt hingegen, das „Mich“ („Me“), bildet den Gegenstand der Reflexion. Als solches ist es unter anderem auf rollenspezifische Verhaltenserwartungen des sozialen Umfelds bezogen. Angesichts des oben angesprochenen selbstreflexiven Charakters des hier verwendeten Identitätsbegriffes kann diese soziale Komponente indes insoweit nicht direkt wirksam werden. Ihre Bedeutung erschließt sich vielmehr aus den von Mead geprägten Begriffen der „Rolle“ und der „Rollenübernahme“.477 Im Zentrum der Überlegungen steht dabei der Gedanke, dass Menschen das situationsspezifische Verhalten ihrer Interaktionspartner antizipieren können und ihr eigenes Verhalten danach auszurichten vermögen. Durch die Reziprozität der Perspektiven bilden Interaktionspartner so ganze Bündel intersubjektiv verbindlicher Verhaltenserwartungen aus. Die Beziehungen zwischen Inhabern von bestimmten sozialen Positionen erfahren auf diese Weise durch normative Erwartungen an die Positionsinhaber eine Verfestigung, mit der die soziale Rolle ihrem Inhalt nach genauer festgelegt wird. Über die Art der Beziehung zwischen dem zuvor behandelten Rollenbegriff und der menschlichen Identität besteht bislang wenig Einigkeit.478 Zwar ist kaum zu bezweifeln, dass das Rollenverhalten auch Einfluss auf die Identitätsentwicklung des einzelnen ausübt. Gegen eine grundsätzliche Übereinstimmung von Rolle und Identität spricht indes das von Goffman eingehend untersuchte Phänomen der „Rollendistanz“479. Es bezeichnet die Fähigkeit des einzelnen, zu „seinen Rollen“, genauer: zu den damit verbun476
Vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 177 ff. Siehe etwa Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 300 ff. 478 Vgl. dazu bereits De Levita, Der Begriff der Identität, S. 190, der die verfügbaren Definitionen von Identität so zusammenfasst: „1. Identität ist mit Rollen verbunden; 2. Verhalten wird von einigen Autoren in der Nachfolge von Mead ausschließlich als Rollenverhalten interpretiert; 3. andere . . . machen einen Unterschied zwischen Rollen und „etwas, das hinter ihnen verborgen liegt“; 4. einige . . . nennen dieses „etwas“ Identität; 5. andere wieder nennen dieses „etwas“ in dem Moment Identität, wenn sie es aus seinem Versteck ans Licht gebracht haben“. 479 Siehe etwa Goffman, Encounters. Two Studies in the Sociology of Interaction, S. 83 ff. 477
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denen sozialen Rollenerwartungen auf Distanz zu gehen. Bedeutung erlangt diese Fähigkeit insbesondere dann, wenn die aus der sozialen Rolle resultierenden Anforderungen in ein erhebliches Spannungsverhältnis zur personalen Identität des Individuums treten: „Auf diese Weise kann es ständig aufs Neue zu Konfliktsituationen zwischen Rolle und Selbst (Identität) kommen.“480 Während dabei das Rollenverhalten einen „hohen Grad der Kongruenz mit der Erwartung der anderen Seite“481 aufweist, bezieht sich Identität auf die Selbstreflexion des Individuums über seine körperliche Einmaligkeit, seine spezifischen Wesenszüge und die eigene unverwechselbare Lebensgeschichte. Eine für den hier interessierenden Zusammenhang aufschlussreiche Veranschaulichung dieser Unterscheidung von Identität und Rolle findet sich bei Michael Walzer, der ausführt: „Erstens teilt sich das Selbst in seine verschiedenen Interessen und Rollen auf. . . . Das Selbst ist ein Bürger, ein Elternteil, ein Arbeiter, Akademiker oder Kaufmann, es ist Lehrer oder Schüler, Arzt oder Patient usw. und definiert sich über den Bezug auf seine Verantwortlichkeiten, seine Qualifikationen, seine Fähigkeiten und Rechtsansprüche. Und zweitens teilt sich das Selbst in seine verschiedenen Identitäten auf: Es hört auf viele Namen, bestimmt sich nun in Bezug auf seine Familie, Nation, Religion, sein Geschlecht, seine politische Überzeugung usw., identifiziert sich mit verschiedenen geschichtlichen Hintergründen, Traditionen, Ritualen, Feiertagen . . .“482. Auch aus gleichheitsrechtlicher Perspektive können hieraus Einsichten bezogen werden. Basiert eine Unterscheidung auf den zuletzt genannten, identitätsbezogenen Differenzierungsmerkmalen, so ist der Grad der individuellen Beeinflussbarkeit insoweit als gering anzusehen. Entsprechende Merkmale sind also nur unter großen Schwierigkeiten oder Kosten abänderbar483: „Gerade weil es Merkmale sind, die die Identität des einzelnen so wesentlich prägen, erscheint ihre Verwendung als Unterscheidungsmerkmale besonders gefährlich“484. Beispiele für solche identitätsbezogenen, nur unter großen Schwierigkeiten individuell beeinflussbaren Differenzierungskriterien sind etwa die Konfessionszugehörigkeit und religiöse oder politische Anschauungen. Auch die eigene Nationalität gehört in diesen Zusammenhang.485 Von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung und Fortentwicklung menschlicher Identität sind weiterhin die von De Levita486 untersuch480
Fischer/Wiswede, Grundlagen der Sozialpsychologie, S. 475. De Levita, Der Begriff der Identität, S. 125 f. 482 Walzer, Lokale Kritik – globale Standards, S. 111. 483 Vgl. Weber, EuGRZ 1994, 537, 540 m. w. N. 484 Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 311. 485 Vgl. Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt. Freiheit und Gleichheit in der Einwanderungsgesellschaft, S. 108. 486 De Levita, Der Begriff der Identität, S. 214 ff. 481
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ten „besonderen Identitätsfaktoren“ Körper, Name und Lebensgeschichte. Gemeinsames Kennzeichen der genannten Fälle ist, dass eine entsprechende rechtliche Ungleichbehandlung jeweils an Eigenschaften anknüpft, die zentrale Konstituenzien der menschlichen Identität betreffen. Da mit einer entsprechenden Benachteiligung wesentliche, schwer veränderliche Elemente der Persönlichkeit in Frage gestellt werden, sind Differenzierungen einem erhöhten Rechtfertigungsdruck zu unterwerfen, das heißt eine strenge Gleichheitsprüfung vorzunehmen. Hingegen umschreibt der Begriff der Rolle jene Lebenszusammenhänge, die nach hier vertretener Auffassung bei ihrer Betroffenheit keine personal begründete Anhebung der Anforderungen bei Ungleichbehandlungen rechtfertigen. Diese Unterscheidung von besonders schutzwürdiger und -bedürftiger Identität einerseits und den (in höherem Maße rechtlicher Gestaltung zugänglichen) gesellschaftlichen Rollen andererseits gewinnt im Kontext der Beeinflussbarkeit von Differenzierungskriterien eine doppelte Bedeutung. Zum einen begründet sie, wie zuvor gesehen, im Hinblick auf faktisch beeinflussbare, aber mit hohem Identitätsbezug versehene Merkmale eine besonders strikte Rechtfertigungskontrolle. Darüber hinaus weist sie auch bei identitätsbezogenen Merkmalen, die für den einzelnen bislang gänzlich unbeeinflussbar sind, auf den durch technologische Innovation und Expansion drohenden Einbruch in die Sphäre identitätsbildender Charakteristika hin. Gegenwärtig wird besonders im Bereich der Biomedizin deutlich, in welchem Maße die Kontrollfähigkeit des Menschen über einzelne Differenzierungskriterien vom Stand der wissenschaftlichen Entwicklung abhängig ist. Insoweit kommt der Rückbesinnung auf die zuvor dargelegte gleichheitsrechtliche Bedeutung identitätsbezogener Merkmale eine Auffangfunktion zu. Einer strengen Gleichheitsprüfung zu unterziehen sind danach „Benachteiligungen gerade wegen jener Elemente, welche die Identität eines Menschen maßgeblich mitbestimmen“487, auch wenn diese dem verändernden Zugriff des Menschen unterliegen. Zwar verhindert bislang die fehlende individuelle Beeinflussbarkeit der eigenen genetischen Merkmale, dass der einzelne seine „genetische Identität einem menschlichen ‚Schöpfer‘ und nicht mehr allein der elterlichen Abstammung verdankt“488, weshalb gleichheitsrechtlich bereits aus diesem Grund eine strikte Rechtfertigungsprüfung geboten ist. Doch auch wenn zukünftig biotechnologisch verfügbar gestellte genetische Kennzeichen nicht mehr prinzipiell individuell unveränderlich sein sollten, so stünden der Beeinflussbarkeit doch wie gesehen große individuelle, die personale Identität wesentlich berührende 487
Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt. Freiheit und Gleichheit in der Einwanderungsgesellschaft, S. 106. 488 Günther, Keimbahnintervention (rechtlich), in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 2, S. 351.
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Schwierigkeiten entgegen. Differenzierungen, deren Rechtsfolgen an unterschiedliche genetische Merkmale anknüpfen, wären daher auch in diesem Falle einer strikten Gleichheitsprüfung zu unterziehen. f) Individuell beeinflussbare Differenzierungsmerkmale Im Gegensatz zu den bislang dargestellten unbeeinflussbaren bzw. schwer beeinflussbaren Merkmalen ist eine lediglich zurückhaltende Gleichheitsprüfung dort geboten, wo Differenzierungskriterien weitgehend zur individuellen Disposition stehen und keinen engen Identitätsbezug aufweisen. Aufgrund der vorhandenen Ausweichmöglichkeiten489 ist dem oben beschriebenen Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit in diesen Fällen ausreichend Rechnung getragen, so dass für erhöhte Rechtfertigungsanforderungen (zumindest vor dem Hintergrund der personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes) kein Anlass besteht. Das Erfordernis einer intensiveren Rechtfertigungsprüfung kann sich somit nur noch aufgrund der beiden anderen Dimensionen des Gleichheitsschutzes ergeben, auf die im weiteren Verlauf der Untersuchung zurückzukommen sein wird. Diese grundsätzliche Rücknahme des Niveaus der Gleichheitsprüfung bei leicht beeinflussbaren Unterscheidungsmerkmalen findet sich, wie gesehen, im US-amerikanischen ebenso wie im deutschen Verfassungsrecht, aber auch in weiteren Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Beispielhaft sei auf den französischen Conseil Constitutionnel hingewiesen, der sich etwa mit der Verfassungsmäßigkeit unterschiedlich strenger Haftbedingungen für Strafgefangene zu befassen hatte. Dabei waren die Strafgefangenen zu gleichen Haftstrafen verurteilt worden, was die unterschiedliche Behandlung rechtfertigungsbedürftig erscheinen ließ. Grundlage der abweichenden Haftbedingungen war jedoch die Führung der Gefangenen, mithin ein individuell beeinflussbares Differenzierungskriterium. Aus diesem Grund erachtete der Conseil Constitutionnel die bestehende Praxis als verfassungsgemäß und begründete das Ergebnis ausdrücklich mit der Erwägung, dass alle Häftlinge im Falle guter Führung in den Genuss großzügigerer Haftbedingungen kommen könnten.490 In die hier vertretene, auf dem Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit basierende Gleichheitskonzeption fügen sich so die Untersuchungen des Sozialphilosophen Arneson nahtlos ein, wonach in der Praxis eine Vielzahl von Gesetzen und Maßnahmen Unterscheidungen trifft zwischen „Neigungen, von denen angenommen wird, daß sie in den Menschen tief verwurzelt 489 Vgl. auch Sachs, JuS 1997, 124, 129, der in diesem Zusammenhang von der „Unentrinnbarkeit für den einzelnen“ spricht. 490 Décision 78–97, 27.7.1978, Rec. p. 31, 32.
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sind“ und die nur „unter großen persönlichen Opfern geändert werden können“ und Neigungen, die „für die meisten von uns unter geringen Opfern zu ändern sind, falls wir uns dazu entschließen“491. Gewöhnlich werde den ersten Rechnung getragen, den zweiten hingegen nicht. Für den vorliegenden Zusammenhang ist eine solche der Gleichheitsprüfung innewohnende Tendenz aus dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit begründet worden und damit letztlich auf die Garantie der Menschenwürde rückführbar. Auf mögliche Einwände gegen ein solches Vorgehen soll nachfolgend näher eingegangen werden. g) Einwände der Egalitarismuskritik Wie oben bereits angedeutet, haben die tief greifenden philosophischen, politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen mit Fragen der Gleichheit trotz ihrer langen Tradition bislang nicht dazu geführt, einen stärkeren Konsens über zentrale Aspekte des Gleichheitspostulats herbeizuführen. Vielmehr ist insbesondere das Erstarken einer auch als „neuer Egalitarismuskritik“ bezeichneten Strömung Ausdruck zunehmender Einwände gegenüber vormals als gefestigt erscheinenden egalitaristischen Grundpositionen. Für die hier vorgestellte personenbezogene Dimension des Gleichheitsschutzes ist insbesondere auf jene Einwände einzugehen, die sich gegen Formen der responsibility-sensitive egalitarian justice richten, wie sie oben als weit verbreitete Gleichheitsvorstellungen beschrieben wurden492 und in deren Mittelpunkt dem Aspekt der Verantwortlichkeit elementare Bedeutung zugemessen wird. Sollten sich diese auch als „Vorwurf der Inhumanität“493 zusammengefassten Bedenken im Hinblick auf die hier vertretene Auffassung als berechtigt erweisen, so wäre die vorgenommene Ableitung aus der Menschenwürdegarantie mit schwerwiegenden Zweifeln behaftet. Zu präzisieren ist daher zunächst, welche konkrete Position in zunehmendem Maße Gegenstand der Kritik geworden ist. Nach einer treffenden Zusammenfassung Andersons besteht die Gemeinsamkeit der kritisierten Gleichheitsvorstellungen darin, „jegliche Ungleichheit als gerecht [zu betrachten], sofern diese das Ergebnis von bewussten Entscheidungen Erwachsener ist. Sie alle legen großen Wert auf die Unterscheidung zwischen Resultaten, für die der einzelne verantwortlich ist – die Ergebnisse willentlicher Entscheidungen –, und solchen, für die er nicht verantwortlich ist – gute oder schlechte Ergebnisse, die unabhängig von seiner Wahl oder seiner möglichen Voraussicht zustande kamen.“494 491 Arneson, Gleichheit und gleiche Chancen zur Erlangung von Wohlergehen, S. 335 f. 492 Vierter Teil, 4. Kapitel, A. III. 2. a). 493 Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 21 ff.
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aa) Selbstverschulden und „kalkuliertes Pech“ Ein erster Kritikpunkt besteht darin, dass diejenigen Menschen, die ihr Elend selbst verschulden, im Stich gelassen würden. Die Opfer „kalkulierten Pechs“ („option luck“495) würden somit als verantwortungslos abgestempelt und darauf verwiesen, jegliche Konsequenzen ihrer getroffenen Entscheidungen selbst zu tragen, da sie schließlich „selber schuld“ an ihrer Lage seien.496 Nicht einmal die Unvorsichtigen indes verdienten ein solches Schicksal, wenn sie schwerem Pech zum Opfer fielen.497 Mit der oben entwickelten personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes geraten die so erhobenen Bedenken jedoch nicht in Konflikt. Der aufgrund individuell beeinflussbarer, nicht identitätsbezogener Merkmale ungleich behandelte Benachteiligte wird nach der hier vertretenen Konzeption keineswegs gleichheitsrechtlich schutzlos gestellt. Das gilt es näher zu begründen. Zum einen führt die Feststellung der individuellen Beeinflussbarkeit eines Differenzierungskriteriums wie ausgeführt lediglich zu einer Absenkung der Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen, nicht zu deren Aufhebung. Die oben dargestellten Prüfungselemente der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit sind daher in jedem Fall zu berücksichtigen, wobei allerdings keine strenge, sondern lediglich eine zurückgenommene Verhältnismäßigkeitskontrolle vorzunehmen ist. Ein weiterer Grund wird deutlich, wenn man das von Seiten der Egalitarismuskritik aufgeführte Beispiel des nicht versicherten Autofahrers heranzieht, der fahrlässig einen Unfall verschuldet und sich dabei lebensgefährliche Verletzungen zuzieht. Kritisiert wird, dass diesem wegen seiner Verantwortlichkeit für das Geschehen kein Rechtsanspruch auf die lebensnotwendige medizinische Versorgung zustehe, da er für die Folgen seiner Unvorsichtigkeit selbst einzustehen habe.498 Die als inhuman erachtete Konsequenz egalitaristischer Theorien wird indes durch das hier vorgestellte Modell einer personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes vermieden. Dabei ist es notwendig, sich erneut des spezifisch gleichheitsrechtlichen Diskussionsrahmens zu vergewissern, um den es vorliegend geht. Gegenstand sowohl der egalitaristischen als auch der egalitarismuskritischen Diskussion kann es nicht allein sein, moralische 494
Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 123. Die Unterscheidung von „option luck“ und „brute luck“ stammt von Dworkin, vgl. hierzu dessen Ausführungen in Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, S. 73 f. 496 Vgl. Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 128 ff. 497 Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 136. 498 Vgl. Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 129. 495
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Aussagen über die Verweigerung oder Gewährung medizinischer Hilfe zu treffen, ohne zugleich die Verteilung medizinischer Leistungen vor dem Hintergrund von Güterknappheit auch im Bereich des Gesundheitswesens in den Blick zu nehmen. Damit rückt zwangsläufig die Frage nach sachgerechten Maßstäben der Verteilungsgerechtigkeit bei medizinischen Ressourcen in den Vordergrund. Als solche werden etwa das Alter des Patienten, die Erfolgsaussichten der Behandlung, Kosten-Nutzen-Analysen oder Wartezeiten diskutiert.499 Auch die Verantwortlichkeit für den eigenen Gesundheitszustand kommt als Verteilungsparameter in Betracht. Neben diesen möglichen Differenzierungskriterien ist jedoch als weiteres wesentliches Element personenbezogenen Gleichheitsschutzes die rechtliche Bedeutung der Auswirkungen aufgezeigt worden, die an ein Differenzierungskriterium geknüpft werden: Sofern danach eine Ungleichbehandlung bewirkt, dass die hierdurch Benachteiligten im Gegensatz zu den Vergleichspartnern in personalen Basisrechten betroffen sind, sind strenge Anforderungen an die Rechtfertigung zu stellen. Soweit etwa, wie im Beispiel des Unfallopfers, die Sicherung der individuellen Existenz in Frage steht, wären bei gesundheitsbezogenen Ungleichbehandlungen bereits aufgrund der Relevanz für personale Basisrechte strenge gleichheitsrechtliche Prüfungsanforderungen anzulegen.500 Festzuhalten bleibt, dass sich aus den bislang untersuchten Einwänden keine Bedenken der Inhumanität gegenüber der personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes begründen lassen. Eine darüber hinaus gehende Klärung, welche Berechtigung diesen Vorwürfen im Hinblick auf einzelne egalitaristische Theorien der Gerechtigkeit zukommt, ist für den vorliegenden Zusammenhang entbehrlich. bb) Mitgefühl und Mitleid Konzentrierten sich die zuvor erörterten Bedenken auf die Opfer „kalkulierten Pechs“, so besteht ein zweiter Kritikpunkt darin, dass den Opfern „reinen Pechs“ („brute luck“) lediglich mit herablassender, patriarchaler Geste geholfen werde. Nicht menschliches Mitgefühl, sondern herablassendes Mitleid stehe im Vordergrund verantwortlichkeits-orientierter egalitaristischer Bestrebungen zugunsten jener Benachteiligten, die für ihre Lage nicht verantwortlich seien.501 Worin besteht aber nun dieser Auffassung zufolge der Unterschied zwischen (moralisch akzeptiertem) Mitgefühl einer499 Überblick bei Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, S. 352 ff. 500 Zur Sicherung der individuellen Existenz als einer Fallgruppe der personalen Basisrechte siehe oben, Vierter Teil, 4. Kapitel, A. III. 1. 501 Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 22 ff. m. w. N.
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seits und (als inhuman betrachtetem) demütigendem Mitleid andererseits? Nach der in jüngerer Zeit insbesondere von Anderson nachdrücklich geäußerten Kritik entwickelt sich Mitgefühl „aus einem Wissen um das Leiden – den intrinsischen Zustand – einer Person. Im Gegensatz dazu wird Mitleid durch den Vergleich zwischen den Umständen des Beobachters und den Umständen des von ihm Bemitleideten erweckt“502. Selbst bei Zugrundelegung dieser begrifflichen Annäherung wird jedoch nicht recht ersichtlich, weshalb sich hieraus notwendig ein Vorwurf der Inhumanität begründen ließe. Noch zutreffend erscheint die Ausgangsüberlegung, dass Mitleid in engem Zusammenhang mit dem Vorgang des Vergleichens steht. Auch die Zielrichtung des Vergleichs ist durch die Bedeutung des Mit-Leidens vorgegeben, und zwar regelmäßig als verstehende Anteilnahme desjenigen, der in bestimmter Hinsicht ohne Leid ist, mit dem hiervon gekennzeichneten Leben eines Mitmenschen. Es stellt jedoch eine unzutreffende Verallgemeinerung Andersons dar, menschliche Anteilnahme in der Form des Mitleids grundsätzlich als herablassend und demütigend und damit als moralisch verwerflich zu charakterisieren. Nur in diesem (negativ verkürzten) Sinne indes lässt sich der Vorwurf der Inhumanität aufrecht erhalten, weshalb die Ausführungen zur Bedeutung des Mitleids entsprechend einseitig ausfallen: So soll bei denen, die bemitleiden, „ein Gefühl von Distanz [aufkommen], ein Bewusstsein der Überlegenheit gegenüber denen, die ihr Mitgefühl erwecken. Und eben das ist Mitleid. . . . Sowohl Mitgefühl als auch Mitleid können einen Menschen dazu bringen, wohltätig zu handeln, doch nur Mitleid ist herablassend“503. Angesichts eines solchen Verständnisses kann es kaum noch verwundern, wenn allgemein formuliert wird: „Mitleid aber ist mit der Achtung der Menschenwürde unvereinbar.“504 Das Problem der somit geschilderten Auffassung besteht darin, dass die vorgenommene Zuordnung von „Mitgefühl“ zu Leiden als intrinsischem Zustand bzw. von „Mitleid“ zur vergleichsbezogenen Perspektive nicht zugleich die Scheidelinie markiert, entlang derer die Grenze von einfühlender Anteilnahme und herablassender Distanz verläuft. Zu denken ist etwa an jene, die die Beeinträchtigung eines anderen angesichts der eigenen Leidensfreiheit zu besonderer Anteilnahme veranlasst. Sollte diese Form des vergleichsbezogenen Mitleids generell als „herablassend“ bezeichnet werden können, nur weil sie das Leiden anderer nicht lediglich „an sich“, sondern auch vor dem Hintergrund der eigenen Situation betrachtet? Sollte umgekehrt der Bemitleidete die Anteilnahme seines Gegenübers bereits im502 503 504
Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 142. Vgl. Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 142 f. Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 142.
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mer dann als Demütigung erfahren, wenn diese auf einem Vergleich der Lebensumstände beruht? Bei der Beantwortung dieser von Anderson bejahten Fragen ist zu berücksichtigen, dass der Umgang mit menschlichen Beeinträchtigungen nicht dadurch „humaner“ gestaltet wird, indem die vielfältigen und allgegenwärtigen Differenzen zwischen Personen (und das heißt auch: Differenzen in Bezug auf ihr Leid) ignoriert und Vergleichsperspektiven schlicht ausgeblendet werden. Was etwa Personen mit einer Behinderung anbetrifft, so kann ein einfühlendes Verstehen der besonderen Lebensumstände durchaus erfordern, auch und gerade die hieraus resultierenden spezifischen Vorteile und Benachteiligungen gegenüber anderen zu begreifen, ohne dass diese Form des Mitleids herablassend wäre. Vergleichsbezogene Anteilnahme an Personen, die für ihre Lage nicht verantwortlich sind, kann somit für sich genommen den Vorwurf herablassenden und demütigenden Mitleids nicht begründen. Das gilt auch für die personenbezogene Dimension der Gleichheit, in der die Unbeeinflussbarkeit des Unterscheidungsmerkmals wie gesehen zu einer Erhöhung des Gleichheitsschutzes führt. Über den zuvor diskutierten Gesichtspunkt hinausgehende Anhaltspunkte dafür, dass hierbei eine der Menschenwürde zuwiderlaufende demütigende Form des Mitleids anzunehmen sein könnte, sind nicht ersichtlich. cc) Entscheidungen und Umstände Schließlich ist auf einen dritten Kritikpunkt einzugehen, der zum Teil als zentraler Einwand der Egalitarismuskritik angesehen wird.505 Er zielt auf die bereits erwähnte, von Rawls herrührende und vielfach aufgegriffene Unterscheidung von choice (Entscheidung bei Wahlmöglichkeit) und circumstances (Lebensumstände), mit der die Verantwortlichkeit als Maßstab der Gleichheit in den Blick genommen wird. Besondere gleichheitsrechtliche Beachtung verdienen nach dieser Auffassung jene, denen für bestimmte Nachteile keine Verantwortlichkeit zukommt. Auch im Rahmen der hier vorgestellten personenbezogenen Dimension der Gleichheit findet sich die Ausprägung eines solchen Gedankens, und zwar im Hinblick auf die Bedeutung der individuellen Beeinflussbarkeit des Differenzierungskriteriums. Am deutlichsten ist die Kritik an der Unterscheidung von Umständen und persönlichen Entscheidungen in jüngerer Zeit von Kersting vorgetragen worden. Kersting äußert die Befürchtung, dass ein solches Unterfangen den gläsernen Bürger erfordere und zur Etablierung einer totalitären Informationsbeschaffungsbürokratie führen müsse.506 Auch Anderson sieht die 505 506
Vgl. Horster, Handlung-Kultur-Interpretation 2001, 203, 208. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, S. 5.
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Gefahr eines entwürdigenden hoheitlichen Eingriffes in die Privatsphäre von Personen, um zu entscheiden, ob der einzelne eine Entscheidung bei Wahlmöglichkeit hatte oder ob er das Opfer von Umständen wurde, auf deren Vorliegen er keinen Einfluss nehmen konnte.507 Die Einwände weisen zutreffend auf ein verbreitetes und elementares Defizit jener egalitaristischer Gerechtigkeitskonzeptionen hin, in deren Zentrum die Egalisierung unverdienter, nicht verantworteter Lebensumstände steht.508 Dabei erschöpft sich das Problem nicht in den von Anderson zu Recht befürchteten massiven Beschränkungen der Privatsphäre und Freiheit des Bürgers, um an die benötigten Informationen zu gelangen. Tatsächlich besteht die elementare Schwierigkeit bereits darin, dass menschliches Handeln nicht nur unter den Bedingungen einer kontingenten Welt erfolgt, sondern der Mensch selbst ein kontingentes Wesen darstellt – denn wenn zu den Erkenntnissen modernen Humangenetik die Einsicht gehört, dass die menschliche Natur sich „von ihrer genetischen Ebene her in Wechselwirkungen höchster Komplexität vollzieht und durch Polymorphismen gekennzeichnet ist, die das einzelne Lebewesen unter eine unabsehbare Kontingenz stellen, dann muss das herrschende, auf linearen Kausalitäten basierende technomorphe Verständnis als Leitfaden des Umgangs mit der Natur an seine Grenzen stoßen“509. In diesem Sinne mag die Unterscheidung von Umständen und Entscheidungen in den Theorien sozialer Gerechtigkeit zwar zunächst durchaus plausibel sein, in praktischer Hinsicht hingegen erscheint die verantwortlichkeits-orientierte Beurteilung von Lebenslagen nach einem solchen Dualismus schlicht undurchführbar. Der Vorwurf gegenüber entsprechenden theoretischen Konzeptionen liegt damit letztlich im mangelnden Gespür für die Grenzen der Genauigkeit begründet, das heißt in der Unfähigkeit „zu wissen, wann man ungenau bleiben muß, wann der Schritt zu größerer . . . Genauigkeit der sichere Schritt zur philosophischen Belanglosigkeit und zur moralisch-politischen Bedeutungslosigkeit ist“510. Nach der hier vertretenen Auffassung stellt die Unterscheidung von selbst zu verantwortenden Entscheidungen und nicht zu verantwortenden Umständen eine Überschreitung jener Grenzen der Genauigkeit dar, die eine gleichheitsrechtliche Konzeption zu wahren hat, sofern sie die Möglichkeit praktischer Umsetzung für sich in Anspruch nimmt. 507
Vgl. Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 147. Zu diesem Grundgedanken egalitaristischer Theorien der Gerechtigkeit siehe Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 11 f. mit umfangreichen Nachweisen. 509 Honnefelder, Humangenetik (ethisch), in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 2, S. 258. 510 So pointiert Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, S. 247. 508
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Zur Erläuterung dieser Bedenken mag ein Beispiel Andersons511 dienen. Um festzustellen, ob ein Raucher, der mit dem Rauchen als Soldat im Krieg begonnen hat, auf Staatskosten eine Lungenkrebsbehandlung erhalten soll, müssten andere Menschen beurteilen, ob er in Anbetracht des sozialen Drucks, dem er durch Kameraden und Vorgesetzte in der Armee ausgesetzt war, in Anbetracht der angstmindernden Wirkung des Rauchens in extrem belastenden Kampfsituationen, angesichts der ihm nach dem Krieg zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Beendigung des Rauchens usw. eine größere Entschiedenheit gegen das Rauchen hätte an den Tag legen müssen. Deutlich wird, in welchem Maße eine Gemengelage unterschiedlichster Faktoren dazu führt, dass der Grad der Verantwortung für individuelle Lebensumstände nur schwer zu bestimmen ist. Diese Einschätzung gewinnt auch durch aktuelle humangenetische Entwicklungen an zusätzlichem Gewicht, was sich ebenfalls am Beispiel der Suchtforschung belegen lässt, bei Anderson indes keine Erwähnung findet. So sind nach heutiger Auffassung für die Entstehung von süchtigem Verhalten komplexe Ursachengefüge zu berücksichtigen512, wobei neben traditionell diskutierten persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen in jüngerer Zeit auch zunehmend biologische Erklärungsansätze herangezogen werden. Im Vordringen ist dabei die (allerdings bislang durch Forschungsergebnisse nicht endgültig gesicherte) Annahme, dass Sucht auch von der genetischen Disposition abhängig sei. So wird insbesondere vermutet, dass – ähnlich wie beim Alkohol – einige Menschen aufgrund ihrer Erbanlagen schneller nikotinsüchtig werden als andere. Angesichts dieser exemplarisch dargestellten elementaren Schwierigkeiten, unverantwortete Umstände und eigene Entscheidungen vor dem Hintergrund natürlicher Kontingenzen und sozialer Zufälligkeiten hinreichend klar zu unterscheiden, ist der hiermit gekennzeichnete egalitaristische Standpunkt jedenfalls in dieser Hinsicht keine tragfähige Grundlage für eine praktikable, personenbezogene Dimension grundrechtlichen Gleichheitsschutzes. Zu einer ähnlichen Auffassung gelangt Kersting in seiner ausführlichen Analyse egalitärer Gerechtigkeitstheorien. Danach stoßen wir bei der Ermittlung jener für den individuellen Lebensverlauf verantwortlichen Faktoren auf eine „zwar typologisch zu ordnende, empirisch jedoch unentwirrbarer Gemengelage von Ursachen. Eine gerechtigkeitsethische Operationalisierung des Dualismus von Umständen und persönlichen Entscheidungen ist illusionär“513. Nicht zuletzt aufgrund der somit beschriebenen Probleme 511
Vgl. Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 146. Zu den Wurzeln für süchtiges Verhalten vgl. Virt, Sucht/Suchtgefahren, in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 3, S. 489. 513 Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, S. 246 (Hervorhebung im Original). 512
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liegt der hier vorgestellten personenbezogenen Gleichheitsdimension keine dualistische, an „Umständen“ und „Entscheidungen“ orientierte Auffassung zu Grunde. An deren Stelle tritt stattdessen das vorliegend als maßgeblich erachtete Kriterium individueller Beeinflussbarkeit, welches sich – wie gesehen – einer dualistischen Betrachtungsweise entzieht und Gradualisierungen zugänglich ist. Zwar liegen auch die Wurzeln dieses Ansatzes in einer verantwortlichkeits-orientierten Betrachtung von Lebenslagen begründet. Indes wirkt sich hier gerade der Verzicht auf den oben ausgeführten, vielfach propagierten aber tatsächlich uneinlösbaren Genauigkeitsanspruch dahin gehend aus, dass der gleichheitsrechtlichen Konzeption im Ergebnis ein höheres Maß an Plausibilität zukommt. Denn Beeinflussbarkeit als zentrales Element von Verantwortlichkeit lässt jene von massiven Unsicherheiten gekennzeichneten Erwägungen unberücksichtigt, die auf eine nur vermeintlich klare Unterscheidung von selbst-verantworteten Entscheidungen und nicht zu verantwortenden Umständen abzielen. Hingegen stellt der Grad der Beeinflussbarkeit lediglich einen (allerdings wesentlichen) speziellen Aspekt dieser Erwägungen dar, dessen Bestimmung im Hinblick auf das verwendete Differenzierungskriterium wie gesehen weitgehend objektivierbar ist, ohne dabei mit den Realitäten einer kontingenten Welt in unlösbare Widersprüche zu geraten. h) Zur Relevanz der Abgrenzung personengruppen- und sachverhaltsbezogener Differenzierungen Wie eingangs erwähnt, sind für das deutsche ebenso wie für das US-amerikanische Verfassungsrecht Erwägungen von Bedeutung, die maßgeblich auf die Personenbezogenheit des gewählten Differenzierungskriteriums abstellen. Hierbei wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wie gesehen unter anderem danach unterschieden, ob eine Ungleichbehandlung von Personengruppen oder von Sachverhalten vorliegt, während der U.S. Supreme Court eine entsprechende Unterscheidung nicht kennt und allein auf die Veränderbarkeit des Differenzierungsmerkmales Bezug nimmt. Von Interesse im Hinblick auf die zuvor erarbeitete, am Kriterium individueller Beeinflussbarkeit orientierte Konzeption ist damit insbesondere, ob die in Deutschland vorgenommene differenzierte Berücksichtigung von personengruppen- und sachverhaltsbezogenen Merkmalen den personalen Gehalt des Gleichheitssatzes in zutreffender Weise weiter entfaltet. Daran bestehen indes erhebliche Zweifel. Die Unterscheidung der Ungleichbehandlung von Personengruppen und Sachverhalten ist insgesamt weitgehend unklar und im Ergebnis wohl kaum aufrecht zu halten. Jede Verschiedenbehandlung von Sachverhalten ist zugleich als Verschiedenbehandlung von Personengruppen interpretierbar. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt bei ver-
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meintlich sachverhaltsbezogenen Regelungen ist in diesem Falle die Verwirklichung einzelner sachlicher Tatbestandsmerkmale durch bestimmte Personen.514 Genauere Anhaltspunkte, die zu einer inhaltlichen Präzisierung des Begriffs der Personengruppe beitragen könnten, sind der Rechtsprechung bislang kaum zu entnehmen. Daher kann es nicht verwundern, dass im verfassungsrechtlichen Schrifttum zur Abgrenzung von personengruppen- und sachverhaltsbezogenen Regelungen oftmals gerade auf jenes Element zurückgegriffen wird, welches in der vorliegenden Untersuchung als Mittelpunkt des personalen Gleichheitsschutzes aufgezeigt worden ist – die individuelle Beeinflussbarkeit.515 Mit dieser Verlagerung der problematischen Abgrenzung von Person und Sachverhalt auf die Frage nach der Beeinflussbarkeit des Differenzierungsmerkmales verliert der erstgenannte Gesichtspunkt jedoch seine eigenständige normative Bedeutung und trägt somit nicht weiter zur Klärung gleichheitsrechtlicher Prüfungsanforderungen bei. Bewirkt wird vielmehr deren unnötige Komplizierung, da sich letztlich jede personenbezogene Unterscheidung auch als sachbezogene Differenzierung auffassen lässt516, insbesondere aber wie gesehen umgekehrt auch jegliche Regelung von Sachverhalten auf Personengruppen bezogen werden kann. Letzteres ist für das deutsche Verfassungsrecht besonders von Dürig betont worden, der zutreffend davor warnt, allein die Vergegenständlichung in der äußeren Güterwelt zum Vergleichsgegenstand zu erheben. Stattdessen dürfe beim Vergleichen der „stets nötige ‚Durchgriff‘ auf die ‚Personen‘ . . . nicht aus dem Blick geraten“517. Ungeachtet der somit beschriebenen mangelnden Aussagekraft einer entsprechenden Unterscheidung wird vielfach weiter an der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Abgrenzung festgehalten. Dies geschieht namentlich unter Verweis darauf, dass „bei aller möglichen Kritik . . . jedenfalls der Kerngedanke einleuchtet: Der an Gleichheitsverstöße anzulegende Maßstab hängt davon ab, wie weit das Differenzierungskriterium den Menschen in seinen vorgegebenen, unbeeinflussbaren Merkmalen betrifft“518. Der damit angesprochene Kerngedanke individueller Beeinflussbarkeit bedarf jedoch, so ist im Verlauf der Untersuchung deutlich geworden, keiner weiteren Ummäntelung in Form fragwürdiger Unterscheidungen wie jener zwischen Per514
Vgl. Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 39 ff. m. w. N. So etwa mit unterschiedlichen Nuancen im Einzelnen Sachs, JuS 1997, 124, 128 f.; Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 40 f.; Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 65 f. 516 Vgl. Bader, Hoheitsbetrieb und Betrieb gewerblicher Art im Umsatz- und Körperschaftsteuerrecht, S. 163 unter Verweis auf Leibholz. 517 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 307. 518 Kischel, AöR 124 (1999), 174, 190. 515
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son und Sachverhalt, um gleichheitsrechtlich zur Geltung gebracht werden zu können.519 Daher ist es nicht überraschend, dass auf US-amerikanischer Seite keine Defizite zu erkennen sind, die aus dem Verzicht des U.S. Supreme Court auf das Merkmal der „Personengruppe“ als Normadressat herzuleiten wären. Vielmehr zeigt sich auch hier, dass dem Kriterium der individuellen Beeinflussbarkeit eine zentrale Rolle bei der Bestimmung des personalen Gehalts des Gleichheitssatzes zukommt, das selbständig neben den Gesichtspunkt der Betroffenheit in personalen Basisrechten tritt, wie sie oben beschrieben wurden. Die auf Gleichheit in Personalität und Würde gerichtete personenbezogene Dimension des Gleichheitsschutzes wird somit maßgeblich von diesen beiden zuvor dargestellten Elementen konstituiert und ihrem Inhalt nach weiter ausgeformt.
B. Freiheit und Gleichheit Gegenstand der zweiten Dimension des Gleichheitsschutzes sind Überlegungen, die sich auf die Beeinträchtigung primärrechtlich geschützter Freiheiten durch Ungleichbehandlungen beziehen. Wie der rechtsvergleichende Teil dieser Untersuchung sowohl für die Vereinigten Staaten von Amerika als auch für Deutschland gezeigt hat, wird das Gewicht von Ungleichbehandlungen insbesondere dann als besonders hoch eingeschätzt, wenn in verfassungsrechtlich geschützte Freiheiten eingegriffen wird.520 Systematisch gesehen stehen damit nicht die der Differenzierung zu Grunde liegenden Unterscheidungskriterien selbst im Vordergrund, sondern die Auswirkungen von Differenzierungen auf die Rechtsstellung der hierdurch Be519 Zur „misslungenen Abgrenzung anhand personen- und sachverhaltsbezogener Merkmale“ vgl. auch Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 65 ff. Allerdings wendet sich Bremeier nicht nur – zutreffend – gegen die angesprochene problematische Abgrenzung, sondern darüber hinaus mit im Einzelnen wenig überzeugenden Argumenten gegen eine Berücksichtigung der individuellen Beeinflussbarkeit im Rahmen der Gleichheitsprüfung insgesamt. So wird etwa deren „fehlende verfassungsrechtliche Ableitung“ (S. 68) bemängelt, ohne auch nur auf die Möglichkeit eines Bezuges zur Garantie der Menschenwürde einzugehen. Zudem konstatiert der Autor, dass jede Rechtsnorm zu Differenzierungen führe, der Aspekt der Beeinflussbarkeit daher immer einschlägig sei und somit die „Aussagekraft für den konkreten Sachverhalt“ (S. 67) verliere. Außer Acht gelassen wird die vorliegend aufgezeigte Möglichkeit, wonach gleichheitsrechtlich durchaus unterschiedliche Anforderungen aus dem Grad der Beeinflussbarkeit gewonnen werden können. Das Ergebnis ist damit keineswegs, wie Bremeier vermutet, „allein vom subjektiven Gerechtigkeitsverständnis des Grundrechtsinterpreten bestimmt“ (S. 67), sondern wie oben gesehen in hohem Maße objektivierbar. 520 Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. III. Zur Anhebung der Rechtfertigungsanforderungen bei Eingriffen in Freiheitsrechte vgl. auch für die Rechtsprechung des österreichischen VfGH Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 199 f.
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troffenen. Im strukturellen Ansatz entspricht dies der oben ausgeführten gleichheitsrechtlichen Berücksichtigung personaler Basisrechte. Bei denen geht es ebenfalls um die Auswirkungen differenzierender Maßnahmen auf andere Rechtspositionen, dort um die Effekte gleichheitsspezifischer Akte auf Personalität und Würde. Anders als bei den personalen Basisrechten ist die zweite, freiheitsbezogene Dimension des Gleichheitsschutzes jedoch maßgeblich durch das umstrittene Verhältnis von Freiheit und Gleichheit geprägt. I. Das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit Das traditionell spannungsgeladene Verhältnis von Freiheit und Gleichheit wirft seine Schatten auch auf die interne Ausgestaltung der Gleichheitsrechtsdogmatik. Freiheit und Gleichheit sind Grundwerte liberal-demokratischer Gesellschaften. Dieser weitgehend unumstrittenen Auffassung steht die traditionell äußerst kontrovers diskutierte Bestimmung des Verhältnisses der beiden Grundwerte gegenüber. Vielfach vertreten wird bis heute die lange und immer wieder behauptete Unvereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit. Eine treffende Zusammenfassung dieser Position findet sich bei Leibholz. Danach erzeugt „Freiheit . . . zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit. Je freier die Menschen sind, um so ungleicher werden sie. Je mehr die Menschen dagegen im radikal demokratischen Sinne egalisiert werden, um so unfreier gestaltet sich ihr Leben.“521 Ausgehend von einer solchen Annahme grundsätzlicher Inkompatibilität beider Grundwerte wird zumindest für die politischen Forderungen nach größerer gesellschaftlicher Gleichheit oder größerer gesellschaftlicher Freiheit überwiegend die Konfliktträchtigkeit des zu Grunde liegenden Verhältnisses betont.522 Andere verweisen demgegenüber in stärkerem Maße auf Gemeinsamkeiten der beiden Ideale. Freiheit und Gleichheit seien danach „untrennbar zusammengehörig“523, „zwei Seiten ein und derselben Sache“524 oder 521
Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 88 f. Vgl. etwa Lucas, Against Equality, S. 111, „pointing out the incompatibility of Equality with . . . Liberty“; Leisner, Der Gleichheitsstaat. Macht durch Nivellierung, S. 18: „Das Sterben der Freiheit in Gleichheit – dies könnte man auch über die folgenden Blätter schreiben. Sie wollen zeigen, daß Libertät und Egalität keine Ergänzung bringen, sondern einen unauflöslichen Widerspruch darstellen“; umfangreiche Nachweise zum Ganzen bei Noll, Sachlichkeit statt Gleichheit?, S. 195. 523 Eglin, Demokratie und Minderheiten, S. 68. 524 Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 178: „Freiheit und Gleichheit sind also aufeinander angewiesen, ja sie sind zwei Seiten ein und derselben Sache. Sie können beide nur bestehen, wenn die rechte Balance zwischen ihnen getroffen wird. Wo diese Balance verloren geht, gleichgültig ob nach der Seite der Freiheit oder nach der Seite der Gleichheit hin, so sind Freiheit und Gleichheit zusammen gefährdet.“ 522
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gingen „Hand in Hand“525. Insbesondere für den Bereich des Verfassungsrechts wird vielfach davon ausgegangen, dass die grundrechtlichen Verbürgungen von Freiheit und Gleichheit konfliktfrei nebeneinander stehen.526 Diese Überlegungen gilt es zu konkretisieren. Wie die rechtsvergleichende Untersuchung von Verfassungen verdeutlicht, besteht ein zentrales Charakteristikum gerade in dem jeweils spezifischen Maß, mit dem freiheitsrechtliche und gleichheitsorientierte Elemente zueinander gewichtet und in Einklang gebracht werden.527 Die fortdauernde Suche nach einer tragfähigen Balance zwischen Anforderungen der Freiheit und Gleichheit wird so zu einem maßgeblichen Inhalt des demokratischen Prozesses. Für den Grundrechtsschutz in Europa ist insoweit bereits auf die Existenz bestimmter Basisrechte hingewiesen worden, die einen besonders geschützten Kernbereich basaler Personenbezogenheit markieren. In diesem „Konformitätsbereich“528 ist das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit weitgehend fixiert und nur in geringem Maße Abwägungen zugänglich: Soweit es etwa um die Achtung und den Schutz der menschlichen Existenz in ihrer körperlichen Integrität und geistigen Individualität geht, sind gleichheitsrechtlich motivierte hoheitliche Einwirkungen regelmäßig ebenso ausgeschlossen wie die Berücksichtigung entgegenstehender Freiheitsrechte Dritter. Was die Frage nach einem angemessenen Ausgleich von Freiheit und Gleichheit anbetrifft, so rückt diese jedoch umso mehr in den Blickpunkt, je weiter sich die überprüfte Maßnahme in ihren Auswirkungen vom menschenwürdeumfassten Konformitätsbereich entfernt. Erst im Zusammenhang mit der damit einhergehenden Öffnung des Rechtfertigungsmaßstabes für differenzierende freiheits- und gleichheitsrechtliche Gesichtspunkte gewinnt jene Diskussion an Relevanz, die zu klären versucht, ob möglicherweise einem der beiden Grundwerte Freiheit oder Gleichheit eine grundsätzliche Vorrangstellung zukommt. Sollte das der Fall sein, so hätten sich komplexe Abwägungsentscheidungen im Einzelfall insbesondere auch an der allgemeinen Präponderanz dieses einen Wertes zu orientieren und den Inhalt der Rechtfertigungsprüfung hieran auszurichten. Nach überwiegender Auffassung in der politischen Philosophie529 und in der verfassungsrechtlichen Literatur530 ist von einer grundsätzlichen Vorrangstellung der Freiheit auszugehen. Das zentrale Argument in der viel525 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 3 m. w. N., der sich dabei ausdrücklich auf das Verständnis von Gleichheit als rechtlicher Gleichheit bezieht; hierzu sogleich im Anschluss. 526 Vgl. etwa Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 430; Wernsmann, Das gleichheitswidrige Steuergesetz – Rechtsfolgen und Rechtsschutz, S. 165 m. w. N. 527 Vgl. dazu bereits Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 129. 528 Instruktiv Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 34 m. w. N.
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schichtigen Auseinandersetzung besteht darin, den vorrangigen Stellenwert der Freiheit zu begründen, indem Gleichheit in einen instrumentellen Zusammenhang zur Freiheit gebracht wird. Wie Kant geht etwa Pauer-Studer in ihrer ausführlichen Studie zum Verhältnis von Freiheit und Gleichheit davon aus, dass Freiheit an sich wertvoll sei, während Gleichheit nicht als Ziel an sich verfolgt werde, sondern lediglich instrumentell wertvoll ist, um der Verwirklichung menschlicher Freiheit zu dienen.531 Auch im Rahmen der neueren Egalitarismuskritik wird in zunehmendem Maße die Bedeutung gleichheitsrechtlich motivierter Bestrebungen insofern relativiert, als es hierbei in Wirklichkeit ausschließlich um die Sicherung der Bedingungen für ein freies Leben gehe. In diesem Sinne weist Anderson nachdrücklich darauf hin, dass Gleiche „nicht der willkürlichen Gewalt oder dem physischen Zwang anderer ausgesetzt sind. Unabhängig von willkürlichem physischen Zwang entscheiden zu können ist eine der wesentlichen Bedingungen für Freiheit. Gleiche werden nicht von anderen marginalisiert. Sie haben deshalb die Freiheit, sich politisch zu engagieren; die wichtigsten zivilgesellschaftlichen Institutionen stehen ihnen offen. Gleiche sind nicht der Herrschaft anderer unterworfen: Sie sind nicht von deren Wohlwollen abhängig. Ihr eigener Wille bestimmt ihr Leben – und genau das ist Freiheit. Gleiche werden nicht von anderen ausgebeutet. Sie haben also die Freiheit, einen gerechten Preis für ihre Arbeit zu verlangen. Gleiche sind nicht Opfer des Kulturimperialismus: Sofern sie alle anderen respektieren, können sie nach ihren kulturellen Gewohnheiten leben. In einer Gemeinschaft Gleicher zu leben heißt deshalb, frei von Unterdrückung am Reichtum einer Gesellschaft teilhaben und an demokratischer Selbstbestimmung mitwirken zu können.“532 Solche eindringlichen Mahnungen, den Wert der Gleichheit instrumentell zur Verwirklichung von Freiheit zu verstehen, gehören jenem Typus der Egalitarismuskritik an, demzufolge Gleichheit lediglich ein „Nebenprodukt“533 elementarer Gerechtigkeitsforderungen darstellt. Zu fragen ist daher, ob dem Ideal der Gleichheit tatsächlich kein intrinsischer Wert und damit nur nachrangige Bedeutung zukommt, oder ob es selbst auch als ein eigenständiges Ziel an sich Berücksichtigung zu finden hat. 529 Siehe aus jüngerer Zeit insbesondere Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit. Kurzer Überblick über die historischen Wurzeln der Präponderanz des Freiheitsideals bei Brecht, Politische Theorie, S. 376 ff. 530 Vgl. etwa Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 35 m. w. N.; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1, Rn. 135. 531 Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, S. 46 ff. 532 Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, S. 153 f. 533 Zu diesem sog. „Nebenprodukteinwand“ vgl. insbesondere den instruktiven Überblick bei Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 17 ff. m. w. N.
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Argumente gegen eine Vorrangstellung der Freiheit und für eine besondere Berücksichtigung von Gleichheitserwägungen sind seit Jahren insbesondere von Ronald Dworkin immer wieder in die Diskussion eingebracht worden. Auch in seinem in jüngerer Zeit erschienenen Band „Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality“ begründet Dworkin nachdrücklich die Auffassung von einer prinzipiellen Präponderanz der Gleichheit. „Any genuine contest between liberty and equality is a contest liberty must lose. I make that bold claim because I believe that we are now united in accepting the abstract egalitarian principle: government must act to make the lives of those it governs better lives, and it must show equal concern for the life of each. Anyone who accepts that abstract principle accepts equality as a political ideal, and though equality admits of different conceptions, these different conceptions are competing interpretations of that principle. So anyone who thinks that liberty and equality really do conflict on some occasion must think that protecting liberty means acting in some way that does not show equal concern for all citizens. I doubt that many of us would think, after reflection, that this could ever be justified.“534 Den argumentativen Ausgangspunkt der Ausführungen Dworkins bildet demnach das vielfach aufgegriffene Prinzip des „equal respect and concern“: Der Staat hat jeden seiner Bürger mit gleicher Achtung und Rücksichtnahme zu behandeln.535 Dieses Prinzip gleicher Achtung und Rücksichtnahme wird weithin geteilt, und zwar auch außerhalb von Strömungen der politischen Philosophie, die für gemeinhin dem Egalitarismus zugerechnet werden.536 Ist somit die grundsätzliche normative Berechtigung wenig umstritten, so verbleiben gleichwohl unter einem anderen Gesichtspunkt gewichtige Zweifel im Hinblick darauf, ob das von Dworkin formulierte und in hohem Maße konsentierte Prinzip bislang überhaupt zutreffend bewertet worden ist. Bedenken gegenüber dem Prinzip gleicher Achtung und Rücksichtnahme bestehen insbesondere in Bezug auf dessen Qualifikation als grundlegendes Gleichheitsprinzip. Sollte dies abzulehnen sein, so käme eine besondere Akzentuierung des Gleichheitsgedankens gegenüber dem Freiheitsideal insoweit nicht in Betracht. Tatsächlich erscheint die verbreitete Assoziation von Gleichheit und dem Prinzip gleicher Achtung und Rücksichtnahme verfehlt. Letzteres stellt zwar ein fundamentales normatives Prinzip mit intrinsischem Wert dar. Seine Grundlage findet es jedoch vorrangig in der Idee personaler Anerkennung, die allen Menschen kraft ihres Menschseins zu534
Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, S. 128. Vgl. etwa Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 298 ff. 536 Vgl. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, S. 219. Zur „Gerechtigkeit der wechselseitigen Achtung und Anerkennung“ siehe auch Horster, Handlung-Kultur-Interpretation 2001, 203, 209 ff. 535
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kommt. Das Streben nach Anerkennung, „die Durchsetzung der Forderung nach gleicher Achtung und Rücksichtnahme . . . beinhaltet das Recht, nicht bloß als Mittel, sondern auch als Zweck behandelt zu werden, das Recht, nicht instrumentalisiert zu werden, sondern als Person mit Eigenwert zu gelten“537. Deutlich wird, dass die „gleiche Achtung aller Menschen“ maßgeblich auf einem allgemeinen Anerkennungsprinzip basiert, Achtung und Rücksichtnahme mithin auf der Anerkennung aller Menschen gründet, nicht hingegen auf relational orientierten egalitären Standards. Diese lange Zeit weitgehend ignorierte Möglichkeit einer nicht-egalitären Rückführung des Prinzips gleicher Achtung ist in jüngerer Zeit von Thomas Schramme aufgegriffen und in Übereinstimmung mit der hier vertretenen Position wie folgt thematisiert worden: „Jeder Mensch sollte geachtet werden. Formuliert als ‚gleich geachtet‘ fügt dem eigentlich nichts mehr hinzu, außer der im Hintergrund stehenden Idee, daß kein Mensch in moralischer Hinsicht wertvoller ist bzw. daß die Eigenschaft des Menschseins als solche hinreichend für moralischen Respekt ist.“538 Das verfehlte Verständnis des Prinzips gleicher Achtung als einem grundlegenden Gleichheitsprinzip entspringt so letztlich einer verkürzten Interpretation des Prädikates „gleich“. Dieses bringt, wie Pauer-Studer zutreffend bemerkt539, im Kontext des Prinzips gleicher Achtung nicht Egalität, sondern Universalität zum Ausdruck. Hintergrund des beschriebenen egalitären Missverständnisses ist somit die Verwechslung von Allgemeinheit und Gleichheit – ein Vorwurf, dem sich egalitaristische Theorien gegenwärtig auch in weiteren Zusammenhängen ausgesetzt sehen.540 Festzuhalten bleibt, dass nicht das verbreitete Postulat der „gleichen Achtung aller Menschen“ als solches einer kritischen Revision zu unterziehen ist, sondern vielmehr dessen verfehlte Qualifikation als genuines Gleichheitsprinzip und damit ein Umstand, auf den John R. Lucas bereits 1965 ebenso nachdrücklich wie erfolglos hingewiesen hat541: „It is, rather, an argument of Universal Humanity, that we should treat human beings, because they are human beings, humanely. To say that all men, because they are men, are equally men, or that to treat any two persons as ends in themselves is to treat them as equally ends in themselves is to import a spurious note of egalitarianism into a perfectly sound and serious argument. We may 537
Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, S. 28. Schramme, Analyse & Kritik 1999, 171, 177. 539 Pauer-Studer, Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, S. 41. 540 Vgl. Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 17 ff. 541 Lucas, Against Equality, in: Philosophy 40 (1965), S. 296 ff., hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Pojman/Westmoreland (Hrsg.), Equality, S. 104 ff. 538
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call it, if we like, the argument from Equality of Respect, but in this phrase it is the word ‚Respect‘ – respect for each man’s humanity, respect for him as a human being – which is doing the logical work, while the word „Equality“ adds nothing to the argument and is altogether otiose.“542 Eine grundsätzliche Vorrangstellung des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgedankens ist nach dem Gesagten abzulehnen. Vielmehr deuten die bisher angestellten Überlegungen stärker darauf hin, von einer wechselseitigen Verschränkung der beiden Grundwerte Freiheit und Gleichheit auszugehen. Hierfür spricht, dass Erwägungen der Gleichheit wie gesehen durchaus instrumentellen Charakter für die Verwirklichung von Freiheit haben können. Aber auch die Verwirklichung gleichheitsrechtlicher Anliegen setzt freiheitliche Elemente voraus.543 Insoweit kann es in einer Demokratie Freiheit ohne Elemente von Gleichheit ebenso wenig geben wie Gleichheit ohne Elemente von Freiheit. Vor diesem Hintergrund ergibt sich verfassungsrechtlich die Konsequenz einer wechselseitigen Verschränkung von Gleichheitsschutz und Freiheitsschutz544: Die Überprüfung hoheitlicher Maßnahmen am verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz hat danach im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung auch zu berücksichtigen, ob und gegebenenfalls in welchem Maße freiheitsrechtliche geschützte Positionen betroffen sind und wie sich dieser Umstand auf die Zulässigkeit der fraglichen Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung auswirkt. II. Eingriff in freiheitsrechtlich geschützte Positionen Wie die Untersuchung der beim Gleichheitssatz vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung gezeigt hat545, ist die Struktur der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit von derjenigen bei den Freiheitsrechten zu unterscheiden. Während es freiheitsrechtlich um die Verhältnismäßigkeit des Eingriffes geht, verlangt der primärrechtliche Gleichheitssatz ein angemessenes Verhältnis des Gewichts der Verschiedenbehandlung zu den Differenzierungszielen bzw. Differenzierungsgründen. An dieser strukturellen Unterscheidung ist auch angesichts der konstatierten engen Verschränkung von Freiheits- und Gleichheitsschutz festzuhalten. Dennoch stellen Ungleichbehandlungen vielfach zugleich eine (ungleiche) Beschränkung von Freiheitsrechten dar. In diesen Fällen ist die ungleiche Freiheitsbeeinträchtigung ein 542
Lucas, Against Equality, S. 106. Vgl. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 104; Eglin, Demokratie und Minderheiten, S. 68. 544 Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 18. 545 Siehe oben, Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. b) bb). 543
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aufschlussreicher Gesichtspunkt für die Bestimmung des Gewichts der Verschiedenbehandlung und somit im Rahmen der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsprüfung zu berücksichtigen. Im Ansatz zutreffend wird daher gemeinschaftsrechtlich eine erhöhte Prüfungsintensität allgemein dann gefordert, wenn die Ungleichbehandlung an einem für die Grundrechte und Grundfreiheiten besonders bedeutsamen Unterscheidungskriterium anknüpft.546 Das kann indes nicht allein im Hinblick auf „für Grundrechte und Grundfreiheiten bedeutsame“ Differenzierungskriterien, sondern muss auch dann gelten, wenn es um den Eingriff in Freiheitsrechte selbst geht. Die Rechtsprechung des EuGH ist insoweit bislang noch wenig eindeutig, bringt jedoch die Einschränkung von Freiheitsrechten und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zunehmend auch mit der Prüfung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes in Verbindung.547 Insgesamt offenbart die Rechtsprechung des EuGH die Tendenz, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dann voll auszuschöpfen, das heißt eine strenge Rechtfertigungsprüfung vorzunehmen, wenn es um hoheitliche Eingriffe in Positionen mit Grundrechtscharakter geht.548 Dieses Vorgehen entspricht der hier vertretenen Auffassung, das Gewicht von Ungleichbehandlungen unter anderem nach dem damit verbundenen Eingriff in Freiheitsrechte zu beurteilen. Über die Verschärfung der Gleichheitsmaßstäbe aufgrund der Berührung anderer Grundrechte hinausgehend zeigt sich die oben ausgeführte Wechselseitigkeit der Verschränkung von Freiheits- und Gleichheitsschutz auch bei den Grundfreiheiten des europäischen Primärrechts. Die Weiterentwicklung der Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des EuGH ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass nicht mehr nur Diskriminierungen aufgrund ausländischer Herkunft, Staatsangehörigkeit oder Ansässigkeit einen Verstoß begründen können.549 Auch diskriminierungsfreie Maßnahmen können dem mit den Grundfreiheiten verfolgten Ziel der Errichtung eines Gemeinsamen Marktes entgegenstehen, indem sie freie Verkehrsströme innerhalb des Binnenmarktes behindern.550 Mit der Weiterentwicklung von reinen Diskriminierungsverboten zu Beschränkungsverboten gewinnen die Grundfreiheiten eine bedeutende freiheitsrechtliche Funktion. Das hat unter anderem Folgen für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 546 Vgl. Generalanwalt Alber, verb. Rs. C-432/98 P und C-433/98 P, Rat der Europäischen Union/Christiane Chvatal u. a. und Antoinette Losch, 6.6.2000, Rn. 69. 547 Siehe etwa EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 58, 61. 548 Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 135, 284. 549 Vgl. etwa zur Aufgabe des Diskriminierungserfordernisses in der Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 44 ff. 550 Zu den Grundfreiheiten als „Instrumenten, einen einheitlichen Binnenmarkt hervorzubringen“ Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 544 ff.
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dessen Prüfung regelmäßig den Schwerpunkt der vom EuGH angestellten Erwägungen zur Rechtfertigungsproblematik ausmacht.551 So ist eine Anhebung der Prüfungsintensität insbesondere dort geboten, wo es um diskriminierende Beschränkungen geht und damit auch die klassische Funktion der Grundfreiheiten als Gleichheitsrecht berührt ist552: Im Gegensatz zu diskriminierungsfreien Beschränkungen ist hier sowohl die gleichheitsrechtliche als auch die freiheitsrechtlichen Komponente der Grundfreiheiten betroffen, was eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich macht. Hingegen wirken sich diskriminierungsfreie Beschränkungen lediglich auf die Grundfreiheiten in ihrer erweiterten Funktion als Freiheitsrechte aus, ohne dabei deren gleichheitsrechtlichen Gehalt zu aktivieren, weshalb die Kontrollintensität hier regelmäßig niedriger anzusetzen ist als bei der Überprüfung diskriminierender Maßnahmen. III. Differierende Intensität freiheitsrechtlicher Betroffenheit der Vergleichspartner Die gleichheitsrechtliche Berücksichtigung von Eingriffen in Freiheitsrechte ist im Verlauf dieser Untersuchung für die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts aufgezeigt worden. Auch in der Judikatur des EuGH sind wie gesehen Ansätze erkennbar, erhöhte Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen zu stellen, soweit sich diese auf freiheitsrechtlich geschützte Positionen auszuwirken drohen. Zwar sind damit einzelne Elemente der hier vorgestellten freiheitsbezogenen Dimension grundrechtlichen Gleichheitsschutzes in den USA, Deutschland und der Europäischen Union bereits Gegenstand der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit. Weitgehend übersehen wurde bislang jedoch ein Gesichtspunkt, der für die Dogmatik dieser Dimension des Gleichheitsschutzes von entscheidender Bedeutung ist und dessen regelmäßige Nichtberücksichtigung einen wesentlichen Grund für bestehende Unklarheiten über den Inhalt gleichheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit und das Verhältnis zu den Freiheitsrechten darstellt. Dabei handelt es sich um das Erfordernis differierender Intensität der freiheitsrechtlichen Betroffenheit von Vergleichspartnern, ohne das eine Anhebung der Prüfungsanforderungen aus freiheitsbezogenen Erwägungen nicht in Betracht kommt. Hierdurch droht die Grenze zur Prüfung der Freiheitsrechte insofern aufgehoben zu werden, als die der Gleichheitsprüfung immanente Vergleichsperspektive ausgeblendet wird. Wie die Untersuchung der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßig551
Jarass, EuR 2000, 705, 721. Vgl. die zutreffenden Ausführungen von Heselhaus, EuZW 2001, 645, 648 f. im Hinblick auf die Warenverkehrsfreiheit. Ebenfalls in diese Richtung Jarass, EuR 2000, 705, 723, der sich dabei ausdrücklich auf sämtliche Grundfreiheiten bezieht. 552
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keit ergeben hat, kommt es maßgeblich auf das Verhältnis des Gewichts der Ungleichbehandlung zu den Differenzierungszielen an. Das Gewicht der Ungleichbehandlung ist jedoch nicht bereits insoweit erhöht, als beide Vergleichspartner in derselben Weise in Freiheitsrechten betroffen sind. Eine Ungleichbehandlung gewinnt vielmehr erst dann an Gewicht, wenn sie in unterschiedlicher Weise in freiheitsrechtlich geschützten Positionen der Vergleichspartner eingreift. Dieser Umstand wird in Rechtsprechung und Literatur oftmals nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht.553 Die Folge sind beträchtliche Unsicherheiten, da zunehmend die Gefahr besteht, dass „Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit der Eingriffe und der Verhältnismäßigkeit der Differenzierung . . . verschwimmen“554. Um der damit aufgeführten Gefahr einer weitgehend beliebigen und undurchschaubaren Vermischung freiheits- und gleichheitsrechtlicher Elemente zu begegnen, bedarf es bei der freiheitsbezogenen Dimension grundrechtlichen Gleichheitsschutzes besonderer Anstrengungen, die dogmatischen Konturen sichtbar werden zu lassen. Das erfordert Abgrenzungen in mehrfacher Hinsicht. Zu berücksichtigen ist zunächst die oben festgestellte strukturelle Besonderheit der Prüfung gleichheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit in Abgrenzung zur freiheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit mit der beschriebenen Konsequenz, dass lediglich unterschiedliche Betroffenheit in Freiheitsrechten das rechtfertigungsbedürftige Gewicht von Ungleichbehandlungen erhöht. „Unterschiedliche Betroffenheit“ meint in diesem Zusammenhang indes nicht allein jene Fälle, in denen eine Differenzierung zur Freiheitsbeeinträchtigung des Benachteiligten führt und zugleich im Hinblick auf den vergleichbaren Sachverhalt keinerlei Berührung freiheitsrechtlich geschützter Positionen aufweist.555 Erfasst werden darüber hinaus auch solche Ungleichbehandlungen, die beide Vergleichspartner in Freiheitsrechten berüh553 Vgl. etwa Bremeier, Die personelle Reichweite der Betriebsverfassung im Lichte des Gleichheitssatzes, S. 63 f.: „Indem das BVerfG die Schärfe des Prüfungsmaßstabes davon abhängig machen will, inwieweit die überprüfte Differenzierung sich auf grundrechtlich gewährleistete Freiheiten auswirkt, stellt es sicher, daß der Entscheidungsvorrang des Gesetzgebers dort unbeschnitten bleibt, wo die Verfassung zu einem Lebensbereich keine abschließende Regelung trifft. Der Gesetzgeber kann in diesem Bereich nur anhand des Willkürverbotes kontrolliert werden. Erst wenn im Umfeld der Differenzierung ein Freiheitsrecht berührt ist, erhält der Verfassungsinterpret die Möglichkeit, die ausreichende Berücksichtigung dieses Grundrechtes anhand einer Abwägung zu überprüfen.“ Eine Ausnahme bildet hingegen Brüning, JZ 2001, 669, 673, dessen überzeugende Folgerungen zum Verhältnis von Freiheits- und Gleichheitsrechten mit der hier vertretenen Auffassung vereinbar sind. 554 Zutreffend Michael, JuS 2001, 148, 152 f. 555 Vgl. Jarass, NJW 1997, 2545, 2547 m. w. N.
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ren, dabei aber in unterschiedlich intensiver Weise auf die geschützte Position zugreifen: Insoweit hängt das Gewicht von Ungleichbehandlungen maßgeblich von deren Auswirkungsgrad auf grundrechtlich geschützte Freiheiten ab. Abzugrenzen ist weiterhin die personenbezogene von der freiheitsbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes. Beide Dimensionen liefern Maßstäbe für die verfassungsrechtliche Einschätzung des Gewichts von Ungleichbehandlungen. Sie geben damit zugleich Aufschluss über die Intensität der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung bei der Frage nach möglichen Rechtfertigungsgründen. Beide Dimensionen unterscheiden sich allerdings erheblich, was die Gründe für Anhebungen oder Absenkungen des Prüfungsmaßstabes anbetrifft. In dogmatischer Hinsicht fordern sie so die Offenlegung und Überprüfung jener wertenden Momente, die für eine strenge oder weniger strenge Kontrolle der Verhältnismäßigkeit angeführt werden. Eine – freilich häufig vorzufindende – unzulässige Vermischung dieser wertenden Gesichtspunkte erschwert eine sachgerechte Überprüfung hoheitlicher Maßnahmen anhand des grundrechtlichen Gleichheitssatzes erheblich und gibt regelmäßig keinen oder nur unzureichenden Aufschluss über die gebotene Intensität der Rechtfertigungsprüfung. Beispielhaft sei hier etwa aus der gleichheitsrechtlichen Spezialliteratur auf die Forderung Kims hingewiesen, im Rahmen der Gleichheitsprüfung „festzustellen, ob sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten derart schwerwiegend auswirkt, daß die Betroffenen nicht in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird“556. Damit werden zwei Aspekte in eine Kausalitätsbeziehung gebracht, die in dieser Form nicht haltbar ist. Die Frage nach der Beeinflussbarkeit eines Differenzierungsmerkmals ist von der Intensität der Freiheitsbeeinträchtigung zu trennen. So kann eine Ungleichbehandlung durchaus einen schweren Eingriff in Freiheitsrechte darstellen, ohne dass das zu Grunde liegende Differenzierungskriterium gänzlich unbeeinflussbar wäre. Umgekehrt sind Unterscheidungen nach individuell unbeeinflussbaren Merkmalen denkbar, die gleichwohl keinen oder einen nur wenig intensiven Eingriff in Freiheitsrechte darstellen. Sofern indes sowohl die personenbezogene Dimension des Gleichheitsschutzes (wegen des Vorliegens eines unbeeinflussbaren Unterscheidungskriteriums) als auch die freiheitsbezogene Dimension (wegen erheblich differierender Intensität freiheitsrechtlicher Betroffenheit der Vergleichspartner) für eine intensive Rechtfertigungsprüfung sprechen, so sind insgesamt besonders strenge Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der 556 Kim, Zur Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, S. 221.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
überprüften hoheitlichen Maßnahme zu stellen. Bei der Betrachtung des Verhältnisses der drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes zueinander wird hierauf zurückzukommen sein.
C. Komplexe Gleichheit I. Kontextualistischer Schwerpunkt und Unbestimmtheit des Gleichheitssatzes Wie die Untersuchungen der verfassungsgerichtlichen Gleichheitsrechtsprechung in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika aufgezeigt haben, ist die Auslegung des Gleichheitssatzes in besonders hohem Maße kontextabhängig. So sind bedeutende Entwicklungslinien in der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts nur zu verstehen, wenn man die Korrelation von Prüfungsintensität und legislativer Gestaltungsfreiheit und damit Aspekte der Gewaltenteilung im zeitlichen Kontext der Gleichheitsjudikatur berücksichtigt.557 Neben dieser zeitlichen Kontextabhängigkeit hat die Analyse der Rechtsprechung jedoch insbesondere in sachlicher Hinsicht durchgängig den kontextualistischen Schwerpunkt grundrechtlicher Gleichheitsinterpretation verdeutlicht. Aufgrund der besonderen Normstruktur des Gleichheitssatzes, die keinen sachlich umgrenzten Normbereich aufweist, ist eine vielfältige, zum Teil hochspezialisierte Aufgliederung der Gleichheitsprüfung in zahlreiche Sachbereiche zu konstatieren. Das bezieht sich sowohl auf Bereiche, die ausdrücklich von Ausprägungen des Gleichheitssatzes umfasst werden, als auch auf sonstige, nicht speziell geregelte Gebiete. Der normstrukturell bedingte hohe Grad an Unbestimmtheit wird so im Wege gleichheitsrechtlicher Spezifizierungsbestrebungen zu konkretisieren versucht. Ein umfassendes Verständnis der nachfolgend explizierten dritten Dimension des Gleichheitsschutzes setzt zunächst voraus, sich ihrer Ursprünge zu vergewissern. Wie im weiteren Verlauf näher zu entfalten sein wird, umspannt die Dimension komplexer Gleichheit die Gesamtheit der zuvor erwähnten gleichheitsrechtlichen Spezifizierungsversuche. Sie findet ihren Ausgangspunkt daher in der Unbestimmtheit des Gleichheitssatzes und weist insofern enge Verbindungslinien zu den verfassungsgerichtlichen Bestrebungen nach einer Konkretisierung des grundrechtlichen Gleichheitsschutzes auf. Mit diesen Bestrebungen sind indes Probleme verbunden, die sich auf die Gefahren einer zunehmenden internen Vermachtung rechtlichen Wissens beziehen.558 Drohende Folge dieser Entwicklung ist die diskursive Beschränkung der Staatsrechtslehre ebenso wie der Allgemeinheit auf den 557
Vgl. hierzu oben, Zweiter Teil, 4. Kapitel, B.
4. Kap.: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
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vom Verfassungsgericht vorgegebenen Rahmen – eine Tendenz, auf die Schlink im deutschen Verfassungsrecht nachdrücklich hingewiesen hat und für die er den Begriff des „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“559 verwendet. Zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft gehört es daher unter anderem, der internen Vermachtung rechtlichen Wissens namentlich dort entgegenzuwirken560, wo wegen der besonderen Unbestimmtheit grundrechtlicher Bestimmungen der Verweis auf den richterlichen Intuitionismus die Auseinandersetzung mit davon abweichenden sachlichen Gründen nur allzu leicht zu überspielen vermag. Das gilt für den Gleichheitssatz aufgrund von dessen offener Normstruktur in hervorragender Weise. Die vorliegende Untersuchung bezieht daher bewusst auch Überlegungen mit ein, die traditionell der politischen Philosophie zugeordnet werden, und die hier auf ihre Relevanz für die Entwicklung einer juristischen Dogmatik des grundrechtlichen Gleichheitssatzes überprüft werden. Diese enge Verschränkung von Rechtsdogmatik und politischer Philosophie ist bereits in den personen- und freiheitsbezogenen Dimensionen des Gleichheitsschutzes deutlich sichtbar geworden; sie wird indes im Laufe der nachfolgenden Betrachtungen zur Dimension komplexer Gleichheit noch weiter in den Vordergrund treten. II. Differenzierter Gleichheitsschutz im Rechtsvergleich: USA, BRD Die Entfaltung der dritten Dimension grundrechtlichen Gleichheitsschutzes erfordert aus mehreren Gründen ein besonders sorgfältiges Vorgehen. Zu berücksichtigen ist einerseits, dass es sich um ein bislang wenig beachtetes Gebiet der Gleichheitsdogmatik handelt. Zum anderen droht gerade die eingangs beschriebene Vielfalt von Anknüpfungspunkten der Gleichheitsprüfung den Blick auf die grundlegenden dogmatischen Konturen des Gleichheitsschutzes zu verstellen. Es handelt sich insofern um Probleme des oben561 dargestellten gleichheitsrechtlichen Partikularismus, die sich auch auf die für den effektiven Grundrechtsschutz besonders bedeutsame Rechtfertigungsebene auswirken. Nähere Aufschlüsse lassen sich jedoch gewinnen, wenn man den Blick rechtsvergleichend auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Einhaltung 558 Mit interner Vermachtung wird hier im Anschluss an Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 102 f., das Ergebnis juristischer Begründungen bezeichnet, durch die die Relevanz bestimmter Themen verfassungsgerichtlich festgelegt oder ausgeschlossen und damit deren Selbstaufklärung verhindert wird. 559 Schlink, Der Staat 28 (1989), 161, 163. 560 Vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 103, 253. 561 Vierter Teil, 2. Kapitel, A.
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des Gleichheitssatzes richtet. So wird zutreffend darauf hingewiesen562, dass die Untersuchung von unterschiedlichen Varianten der Gleichheitsrechtsprechung zu einem besseren Verständnis der Bedeutung dieses Grundrechts beitrage. Vorliegend hat die rechtsvergleichende Untersuchung der Rechtsprechung zum Gleichheitssatz dogmatische Grundstrukturen erkennen lassen, die für einen ausdifferenzierten Gleichheitsschutz kennzeichnend sind und die – ungeachtet aller konstatierten Unterschiede im Detail – Ausmaß und Intensität der Rechtfertigungsprüfung in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Deutschland entscheidend beeinflussen. Differenzierter Gleichheitsschutz, so ist danach zunächst im Überblick festzuhalten, gründet im Wesentlichen auf zwei Elemente: Bereichsspezifik und Kriterienselektion. III. Bereichsspezifik und Kriterienselektion als Elemente differenzierten Gleichheitsschutzes Beiden zuvor angesprochenen Elementen begegnen wir auch auf der Ebene des europäischen Gemeinschaftsrechts, ohne dass die damit verbundenen, den grundrechtlichen Gleichheitsschutz betreffenden Fragen bislang dogmatisch aufgearbeitet worden wären. Zu diesem Zweck soll nachfolgend zunächst exemplarisch auf zwei zentrale gemeinschaftsrechtliche Ausprägungen des Gleichheitssatzes eingegangen werden, die den bereichsspezifischen bzw. kriterienspezifischen Gehalt des Gleichheitsgrundrechts genauer hervortreten lassen. 1. Anknüpfungspunkte der Gleichheitsprüfung im europäischen Gemeinschaftsrecht: Exemplarische Untersuchung von Art. 34 und Art. 141 Aspekte der Bereichsspezifik stehen im Vordergrund der für die Entwicklung des gesamten Gleichheitsgrundrechts bedeutsamen Bestimmung des Art. 34, die in Abs. 2 Unterabs. 2 ein auf die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte bezogenes Diskriminierungsverbot enthält. Hingegen normiert Art. 141 in seinen ersten beiden Absätzen den Grundsatz der Entgeltgleichheit unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Männer und Frauen und beschränkt sich demnach in kriterialer Hinsicht auf die Gleichbehandlung der Geschlechter. Beide Ausprägungen des Gleichheitssatzes geben somit nähere Aufschlüsse über die Bedeutung bereichsspezifischer bzw. kriterienbezogener Erwägungen für die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen. Ihre beispielhafte Erörterung wird im weiteren Verlauf der Untersuchung 562
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 105.
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hilfreich sein, um den durch die Dimension komplexer Gleichheit vermittelten grundrechtlichen Gleichheitsschutz im Anschluss dogmatisch genauer konturieren zu können. 2. Das Diskriminierungsverbot im Agrarbereich nach Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 Nach Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 hat sich die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte auf die Verfolgung der Ziele des Art. 33 (Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft, Gewährleistung einer angemessenen Lebenshaltung der landwirtschaftlichen Bevölkerung, Stabilisierung der Märkte und Versorgung der Verbraucher zu angemessenen Preisen) zu beschränken und jede Diskriminierung zwischen Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft auszuschließen. Zu Recht wird das in Art. 34 enthaltene Diskriminierungsverbot als „rechtliche Zentralvorschrift“563 im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik bezeichnet. Auch die Entwicklung des allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatzes durch die Rechtsprechung des EuGH ist, wie oben gesehen564, maßgeblich von dieser speziellen Ausprägung des Gleichheitssatzes beeinflusst worden. Eine das Diskriminierungsverbot konkretisierende Vorschrift findet sich zudem in Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 3, demzufolge eine etwaige gemeinsame Preispolitik auf gemeinsamen Grundsätzen und einheitlichen Berechnungsmethoden zu beruhen hat. a) Besondere Bedeutung des landwirtschaftlichen Bereichs Der Landwirtschaft kommt im europäischen Einigungsprozess eine herausragende Rolle zu. Ihre besondere Bedeutung wird formal schon dadurch angezeigt, dass ihr mit den Artikeln 32 bis 38 ein eigener Titel des EG-Vertrages gewidmet ist. Bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts war der Landwirtschaftssektor in den späteren Gründungsstaaten Gegenstand nationaler Politik, um die Versorgung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten.565 Angesichts erheblicher Unterschiede zwischen den nationalen Agrarsystemen566 und deutlich differierender Abhängigkeit einzelner Volkswirtschaften vom Bereich der Landwirtschaft warf deren Einbeziehung in den Gemeinsamen Markt567 allerdings in besonderem Maße Probleme auf. 563
Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 34, Rn. 109. Vierter Teil, 1. Kapitel, B. 565 Zu den staatlichen Interventionen auf dem Agrarsektor vor der Gründung der EWG siehe Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 38 ff. 566 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 1350 m. w. N. 564
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
Um die einheimische nationale Produktion aufrechtzuerhalten und den Landwirten ein angemessenes Einkommen zu sichern, wurde in der Folgezeit eine beträchtliche Zahl „gemeinsamer Marktordnungen“ für Agrarerzeugnisse errichtet. Marktordnungen sind nach der Rechtsprechung des EuGH eine Gesamtheit von rechtlichen Einrichtungen und Vorschriften, mit deren Hilfe die zuständigen Behörden versuchen, den Markt zu kontrollieren und zu lenken.568 Damit wird für die Landwirtschaft im Hinblick auf bestimmte Erzeugnisse die Freiheit des Warenverkehrs zugunsten interventionistischer Mittel in erheblichem Umfang eingeschränkt und der freie Markt insoweit praktisch abgeschafft. Entstanden ist ein äußerst ausdifferenziertes System von Preisregelungen, Interventionsbestimmungen und Beihilfen, Außenschutzbestimmungen und Einlagerungs- bzw. Ausgleichsmaßnahmen.569 Nicht zuletzt diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die Gemeinsame Agrarpolitik heute zutreffend als ein europäisches Herzstück und Sorgenkind zugleich charakterisiert wird570, an deren grundsätzlicher und dringender Reformbedürftigkeit571 unter verschiedenen Gesichtspunkten kaum Zweifel bestehen dürften. Erwähnt seien nur die Probleme massiver Überproduktionen, der ungefähr hälftige Anteil von Agrarausgaben am gesamten EU-Haushalt, umweltbezogene und gesundheitsrelevante Folgen einer weiteren Industrialisierung der Landwirtschaft sowie notwendige Überlegungen zur gemeinschaftlichen Neustrukturierung des Landwirtschaftssektors aus Anlass der Beitritte osteuropäischer Staaten mit zum Teil bedeutenden landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten. b) Sachlicher Schutzbereich des Diskriminierungsverbots In bereichsspezifischer Hinsicht ist das Diskriminierungsverbot des Art. 34 auf die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte ausgerichtet. Damit bezieht sich sein gleichheitsrechtlicher Gehalt insbesondere auf den Bereich der Landwirtschaft sowie ferner auf die Gemeinsame Fischereipolitik572. 567 Dazu v. Rijn, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 32, Rn. 1. 568 So EuGH, verb. Rs. 90/63 und 91/63, Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft/Großherzogtum Luxemburg, 13.11.1964, Slg. 1964, 1331, 1348. 569 Einen Überblick über den Inhalt der Europäischen Marktordnungen gibt Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 34, Rn. 11 ff. 570 So Ahner, Gemeinsame Agrarpolitik – Herzstück und Sorgenkind, in: Röttinger/Weyringer (Hrsg.), Handbuch der europäischen Integration, S. 846 ff. 571 Zu den in den neunziger Jahren bereits vorgenommenen Reformen der Agrarpolitik vgl. Ruoff/Strohmeier, Agenda 2000 – Vorbereitung der Union auf die bevorstehenden Herausforderungen – Landwirtschaft, S. 71 ff.
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Gewisse Unklarheiten bestehen über den genauen Umfang der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte im Sinne von Art. 34 und damit zugleich über die Ausdehnung des für das Diskriminierungsverbot maßgeblichen Anwendungsbereiches. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, dass für die Erreichung der in Art. 33 aufgeführten Ziele eine gemeinsame Agrarmarktorganisation zwar das bedeutendste, nicht aber das einzige Mittel sei.573 Daneben trete insbesondere die Agrarstrukturpolitik, für die heute eine Gemeinschaftskompetenz allgemein anerkannt ist.574 Maßnahmen der Strukturpolitik verfolgen dabei regelmäßig das längerfristige Ziel, die landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen unmittelbar und dauerhaft an der Quelle zu beeinflussen575, während Maßnahmen der Marktpolitik zumeist stärkeren Bezug zu den landwirtschaftlichen Erzeugnissen selbst aufweisen und damit tendenziell ein eher kurzfristiger Einfluss auf einzelne Marktentwicklungen ausgeübt werden soll. Allerdings bereitet die Abgrenzung von Agrarstrukturpolitik und Agrarmarktpolitik erhebliche Schwierigkeiten. So weisen die Marktordnungen auch strukturorientierte Regelungen auf; Maßnahmen der Strukturpolitik wiederum verfolgen zum Teil durchaus Ziele der Marktsteuerung.576 Es liegt daher nahe, die Gemeinsame Agrarpolitik in einem umfassenden Verständnis (das heißt unter Einbeziehung von Maßnahmen, die keine Marktlenkungsfunktion im engeren Sinne erfüllen) zur gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte gemäß Art. 34 Abs. 1 zu zählen.577 Hierfür spricht auch der grundsätzlich große Spielraum, den der EuGH dem Gemeinschaftsgesetzgeber bei der Auswahl und Beurteilung jener Instrumente zubilligt, mit denen die in Art. 33 normierten Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik verfolgt werden sollen.578 Die solchermaßen weit verstandene gemeinsame Organisation der Agrarmärkte konkretisiert damit den spezifischen Schutzbereich des Diskriminierungsverbots nach Art. 34 in sachlicher Hinsicht.
572
Zur Gemeinsamen Fischereipolitik als Teil der Gemeinsamen Agrarpolitik vgl. Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 34, Rn. 51 ff. 573 v. Rijn, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 34, Rn. 2. 574 Vgl. Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33, Rn. 16; Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 284 f. Allgemein zur Agrarstrukturpolitik vgl. auch Oppermann, Europarecht, Rn. 1408 ff. 575 Bieber, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, Rn. 1046. 576 Vgl. Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 33, Rn. 41 f. 577 Vgl. Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 34, Rn. 2. 578 Näher dazu gleich im Anschluss.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
c) Persönlicher Schutzbereich Seinem Wortlaut nach schränkt Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 den gleichheitsrechtlich relevanten Bereich darüber hinaus in persönlicher Hinsicht weiter ein. Nur Diskriminierungen „zwischen Erzeugern oder Verbrauchern“ sollen danach dem bereichsspezifischen Gleichheitssatz unterfallen. Damit deutet die Formulierung zunächst auf den – soweit ersichtlich – unbestrittenen Umstand hin, dass ausschließlich Diskriminierungen innerhalb der jeweiligen Gruppen von Relevanz für das Verbot sind. Hingegen ist das Verhältnis zwischen Erzeugern und Verbrauchern nicht Gegenstand des Diskriminierungsverbots, sondern im Zusammenhang mit den Zielvorgaben des Art. 33 zu betrachten.579 Weitaus problematischer als diese am Wortlaut des Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 orientierte Auslegung erscheint allerdings die massive Ausdehnung der persönlichen Reichweite des Diskriminierungsverbotes durch die überaus weite Interpretation des Verbraucher- und des Erzeugerbegriffs. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist die bereits erwähnte, für die Entwicklung des Gleichheitssatzes grundlegende Entscheidung Ruckdeschel, in der sich der EuGH ausdrücklich auf das spezielle landwirtschaftliche Diskriminierungsverbot bezieht und dazu ausführt: „[Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2] verbietet zwar ohne Zweifel jede Diskriminierung zwischen Erzeugern des gleichen Produkts, sie zielt jedoch nicht mit der gleichen Deutlichkeit auch auf die Beziehungen zwischen verschiedenen Handels- und Gewerbezweigen im Bereich landwirtschaftlicher Verarbeitungserzeugnisse. Das in der angeführten Vorschrift ausgesprochene Diskriminierungsverbot ist jedoch nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, der zu den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört. Nach diesem Grundsatz dürfen vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, daß eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre.“580 Steht damit ein hervorragendes Beispiel gerichtlicher Mehrdeutigkeit und Unschärfe am Ausgang der Entwicklung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes, so kann die hieraus resultierende vielschichtige dogmatische Verwirrung kaum überraschen. Für die an dieser Stelle interessierenden Tatbestandsmerkmale der „Erzeuger“ bzw. „Verbraucher“ hat die beschriebene Rechtsprechung deren Überdehnung zur Folge gehabt. In Abkehr vom Wortlaut des Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2, der Diskriminierungen ausdrücklich allein „zwischen Erzeugern oder Verbrauchern“ ausschließt, wird das 579 EuGH, Rs. 5/73, Balkan-Import-Export GmbH/Hauptzollamt Berlin-Packhof, 24.10.1973, Slg. 1973, 1091, 1113. 580 EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., Hansa-Lagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753, 1769 f. (Hervorhebung S.M.D.).
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Diskriminierungsverbot heute auf alle Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern ausgedehnt, die einer gemeinsamen Marktorganisation unterliegen.581 Die Literatur582 ist der Rechtsprechung des EuGH überwiegend gefolgt, ohne grundsätzliche Einwände zu erheben. Vielfach wird in Anknüpfung an die einschlägige Judikatur der besondere Gleichheitssatz des Art. 34 gemeinsam mit dem allgemeinen primärrechtlichen Gleichheitssatz aufgeführt und durch vage Formulierungen eine eindeutige Zuordnung vermieden. Andere beziehen sich maßgeblich auf den Inhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes, übertragen die daraus gewonnenen Erkenntnisse jedoch ohne nähere Begründung auf Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2. Beispielhaft sei etwa auf die Untersuchung Boests583 hingewiesen, der im Ansatz zutreffend feststellt: „Da jedoch das in Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 niedergelegte Diskriminierungsverbot nur eine Ausprägung des für alle Bereiche des Gemeinsamen Marktes geltenden allgemeinen Gleichheitssatzes darstellt, gilt auch für den Bereich des Handels und der Verarbeitung das Verbot, gleichgelagerte Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln, wenn dieses nicht objektiv gerechtfertigt ist. Das Gleichbehandlungsgebot hat daher . . . im Agrarbereich, insbesondere auf den Agrarmärkten, auf allen Ebenen grundsätzlich den gleichen Inhalt.“584 Hiervon ausgehend stellt sich folgerichtig die Frage nach der verbleibenden Bedeutung des besonderen Diskriminierungsverbotes zwischen landwirtschaftlichen Erzeugern und Verbrauchern. Boest widerspricht der nahe liegenden Auffassung, die Gleichheitsprüfung sei bei Erzeugern und Verbrauchern strenger vorzunehmen als bei anderen Wirtschaftsteilnehmern etwa auf der Ebene des Handels oder der Verarbeitung. Eine solche Auffassung verkenne, dass „auch im ausdrücklich von Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 erfaßten Bereich die Befugnis zu sachgerechten Differenzierungen vom EuGH sehr weit gezogen wird und sich praktisch nur auf ein Willkürverbot beschränkt. Das Erfordernis der Sachgerechtigkeit bzw. der objektiven Rechtfertigung von Differenzierungen muß jedoch für marktordnende Maßnahmen allgemein gelten, gleichgültig, auf welche Produktions- oder Vermarktungsstufe sie sich beziehen.“585 Daher sei die Einbeziehung weiterer 581 Siehe EuGH, Rs. C-280/93, Bundesrepublik Deutschland/Rat der Europäischen Union, 5.10.1994, Slg. 1994, 5039, 5063: „Die gemeinsame Marktorganisation für Bananen faßt Wirtschaftsteilsnehmer zu Gruppen zusammen, die weder Erzeuger noch Verbraucher sind. Wegen der Allgemeinheit des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung gilt das Diskriminierungsverbot jedoch auch für andere Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern, die einer gemeinsamen Marktorganisation unterliegen.“ 582 Vgl. etwa v. Rijn, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 34, Rn. 59; Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 34, Rn. 42. 583 Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG. 584 Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 125.
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Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern in den persönlichen Schutzbereich des landwirtschaftsbezogenen Diskriminierungsverbotes geboten.586 Aufschlussreich sind diese Ausführungen insbesondere insoweit, als die Argumentation maßgeblich auf das Ausmaß gerichtlicher Kontrolldichte abstellt und daraus Rückschlüsse auf den einschlägigen Gleichheitssatz zieht. Es ist somit nicht eine sorgfältige Bestimmung der anzuwendenden gleichheitsrechtlichen Vorschrift, die Aufschluss gibt über das Ausmaß gerichtlicher Kontrolldichte, sondern der Gedankengang verläuft umgekehrt, indem Erwägungen der Prüfungsintensität die Wahl der Rechtsgrundlage beeinflussen. Die derart bewirkte Umgehung des ausdrücklichen Norminhalts von Art. 34 kann auch nicht damit legitimiert werden, dass die Zuordnung einzelner Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern zum allgemeinen oder besonderen Gleichheitssatz als „im Wesentlichen theoretische Fragestellung“587 bezeichnet wird. Zwar mag dies für Einzelfälle im Ergebnis durchaus zutreffend sein. Gleichwohl enthebt es den Anwender und Interpreten des europäischen Primärrechts nicht von der Pflicht, seine rechtlichen Erwägungen auf eine konkrete Rechtsgrundlage zu stellen. Im Blick zu behalten ist weiterhin, dass mit der Wahl der Rechtsgrundlage unter Umständen voneinander abweichende gleichheitsrechtliche Prüfungsanforderungen verbunden sind. Ist deshalb das ausdrücklich verankerte Diskriminierungsverbot im Bereich der Landwirtschaft in persönlicher Hinsicht auf die Gruppen der Verbraucher und Erzeuger zu beschränken, so verbleiben außerhalb des so konturierten Schutzbereichs im Hinblick auf sonstige Gruppen zwei denkbare Möglichkeiten der Inanspruchnahme gleichheitsrechtlichen Schutzes. Zum einen unterfallen diese auch außerhalb der speziellen Ausprägung des Gleichheitssatzes in Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 dem allgemeinen primärrechtlichen Gleichheitssatz. Darüber hinaus kann der Schutzbereich des speziellen landwirtschaftlichen Diskriminierungsverbots eröffnet sein, wenn sich eine Ungleichbehandlung bestimmter Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern, die einer gemeinsamen Marktorganisation unterliegen, zugleich nachteilig auf bestimmte Erzeuger oder Verbraucher auswirkt, was praktisch häufig der Fall sein dürfte.588 Insoweit ist allerdings entscheidend auf die europarechtliche Beurteilung mittelbarer Diskriminierungen abzustellen, deren Behandlung im Verlauf dieser Arbeit noch näher zu untersuchen sein wird.589 585
Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 125 (Hervorhebung S.M.D.). Vgl. Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 124 ff. 587 So Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 34, Rn. 117 f. 588 Vgl. v. Rijn, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 34, Rn. 59. 589 Siehe unten, Vierter Teil, 5. Kapitel. 586
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d) Intensität der Rechtfertigungsanforderungen Die von Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 für den Bereich der Landwirtschaft gewährleistete gleichheitsrechtliche Schutzintensität ist zunächst vor allem durch die grundsätzlich zurückhaltende Rechtfertigungsprüfung des EuGH gekennzeichnet. Danach wird den Organen der Gemeinschaft im Bereich der Landwirtschaft regelmäßig ein relativ weitgehender Gestaltungsspielraum eingeräumt. Als Grund hierfür hat der Gerichtshof auch in jüngerer Zeit wiederholt darauf hingewiesen, dass die Gemeinschaftsorgane bei der Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik komplexe wirtschaftliche Sachverhalte zu beurteilen hätten, weshalb ihnen grundsätzlich ein großer Ermessensspielraum zugestanden werden müsse.590 Daher sei die richterliche Gleichheitskontrolle darauf zu beschränken, ob der handelnden Behörde ein offensichtlicher Irrtum591 oder Ermessensmissbrauch vorzuwerfen ist oder ob sie die Grenzen ihres Ermessensspielraums offensichtlich überschritten habe.592 Zur Kennzeichnung dieser zurückgenommenen Prüfungsintensität greift der EuGH bisweilen auf das Vorliegen „objektiver Kriterien“ oder den Willkürbegriff zurück, etwa wenn er ausführt, dass eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte nur dann als nach Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 verbotene Diskriminierung anzusehen sei, sofern sie sich „als willkürlich darstellt“593. Wie oben gezeigt wurde594, entspricht das solchermaßen verstandene Willkürverbot dem Prüfungsschritt der Geeignetheit im Rahmen des gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes; wenn demnach eine Ungleichbehandlung zur Erreichung oder Förderung des mit ihr verfolgten legitimen Zieles geeignet ist und damit nach „objektiven Kriterien“ erfolgt, kann sie nicht als willkürlich qualifiziert werden. Die zuvor beschriebene Rücknahme gerichtlicher Kontrolldichte hat wegen ihrer geringen Anforderungen an die Rechtfertigung von Differenzie590 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-289/97, Eridania SpA/Azienda Agricola San Luca di Rumagnoli Viannj, 6.7.2000, Rn. 48; Rs. C-56/99, Gascogne Limousin viandes SA/ Office national interprofessionnel des viandes de l’élevage et de l’aviculture (Ofival), 11.5.2000, Rn. 38; Rs. C-375/96, Galileo Zaninotto/Ispettorato Centrale Repressione Frodi – Ufficio di Conegliano – Ministero delle risorse agricole, alimentari e forestali, 29.10.1998, Rn. 46. 591 Zum Begriff des „offensichtlichen Irrtums“ in der Rechtsprechung des EuGH vgl. Rausch, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und -würdigungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, S. 262 f. m. w. N. 592 EuGH, Rs. C-289/97, Eridania SpA/Azienda Agricola San Luca di Rumagnoli Viannj, 6.7.2000, Rn. 49. 593 EuGH, Rs. 106/81, Julius Kind KG/Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 15.9.1982, Slg. 1982, 2885, 2921. 594 Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 2.
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rungen zum Teil vehemente Kritik erfahren. So verweist etwa Barents darauf, dass „basic elements of the CAP have been rendered immune from review in the light of the equality principle“595. Tatsächlich gelangt der EuGH in seiner Rechtsprechung nur selten596 zur Feststellung eines Verstoßes der überprüften Maßnahme gegen das landwirtschaftliche Diskriminierungsverbot des Art. 34. Zumeist beschränkt sich die Prüfung in Übereinstimmung mit dem eingangs Dargelegten auf die Benennung eines legitimen Zieles und der darauf bezogenen Eignung der Maßnahme.597 Diese vermeintlich eindeutige Judikatur erfährt allerdings zunehmend Brechungen, wenn der Schutzbereich des Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 eröffnet ist, die gleichheitsrechtliche Schutzintensität jedoch über das im Bereich der Landwirtschaft eigentlich übliche zurückhaltende Maß hinaus angehoben wird. Hinweise auf eine solche atypische Anhebung der Rechtfertigungsanforderungen enthält etwa das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Karlsson598 vom 13. April 2000. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens war eine schwedische Regelung, die sich auf die Festsetzung der einzelbetrieblichen Referenzmengen für Milch bezog. Im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse dient die Erhebung von Zusatzabgaben bei Überschreitung der zugeteilten Referenzmenge der Einschränkung struktureller Überschüsse auf dem Milchmarkt. Durch die schwedische Regelung wurde insbesondere zwischen drei Gruppen von Erzeugern unterschieden599: Als „reguläre Erzeuger“ galten diejenigen, die ihre Milcherzeugung in den Jahren 1991 bis 1994 nicht erhöht hatten. Hingegen hatten die neuen Erzeuger ihre Lieferungen erst zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen. Zu den ihren Betrieb erweiternden Erzeugern schließlich gehörten jene, die ab 1991 durch bauliche Maßnahmen oder die Erhöhung des Kuhbestands ihre Milcherzeugung ausweiteten. Sowohl von den Klägern des Ausgangsverfahrens als auch von der schwedischen Regierung unbestritten war, dass die neuen Erzeuger und die ihren Betrieb erweiternden Erzeuger gegenüber 595
Barents, CMLR 1997, 811, 841. Ausnahme etwa EuGH, Rs. C-309/89, Codorniu SA/Rat der Europäischen Union, 18.5.1994, Slg. 1994, 1879, 1887 ff. 597 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-507/99, Denkavit Nederland BV/Minister van Landbouw, Natuurbeheer en Visserij und Voedselvoorzieningsin- en verkoopbureau, 8.1.2002, Rn. 44 f.: Vor dem Hintergrund von Informationen über einen möglichen Zusammenhang von BSE und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beschränkte sich der Gerichtshof auf die Feststellung, „daß die Anordnung, die britischen Kälber ungeachtet ihres Alters und ihres Gewichts und damit ohne Rücksicht auf den Gewinn, den der Tierhalter aus ihrem Verkauf erzielen konnte, unverzüglich zu töten, im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung gerechtfertigt war“. 598 EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000. 599 Vgl. EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 15 ff. 596
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den regulären Erzeugern durch die schwedische Rechtslage bei der Festsetzung der Milchquoten benachteiligt wurden.600 In Frage stand hingegen insbesondere die Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2. Zur Beantwortung der ihm vorgelegten Frage nimmt der Gerichtshof eine Gleichheitsprüfung vor, die zunächst der hier vorgestellten Dogmatik entspricht601: Festgestellt wird in einem ersten Schritt, dass sich die neuen und die ihren Betrieb erweiternden Erzeuger gegenüber den regulären Erzeugern in einer vergleichbaren Lage befinden. Im zweiten Schritt wird eine benachteiligende Ungleichbehandlung der ersten beiden Erzeugergruppen konstatiert. Bei der damit entscheidenden Rechtfertigungsprüfung dieser Ungleichbehandlung scheint der EuGH mit seinen Formulierungen jedoch auf strengere Maßstäbe Bezug nehmen zu wollen, als er dies gewöhnlich im Rahmen des landwirtschaftlichen Diskriminierungsverbotes tut: „Die Belastung durch die Festsetzung der Milchquoten unterhalb der vorhandenen Produktionskapazitäten trifft somit einseitig die neuen Erzeuger und die ihren Betrieb erweiternden Erzeuger. Eine solche Begrenzung der Mengen, die im Rahmen der Milchquoten zugelassen werden, ist eine Beschränkung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, die von diesen Erzeugern geltend gemacht werden kann. Nach gefestigter Rechtsprechung kann jedoch die Ausübung dieser Rechte, insbesondere im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation, Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“602 Eine nähere Begründung für den gewählten strengeren Prüfungsmaßstab ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Gleichwohl zeigt die genauere Betrachtung des Falles, dass für die dort zu Grunde gelegte Anhebung der gleichheitsrechtlichen Schutzintensität insbesondere zwei Gründe in Betracht in Betracht zu ziehen sind, von denen einer der bereits untersuchten freiheitsbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes zuzuordnen ist. Erhöhte Anforderungen an die Rechtfertigung der Differenzierung könnten zunächst daraus resultieren, dass die Ungleichbehandlung der neuen und der ihren Betrieb erweiternden Erzeuger in primärrechtlich geschützte Freiheiten eingreift. So beeinträchtigt die benachteiligende Ungleichbehandlung die hiervon betroffenen Kläger etwa in ihrer grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit, indem sie sich zumindest auf die Freiheit der Berufsausübung 600 601 602
EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 42 f. Vgl. EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 43. EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 44 f.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
auswirkt.603 Wie die Untersuchung der freiheitsbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes gezeigt hat604, werden das Gewicht der fraglichen Differenzierung und damit auch das Gewicht der zu stellenden Rechtfertigungsanforderungen erhöht, wenn eine differierende Intensität der freiheitsrechtlichen Betroffenheit beider Vergleichspartner festzustellen ist. Hiervon war im vorliegenden Fall auszugehen, da die regulären Erzeuger zwar ebenfalls dem Milchquotensystem unterlagen, ohne dadurch aber in gleichem Maße in ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit eingeschränkt zu sein.605 Nach der hier vertretenen Konzeption grundrechtlichen Gleichheitsschutzes war demnach eine Anhebung der Prüfungsintensität bereits aus freiheitsrechtlichen Gründen geboten, das Vorgehen des Gerichtshofes mithin aus diesem Blickwinkel durchaus berechtigt. Unter dem Gesichtspunkt komplexer Gleichheit ist jedoch an dieser Stelle von vorrangigem Interesse, ob neben Erkenntnissen aus dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit auch bereichsspezifische Erwägungen für eine striktere Form der Gleichheitsprüfung sprechen könnten. Das Urteil selbst enthält dazu keine ausdrücklichen Aussagen und steht somit stellvertretend für die weitaus überwiegende Zahl von Entscheidungen, in denen die Wahl des jeweiligen Prüfungsmaßstabs vom Gerichtshof nur mit äußerst knappen oder gar keinen Ausführungen bedacht wird.606 Wie eingangs gezeigt, wird den handelnden Gemeinschaftsorganen auf dem Gebiet der Agrarpolitik durch den EuGH regelmäßig ein großer Er603 Allgemein zum Gemeinschaftsgrundrecht der Berufsfreiheit Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 129 ff., insbesondere Rn. 136 (zum Eingriff in die Berufsfreiheit durch Quotensysteme bei der Milchproduktion) sowie Rn. 139 (hinsichtlich der Rechtfertigungsebene). 604 Siehe oben, Vierter Teil, 4. Kapitel, B. 605 Dies galt für beide Berechnungsarten, zwischen denen die neuen und die ihren Betrieb erweiternden Erzeuger wählen konnten, vgl. EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 42 f. 606 Die hieraus resultierenden dogmatischen Unsicherheiten spiegeln sich eindrucksvoll in der zurückhaltenden Zusammenfassung von Priebe in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 34, Rn. 110, der sich dabei auf das landwirtschaftliche Diskriminierungsverbot als spezifischen Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes bezieht: „Soweit der EuGH gemeinschaftliche Regelungen am Maßstab allgemeiner Rechtsgrundsätze prüft, setzt er im Einzelfall auch die Schwerpunkte seiner Prüfung unterschiedlich, indem er bisweilen im Wesentlichen auf das Diskriminierungsverbot abhebt, bei anderer Gelegenheit aber die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit oder grundrechtliche Positionen (Berufsfreiheit, Eigentum) in den Vordergrund der Prüfung rückt.“ Ähnlich Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 181 m. w. N.: „Insbesondere im Bereich der Agrarpolitik betont der EuGH zwar mitunter den weiten Beurteilungsspielraum der Gemeinschaftsorgane, nimmt aber in anderen Entscheidungen selbst in diesem Bereich oft eine im Vergleich zu den Freiheitsrechten intensive Überprüfung der angegriffenen Maßnahme vor“.
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messensspielraum eingeräumt. Dabei handelt es sich um eine grundsätzliche bereichsspezifische Maßstabsmilderung, um ein Herabsetzen der gleichheitsrechtlichen Schutzintensität für den Bereich der Landwirtschaft. Der Grund hierfür wird zutreffend in der umfassenden Vergemeinschaftung dieses wirtschaftlich komplexen Bereichs und den damit verbundenen weitreichenden Regelungsbefugnissen der Gemeinschaftsorgane gesehen607, denen insofern beträchtliche politische Verantwortung zukommt. Handelt es sich demnach letztlich um die bereits aus dem rechtsvergleichenden Teil vertraute allgemeine Problematik des Verhältnisses von politischen Entscheidungsspielräumen und verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte, so drängt sich die Frage auf, ob das Diskriminierungsverbot des Art. 34 seine zuvor beschriebene bereichsspezifische Wirkung gleichermaßen gegenüber den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten entfalten kann, oder ob eine Rücknahme der Kontrolldichte allein im Verhältnis des EuGH zu den Organen der Gemeinschaft geboten ist und agrarbezogene Differenzierungen der Mitgliedstaaten nach einem strengeren Maßstab zu überprüfen sind. Zu klären ist somit die Relevanz des Adressatenkreises für den Inhalt des bereichsspezifischen Gleichheitssatzes gemäß Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2. Adressaten des landwirtschaftlichen Diskriminierungsverbotes sind – trotz des insofern wenig eindeutigen Wortlauts – nicht allein die Gemeinschaftsorgane. Verpflichtet werden darüber hinaus ebenfalls die Mitgliedstaaten, soweit diese, etwa aufgrund von Ermächtigungen durch Gemeinschaftsverordnung, im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik tätig werden.608 Für diese Fälle „abgeleiteter“ Rechtsetzung bei der Ausführung von Gemeinschaftsregelungen hat auch der EuGH609 die Bindung der Mitgliedstaaten an das Diskriminierungsverbot bekräftigt. Danach kann die „dezentrale“ Ausgestaltung der Garantiemengenregelung für Milch zwar selbst dann zulässig sein, wenn den Mitgliedstaaten nach der gemeinschaftsrechtlichen Konzeption umfangreiche Entscheidungsspielräume eingeräumt werden. Sie unterliegen dann jedoch, um eine dergestalt mögliche schrittweise Aushöhlung des Diskriminierungsverbots zu verhindern, ebenfalls den in Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 enthaltenen Anforderungen. Wenn damit das „ob“ der Bindung feststeht, so ist die Schutzintensität des besonderen Gleichheitssatzes in Art. 34 im Hinblick auf die Mitglied607 Vgl. etwa Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 115 f. m. w. N. aus der Rechtsprechung; Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 114; Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 226. 608 v. Rijn, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 34, Rn. 58; Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 34, Rn. 41 m. w. N. 609 EuGH, verb. Rs. 201/85 und 202/85, Marthe Klensch, verw. Kipgen u. a./ Staatssekretär für Landwirtschaft und Weinbau, 25.11.1986, Slg. 1986, 3503, 3507 f.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
staaten nur schwer zu bestimmen. Deutlich wird, dass die bei den Gemeinschaftsorganen für eine allgemeine Maßstabsmilderung angeführten bereichsspezifischen Gründe hier nicht überzeugen können: Während dort der erhebliche Umfang gemeinschaftlicher Regelungsbefugnisse in einem Bereich komplexer wirtschaftspolitischer Erwägungen im Vordergrund steht, so hat sich das Handeln der Mitgliedstaaten beim Vollzug des Agrarrechts in dem Bereich zu halten und jene Grenzen zu respektieren, die durch das sekundäre Gemeinschaftsrecht vorgegeben werden und von Marktorganisation zu Marktorganisation unterschiedlich sein können.610 Der den Mitgliedstaaten im Einzelnen zustehende Gestaltungsspielraum mag damit – wie im Fall der Milchquoten – durchaus beträchtlich sein; im Vergleich zur umfassenden agrarpolitischen Regelungsbefugnis der Gemeinschaftsorgane ist er jedenfalls beschränkt. Diese relative Komplexitätsreduktion zeigt sich insbesondere bei Berücksichtigung der jeweils zu befolgenden rechtlichen Vorgaben. Wie Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 bekräftigt, hat sich der Gemeinschaftsgesetzgeber bei der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte auf die Ziele des Art. 33 zu beschränken. Da sich die dort normierten Zielvorgaben indes teilweise überschneiden und in Widerspruch zueinander geraten können, ist ihre wirtschaftspolitische Gewichtung im Einzelfall Aufgabe des Gemeinschaftsgesetzgebers.611 Dessen Ermessensspielraum wird zudem noch dadurch erweitert, dass trotz des missverständlichen Wortlauts von Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 2 auch weitere Vertragsziele Berücksichtigung finden können. Hierfür spricht nicht zuletzt Art. 33 Abs. 2 lit. c, demzufolge bei Gestaltung der gemeinsamen Agrarpolitik die Tatsache zu berücksichtigen ist, dass die Landwirtschaft in den Mitgliedstaaten einen mit der gesamten Volkswirtschaft eng verflochtenen Wirtschaftsbereich darstellt. Angesichts des solchermaßen umfassend eingeräumten Gestaltungsspielraums eröffnet sich ein weites Feld möglicher Differenzierungsgründe612, zumal der EuGH wiederholt angemerkt hat613, dass der Rat bei Durchführung der gemeinsamen 610 Zur Frage, wie weit der Grundsatz der Nichtdiskriminierung bei der Ausführung von Gemeinschaftsregelungen reicht, siehe auch Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 34, Rn. 113 f. 611 Vgl. Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33, Rn. 12 ff.; Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 137 f. m. w. N. zur Rechtsprechung des EuGH. 612 Zu Beispielen akzeptierter Differenzierungsgründe vgl. Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 233 ff. Siehe auch Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 131 ff., der die möglichen Differenzierungsgründe in drei Fallgruppen unterteilt und sich dabei auf Differenzierungen nach den natürlichen Produktionsbedingungen, auf Gesichtspunkte der Verwaltungsvereinfachung und auf Ungleichbehandlungen aus agrarpolitischen Gründen bezieht.
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Agrarpolitik komplexe wirtschaftliche Sachverhalte zu beurteilen habe und sich sein Ermessen daher nicht ausschließlich auf Art und Inhalt der zu erlassenden Bestimmungen, sondern in bestimmtem Umfang ebenfalls auf die Feststellung der Ausgangsdaten beziehe. Schließlich sind insbesondere die vielfach notwendigen prognostischen614 Elemente agrarmarktbezogener Regelungen auf Gemeinschaftsebene zu betonen. Auch im Hinblick darauf führt die hiermit verbundene Erhöhung von Komplexität zu einer Rücknahme gleichheitsrechtlicher Schutzintensität gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber, worauf auch Boest in seiner Untersuchung der europäischen Agrarmärkte hinweist615: Danach müssen der Kontrolle von Prognosen „enge Grenzen gesetzt sein, insbesondere in den Bereichen, in denen die staatlichen Eingriffe Planungscharakter haben oder – wie in der Landwirtschaft – staatliche Marktordnungen errichtet werden. In diesen Fällen muß die Möglichkeit zu Änderungen und Anpassungen an sich oft sehr kurzfristig wandelnde wirtschaftliche Gegebenheiten erhalten bleiben, so dass auch hier nur eine sehr eingeschränkte gerichtliche Überprüfung in Betracht kommen kann. Ein diesen bereichsspezifischen Besonderheiten entsprechendes ‚judicial self-restraint‘ lässt auch die . . . Rechtsprechung des Gerichtshofes erkennen.“ Gegen ein solch hohes Maß an Zurückhaltung bei der gleichheitsrechtlichen Überprüfung agrarbezogener Maßnahmen der Mitgliedstaaten spricht demgegenüber zunächst, dass sich diese nicht allein an den Zielvorgaben des Art. 33 sowie anderweitigen Zielen des Primärrechts zu orientieren haben. Im Vordergrund stehen vielmehr die sekundärrechtlichen Konkretisierungen dieser Ziele, durch die das Handeln der Mitgliedstaaten in gewisser Weise vorstrukturiert wird, indem es sich am Inhalt der gemeinschaftlichen Vorschriften auszurichten und den damit verfolgten Zweck zu Grunde zu legen hat. Im oben behandelten Urteil in der Rechtssache Karlsson veranlasst das den EuGH folgerichtig dazu, die nationalen schwedischen Milchquotenregelungen an der Rats-Verordnung Nr. 3950/92 über die Erhebung einer Zusatzabgabe im Milchsektor616 zu messen. So stellt der Gerichtshof unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die erste Begründungserwägung der Verordnung fest617, dass die schwedische Festsetzung von Milchquoten unterhalb der vorhandenen Produktionskapazitäten dem von der 613 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-289/97, Eridania SpA/Azienda Agricola San Luca di Rumagnoli Viannj, 6.7.2000, Rn. 48. 614 Vgl. etwa EuGH, verb. Rs. C-267-285/88, Gustave Wuidart/Genossenschaft Laiterie coopérative eupenoise u. a., 21.2.1990, Slg. 1990, 467, 481. 615 Boest, Die Agrarmärkte im Recht der EWG, S. 120. 616 ABl. L 405, S. 1, 31.12.1992. 617 EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 46.
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Gemeinschaft mit einer Zusatzabgabe für Milch verfolgten Ziel diene, die strukturellen Überschüsse abzubauen und zu einem besseren Marktgleichgewicht zu gelangen. Die Maßnahmen dienten daher einem legitimen, im gemeinschaftlichen Sekundärrecht normierten Zweck und waren zu dessen Förderung geeignet. In Übereinstimmung mit der hier vertretenen Ansicht, wonach bei abgeleiteten landwirtschaftsbezogenen Maßnahmen der Mitgliedstaaten eine bereichsspezifisch intensivierte Gleichheitsprüfung vorzunehmen ist, belässt es der Gerichtshof in seiner Entscheidung nicht bei der Prüfung der Geeignetheit, sondern nimmt überdies eine Kontrolle der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vor. Im Ergebnis hält er die benachteiligende Ungleichbehandlung der neuen und der ihren Betrieb erweiternden Erzeuger für objektiv gerechtfertigt618, da diese Erzeuger eine besondere Verantwortlichkeit für die von den schwedischen Behörden festgestellte drohende Überschreitung der Gesamtgarantiemenge treffe. Das Ergebnis des EuGH in der hier exemplarisch untersuchten Rechtssache verdient Zustimmung. Allerdings gründet diese Zustimmung darauf, dass die schwedischen Regelungen – wie vom Gerichtshof angenommen – auch einer intensivierten Verhältnismäßigkeitsprüfung standhielten. In dogmatischer Hinsicht von besonderem Interesse sind dabei die Ursachen für das gerichtlich zu Grunde gelegte gleichheitsrechtliche Schutzniveau. Insoweit allerdings bleibt der EuGH hier wie in den meisten Fällen die Angabe konkreter Gründe für eine Anhebung der Prüfungsintensität schuldig. So bleibt letztlich offen, ob die strengeren Rechtfertigungsanforderungen eher bereichsspezifisch motiviert sind oder ob freiheitsbezogene Erwägungen dominieren. Darüber hinaus ist auch die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass beide Gesichtspunkte für die gerichtliche Festlegung der Schutzintensität von Bedeutung sind – eine solche Lösung entspräche der hier vorgestellten Konzeption des Gleichheitsschutzes, derzufolge im vorliegenden Fall sowohl die Dimension komplexer Gleichheit als auch die freiheitsbezogene Dimension eine Anhebung der gleichheitsrechtlichen Schutzintensität gebieten. Auf Einzelheiten des Zusammenspiels der drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes wird dabei an späterer Stelle zurückzukommen sein. 3. Der geschlechtsbezogene Grundsatz der Entgeltgleichheit nach Art. 141 Abs. 1 und 2 Die Auseinandersetzung mit Fragen der Gleichheit und Gleichbehandlung im Geschlechterverhältnis zählt heute zu jenen gemeinschaftlichen Betätigungsfeldern, denen ein herausragender Stellenwert zukommt.619 Das zeigt 618
EuGH, Rs. C-292/97, Kjell Karlsson u. a., 13.4.2000, Rn. 47.
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sich nicht zuletzt an der Fülle der hierzu ergangenen Entscheidungen des EuGH, den verschiedenen Richtlinien zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern sowie insbesondere den entsprechenden primärrechtlichen Bestimmungen620. Für die Dogmatik des primärrechtlichen Gleichheitssatzes ist vor allem der in Art. 141 Abs. 1 und 2 normierte Grundsatz der Entgeltgleichheit von Bedeutung. Diesen gilt es nachfolgend genauer zu untersuchen, wobei Fragen der sog. „positiven Diskriminierung“ zu Gunsten des unterrepräsentierten Geschlechts hier zunächst unberücksichtigt bleiben, weil sie ein Spezialproblem darstellen, auf dessen Besonderheiten noch gesondert einzugehen sein wird.621 a) Der Grundsatz der Entgeltgleichheit im Überblick Die in Art. 141 Abs. 1 und 2 geregelte Entgeltgleichheit für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit entsprang ursprünglich keiner sozialpolitischen Motivation, sondern verdankt ihre Aufnahme in das gemeinschaftliche Primärrecht einer wettbewerbspolitischen Initiative Frankreichs622, das den Grundsatz gleichen Entgelts bereits 1957 festgeschrieben hatte und aus diesem Grund Wettbewerbsnachteile befürchtete. Im Laufe der Zeit ist die Bestimmung unter maßgeblicher Weiterentwicklung durch die Rechtsprechung des EuGH und mehrere Aktionsprogramme der Kommission zu einem zentralen Bestandteil der Vorschriften über die Sozialpolitik ausgebaut worden.623 Im Zuge dieser Entwicklung hat insbesondere der sachliche Schutzbereich bedeutende Ausweitungen erfahren, während der kriteriale Gehalt der Norm weitgehend unverändert blieb – ein Umstand, der die besondere Normstruktur des Art. 141 Abs. 1, 2 unterstreicht. In bereichsspezifischer Hinsicht bezieht sich der besondere Gleichheitssatz auf das in weitem Sinne zu verstehende Arbeitsentgelt und damit auf die Erwerbssphäre. Für diesen Bereich allein wird mit dem Geschlecht ein Differenzierungskriterium für unzulässig erklärt, ohne dass ausdrückliche Rechtfertigungsmöglichkeiten vorgesehen wären. Nicht zuletzt die Tatsache 619 Einen guten Überblick über die wesentlichen Entwicklungslinien der europäischen Geschlechterpolitik von den Römischen Verträgen bis in die neunziger Jahre gibt Young, Geschlechterpolitik und disziplinierender Neoliberalismus in der Europäischen Union, S. 141 ff. 620 Siehe dazu bereits den Überblick oben, Vierter Teil, 1. Kapitel, A. II., sowie ausführlich gleich im Anschluss. 621 Unten, Vierter Teil, 6. Kapitel. 622 Vgl. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes, S. 208. Zu Entstehungsgeschichte und Hintergrund des Art. 141 siehe Rust, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 141, Rn. 5 ff. 623 Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 3.
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der ausnahmslosen Formulierung des Diskriminierungsverbotes wird zu Recht als Grund dafür betrachtet, an die Rechtfertigung von geschlechtsbezogenen Ungleichbehandlungen im Bereich des Arbeitsentgelts hohe Anforderungen zu stellen und etwaige Bestrebungen, die gleichheitsrechtliche Schutzintensität der Bestimmung herabzusetzen, sorgfältig auf ihre Berechtigung zu überprüfen.624 Bei der Untersuchung des von der Norm vermittelten grundrechtlichen Gleichheitsschutzes sind daher kriterienspezifisch und bereichsspezifisch motivierte Erwägungen voneinander zu trennen; erst diese strukturelle Unterscheidung ermöglicht es, unterschiedliche Argumentationslinien für die Bestimmung der Rechtfertigungsanforderungen hinreichend deutlich aufzuzeigen. Ein Beispiel mag das zuvor Dargestellte näher erläutern. In seiner Rechtsprechung zur Entgeltgleichheit neigt der EuGH in besonderem Maße zur weitgehend begründungsfreien Formulierung des Prüfungsniveaus, etwa wenn er Ungleichbehandlungen durch den Arbeitgeber für gerechtfertigt erklärt, soweit diese „einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens entsprechen und für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich“625 sind, oder wenn er bei staatlichen Differenzierungen danach fragt, ob das gewählte Mittel einem legitimen Ziel der Sozialpolitik des Mitgliedstaates dient und zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist. Angesichts der damit angesprochenen, in jüngerer Zeit von Bieback626 analysierten und als unklar und uneinheitlich kritisierten Rechtfertigungsprüfung des EuGH stellt sich die dringliche Aufgabe, plausible Argumente für die primärrechtlich gebotene Intensität der Rechtfertigungsanforderungen anzugeben. Solche Argumente könnten sich zunächst – kriterienspezifisch – aus Erwägungen zu dem in Art. 141 Abs. 1, 2 verankerten grundsätzlich verbotenen Unterscheidungsmerkmal des Geschlechts selbst ergeben. Hierzu zählen etwa Folgerungen, die sich für die Gleichheitsprüfung aus der individuellen Unbeeinflussbarkeit des Differenzierungskriteriums ergeben627 oder generelle Überlegungen zum primärrechtlichen Stellenwert der Geschlechtergleichbehandlung. Argumente für die Anhebung oder Absenkung der gleichheitsrechtlichen Schutzintensität können jedoch auch bereichsspezifischer Natur sein, so etwa bei der Annahme kompetenziell begründeter strengerer Anforderungen an die Entgeltgleichheit im Bereich des Arbeitsrechts im Unterschied zu 624 In diese Richtung etwa Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 139. 625 EuGH, Rs. C-381/99, Susanna Brunnhofer/Bank der österreichischen Postsparkasse AG, 26.6.2001, Rn. 67. 626 Bieback, Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, S. 95 ff. 627 Dazu oben, Vierter Teil, 4. Kapitel, A. III. 2.
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Fällen der Entgeltgleichheit auf dem Gebiet des Sozialrechts.628 Die vorliegende Untersuchung geht dabei nicht von einer prinzipiellen Vorrangstellung kriterienorientierter oder bereichsspezifisch motivierter Begründungen aus; primärrechtliche Anhaltspunkte für eine solche generelle Präponderanz sind nicht ersichtlich. Nach der hier vertretenen Auffassung gehört jedoch zu den unabdingbaren dogmatischen Voraussetzungen der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung die genaue Herausarbeitung und Offenlegung dieser einzelnen die Schutzintensität berührenden Wertungsgesichtspunkte. Dabei kann es durchaus dazu kommen, dass etwa kriteriale Erwägungen für eine Anhebung der Rechtfertigungsanforderungen sprechen, bereichsspezifische Gründe hingegen verfassungsgerichtliche Zurückhaltung nahe legen. In solchen Fällen sind Ausgleich und Gewichtung gegenläufiger Tendenzen der Bestimmung gleichheitsrechtlicher Prüfungsanforderungen vorgelagert. Die Anwendung des gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert somit zunächst Trennung und Bewertung jener auf Kriterien oder Bereiche bezogenen Umstände, die den Umfang gerichtlicher Kontrolldichte beeinflussen können. Wie streng oder zurückhaltend die Gleichheitsprüfung schließlich vorzunehmen ist, bildet demnach das Ergebnis, nicht den Ausgangspunkt der angestellten Überlegungen und setzt so die Berücksichtigung der nachfolgend untersuchten Faktoren voraus. b) Sachlicher Schutzbereich Im Zentrum des sachlichen Schutzbereiches von Art. 141 Abs. 1, 2 steht der Begriff des „Entgelts“. Nach Absatz 2 umfasst dieser die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie sonstige Vergütungen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt, soweit sie zumindest mittelbar aufgrund des Arbeitsverhältnisses gewährt werden. Da die Bestimmung somit auf die Gleichheit des Entgelts beschränkt ist und sich nicht auch auf sonstige Arbeitsbedingungen erstreckt, hat sich der EuGH mit der inhaltlichen Reichweite des Entgeltbegriffes in einer großen Zahl von Entscheidungen auseinandersetzen müssen, um die Anwendbarkeit des Art. 141 zu klären.629 Der sachliche Schutzbereich ist dabei durch die weite Auslegung des Entgeltbegriffes in erheblichem Maße ausgedehnt worden. Er umfasst unter anderem die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall630, Leistungen nach der Pen628 Vgl. Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 281 f. im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH; näher dazu gleich im Anschluss. 629 Umfangreiche Nachweise bei Rust, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 141, Rn. 379 ff. 630 EuGH, Rs. C-66/96, Handels- og Kontorfunktionærernes Forbund i Danmark/ Fælles-foreningen for Danmarks Brugsforeninger, 19.11.1998, Rn. 32.
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sionierung, auf die kein vertraglicher Anspruch besteht631, Entschädigungsleistungen beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis als „eine Art aufgeschobenen Entgelts“632 oder Leistungen im Falle der Arbeitslosigkeit633. Gegenstand zahlreicher Entscheidungen zu Art. 141 sind Fragen nach der Einbeziehung von Leistungen der betrieblichen Sozialversicherung. Besondere Aufmerksamkeit fand dabei das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Barber634. Der Angestellte Barber gehörte einem ausschließlich vom Arbeitgeber finanzierten Versorgungssystem an, das an die Stelle des gesetzlichen Rentensystems trat. Aus betrieblichen Gründen wurde Barber im Alter von 52 Jahren entlassen. Er erhielt indes keine Betriebsrente, weil Männer diese erst mit 55 Jahren in Anspruch nehmen konnten, Frauen hingegen bereits mit 50 Jahren. Barber sah sich aufgrund seines Geschlechts benachteiligt und klagte, das englische Gericht legte dem EuGH daraufhin die Frage nach der Vereinbarkeit der Betriebsrentenbestimmung mit dem Grundsatz der Entgeltgleichheit vor. In seinem Urteil bekräftigt der Gerichtshof die Unterscheidung zwischen betrieblichen und gesetzlichen Leistungen der Sozialversicherung. Danach stellt die betriebliche Altersversorgung ein „Entgelt“ im Sinne des Art. 141 dar.635 Hingegen fallen unmittelbar durch Gesetz geregelte Sozialversicherungssysteme oder -leistungen, insbesondere Altersrenten, nach ständiger Rechtsprechung nicht unter den Begriff des Entgelts.636 631 EuGH, Rs. 12/81, Eileen Garland/British Rail Engineering Limited, 9.2.1982, Slg. 1982, 359, 369 f. 632 EuGH, Rs. C-167/97, Regina/Secretary of State for Employment, 9.2.1999, Rn. 25 m. w. N. 633 EuGH, Rs. C-173/91, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Königreich Belgien, 17.2.1993, Slg. 1993, 693, 697 ff. 634 EuGH, Rs. C-262/88, Douglas Harvey Barber/Guardian Royal Exchange Assurance Group, 17.5.1990, Slg. 1990, 1944. Zu Inhalt und Kontext dieser Entscheidung vgl. aus jüngerer Zeit Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 589 ff. 635 EuGH, Rs. C-262/88, Douglas Harvey Barber/Guardian Royal Exchange Assurance Group, 17.5.1990, Slg. 1990, 1944, 1950 ff. 636 EuGH, Rs. C-50/99, Jean-Marie Podesta/Caisse de retraite par répartition des ingénieurs cadres & assimilés (CRICA) u. a., 25.5.2000, Rn. 24 m. w. N. Vgl. bereits die Begründung des EuGH in der Rs. 80/70, Gabrielle Defrenne/Belgischer Staat, 25.5.1971, Slg. 1971, 445, 452, derzufolge „unmittelbar durch Gesetz geregelte, keinerlei vertragliche Vereinbarungen innerhalb des Unternehmens oder in dem betroffenen Gewerbezweig zulassende Sozialversicherungssysteme oder -leistungen, insbesondere Altersrenten, die zwingend für allgemein umschriebene Gruppen von Arbeitnehmern gelten, nicht in den Entgeltbegriff einbezogen werden [können], wie er in Art. 119 begrenzt ist. Denn diese Regelungen sichern den Arbeitnehmern Ansprüche aus gesetzlichen Systemen, an deren Finanzierung Arbeitnehmer, Arbeitgeber und gegebenenfalls die öffentliche Hand in einem Maße beteiligt sind, das weniger vom Dienstverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als von sozialpolitischen Erwägungen abhängt“.
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Die ohnehin problematische Grenzziehung zwischen den beiden Elementen wurde allerdings im Fall Barber zusätzlich dadurch erschwert, dass hier eine besonders enge Verbindung zwischen betrieblichem und staatlichem Sozialversicherungssystem bestand637, da das fragliche Betriebrentensystem nur aufgrund des Vorliegens gesetzlich normierter Voraussetzungen an die Stelle des gehaltsbezogenen Anteils der staatlichen Altersversorgung treten konnte. Im Einzelnen formulierte der EuGH drei Anforderungen, die den Anwendungsbereich des Art. 141 auch für diese Art der betrieblichen Altersversorgung eröffnen638: Zum einen werde die Betriebsrente ohne staatliche Zuschüsse geleistet und beruhe auf einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Zweitens gelte der Anspruch nicht für allgemein umschriebene Gruppen von Arbeitnehmern, sondern beziehe sich nur auf Angestellte des konkreten Unternehmens. Schließlich sei wie bei ergänzenden betrieblichen Zusatzpensionen die Möglichkeit gegeben, dass die Betriebsrente über den Umfang der staatlichen Altersversorgung hinausgehe. Insgesamt stünden damit nicht allgemeine sozialpolitische Erwägungen im Vordergrund, sondern das Dienstverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer; der Begriff des Entgelts sei danach auch auf solche die gesetzliche Altersversorgung ersetzenden Betriebsrenten zu erstrecken. Mit der Ausweitung des sachlichen Schutzbereiches von Art. 141 Abs. 1, 2 drohten auf eine Vielzahl von Betrieben massive finanzielle Forderungen zuzukommen und das komplizierte nationalstaatliche Geflecht betrieblicher und gesetzlicher Pensionsregelungen in erheblichem Maße beeinflusst zu werden. Die Wirkung des Urteils wurde daher hinsichtlich seiner zeitlichen Wirkung begrenzt, indem der EuGH die rückwirkende Anwendung des Grundsatzes der Entgeltgleichheit auf Modelle der betrieblichen Altersvorsorge deutlich einschränkte639 und damit nicht unbeträchtliche Nachfolgeprobleme640 aufwarf. Angesichts der vielfach mit Skepsis aufgenommenen weiten Auslegung des Anwendungsbereichs von Art. 141 und verbleibenden Unklarheiten bezüglich dessen zeitlicher Wirkung entschlossen sich die Regierungen der Mitgliedstaaten schließlich zu einem drastischen Schritt und verabschiedeten im Rahmen des Vertrages von Maastricht das so genannte „Barber-Protokoll“641. Danach „gelten Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit nicht als Entgelt“, sofern und soweit sie auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990, den Tag des Erlasses 637
Vgl. Langenfeld, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 141, Rn. 48. Vgl. EuGH, Rs. C-262/88, Douglas Harvey Barber/Guardian Royal Exchange Assurance Group, 17.5.1990, Slg. 1990, 1944, 1951 f. 639 EuGH, Rs. C-262/88, Douglas Harvey Barber/Guardian Royal Exchange Assurance Group, 17.5.1990, Slg. 1990, 1944, 1955 f. 640 Vgl. Langenfeld, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 141, Rn. 70 ff. 641 Dazu Coen, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 62. 638
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des Barber-Urteils, zurückgeführt werden können, es sei denn, dass bereits vor diesem Zeitpunkt eine entsprechende Klage anhängig gemacht wurde. In den Nachfolgefällen642 zum Grundsatzurteil Barber hat der EuGH seine Rechtsprechung im Wesentlichen bestätigt und weiter konkretisiert, ohne dabei die extensive Schutzbereichsinterpretation zurückzunehmen. So entschied der Gerichtshof in der Rechtssache Ten Oever643, dass Art. 141 alle Versorgungsleistungen der betrieblichen Altersversorgung umfasse und damit auch auf betriebliche Hinterbliebenenrenten Anwendung finde. Bekräftigung fand diese Auffassung in der Entscheidung Moroni644, mit der auch jene Betriebsrenten erfasst wurden, die die gesetzliche Rente lediglich ergänzen und nicht ersetzen. Welches beträchtliche Ausmaß dem sachlichen Schutzbereich der Entgeltgleichheit mittlerweile zugesprochen wird, verdeutlicht schließlich das umstrittene Urteil in der Rechtssache Bötel645, in dem es um eine teilzeitbeschäftigte Betriebsratsvorsitzende ging, die an Schulungsveranstaltungen für die Betriebsratsarbeit teilgenommen hatte. Nach dem deutschen Betriebsverfassungsgesetz war der Arbeitgeber lediglich verpflichtet, die Betriebsratsmitglieder ohne Minderung des Arbeitsentgelts von ihrer beruflichen Tätigkeit zu befreien. Für die außerhalb ihrer individuellen Arbeitszeit absolvierten Fortbildungsstunden erhielt Frau Bötel daher keine Vergütung, während den vollzeitbeschäftigten Teilnehmern der Fortbildung entsprechend ihrer Arbeitszeit volle Vergütung gezahlt wurde. Obwohl das deutsche Betriebsverfassungsgesetz damit auf dem Gedanken der Unentgeltlichkeit der Betriebsratsarbeit beruhte, bezog sich der EuGH nicht auf die Freistellung von der Arbeit, sondern stellte maßgeblich auf die fortgezahlte Vergütung ab. Auf diese „Vergütung“ erstreckte er den Anwendungsbereich des Art. 141; im Ergebnis müssen daher teilzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder auch für entsprechende Veranstaltungen außerhalb ihrer individuellen Arbeitszeit entlohnt werden, um Entgeltgleichheit gegenüber den vollzeitbeschäftigten Mitgliedern des Betriebsrates zu gewährleisten. Trotz der deutschen Konzeption des Betriebsratsamtes als Ehrenamt gelangt der Gerichtshof somit über die äußerst großzügige Auslegung des Entgeltbegriffes letztlich zu einer Zahlungsverpflichtung des Arbeitgebers und droht auf diesem Wege, so der Vorwurf des deutschen Arbeitsministeriums, 642 Einen Überblick über die sog. „Barber-Nachfolgefälle“ gibt Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 91 f. 643 EuGH, Rs. C-109/91, Gerardus Cornelis Ten Oever/Stichting Bedrijfspensioenfonds voor het Glazenwassers-en Schoonmaakbedrijf, 6.10.1993, Slg. 1993, 4939. 644 EuGH, Rs. C-110/91, Michael Moroni/Collo GmbH, 14.12.1993, Slg. 1993, 6609. 645 EuGH, Rs. C-360/90, Arbeiterwohlfahrt der Stadt Berlin e. V./Monika Bötel, 4.6.1992, Slg. 1992, 3607.
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das nationale Betriebsverfassungsgesetz „auf den Kopf zu stellen“646. Im Zusammenhang mit der Entscheidung Bötel und dem daran anknüpfenden Urteil in der Rechtssache Lewark647 wird denn auch vehemente Kritik geäußert, die sich insbesondere auf die Ausweitung des sachlichen Schutzbereiches bezieht und die Brisanz einer solchen Bereichsausdehnung verdeutlicht: Die Rede ist von einer „schwarzen Serie“648 des EuGH im Arbeitsrecht, von einer „schlechterdings nicht nachvollziehbaren“649 oder zumindest „bedenklichen“650 Entscheidung Bötel; insgesamt werde der Entgeltbegriff in der Rechtsprechung des Gerichtshofes an seine „äußersten Grenzen herangeführt“651. Auch Generalanwalt Jacobs hat in der Rechtssache Lewark zutreffend angemerkt, dass von einem Entgelt hier nur noch „im weitesten Sinne des Wortes“652 ausgegangen werden könne. Als Korrektiv nahm er daher eine umfangreichere Rechtfertigungsmöglichkeit für entgeltbezogene Ungleichbehandlungen an653, als dies der EuGH schließlich in seiner Urteilsbegründung anerkannte. Auf die damit angesprochenen Unklarheiten über die Rechtfertigungsanforderungen im Rahmen von Art. 141 Abs. 1, 2 wird im Einzelnen bei der Diskussion der Schutzintensität des Grundsatzes der Entgeltgleichheit zurückzukommen sein. c) Persönlicher Schutzbereich Zwar richtet sich Art. 141 Abs. 1 dem Wortlaut nach allein an die Mitgliedstaaten. Der EuGH654 hat jedoch schon früh erklärt, dass der Grundsatz der Entgeltgleichheit nicht allein zwischen Mitgliedstaat und Arbeitnehmer unmittelbare Geltung beanspruche, sondern auch zwischen Einzelpersonen, das heißt im Verhältnis Arbeitnehmer-Arbeitgeber unmittelbare Wirkung entfaltet.655 Arbeitnehmer können sich demnach auch bei abweichendem nationalen Recht vor den Gerichten des Mitgliedstaates direkt auf 646
Vgl. Junker, NJW 1994, 2527, 2528. EuGH, Rs. C-457/93, Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e. V./ Johanna Lewark, 6.2.1996, Slg. 1996, 260. 648 Junker, NJW 1994, 2527 f. 649 Sowka, DB 1992, 2030, 2032. 650 Schiefer/Erasmy, DB 1992, 1482, 1484. 651 Kischel, EuGRZ 1997, 1, 2. 652 Generalanwalt Jacobs, Rs. C-457/93, Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e. V./Johanna Lewark, 29.6.1995, Slg. 1996, 245, 250. 653 Generalanwalt Jacobs, Rs. C-457/93, Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e. V./Johanna Lewark, 29.6.1995, Slg. 1996, 245, 257 f. 654 EuGH, Rs. 43/75, Gabrielle Defrenne/Société anonyme belge de navigation aérienne Sabena, 8.4.1976, Slg. 1976, 455, 476. 655 Vgl. dazu Rust, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 141, Rn. 45 ff. 647
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das primärrechtlich verankerte Gebot der Entgeltgleichheit berufen. Ein solcher Entgeltgleichheitsanspruch besteht unabhängig davon, auf wen der mögliche Verstoß gegen diesen Grundsatz zurückzuführen ist, in Betracht kommen daher sowohl der Arbeitgeber als auch Mitgliedstaaten oder etwa Tarifvertragsparteien.656 In persönlicher Hinsicht umfasst der Anwendungsbereich des Art. 141 somit die Arbeitnehmer. Er beschränkt sich dabei indes nicht auf Angehörige eines Mitgliedstaates, sondern erstreckt sich auf alle innerhalb des Gemeinschaftsgebietes tätigen Personen.657 Zudem muss der Arbeitnehmer nicht zwingend zugleich Empfänger der Leistung sein. Auf den Grundsatz der Entgeltgleichheit berufen können sich daher auch jene, deren geltend gemachte Ansprüche in unmittelbarem Zusammenhang mit einer von Art. 141 erfassten Ungleichbehandlung stehen, so zum Beispiel bei der Geltendmachung einer diskriminierend vorenthaltenen Hinterbliebenenrente.658 Insgesamt betrachtet ist der persönliche Schutzbereich allerdings nur in deutlich geringerem Maße als der sachliche Schutzbereich interpretativ ausgedehnt worden, sein Gehalt nicht zuletzt deshalb vergleichsweise unproblematisch zu bestimmen. d) Differenzierungskriterium Geschlecht Wie gesehen, sind sachlicher und persönlicher Schutzbereich der Entgeltgleichheit nicht unwesentlich von Art und Umfang der Auslegung durch den EuGH bestimmt. Anderes wurde hingegen lange Zeit für das in Art. 141 untersagte Differenzierungskriterium angenommen: Aufgrund der vermeintlichen Eindeutigkeit des Merkmals Geschlecht galt dieses zunächst generell als nicht interpretationsbedürftig. Generalanwalt Tesauro hat auf diesen Umstand in pointierter Form hingewiesen, als er ausführte: „Ich bin mir natürlich bewusst, daß man sich schon immer darauf beschränkt hat, das Geschlecht festzustellen, ohne daß dazu eine rechtliche Definition erforderlich gewesen wäre. Das Recht liebt keine Mehrdeutigkeiten, und es ist sicher einfacher, in Begriffen von Adam und Eva zu argumentieren.“659 Erst in jüngerer Zeit sind, durch neue medizinisch-biologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse gestützt, verstärkt Einwände gegen diese traditio656
Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 15. Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 43 ff. 658 EuGH, Rs. C-109/91, Gerardus Cornelis Ten Oever/Stichting Bedrijfspensioenfonds voor het Glazenwassers-en Schoonmaakbedrijf, 6.10.1993, Slg. 1993, 4939. 659 Generalanwalt Tesauro, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 14.12.1995, Slg. 1996, 2145, 2153. 657
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nelle Auffassung des Geschlechts erhoben worden.660 Gleichwohl zeigt ein Blick auf die europarechtlichen Kommentierungen des Art. 141, dass trotz der dort geforderten „Gleichheit des Arbeitsentgelts ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“ Fragen unmittelbar zum Differenzierungskriterium selbst bislang kaum eine Rolle spielten. Erste Anhaltspunkte für die Relevanz dieses Themas finden sich indes in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH. So hatte sich der Gerichtshof in der Rechtssache P. gegen S.661 vom 30. April 1996 mit der rechtlichen Bewertung von Transsexualismus vor dem Hintergrund einer möglichen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auseinander zu setzen. Das zu Recht als bedeutend eingeschätzte Urteil662 hat die Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG663 zum Inhalt, die sich auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen bezieht. Auch wenn es damit nicht um originäre Fragen des Primärrechts ging, so steht im Mittelpunkt der Entscheidung das in der Richtlinie enthaltene Verbot der „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“664 als besonderer Ausprägung des primärrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, P., war Geschäftsführer in einer Bildungseinrichtung des Cornwall County Council. Nachdem sie ihre Absicht bekundet hatte, sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, wurde ihr fristgemäß gekündigt. Wie aus dem Vorlagebeschluss ersichtlich, bestand der wahre Grund für ihre Entlassung in der geplanten Umwandlung des Geschlechts, wenngleich der Arbeitgeber zu Recht auf einen innerhalb der Einrichtung bestehenden Personalüberhang hingewiesen hatte. Zu klären war nun, ob die Entlassung einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie darstellte, in dem es heißt: „Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen beinhaltet, daß Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gewährt werden.“ 660 Siehe etwa Fausto-Sterling, Sex and Gender: Dichotomy or Continuum? – The Five Sexes: Why Male and Female Are Not Enough, S. 24 ff. 661 EuGH, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 30.4.1996, Slg. 1996, 2159. 662 Vgl. etwa die ausführliche Besprechung von Barnard, P v. S: Kite Flying or a New Constitutional Approach?, S. 59 ff. 663 Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. L 39, S. 40, 14.2.1976. 664 Siehe Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 76/207/EWG.
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Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission verneinten einen entsprechenden Verstoß mit der Begründung, dass die Entlassung von P. wegen ihres Transsexualismus keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle. Auch Generalanwalt Tesauro konstatierte, dem Wortlaut nach scheine sich das Diskriminierungsverbot allein auf die traditionelle Dichotomie Mann/Frau zu beziehen.665 Nachdrücklich weist der Generalanwalt jedoch auf den kriterialen Schutzgehalt des Diskriminierungsverbotes hin, dessen Inhalt nicht darauf beschränkt sein könne „daß das Recht eine Frau berücksichtigt und schützt, die gegenüber einem Mann diskriminiert wird, und umgekehrt, diesen Schutz aber demjenigen versagt, der, wieder aufgrund des Geschlechts, ebenfalls diskriminiert wird, und zwar nur deshalb, weil er außerhalb der traditionellen Einteilung Mann/Frau steht“666. Der EuGH667 hat sich dieser Auffassung in seiner Entscheidung angeschlossen und betont, die Entlassung einer Person wegen ihrer Geschlechtsumwandlung stelle eine Diskriminierung dar, die „hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich“ auf dem Geschlecht des Betroffenen beruhe. Dabei hebt der Gerichtshof vor allem die besondere grundrechtliche Bedeutung hervor, die dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung aufgrund des Geschlechts zukomme. Würden Diskriminierungen wie die vorliegende gemeinschaftsrechtlich toleriert, so berühre dies die Achtung der Würde und der Freiheit der hiervon betroffenen Person.668 Die weite Auslegung wird so mit der ausdrücklichen Berücksichtigung des intensiven Grundrechtsbezuges zusätzlich gestützt. Wie die Rechtssache P. gegen S. verdeutlicht, ist der kriterienspezifische Gehalt geschlechtsbezogener Diskriminierungen nicht mehr durchgängig auf die traditionelle Dichotomie Mann/Frau beschränkt. Diese Entwicklung zu einer gewissen „Randunschärfe“ des Differenzierungskriteriums Geschlecht ist bislang zweifellos auf wenige Gesichtspunkte beschränkt, die zudem statistisch gesehen von untergeordneter Relevanz sein mögen.669 Sie fällt jedoch in auffälliger Weise mit humantechnologisch bedingten Ent665 Generalanwalt Tesauro, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 14.12.1995, Slg. 1996, 2145, 2152. 666 Generalanwalt Tesauro, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 14.12.1995, Slg. 1996, 2145, 2153. 667 Vgl. EuGH, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 30.4.1996, Slg. 1996, 2159, 2165. 668 EuGH, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 30.4.1996, Slg. 1996, 2159, 2165. 669 Das gilt etwa für den Transsexualismus, auf dessen statistisch geringe Bedeutung Generalanwalt Tesauro in seinen Schlussanträgen unter Bezugnahme auf die von der Klägerin vorgelegten Angaben hinweist: Danach beabsichtigten in Europa eine von 30.000 männlichen und eine von 100.000 weiblichen Personen eine Umwandlung des Geschlechts im Wege eines operativen Eingriffes, vgl. Generalanwalt
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wicklungen zusammen, die das Verständnis vom Geschlecht als einem generell eindeutigen und unwandelbaren Merkmal zunehmend erschüttern.670 Als Folge dieses Prozesses wird jedoch nicht allein das Geschlechtskriterium selbst einem dem Inhalt nach bislang kaum abschätzbaren Bedeutungswandel ausgesetzt, sondern auch die rechtlichen Vergleichsparameter. Gleichheitsrechtlich verlieren letztere damit in dem Maße an Konturen, in dem das Unterscheidungskriterium selbst an Trennschärfe einbüßt. Der bislang wenig beachtete Umstand kommt auch in der zuvor beschriebenen Entscheidung zum Ausdruck und äußert sich in den Unsicherheiten über die gebotene Vergleichsgruppe. So wurde von der Regierung des Vereinigten Königreichs das Vorliegen einer Diskriminierung mit der Begründung ausgeschlossen, P. wäre auch dann entlassen worden, wenn sie eine Frau gewesen wäre und sich zu einer Geschlechtsumwandlung entschlossen hätte, um ein Mann zu werden.671 Nach dieser Argumentation fehlt es deshalb an einer geschlechtsbezogenen Diskriminierung, da die „transsexuelle Frau“ ebenso (schlecht) behandelt werde wie der „transsexuelle Mann“.672 Der Generalanwalt äußerte hierzu schlicht, die beschriebene Auffassung könne ihn nicht überzeugen, wenngleich nicht auszuschließen sei, dass P. auch beim Wechseln vom weiblichen zum männlichen Geschlecht entlassen worden wäre673. Der EuGH wiederum ging auf das Vorbringen der britischen Regierung erst gar nicht ausdrücklich ein. Vielmehr fasste er seine die Transsexualität umfassende Auslegung geschlechtsbezogener Ungleichbehandlungen in der Formulierung zusammen: „Wenn also eine Person entlassen wird, weil sie beabsichtigt, sich einer Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, oder sich ihr bereits unterzogen hat, wird sie im Vergleich zu den Angehörigen des Geschlechts, dem sie vor dieser Operation zugerechnet wurde, schlechter behandelt.“674 In der Folgezeit hat der Gerichtshof das Differenzierungskriterium Geschlecht trotz der abweichenden Auffassung des Generalanwalts Elmer675 Tesauro, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 14.12.1995, Slg. 1996, 2145, 2148 f. 670 Vgl. hierzu bereits oben, Vierter Teil, 4. Kapitel, A. III. 2. d). 671 Vgl. EuGH, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 30.4.1996, Slg. 1996, 2159, 2164. 672 Vgl. Generalanwalt Tesauro, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 14.12.1995, Slg. 1996, 2145, 2153 f. Zum sog. „false symmetry approach“, demzufolge beide Vergleichspartner gleichermaßen schlecht behandelt werden, siehe auch Barnard, P v. S: Kite Flying or a New Constitutional Approach?, S. 60 f. m. w. N. 673 Generalanwalt Tesauro, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 14.12.1995, Slg. 1996, 2145, 2153 f. 674 EuGH, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 30.4.1996, Slg. 1996, 2159, 2165.
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nicht über die Gruppe der Transsexuellen hinaus auf die zahlenmäßig weitaus bedeutendere Gruppe der Homosexuellen ausgedehnt.676 Danach sind Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts von Diskriminierungen aufgrund der geschlechtlichen Orientierung zu unterscheiden; für eine solche Auffassung spricht auch Art. 13 mit seinem Katalog unterschiedlicher Diskriminierungsgründe, gegen die der Rat im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten tätig werden kann. Die durch den Vertrag von Amsterdam eingefügte Vorschrift unterscheidet dabei ausdrücklich zwischen Diskriminierungen aus „Gründen des Geschlechts“ und solchen aufgrund der „sexuellen Ausrichtung“. Insgesamt wird daher zu Recht von der Entscheidung P. gegen S. als einer Grenzlinie677 gesprochen, die den Bereich zulässiger richterlicher Normauslegung von der dem Gesetzgeber vorbehaltenen und verfassungsgerichtlich zu respektierenden Gestaltungsfreiheit trennt, soweit es um die Durchsetzung des Verbots geschlechtsbezogener Diskriminierungen geht. Zusammenfassend bleibt an dieser Stelle hinsichtlich des Differenzierungskriteriums Geschlecht gleichwohl festzuhalten, dass dessen Gehalt trotz der beschriebenen tatsächlichen und rechtlichen Entwicklungslinien ebenso wie der persönliche Schutzbereich der Entgeltgleichheit relativ klar umgrenzt ist, während der sachliche Schutzbereich wie gesehen für interpretatorische Ausdehnungen weitaus stärker zugänglich ist. Verursachen die Unsicherheiten über die genaue Reichweite des verbotenen Unterscheidungsmerkmals jedoch wie dargelegt in erster Linie Probleme bei der Festlegung der Vergleichspartner678, so wirft die Ausweitung des sachlichen Schutzbereiches insbesondere Fragen nach dem Umfang der Rechtfertigungsmöglichkeiten und damit nach der gleichheitsrechtlich gewährleisteten Schutzintensität auf. e) Intensität der Rechtfertigungsanforderungen Entgeltbezogene Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts können trotz des in Art. 141 Abs. 1, 2 aufgestellten Grundsatzes gerechtfertigt werden. Dabei überlässt es der EuGH regelmäßig den nationalen Gerichten, die Prüfung der Rechtfertigung vorzunehmen. Allerdings hat der Gerichtshof in 675 Generalanwalt Elmer, Rs. C-249/96, Lisa Jacqueline Grant/South-West Trains Ltd, 30.9.1997, Slg. 1998, 623. 676 EuGH, Rs. C-249/96, Lisa Jacqueline Grant/South-West Trains Ltd, 17.2.1998, Slg. 1998, 636, 646 ff. 677 So Rust, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 141, Rn. 468. 678 Ausführlich zur Vergleichbarkeit von Sachverhalten oben, Vierter Teil, 3. Kapitel, A.
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einer nicht unerheblichen Anzahl von Entscheidungen durchaus verengende Anhaltspunkte für die an eine Ungleichbehandlung zu stellenden Rechtfertigungsanforderungen gegeben. Gegenstand dieser Entscheidungen waren durchweg Fälle, in denen es um Fragen der mittelbaren Diskriminierung ging. Nach ständiger Rechtsprechung stellt eine geschlechtsunspezifisch formulierte Regelung dann eine mittelbare Diskriminierung dar, wenn sie tatsächlich einen wesentlich höheren Anteil von Frauen als Männern (oder umgekehrt) benachteiligt, sofern diese unterschiedliche Behandlung nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.679 Damit wird die fehlende Rechtfertigung zu einer Voraussetzung680 für das Vorliegen mittelbarer Diskriminierungen, auf deren übrige dogmatische Besonderheiten weiter unten681 einzugehen ist, da sie grundsätzliche Fragen aufwerfen, die weit über das Kriterium des Geschlechts hinausreichen. An dieser Stelle geht es zunächst allein um die Rechtfertigungsebene und in deren Zentrum steht die vom EuGH ständig wiederholte Formulierung der Rechtfertigung durch „objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben“. Der nähere Gehalt dieser Formel ist bislang weitgehend ungeklärt. Dort wo eine genauere Explikation der gerichtlichen Anforderungen zu geben versucht wird, mündet der Versuch vielfach in einer Kritik an der Vagheit und fehlenden Eindeutigkeit der Rechtsprechung des EuGH.682 In aufschlussreicher Weise hat Generalanwalt Saggio683 in jüngerer Zeit den Inhalt der Rechtsfertigungsanforderungen konkretisiert und dabei deren Wurzeln im Grundsatz gleichheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit ausgemacht, wie er oben684 untersucht worden ist. Der Generalanwalt prüfte, ob eine Ungleichbehandlung von zwei Arbeitnehmergruppen durch objek679
Vgl. etwa EuGH, Rs. 171/88, Ingrid Rinner-Kühn/FWW Spezial-Gebäudereinigung GmbH & Co. KG, 13.7.1989, Slg. 1989, 2757, 2760 f.; Rs. C-167/97, Regina/Secretary of State for Employment, 9.2.1999, Rn. 52; Rs. C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Sygesikringens Forhandlingsudvalg, 6.4.2000, Rn. 29; Rs. C-322/98, Bärbel Kachelmann/Bankhaus Hermann Lampe KG, 26.9.2000, Rn. 23. 680 Zu den Voraussetzungen für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung nach der Rechtsprechung des EuGH vgl. zusammenfassend Krebber, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 43. 681 Vierter Teil, 5. Kapitel. 682 Vgl. etwa Bieback, Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, S. 95 ff.; ihm im Wesentlichen zustimmend Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 281. 683 Generalanwalt Saggio, Rs. C-322/98, Bärbel Kachelmann/Bankhaus Hermann Lampe KG, 14.3.2000. 684 Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. b) bb).
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tive Gründe zu rechtfertigen sei, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben: „Anders formuliert, ob mit der Anwendung der nationalen Regelung Zwecke verfolgt werden, die die Ungleichbehandlung rechtfertigen, und ob die zur Erreichung dieses Zweckes eingesetzten Mittel erforderlich und nicht unverhältnismäßig sind.“685 Damit wird eine wichtige Quelle von Fehlinterpretationen der EuGH-Rechtsprechung verdeutlicht: Trotz abweichender Begrifflichkeiten im Bereich der Entgeltgleichheit ist auch mit der Formel der „Rechtfertigung durch objektive Faktoren“ zunächst nichts anderes gemeint als die Suche nach legitimen Zwecken sowie der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit einer Maßnahme. Gerade Tendenzen zur inhaltlichen Überfrachtung der vom Gerichtshof bei der Entgeltgleichheit zu Grunde gelegten Rechtfertigungsformel haben jedoch vielfach die ohnehin bestehenden Unklarheiten in diesem Bereich noch weiter verstärkt. Den Ausgangspunkt der rechtfertigungsbezogenen Überlegungen bildet danach auch hier, wie allgemein beim primärrechtlichen Gleichheitssatz, die Prüfung der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit. Erst davon ausgehend stellt sich die Frage nach den Besonderheiten der Rechtfertigungsanforderungen im Rahmen der Entgeltgleichheit. Soweit es um die Rechtfertigung von differenzierenden Maßnahmen des Arbeitgebers geht, hat der EuGH im Fall Jenkins686 ursprünglich allein die zuvor genannte Wendung herangezogen und auf das Vorliegen „objektiv gerechtfertigter wirtschaftlicher Gründe“ des Arbeitgebers abgestellt.687 Damit wurde ein Spektrum möglicher Rechtfertigungsgründe eröffnet, das von der Notwendigkeit zwingender Gründe bis hin zur Akzeptanz jedes beliebigen Grundes eine Vielzahl von Auffassungen denkbar erscheinen lässt. Auf eine entsprechende Vorlagefrage des deutschen Bundesarbeitsgerichts versuchte der Gerichtshof daraufhin in der Rechtssache Bilka688 zu einer Präzisierung der Anforderungen zu gelangen. Er urteilte, dass es für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung durch den Arbeitgeber entscheidend darauf ankomme, ob „die von der Beklagten gewählten Mittel einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dienen und für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind“689. 685
Generalanwalt Saggio, Rs. C-322/98, Bärbel Kachelmann/Bankhaus Hermann Lampe KG, 14.3.2000, Rn. 30. 686 EuGH, Rs. 96/80, J.P. Jenkins/Kingsgate (Clothing Productions) Ltd., 31.3.1981, Slg. 1981, 911; vgl. dazu Rating, Mittelbare Diskriminierung der Frau im Erwerbsleben nach europäischem Gemeinschaftsrecht, S. 60 ff. 687 EuGH, Rs. 96/80, J.P. Jenkins/Kingsgate (Clothing Productions) Ltd., 31.3.1981, Slg. 1981, 911, 925. 688 EuGH, Rs. 170/84, Bilka-Kaufhaus GmbH/Karin Weber von Hartz, 13.5.1986, Slg. 1986, 1620.
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Der zuvor von keinem der am Verfahren Beteiligten erwähnte Begriff des „wirklichen Bedürfnisses“ hat indes in der Folgezeit weniger zur Klärung, als vielmehr zu einer weiteren Komplizierung der Gleichheitsprüfung geführt. Vertreten wird etwa die Auffassung, das Kriterium sei erfüllt, wenn die fragliche Maßnahme in dem betreffenden Unternehmen wirtschaftlich sinnvoll690 sei. Andere betonen demgegenüber einen notwendigen Zusammenhang mit der Erhaltung des Unternehmens.691 Hingegen legt die französische Fassung der Entscheidung des EuGH mit der Formulierung „veritable besoin“ eher nahe, dass als „wirkliches“ nicht notwendig ein besonders zwingendes Bedürfnis zu gelten hat, sondern vielmehr ein „echtes“, das heißt nicht vorgeschobenes Bedürfnis.692 Hierfür spricht insbesondere auch der weite Spielraum, den die nationalen Gerichte bei der Entscheidung über das Ausgangsverfahren vom EuGH regelmäßig zugewiesen bekommen; für eine generelle Beschränkung auf zwingende Bedürfnisse bestehen vor diesem Hintergrund keine ausreichenden Anhaltspunkte. Hingegen kann die national vorzunehmende Prüfung gleichheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit im Einzelfall durchaus darauf hinauslaufen, gravierende Ungleichbehandlungen nur im Hinblick auf gewichtige Unternehmensinteressen für gerechtfertigt zu erachten. Im Gegensatz zur Rechtfertigung entgeltbezogener Ungleichbehandlungen durch den Arbeitgeber weist die Rechtfertigungsprüfung bei Differenzierungen aufgrund gesetzlicher Bestimmungen eine zum Teil andere Schwerpunktsetzung auf. Da hierbei nicht die Ziele des einzelnen Unternehmens, sondern oftmals komplexe sozialpolitische Zielsetzungen der Mitgliedstaaten den gleichheitsrechtlich relevanten Rahmen bilden, wechselt notwendig der Bezugspunkt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Gleichheitsprüfung wird daher, wie der EuGH in jüngerer Zeit betont hat693, maßgeblich von dem Umstand beeinflusst, dass die Sozialpolitik nach dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Diese verfügen über einen sachgerechten Gestaltungsspielraum, was die Art der sozialen Schutzmaßnahmen und Einzelheiten der Durchführung anbetrifft. Differenzierende Maßnahmen sind daher zulässig, „wenn sie einem legitimen sozialpolitischen Ziel dienen, für 689 EuGH, Rs. 170/84, Bilka-Kaufhaus GmbH/Karin Weber von Hartz, 13.5.1986, Slg. 1986, 1620, 1628. 690 Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 216. 691 Pfarr/Bertelsmann, Diskriminierung im Erwerbsleben, S. 125. 692 Vgl. Blomeyer, Das Verbot der mittelbaren Diskriminierung gemäß Art. 119 EGV, S. 72 m. w. N. 693 EuGH, Rs. C-322/98, Bärbel Kachelmann/Bankhaus Hermann Lampe KG, 26.9.2000, Rn. 30.
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die Erreichung dieses Zieles geeignet und erforderlich sind und deshalb aus Gründen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt sind“694. Zwar bezieht sich die genannte Entscheidung auf die Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG. Sie nimmt jedoch Gedanken auf, die der EuGH bereits im Hinblick auf Fragen der Entgeltgleichheit geäußert hat und denen zufolge keine Verletzung des Art. 141 vorliegt, wenn der Mitgliedstaat nachweisen kann, dass die vorgenommenen Ungleichbehandlungen einem legitimen Ziel seiner Sozialpolitik dienen und zur Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles geeignet und erforderlich sind.695 Wie die vorherigen Ausführungen zumindest nahe legen, könnte die gleichheitsrechtliche Schutzintensität im Rahmen des Art. 141 Abs. 1, 2 bei der Überprüfung gesetzlicher Regelungen geringer ausfallen als bei der Kontrolle entgeltbezogener Ungleichbehandlungen durch den Arbeitgeber. Dass eine solche Unterscheidung durchaus in Betracht zu ziehen ist, belegen auch die Ausführungen des Generalanwalts in der Rechtssache RinnerKühn696, in der es um eine Regelung des Lohnfortzahlungsgesetzes ging. Der Generalanwalt erkannte zwischen betrieblichen bzw. tariflichen Regelungen auf der einen und gesetzlichen Bestimmungen auf der anderen Seite einen fundamentalen Unterschied, der gleichheitsrechtlich zu berücksichtigen sei.697 Für den Arbeitgeber stelle die Lohnpolitik einen der wichtigsten Bereiche seiner Unternehmenspolitik dar. Hingegen sei der Gesetzgeber dem Allgemeinwohl verpflichtet und müsse eine Vielzahl sozialer, wirtschaftlicher und politischer Gesichtspunkte berücksichtigen; Verteilungsaspekte bezüglich männlichen und weiblichen Arbeitnehmern stellten dabei lediglich ein Element unter mehreren dar. Der EuGH folgte der Auffassung des Generalanwalts in diesem Fall jedoch nicht. Einer generellen Abstufung der gleichheitsrechtlichen Prüfungsintensität in Abhängigkeit davon, ob es sich um vertragliche oder gesetzliche Regelungen handelt, hat der Gerichtshof damit eine Absage erteilt. In der Literatur hat diese Position verbreitet Zustimmung erfahren. So wird zwar konzediert, dass die vorstehenden Überlegungen durchaus für einen größeren Gestaltungsspielraum der Mit694 EuGH, Rs. C-322/98, Bärbel Kachelmann/Bankhaus Hermann Lampe KG, 26.9.2000, Rn. 30. 695 EuGH, Rs. C-167/97, Regina/Secretary of State for Employment, 9.2.1999, Rn. 69 m. w. N.; vgl. auch Rs. 171/88, Ingrid Rinner-Kühn/FWW Spezial-Gebäudereinigung GmbH & Co. KG, 13.7.1989, Slg. 1989, 2757, 2761, in der allerdings von einem „notwendigen“ Ziel der Sozialpolitik die Rede ist. 696 Generalanwalt Darmon, Rs. 171/88, Ingrid Rinner-Kühn/FWW Spezial-Gebäudereinigung GmbH & Co. KG, 19.4.1989, Slg. 1989, 2749. 697 Generalanwalt Darmon, Rs. 171/88, Ingrid Rinner-Kühn/FWW Spezial-Gebäudereinigung GmbH & Co. KG, 19.4.1989, Slg. 1989, 2749, 2754.
4. Kap.: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
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gliedstaaten sprechen, Art. 141 sich jedoch ausdrücklich gerade an die Mitgliedstaaten richte, so dass es „widersprüchlich wäre, den Arbeitgebern gegenüber einen strengeren Maßstab anzulegen“698. Dem kann nur mit Einschränkungen gefolgt werden. In der Tat wäre es angesichts des Wortlauts von Art. 141 widersprüchlich, Bestimmungen der Mitgliedstaaten nach einem anderen „Maßstab“ als Maßnahmen des Arbeitgebers zu beurteilen; hierfür gibt der ausdrücklich an Staaten adressierte Grundsatz der Entgeltgleichheit nichts her. Wird aber – wie vom EuGH in ständiger Rechtsprechung anerkannt – als Maßstab für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen auf deren gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit abgestellt, so kann ausgehend von diesem einheitlichen Prüfungsmaßstab durchaus eine allgemeine Tendenz zu weniger strengen Anforderungen bei Regelungen der Mitgliedstaaten begründet werden. Denn es ist nicht zu verkennen, dass ein Unternehmen regelmäßig wesentlich übersichtlicher strukturiert ist als ein komplexes Staatsgefüge, weshalb den Gesetzgebungsorganen der Mitgliedstaaten in der Regel ein größerer Gestaltungsspielraum einzuräumen ist, soweit es um komplexe Abwägungsfragen geht. Auf diesen Gesichtspunkt hatte bereits Generalanwalt Darmon im Fall Rinner-Kühn zutreffend hingewiesen699, wenngleich der EuGH seiner Argumentation im Ergebnis nicht folgte. Festzuhalten bleibt daher zunächst, dass entgeltbezogene, geschlechtsbedingte Ungleichbehandlungen des Arbeitgebers besonders strengen Anforderungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung unterliegen, während die Mitgliedstaaten im Bereich der Sozial- und Beschäftigungspolitik grundsätzlich nur einer zurückgenommenen gerichtlichen Kontrolle ausgesetzt sind. Ist damit die gleichheitsrechtliche Schutzintensität gegenüber Maßnahmen des Arbeitgebers allgemein als hoch zu bewerten, so stellt insbesondere die Bestimmung der Rechtfertigungsanforderungen bei Maßnahmen der Mitgliedstaaten eine anhaltende gerichtliche Gratwanderung dar, die den nationalen Gestaltungsspielraum im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik mit dem hohen Stellenwert der Entgeltgleichheit im gemeinschaftlichen Primärrecht in einen angemessenen Ausgleich zu bringen hat. Der EuGH ist sich dieser Gratwanderung durchaus bewusst und hat auf die in kompetenzieller und gleichheitsrechtlicher Hinsicht sensiblen Abwägungsfragen mit unterschiedlichen Entwicklungslinien reagiert. Ausgehend vom Urteil Bilka wurde den nationalen Gerichten zunächst lediglich das umfangreich interpretationsfähige Kriterium des „wirklichen Bedürfnisses“ eines Unternehmens an die Hand gegeben, das die Prüfung der Verhältnis698
So Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 63. Generalanwalt Darmon, Rs. 171/88, Ingrid Rinner-Kühn/FWW Spezial-Gebäudereinigung GmbH & Co. KG, 19.4.1989, Slg. 1989, 2749, 2753. 699
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
mäßigkeit nur unwesentlich konkretisierte. Die zweifellos denkbare Anhebung der Rechtfertigungsanforderungen im Wege der Präzisierung des Kriteriums durch den Gerichtshof wurde damit bewusst vermieden und der Beurteilung durch die nationalen Gerichte überlassen. In der Folgezeit blieb es zum einen bei der grundsätzlichen Zurückhaltung im Hinblick auf Vorgaben zur allgemeinen Strenge der Gleichheitsprüfung, andererseits gab der EuGH verstärkt Anhaltspunkte für einzelne mögliche Rechtfertigungsgründe des Arbeitgebers: Hierzu zählen etwa die Anpassungsfähigkeit des Arbeitnehmers, die Berufsausbildung oder die Dauer der Beschäftigung im Betrieb.700 Zudem sind nicht nur spezifische Umstände des einzelnen Unternehmens, sondern zunehmend auch generelle, auf den nationalen Gesetzgeber zurückgehende Erwägungsgründe berücksichtigt worden.701 In Übereinstimmung mit den oben dargelegten Besonderheiten bei der Überprüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen ist insbesondere die Rechtfertigung staatlicher Maßnahmen im Bereich des Sozialrechts vielfach von äußerst geringen Anforderungen gekennzeichnet.702 Einhergehend mit der beschriebenen Ausweitung des sachlichen Schutzbereiches der Entgeltgleichheit ist die gleichheitsrechtliche Schutzintensität zunehmend herabgesetzt worden. So wird in der Literatur darauf hingewiesen, der Gerichtshof trete in den neunziger Jahren objektiven Rechtfertigungen aufgrund der Gesetzgebung „aufgeschlossener gegenüber“703 als zuvor. Erst in jüngerer Zeit scheint sich eine Tendenz abzuzeichnen, die zeitweilige Überakzentuierung mitgliedstaatlicher Spielräume im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu korrigieren und damit dem Grundsatz der Entgeltgleichheit über eine striktere Rechtfertigungsprüfung wieder zu größerer Geltungskraft zu verhelfen. Am bislang deutlichsten zeigt sich dies in einem Vorabentscheidungsverfahren aus dem Jahre 1999, in dem es um die Vereinbarkeit einer britischen Vorschrift mit dem Grundsatz der Entgeltgleichheit aus Art. 141 Abs. 1, 2 ging.704 Unbestritten war, dass die differenzierende Regelung zur Förderung 700 Vgl. insbesondere EuGH, Rs. 109/88, Handels- og Kontorfunktionaerernes Forbund i Danmark/Dansk Arbejdsgiverforening, 17.10.1989, Slg. 1989, 3220, 3226 ff. 701 Zu dieser Art der Rechtfertigung „von der Stange“ durch Bezugnahme des Arbeitgebers auf Erwägungen des Gesetzgebers vgl. Rust, in: von der Groeben/ Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 141, Rn. 472 f. m. w. N. auf die Rechtsprechung des EuGH. 702 Vgl. die Analyse von Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 105 ff. mit einzelnen Fallbeispielen. 703 Currall, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 119, Rn. 59. 704 EuGH, Rs. C-167/97, Regina/Secretary of State for Employment, 9.2.1999.
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von Einstellungen beitragen sollte und ihr damit ein legitimes sozialpolitisches Ziel zu Grunde lag. Allerdings begnügte sich die Regierung des Vereinigten Königreichs mit der Feststellung, sie habe vernünftigerweise annehmen dürfen, die Maßnahme werde zur Erreichung des mit ihr verfolgten sozialpolitischen Zieles beitragen. Der Gerichtshof bekräftigt zunächst seine oben aufgezeigte Rechtsprechung, derzufolge die Mitgliedstaaten bei der Wahl ihrer Maßnahmen zur Verwirklichung sozial- und beschäftigungspolitischer Ziele über einen weiten Entscheidungsspielraum verfügen.705 Im Anschluss daran weist er das nationale Gericht jedoch mit ungewohnter Deutlichkeit darauf hin, dass dieser Umstand nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern zugleich die Durchsetzung des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Entgeltgleichheit zu berücksichtigen ist: „Obgleich die Sozialpolitik beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts im wesentlichen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, darf doch der Entscheidungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten insoweit verfügen, nicht dazu führen, daß ein tragender Grundsatz des Gemeinschaftsrechts wie der des gleichen Entgelts für Männer und Frauen ausgehöhlt wird.“706 Daher reichen allgemeine Behauptungen wie die von der britischen Regierung vorgebrachten nicht aus, um entgeltbezogene Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen. Der EuGH verlangt vielmehr eine intensivere Prüfung durch die nationalen Gerichte dahingehend, ob das legitime sozialpolitische Ziel in Anbetracht aller maßgeblichen Umstände und gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Möglichkeit, das betreffende Ziel durch andere Mittel zu erreichen, nichts mit einer geschlechtsbedingten Diskriminierung zu tun hat und die fragliche Regelung zur Erreichung des mit ihr verfolgten Anliegens geeignet ist. Mit der Entscheidung wird zutreffend hervorgehoben, dass nationale Gerichte auch bei der Rechtfertigung von Bestimmungen der Mitgliedstaaten eine sorgfältige Prüfung der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit vorzunehmen haben. Dies gilt unabhängig von fraglos bestehenden und gerichtlich zu respektierenden Entscheidungsspielräumen der Mitgliedstaaten in einzelnen Bereichen, die aber nicht zu einer nur vorgeschobenen grundrechtlichen Gleichheitsprüfung gemäß Art. 141 führen dürfen. In gefährliche Nähe zu einer solchen bloß rhetorischen Überprüfung der Rechtfertigungsanforderungen hat sich der EuGH in den neunziger Jahren einige Male begeben, so etwa in der Rechtssache Megner707, die zum Teil 705 EuGH, Rs. C-167/97, Regina/Secretary of State for Employment, 9.2.1999, Rn. 74. 706 EuGH, Rs. C-167/97, Regina/Secretary of State for Employment, 9.2.1999, Rn. 75. 707 EuGH, Rs. C-444/93, Ursula Megner, Hildegard Scheffel/Innungskrankenkasse Vorderpfalz, 14.12.1995, Slg. 1995, 4744.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
als der Höhepunkt einer „Laissez-faire“-Haltung aufgefasst wird708 und in der es um den Ausschluss geringfügig oder kurzzeitig Beschäftigter von der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung ging. Beispielhaft für die verbreitet geäußerte Kritik sei etwa auf die ausführliche Untersuchung von Döse hingewiesen, die dem Gerichtshof hier eine „reine Plausibilitätskontrolle“ der von Seiten der deutschen Bundesregierung vorgetragenen Argumente vorwirft.709 Obwohl bereits an der Eignung der überprüften sozialrechtlichen Vorschrift (§ 8 SGB IV) gewichtige Zweifel bestanden, setzte sich der EuGH mit diesen Bedenken nicht weiter auseinander, sondern akzeptierte die von der Bundesregierung angegebenen sozial- und beschäftigungspolitischen Zielsetzungen weitgehend begründungslos710. Gegenüber einer derart zurückgenommenen Gleichheitsprüfung markiert die zuvor aufgezeigte jüngere Rechtsprechung deutliche Grenzlinien; sie stellt zu recht die genauere, nicht bloß rhetorische Untersuchung der Verhältnismäßigkeit wieder stärker in den Mittelpunkt der Rechtfertigungsanforderungen im Bereich der Entgeltgleichheit. Es bestehen somit durchaus Anhaltspunkte für die in der europarechtlichen Literatur711 angemahnte intensivierte Gleichheitsprüfung bei geschlechtsbezogenen Ungleichbehandlungen, für die der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in stärkerem Maße als bisher aktiviert werden müsse. Diese aufgrund des Stellenwerts der Geschlechtergleichbehandlung primärrechtlich gebotene Anhebung gleichheitsrechtlicher Schutzintensität ist auch der Grund dafür, dass (bloße) Haushaltserwägungen nicht ausreichen, um eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu rechtfertigen: Denn würde man „anerkennen, daß Haushaltserwägungen eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen rechtfertigen können . . . so hätte dies zur Folge, daß die Anwendung und Tragweite einer so grundlegenden Regel des Gemeinschaftsrechts wie der Gleichheit von Männern und Frauen zeitlich und räumlich je nach dem Zustand der Staatsfinanzen der Mitgliedstaaten variieren könnten“712. Allerdings dürften sozialpolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten oftmals Haushaltserwägungen zu Grunde liegen, ohne dadurch die gleichheitsrechtliche Relevanz der sozialpolitischen Zielsetzungen zu negieren. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass nach der Rechtsprechung des EuGH Erfordernisse der Sozialpolitik selbst schwere Formen von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts rechtfertigen können.713 Während 708
Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 282. Vgl. Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 108 f. 710 EuGH, Rs. C-444/93, Ursula Megner, Hildegard Scheffel/Innungskrankenkasse Vorderpfalz, 14.12.1995, Slg. 1995, 4744, 4755 f. 711 Vgl. etwa Döse, Frauenarbeit in Europa und Gemeinschaftsrecht, S. 139. 712 EuGH, Rs. C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Sygesikringens Forhandlingsudvalg, 6.4.2000, Rn. 39. 709
4. Kap.: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
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also einerseits kriterial hohe Rechtfertigungsanforderungen im Hinblick auf das Merkmal Geschlecht zu stellen sind, kann andererseits dessen Zusammentreffen mit sozialpolitisch motivierten Maßnahmen der Mitgliedstaaten wiederum zu einer bereichsspezifisch abgesenkten Kontrolldichte im Bereich der Sozialpolitik führen. Die gleichheitsrechtliche Schutzintensität erschließt sich damit erst durch umfassende Berücksichtigung kriterienspezifischer und bereichsspezifischer Gesichtspunkte, die die Anforderungen im Rahmen der rechtfertigungsbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung konkretisieren. 4. Zusammenfassung Bereichsspezifische Erwägungen spielen in der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung eine zentrale Rolle. Dieser enge Zusammenhang von Rechtfertigungsprüfung und Bereichsspezifik ist im Verlauf der Untersuchung wiederholt herausgestellt worden: So etwa für den Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung (BRD714, USA715, EU716), die Sozialpolitik (BRD717, USA718, EU719), die Landwirtschaft (EU720), das Arbeitsrecht (EU721), Beamtenrecht (EU722) oder den Bereich des Wahlrechts (BRD723, USA724). Auch die verfassungsrechtliche Literatur zum Gleichheitsgrundrecht in Deutschland725, den Vereinigten Staaten von Amerika726 und der Europäischen Union727 weist verbreitet auf die fundamentale Bedeutung der Eigenarten des betroffenen Sachbereiches hin. Überlegungen zur Bereichsspezifik 713
Generalanwalt Saggio, Rs. C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Forhandlingsudvalg, 13.1.2000, Rn. 28 mit umfangreichen Nachweisen. 714 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. III. 2. 715 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. II. 1. a) aa). 716 Vierter Teil, 4. Kapitel, C. III. 3. e). 717 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. e). 718 Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. II. 1. a) aa). 719 Vierter Teil, 4. Kapitel, C. III. 3. 720 Vierter Teil, 4. Kapitel, C. III. 2. 721 Vierter Teil, 4. Kapitel, C. III. 3. a). 722 Vierter Teil, 4. Kapitel, C. IV. 4. e). 723 Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. I. 6. 724 Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb), (1). 725 Vgl. etwa Huster, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar, Art. 3, Rn. 132 f.; Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 320. Allgemein zur Forderung nach einer variableren grundrechtlichen Bereichsdogmatik auch Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 20 ff. 726 Vgl. Lockhart/Kamisar/Choper/Shiffrin/Fallon, Constitutional Law, S. 1323 ff. 727 Zur Bereichsspezifik im Europarecht Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 63 ff.
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bilden daher sowohl den Ausgangspunkt als auch einen inhaltlichen Schwerpunkt der nachfolgenden Untersuchungen zur Dimension komplexer Gleichheit. Die komplexe Dimension des Gleichheitsschutzes wird weiterhin ganz wesentlich durch das Element der Kriterienselektion bestimmt. Wie die rechtsvergleichenden und europarechtlichen Betrachtungen gezeigt haben, weist der Umgang mit dem grundrechtlichen Gleichheitssatz bemerkenswerte Parallelen der Kriteriendifferenzierung auf: „Verdächtige“ Klassifizierungen nach Merkmalen wie Geschlecht, Rasse, nationale Herkunft, Ausländerstatus, Behinderung oder Unehelichkeit werden zunehmend zum Teil drastisch erhöhten Rechtfertigungsanforderungen unterstellt.728 Mit der verfassungstextlich verankerten Sanktionierung gesellschaftlich nicht mehr für tolerabel erachteter Diskriminierungslagen wie in Art. 141 findet ein Prozess der Kriterienselektion seinen zweifellos schärfsten Ausdruck. Allerdings ist damit bei genauem Hinsehen nicht der einzige Ausdruck gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion bezeichnet. Beispielhaft sei hier nur an die oben ausführlich dargelegte Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zu den „suspect classifications“729 erinnert sowie an die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, derzufolge eine striktere Gleichheitsprüfung dann geboten ist, wenn sich Differenzierungskriterien den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmalen „annähern“730. Europarechtlich ist in diesem Zusammenhang neben den grundsätzlich unzulässigen Differenzierungskriterien des Geschlechts und der Staatsangehörigkeit eine Entwicklung hervorzuheben, die auf die zunehmende primärrechtliche Verfestigung weiterer kriterialer Unterscheidungsverbote hindeutet. So wurde mit der Aufnahme von Art. 13 EGV durch den Amsterdamer Vertrag zwar kein unmittelbar anwendbares Recht geschaffen731, aber auch als bloße Rechtsgrundlage für antidiskriminatorische Maßnahmen des Rates wird doch der besondere Stellenwert der Bekämpfung einzelner Diskriminierungsformen unterstrichen; hierzu zählen benachteiligende Ungleichbehandlungen aufgrund der Differenzierungskriterien Geschlecht, Rasse, ethnische Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung. Dem fügt Art. 21 der Grundrechtscharta weitere verdächtige Kriterien hinzu, indem auch Diskriminierungen wegen der Hautfarbe, der sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit oder des Vermögens als verboten erklärt werden. Trotz der konstatierten fehlenden aktuellen Rechts728 729 730 731
Dazu im Einzelnen oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa). Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. c). Zum Rechtscharakter der Vorschrift siehe oben, Vierter Teil, 1. Kapitel, C. I.
4. Kap.: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
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verbindlichkeit der Charta wurde deren mögliche „weiche“ normative Wirkung bereits beschrieben.732 In jedem Falle verweist auch sie auf anhaltende Bestrebungen nach gleichheitsrechtlicher Kriteriendifferenzierung und damit auf ein wesentliches Element der Dimension komplexer Gleichheit, das es im weiteren Verlauf genauer zu untersuchen zu gilt. IV. Bereichsspezifik des Gleichheitssatzes Dogmatische Überlegungen zur Bereichsspezifik des Gleichheitssatzes haben sich zunächst ihres Bezugspunktes zu vergewissern. Begrifflich stehen dabei mehrere Kandidaten zur Auswahl. Häufig wird auf die Eigenarten des betroffenen „Sachbereichs“733 Bezug genommen, auf „Sachgesetzlichkeiten dieses Lebensbereiches“734 bzw. eine dem „Lebensbereich innewohnende Ordnung“735 oder schlicht die „Logik eines Regelungsgegenstandes“736. Andere Formulierungen betonen die Geltung des Gleichheitssatzes in „Einzelbereichen“737, Sachgesetzlichkeiten des zu ordnenden „Tatbestandes“738, den „Ordnungsbereich“739, „Ordnungssysteme“740 oder allgemein „Systeme“741. Auch hinsichtlich der oben dargestellten bereichsbezogenen Rechtsprechung des EuGH wird von Generalanwalt Jacobs zutreffend auf die Bedeutung der „application of the principle [of equality] in a specific field“742 hingewiesen. Mit diesen sprachlichen Wendungen wird der Blick auf zwei Aspekte gelenkt, die im Mittelpunkt bereichsspezifischer Erwägungen stehen. Das ist zum einen ein auf Realdaten bezogener Sachbereichsbegriff, der die Menge jener Sachaspekte umfasst, die mit den herangezogenen Rechtsnormen in 732
Vierter Teil, 2. Kapitel, C. IV. So etwa BVerfGE 75, 108, 157 zum Sachbereich der Sozialversicherung; Bader, Hoheitsbetrieb und Betrieb gewerblicher Art im Umsatz- und Körperschaftsteuerrecht, S. 159; vgl. auch Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 407 m. w. N.; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 103. 734 Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 320. 735 Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 35. 736 Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 41. 737 Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 50. 738 Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 30. 739 Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 82, 101; Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 30. 740 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 219 ff.; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 101. 741 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 49 ff. 742 Jacobs, An Introduction to the General Principle of Equality in EC Law, S. 7. 733
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Beziehung stehen können.743 Mögliche Bezugspunkte von Bereichsspezifik liegen jedoch auch in gesetzlich ausgestalteten Ordnungssystemen und deren internen normativen Strukturen. Eine Verdichtung erfahren die angesprochenen sozialen und rechtlichen Elemente im Begriff des Normbereichs, der hier in Anschluss an Friedrich Müller als Grundstruktur der vom Normprogramm erfassten Realitätsbeziehungen einer Rechtsnorm verstanden wird.744 Der Normbereich kann damit zur Gänze rechtserzeugt sein oder in hohem Maße auf soziale Strukturen verweisen745; oftmals werden beide Elemente miteinander verschränkt sein. Dieser weite Bezugsrahmen erklärt, weshalb bereichsorientierte Betrachtungen uneinheitlich ausfallen und sich vielfach auf gänzlich unterschiedliche „Bereiche“ beziehen.746 Angesichts der dargestellten Offenheit des Bereichsbegriffs im Allgemeinen sowie dem Fehlen eines genauer umschriebenen Normbereichs des grundrechtlichen Gleichheitssatzes im besonderen kommt es verbreitet zu weitgehend unhinterfragten Setzungen. Eine nähere Auflösung hat indes im Ausgangspunkt das eigentliche Anliegen bereichsspezifischer Ansätze zu berücksichtigen: Es geht darum, potentiell gleichheitswidrige Maßnahmen eines Hoheitsträgers in differenzierter Form am Gleichheitsgrundrecht zu messen und dabei die Prüfungsanforderungen in verfassungsrechtskonformer Weise hinreichend zu konkretisieren. Hierzu kann der Rückgriff auf einzelne Bereiche hilfreich sein, um so zu speziellen Anforderungen zu gelangen, die den Rechtfertigungsdruck des Hoheitsträgers modifizieren. Wie die nachfolgende Untersuchung zeigen wird, kommt eine solche Modifikation der Prüfungsanforderungen insbesondere unter drei Gesichtspunkten in Betracht; diese können allerdings ihre Aussagekraft für die Bestimmung der gleichheitsrechtlichen Schutzintensität nur insoweit entfalten, als die zu Grunde gelegten Bereiche einer flexiblen Interpretation zugänglich und 743
Vgl. Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 251 m. w. N. Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 252. 745 Beispiele bei Müller, Fallanalysen zur juristischen Methodik, S. 12 f. 746 So verweist etwa nach Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 32 f., die bereichsspezifische Anwendung des Gleichheitssatzes „insbesondere auf den Unterschied zwischen der Statusgleichheit . . . und dem für Regelungen des demokratischen Gesetzgebers zugänglichen allgemeinen Lebensbereich“. Im Anschluss daran wird ausgeführt, die gleichheitsrechtliche Bindung des Gesetzgebers ergebe sich „aus der in dem zu regelnden Sachbereich angelegten Sachgesetzmäßigkeit, aus dem im jeweiligen Gesetzgebungsgegenstand enthaltenen Regelungsanliegen“: Als solche finden sodann Erwähnung das Straßenverkehrsrecht, Vertragsrecht, Wahlrecht, Recht der Berufsqualifikation, Wettbewerbsrecht und das Sozialrecht. Hingegen unterscheidet Kim, Zur Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, S. 239 f. „Egalitärbereich“, „Auswirkbereich“ und „Willkürbereich“ des Gleichheitssatzes. Zu den unterschiedlichen Akzentuierungen des Bereichsbegriffs vgl. auch Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 407 f. m. w. N. 744
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nicht von vornherein auf einen generellen Standard festgelegt sind. So mag der Bereich „Wirtschaftpolitik“ im Hinblick auf die Komplexität der betroffenen Materie und daraus resultierende Schlussfolgerungen für eine Rücknahme gleichheitsrechtlicher Schutzintensität durchaus Aussagekraft besitzen. Hingegen dürften lokale Kriterien der Sachgerechtigkeit vielfach erst in genauer zu bestimmenden Bereichen näheren Aufschluss über die gebotene Gleichheitsprüfung bieten. Den Inhalt der damit angesprochenen bereichsspezifischen Ausprägungen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes gilt es im Weiteren zu vertiefen. Im Europarecht hat in jüngerer Zeit insbesondere Paul Kirchhof 747 nachdrücklich auf die Bereichsspezifik des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatzes hingewiesen. Allerdings droht der Bereichsbegriff dabei tendenziell überdehnt zu werden, wenn ausgeführt wird748: „Die bereichsspezifische Gestaltungsgleichheit im Europarecht wird durch besondere Gleichheitssätze verdeutlicht, die Anforderungen des Gleichheitssatzes für bestimmte Sachbereiche vorzeichnen. Dies gilt neben Art. 6 Abs. 1 EGV und Art. 119 EGV insbesondere für Art. 40 Abs. 3 Unterabs. 2 EGV, der im Bereich des Gemeinsamen Markts für Landwirtschaft jede Diskriminierung unter Erzeugern oder unter Verbrauchern untersagt. Weitere Diskriminierungsverbote betreffen den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital und münden jeweils in einem Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder regionalen Staatszugehörigkeit. In all diesen Fällen werden Unterscheidungsgebote und -verbote bereichsspezifisch umgrenzt.“ Wie die Untersuchung der einzelnen Ausprägungen des Gleichheitssatzes gezeigt hat, enthalten diese jedoch nicht allein bereichsspezifische Umsetzungen (wie etwa das landwirtschaftliche Diskriminierungsverbot, auf das Kirchhof zurecht „insbesondere“ Bezug nimmt), sondern auch bedeutende bereichsübergreifende Differenzierungskriterien wie dasjenige der Staatsangehörigkeit, dessen Verbot gerade nicht bereichsspezifisch gilt, sondern das allgemein im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu beachten ist. Insofern ist es wenig einsichtig, dass etwa das Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit ebenso wie die Gleichbehandlung im Agrarbereich „die allgemeine Gleichheit in den Besonderheiten der jeweiligen Sachbereiche verdeutlichen“749 soll, denn die Angabe verbotener Unterscheidungs747 Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 59 ff. 748 Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 64 f. 749 Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 67 f.
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merkmale wie das der Staatsangehörigkeit kann eben nicht in einen gleichheitsrechtlich spezifizierten Sachbereich umgedeutet werden. Diese Distinktion von Unterscheidungsmerkmalen und Bereichen ist über die kodifizierten besonderen Ausprägungen des Gleichheitssatzes hinaus für den gesamten Gleichheitssatz zu beachten. Der weitere Gang der Untersuchung wird dabei aufweisen, dass die dogmatische Trennung von Bereichen und Kriterien den grundrechtlichen Gleichheitsschutz in seinem Kern berührt. 1. Der Einfluss des Primärrechts Bevor die soeben einführend dargestellten Grundzüge gleichheitsrechtlicher Bereichsspezifik mit Walzers Theorie der komplexen Gleichheit in einen Zusammenhang gebracht werden sollen und damit das Zentrum dieser Dimension des Gleichheitsschutzes in den Blick gerät, ist noch auf eine latent vorhandene Gefahr hinzuweisen. Die Gefahr liegt darin begründet, dass bereichsspezifische Erwägungen in besonderem Maße anfällig sind für intuitionistische Aushöhlungen verfassungsrechtlicher Vorgaben. Denn während die personenbezogene Dimension des Gleichheitsschutzes mit dem Prinzip der Menschenwürde eine eindeutige normative Grundlage aufweist und die zweite Dimension auf dem vergleichsweise sicheren Fundament der primärrechtlichen Freiheitsrechte beruht, so kann die hier entwickelte Dimension grundsätzlich durch eine Vielzahl primärrechtlicher Bestimmungen konturiert werden. Wie schon die personenbezogene und freiheitsbezogene Dimension des Gleichheitsschutzes gezeigt haben, werden Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen maßgeblich durch das Zusammenspiel des Gleichheitssatzes mit anderen Primärrechtsgehalten bestimmt. Zwar können Eigenarten der von einer Regelung betroffenen Sachbereiche nach dem eingangs Dargestellten Aufschlüsse über die Intensität der Rechtfertigungsprüfung geben; hierbei ist jedoch, wie Heun betont, die Eigenart des Sachbereiches „in Abhängigkeit von den diesen Sachbereich regelnden Verfassungsnormen zu bestimmen“750. Für die Inhaltsbestimmung der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung sind Vorschriften des Primärrechts demnach auch insofern von Bedeutung, als sie zur normativen Konturierung des fraglichen Sachbereichs beitragen und damit genauere Anhaltspunkte für dessen gleichheitsrechtliche Auswertung im Rahmen der Rechtfertigung liefern können. Das wird insbesondere bei der Untersuchung lokaler Kriterien der Sachgerechtigkeit offenbar werden.
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Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 39.
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2. Walzers Theorie komplexer Gleichheit und die Bereichsspezifik des Gleichheitsschutzes Die rechtsvergleichende Betrachtung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes in den Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland und der Europäischen Gemeinschaft hat verdeutlicht, dass ein wesentliches Kennzeichen des von Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtswissenschaft entwickelten Gleichheitsschutzes dessen Bereichsspezifik ist. Dieses weithin etablierte Element juristischer Dogmatik ist jedoch bislang ungeachtet seiner grundsätzlichen Akzeptanz in hohem Maße von inhaltlicher Unbestimmtheit geprägt und nur selten in allgemeiner Form reflektiert worden. Allein damit ist es zu erklären, dass bemerkenswerte Verbindungslinien mit einer bedeutenden Strömung der politischen Philosophie bislang gänzlich unerkannt geblieben sind. Die Rede ist von Michael Walzers Theorie komplexer Gleichheit, entwickelt in dessen 1983 erschienenem Hauptwerk „Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality“751. Erst in jüngerer Zeit ist dieser lange nicht beachtete Zusammenhang erstmals zur Kenntnis genommen, wenn auch nicht näher behandelt worden. Auf der Grundlage weit ausgreifender rechtsvergleichender Untersuchungen zum Gleichheitssatz hat Alexander Somek im Jahre 2001 seine imposante Studie „Rationalität und Diskriminierung. Zur Bindung der Gesetzgebung an das Gleichheitsrecht“ vorgelegt. Darin wird der Grundsatz der Antidiskriminierung als überzeugendster Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundrechts aufgefasst.752 Somek weist dabei am Ende seines Abschnitts zum Antidiskriminierungsgrundsatz darauf hin, dass dieser eine „interessante Dimension“ erkennen lasse: „Es ist möglich, die Brücke zu einer Konzeption von Gleichheit zu schlagen, die in der gegenwärtigen Diskussion einzigartig dasteht und deren Bezug zur Antidiskriminierung bislang undurchsichtig geblieben ist. Gemeint ist damit Walzers Vorstellung von ‚komplexer Gleichheit‘“753. Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, den angesprochenen, undurchsichtigen Bezug stärker herauszuarbeiten. Angesichts der Neuartigkeit dieser Verknüpfung kann das Ziel der Untersuchung nicht darin liegen, eine auch nur annähernd erschöpfende Darstellung des in Rede stehenden Grenzgebietes von juristischer Dogmatik und politischer Philosophie vorzulegen. So wie sich die Theorie Walzers in den zwei Dekaden seit Erscheinen von „Spheres of Justice“ beständig fortentwickelt hat und zum Ge751 Im Folgenden zitiert nach der 1992 unter dem Titel „Sphären der Gerechtigkeit“ erschienenen deutschen Ausgabe. 752 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 31. 753 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 33.
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genstand bedeutender wissenschaftlicher Kontroversen geworden ist754, so vermag die vorliegende Arbeit lediglich erste Wegmarken zu setzen, die einer künftigen auch verstärkt gleichheitsrechtlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema als Anhaltspunkte und Orientierungshilfe dienen sollen. Der Entfaltung des Themas kommt daher noch überwiegend tastender Charakter zu, die hier angestrebte Grundlegung fordert somit zur weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung nachdrücklich heraus. 3. Politische Philosophie komplexer Gleichheit a) Egalitarismuskritik als Ausgangspunkt: Zur Unterschätzung von Komplexität Den Ausgangspunkt der Theorie komplexer Gleichheit bildet ein Typus der Egalitarismuskritik, der die Unterschätzung von Komplexität durch egalitaristische Gerechtigkeitskonzeptionen zum Gegenstand hat. Deren Grundmuster besteht regelmäßig in der Kombination eines Gleichheitsprinzips mit einem Wohlfahrtsprinzip bei variierender Berücksichtigung von Einschränkungsmöglichkeiten der Gleichheit, sofern das zu einer Erhöhung der Wohlfahrt führt.755 Dieses Grundmuster der Gerechtigkeitstheorien des egalitären Liberalismus basiert auf einer Vorstellung von „einfacher Gleichheit“, die David Miller zutreffend charakterisiert, wenn er ausführt: „equality requires the equal possession or enjoyment of some advantage X. A society is egalitarian, on this view, when all its members are equal in respect of X; that is, they equally enjoy the stuff or the condition represented by X“756. Im Anschluss an Rawls’ bahnbrechende Theorie der Gerechtigkeit von 1971 hat die Diskussion in der politischen Philosophie der folgenden drei Jahrzehnte einen Großteil ihrer wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf die angemessene Bestimmung der Equalisanda gerichtet. Doch das „X“ blieb und bleibt unbestimmt. Bisweilen hat es den Anschein, als existierten für X ebenso viele Kandidaten wie es Proponenten des egalitären Liberalismus gibt. Weiter von einem Konsens entfernt als jemals zuvor, stellt sich die Auseinandersetzung über die „currency of egalitarian justice“757 heute unübersichtlicher dar denn je; die exemplarische Zusammenstellung angebotener Equalisanda ist insoweit auch Ausdruck geballter Ratlosigkeit der politischen Philosophie: Geht es um die gleiche Verteilung von Grundgütern 754 Vgl. hierzu etwa den von David Miller und Michael Walzer herausgegebenen umfangreichen Sammelband: Pluralism, Justice, and Equality. 755 Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 14. 756 Miller, Complex Equality, S. 197. 757 Vgl. Cohen, On the Currency of Egalitarian Justice, Ethics 99 (1989), 906 ff.
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(Rawls758)? Oder um gleich viele Ressourcen (Dworkin759)? Oder steht die Gleichheit der Funktionsfähigkeit im Vordergrund, wofür Amartya Sen760 plädiert? Richard Arneson wiederum fordert die Gleichheit der Gelegenheit zur Erlangung von Wohlergehen („Equal Opportunity for Welfare“761). Was ist von der Auffassung Gerald Cohens zu halten, demzufolge es auf „equal access to advantage“762 ankommt? Oder stellt Wohlfahrt an sich das maßgebliche Equalisandum dar, wie Kai Nielsen763 meint? Die Aufzählung ließe sich weiter verlängern. Und im selben Maße, in dem immer weitere Hinsichten der Gleichheit als die entscheidende Hinsicht postuliert werden, verschärft sich die Dringlichkeit der Frage nach Grund und Berechtigung einer solchen ausschließlich monistischen Sichtweise, in der Gleichheit lediglich einen einzigen Bezugspunkt kennt. Der Versuch, die damit aufgeworfenen Fragen zu beantworten, führt in das Zentrum egalitaristischer Gerechtigkeitskonzeptionen. Es zeigt sich, dass die verbreitete Reduktion auf ein einzelnes, allein maßgebliches Equalisandum in bemerkenswerter Weise mit der Reduktion der Distributionsprinzipien korrespondiert, etwa mit der Rawls’schen Beschränkung auf zwei Gerechtigkeitsgrundsätze und der damit verbundenen Abmilderung des Gleichheitsprinzips zum Differenzprinzip764. Genau hier, in dieser fragwürdigen zweifachen moralphilosophischen Selbstbescheidung, liegt der egalitarismuskritische Ausgangspunkt begründet, den man als eigentlichen Keim von Walzers Konzeption komplexer Gleichheit begreifen kann. Denn beide reduktionistischen Vorgehensweisen der politischen Philosophie stellen sich als unzulässige Vereinfachungen der Wirklichkeit dar. Walzer führt dazu aus: „Die Vorstellung, es könne ein einziges, sozusagen ein singuläres Set von Primär- oder Grundgütern für alle moralischen und materiellen Welten geben, geht nicht nur an der Realität vorbei, es müsste auch so abstrakt konzipiert sein, daß sich über die Art der Verteilung der Güter auf seiner Basis kaum etwas aussagen ließe. . . . Und schließlich hat es auch niemals ein singuläres Kriterium oder ein singuläres Set von miteinander verknüpften Kriterien gegeben, die für alle Verteilungsvorgänge gleichermaßen gegolten hätten.“765 758
Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 111 ff. Dworkin, What is Equality? Part 2: Equality of Resources, Philosophy and Public Affairs 10 (1981), 283 ff. 760 Sen, Inequality Reexamined, S. 39 ff. 761 Arneson, Equality and Equal Opportunity for Welfare, Philosophical Studies 56 (1989), S. 77 ff. 762 Cohen, On the Currency of Egalitarian Justice, Ethics 99 (1989), 906 ff. 763 Nielsen, Radical Welfare Egalitarianism, S. 204 ff. 764 Ausführlich und kritisch zu den Gerechtigkeitsgrundsätzen und dem Differenzprinzip bei Rawls: Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, S. 92 ff. 759
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Einem pauschalisierten Gerechtigkeitsbegriff steht so insbesondere die große Vielfalt zu verteilender Güter und Lasten mit unterschiedlichsten Bedeutungen entgegen: ob Arzneimittel, Studienplätze, Agrarsubventionen, Kinder zur Adoption, Freiheitsstrafen, schulische Bildung, Rentenzahlungen, Sozialhilfe oder politische Macht, ob Arbeitsplätze, Nobelpreise, Unterhaltszuschüsse, Spendernieren, Steuerlasten, Bürgerschaft, Einkommen, Sperma zur künstlichen Befruchtung oder Geldbußen bei Wettbewerbsverstößen – bereits die Spannbreite der distribuierbaren Güter und Lasten lässt die Hoffnung auf ein einzelnes überzeugendes, für alle Bereiche zu Recht Gültigkeit beanspruchendes „master principle“766 gering erscheinen. Vielmehr basiert die Verteilung von Gütern und Lasten in unterschiedlichen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten auf einer Vielzahl von Gerechtigkeitsaspekten, die sich in so unterschiedlichen Distributionsprinzipien wie dem Verdienstprinzip, dem Bedürfnisprinzip oder dem Marktprinzip Geltung verschaffen. Der norwegische Philosoph und Politikwissenschaftler Jon Elster hat auf diese lokalen Kriterien der Gerechtigkeit in seiner Studie „Local Justice“ hingewiesen und mit seinen Untersuchungen nachdrücklich bestätigt, dass Gerechtigkeitsaspekte in spezifischen Lebensbereichen und einzelnen Ländern erheblich voneinander abweichen.767 Die dargestellten Erwägungen legen den Schluss nahe, in Abkehr von der eingangs geschilderten traditionell verbreiteten Suche nach einem einheitlichen Set von Prinzipien distributiver Gerechtigkeit den Fokus stärker auf die Komplexität unserer Gerechtigkeitskultur zu richten und damit jenem Vorwurf der Realitätsblindheit zu entgehen, wie er vielen Philosophen des egalitären Liberalismus zu Recht entgegengebracht wird: „Der Glaube, man könne diese Kultur im Wesentlichen über ein oder zwei Prinzipien, das Gleichheitsprinzip in Kombination mit dem Prinzip der Wohlfahrtssteigerung, einfangen, zeugt von der Philosophenkrankheit der theorieverliebten Überheblichkeit gegenüber der Wirklichkeit. Die Egalitaristen sind zu sehr ‚Freunde einfacher Verhältnisse‘, um der Komplexität unserer Gerechtigkeitskultur gerecht zu werden.“768 b) Sphären der Gerechtigkeit: Von der einfachen zur komplexen Gleichheit Um dem geschilderten Vorwurf an die Adresse „einfacher“ egalitärer Theorien zu entgehen, benötigen wir eine über die beschriebenen Reduktio765
Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 33, 28. Vgl. Gutmann, Justice across the Spheres, S. 102. 767 Elster, Local Justice. How Institutions Allocate Scarce Goods and Necessary Burdens. 768 Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 27. 766
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nen hinausgreifende Gerechtigkeitskonzeption. Diese hat sich an der evidenten heterogenen Vielfalt der zu verteilenden Güter auszurichten und den Stellenwert des Gleichheitspostulats dergestalt neu zu bestimmen. Entsprechend dem hier verfolgten Zweck ist eine solche Konzeption indes nicht in allen Einzelheiten, sondern nur insoweit zu entfalten, als sie der genaueren Konturierung des Gleichheitsschutzes im Rahmen der komplexitätsbezogenen Dimension des Gleichheitssatzes dient. Hierzu ist der Grundansatz von Walzers Theorie komplexer Gleichheit in überzeugender Weise in der Lage, wenn man ihn um einzelne Gesichtspunkte ergänzt und gewisse Ungereimtheiten in der Argumentation Walzers aufzulösen vermag. Worin bestehen nun die Grundgedanken einer Theorie komplexer Gleichheit, die auf dem Walzer’schen Ansatz beruht? Walzer selbst gibt, über ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen von „Spheres of Justice“, den Versuch einer Antwort769: „What is complex equality? It has to do with the autonomy of the spheres of justice, but the story is complicated. . . . Now, complex equality will be the product of autonomous distributions – when all the necessary remedies for past injustice are in place (and working effectively). This is a prediction, not a definition, and it can be empirically falsified, though I continue to believe that it won’t be.“ Im Zentrum komplexer Gleichheit steht damit zunächst die Forderung nach einer Trennung verschiedener Distributionssphären770 unter Wahrung ihrer eigentümlichen Verteilungsregeln771. Mit dieser Forderung, das ist nicht zu verkennen, wird zugleich ein Rückzug des egalitären Liberalismus auf Positionen markiert, die Auffassungen der „libertarians“ in manchen Gesichtspunkten durchaus entgegenkommen. Die Konzeption komplexer Gleichheit zielt nicht auf eine großflächig angelegte Bekämpfung materieller, physischer oder psychischer Unterschiede. Sie verlangt keinen in alle gesellschaftliche Sphären hineinintervenierenden, permanent gleichheitsregulierenden Staat. Sie impliziert nicht die Vorstellung einer gigantischen bürokratischen Umverteilungsmaschinerie. Vielmehr werden Ungleichheiten in einzelnen Bereichen solange für tolerabel erachtet, als die unterlegene Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre (etwa im Bereich des Marktes) nicht zwangsläufig die Unterlegenheit in anderen Bereichen (etwa im Bereich politischer Einflussnahme) nach sich zieht: Komplexe Gleichheit zielt daher auf eine Gesellschaft, in der Menschen mit mehr Geld, mehr Macht oder sonstigen Überlegenheiten daran gehindert sind, allein deswegen systematisch die Vorherrschaft auf andere Bereiche auszudehnen.772 Nicht die Einebnung 769 770 771 772
Walzer, Response, S. 282 f. Hierzu ausführlich unten, Vierter Teil, 4. Kapitel, C. IV. 5. Siehe unten, Vierter Teil, 4. Kapitel, C. IV. 4. Vgl. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 12.
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von Ungleichheiten bildet so den Kern der Gerechtigkeitstheorie, sondern die Bekämpfung des Missbrauchs von Ungleichheiten. Vor diesem Hintergrund ist es, um ein konkretisierendes Beispiel einzufügen, mit der Konzeption komplexer Gleichheit durchaus vereinbar, wenn ein italienischer Regierungschef seine politische Macht dafür einsetzt, das Staatsfernsehen zu privatisieren und damit privaten Medienimperien weiteren Zuwachs verschafft. Die ökonomische Zusammenballung von Fernsehstationen, Buchverlagen, Zeitungsverlagen und Kinoketten in der Hand eines Medienzaren mag Probleme unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit aufwerfen und eine markante Form marktbezogener Dominanz und wirtschaftlicher Ungleichheit darstellen; mit der Vorstellung komplexer Gleichheit gerät sie nicht in Konflikt. Erst wenn die Dominanz in der politischen Sphäre zielstrebig dahin umgesetzt wird, die eigene Stellung im ökonomischen Bereich zu verbessern oder zu befestigen773, handelt es sich um einen komplexer Gleichheit zuwider laufenden Vorgang, den man mit Walzer als „tyrannischen Übergriff“ der politisch-demokratischen Sphäre auf die Sphäre des Marktes bezeichnen kann. Diese Übergriffe zu unterbinden ist ein wesentliches Element der hier vorgestellten Gerechtigkeitskonzeption, sie fordert geradezu eine „Kunst der Trennungen“774. Ist die politische Kunst der Trennung nicht sonderlich weit entwickelt – wie es etwa im Beispiel Italiens gegenwärtig den Anschein hat –, so kommt diese Aufgabe umso dringlicher der Justiz zu. Soweit es dabei um die hier interessierenden Fälle verfassungsgerichtlicher Gleichheitsprüfung geht, bewirkt die Überschreitung einzelner Sphären eine Erhöhung der Rechtfertigungsanforderungen und damit die Anhebung gleichheitsrechtlicher Schutzintensität; hierauf wird weiter unten (Bereichsspezifik II) ausführlicher einzugehen sein. Die zuvor angesprochene Modifikation gleichheitsrechtlicher Schutzintensität bezieht sich wie gesehen auf Differenzierungen, denen eine Bereichsüberschreitung zu Grunde liegt. Modifikationen der Schutzintensität kommen jedoch noch aus zwei weiteren Gründen in Betracht, die nicht auf bereichsübergreifende Erwägungen zurückzuführen sind, sondern mit der internen Betrachtung von Bereichen und ihren Spezifika in Verbindung stehen. Dabei geht es zum einen um die Komplexität der betroffenen Sachmaterie und den bereichsspezifischen Grad der Verantwortung des Hoheitsträgers, durch die das Niveau der Rechtfertigungsanforderungen beeinflusst wird (Bereichsspezifik III). Deutlich problematischer gestaltet sich schließlich die Beantwortung der Frage, in wie weit lokale, bereichsspezifische 773
Zu derlei „politisch-ökonomischen Synergieeffekten“ unter Italiens Regierungschef Berlusconi vgl. etwa Schlamp, Der Spiegel, 25.2.2002, S. 154 ff. 774 Dazu Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, S. 38 ff.; vgl. auch Reese-Schäfer, Kommunitarismus, S. 91 ff.
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Kriterien der Gerechtigkeit Einfluss nehmen auf die gleichheitsrechtliche Kontrolldichte (Bereichsspezifik I). Vor allem der letztgenannte Aspekt wird zeigen, dass Walzers Theorie zum Teil auf Annahmen beruht, die bei genauerer Betrachtung kaum haltbar erscheinen. Gleichwohl verliert die Gesamtkonzeption komplexer Gleichheit hierdurch nicht ihre grundsätzliche Plausibilität, sondern behält auch bei kritischer Prüfung eine große argumentative Überzeugungskraft, die es nachfolgend weiter zu explizieren und gleichheitsrechtlich nutzbar zu machen gilt. 4. Bereichsspezifik I: Lokale Kriterien der Gerechtigkeit Für den Fortgang der Untersuchung ist die zuvor in ihren Grundzügen dargestellte Gerechtigkeitstheorie Walzers zunächst im Hinblick auf ihre Prämissen zu präzisieren. Komplexe Gleichheit basiert danach auf der Kombination von drei Annahmen775: 1. Die Kriterien der Gerechtigkeit, nach denen ein Gut zu verteilen ist, resultieren aus der sozialen Bedeutung des Guts. 2. Verschiedene Güter werden in ein und derselben Gesellschaft nach einer Vielzahl unterschiedlicher Verteilungsregeln distribuiert. 3. Jedes Gut soll nach den Geltungskriterien seiner eigenen Sphäre verteilt werden.776 An dieser Stelle sind insbesondere die Prämissen eins und zwei näher zu betrachten. Beide betreffen interne Gesichtspunkte der Bereichsspezifik, beide kreisen um Fragen nach dem Vorhandensein lokaler Kriterien der Gerechtigkeit. Vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes gilt es daher zu klären, ob und gegebenenfalls in wie weit diese bereichsspezifischen Gerechtigkeitskriterien Anhaltspunkte für die Bestimmung gleichheitsrechtlicher Rechtfertigungsanforderungen liefern können. a) Soziale Bedeutung von Gütern Den Ausgangspunkt der Konzeption komplexer Gleichheit bilden Überlegungen Walzers zu einer Theorie der Güter.777 Ein gerechtigkeitsethisch fundiertes Verständnis von Gütern lässt sich dabei nur gewinnen, wenn man diese nicht isoliert betrachtet, sondern in ihren sozialen Sinnbezügen begreift. Damit verschiebt sich zugleich der Fokus des Interesses von den Gütern als solchen auf deren Entstehungszusammenhang: „Der Grund, weshalb Güter auf Erden eine gemeinschaftliche Bedeutung haben, liegt darin, daß ihre Konzeption und Erzeugung soziale Prozesse sind.“778 Was als Gut gilt, 775 776 777 778
Vgl. auch Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 584. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 12. Vgl. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 30 ff. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 32.
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und welche Bedeutung ihm zukommt, wird so von der Gesellschaft bestimmt. Walzer untersucht in diesem Zusammenhang die soziale Bedeutung solch heterogener Güter wie Sicherheit und Wohlfahrt, den Zugang zu Arbeit und Ämtern, Freizeit, Erziehung und Bildung, Verwandtschaft, Liebe, göttliche Gnade oder politische Macht. Dabei tritt deutlich zutage, dass kulturell wie historisch unterschiedliche Auffassungen vom Bedeutungsgehalt einzelner Güter existieren. Erst die Kenntnis dieser sozialen Bedeutungen, soweit ist Walzer beizupflichten, ermöglicht Antworten auf die Frage nach den maßgeblichen Verteilungskriterien. Den Gütern „an sich“ kann ein intrinsisches Set von Verteilungskriterien hingegen nicht entnommen werden779, sie sind insofern von gerechtigkeitsethischer Indifferenz gekennzeichnet. Wird demzufolge die Entscheidung über Verteilungsfragen an kulturelle und historische Bedeutungszuschreibungen rückgebunden, so kommt darin neben der Pluralität der Güter die Pluralität und Wandelbarkeit der Verteilungsgesichtspunkte zum Ausdruck – ein Umstand, der zu Recht im Zentrum der Theorie komplexer Gleichheit steht und den es im weiteren Verlauf genauer zu entwickeln gilt. Zugleich verweisen die vorigen Ausführungen jedoch auf ein fundamentales Problem dieser Theorie, das von Walzer selbst nur unzureichend ausgearbeitet wird: es betrifft die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der sozialen Bedeutung eines Gutes und den lokalen Gerechtigkeitskriterien zu dessen Verteilung. Die angesprochene Problematik wird in der Auseinandersetzung mit der Theorie komplexer Gleichheit vielfach nicht erkannt. Walzer selbst hat hierzu nicht unwesentlich beigetragen, indem er seine Argumentation an den entsprechenden Stellen zumeist sehr vage hält. Ein gutes Beispiel dafür ist seine Zusammenfassung dieses zentralen Gedankengangs im Gespräch mit Chantal Mouffe: „Das Argument der Spheres of Justice lautet knapp und präzis: die Verteilung der sozialen Güter ist an die Bedeutung geknüpft, die diese im Leben der Menschen haben, an die man sie verteilen wird.“780 Weit davon entfernt, auch nur annähernd „präzise“ zu sein, wird die entscheidende Relationsbestimmung lediglich dahin expliziert, dass Verteilungskriterien an die Bedeutung des Guts „geknüpft“ seien. Zumindest etwas deutlicher erscheint die Formulierung in „Sphären der Gerechtigkeit“, wonach es „die Bedeutung der Güter ist, die Art und Richtung ihrer Bewegung bestimmt. Distributionskriterien und -arrangements stecken nicht im Gut selbst bzw. im Gut an sich, sondern im sozialen, d.h. im gesellschaftlichen Gut. Wenn wir wissen, was dieses soziale Gut ist, was es für jene bedeutet, die ein Gut in ihm sehen, dann wissen wir auch, von wem es aus 779 780
Vgl. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 34. Walzer, Prokla 87 (1992), 286, 291.
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welchen Gründen wie verteilt werden sollte.“781 Doch eben diese Annahme Walzers geht fehl, was im Folgenden begründet werden soll. Wie die Untersuchung zeigen wird, ist angesichts der hier vertretenen Einwände ein wesentliches Element der Theorie komplexer Gleichheit einer kritischen Revision zu unterziehen. Dieser Umstand führt jedoch im Ergebnis nicht dazu, dass die Konzeption insgesamt in Frage gestellt werden müsste, sondern dient vielmehr der Klärung ihrer theoretischen Grundlagen und der Präzisierung des gleichheitsrechtlichen Aussagegehalts. b) Soziale Bedeutung und gerechte Verteilung von Gütern Die soziale Bedeutung eines Guts determiniert dessen gerechte Verteilungskriterien. Wenn diese Auffassung Walzers zutrifft, so ist der angemessene distributive Umgang mit Gütern allein dadurch zu ermitteln, dass deren soziale Bedeutung hinreichend genau analysiert wird. David Miller hat die hiermit gekennzeichnete Position Walzers pointiert umschrieben: „Once we know what it is we have to allocate . . . we also know how we should allocate it – to whom and by what means. . . . Once we can establish what medical care, say, really means to us, we shall know by what methods and criteria it ought to be allocated among potential claimants.“782 Mit dieser verblüffend simpel anmutenden Antwort auf das Jahrhunderte alte Kernproblem distributiver Gerechtigkeit wird maßgeblich auf soziale Sinngebungen durch eine Gemeinschaft von Menschen Bezug genommen. Das ist auf den ersten Blick nicht nur plausibel, sondern mutet gar zwingend an: Wie sonst soll die richtige Verteilung eines Gutes zu bestimmen sein, wenn nicht unter Bezugnahme auf dessen gemeinschaftliche Bedeutung? Die Antwort fällt zunächst im Sinne Walzers aus: Gerechtigkeitsethische Verteilungsfragen setzen notwendig die Kenntnis der sozialen Sinngehalte voraus, die den distribuierten Gütern zugeschrieben werden. Doch Walzer hat umfassenderes im Sinn. Für ihn ist die genaue Interpretation der Bedeutung eines Guts nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingung, um dessen angemessene Distribution zu ergründen. Am deutlichsten hat der englische Politikwissenschaftler Brian Barry auf den damit verbundenen weitreichenden Erklärungsanspruch Walzers hingewiesen: „He is unquestionably correct in thinking that it would be absurd to talk about justice in a society without having this kind of information about the significance to the people concerned of different goods that they distribute among themselves. But the trouble is that this is not enough for his purposes. What Walzer needs to be able to show is that, once he has estab781 782
Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 34 (Hervorhebung S.M.D.). Miller, Introduction, S. 5.
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lished the meaning, the just distribution will fall out of it.“783 Bei dem Versuch, diesen selbstgestellten Anspruch einzulösen, scheitert Walzer. Sein Scheitern ist insofern zwangsläufig, als lediglich bei wenigen Gütern die soziale Bedeutung derart dicht an Verteilungsgesichtspunkte gekoppelt ist, dass ihre Ermittlung ein hinreichendes Kriterium für die Bestimmung der Verteilungsweisen darstellen würde. Von den in Sphären der Gerechtigkeit untersuchten Gütern trifft das allenfalls auf die in den Kapiteln 9 bis 11 behandelten zu: Liebe, göttliche Gnade und Anerkennung. Hier erscheint die Exploration der sozialen Bedeutung jeweils sehr weitgehenden Aufschluss über Verteilungsaspekte geben zu können, „the meaning of the good and its criterion of just distribution really are tightly interlocked“784. Die Grenzen eines solchen Vorgehens werden indes sichtbar, wenn man den Blick auf weitere, stärker umstrittene Güter richtet und diese mit dem Walzer’schen Grundansatz zu interpretieren versucht. c) Das Beispiel Gesundheitsversorgung Überprüfen wir Walzers Konzeption am Beispiel eines Guts, das von besonderer aktueller Brisanz ist, der Gesundheitsversorgung. Im Brennpunkt moralphilosophischer Auseinandersetzungen steht das Gesundheitswesen gegenwärtig in doppelter Hinsicht. Dabei geht es zum einen um jenen Konfliktbereich, der durch das Aufeinanderprallen neuer humantechnologischer Entwicklungen der Biomedizin und tradierter moralischer Überzeugungen gekennzeichnet ist. Neben das derart umschriebene Moralproblem der modernen Medizin tritt zunehmend ein Gerechtigkeitsproblem.785 Gerechtigkeitsprobleme der Gesundheitsversorgung betreffen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Im Mittelpunkt von Verteilungsgerechtigkeit steht die Suche nach angemessenen Verteilungskriterien, die Walzer wie gesehen aus der sozialen Bedeutung des betroffenen Guts ableiten will: Doch worin besteht nun die soziale Bedeutung medizinischer Versorgung? Eine nahe liegende erste Antwort könnte lauten: Ihre Bedeutung besteht darin, das Bedürfnis nach einem langen und gesunden Leben zu erfüllen. In diesem Sinne konstatiert Walzer, dass Langlebigkeit unter modernen Menschen ein sozial anerkanntes Bedürfnis darstelle: „Und so wird zunehmend jede Anstrengung unternommen, sie allen gleichermaßen zuteil werden zu lassen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß jeder Bürger die gleiche Chance auf ein langes und gesundes Leben hat.“786 Wenn das somit geschilderte 783
Barry, Spherical Justice and Global Injustice, S. 71 f. So zutreffend Miller, Introduction, S. 5. 785 Zu Gerechtigkeitsproblemen sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung vgl. Kersting, in: ders. (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, S. 467 ff. 784
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gesellschaftlich anerkannte Bedürfnis den Bedeutungsgehalt von Gesundheitsversorgung bestimmt, dann erscheint die Annahme Walzers zunächst nicht unplausibel, das lokale Verteilungskriterium ergebe sich ebenso einfach wie folgerichtig – es ist das Distributionsprinzip des Bedürfnisses. Nun ist das Bedürfnis nach Gesundheit von anderer Qualität als dasjenige nach einem neuen Haarschnitt: Bei ersterem handelt es sich um ein konditionales Gut, das heißt um eines jener Güter mit fundamentalem Ermöglichungscharakter. Deren Besonderheit wird hier im Anschluss an Wolfgang Kersting darin gesehen, dass sie zwar nicht alles sind, ohne sie jedoch ist alles nichts: „In Zeiten der Normalität sind sie unauffällig; denn dann sind wir uns ihres Besitzes sicher und achten in der Routine des Lebensalltags nicht sonderlich auf sie. Wenn sie uns jedoch knapp werden und wir darum in existentielle Grenzsituationen und Notlagen geraten, dann bilden sie den einzigen Inhalt unserer Sorge; alle anderen Interessen verblassen dann, der Erwerb und Wiedererwerb der konditionalen Güter wird zum ausschließlichen Ziel unseres Handelns.“787 Jedenfalls im Hinblick darauf, dass „ohne sie alles nichts“ sei, ist dieser Aussage mit Vorsicht zu begegnen: Ihre Zielrichtung darf nicht dahin missverstanden werden, als solle Kranken in diskriminierender Weise eine wie auch immer geartete mindere Wertschätzung im Hinblick auf ihre Lebensperspektiven entgegen zu bringen sein. In ihrem zutreffenden Kern verweist die Formulierung indes darauf, dass es im Bereich der Gesundheitsversorgung entgegen der Auffassung von Anhängern eines radikalen Marktliberalismus eben nicht um ein Gut unter vielen geht, sondern elementare menschliche Grundbedürfnisse auf dem Spiel stehen. All das sieht Walzer zutreffend, wenn er die soziale Bedeutung medizinischer Versorgung untersucht und dabei von einem tief empfundenen, kulturell geprägten und mit Gewicht versehenen „allgemeinmenschlichem Bedürfnis“ spricht.788 Nicht überzeugen können dagegen die Schlussfolgerungen, die hieraus gezogen werden. Walzer argumentiert gegen den freien Markt als Distributionsprinzip der Gesundheitsversorgung, da er der sozialen Bedeutung des in Rede stehenden Gutes nicht gerecht werde; so scheine die „Distributionslogik medizinischer Praxis doch eher folgende zu sein: die medizinische Betreuung ist an der Krankheit und nicht am Vermögen des Patienten zu orientieren“789. Um Missverständnisse zu vermeiden: Nicht das Ergebnis als solches steht an dieser Stelle zur Diskussion, fragwürdig erscheint vielmehr der dahin führende Gedankengang, nämlich die Ableitung von Vertei786
Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 139. Kersting, Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend, S. 185. Vgl. auch Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, S. 309. 788 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 140. 789 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 138. 787
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lungsprinzipien aus der Exploration sozialer Bedeutungsgehalte. Weshalb sollte ein konditionales Gut, dessen Bedeutung in der Befriedigung eines Bedürfnisses besteht, lediglich die Verteilung nach Bedürftigkeitskriterien zulassen? Walzer verweist darauf, dass notwendige Bedarfsgüter eben keine Waren seien. Doch weshalb sollte dann die Verteilung anderer konditionaler Güter wie Nahrung oder Kleidung über den Markt erfolgen dürfen, ohne die Kritik Walzers auf sich zu ziehen? Nehmen wir zur Verteidigung Walzers an, dass es im Bereich der medizinischen Versorgung – anders als bei Nahrung oder Kleidung – strukturelle Besonderheiten gibt, die auch bei öffentlicher Auszahlung eines an den notwendigen Bedarfsgütern orientierten Geldbetrages gegen eine rein marktbezogene Verteilung dieses Gutes sprechen. Dabei darf jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass neben der Möglichkeit einer reinen Marktregulierung oder dem Modell des absoluten Wohlfahrtsstaates vielfältige Optionen einer Mischung privater und öffentlicher Versorgungsformen bestehen.790 Induziert nun die von Walzer untersuchte soziale Bedeutung der Gesundheitsversorgung tatsächlich eine allein wohlfahrtsstaatlich zu gewährleistende Verteilung am Distributionsprinzip der Bedürftigkeit? Die Antwort hierauf fällt ablehnend aus, wenn man sie vor dem Hintergrund von Knappheitsbedingungen betrachtet und Rationierungsprobleme nicht in wirklichkeitsfremder Weise von vornherein ausschließt. Zur Begründung bedarf es zweier aufeinander aufbauender Erwägungen. Zunächst ist festzustellen, dass das bedürfnisorientierte Verteilungsprinzip nicht dazu in der Lage ist, einem ungehemmten Versorgungsmaximalismus entgegenzuwirken. Für die Vereinigten Staaten von Amerika ist auf diesen Umstand in jüngerer Zeit insbesondere von Dworkin nachdrücklich hingewiesen worden. Unter Berücksichtigung von Knappheitsbedingungen im öffentlichen Gesundheitssystem analysiert Dworkin Folgerungen aus dem von ihm so bezeichneten „rescue principle“, hinter dem sich nichts anderes als die bedürfnisorientierte Betrachtung des konditionalen Guts Gesundheitsversorgung verbirgt. „The rescue principle is so ancient, so intuitively attractive, and so widely supported in political rhetoric that it might easily be thought to supply the right standard for answering questions about rationing. In fact, however, the rescue principle is almost wholly useless for that purpose, and the assumption that it sets the proper standard for health-care reform has done more harm than good. The principle does offer an answer to the question of how much America should spend on health care overall: it says we should spend all we can until the next dollar would buy no gain in health or life expectancy at all. No sane society would try to meet that standard . . . In past centuries, however, there was not so huge a gap be790 Vgl. Kersting, Gerechtigkeitsprobleme sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung, S. 469 ff.
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tween the rhetoric of the rescue principle and what it was medically possible for a community to do. But now that science has created so many vastly expensive forms of medical care, it is preposterous that a community should treat longer life as a good that it must provide at any cost – even one that would make the longer lives of its people lives barely worth living. So the rescue principle’s answer to the question of how much a society should spend on health care overall must be rejected as incredible. Once that answer is rejected, the principle has no second-best or fallback level of advice: it simply is silent.“791 Die Analyse Dworkins unterstreicht, dass das Distributionsprinzip Bedürfnis lediglich für einen basalen Bereich medizinischer Grundversorgung dominante Geltung beanspruchen kann. Hingegen bedarf es angesichts explodierender Kosten in den öffentlichen Gesundheitssystemen und expansiver Perfektionierungstendenzen in der Medizintechnik Grenzen des Bedürftigkeitsarguments, die zugleich Grenzen wohlfahrtsstaatlich motivierter Egalisierungsbemühungen darstellen. Eine an Maximalforderungen orientierte Gesundheitsversorgung, das hat Kersting in seinen Untersuchungen eindrucksvoll aufgezeigt, ist weder in ökonomischer noch in ethischer Hinsicht erstrebenswert.792 Damit ist das über die demokratisch konsentierte Grundversorgung hinausgehende Verteilungsfeld wieder weitgehend offen, was die Frage nach leitenden Distributionskriterien anbetrifft. Zugleich kommen damit die Mängel der ersten Prämisse in Walzers Konzeption komplexer Gleichheit, wie sie eingangs dargelegt wurde, in den Blick: Es bedarf nunmehr lediglich eines abschließenden Argumentationsschrittes, um ihre Schwäche zu offenbaren. Es dürfte kaum in Abrede zu stellen sein, dass Walzer mit seiner Annahme richtig liegt, wonach die soziale Bedeutung medizinischer Versorgung in den Vereinigten Staaten von Amerika ebenso wie in Europa vorrangig immer noch darin besteht, das Bedürfnis nach einem gesunden, langen Leben zu befriedigen. Wie zuvor aufgezeigt, lässt sich diese Annahme des Bedeutungsgehalts für einen Bereich medizinischer Grundversorgung auch in lokale Distributionskriterien umsetzen, die sich maßgeblich am Bedürfnisprinzip – und nicht etwa am Vermögen des einzelnen – zu orientieren haben. Wie aber sieht es nun für den Bereich jenseits des gemeinschaftlich bestimmten Versorgungssockels aus? Auch hier, so ist zunächst zu betonen, erfüllt Gesundheitsversorgung den Zweck der Bedürfnisbefriedigung im eben beschriebenen Sinne. Zwar wird das Bedürfnis, um dessen Erfüllung 791
Dworkin, Sovereign Virtue. The Theory and Practice of Equality, S. 309 (Hervorhebung S.M.D). 792 Kersting, Gerechtigkeitsprobleme sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung, S. 491 ff.
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es geht, moralisch weniger zwingend erscheinen als jene, die der gemeinschaftlich anerkannten Grundversorgung unterliegen. Dieser Umstand vermag gleichwohl nichts daran zu ändern, dass auch hier die soziale Bedeutung des Guts darin besteht, dem Bedürfnis nach Wiederherstellung oder Erhaltung eines gesunden Lebens zu dienen. Dennoch, und damit geraten wir in Widerspruch zur Argumentation Walzers, richtet sich die Distribution oberhalb des Versorgungssockels nicht mehr notwendig nach dem Bedürfnisprinzip, sondern kann auch anderen Verteilungsmechanismen, etwa dem Marktprinzip, überantwortet werden. Amy Gutmann hat den hiermit angesprochenen Zusammenhang in einer aufschlussreichen Frage verdichtet, deren Beantwortung nach den vorliegend angestellten Überlegungen vergleichsweise eindeutig ausfällt: „Once an adequate level of medical care is provided for all members, why should people not be free to buy more medical care with their income, as long as this limited market in medical care does not undermine provision of adequate medical care for all citizens, regardless of their income?“793 Überzeugende Gründe für einen solchen Ausschluss von Marktmechanismen außerhalb der medizinischen Grundversorgung sind kaum ersichtlich. Daran kann auch die Walzer’sche Unterscheidung von notwendigen Bedarfsgütern und Waren nichts ändern – eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern den marktbezogenen Erwerb von Luxusgütern gestattet, ist gerechtigkeitstheoretisch nicht dazu legitimiert, den Erwerb zusätzlicher, das heißt über den Bereich angemessener einkommensunabhängiger Grundversorgung hinausgehender medizinischer Leistungen zu verbieten, solange dies den gemeinschaftlich festgelegten egalitären Basisbereich nicht beeinträchtigt.794 Den dergestalt limitierten Anwendungsbereich des Bedürfnisprinzips scheint auch Walzer zu erkennen, ohne daraus allerdings die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und seine erste Prämisse der Theorie komplexer Gleichheit zu revidieren. So wird eine Distribution notwendiger Bedarfsgüter nach Marktprinzipien jedenfalls dann für möglich gehalten, „wenn sie jenseits und oberhalb eines durch demokratische Entscheidungsprozesse fixierten Versorgungspegels zur Verfügung stehen“795. Als Ergebnis der bisherigen Ausführungen bleibt somit zunächst festzuhalten: Güter können auf ihre soziale Bedeutung hin analysiert werden. Die soziale Bedeutung eines Guts, insoweit ist Walzer zuzustimmen, kann nähere Aufschlüsse über dessen angemessene Verteilung geben. Eine hinrei793
Gutmann, Justice across the Spheres, S. 116. Vgl. Gutmann, Justice across the Spheres, S. 118. 795 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 143, mit der zutreffenden Einschränkung, dass hierdurch die Verteilung unterhalb dieser Schwelle nicht gestört oder verzerrt werden dürfe. 794
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chende Bedingung zur Ermittlung angemessener Distributionskriterien stellt sie hingegen nicht dar; wie die Untersuchung am Beispiel der Gesundheitsversorgung verdeutlicht hat, geht Walzer insoweit fehl. Zu einem ähnlichen Befund gelangt Gutmann bei ihrer an die Theorie komplexer Gleichheit angelehnten Analyse des sozialen Guts der Arbeit, für das ebenfalls mehrere mögliche Verteilungsstandards in Betracht kommen: „Which standard is morally best? We cannot answer this question by deciding what jobs really mean in our society. That’s the problem, not its resolution.“796 Lokale Kriterien distributiver Gerechtigkeit, so das vorläufige Resultat der angestellten Überlegungen, können nicht mit hinreichender Sicherheit aus einer noch so genauen Erforschung des sozialen Bedeutungsgehalts eines Gutes extrapoliert werden. Für die gleichheitsrechtliche Dimension komplexer Gleichheit sind sie, das werden die nachfolgenden Erörterungen zeigen, gleichwohl zu berücksichtigen, wenn auch in einem gegenüber der Konzeption Walzers abgeschwächten Sinne. d) Gleichheitsrechtliche Filterfunktion lokaler Kriterien Die besondere Nähe von grundrechtlichem Gleichheitssatz und allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen ist im Laufe dieser Arbeit mehrfach offenbar geworden.797 Dabei wurde wiederholt vor einer gerechtigkeitstheoretischen Überstrapazierung des Gleichheitspostulats gewarnt. Allerdings haben die Untersuchungen zur bereichsspezifischen Entfaltung des Gleichheitssatzes gezeigt, dass lokale Kriterien der Gerechtigkeit für die Gleichheitsprüfung notwendig an Bedeutung gewinnen. Gerade darin liegt der eigentliche Sinn von Bereichsspezifik: durch die Berücksichtigung lokaler Kriterien den Eigenarten des jeweiligen Bereichs ausreichend Rechnung zu tragen und die vorgefundenen Besonderheiten im Rahmen der Gleichheitskontrolle sachgerecht aufnehmen zu können. Insofern von einer „Bindung an Gerechtigkeitsprinzipien spezifischer Lebensbereiche“798 zu sprechen, weist in die richtige Richtung, droht jedoch den irreführenden Anschein zu erwecken, als müssten solche Prinzipien lediglich abgelesen und verfassungsgerichtlich befolgt werden. Außer acht zu geraten droht dabei ein Umstand, den Jon Elster als Ergebnis seiner Studie „Local Justice“ mit den Worten formuliert, lokale Gerechtigkeit sei „above all a very messy business“799. Die 796
Gutmann, Justice across the Spheres, S. 106. Siehe etwa Zweiter Teil, 1. Kapitel, A. VI.; 2. Kapitel, A. I. 1.; Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. a) bb), (1); vgl. auch BVerfGE 39, 169, 186: „Im Bereich des allgemeinen Gleichheitssatzes genügt es . . ., daß für eine differenzierende Regelung sachlich einleuchtende Gründe bestehen, die dem Gerechtigkeitsgefühl entsprechen und keine Willkür erkennen lassen“. 798 So Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 320. 797
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verfassungsrechtliche Berücksichtigung gerechtigkeitsbezogener Erwägungen muss daher besonders zurückhaltend erfolgen und bedarf genauer Überprüfung, will sie sich nicht dem Vorwurf des moralischen Intuitionismus ausgesetzt sehen. Was zeichnet nun lokale Kriterien der Gerechtigkeit aus und wie können sie verfassungsrechtlich operationalisierbar gemacht werden? Für die Beantwortung dieser Fragen sind neuere Untersuchungen des Gleichheitsgrundrechts durch Alexander Somek aufschlussreich. Danach sind lokale Kriterien auf unterschiedliche institutionelle Sektoren der Gesellschaft zugeschnitten, die jeweils unterschiedliche Kriterien verwenden: „Während beispielsweise bei der Vergabe von lebensnotwendigen Organen Wartelisten in Verwendung stehen, werden Stipendien aufgrund des Studienerfolgs vergeben. Die Höhe einer Strafe bemisst sich nach der Schwere des Vergehens (und der Schuld). Das Gehalt von Beamten hängt von ihrem Dienstalter ab. Zwischen solchen Kriterien besteht kein positiver, sondern bloß ein negativer Zusammenhang. Während wir also nicht angeben können, durch welche vermittelnden Schritte man von der Verwendung einer Warteliste bei lebensnotwendigen Organen zur Vergabe von Stipendien nach dem Studienerfolg gelangt, ist uns gleichwohl intuitiv klar, daß es unsachlich wäre, die distributiven Kriterien zu tauschen.“800 Diese Ausführungen lenken den Blick auf ein wesentliches Merkmal des Gleichheitsschutzes anhand lokaler Gerechtigkeitskriterien: Letztere können lediglich zu einer gleichheitsrechtlich deutlich zurückgenommenen Kontrolle der überprüften Maßnahme führen. Im Mittelpunkt der Rechtfertigungsprüfung steht die Frage nach der Exklusion des fraglichen Differenzierungskriteriums aus dem Kreis jener lokalen Kriterien der Gerechtigkeit, die als bereichsspezifische Unterscheidungskriterien gemeinschaftlich anerkannt sind. Die Exklusion führt jedoch nicht automatisch zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit, sondern bewirkt vielmehr eine Erhöhung der gleichheitsrechtlichen Prüfungsintensität und damit eine striktere Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der entscheidende Grund hierfür liegt in der Verwendung eines „suspekten“ Differenzierungsmerkmals, dessen Abweichung von etablierten Unterscheidungsstandards innerhalb eines Bereiches eine intensivere Kontrolle gebietet. Lokalen Kriterien der Gerechtigkeit kommt so insbesondere eine gleichheitsrechtliche Filterfunktion zu, die der negativen Auslese bestimmter Differenzierungskriterien zum Zwecke genauerer Nachprüfung dient. 799
Elster, Local Justice. How Institutions Allocate Scarce Goods and Necessary Burdens, S. 15; vgl. auch Schmidt/Hartmann, Lokale Gerechtigkeit in Deutschland, S. 259. 800 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 114.
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Doch weshalb, so ein nahe liegender Einwand derer, die die engere Anbindung des Gleichheitsrechts an Gerechtigkeitserwägungen befürworten, vermögen bereichsspezifische Kriterien der Gerechtigkeit nicht zugleich in positiver Weise bestimmte Unterscheidungsmerkmale als gleichheitsrechtlich unbedenklich auszuweisen? Auf einen Grund wurde bereits bei der Diskussion des Walzer’schen Grundansatzes eingegangen: Bestrebungen, aus der sozialen Bedeutung eines Guts mit hinreichender Gewissheit auf dessen Verteilungskriterien zu schließen, sind zum Scheitern verurteilt. Doch auch jenseits dieses Ansatzes ist in pluralistischen Gesellschaften eine positive Zuordnung singulärer Differenzierungskriterien zu bestimmten Gütern oder Bereichen illusionär. Das zeigt bereits ein kurzer Überblick über die zuvor aufgeführten Beispiele für lokale Gerechtigkeitskriterien bei Somek. Selbst in diesen vermeintlich eindeutigen Beispielen ist die parallele Existenz anderweitiger Verteilungskriterien nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. So repräsentiert etwa bei der Vergabe von Organen zur Transplantation die Verwendung von Wartelisten in Wahrheit eher ein Bündel unterschiedlicher, im Einzelnen durchaus heterogener Distributionskriterien, wie ein Blick auf die Vergabepraxis der Zentralstelle Eurotransplant in Leiden verdeutlicht. Mögliche Kriterien bei der Organverteilung sind danach die Wartezeit, die Dringlichkeitsklassifikation des Patienten sowie insbesondere das Kriterium der Gewebeverträglichkeit, das heißt der Grad an Übereinstimmung von Spender- und Empfängergewebe.801 Stipendien wiederum werden vielfach nicht allein nach dem Studienerfolg vergeben, sondern auch nach sozialen Kriterien. Das Strafmaß kann neben der Schwere des Vergehens und der Schuld weitere Gesichtspunkte berücksichtigen, so zum Beispiel nach der Tat liegende Umstände wie etwa ein Geständnis des Täters. Auch die Besoldung der Beamten hängt nicht allein vom Dienstalter ab, sondern richtet sich nach weiteren Distributionskriterien wie dem ausgeübten Amt, dem Ort des dienstlichen Wohnsitzes, Familienstand, Anzahl der Kinder und so fort. Angesichts der Vielfältigkeit in Betracht zu ziehender Differenzierungskriterien und der Multiplizität von Bedeutungsgehalten einzelner Güter kann die Orientierung an lokalen Kriterien der Gerechtigkeit damit nicht zu verfassungsrechtlich sanktionierten Standards exklusiv relevanter Unterscheidungsmerkmale in einzelnen Bereichen führen. Der öffentliche Diskurs über Fragen distributiver Gerechtigkeit ist auf diese Weise weitgehend offen zu halten und vor den Gefahren einer expansiven Gerechtigkeitsjurisprudenz zu schützen. Hingegen ist es Aufgabe der Gerichtsbarkeit, über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit oder Unzulässigkeit bestimmter Verteilungsparameter zu entscheiden; dabei kann das gleichheits801 Vgl. Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, S. 365 f. m. w. N.
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rechtliche Schutzniveau wie gesehen unter anderem davon abhängig gemacht werden, ob die überprüfte hoheitliche Maßnahme aus dem Kreis gemeinschaftlich anerkannter lokaler Kriterien der Gerechtigkeit herausfällt und insofern an ein verdächtig erscheinendes Differenzierungsmerkmal anknüpft. e) Lokale Kriterien des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts Ist somit die gleichheitsrechtliche Bedeutung bereichsspezifischer Gerechtigkeitskriterien jedenfalls im Grundsatz kaum zu bezweifeln und dem entsprechend im verfassungsrechtlichen Schrifttum überwiegend anerkannt802, so erscheint die Legitimationsbasis für die Akzeptanz lokaler Gerechtigkeitskriterien umso problematischer. Die ganze, uferlos anmutende Weite der Erwägungen wird deutlich, wenn man Vorschläge der Verfassungsrechtslehre betrachtet. Danach soll das gleichheitsrechtlich relevante Kriterium der Gerechtigkeit etwa „aus der Verfassung, aber auch aus der Rechtsgeschichte, der Rechtsphilosophie, also dem gesamten Diskurs der ‚offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten‘“803 zu entnehmen sein. Auch der Verweis auf „fundierte allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“804 ist insofern kaum konkreter. Noch unberechenbarer wird der verfassungsgerichtliche Umgang mit Gleichheitsfragen, wenn gerechtigkeitsbezogene Erwägungen mit spezifischen Strukturen eines „kulturgeschichtlichen Sonderbereichs“805 im Verhältnis von Künstlern und Kunstvermarktern begründet werden. Die Gefahr, die mit diesen Vorstellungen eines weiten gerechtigkeitsethischen Betätigungsfeldes der Verfassungsgerichte einhergeht, besteht unverkennbar in der Entfesselung eines moralischen Intuitionismus auf Seiten der Gerichtsbarkeit, dessen Folgen Somek in pointierter Weise charakterisiert hat: „Indem Verfassungsgerichte den moralischen Intuitionen ihrer Mitglieder freien Lauf lassen, gewinnen sie gewiß an Bedeutung für den Staat. Sie werden volksnah. Denn Moralisieren kann schließlich jeder. Es gelingt ihnen damit auch, die Aufmerk802 Siehe etwa Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, § 124, Rn. 214 ff. zu „bereichsspezifischen Vorgaben der Sachgerechtigkeit“. Vgl. auch Heckel, Gleichheit oder Privilegien?, S. 10: „Die Prägung der Gleichheit durch die spezifischen Prinzipien der Gerechtigkeit und Sachgerechtigkeit führt deshalb zur Aufgliederung des allgemeinen Gleichheitssatzes in eine Vielzahl spezifischer Gleichheitssysteme in den verschiedenen Lebensbereichen.“ 803 Huster, Rechte und Ziele, S. 226. 804 So Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 321, unter Zustimmung zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in BVerfGE 9, 338, 349; 42, 64, 72. 805 BVerfGE 75, 108, 159.
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samkeit auf die von ihnen beurteilten Probleme zu lenken. Durch den Gebrauch des intuitionistischen Tons untergraben Gerichte aber auch . . . jene Autorität, die ironischerweise gerade Juristen von ihnen erwarten. Moralisierende Gerichte leben auf Kredit. Sie verlieren jegliche Autorität, die sachlich unwiderstehlich wäre.“806 Um sich nicht in intuitionistischer Beliebigkeit zu verlieren, bedarf der verfassungsrechtliche Rückgriff auf lokale Kriterien der Gerechtigkeit daher konkretisierender Anhaltspunkte, die jene bereichsspezifischen Besonderheiten gleichheitsrechtlich operationalisierbar machen. Als hilfreich erweist sich dabei gerade die vielfach beklagte Tendenz zur rechtlichen (Über-)Regulierung, die immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfasst. Die für eine Mehrheit geltenden Gerechtigkeitskriterien finden sowohl im Verfassungsrecht als auch im einfachen Recht ihren deutlichsten Ausdruck, den es für die Prüfung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes nutzbar zu machen gilt. Mit der gleichheitsrechtlichen Berücksichtigung lokaler Kriterien der Gerechtigkeit wird das Gleichheitsgrundrecht nicht für allgemeine Erwägungen der Gerechtigkeit geöffnet, vielmehr hat es die Besonderheiten und die Bedeutung der dem betroffenen Lebensbereich innewohnenden Ordnung sachgerecht aufzunehmen.807 Das Verfassungsgericht hat daher nicht die Aufgabe der rechtsschöpferischen Gewinnung von Gerechtigkeitskriterien, sondern es steht vor der Aufgabe, das positive Recht und die vorhandenen Ordnungssysteme auf darin enthaltene lokale Kriterien zu untersuchen. Verhältnismäßig wenig Probleme ergeben sich insoweit auf der Ebene des Verfassungsrechts. So hat die Untersuchung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes gezeigt, dass das primäre Gemeinschaftsrecht mit seinen bereichsspezifischen Vorgaben bereits Gerechtigkeitskriterien aufnimmt, an denen sich die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit von Differenzierungen auszurichten hat. Ein Beispiel ist etwa Art. 33 mit seinen Zielvorgaben für den Bereich der Agrarpolitik, die dem handelnden Organ Anhaltspunkte dafür geben können, ob geplante Unterscheidungen vor dem Gleichheitssatz zu rechtfertigen sind. Die Orientierung an primärrechtlich umgrenzten lokalen Gerechtigkeitskriterien wird auch vom EuGH bestätigt, wenn dieser betont, die Zielvorgaben des Art. 33 lieferten zusammen mit den Bestimmungen des Art. 34 Abs. 2 Unterabs. 3 „sowohl positive als auch negative Kriterien für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der einschlägigen Maßnahmen“808 und damit auch für die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen. 806
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 237 f. Zutreffend Kirchhof, Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 35. 808 EuGH, Rs. 114/76, Bela-Mühle Josef Bergmann KG/Grows-Farm GmbH & Co. KG, 5.7.1977, Slg. 1977, 1211, 1221. 807
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Primärrechtlich fixierte bereichsspezifische Gerechtigkeitserwägungen finden sich weiterhin etwa im Hinblick auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz der Geschlechter: Art. 141 Abs. 4 erlaubt Abweichungen von diesem Grundsatz zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn.809 Die Vorschrift enthält damit ebenfalls lokale, zu Primärrecht geronnene Gerechtigkeitsvorstellungen, die es bei der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsprüfung zu berücksichtigen gilt. Schließlich sei auf ein Beispiel aus jüngerer Zeit hingewiesen, das den Bereich des Parlamentsrechts sowie die Bedeutung des mit dem EU-Vertrag eingefügten „Parteienartikels“ 191 betrifft.810 In einem Urteil vom 2. Oktober 2001811 hatte sich das EuG mit Nichtigkeitsklagen von Mitgliedern des Europäischen Parlaments zu befassen, die sich zu einer „Technischen Fraktion der unabhängigen Abgeordneten (TDI)“ zusammenschließen wollten. Erklärter Zweck der TDI-Fraktion war es, jedem Fraktionsmitglied die volle Ausübung seines parlamentarischen Mandats zu ermöglichen. Dabei versicherten sich die Gründungsmitglieder gegenseitig ihrer völligen politischen Unabhängigkeit, insbesondere wurde die freie Stimmabgabe in den Ausschüssen und im Plenum vereinbart sowie festgelegt, dass kein Mitglied dazu befugt sei, im Namen der Gesamtheit der Fraktion zu sprechen. Das Parlament nahm daraufhin am 14. September 1999 mehrheitlich einen Auslegungsvorschlag zu Art. 29 Abs. 1 der Geschäftsordnung an, demzufolge die Bildung einer Fraktion als unzulässig zu betrachten sei, „die offen jeden politischen Charakter und jede politische Zusammengehörigkeit zwischen ihren Bestandteilen verneint“812. Die Kläger haben mit ihren Nichtigkeitsklagen die Einrede der Rechtswidrigkeit gegen Art. 29 Abs. 1 und Art. 30 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments erhoben und dabei insbesondere einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz geltend gemacht: Die Bestimmungen führten dazu, dass Abgeordnete ohne politische Zusammengehörigkeit mit anderen Abgeordneten sich weder zu einer Fraktion zusammenschließen, noch auf die automatische Zugehörigkeit zu einer gemischten Fraktion berufen könnten; sie würden demnach als fraktionslose Abgeordnete angesehen und hierdurch in der uneingeschränkten Wahrnehmung ihres parlamentarischen Mandats beeinträchtigt.813 809
Vgl. Bieback, in: Fuchs (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht, S. 616 ff. Zur Einführung des Parteienartikels 138a EGV, nunmehr Art. 191 EGV, durch den EU-Vertrag vgl. S.M. Damm, ZParl 1999, 395, 414 ff. 811 EuG, verb. Rs. T-222/99, T-327/99, T-329/99, Jean-Claude Martinez, Charles de Gaulle/Europäisches Parlament, 2.10.2001. 812 Vgl. EuG, verb. Rs. T-222/99, T-327/99, T-329/99, Jean-Claude Martinez, Charles de Gaulle/Europäisches Parlament, 2.10.2001, Rn. 9. 810
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In seinem Urteil erklärt das EuG die aus den Vorschriften resultierende Ungleichbehandlung von Abgeordneten ohne politische Zusammengehörigkeit für gleichheitsrechtlich gerechtfertigt und verweist dazu auf unterschiedliche Gründe814, von denen an dieser Stelle insbesondere der Hinweis auf Art. 191 von Interesse ist. Nach Art. 191 sind europäische politische Parteien ein wichtiger Integrationsfaktor in der Europäischen Union. Sie tragen zur Herausbildung eines europäischen Bewusstseins bei und bringen den politischen Willen der Unionsbürger zum Ausdruck. Die mit Wirkung vom 1. November 1993 in den EG-Vertrag aufgenommene Bestimmung trifft damit auf der Ebene des Primärrechts erste grundsätzliche Aussagen über die Bedeutung europäischer politischer Parteien. Für den Bereich des politischen Prozesses enthält sie einzelne, wenn auch recht vage Kriterien, an denen sich die Bestimmung der Aufgaben europäischer Parteien zu orientieren hat. Hieraus lassen sich – trotz der bemerkenswerten Besonderheiten im Verhältnis zwischen europäischen Parteien und Fraktionen im Europäischen Parlament815 – auch Erkenntnisse für die Stellung der Fraktionen gewinnen. So dient die in der Geschäftsordnung aufgestellte Voraussetzung politischer Zusammengehörigkeit für die Fraktionsbildung insbesondere dazu, lokale politische Partikularismen im Interesse des europäischen Einigungsprozesses zu überwinden. Die Fraktionen tragen damit, wie das EuG zu Recht feststellt, „zum in Art. 191 niedergelegten Ziel bei, politische Parteien auf europäischer Ebene als Faktor der Integration in der Union hervortreten zu lassen, ein europäisches Bewusstsein herauszubilden und den politischen Willen der Bürger der Union zum Ausdruck zu bringen. Diese Rolle kann von einer technischen oder gemischten Fraktion aus Abgeordneten, die eine politische Zusammengehörigkeit ablehnen, nicht wahrgenommen werden.“816 Für den Bereich des politischen Prozesses enthält Art. 191 demnach primärrechtlich fixierte, gleichheitsrechtlich relevante Anhaltspunkte, die bei Differenzierungen im Hinblick auf Abgeordnete, Fraktionen und Parteien zu berücksichtigen sind und als lokale Kriterien mit Verfassungsrang Einfluss auf die grundrechtliche Rechtfertigungsprüfung nehmen können. Deutlich schwieriger gestaltet sich die Suche nach lokalen Kriterien hingegen dann, wenn diese nicht auf verfassungsrechtlicher Ebene festgelegt worden sind.817 Es bleibt insoweit nur der Rückgriff auf Ordnungssysteme 813 Vgl. EuG, verb. Rs. T-222/99, T-327/99, T-329/99, Jean-Claude Martinez, Charles de Gaulle/Europäisches Parlament, 2.10.2001, Rn. 142. 814 EuG, verb. Rs. T-222/99, T-327/99, T-329/99, Jean-Claude Martinez, Charles de Gaulle/Europäisches Parlament, 2.10.2001, Rn. 145 ff. 815 Dazu S.M. Damm, ZParl 1999, 395, 412 ff. 816 EuG, verb. Rs. T-222/99, T-327/99, T-329/99, Jean-Claude Martinez, Charles de Gaulle/Europäisches Parlament, 2.10.2001, Rn. 148. 817 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 306.
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des einfachen Rechts; deren Bedeutung für die grundrechtliche Gleichheitsprüfung ist indes notorisch umstritten und weist beträchtlichen Klärungsbedarf auf. Auf den Gedanken der Systemgerechtigkeit ist im Laufe dieser Untersuchung bereits hingewiesen worden. In seinem Zentrum steht nach verbreiteter Auffassung die Verpflichtung des Gesetzgebers, einmal gewählte Grundsätze innerhalb eines Ordnungssystems einzuhalten.818 Damit wird der Blick auf die einen bestimmten Bereich beherrschenden und prägenden lokalen Kriterien der Gerechtigkeit gelenkt, die sich aus einfachgesetzlichen Wertungen ergeben und denen der Gesetzgeber Rechnung zu tragen habe. Als solche hat das Bundesverfassungsgericht etwa die Entscheidungen des Gesetzgebers betont, bei der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts auf das Maß des individuell erlittenen Schadens abzustellen819, die Besteuerung des Vermögens nach einem Proportionaltarif vorzunehmen820, als Ordnungsprinzip im Steuerrecht von dem Kriterium der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen auszugehen821. Entsprechende Ordnungssysteme sind zum Beispiel das Sozialversicherungsrecht, das Steuerrecht, das Recht der Arbeitslosenhilfe oder der Bereich des Wahlrechts.822 Auch im Europarecht wird bereichsspezifisch ausgeprägten Gerechtigkeitskriterien Bedeutung für die primärrechtliche Gleichheitsprüfung einzelner Ordnungssysteme zugemessen. So ist im Beamtenrecht der Zugang zu öffentlichen Ämtern maßgeblich von den einfachgesetzlich geregelten lokalen Kriterien „ability, efficiency and integrity“823 bestimmt. Wird hiervon zugunsten anderer Gesichtspunkte, etwa Kriterien des Proporzes, abgewichen, so ist eine strenge gleichheitsrechtliche Kontrolle bereits aufgrund dieser Abweichung geboten. Eine äußerst strikte Gleichheitsprüfung hat der 818
Vgl. Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, S. 337 m. w. N. 819 BVerfGE 17, 122, 132. 820 BVerfGE 32, 78, 83. 821 BVerfGE 81, 228, 236 f.; allgemein zum Leistungsfähigkeitsprinzip im Steuerrecht vgl. auch Weiser, Rechtsprechung und Rechtsetzung auf dem Gebiet der direkten Besteuerung in der Europäischen Union, S. 47 ff.; Wernsmann, NJW 2000, 2078 ff. m. w. N. In ähnlicher Weise wie das BVerfG geht auch der österreichische Verfassungsgerichtshof im Bereich des Einkommenssteuerrechts davon aus, dass hier das beherrschende lokale Gerechtigkeitskriterium die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen sei, dazu ausführlich und kritisch Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 219 ff., m. N. auf die Judikatur des VfGH und das steuerrechtliche Schrifttum. 822 Vgl. Kim, Zur Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, S. 38; Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 320 f. 823 Vgl. Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 239 f.
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EuGH auch dort vorgenommen, wo es um die Abweichung des Rats von bestehenden handelspolitischen Regelungen durch eine ad hoc erlassene Verordnung ging. So stellte der Gerichtshof fest, dass der Rat von handelspolitischen Bestimmungen die er einmal aufgestellt habe nicht im Einzelfall abweichen könne, „ohne Störungen im Rechtsetzungssystem der Gemeinschaft hervorzurufen und den Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz zu verletzen“824. Eine enge Orientierung des EuGH an bereichsspezifischen Regelungssystemen hat auch die sorgfältige Studie von Winfried Anselm Adam zur Kontrolldichte-Konzeption des Gerichtshofs nachgewiesen.825 Im Dienst-, Außen- und Binnenwirtschaftsrecht, so das zusammenfassende Ergebnis der Untersuchung, richte sich die Kontrolldichte jeweils nach „sachbereichsbezogenen, unterschiedlichen Kriterien“826. Diese sind, ganz im Sinne des Ansatzes der Systemgerechtigkeit, maßgeblich vom einfachgesetzlichen Kontext geprägt in dem sie stehen. Darauf wird in jüngerer Zeit auch im europarechtlichen Schrifttum zum Gleichheitssatz verstärkt hingewiesen: „The principle of equality is applied in a number of diverse areas. Although the scope of the principle is wide, its precise content and effects depend on a series of factors, including the factual and legislative context in which it is applied“827. Eine gewisse „Anbindung“ der grundrechtlichen Gleichheitsprüfung an einfachgesetzliche Ordnungssysteme ist damit im Grundsatz durchaus akzeptiert. Von entscheidender Bedeutung ist dann jedoch die daran anschließende Frage nach der rechtlichen Qualität dieser Bindung. Auszuschließen ist zunächst eine Maximalbindung des Gesetzgebers an Kriterien der von ihm geschaffenen Ordnungssysteme. Eine solche Annahme würde offenkundig dazu führen, dass kontingente politische Entscheidungen des Gesetzgebers unter Anwendung des Gleichheitssatzes verfassungsrechtlich perpetuiert werden könnten. Die gleichheitsrechtliche Aussagekraft des Gebots systemimmanenter Folgerichtigkeit darf daher nicht überinterpretiert werden: Nicht jede Systemwidrigkeit führt zum Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Der Gesetzgeber ist an die von ihm selbst zuvor aufgestellten lokalen Kriterien, also grundlegende Wertungen und Ordnungsprinzipien in einem von ihm geregelten Bereich, nicht streng gebunden. Ihm muss vielmehr die Möglichkeit belassen werden, von seinen vormaligen Wertungen abzurücken und fehlende Konsequenz oder man824 EuGH, Rs. 113/77, NTN Toyo Bearing Company Ltd. u. a./Rat der Europäischen Gemeinschaften, 29.3.1979, Slg. 1979, 1185, 1209. 825 Adam, Die Kontrolldichte-Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte. 826 Vgl. Adam, Die Kontrolldichte-Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte, S. 237. 827 Tridimas, The Application of the Principle of Equality to Community Measures, S. 216.
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gelnde Folgerichtigkeit durch überwiegende anderweitige Gründe zu rechtfertigen.828 Anderenfalls drohte das Gebot verfassungsmäßiger Gesetze von der Gesetzmäßigkeit der Verfassung abgelöst zu werden.829 f) Anhebung gleichheitsrechtlich gebotener Schutzintensität Wenn demnach der Systemgedanke keine Maximalbindung an etablierte Ordnungssysteme zu begründen vermag, so stellt sich weiterhin die Frage, in wie weit er jedenfalls Anlass für eine strengere Gleichheitsprüfung geben kann. Eine Antwort hierauf erfordert, sich der (eingeschränkten) Bedeutung des Systembegriffs830 in dem bislang aufgezeigten Sinne zu vergewissern: Im Rahmen der Diskussion über Systemgerechtigkeit ist „ ‚System‘ . . . nicht mehr als ein Kürzel für solche normativen Strukturen, Ordnungsprinzipien oder Wertungen, die der gesetzgeberischen Ordnung eines Rechtsbereichs zugrundeliegen“831. Diese lokalen Kriterien der Gerechtigkeit können daher tatsächlich so verstanden werden, wie es Peter Martini in seiner Kritik am Systemgedanken zum Ausdruck gebracht hat.832 Danach sind die als Maßstäbe der Systemgerechtigkeit fungierenden Grundsätze und Prinzipien „wichtige, die Regelung des jeweiligen Sachbereichs bestimmende grundlegende Zielsetzungen“. Daraus lassen sich jedoch, entgegen der Auffassung Martinis, durchaus Folgerungen für eine Anhebung der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen ziehen. Insofern ist die Aussage, Abweichungen von grundlegenden lokalen Gerechtigkeitskriterien könnten durch „jedes andere legitime Ziel gerechtfertigt“833 werden, jedenfalls missverständlich. Zwar wird damit zutreffend zum Ausdruck gebracht, dass die Orientierung an etablierten und akzeptierten lokalen Kriterien nicht die prinzipielle Exklusion hiervon abweichender Rechtfertigungsgründe zu stützen vermag. Gleichwohl besteht ein erhöhter Rechtfertigungsbedarf bei differenzierenden Regelungen, die zu grundlegenden, bislang bereichsprägenden Ordnungsprinzipien in Widerspruch treten. Das erhöhte rechtfertigungsbedürftige Gewicht der Ungleichbehandlung führt in diesen Fällen zu einer Anhebung der gleichheitsrechtlich gebotenen Schutzintensität. Zur Klarstellung: Die hier vertretene Auffassung von der Zielrichtung des Systemgedankens fordert nicht bei jedem marginalen Widerspruch ge828
Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 45. Vgl. Kischel, AöR 124 (1999), 174, 196 m. w. N. 830 Allgemein zur Bedeutung des Systembegriffs in diesem Zusammenhang Kischel, AöR 124 (1999), 174, 176. 831 Kischel, AöR 124 (1999), 174, 177 m. w. N. 832 Vgl. Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, S. 295. 833 Martini, Art. 3 Abs. 1 GG als Prinzip absoluter Rechtsgleichheit, S. 295. 829
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setzlicher Neuregelungen mit bestehenden Ordnungssystemen die Anhebung der Prüfungsintensität, sondern lediglich im Falle des Konflikts mit grundlegenden bereichsspezifischen Gerechtigkeitskriterien. Das damit die vielfach übersteigerten Erwartungen an die Aussagekraft der Systemgerechtigkeit relativiert werden, liegt auf der Hand. Andererseits entgeht diese Auffassung einem verbreitet vorgetragenen Einwand, der die vermeintliche Höherrangigkeit der älteren systemzugehörigen Normen gegenüber neuen systemwidrigen Regelungen kritisiert.834 Gegenstand der Kritik sind somit verfassungsgerichtliche Annahmen eines Typus, wie ihn Somek etwa bei seiner Analyse der österreichischen Gleichheitsjudikatur herausstellt: Danach „dürfte die ältere Norm die Vermutung für sich haben, das implizite Gerechtigkeitskriterium etabliert zu haben, das im Zweifel auch in der anderen [neueren] Norm zum Ausdruck gebracht werden muß.“835 Für eine solche weitreichende Vorrangstellung etablierter Normen und Ordnungssysteme bestehen weder europarechtlich noch im deutschen Recht ausreichende Anhaltspunkte.836 Sie würde überdies eine erhebliche „Verkrustungsgefahr“837 des Rechts heraufbeschwören und der legislativen Gestaltungsfreiheit unzulässig enge Grenzen setzen. Entsprechende Gefahren werden von der hier zu Grunde gelegten abgeschwächten Berücksichtigung des Systemgedankens vermieden: Wie gesehen ist die Systemwidrigkeit einer Regelung nicht generell, sondern nur im Falle des Widerspruchs mit grundlegenden bereichsspezifischen Ordnungsprinzipien gleichheitsrechtlich von Bedeutung; zudem führt sie selbst dann nicht automatisch zur Annahme eines Gleichheitsverstoßes, sondern begründet lediglich erhöhte Anforderungen an die Rechtfertigung von Differenzierungen bei vergleichbaren Sachverhalten.838
834
Zur damit angesprochenen Rangfrage Kischel, AöR 124 (1999), 174, 204 f. Vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 173. 836 Zutreffend Gusy, NJW 1988, 2505, 2508: „Das alte Recht ist nämlich gegenüber dem neuen nicht vor- sondern gleichrangig. Deshalb wird es auch nach den allgemeinen Regeln derogiert. Insbesondere erlangt das alte Gesetz keinen gegenüber dem neuen höheren Rang in der Normenhierarchie, der alte Zweck keinen Vorrang gegenüber dem neuen.“ 837 Vgl. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, Art. 3, Rn. 45; Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 41. 838 Insofern kann das Vorliegen einer systemwidrigen Regelung daher als „Indiz“ für einen Gleichheitsverstoß bezeichnet werden, vgl. Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 99; Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, S. 338; Kischel, AöR 124 (1999), 174, 193 m. w. N. 835
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5. Bereichsspezifik II: Kontrolldichte bei Sphärenüberschreitung Im Mittelpunkt der bisherigen Betrachtungen zur Bereichsspezifik stand die Bedeutung lokaler Kriterien der Gerechtigkeit für den Gleichheitssatz. Dabei wurden insbesondere die ersten beiden (empirischen) Prämissen839 der Theorie komplexer Gleichheit in den Blick genommen. Die gleichheitsrechtliche Dimension komplexer Gleichheit wird jedoch darüber hinaus ganz wesentlich durch die dritte, normative Prämisse ausgeformt. Zentrales Element der Konzeption komplexer Gleichheit ist danach die Annahme, dass jedes Gut gemäß den Geltungskriterien seiner eigenen Sphäre zu verteilen sei. Walzer selbst hat, zwölf Jahre nach Erscheinen von Spheres of Justice, den Grundgedanken prägnant zusammengefasst, als er ausführte: „My idea was that these people should work out among themselves the meaning of the goods and the appropriate mechanisms of distribution – and that they should defend the integrity of the sphere against external, tyrannical interventions.“840 In den Mittelpunkt des Interesses rückt damit, wie wir beim Übergang von der einfachen zur komplexen Gleichheit gesehen haben841, die Forderung nach der Trennung verschiedener Distributionssphären unter Wahrung ihrer eigentümlichen Verteilungsregeln sowie die Bekämpfung des Missbrauchs von Ungleichheiten. Beide Anliegen dienen dem Ziel, dass die Position eines Bürgers in einer Sphäre oder hinsichtlich eines bestimmten Guts nicht unterminiert werden soll durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen Guts. Walzer hat dies in seinem „offenen Distributionsprinzip“ zu formalisieren versucht, das besagt: „Kein soziales Gut X sollte ungeachtet seiner Bedeutung an Männer und Frauen, die im Besitz eines anderen Gutes Y sind, einzig und allein deshalb verteilt werden, weil sie dieses Y besitzen.“842 Die bedeutendste, normativ gefasste Prämisse der Theorie komplexer Gleichheit weist somit einen recht klar umrissenen Inhalt auf, der im weiteren Verlauf insbesondere hinsichtlich der hieraus abzuleitenden gleichheitsrechtlichen Erkenntnisse genauer zu untersuchen sein wird. Zunächst ist jedoch die vorrangige Frage zu behandeln, mit welcher Berechtigung die dergestalt postulierte Trennung der einzelnen Bereiche überhaupt vorgenommen werden soll. Aus welchen Gründen sollte eine – alles andere als selbstverständliche – „Autonomie der Distributionssphären“843 zu beachten sein? 839 840 841 842 843
Siehe oben, Vierter Teil, 4. Kapitel, C. IV. 4. Walzer, Response, S. 287. Oben, Vierter Teil, 4. Kapitel, C. IV. 3. b). Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 50. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 46.
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a) Dominanz und Tyrannei Die Beantwortung der Frage nach dem moralphilosophischen Fundament einer Theorie komplexer Gleichheit führt uns zunächst zu den Begriffen Dominanz und Tyrannei. Ähnlich wie Gerhard Leibholz, der seine Gleichheitsvorstellung maßgeblich am Willkürbegriff als gegensätzlichem Korrelatbegriff von Gerechtigkeit entwickelt844, basiert komplexe Gleichheit nach der Konzeption Walzers im Wesentlichen auf der Abwesenheit von Dominanz und Tyrannei: „Das System der komplexen Gleichheit ist das Gegenteil von Tyrannei. Es erzeugt ein Netz von Beziehungen, das Dominanz und Vorherrschaft verhindert.“845 Dominant ist ein Gut dann, wenn seine Inhaber allein deshalb, weil sie über das Gut verfügen, eine Vielzahl weiterer Güter in ihren Besitz zu bringen vermögen. Allgemeiner formuliert: Dominanz steht für eine Art der Verwendung von Gütern, die „über die Grenzen von deren intrinsischen Bedeutungen hinausgeht oder die diese Bedeutungen ihren Interessen und Vorstellungen gemäß selbst erzeugt“846. Erst die Konvertierbarkeit von Gütern schafft damit die Möglichkeit zur Vorherrschaft in immer weiteren Bereichen und wird so zum möglichen Ausgangspunkt tyrannischer Bestrebungen. Tyrannei, in dem von Walzer zu Grunde gelegten und deutlich an Pascal angelehnten Sinne ist durch das Verlangen gekennzeichnet, „überall und auch außerhalb seines eigenen Bereichs zu herrschen“847. Dominanz und Tyrannei unterscheiden sich demzufolge nur graduell. Beide beziehen sich auf Gefahren, die aus der Vorherrschaft einer Gruppe über eine Vielzahl unterschiedlicher gesellschaftlicher Sektoren erwachsen und bei der die Inhaberschaft eines bestimmten Gutes systematisch auf Kosten anderer in Bereiche ausgedehnt wird, denen eigene, spezifische Verteilungskriterien unterliegen. Gerechtigkeitsethisches Ziel ist es daher, die Integrität unterschiedlicher Bereiche mit eigentümlichen Verteilungskriterien zu schützen und so die Möglichkeiten des Einzelnen zu wahren, ungeachtet gegebener Benachteiligungen in bestimmten Bereichen gleichwohl in anderen Sphären chancenreich zu agieren. Vor dem Hintergrund dieser fundamentalen Bedeutung von Trennungen zwischen ausdifferenzierten Sphären gewinnen die Ausführungen Walzers an Plausibilität, wonach Gerechtigkeit „nur dann zu Harmonie und Eintracht führen [wird], wenn sie zunächst für Separierung und Unterscheidung sorgt. Gute Zäune garantieren gerechte Gesellschaften.“848 Es ist nicht zu 844
Dazu oben, Zweiter Teil, 1. Kapitel, VI. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 49. 846 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 37. 847 Vgl. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 47, sowie Pascal, Gedanken, Nr. 246, S. 109. 845
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verkennen, dass mit dem dargestellten moralphilosophischen Fundament der Theorie komplexer Gleichheit weitere Fragen aufgeworfen werden, die sich insbesondere auf Art und Angemessenheit der geforderten Grenzziehungen beziehen. Bevor jedoch den damit angesprochenen Überlegungen weiter nachgegangen werden kann, bedarf es zunächst des Blickes auf die gleichheitsrechtlichen Implikationen der bisherigen Erkenntnisse. Deren Operationalisierbarkeit im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung ist Voraussetzung für jede weitere Erörterung der Dimension komplexer Gleichheit, will man sich nicht ein Verbleiben im virtuellen, dem grundrechtlichen Gleichheitssatz abgewandten Argumentationsraum einhandeln und damit das hier verfolgte rechtsdogmatische Anliegen verfehlen. b) Gleichheitsrechtliche Operationalisierbarkeit Ihrem Grundgedanken nach ist die Theorie komplexer Gleichheit wie gesehen darauf ausgerichtet, die Überschreitung einzelner Sphären durch die freie Konvertierbarkeit von Gütern zu verhindern. Komplexe Gleichheit zielt dabei, wie Angelika Krebs849 zutreffend hervorhebt, mit der Brechung von Dominanz zugleich auf die Zurückdrängung irrelevanter distributionsbezogener Gründe. Aus der Perspektive des Gleichheitsrechts wird dieser „relevant reasons approach“ generalisiert, das heißt über den Bereich der verteilenden Gerechtigkeit auf sämtliche Anwendungsbereiche des Gleichheitssatzes ausgedehnt.850 Dabei findet eine Akzentverschiebung statt: Im Vordergrund steht nun nicht mehr allein die Kontrolle irrelevanter Verteilungskriterien, sondern darüber hinausgreifend die allgemeinere Frage nach der gleichheitsrechtlichen Zulässigkeit des gewählten Unterscheidungskriteriums. Hierfür kommt es, das hat die Untersuchung zum Inhalt der gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit ergeben851, maßgeblich darauf an, ob Ausmaß und Gewicht der Verschiedenbehandlung und die zur Rechtfertigung herangezogenen Umstände in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Das Gewicht einer Ungleichbehandlung ist unter anderem dann besonders groß, wenn der fraglichen Differenzierung eine Überschreitung einzelner Sphären zu Grunde liegt, die nach der Theorie komplexer Gleichheit voneinander getrennt werden sollten. So ist etwa bei der Betrachtung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes in den Vereinigten Staaten von Amerika auf die einzelstaatliche Erhebung von Wahlsteuern als Voraussetzung für 848 849 850 851
Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 449. Krebs, Die neue Egalitarismuskritik im Überblick, S. 28. Vgl. Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 321. Oben, Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. b) bb).
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die Ausübung des Wahlrechts und damit auf eine Ungleichbehandlung hingewiesen worden852, deren Differenzierungskriterium (Entrichtung eines Geldbetrages) dem ökonomischen Bereich entstammt, während sie ihre Wirkung im Bereich des Wahlrechts entfaltet. Nach der hier vertretenen Auffassung stellt die Überschreitung der angegebenen Sphären einen ausreichenden Grund für die Anhebung der gleichheitsrechtlichen Kontrolldichte dar. Eine Entscheidung über die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der Maßnahme mit dem Gleichheitssatz, das gilt es zu betonen, ist damit noch nicht getroffen; wie die nachfolgenden Betrachtungen zeigen werden, ist die moralphilosophische Vorstellung strikt autonomer Sphären nicht nur praktisch undurchführbar, sondern auch gerechtigkeitsethisch abzulehnen. Gleichwohl ist jedenfalls Misstrauen im Sinne erhöhter Prüfungsintensität angebracht, wenn Ungleichbehandlungen zu einer Vermischung von Sphären mit jeweils eigentümlichen, voneinander abweichenden Verteilungsstrukturen führen und so, in den Worten Walzers, die Gefahr „tyrannischer Übergriffe“ durch einzelne Güter und einzelne Personengruppen begründen. c) Probleme gleichheitsspezifischer Bereichsabgrenzung Der beliebigen Konvertierbarkeit von Gütern gilt es also Grenzen zu setzen, um damit die Integrität einzelner gesellschaftlicher Bereiche zu bewahren. Wie Adam Swift in seinen soziologischen Untersuchungen zur Theorie komplexer Gleichheit ausgeführt hat, wäre es jedoch „naive not to acknowledge that conversion processes are many and myriad“853. Dem ist zweifellos beizupflichten. Allerdings kann dieser empirische Befund nicht die normative Zielrichtung einer Eindämmung unzulässiger Konvertierungen in Frage stellen. In der Tat: „While it would be utopian to assume that all conversions are preventable, there remains every reason to prevent those that are so.“854 Der angesprochene empirische Befund unterstreicht jedenfalls die große Bedeutung einer Konkretisierung der als unzulässig oder zumindest als „verdächtig“ erachteten Sphärenüberschreitungen. Damit sind wir bei Überlegungen angelangt, die die Art der Grenzziehungen betreffen. Die Auseinandersetzung hierüber führt ins Zentrum komplexer Gleichheit und markiert zugleich einen intensiv diskutierten Schwerpunkt der Walzer’schen Theorie. Vielfach wird dabei kritisiert, dass Walzer von einer klareren Abgrenzbarkeit der gesellschaftlichen Sphären ausgehe, als dies tatsächlich der Fall sei. In diese Richtung geht etwa die Analyse Michael Rustins, der unter anderem darauf verweist, „proper boundaries 852 853 854
Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) bb), (1). Swift, The Sociology of Complex Equality, S. 263. Swift, The Sociology of Complex Equality, S. 265.
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between these ‚spheres of justice‘ are not obvious, natural, or logical“855. An anderer Stelle findet sich der ebenfalls gegen Walzer gerichtete Hinweis auf die begrenzte Aussagekraft güterbezogener gemeinschaftlicher Konzepte: „All that such concepts usually identify is that some limit or boundary is appropriate, not what this limit should be, or what the jurisdiction of one sphere should be relative to others.“856 Es ist jedoch durchaus zu bezweifeln, ob eine solche Lesart der Konzeption Walzers tatsächlich gerecht wird. Denn danach sind es gemeinschaftlich geteilte Auffassungen von Gütern und gesellschaftlichen Sektoren, die zur Bestimmung von Grenzlinien heranzuziehen sind. Die Grenzen selbst haben somit keinen natürlichen, angestammten Platz, einmal gezogene Grenzlinien sind auch nicht unwandelbar, sondern können sich verschieben, sofern die sozialen Bedeutungen Wandlungen erfahren.857 Unter dem Eindruck der Kritik hat Walzer seine Folgerungen aus dem pluralen Charakter einer Gesellschaft später weiter ausgeführt und allen Überinterpretationen der Theorie komplexer Gleichheit eine Absage erteilt: „ ‚Spheres‘ is a metaphor; I can’t provide a diagram nor decide upon a definitive number . . . There isn’t one social good to each sphere, or one sphere for each good. Efforts to construct a systematic account along these lines quickly produce nonsense – so quickly that even minimally generous critics ought to notice that I neither offer nor endorse any such account.“858 Die Rückbindung der Bedeutung von Gütern und Sektoren an gemeinschaftlich geteilte Überzeugungen, so wird deutlich, trägt zwar der Vielgestaltigkeit unserer Gerechtigkeitskultur in überzeugender Weise Rechnung. Interpretationen der Reichweite ausdifferenzierter Bereiche in einer komplexen Gesellschaft bleiben jedoch notwendige und wertungsbedürftige Bestandteile einer Theorie komplexer Gleichheit.859 d) Gemeinschaftsrechtliche Konkretisierungen Soweit daher der überprüften Differenzierung eine unzulässige Konvertierung von Gütern oder eine verdächtige Sphärenüberschreitung zu Grunde zu liegen scheint, bedarf es des Rückbezuges auf gemeinschaftlich geteilte Wertvorstellungen. Diese finden ihren europarechtlich relevanten Ausdruck 855
Rustin, Equality in Post-Modern Times, S. 35. Rustin, Equality in Post-Modern Times, S. 30. 857 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 449. 858 Walzer, Response, S. 282. 859 Vgl. dazu auch Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 51: „Keine Interpretation der Bedeutung eines sozialen Guts oder der Grenzen des Bereichs, in dem es rechtmäßig seine Wirkung entfaltet, wird unstrittig sein.“ 856
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im gemeinschaftlichen Primärrecht und Sekundärrecht sowie den gemeinsamen Wertvorstellungen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Grenzen von verbreitet herangezogenen Bereichen wie insbesondere der Ökonomie, der Politik, des Rechts, der Familie, der Bildung, der Religion oder der Freizeit sind demnach gleichheitsrechtlich in flexibler Weise in Abhängigkeit vom Stand des Gemeinschaftsrechts zu bestimmen. Darüber hinausreichende Bestrebungen nach einer weitergehenden, trennscharfen Abgrenzung der einzelnen Bereiche werden von der gleichheitsrechtlichen Dimension komplexer Gleichheit nicht vorausgesetzt. Im weiteren Verlauf gilt es nun, gemeinschaftlich akzeptierte Grenzziehungen anhand von Beispielen zu belegen und damit das bisher Dargestellte genauer zu entwickeln. Betrachten wir zunächst ein Beispiel, das sich auf die Frage nach gemeinschaftlich akzeptierten Grenzen zwischen einer ökonomischen Allokation durch Märkte und dem Bereich der Daseinsvorsorge bezieht. Nach Art. 4 Abs. 1 und Art. 98 wird die europäische Wirtschaftspolitik auf den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet. Sie zielt damit, wie Art. 154 Abs. 2 für den Bereich transeuropäischer Netze und Art. 157 Abs. 1 für den Bereich der Industriepolitik formulieren, auf ein „System offener und wettbewerbsorientierter Märkte“. Dem steht in der Tradition vieler Mitgliedstaaten die Übertragung von Aufgaben der Daseinsvorsorge auf öffentliche oder private, vielfach mit besonderen Rechten ausgestattete Unternehmen entgegen, deren Tätigkeit an Gemeinwohlinteressen ausgerichtet ist. Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, werden von Art. 86 Abs. 2 den Regeln des EG-Vertrages nur insoweit unterstellt, als hierdurch nicht die Erfüllung der ihnen zugewiesenen Aufgaben verhindert wird. Als solche, der Sicherung von Infrastruktur und Daseinsvorsorge verpflichtete Unternehmen sind vom EuGH bislang insbesondere anerkannt worden: Postdienste, Telekommunikationsdienste, staatliche Arbeitsvermittlungsbehörden, Verkehrsunternehmen mit Verpflichtung zur flächendeckenden Versorgung, Energieversorgungsunternehmen und Wasserversorgungsunternehmen.860 Mit dem Vertrag von Amsterdam haben diese Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse primärrechtliche Anerkennung als eigenständiges Wirtschaftsmodell erfahren.861 Während Art. 86 Leistungen der Daseinsvorsorge lediglich in ihrer möglichen Bedeutung als Durchbrechung des marktwirtschaftlichen Systems begreift, verweist der neu eingefügte Art. 16 auf den besonderen Stellenwert, den Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union ein860
Ausführliche Nachweise dazu bei Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 86, Rn. 40; Pernice/Wernicke, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 86, Rn. 40. 861 Vgl. Jung, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 86, Rn. 41.
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nehmen. Die Vorschrift ist somit rechtlicher Ausdruck gemeinschaftlicher Wertvorstellungen, denen zufolge dem Bereich der Daseinsvorsorge eine eigenständige, positive Bedeutung neben dem Bereich der wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft zukommt: Darauf macht auch die Kommission aufmerksam, wenn sie Leistungen der Daseinsvorsorge zum „Kern des europäischen Gesellschaftsmodells“ zählt.862 Konsequenterweise gilt es daher, den Bereich der Daseinsvorsorge funktionsfähig zu halten und Grenzziehungen zum marktwirtschaftlichen Bereich dort vorzunehmen, wo marktbezogene Übergriffe das Funktionieren gemeinwohlorientierter Dienste zu gefährden drohen. Liegt der überprüften Differenzierung eine Überschreitung dieser Grenzen zu Grunde, so ist gleichheitsrechtlich eine intensivere Rechtfertigungsprüfung geboten. Im Ansatz ähnlich wie bei den Bereichen Marktwirtschaft und Daseinsvorsorge verhält es sich hinsichtlich des Verhältnisses von wettbewerbsorientiertem Markt und dem Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik. Nach Art. 36 finden die Wettbewerbsregeln im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik nur insoweit Anwendung, als der Rat dies bestimmt. Zwar soll auch die Agrarwirtschaft grundsätzlich dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb unterliegen. Wie der EuGH hervorgehoben hat, besteht jedoch eine Vorrangstellung der Agrarpolitik vor den Zielen des EG-Vertrages im Wettbewerbsbereich.863 Daher erklärt es Art. 36 zur Sache des Rates, „die Grenzen der Freiheit des Wettbewerbs für die Agrarwirtschaft gesondert festzulegen“864. Eben diese Grenzen gehören zu jenen wandelbaren, gemeinschaftlich festzulegenden Trennungslinien zwischen dem Bereich des freien Marktes und der gemeinsamen Agrarpolitik. Drohen sie überschritten zu werden, so sind auch im Rahmen der Gleichheitskontrolle strengere Anforderungen an die Rechtfertigung entsprechender Differenzierungen zu stellen. Verweisen die zuvor aufgeführten Beispiele auf Grenzen einer Allokation durch offene und wettbewerbsorientierte Märkte und knüpfen dabei an ausdrückliche Vorgaben des Primärrechts an, so lässt sich der Bereich des freien Marktes darüber hinaus durch weitere fundamentale, vielfach grundrechtsbezogene und daher bislang nicht im geschriebenen Primärrecht enthaltene Grenzziehungen genauer konturieren. Gerade die europäische Entwicklung mit ihrer langjährigen und bis heute fortdauernden ökonomischen Schwerpunktsetzung darf nicht versäumen, sich neben der Ausgestaltung 862 Mitteilung der EU-Kommission zu Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, KOM (1996) 443 endg., ABl. C 281, S. 3, 26.9.1996. 863 EuGH, Rs. C-280/93, Bundesrepublik Deutschland/Rat der Europäischen Union, 5.10.1994, Slg. 1994, 5039, 5061. 864 Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 36, Rn. 2. Für einen Überblick über die unternehmensbezogenen Wettbewerbsregeln im Bereich der GAP vgl. Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 36, Rn. 4 ff.
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des Marktes zugleich mit den Grenzen des Marktprinzips auseinander zu setzen. Mit anderen Worten: Die angestrebte Entfaltung der alleinigen „Wirtschaftsgemeinschaft“ zur umfassenderen politischen Rechtsgemeinschaft eines Europas der Bürger kann nur gelingen, wenn neben den gemeinschaftlich legitimierten Anwendungsgebieten des wettbewerbsorientierten Marktes zugleich dessen Beschränkungen in den Blick genommen werden. In diesem Zusammenhang hat Walzer den Versuch unternommen, „blockierte Tauschgeschäfte“ (blocked exchanges) zu benennen, die der Sphäre des freien Marktes Grenzen setzen.865 Im Ergebnis steht dabei eine ebenso aufschlussreiche wie inhaltlich nur lose verbundene Aufzählung von 14 verschiedenen Arten blockierter Tauschgeschäfte. Sie fügt den zuvor exemplarisch dargestellten, unter Rückgriff auf das geschriebene gemeinschaftliche Primärrecht zu konkretisierenden Grenzziehungen weitere Beispiele hinzu. Bereits ein erster Überblick über die vorgestellte Liste verweist auf die Heterogenität der erfassten Gesichtspunkte. Nicht ge- und verkauft werden dürfen danach Menschen (1), politische Macht und politischer Einfluss (2), Strafjustiz und Rechtsprechung (3). Grundlegende Freiheiten wie die Rede-, Presse-, Religions- und Versammlungsfreiheit sollen keine Geldzahlungen erforderlich machen (4). Ehestands- und Zeugungsrechte sollen nicht käuflich zu erwerben sein (5), gleiches gilt für das Recht auf Auswanderung (6) und die Freistellung vom Militärdienst bei allgemeiner Wehrpflicht (7). Weiterhin stehen politische Ämter und der akademische Rang nicht zum Verkauf (8), elementare Wohlfahrtsleistungen wie Bildung oder polizeilicher Schutz stehen jedem Bürger im Rahmen einer Grundversorgung zu und sind nur an ihren Rändern käuflich (9). Verzweifelte Tauschaktionen, Geschäfte des letzten Auswegs, sind verboten, was ebenfalls eine Beschränkung des Marktes bedeutet (10). Darüber hinaus sollen Preise und Ehrungen nicht käuflich erworben werden (11), ebenso wie göttliche Gnade (12) und Liebe und Freundschaft (13). Schließlich gibt es eine große Zahl krimineller Verkaufsaktivitäten, die bei Strafe verboten sind, so dürfe „die Killer-GmbH . . . ihre Dienste nicht zum Kauf anbieten; Erpressung ist rechtswidrig; Heroin darf genauso wenig verkauft werden wie Diebesgut oder Güter mit irreführender Kennzeichnung; dies gilt für verdorbene Milch ebenso wie für Informationen, deren Weitergabe die Sicherheitsinteressen des Staates verletzen würde“866 (14). Die vorgestellte Aufzählung wird von Walzer auf die Vereinigten Staaten von Amerika der Gegenwart bezogen. Sie dürfte aber, wie Igor Primoratz festgestellt hat867, für jede gegenwärtige liberale und demokratische Gesell865 866 867
Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 156 ff. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 160 f. Primoratz, Ist Prostitution verwerflich?, S. 268.
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schaft Gültigkeit beanspruchen. Dabei markiert sie Grenzen des freien und wettbewerbsorientierten Marktes. Diese Grenzen basieren indes im Einzelnen auf derart unterschiedlichen Gründen, dass die Einschätzung nahe liegt, es gebe „kein Kriterium, mit dem man erklären könnte, warum diese und keine anderen Dinge auf der Liste stehen“868. Doch auch wenn es damit an einem entsprechenden Generalkriterium fehlt, so können die Gründe für eine Vielzahl von Bereichstrennungen gleichwohl jedenfalls typisiert werden und insofern nähere Aufschlüsse für die Auseinandersetzung über Grenzen marktwirtschaftlicher Allokationsprozesse liefern. Untersucht man die Liste Walzers mit dieser Zielrichtung, so wird zunächst deutlich, dass Gründe gegen die Käuflichkeit bestimmter Dinge bereits aus der Bewertung des zu übertragenden Gegenstandes selbst resultieren können. So wird etwa das unter (14) aufgeführte Beispiel des Mordes für Geld allein vom Verbot der Tötung dominiert: Da das sanktionierte Verhalten allgemein verboten ist, darf es auch weder für Geld noch auf sonstige Weise feilgeboten werden. Im Vordergrund stehen damit Gründe, die nicht spezifisch den marktbezogenen Vorgang des Verkaufens betreffen, sondern sich ausschließlich auf die rechtliche Missbilligung der transferierten Sache selbst beziehen. Ähnlich verhält es sich bei „blocked exchanges“ wie jenen unter (4), wonach grundlegende bürgerliche Freiheiten nicht von Geldzahlungen abhängig gemacht werden sollen. Diese grundrechtlichen Gewährleistungen stellen Rechte gegenüber dem Hoheitsträger dar und sollen allgemein vor unrechtmäßigen Beschränkungen der von ihnen umfassten Tätigkeiten schützen. Ihre konditionale Verknüpfung mit der Zahlung von Geldern stellt daher nur eine unter vielen denkbaren unzulässigen Beeinträchtigungen dar. Ebenso wie das Wahlrecht (2) dürfen sie also nicht nur nicht von Geldzahlungen abhängig gemacht werden, sondern sind auch vor sonstigen Beeinträchtigungen zu schützen – spezifisch marktbezogene Erwägungen treten insoweit in den Hintergrund. Gründe gegen eine Kommerzialisierung bestimmter Güter bestehen weiterhin dort, wo Möglichkeit oder Moralität der Inhaberstellung in Frage stehen. Auch hierbei geht es mithin nicht um spezifisch marktbezogene Erwägungen, sondern vielmehr um die dem Marktgeschehen immanente Tendenz zur Kreation und Vermittlung von Inhaberpositionen. Bei Freundschaft und Liebe (13), ebenso wie bei göttlicher Gnade (12) fehlt es so bereits an der Möglichkeit, eine Inhaberstellung einzunehmen. Hingegen sind es Erwägungen der Moralität, die dem umfassenden Besitz an Menschen entgegenstehen und zur Ablehnung des Menschenhandels führen (1). 868
Primoratz, Ist Prostitution verwerflich?, S. 269.
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Das letztgenannte blockierte Tauschgeschäft des Menschenhandels leitet zugleich auf jene Aspekte über, die ihren spezifischen Ursprung in marktwirtschaftlicher Kommerzialisierung und Verdinglichung haben. Nicht allein die Inhaberstellung hinsichtlich anderer Menschen ist moralisch verwerflich, sondern auch die hiervon zu unterscheidenden Folgen, die sich speziell an den Handel mit ihnen knüpfen. Insofern kommen grundsätzlich drei Anknüpfungspunkte in Betracht: Zu berücksichtigen ist zum einen der Einfluss des Marktes auf das Marktobjekt, das heißt den Tauschgegenstand selbst. Weiterhin geht es um Auswirkungen des Marktes auf Käufer und Verkäufer sowie schließlich um die gesellschaftlichen Folgen marktbezogener Allokation. Alle drei Gesichtspunkte können sowohl Argumente für die Einbeziehung als auch für den Ausschluss von Gütern aus dem Bereich des freien Marktes liefern, die über die oben erwähnten Gründe hinausgehen. So sind etwa Preise und Ehrungen (11) offenkundig weder allgemeiner Missbilligung oder gar rechtlicher Sanktionierung ausgesetzt, noch bestehen Bedenken an der Möglichkeit oder Moralität ihrer Inhaberschaft. Werden sie allerdings gekauft und verkauft und damit stärker dem Marktprinzip unterstellt, so droht dessen Einfluss zu einer Erosion des gegenwärtig mit Auszeichnungen verbundenen Bedeutungsgehalts zu führen, der sich vorrangig am Prinzip der Verdienstlichkeit orientiert. Das Marktobjekt selbst würde dergestalt beeinträchtigt werden und Schaden nehmen, ebenso wie dies zum Beispiel beim Kauf und Verkauf von politische Ämtern und akademischen Rängen (8) der Fall wäre. Mindestens ebenso gewichtig sind zudem Gefahren für bestimmte Tauschgegenstände durch Veränderungen der gesellschaftlichen Auffassung, die aus der marktbedingten Kommensurabilität von Gütern erwachsen. In dem Maße etwa, in dem die genetische Ausstattung von Neugeborenen durch humantechnologische Entwicklungen bestimmt und der finanziellen Ausstattung der Eltern überantwortet wird, verändern sich die Rahmenbedingungen für die gesellschaftliche Wertschätzung menschlichen Lebens grundlegend: „One moral danger, then, is an erosion of our sense of the uniqueness of what once was ‚priceless‘.“869 Nichts anderes gilt auch für die von Walzer behandelten Ehestands- und Zeugungsrechte (5), bei denen eine entsprechende Marktöffnung ähnlich gravierende Verschiebungen in der öffentlichen Wahrnehmung zur Folge hätte. Haben wir nun, angefangen von den exemplarisch aufgezeigten gemeinschaftlichen Grenzziehungen in Art. 16 und Art. 86 bis hin zu einzelnen Aspekten der Walzer’schen Liste blockierter Tauschgeschäfte, eine Reihe von Beispielen für Grenzen einer Allokation durch Märkte betrachtet, so 869 So die amerikanische Moralphilosophin Andre, Blocked Exchanges: A Taxonomy, S. 185, m. w. N. zu den Implikationen eines Handels mit Babies.
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standen Trennungen zwischen dem Bereich des Marktes und anderen Bereichen zwar nur exemplarisch, aber nicht zufällig im Vordergrund. Ursache hierfür sind die Besonderheiten der Sphäre des Geldes, die alle anderen Sphären berührt870 und in besonderem Maße expansive Tendenzen aufweist. Gerade deshalb gilt es, gegenüber Tendenzen zur Verdinglichung des sozialen Status, des politischen Einflusses usw. besonders misstrauisch zu sein und danach zu fragen, ob hierdurch gemeinschaftlich akzeptierte Grenzziehungen missachtet oder außer Kraft gesetzt werden. Die große Vielzahl der im gemeinschaftlichen Primär- und Sekundärrecht sowie in den gemeinsamen Wertvorstellungen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommenden Grenzen bietet dabei ein nicht zu unterschätzendes Geflecht von Bereichskonkretisierungen, das gleichheitsrechtlich nutzbar gemacht werden kann und zu Anhebungen der Prüfungsintensität führt. Überlegungen zu strengeren Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen, denen eine Überschreitung voneinander abgegrenzter Bereiche zu Grunde liegt, sind bislang in der Dogmatik des grundrechtlichen Gleichheitssatzes nicht angestellt worden. Das gilt auch und erst Recht für das europäische Gemeinschaftsrecht mit seinem noch vergleichsweise jungen Grundrechtsschutz. Allerdings ist die Integrität einzelner Sphären auch unter anderen, das heißt nicht grundrechtsbezogenen Gesichtspunkten von Bedeutung und jedenfalls in dieser Hinsicht bereits zum Gegenstand europarechtlicher Untersuchungen geworden. So sind Parallelen zu der hier vorgestellten Dimension komplexer Gleichheit erkennbar, wenn Stein in seiner Analyse der primärrechtlichen Querschnittsklauseln danach fragt, ob nicht zu befürchten sei, „daß mittels der Querschnittsklauseln – gleichsam im Bauch eines trojanischen Pferdes – Sachbereiche die Mauern überwinden, die das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung um die jeweilige Gemeinschaftspolitik gezogen hat und hinter andere Mauern dringen, und daß sich mit den dort vorgefundenen Handlungsmöglichkeiten ein Gestaltungsspielraum eröffnet, der innerhalb der eigenen Mauern nicht bestand bzw. ausdrücklich ausgeschlossen war“871. Bereits kompetenzielle Unterschiede im Rahmen der einzelnen Gemeinschaftspolitiken unterstreichen somit die Notwendigkeit, sorgfältige Trennungen zwischen den primärrechtlich verankerten Politikbereichen vorzunehmen. Insoweit kann die komplexe Dimension des Gleichheitsschutzes auf entsprechende Arbeiten zu europarechtlichen Abgrenzungsfragen zurückgreifen872 und darauf aufbauen. Dabei gilt es allerdings, übersteigerte Erwartungen zu vermeiden, 870
Dazu Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, S. 156 f. Stein, Die Querschnittsklausel zwischen Maastricht und Karlsruhe, S. 1440 f. 872 Vgl. etwa zur Abgrenzung der GAP von anderen Politikbereichen Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 37, Rn. 5 ff. m. w. N. 871
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wie sie etwa Somek in seiner Untersuchung der österreichischen Verfassungsrechtsprechung zum Gleichheitssatz herausgestellt hat.873 Zwar kommt darin in Übereinstimmung mit der hier entwickelten Dogmatik des Gleichheitssatzes zutreffend zum Ausdruck, dass der Verschiedenheit von Ordnungssystemen eine bedeutende gleichheitsrechtliche Funktion zuteil wird. Hierdurch wird indes die Ausrichtung von Elementen eines Systems an einem anderen nicht zwangsläufig zu einem gleichheitswidrigen Zweck, weshalb auch die Rede von der „gleichheitsrechtlichen Isolation“ der einzelnen Bereiche überzogen ist. Die Überschreitung unterschiedlicher Bereiche, das hat die bisherige Untersuchung gezeigt, reicht zur Annahme eines Gleichheitsverstoßes nicht aus. Sie begründet allein die Intensivierung des Gleichheitsschutzes, lässt damit jedoch die grundsätzliche Möglichkeit von Bereichsüberschreitungen unberührt. 6. Bereichsspezifik III: Komplexität des Entscheidungsprozesses Beziehen sich die vorherigen Erwägungen auf Anhebungen der Kontrolldichte bei Sphärenüberschreitungen, so werden bereichsspezifische Modifikationen gleichheitsrechtlicher Prüfungsintensität weiterhin mit der Komplexität des in Frage stehenden Entscheidungsprozesses begründet. Den Organen der Gemeinschaft ist ein weiter Ermessensspielraum in Politikbereichen einzuräumen, in denen besonders komplexe Abwägungen vorzunehmen sind.874 Zutreffend wird daher in der europarechtlichen Literatur konstatiert, dass sich die Kontrolldichte des EuGH nach den Eigenarten der betroffenen Materie und damit nach bereichsspezifischen Gesichtspunkten ausrichtet.875 Die Rechtsprechung rekurriert in diesem Zusammenhang vielfach darauf, dass die Gemeinschaftsorgane mit Rücksicht auf den Grad der „Verantwortung“, den ihnen der Vertrag in einem bestimmten Bereich zuweist, über ein weites Ermessen verfügen.876 Von den angesprochenen Überlegungen zur Komplexität des Entscheidungsprozesses werden bei näherer Betrachtung zwei Elemente umfasst, die es zu unterscheiden gilt. Zum einen geht es um die Eigenarten der Sachmaterie selbst: Ist diese von hochkomplexer Natur und daher in besonderem Maße interpretationsfähig und wertungsbedürftig, so muss den politischen 873
Vgl. zum folgenden Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 186. Vgl. EuGH, Rs. C-84/94, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland/Rat der Europäischen Union, 12.11.1996, Slg. 1996, 5793, 5811. 875 Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 87, Rn. 26 m. w. N. 876 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-56/99, Gascogne Limousin viandes SA/Office national interprofessionnel des viandes de l’élevage et de l’aviculture (Ofival), 11.5. 2000, Rn. 38. 874
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Akteuren ein verhältnismäßig weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt werden.877 Zwar spricht dieser Umstand zugleich für einen höheren Grad an Verantwortung der handelnden Organe, doch steht bei letzterem regelmäßig ein anderer Gedanke im Vordergrund, der sich auf den Umfang von Regelungsbefugnissen bezieht. Danach wird den Gemeinschaftsorganen ein weites Ermessen grundsätzlich in jenen Politikbereichen zugestanden, in denen ihnen aufgrund des hohen Grades an Vergemeinschaftung umfangreiche Regelungsbefugnisse zustehen.878 Treffen beide Elemente zusammen, geht es also um eine besonders komplizierte Materie für die umfangreiche Regelungsbefugnisse bestehen, so hat dies gleichheitsrechtlich eine deutliche bereichsspezifische Absenkung der Prüfungsintensität zur Folge. Beispiele für den Einfluss der Komplexität des Entscheidungsprozesses auf die gleichheitsrechtliche Kontrolldichte haben wir oben bereits im Bereich der Landwirtschaft und bei der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen ausführlicher erörtert. Darüber hinaus ist insbesondere der Bereich des Wirtschaftsrechts von einer deutlichen Zurücknahme gerichtlicher Prüfungsintensität gekennzeichnet.879 Das entspricht der Tendenz nach auch dem rechtsvergleichend konstatierten Befund für Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika880, wonach dem Gesetzgeber in der Wirtschafts- und Sozialpolitik grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum einzuräumen ist. Weite Ermessensspielräume des Rates bestehen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH881 weiterhin dort, wo Gemeinschaftspolitiken wie etwa die Verkehrspolitik in Art. 70 nur sehr allgemein umschrieben sind und sich daher nur in geringerem Maße an normativen Vorgaben des Primärrechts zu orientieren haben. Die vergleichsweise hohe Komplexität des Entscheidungsprozesses (und die damit verbundene Absenkung der 877 Dazu Bryde/Kleindiek, Jura 1999, 36, 44. Aus der Rechtsprechung des EuGH siehe beispielsweise Rs. C-289/97, Eridania SpA/Azienda Agricola San Luca di Rumagnoli Viannj, 6.7.2000, Rn. 48: „Da der Rat bei der Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik im Zuckerbereich einen komplexen wirtschaftlichen Sachverhalt beurteilen muß, beschränkt sich sein Ermessen nicht ausschließlich auf die Art und den Inhalt der zu erlassenden Bestimmungen, sondern in bestimmtem Umfang auch auf die Feststellung der Ausgangsdaten.“ 878 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 114. 879 So auch das Ergebnis der Studie von Adam, Die Kontrolldichte-Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte, S. 205 f. Ebenso Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 87, Rn. 26, mit umfangreichen Nachweisen auf die Rechtsprechung in Fn. 203. 880 Oben, Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. III. 2. Weitere Nachweise auf die deutsche und US-amerikanische Verfassungsrechtsprechung zum verhältnismäßig großen legislativen Gestaltungsspielraum im Bereich der Wirtschafts- und Budgetpolitik bei Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 328. 881 Vgl. etwa EuGH, verb. Rs. C-248/95 und C-249/95, SAM Schiffahrt GmbH, Heinz Stapf/Bundesrepublik Deutschland, 17.7.1997, Rn. 23, 25.
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Kontrolldichte) resultiert hier aus dem geringeren normativen Dichtegrad des Gemeinschaftsrechts. Schließlich gilt es, Unterschiede zwischen dem Handeln der Gemeinschaftsorgane und Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, wie sie oben882 bereits exemplarisch für den Bereich der Landwirtschaft untersucht worden sind. Danach hat sich das Handeln der Gemeinschaftsorgane insbesondere an bereichsspezifischen Kompetenztiteln und Zielvorgaben zu orientieren. Sind hierin umfangreiche gemeinschaftliche Regelungsbefugnisse für komplexe Sachmaterien vorgesehen, so befreit die darin zum Ausdruck kommende Ermächtigung zur Zielverfolgung zwar nicht von der Zielbindung; innerhalb des damit abgesteckten Rahmens ist dem Organ jedoch ein weiter Gestaltungsspielraum einzuräumen. Wie wir gesehen haben, kann diese Argumentation zu Gunsten einer bereichsspezifischen Maßstabsmilderung jedoch bei nationalen Umsetzungsmaßnahmen seitens der Mitgliedstaaten nicht überzeugen. Bei der Ausführung von Gemeinschaftsregelungen gilt es sekundärrechtlich gezogene Grenzen einzuhalten, durch die die Komplexität des Entscheidungsprozesses reduziert wird und eine darauf gestützte Zuerkennung weitreichender Ermessensspielräume ihrerseits der entsprechenden Rücknahme bedarf. V. Kriterienselektion Bislang standen die bereichsspezifischen Ausprägungen des Gleichheitssatzes im Mittelpunkt der Betrachtungen. Wie die rechtsvergleichende Untersuchung für das Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschlands aufgewiesen hat, wird das bereichsspezifische Element grundrechtlichen Gleichheitsschutzes jedoch verbreitet von kriterienspezifischen Erwägungen flankiert. In den Vordergrund rückt damit der Prozess gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion, dessen Grundstrukturen bislang nur wenig erforscht sind. Dabei vermag die Aufdeckung dieser Grundstrukturen weitere Aufschlüsse über den Schutzgehalt des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes zu liefern, die auch für das Gleichheitsgrundrecht des europäischen Primärrechts von maßgeblicher Bedeutung sind. 1. Kriterienspezifik und Diskriminierung Die konventionelle Anbindung kriterienspezifischer Erwägungen an einen gleichheitsrechtlich zu berücksichtigenden Diskriminierungsverdacht ist in der Untersuchung des deutschen und des US-amerikanischen Verfassungsrechts übereinstimmend deutlich geworden. Dabei geht es um Merkmale, 882
Vierter Teil, 4. Kapitel, C. III. 2.
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deren Verwendung auf das Vorliegen einer verfassungswidrigen Ungleichbehandlung hindeutet. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass durch den Prozess der Kriterienselektion bestimmte Klassifikationen ausgefiltert werden, die über den moralischen Status einer Person im Hinblick auf die Verteilung von Vor- und Nachteilen regelmäßig keine Auskunft geben sollen. Die Anknüpfung an solche Merkmale, etwa Geschlecht und Rasse, begründet daher den Verdacht diskriminierenden Handelns und wird aus diesem Grunde einer strikten Gleichheitskontrolle unterzogen. Auf den damit angesprochenen Zusammenhang von Gleichheitssatz, Kriterienspezifik und Diskriminierung nimmt auch Generalanwalt Tesauro Bezug, wenn er ausführt, dass „das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ein Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes ist, der verlangt, daß nicht auf diskriminierende Kriterien, in erster Linie Geschlecht, Rasse, Sprache und Religion, abgestellt wird“883. Dabei ist auf den Umstand hinzuweisen, dass der Generalanwalt Kriterienspezifik zutreffend lediglich als einen Aspekt des Gleichheitsgrundrechts unter mehreren begreift, was durchaus nicht durchgängig so erkannt wird, sich aber nahtlos in die hier entwickelte Dogmatik des grundrechtlichen Gleichheitsschutzes mit seinen unterschiedlichen Dimensionen einfügt. Wie die rechtsvergleichende Untersuchung zur verfassungsgerichtlichen Gleichheitsrechtsprechung in den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland gezeigt hat, ist bislang indes weitgehend ungeklärt, nach welchen Gesichtspunkten die Aufnahme einzelner Klassifikationen in die Liste der als diskriminierungsverdächtig erachteten Merkmale erfolgt. Bevor diese zentrale Frage des kriterienspezifischen Gehalts grundrechtlichen Gleichheitsschutzes in den Blick genommen wird, haben wir uns jedoch zunächst die brisanten Folgen zu vergegenwärtigen, die sich aus der Selektivität klassifikationsbezogenen Gleichheitsschutzes ergeben können. 2. Diskriminierung durch kriterienselektiven Diskriminierungsschutz? Im Verlauf dieser Arbeit ist eine große Zahl von Ungleichbehandlungen Gegenstand der Untersuchungen gewesen. Dabei ist eine spezielle Form der Differenzierung bislang jedoch nicht weiter problematisiert worden, wenngleich sie im Mittelpunkt des kriterienspezifisch verstandenen Gleichheitssatzes anzusiedeln ist: Gemeint ist die mögliche diskriminierende Wirkung, die von einem kriterienselektiven Diskriminierungsschutz ausgehen mag. Auf die anwachsende Liste verdächtiger Differenzierungsmerkmale im europäischen Gemeinschaftsrecht wurde oben bereits hingewiesen. Einen ak883 Generalanwalt Tesauro, Rs. C-13/94, P./S. und Cornwall County Council, 14.12.1995, Slg. 1996, 2145, 2154.
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tuellen Ausdruck der anhaltenden Tendenz zur Ergänzung dieser Liste bildet Art. 21 der EU-Grundrechtscharta, der sich an Art. 12 und 13 EGV, an Art. 14 EMRK sowie an Art. 11 des Übereinkommens über Menschenrechte und Biomedizin in Bezug auf das genetische Erbe anlehnt. Herausgekommen ist eine Vielzahl von Klassifikationen, die bestimmte Gruppen unter einen besonderen Diskriminierungsschutz stellen – berücksichtigt werden insbesondere Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Staatsangehörigkeit, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Damit geht der europarechtliche Trend ebenso wie die verfassungsgerichtliche Gleichheitsrechtsprechung in den USA und Deutschland immer mehr in Richtung einer kriterienselektiven „wish list“, wie sie Szyszczak884 bereits 1997 diskutiert und kritisch beurteilt hat. Problematisch erscheint vor allem, dass mit dem Herausgreifen einzelner Gruppen, denen ein besonders intensiver Gleichheitsschutz gewährt wird, zwangsläufig eine benachteiligende Ungleichbehandlung der hiervon nicht erfassten Personengruppen verbunden ist.885 Mit der zuvor aufgeworfenen Problematik einer Diskriminierung durch kriterienselektiven Diskriminierungsschutz hat sich der Rat in seinem Beschluss vom 27. November 2000 über ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierungen886 auseinandergesetzt. Dabei wird im zweiten Erwägungsgrund zunächst auf die wiederholten Forderungen des Europäischen Parlaments verwiesen, die Politik im Bereich der Gleichbehandlung auf alle Arten von Diskriminierungen weiterzuentwickeln und zu verstärken. Schließlich findet sich im fünften Erwägungsgrund die ausdrückliche Feststellung: „Für die verschiedenen Formen der Diskriminierung lässt sich keine Rangordnung nach ihrer Bedeutung aufstellen, sie sind alle gleichermaßen inakzeptabel.“ In jüngerer Zeit haben Waddington und Bell den vorwiegend rhetorischen Charakter dieser Äußerung betont und nachgewiesen, dass auch und gerade durch die neueren Maßnahmen der Gemeinschaft, insbesondere die Gleichbehandlungsrichtlinien 2000/43/EG887 und 2000/78/EG888, „a clear hierar884 Szyszczak, Building a European Constitutional Order: Prospects for a General Non-discrimination Standard, S. 42 f. 885 Vgl. Thüsing, ZfA 2001, 397, 414. 886 ABl. L 303, S. 23, 2.12.2000. 887 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. L 180, S. 22, 19.7.2000.
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chy of equalities continues to exist – indeed, if anything it has been reinforced“889. Was die gewährleistete gleichheitsrechtliche Schutzintensität betrifft, stehen rassische Diskriminierungen dabei an der Spitze, Diskriminierungen aus Gründen des Alters hingegen am unteren Ende der Skala. Es stellt sich demnach die bereits angedeutete, in einem allgemeineren Rahmen angesiedelte Frage nach der Berechtigung gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion und der damit verbundenen klassifikationsbezogenen, unterschiedlichen Schutzintensität. Zu klären ist, ob hierfür jeweils überzeugende sachliche Gründe existieren, oder ob die divergierende Schutzintensität lediglich Ausdruck eines „confused and confusing approach“890 ist, wie Waddington und Bell argwöhnen. 3. Grundstrukturen gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion Wenden wir uns den strukturellen Voraussetzungen zu, unter denen bestimmte Kriterien als diskriminierungsverdächtig zu qualifizieren sind und damit eine intensivierte Gleichheitskontrolle gebieten, so bedarf es zunächst einer Klarstellung. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht nicht die rechtspolitische Kritik verfassungsrechtlich verankerter Diskriminierungsverbote, wenngleich – wie die Untersuchung zeigen wird – für eine solche kritische Auseinandersetzung mit entsprechenden verfassungstextlichen Vorgaben durchaus Anlass bestehen mag. Vielmehr geht es an dieser Stelle, dem hier verfolgten Ziel einer Entfaltung der Dimensionen des grundrechtlichen Gleichheitsschutzes gemäß, um verbindliche verfassungsrechtliche Vorgaben für die Intensität gleichheitsrechtlicher Rechtfertigungsanforderungen. Dabei gilt es Erkenntnisse zu berücksichtigen, wie sie die rechtsvergleichende Betrachtung der deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zu den besonderen Diskriminierungsverboten ergeben hat: Dort ist deutlich geworden, dass der listenmäßigen Erfassung unzulässiger Differenzierungskriterien die Tendenz innewohnt, einen über diese etablierten Klassifikationen hinausgreifenden (als verfassungskräftig erachteten) Aussagegehalt auch hinsichtlich sonstiger Klassifikationen zu entwickeln. So hat die Untersuchung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gezeigt, dass eine Anhebung der Rechtfertigungsanforderungen insbesondere angenommen wird, soweit sich das fragliche Differenzierungskriterium den ausdrücklich in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmalen „annä888 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. L 303, S. 16, 2.12.2000. 889 Waddington/Bell, CMLR 2001, 587, 610. 890 Vgl. Waddington/Bell, CMLR 2001, 587, 588.
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hert“.891 Ein methodisch ähnliches Vorgehen ist bei der Analyse des Umgangs des U.S. Supreme Court mit den besonderen Diskriminierungsverboten zum Vorschein gekommen.892 Danach orientiert sich das Gericht bei der Bestimmung des rechtfertigungsbedürftigen Gewichts von Ungleichbehandlungen maßgeblich an echten oder vermeintlichen strukturellen Gemeinsamkeiten der bereits anerkannten Diskriminierungsverbote und vergleicht diese mit den Eigenarten des in Frage stehenden Unterscheidungsmerkmals. Auch für das Gleichheitsgrundrecht des europäischen Primärrechts und seine bislang noch wenig entwickelte Dogmatik wird in der europarechtlichen Literatur zum Teil von einer Intensivierung der Prüfungsanforderungen ausgegangen, sofern sich das überprüfte Unterscheidungsmerkmal den bereits etablierten verdächtigen Klassifikationen, etwa dem Differenzierungskriterium des Geschlechts, annähert.893 Die Gefahren des damit angesprochenen Vorgehens werden im Folgenden genauer zu beleuchten sein. Insbesondere, so wird sich zeigen, droht der kriterienspezifische Gehalt des Gleichheitsgrundrechts auf diesem Wege einer unzulässigen Entpolitisierung anheim zu fallen und dabei in seiner inhaltlichen Zielrichtung verfälscht zu werden. Doch worin, so ist zunächst zu fragen, werden nun die wesentlichen Übereinstimmungen etablierter suspekter Differenzierungskriterien verortet? a) Die Fokussierung auf den Distinktionsgrad Bei der Suche nach grundlegenden Strukturen gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion rückt zunächst ein häufig anzutreffender Begründungszusammenhang in den Mittelpunkt, der durch Fokussierung auf den unterschiedlichen Distinktionsgrad von Gruppen gekennzeichnet ist. Den Ausgangspunkt dieses Begründungszusammenhangs bilden Überlegungen zum kriterienspezifischen Gehalt des Gleichheitssatzes: Differenzierungen basieren notwendig auf Klassifikationen, Klassifikationen verweisen auf unterschiedliche Gruppen. Die mittels des Differenzierungskriteriums unterschiedenen Gruppen können allgemein danach systematisiert werden, wie hoch die wahrnehmbare Stabilität der sie voneinander abgrenzenden Merkmale (ihr Distinktionsgrad) ist. Je höher diese wahrnehmbare Stabilität der unterscheidenden Merkmale und damit der gruppenbezogene Distinktionsgrad anzusiedeln ist, desto eher wird den betroffenen Gruppen ein besonders intensiver gleichheitsrechtlicher Schutz vor Ungleichbehandlungen zuerkannt. 891
Siehe oben, Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. c). Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 893 So zum Beispiel Kischel, EuGRZ 1997, 1, 5 f., unter ausdrücklicher Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 892
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b) Faktoren des Distinktionsgrades Welche Faktoren den Distinktionsgrad im Einzelnen ausmachen, ist im Laufe dieser Untersuchung mehrfach deutlich geworden. Zum Vorschein gekommen sind insoweit vor allem zwei Elemente, denen in der gleichheitsrechtlichen Diskussion herausragende Beachtung zuteil wird: Angesprochen ist damit die traditionell verbreitete gleichheitsrechtliche Fokussierung auf Gruppen mit unveränderlichen, sichtbaren Merkmalen, wie sie die rechtsvergleichende Untersuchung für das deutsche und US-amerikanische Verfassungsrecht wiederholt aufgezeigt hat.894 Eine kriterial motivierte Intensivierung des Gleichheitsschutzes wird verbreitet angenommen, sofern von der Unveränderlichkeit der fraglichen gruppenbezogenen Eigenschaft auszugehen ist; das Gleichheitsrecht gerät so zu einem „Recht, das sich in seiner strengen Form mit der Zulässigkeit von Klassifikationen aufgrund unveränderlicher Merkmale beschäftigt“895. Strenge Prüfungsanforderungen sind nach dieser Auffassung geboten, wenn eine Differenzierung an Merkmale anknüpft, die von der betroffenen Person nicht oder nur schwer verändert werden können – erfasst werden damit etwa die Unterscheidungskriterien Geschlecht, Rasse, nationale Herkunft und Unehelichkeit.896 Nun ist oben im Rahmen der von Würdeprinzip und Gleichheitssatz aufgespannten personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes bereits zum Ausdruck gekommen, dass Fragen nach der individuellen Beeinflussbarkeit des Differenzierungskriteriums bei der Bestimmung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsniveaus durchaus Gewicht beizumessen ist. Im Hinblick auf den kriterienspezifischen Gehalt des Gleichheitsgrundrechts liegen die Dinge indes verwickelter, wie die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen werden. Zuvor ist jedoch mit dem Element der Sichtbarkeit bzw. Auffälligkeit auf den zweiten bestimmenden Faktor für die Ermittlung des gruppenbezogenen Distinktionsgrades hinzuweisen. Auch die Sichtbarkeit, ebenso wie der Faktor Unveränderlichkeit, nimmt in der Diskussion über die Kriterienspezifik des Gleichheitssatzes breiten Raum ein.897 So haben wir etwa bei der Betrachtung des US-amerikanischen Verfassungsrechts gesehen, dass die Einordnung einer Maßnahme als 894 Siehe etwa Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. b); Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (1) (d). 895 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 409. 896 Die so gekennzeichnete verbreitete Interpretation des Gleichheitssatzes findet sich beispielsweise in der Studie von Kälin, Grundrechte im Kulturkonflikt. Freiheit und Gleichheit in der Einwanderungsgesellschaft, S. 107, derzufolge Ausgrenzungen auf der Basis von Geschlecht, Kultur, ethnischer Herkunft oder Religion „abzulehnen [sind], weil sie die Betroffenen zu Gefangenen von Merkmalen machen, die angeboren sind (Rasse oder Geschlecht) oder deren Aufgabe ihnen nicht zugemutet werden kann (Kultur, Religion)“.
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verdächtig nahe liegt, wenn sie zum Nachteil von „leicht identifizierbaren und abgrenzbaren“ Minderheiten differenziert.898 Die Brisanz dieser Koppelung von Prüfungsintensität und Sichtbarkeit des Differenzierungskriteriums wird unmittelbar deutlich, wenn im Gefolge der Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zur equal protection-Klausel beispielsweise judiziert wird, „because homosexuals generally are not identifiable ‚on sight‘ . . . they cannot constitute a suspect class or a quasi-suspect class“899. Bevor wir im Folgenden die Berechtigung der Gründe für ein solches Vorgehen näher untersuchen, bedarf es an dieser Stelle noch einer begrifflichen Präzisierung zum Faktor der Sichtbarkeit. Die wahrnehmbare Stabilität unterscheidender Merkmale ist nicht allein bei Sichtbarkeit des Differenzierungskriteriums erhöht, sondern allgemein im Falle der Auffälligkeit des Unterscheidungskriteriums. Leichte Identifizierbarkeit und Abgrenzbarkeit von Gruppen wird zwar zumeist mit der Sichtbarkeit von Unterschieden in Verbindung stehen. Zwingend ist diese Beschränkung auf sichtbare Differenzen bei der Bestimmung des gruppenbezogenen Distinktionsgrades indes nicht – darauf hat bereits Goffman überzeugend hingewiesen: „Da durch unseren Sehsinn das Stigma anderer am häufigsten evident wird, ist der Terminus Sichtbarkeit vielleicht nicht zu irreführend. Tatsächlich würde der allgemeinere Terminus ‚Wahrnehmbarkeit‘ genauer sein, und ‚Evidenz‘ noch genauer. Ein Stottern ist schließlich doch ein sehr ‚sichtbarer‘ Defekt, aber in erster Linie wegen des Tons, nicht wegen des Anblicks.“900 Im weiteren Verlauf wird daher die Sichtbarkeit eines Merkmals lediglich als spezielle, wenn auch besonders wichtige Form der Auffälligkeit von Differenzierungskriterien verstanden. Es gilt nun zu überprüfen, in wie weit die angesprochenen Faktoren berechtigter Weise als Grundlage gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion zu berücksichtigen sind. 4. Herabgesetzter Gleichheitsschutz für Gruppen mit veränderlichen, unauffälligen Merkmalen? Weshalb sollte Gruppen mit veränderlichen, unauffälligen Merkmalen verfassungsrechtlich ein weniger intensiver Gleichheitsschutz zuerkannt werden? Den allgemeinen Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser zentralen 897 Ausführlich zur gleichheitsrechtlichen Bedeutung der Sichtbarkeit des Differenzierungskriteriums Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 496 ff., 519 ff. mit umfangreichen Nachweisen. 898 Siehe Zweiter Teil, 3. Kapitel, B. II. 1. b) aa), (1) (a). 899 Equality Foundation of Greater Cincinnati v. City of Cincinnati, 54 F.3d 261, 267 (6th Cir. 1995). 900 Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, S. 64.
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Frage finden wir erneut in der oben901 behandelten Struktur gleichheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit, wonach das Prüfungsniveau in Abhängigkeit vom Gewicht der in Rede stehenden Ungleichbehandlung zu bestimmen ist. In jüngerer Zeit hat insbesondere Yoshino in einer sorgfältigen Studie zu rekonstruieren versucht, aus welchen Gründen der Ungleichbehandlung von Gruppen mit unveränderlichen, auffälligen Merkmalen ein besonders hohes Gewicht zugemessen wird.902 Im Mittelpunkt der Argumentation stehen dabei Gedanken, die die besondere Schutzbedürftigkeit dieser Gruppen betreffen – ein solcher Ansatz „can be justified by arguing that distinct groups are politically powerless because, inter alia, they cannot evade discrimination. When confronted with discrimination, an indistinct group may temporarily or permanently escape it by changing or hiding its defining trait. Distinct groups do not have this chameleon-like ability and are thus subject to the full force of discrimination.“903 Differenzierungen wird so ein besonderes Gewicht immer dann zugesprochen, wenn sie als besonders verletzlich erachtete Gruppen benachteiligen. Damit befinden wir uns zugleich an der Scheidelinie zur personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes: Zwar spielt der Aspekt der Veränderlichkeit wie gesehen auch dort eine bedeutende Rolle, die am Würdeprinzip orientierte Anhebung der Rechtfertigungsanforderungen bei fehlender individueller Beeinflussbarkeit basiert jedoch auf einem individualbezogenen, die Person in den Mittelpunkt stellenden Begründungszusammenhang. Im Gegensatz dazu verweisen die zuvor aufgezeigten kriterienspezifischen Überlegungen auf gruppenorientierte Ansätze, wie sie auch in aktuellen Entwicklungen des völkerrechtlichen Diskriminierungsverbotes zunehmend aufscheinen: „Moderner völkerrechtlicher Diskriminierungsschutz entwickelt – ohne seine Individualbezogenheit zu verlieren – zunehmend eine gewisse ‚Gruppendimension‘. Es geht um besonders verletzliche (‚vulnerable‘) Gruppen, solche, die besonders anfällig für die Verletzung ihrer Menschenrechte sind.“904 Doch sind Gruppen mit unveränderlichen, auffälligen Merkmalen wirklich generell verletzlicher als veränderliche, unauffällige Gruppen, so dass benachteiligenden Ungleichbehandlungen von letzteren geringeres Gewicht zukommt? Dann würde, mit anderen Worten, das Ausmaß des Distinktionsgrades von Gruppen zugleich Auskunft über den Grad ihrer Schutzbedürftigkeit geben. Die damit aufgeworfenen Fragen werden verbreitet in dem bereits zitierten Sinne beantwortet, unveränderliche und auffällige Gruppen 901
Vierter Teil, 3. Kapitel, C. II. 1. b) bb). Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485 ff. 903 Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 507 f. 904 Mohr, Aktuelle Konturen des völkerrechtlichen Diskriminierungsverbotes, S. 275. 902
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seien eben „subject to the full force of discrimination“, während andere Gruppen Diskriminierungen entgehen könnten und deshalb gleichheitsrechtlich nur geringeren Schutzes bedürften. Diese traditionelle Begründung wirkt zunächst überzeugend. Dennoch ist die vertiefte Befassung mit dieser dem Anschein nach fast schon selbstverständlichen Grundannahme gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion geeignet, Zweifel an ihrer generellen Tragfähigkeit zu wecken. Insbesondere erscheint bedenklich, dass hier ein Vergleich zwischen Gruppen unterschiedlichen Distinktionsgrades vorgenommen wird, der lediglich auf den Nutzen des ausweichenden Verhaltens abstellt, das heißt die Vermeidung nachteiliger Wirkungen von Ungleichbehandlungen in den Blick nimmt. Hingegen bleiben die Formen und Kosten ausweichenden Verhaltens – allgemeiner formuliert: die Folgen adaptiven Verhaltens für die Zugehörigen zu Gruppen mit niedrigem Distinktionsgrad – seltsam unterbelichtet. Es gilt daher, derartige Verkürzungen der Vergleichsperspektive zu überwinden, um die kriterienspezifische Bedeutung der Faktoren Veränderlichkeit und Unauffälligkeit für die Intensität der grundrechtlichen Rechtfertigungsprüfung genauer beurteilen zu können. 5. Formen der Anpassung: Konvertieren, Verbergen, Abschwächen Wie gesehen, hat eine differenzierte Folgenbetrachtung adaptiven Verhaltens über den positiven Effekt der Vermeidung nachteiliger Wirkungen hinauszugehen. Hinzutreten muss die Untersuchung der bislang wenig beachteten weiteren Implikationen adaptiven, gleichheitsrechtlich motivierten Verhaltens. Damit rückt der von Yoshino konstatierte „assimilationist bias“ grundrechtlichen Gleichheitsschutzes in den Mittelpunkt905, der in unterschiedlichen Formen der Anpassung zum Ausdruck kommt. Wer sich mit einer benachteiligenden Ungleichbehandlung konfrontiert sieht, kann deren Auswirkungen durch Anpassung zu entgehen suchen. In Betracht kommen insoweit insbesondere drei Formen der Anpassung: Konvertieren, Verbergen und Abschwächen. Ist das entscheidende Differenzierungskriterium veränderlich, so mag die betroffene Person der daran geknüpften Benachteiligung durch Konvertieren auszuweichen versuchen. Sie verlässt damit die benachteiligte Gruppe, wobei der Wechsel durch den niedrigen Distinktionsgrad der Gruppe überhaupt erst möglich wird. Differenziert eine Regelung etwa nach der formellen Zugehörigkeit zu bestimmten politischen Gruppierungen, so können Austritt bzw. Eintritt die Möglichkeit des Konvertierens eröffnen und auf diesem Wege das Überwechseln in eine andere, nicht benachteiligte Gruppe erlauben. Diese Form der Anpassung kommt demnach überhaupt nur dort in 905
Vgl. zum folgenden Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485 ff.
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Betracht, wo das maßgebliche Unterscheidungsmerkmal „abgelegt“ werden kann und eine entsprechende Konversion gestattet. Im Gegensatz zum Konvertieren stellt das Verbergen eine Form der Anpassung unter grundsätzlicher Beibehaltung des Unterscheidungsmerkmals dar. Das adaptive Verhalten besteht hier in dem Bemühen um Wahrung von Unauffälligkeit. So verhält es sich etwa bei dem Alkoholabhängigen, der ärztliche Behandlung und Entziehungskuren meidet, um so lange wie möglich sozial unauffällig zu bleiben. Das gleiche gilt für Homosexuelle, die ihre sexuelle Orientierung wegen befürchteter Nachteile zu verbergen suchen. Soweit es dagegen um Charakteristika geht, bei denen ein Verbergen generell ausgeschlossen ist oder nur in Ausnahmefällen möglich erscheint, so tritt die Auffälligkeit des Unterscheidungskriteriums auf Kosten der adaptiven Möglichkeit des Verbergens in den Vordergrund. Dem von der Ungleichbehandlung Betroffenen bleibt in diesem Fall nur der Rückgriff auf sonstige Strategien der Anpassung, insbesondere auf die Form des Abschwächens bestehender Unterschiede. In einzelnen Konstellationen und in Bezug auf bestimmte Merkmale kann also nicht nur die Konversion, sondern auch das Verbergen ausgeschlossen sein. Als Form der Anpassung verbleibt dann lediglich die Möglichkeit, bestehende Unterschiede zu relativieren, sie in ihrer Wahrnehmbarkeit und/ oder sozialen Bedeutung abzuschwächen. Ein anschauliches Beispiel für diese Form adaptiven Verhaltens finden wir bei Schiek unter treffender Bezugnahme auf die „Relativierung biologischer Weiblichkeit . . . – wie im Beispiel der Frau, die dafür sorgt, daß gut beleumundete Personen potentiellen Arbeitgebern glaubhaft versichern, sie sei unfruchtbar“906. Vielfältige Bemühungen um Abschwächungen kennzeichnen oftmals auch den Alltag von Menschen mit Behinderungen. Ein Rollstuhlfahrer vermag den anderen Teilnehmern eines Kongresses gegenüber die eigene Behinderung nicht zu verbergen. Nimmt er jedoch in den einberufenen Arbeitskreisen einen Platz am Konferenztisch ein, so sind Wahrnehmbarkeit und Bedeutung seiner Behinderung deutlich relativiert.907 Anders verhält es sich bei dem anschließenden Stehimbiss. Bemüht sich der Rollstuhlfahrer, seine Behinderung möglichst wenig auffällig werden zu lassen und vermeidet aus diesem Grund gezielt Situationen wie die zuletzt beschriebene, während er Situationen des ersten Typs herbeizuführen versucht, handelt es sich um adaptives Verhalten durch Abschwächung. 906
Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit. Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, S. 45. 907 Vgl. zu diesem Beispiel Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, S. 65: „Bei einer geschäftlichen Zusammenkunft [wird] ein Teilnehmer in einem Rollstuhl gewiß mit seinem Rollstuhl auffallen, aber rund um den Konferenztisch kann sein Fehler relativ leicht belanglos werden.“
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Die damit beschriebene Form der Anpassung hat Somek in jüngerer Zeit als „Ducken“ zu charakterisieren versucht und dazu ausgeführt: „Durch das Ducken versucht man, etwas unauffällig zu machen, das sich nicht oder nur schwer verbergen lässt. Selbst wenn eine Person ein auffälliges Merkmal trägt, hat sie es in gewisser Weise in der Hand, soziale Techniken zu verwenden, die es weniger aufdringlich machen.“908 Wenngleich grundsätzlich zutreffend, erfordern diese Aussagen doch Korrekturen hinsichtlich der Abgrenzung zur Anpassung im Wege des Verbergens. Zwar wird durch Abschwächen der Unterschiede tatsächlich versucht, bestimmte Merkmale unauffälliger zu gestalten – doch die damit angesprochene Form der Anpassung ist nicht wie Somek meint auf Merkmale beschränkt, die sich „nicht oder nur schwer verbergen“ lassen. Vielmehr liegt es an der betroffenen Person selbst, welche Form der Anpassung sie bei leicht zu verbergenden Unterschieden wählt. Dabei kann es auch im Falle solcher Merkmale gute Gründe für die zur Anpassung entschlossene Person geben, lediglich zum Mittel der Abschwächung zu greifen und die Möglichkeit des Verbergens zu ignorieren. Hierfür sprechen vor allem Erwägungen, die sich auf die abweichenden Folgen des adaptiven Verhaltens beziehen: Während das Bemühen um Abschwächung oftmals in keinem oder nur in geringem Maße mit Aspekten der Selbstverneinung verbunden ist, besteht zwischen dem Verbergen von Eigenschaften und dem Problem individueller Selbstverleugnung ein unmittelbarer und enger Zusammenhang. Mit diesen Überlegungen sind wir an einem Punkt angelangt, der den Übergang zwischen den Formen von Anpassung und den Folgen von Anpassung markiert. Es gilt nun, die Folgen adaptiven Verhaltens genauer in den Blick zu nehmen, um so die Berechtigung besonderen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes für Gruppen mit unveränderlichen, auffälligen Merkmalen überprüfen zu können. 6. Folgen der Anpassung: Der „assimilationist bias“ grundrechtlichen Gleichheitsschutzes Wenden wir uns den Folgen adaptiven Verhaltens zu, so fällt auf, dass die beiden weitreichendsten Formen der Anpassung – Konvertieren und Verbergen – nur für Gruppen mit veränderlichen und unauffälligen Merkmalen in Betracht kommen. Nur diese Gruppen sind zu entsprechenden Anpassungsleistungen in der Lage, sie allein können sich demnach durch Ausweichen von den Wirkungen benachteiligender Ungleichbehandlungen befreien. Doch was sich zunächst als vermeintlich unspektakuläre deskriptive Aussage über die hohe Anpassungsfähigkeit von Gruppen mit niedrigem Distinktionsgrad ausnimmt, droht unter dem Eindruck des Gleichheitsgrund908
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 398 f.
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rechts den von Yoshino analysierten „assimilationist bias“ zu erhalten: „The immutability factor withholds protection from groups that can convert, leaving them susceptible to legislation that pressures them to do so. The visibility factor similarly withholds protection from groups that can hide their defining trait, making them vulnerable to legislation that induces them to pass. . . . The descriptive claim that a group can assimilate thus transmutes into the prescriptive claim that it should assimilate without much intervening investigation by the courts into the legitimacy of the legislation.“909 Die damit bezeichnete Tendenz, faktische Anpassungsfähigkeit von Gruppen im Wege generell abgesenkter gleichheitsrechtlicher Prüfungsanforderungen zu einem nachhaltigen Assimilierungsdruck zu verdichten, kann nur im Vergleich mit der fehlenden Anpassungsfähigkeit unveränderlicher, auffälliger Gruppen gerechtfertigt werden. Soll die generelle Absenkung der Kontrolldichte bei Gruppen mit theoretischer Anpassungsfähigkeit aufrecht zu halten sein, so kann dies allein über die Annahme eines generell geringeren Gewichts benachteiligender Ungleichbehandlungen von Gruppen mit veränderlichen und unauffälligen Merkmalen begründet werden. Einer solchen generalisierten Annahme stehen jedoch die Folgen der Anpassung entgegen, die für den Betroffenen oftmals von so einschneidender Bedeutung sein können, dass sie die Nachteile der Ungleichbehandlung aufwiegen oder gar weit übersteigen – das wird deutlich, wenn man die Kosten des Ausweichens durch Konvertieren oder Verbergen berücksichtigt. a) Folgen der Anpassung: Die Kosten des Konvertierens und der Faktor Unveränderlichkeit Betrachten wir dazu zunächst die vermeintlich eindeutigste Form der Anpassung, das Konvertieren. Konversion ist zweifellos eine Möglichkeit, den Wirkungen diskriminierender Regelungen auszuweichen; sie setzt die Veränderlichkeit des Differenzierungskriteriums voraus. Doch auch wenn der Faktor der Veränderlichkeit somit auf die grundsätzlich vorhandene Ausweichfähigkeit des Benachteiligten hinweist, so wird diese Möglichkeit in vielen Fällen gleichwohl theoretischer Natur bleiben. Die Ursachen hierfür liegen in der sozialen Identität des Betroffenen begründet, jenem Teil des Selbst-Konzepts einer Person, der auf dem Wissen um die eigenen Gruppenzugehörigkeiten sowie den damit verbundenen Wertkonnotationen und emotionalen Bezügen basiert. Je stärker die soziale Identität eines benachteiligten ungleich Behandelten von der Zugehörigkeit zu der durch die 909 Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 502, 506 (Hervorhebungen im Original).
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Klassifikation konkret betroffenen Gruppe mitbestimmt wird, umso schwerer wiegen die individuellen Kosten der Anpassung durch Konvertieren. Droht die Konversion demnach zu einer partiellen Identitätseinbuße zu führen, so verschärft sich das Problem zusätzlich, sobald die diskriminierenden Rechtsfolgen einer Ungleichbehandlung besonders schwerwiegend sind. Denn je gravierender die nachteiligen Wirkungen der Diskriminierung empfunden werden, je zwingender sich der Betroffene also zum Ausweichen dieser Folgen angehalten sieht, desto weiter entfernt sich der Gesichtspunkt der Veränderlichkeit des Unterscheidungskriteriums von verbreiteten gleichheitsrechtlichen Vorstellungen, wonach die Veränderlichkeit das Gewicht der Ungleichbehandlung reduziere, indem sie Möglichkeiten des Ausweichens vor Diskriminierungen eröffne. Die Ursache hierfür liegt darin begründet, dass in dem Maße, in dem sich das Gewicht der benachteiligenden Folgen erhöht, zugleich die Wahrnehmung des ungleich Behandelten eine Veränderung erfährt: Aus der Möglichkeit des Ausweichens vor Diskriminierungen wird zunehmend der Zwang zum Ausweichen. Diese Tendenz zur Unausweichlichkeit des Ausweichens ist bei Yoshino treffend beschrieben, wenn ausgeführt wird „even if a group feels that it can and should exercise the option to convert, the conversion may be experienced less as an evasion from discrimination than as an effect of that discrimination. If a communist recants on her political ideology because of anti-Communist sentiment, is her conversion an escape from that prejudice or the ultimate capitulation to it? The advantage of evasion that mutable groups possess is thus highly questionable.“910 Wie die bisherigen Überlegungen gezeigt haben, ist die Annahme verminderter gleichheitsrechtlicher Schutzbedürftigkeit auf Seiten veränderlicher, unauffälliger Gruppen jedenfalls in ihrer generalisierten Form kaum überzeugend, sofern die möglichen Kosten des Konvertierens Berücksichtigung finden. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint Unveränderlichkeit als kriterienselektierende Grenzziehung zumindest fragwürdig. Wenden wir uns daher im weiteren Verlauf einem anders gelagerten, stärker sozialpsychologisch orientierten Begründungsansatz zu, der die gleichheitsrechtliche Relevanz des Faktors Unveränderlichkeit stützen könnte. Bedenkenswert erscheinen insofern Erwägungen, die das Verhältnis von Eigen- und Fremdgruppe betreffen. Wie sozialpsychologische Experimente911 bestätigen, lässt sich eine eindeutige und allgemeine Tendenz zur Bevorzugung der Eigengruppe auf 910
Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 510 (Hervorhebungen im Origi-
nal). 911 Vgl. Tajfel, Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen, S. 74 ff. m. w. N.
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Kosten von Fremdgruppen feststellen. Das gilt selbst im Rahmen so genannter „minimalistic approach“-Experimente: Bei diesen wird zunächst das Maß an Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppenmitgliedern auf ein minimales Niveau abgesenkt, indem etwa ein offen durchgeführter Münzwurf über die Gruppenzugehörigkeit entscheidet. Weiterhin werden Interaktionen zwischen den Versuchspersonen unterbunden. Schließlich zielt die Durchführung des Experiments darauf ab, reale oder vermutete Interessengegensätze zwischen den Vergleichsgruppen weitestgehend zu vermeiden. Die Ergebnisse fallen deutlich aus: „An einer Vielzahl von Maßen hat sich gezeigt, daß die Versuchspersonen sowohl in den ersten als auch in den späteren Experimenten sehr konsistent die anonymen Mitglieder der eigenen Gruppen auf Kosten der anonymen Mitglieder der fremden Gruppen bevorzugten.“912 Ausgehend von diesem Befund deutet manches darauf hin, dass die Favorisierung der Eigengruppe und die Diskriminierung der Fremdgruppe umso stärker ausfällt, je höher der Distinktionsgrad von Gruppenzugehörigkeiten anzusiedeln ist. Den Ursprung der damit angesprochenen Überlegung bildet die Identifikation des Einzelnen als Mitglied der Eigengruppe, worin zugleich die Abgrenzung nach außen liegt.913 Wenn demnach die Identifikation mit den übrigen Personen der eigenen Gruppe aufgrund übereinstimmender Merkmale vielfach mit Tendenzen zu deren Bevorzugung gegenüber den „anderen“ verbunden ist, so liegt eine Folgerung für die Bedeutung des Faktors Unveränderlichkeit zumindest nahe: Diskriminierungen von Zugehörigen zu Fremdgruppen sind insbesondere dort zu befürchten, wo diese von abweichenden Merkmalen gekennzeichnet sind, die sie keinesfalls verändern können – sie werden sich insoweit für immer von uns unterscheiden, die identifikatorische Kluft erscheint besonders groß. Anders mag es sich hingegen bei Merkmalen verhalten, die wir gegenwärtig nicht teilen, welche jedoch infolge ihrer Veränderbarkeit zukünftig auch für uns in Betracht kommen; im Gegensatz zu den unveränderlichen Kennzeichen erscheint hier die Möglichkeit, sich in die Situation des Merkmalsträgers hineinzuversetzen, deutlich eher gegeben. Die damit beschriebene, bereits von Goffman vertretene Auffassung kann gleichheitsrechtlich durchaus für die Argumentation herangezogen werden, dass unveränderliche Gruppen besonderen Diskriminierungsrisiken ausgesetzt seien, weshalb entsprechende Ungleichbehandlungen einer besonders strengen Kontrolle unterliegen würden. An der vorgestellten Argumentation bestehen indes Bedenken. Diese richten sich nicht gegen die Plausibilität der angestellten Erwägungen, son912 Tajfel, Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen, S. 77. 913 Vgl. Eglin, Demokratie und Minderheiten, S. 214 m. w. N.
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dern erneut gegen die Generalisierbarkeit der daraus abgeleiteten Folgerungen, nach denen unveränderliche Gruppen einen allgemein höheren Gleichheitsschutz genießen. Es wird also nicht in Abrede gestellt, dass die Unveränderlichkeit von Gruppen mit speziellen Diskriminierungsgefahren verbunden ist, wie sie zuvor erörtert wurden. Doch auch hier bedarf es zur Vermeidung voreiliger Verallgemeinerungen des ergänzenden Blickes auf jene Gruppen, denen aufgrund der Veränderlichkeit ihrer Merkmale regelmäßig nur geringere Aufmerksamkeit zuteil wird. Dabei zeigt sich, dass die Veränderlichkeit von Merkmalen neben den angesprochenen Vorteilen auch spezifische Gefährdungslagen für die Merkmalsträger begründet, weshalb generelle Aussagen über die geringere gleichheitsrechtliche Schutzbedürftigkeit von veränderlichen Gruppen kaum haltbar erscheinen. Auf den Hintergrund dieser Gefährdungslagen hat Tajfel in seinen Untersuchungen zur Struktur von Gruppenkonflikten hingewiesen. So sei es „offensichtlich, daß eine Kombination von mangelnder Legitimität und Instabilität [gemeint ist die Veränderlichkeit der Unterscheidungskriterien, S.M.D.] Anreize bietet, den Status quo zwischen den Gruppen zu verändern oder solchen Veränderungsversuchen Widerstand entgegenzusetzen, was bei Gruppen der Fall sein wird, die sich von diesen Versuchen bedroht fühlen. In anderen Worten, diese Kombination wird einen potentiellen und manchmal schwelenden sozialen Konflikt so verwandeln, daß er von den beteiligten Gruppen explizit eingestanden werden wird. . . . [Er wird also] zur Entwicklung sozialer Bewegungen führen, die sozialen Wandel herbeiführen oder verhindern wollen, wobei sozialer Wandel hier als Veränderung in der Natur der Beziehungen zwischen den Gruppen verstanden wird.“914 Beispiele für solche Veränderungen in den Gruppenbeziehungen belegen, dass oftmals erst die Veränderlichkeit von Merkmalen zu besonders intensiven Formen der Diskriminierung beiträgt. Das gilt insbesondere in jenen Konstellationen, in denen die persönliche „Einverleibung“ in andere, veränderliche Gruppen als Bedrohung wahrgenommen wird und damit Abwehr- und Abgrenzungstendenzen nachhaltige Verstärkung erfahren. Anhaltspunkte für ein solches Verhalten finden sich etwa im Umgang mit Kranken. Der Faktor Veränderlichkeit ist hierbei unter anderem mit dem Aspekt der Ansteckungsgefahr verbunden. In dem Maße, in dem die Übertragung einer Krankheit möglich ist (oder auch nur als möglich empfunden wird), steigt mit der Angst vor Ansteckung zugleich der Wille zur Abgrenzung. Dabei sind die Grenzen zwischen Maßnahmen aus begründeter Vorsicht und hysterischen Überreaktionen oftmals schwer zu bestimmen. Ohne Zweifel jedoch, und nur das gilt es an dieser Stelle zu belegen, trägt hier 914 Tajfel, Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen, S. 91.
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gerade die Veränderlichkeit des unterscheidenden Merkmals – und nicht etwa dessen Unveränderlichkeit – zu besonderen Gefährdungslagen der betroffenen Gruppen bei. Im Zuge der Ausbreitung von HIV-Infektionen seit Beginn der achtziger Jahre kam dieser Umstand etwa darin zum Ausdruck, dass Vorschläge unterbreitet und diskutiert wurden, die eine radikale Ghettoisierung und Isolierung HIV-Infizierter vorsahen.915 Wie das Beispiel der erworbenen Immunschwächekrankheit AIDS demonstriert, können gerade veränderliche Merkmale „tiefliegende menschliche Ängste und Triebkonflikte hochsteigen lassen: Berührungsängste gegenüber Infizierten und Erkrankten. Bei den von dieser Krankheit Befallenen entstand das Gefühl der Isolierung bis hin zur gesellschaftlichen Ächtung“916. In welchem Maße neben der Unveränderlichkeit auch die Veränderlichkeit von Gruppen besondere Diskriminierungsgefahren begründen kann, verdeutlichen schließlich Untersuchungen in Bezug auf Fragen des sozialen Status. Jack Balkin hat diesen Problemkreis in dem von ihm als „Paradoxon der Status-Hierarchie“ bezeichneten Kontext prägnant zusamengefasst: „Societies with relatively rigid social roles and hierarchical orderings tend to appear relatively stable and peaceful on the surface. . . . Higher status groups may treat lower status groups with condescension and paternalism. Yet as status hierarchies weaken, it takes considerably greater effort to keep subordinate groups subordinate and inferior meanings inferior. . . . People certain of their superior status may treat their social inferiors with indulgence and even paternal affection, but when the status barriers begin to break down, their rhetoric turns to fear, anger, and hate. They can no longer afford the luxury of condescension.“917 Auch hier, ebenso wie im vorherigen Beispiel, führt die Veränderlichkeit der relevanten Merkmale nicht zur Annahme eines verminderten Diskriminierungspotentials, sondern gibt im Gegenteil eher Anlass für die besondere Schärfe und gesteigerte Konfliktträchtigkeit der Auseinandersetzung. Fassen wir die bisher angestellten Betrachtungen zusammen, so stellt sich die Situation wie folgt dar. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass es durchaus gruppenbezogene Argumente für einen erhöhten Gleichheitsschutz bei unveränderlichen Differenzierungskriterien gibt, die sich insbesondere auf fehlende Ausweichfähigkeiten bei Diskriminierungen und auf mangelnde Identifikationsmöglichkeiten mit den ungleich Behandelten beziehen. Wie die 915 Zu der öffentlichen, insbesondere publizistischen Auseinandersetzung mit der Krankheit zu Beginn der achtziger Jahre ausführlich und mit zahlreichen Beispielen Rühmann, AIDS. Eine Krankheit und ihre Folgen, S. 51 ff. 916 Gründel, AIDS (ethisch), in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 1, S. 96. 917 Balkin, The Constitution of Status, Part II, www.yale.edu/lawweb/jbalkin/ articles/status2.htm.
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Untersuchung gezeigt hat, kann jedoch nicht von einem generell geringeren Gewicht von Differenzierungen aufgrund veränderlicher Kriterien ausgegangen werden. Insofern gilt es die zumeist wenig thematisierte Stellung veränderlicher Gruppen zu berücksichtigen. Deren Situation ist zum einen dadurch gekennzeichnet, dass die grundsätzlich vorhandenen Ausweichfähigkeiten vor diskriminierenden Wirkungen einer Maßnahme oftmals mit erheblichen Folgen – den Kosten des Konvertierens – verbunden sind. Darüber hinaus konnte ein weiterer Ansatz entkräftet werden, der die Mitglieder unveränderlicher Gruppen als Destinäre eines besonders intensiven Gleichheitsschutzes ausmacht und dabei auf mangelnde Identifikationsmöglichkeiten rekurriert. Insofern ist deutlich geworden, dass die Veränderlichkeit von Merkmalen auch unter diesem Aspekt keine prinzipiellen Anhaltspunkte für eine privilegierte Stellung der Merkmalsinhaber bietet, sondern vielfach sogar besondere Diskriminierungsgefahren begründet. Generelle Aussagen über eine gleichheitsrechtlich relevante geringere Verletzlichkeit veränderlicher Gruppen sind daher zurückzuweisen. b) Folgen der Anpassung: Die Kosten des Verbergens und der Faktor Auffälligkeit Mit den bisherigen Erkenntnissen haben wir den ersten Teil der eingangs aufgeworfenen Frage nach der Berechtigung herabgesetzten Gleichheitsschutzes für Gruppen mit veränderlichen, unauffälligen Merkmalen beantwortet: Der Faktor Veränderlichkeit, so das Zwischenergebnis, ist als Grundlage gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion weitaus weniger eindeutig als verbreitet angenommen. Damit bleibt zu klären, in wie weit jedenfalls der Auffälligkeit des Differenzierungskriteriums gleichheitsrechtliche Relevanz zukommt. Aus soziologischer Perspektive ist die Bedeutung der Auffälligkeit bzw. Eindeutigkeit von Gruppenzuordnungen im Kern unbestritten: „Das Bewußtsein, Mitglied einer Minoritätsgruppe zu sein, und die Identifikation, die diesem Bewußtsein folgt, hängt von der wahrgenommenen Eindeutigkeit der Grenzen ab, die die Mitglieder dieser Gruppe gemeinsam von anderen trennen.“918 Mit dem Verbergen von Unterschieden wird der Versuch unternommen, wahrgenommene Grenzen zu durchbrechen. Im Gegensatz zur Konversion ist Anpassung durch das Verbergen von Unterschieden dabei nicht auf veränderliche Merkmale beschränkt – auch unveränderliche Merkmale können verborgen werden. Angesichts dieser umfassenden Reichweite der adaptiven Verhaltensform des Verbergens ist die Untersuchung der daran geknüpften Folgen von besonderem Interesse. 918 Tajfel, Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen, S. 149 (Hervorhebung im Original).
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Zunächst hat es den Anschein, dass die Folgen der Anpassung beim Verbergen – anders als im Falle des Konvertierens – für die betroffene Person weniger einschneidend sind. Während die Konversion zur effektiven Änderung des fraglichen Merkmales als solchem führt, intendiert das Verbergen im Ansatz nicht mehr, als bestimmte Kennzeichen unauffällig zu stellen und damit ihre soziale Wahrnehmbarkeit zu verhindern. Die Kosten des Verbergens, das gilt es nachfolgend zu zeigen, sind gleichwohl in vielen Fällen alles andere als gering. Sie können ein Ausmaß erreichen, das bei unvoreingenommener Betrachtung geeignet ist, die Annahme von der generellen gleichheitsrechtlichen Privilegierung auffälliger Gruppen zu erschüttern. Wer Diskriminierungen auszuweichen versucht, indem unterscheidende Merkmale verborgen werden, für den besteht zunächst die Gefahr der Entfremdung. Mit dem Verbergen des Differenzierungskriteriums wechselt die betreffende Person in eine Zielgruppe, von der sie weiß, dass sie ihr eigentlich nicht wirklich zugehörig ist. Innere Vorbehalte gegenüber der eigenen Gruppenmitgliedschaft, verbunden mit der zumindest latent vorhandenen Angst vor Entdeckung, begünstigen so das Auftreten von Identifikationsproblemen mit der Zielgruppe. Ist bereits hierin eine Form der Entfremdung zu sehen, so verschärft sich die Situation des Anpassenden zusätzlich durch den Umstand, dass auch eine Entfremdung von jener (Herkunfts-)Gruppe festzustellen ist, der er ursprünglich angehörte und zu der er nach seinen (verdeckten) Merkmalen immer noch gehört. Denn der Prozess des Verbergens hat auch zur Unsichtbarkeit des Merkmals gegenüber den Angehörigen dieser Gruppe geführt, die darum „keinen der ihren“ mehr zu erkennen vermögen. Doch auch die bislang beschriebenen Folgen der Anpassung durch Verbergen kennzeichnen die heikle Lage des Anpassenden nur unvollkommen. Zwar mögen die dargestellten Facetten der Entfremdung bereits Anlass genug sein, um Zweifel an der generellen Annahme verminderter gleichheitsrechtlicher Schutzbedürftigkeit von Personen mit unauffälligen Merkmalen zu begründen. Besondere Brisanz erwächst jedoch darüber hinaus aus einem speziellen Dilemma, mit dem sich der Anpassende in seinem Verhalten gegenüber der eigenen Herkunftsgruppe konfrontiert sieht. So werden Bekundungen von Sympathie zumeist Einschränkungen erfahren müssen oder gänzlich zu unterbleiben haben, um das damit verbundene Risiko der Aufdeckung so gering wie möglich zu halten. Die potentielle Verdächtigkeit affektiven Verhaltens limitiert den zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum auf diese Weise in beträchtlichem Maße. Doch auch ein dergestalt reservierter, von Vorsicht geprägter Umgang mit der eigenen Herkunftsgruppe stellt für den Anpassenden vielfach keine dauerhafte, emotional tragfähige Lösung dar. Eine Ursache hierfür besteht darin, dass der Zugang zur Ziel-
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gruppe lediglich illegitim durch das Verbergen von eigenen Merkmalen herbeigeführt worden ist. Illegitime Assimilation wiederum bestärkt oftmals Empfindungen, die auf eine besonders intensive Ablehnung und Abgrenzung gegenüber der Herkunftsgruppe gerichtet sind. Diese Einschätzung wird durch Untersuchungen Breakwells919 bestätigt, die Experimente mit Schülerinnen als Versuchspersonen durchführte. Die Schülerinnen wurden in zwei Gruppen, eine leistungsstärkere und eine schwächere, unterteilt. Kriterium für die Einteilung war das Abschneiden der Mädchen bei einem Test. Dessen Ergebnis konnte indes nicht nur in legitimer Weise, sondern auch illegitim durch „Schummeln“ beeinflusst werden. Wie das Experiment zeigt, waren es gerade diejenigen Schülerinnen, deren Zugehörigkeit zur stärkeren Gruppe lediglich im Wege des Schummelns herbeigeführt wurde, bei denen in der Folgezeit besonders starke Tendenzen zur Diskriminierung der Fremdgruppe festgestellt werden konnten.920 An dieser Stelle ist es nicht erforderlich, auf die Gründe für das zuvor beschriebene Verhalten im Einzelnen einzugehen. Vielmehr genügt es festzuhalten, dass die adaptive Verhaltensform des Verbergens ernstzunehmende Gefahren für den Anpassenden birgt, dem in mehrfacher Hinsicht Entfremdung von seinen Bezugsgruppen droht. Damit ist ein erster Aspekt benannt, den es im Hinblick auf die Kosten des Verbergens zu berücksichtigen gilt. Auf einen weiteren, die Kosten des Verbergens betreffenden Gesichtspunkt hat der U.S. Supreme Court im Urteil Powell v. Texas921 hingewiesen. Darin ging es um das bereits angesprochene Beispiel des Verbergens der eigenen Alkoholabhängigkeit. Angesichts der zunehmenden Abhängigkeitserkrankungen in den westlichen Industriestaaten ist damit ein Merkmal benannt, dem einerseits hohe gesellschaftliche Bedeutung zukommt (so wird etwa für Deutschland dafür ausgegangen, dass rund 10% der erwachsenen Männer Zeichen des Alkoholismus aufweisen922), das andererseits jedoch in vielen Fällen relativ unauffällig923 ist. Es ist diese oftmals geringe Auffälligkeit, auf die der U.S. Supreme Court Bezug nimmt, wenn er ausführt, dass „a very large percentage of the alcoholics in this country are ‚invisible‘ – they possess the means to keep their drinking problems secret, 919 Breakwell, Illegitimate group membership and inter-group differentiation, British Journal of Social and Clinical Psychology 18 (1979), 141 ff. 920 Breakwell, Illegitimate group membership and inter-group differentiation, British Journal of Social and Clinical Psychology 18 (1979), 141, 148 f. 921 Powell v. Texas, 392 U.S. 514 (1968). 922 Zur Verbreitung des Alkoholismus Feuerlein, Alkohol/Alkoholismus (zum Problemstand), in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 1, S. 100 f. 923 Von der „süchtigen Fehlhaltung unauffälliger Persönlichkeiten“ spricht Heinrich, Psychiatrie (zum Problemstand), in: Korff/Beck/Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, B. 3, S. 89.
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and the traditionally uncharitable attitude of our society toward alcoholics causes many of them to refrain from seeking treatment from any source“924. Neben dem Effekt der Entfremdung droht das Verbergen von Unterschieden somit die Inanspruchnahme von Hilfe zu vereiteln, wenn diese nur in öffentlich wahrnehmbarer Weise angeboten wird. Begründet das verborgene Charakteristikum demnach die Hilfsbedürftigkeit des Merkmalsträgers, so besteht der Preis des Verbergens regelmäßig zugleich in der Ablehnung von Angeboten zur Hilfe. Auch Träger von unauffälligen, zu verbergenden Merkmalen sind besonderen Gefährdungen ausgesetzt, wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat. Dabei ist neben den bereits angestellten Erwägungen zu berücksichtigen, dass zu den Kosten des Verbergens auch ein Faktor gehört, den man als „Anpassungsstress“ bezeichnen könnte. Gemeint ist jener individuelle Energieaufwand, durch den das Verbergen von Unterschieden überhaupt erst ermöglicht wird und der notwendige Voraussetzung des Anpassungsprozesses in vielen Bereichen ist. So verhält es sich bei dem Legastheniker, der seine Lese-Rechtschreibschwäche gegenüber dem sozialen Umfeld geheim zu halten versucht und darum beständig abzuschätzen hat, ob seine Schwäche in bestimmten Situationen wahrnehmbar zu werden droht. Oder bei der Spielsüchtigen, die als Grund für finanzielle Probleme eine Legende erschafft und aufrecht hält, um ihren Hang zum Glücksspiel zu verdecken. Die Angst vor Aufdeckung führt vielfach dazu, dass Aktivitäten, Freizeitinteressen und soziale Kontakte erheblich eingeschränkt werden; daher kann es kaum verwundern, wenn etwa die „costs of hiding“ beim Verbergen der eigenen homosexuellen Orientierung in einem mehrheitlich heterosexuellen Umfeld gravierend ausfallen und über depressive Erkrankungen und Suchtgefahren bis hin zum Selbstmord reichen können.925 In dem Maße jedoch, in dem soziale Kontakte und Aktivitäten von dem Verbergenden gleichwohl aufrecht erhalten werden, steigen regelmäßig der erforderliche Umfang und die Intensität der Anstrengungen, um das relevante Merkmal sozial unauffällig zu stellen – Kosten, die das Verbergen zu einer belastenden Angelegenheit werden lassen. Schließlich ist auf einen weiteren bedeutenden Aspekt hinzuweisen, der die Kosten des Verbergens zusätzlich erhöht und der bereits bei der Abgrenzung zum adaptiven Verhalten des Abschwächens kurz erwähnt wurde. Es handelt sich um den engen Zusammenhang zwischen dem Verbergen von Eigenschaften und dem Problem der Selbstverleugnung – „the individual who passes always simultaneously takes on the identity of a liar“926. Hieraus 924 925 926
Powell v. Texas, 392 U.S. 514, 527 (1968). Vgl. Treadway/Yoakam, Journal of School Health 1992, 352, 354. Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 528.
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resultiert für den Betroffenen eine zweifache Belastung, mit der er zurecht kommen muss. Zum einen besitzt er, das haben die Überlegungen zur Entfremdung gezeigt, Kenntnis davon, weder der Zielgruppe noch der Herkunftsgruppe uneingeschränkt anzugehören. Zugleich führt das Verbergen persönlicher Merkmale dazu, dass Teile des individuellen Soseins verleugnet werden. Im Falle der Aufdeckung hat dieser Umstand zur Folge, dass die betreffende Person in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur in die benachteiligte Herkunftsgruppe zurückgeworfen, sondern darüber hinaus als Lügner enttarnt wird und zusätzlich an Vertrauen einbüßt. Die negativen psychischen und physischen Auswirkungen der Selbstverleugnung und damit der Anpassung im Wege des Verbergens sind beträchtlich. Deutlich geworden ist, welche gravierenden Folgen die Adaption durch Verbergen für Angehörige von unauffälligen Gruppen bewirken kann. Auch hinsichtlich des Faktors Auffälligkeit sind demnach Generalisierungen abzulehnen, denen die Annahme eines allgemein geringeren Gewichts von benachteiligenden Ungleichbehandlungen gegenüber solchen Gruppen zu Grunde liegt, die das Unterscheidungsmerkmal durch Verbergen sozial unauffällig stellen können.927 c) Zusammenfassung Wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat, stellt die generelle Absenkung des Gleichheitsschutzes für veränderliche und unauffällige Gruppen einen gleichheitsrechtlichen Irrweg dar. Zwar ist die Grundannahme, derzufolge veränderliche und unauffällige Gruppen Diskriminierungen durch Flucht in den Mainstream grundsätzlich ausweichen können, im Ansatz zutreffend. Dieser Umstand indes, so ist deutlich geworden, reicht angesichts der weitreichenden Folgen des Anpassens nicht zur Begründung eines generell abgesenkten Gewichts entsprechender Ungleichbehandlungen aus. Insofern ist die verbreitete verfassungsrechtliche Akzentuierung der Faktoren Unveränderlichkeit und Auffälligkeit tatsächlich „systematisch blind für die Benachteiligung von Gruppen, deren Unauffälligkeit auffällig sein müßte, wenn sie sozial beobachtbar wäre“928. In dem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass die für diese Gruppen dargestellten besonderen Gefährdungslagen ihrerseits keine Generalisierungen im Hinblick auf die Anhebung gleichheitsrechtlicher Schutzintensität erlauben. Hiergegen sprechen unterschiedliche Erwägungen, die sich auf besondere Gefährdungspotentiale bei unveränderlichen und auffälligen Gruppen beziehen929, wobei die bedeut927
Vgl. auch Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 486 f. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 365. 929 Überblick über die spezifischen Gefährdungen von Gruppen mit auffälligen Merkmalen bei Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 520 ff. m. w. N. 928
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samste Erwägung zweifellos in der eingangs erwähnten Unmöglichkeit des Ausweichens vor diskriminierenden Maßnahmen besteht. Über das Ausmaß der gleichheitsrechtlich gebotenen Schutzintensität, so bleibt hier zusammenfassend zu konstatieren, vermag der gruppenbezogene Distinktionsgrad somit keine allgemeingültigen und allein maßgeblichen Aufschlüsse zu geben. 7. Analogische Verkürzung kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes Die mangelnde gleichheitsrechtliche Relevanz des gruppenbezogenen Distinktionsgrades wirft weitere Fragen zum kriterienspezifischen Gehalt des Gleichheitssatzes auf. Unklar erscheint nach dem Gesagten insbesondere, in wie weit sich überhaupt allgemeine Aussagen zum Prozess der Kriterienselektion treffen lassen. Nähere Aufschlüsse ergeben sich indes aus der Betrachtung des Verhältnisses zwischen verfassungsrechtlich etablierten „verdächtigen“ Differenzierungskriterien und den hier kritisierten Faktoren Unveränderlichkeit und Auffälligkeit. Nimmt man die Hintergründe der verbreiteten gleichheitsrechtlichen Berücksichtigung dieser Faktoren genauer in den Blick, so kommt deren eigentliche dogmatische Bedeutung im Rahmen des Gleichheitssatzes zum Vorschein. Dazu ist es erneut hilfreich, Erkenntnisse aus der Interpretation des grundrechtlichen Gleichheitssatzes in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Deutschland mit einzubeziehen. Dort hat sich gezeigt, dass den hier untersuchten Faktoren eine bedeutende „gatekeeping function“930 zukommt. Sie besteht darin, den Kreis der unter erhöhtem Gleichheitsschutz stehenden Gruppen zu begrenzen und die Aufnahme in diesen Kreis zu reglementieren. Dabei haben sich die Ausschlusskriterien (Veränderlichkeit, Unauffälligkeit) aus Analogien zwischen bereits anerkannten, besonders geschützten Gruppen entwickelt. Auf die Gefahren dieser Entwicklung hat Yoshino eindringlich hingewiesen und zu Recht Vorsicht angemahnt, „when analogies transmute into abstract principles. Although the formalization of these criteria into ‚tests‘ encourages us to accept them as transcendental, we must be mindful of the often narrow contexts from which they arise, and therefore of their potential for misapplication in other contexts. In the case of equal protection jurisprudence, that caution takes the form of noting that the immutability and visibility factors were generated with only two classifications – race and sex – in mind. Those two data points were used to draw a line that has had dramatic implications for all other groups.“931 Für die damit angesprochenen Gruppen richtet sich die gleichheitsrechtlich gewährleistete Schutzintensität also maßgeblich nach einem Vergleich 930 931
Dazu Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 558. Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 561.
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mit den bereits anerkannten Gruppen. Das hat neben der US-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung auch die Grundrechtsjudikatur des deutschen Bundesverfassungsgerichts verdeutlicht, derzufolge eine strengere Gleichheitsprüfung vorzunehmen ist, wenn sich das Differenzierungskriterium den besonderen Diskriminierungsverboten des Art. 3 Abs. 3 GG „annähert“.932 Die Konsequenz dieses gemeinsamen Ansatzes in beiden Rechtsordnungen besteht in einem „system of repressive analogy that deploys the status quo as the normative baseline against which new claims must be measured“933. Indem somit Analogien zu gemeinsamen Merkmalen verfassungsrechtlich etablierter, diskriminierungsgefährdeter Gruppen über den Gleichheitsschutz anderer Gruppen entscheiden, wird der kriterienspezifische Gehalt des Gleichheitssatzes unzulässig verkürzt. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn man die unzulängliche gleichheitsrechtliche Aussagekraft der aus wenigen Gruppen herausgelesenen Gemeinsamkeiten berücksichtigt. So weist etwa Tribe darauf hin, dass „even if race or gender became readily mutable by biomedical means, I would suppose that laws burdening those who choose to remain black or female would properly remain constitutionally suspect“934. Erst mit der Suche nach Gründen, die diese Annahme zu unterstützen vermögen, sind wir bei dem eigentlichen Ursprung gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion angelangt. 8. Kriterienselektion als historischer Prozess Gleichheitsrechtliche Kriterienselektion kann nur als historischer Prozess angemessen verstanden werden. Differenzierungskriterien mögen unveränderlich oder veränderlich, auffällig oder unauffällig oder in sonstiger Weise theoretisch zu unterscheiden sein – es ist gleichwohl nicht zu verkennen, dass die Kriterienspezifik des Gleichheitssatzes zu allererst das Resultat historisch auftretender Diskriminierungslagen bildet. John Stuart Mill hat auf den zu Grunde liegenden Prozess verwiesen, als er ausführte: „Die Geschichte des sozialen Fortschritts war insgesamt eine Folge von Übergängen, in der eine gesellschaftliche Norm und eine Institution nach der andern von einer vermeintlich grundlegenden Notwendigkeit der gesellschaftlichen Existenz zu einer allerseits gebrandmarkten Ungerechtigkeit und Tyrannei wurde. So war es mit der Diskriminierung zwischen Sklaven und Freien, Edelleuten und Leibeigenen, Patriziern und Plebejern, und so wird es sein und ist es teilweise schon mit den Aristokratien von Hautfarbe, Rasse und 932
Siehe oben, Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. I. 4. c). Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485, 559 im Anschluss an Schacter, 29 Harvard Civil Rights – Civil Liberties Law Review 1994, 283, 285. 934 Tribe, 89 Yale Law Journal 1980, 1063, 1074. 933
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Geschlecht.“935 Die damit beschriebene Entwicklung kann insbesondere in zwei Stränge unterteilt werden. Zum einen geht es um den Vorgang der Inklusion bislang gänzlich vom Gleichheitsgrundrecht ausgenommener Gruppen in dessen Schutzbereich. Im Europarecht sind solche Tendenzen gegenwärtig vor allem im Zusammenhang mit Fragen zur Unionsbürgerschaft von großer Brisanz. Dabei stehen Überlegungen zur Ausweitung des Gleichheitsrechts auf Unionsbürger im Vordergrund, die wegen fehlender wirtschaftlicher Tätigkeit bislang nicht als „Marktbürger“ angesehen wurden und damit aus dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und des primärrechtlichen Gleichheitssatzes herausfielen. Bei der Untersuchung zur wechselbezüglichen Verschränkung von Unionsbürgerschaft und europarechtlichem Gleichheitsschutz wird hierauf im Einzelnen zurückzukommen sein.936 Für den hier interessierenden kriterienspezifischen Zusammenhang kommt es indes nicht auf die Ausweitung der persönlichen Reichweite des Gleichheitssatzes durch Inklusion, sondern auf die Intensität des Gleichheitsschutzes an. Nur in dieser Hinsicht ist, wie dargestellt, die Ähnlichkeit mit gleichheitsrechtlich besonders geschützten Gruppen von Belang. Historisch geht es dabei um Reaktionen auf ein hohes soziales Diskriminierungsrisiko bestimmter Gruppen durch intensivierten Gleichheitsschutz. Der Grund für die strenge Rechtfertigungsprüfung besteht also darin, Diskriminierungen dort entgegen zu wirken, wo angesichts der geschichtlichen Situation einer Gruppe besonders große Diskriminierungsgefahren bestehen.937 Allein hierin, nicht jedoch in fragwürdigen Analogien zu übereinstimmenden Merkmalen anderer Gruppen, liegt der Ursprung gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion. Im Kern handelt es sich dabei somit um „typische Fälle willkürlicher Behandlung“938, um „Merkmale, die in der Vergangenheit oder Gegenwart Anlaß zur Versagung des gleichen Menschenrechtsanspruches waren oder sind“939 bzw. um „erfahrungsgemäß gefährdete Minderheiten“940. Im Mittelpunkt des kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes, das haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, stehen demnach Erwägungen zu besonderen Gefährdungslagen bestimmter Gruppen. Es ist dieses besondere 935
Mill, Der Utilitarismus, S. 110. Dazu unten, Fünfter Teil. 937 Vgl. Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 419 m. w. N. 938 Hillgruber/Jestaedt, Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Schutz nationaler Minderheiten, S. 38, im Anschluss an Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, S. 93. 939 Sachs, ÖZöR 1983/84, 333, 379. 940 Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 3, Rn. 244. 936
4. Kap.: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
533
Diskriminierungsrisiko, das die Erhöhung der Schutzintensität begründet. Wird demgegenüber der verbreiteten Auffassung gefolgt und vorrangig auf Faktoren wie Unveränderlichkeit oder Auffälligkeit abgestellt, so besteht die Folge in einer zunehmenden Entpolitisierung kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes. Betrachten wir zur Verdeutlichung der angesprochenen Folge die Unterscheidungsmerkmale Geschlecht und Rasse. Mit der geschilderten verbreiteten gleichheitsrechtlichen Auffassung können wir abstrahierend feststellen, dass Unveränderlichkeit und Auffälligkeit gemeinsame Kennzeichen beider Merkmale darstellen. Auf diesem Weg ist es denkbar, in weiteren Fällen die Zuerkennung erhöhten Gleichheitsschutzes für bestimmte Gruppen vom Vorhandensein der beiden Faktoren abhängig zu machen. Damit abstrahieren wir jedoch nicht allein bestimmte Gemeinsamkeiten von Geschlecht und Rasse, sondern lösen uns zugleich von deren historisch-politischem Hintergrund: Der Einlass neuer Gruppen in jenen Kreis, der gleichheitsrechtlich erhöhte Schutzintensität genießt, wird nun nicht mehr nach spezifischer Gefährdungslage und besonderem Diskriminierungsrisiko der betreffenden Gruppen entschieden, sondern allein nach abstrakter Ähnlichkeit zu den anerkannten paradigmatischen Fällen Geschlecht und Rasse. 9. Kriterienspezifik zwischen symmetrischem und asymmetrischem Gleichheitsschutz Die beschriebene Entwicklung hat bedeutende Auswirkungen auf die Interpretation des Gleichheitsgrundrechts. Insbesondere führt die Ablösung des Gleichheitsschutzes von historisch-politischen Erwägungen zu einem Verlust an Sensibilität gegenüber besonders gefährdeten Gruppen. In dem Maße, in dem diese Sensibilität verloren geht, wird der grundrechtliche Gleichheitsschutz auf einen symmetrischen, gegenüber Gruppen indifferenten Ansatz reduziert. Dabei basiert der symmetrische Ansatz kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes auf der Annahme, dass die durch ein Differenzierungskriterium unterschiedenen Gruppen generell derselben Schutzintensität unterliegen. Demgegenüber verfährt ein Ansatz, der auf „machtlose, historisch benachteiligte oder systematisch einem hohen Diskriminierungsrisiko ausgesetzte Gruppen abstellt, asymmetrisch“941. Im Rahmen des Gleichheitssatzes ist keine der beiden Interpretationsmöglichkeiten prinzipiell auszuschließen. Vielmehr bewegt sich der kriterienspezifische Gehalt des Gleichheitsgrundrechts zwischen diesen beiden Polen und ist damit teilweise von weitgehender Indifferenz gegenüber den unterschiedenen Gruppen geprägt, zum Teil hingegen stärker gruppenorientiert. Ein Blick auf den 941
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 488.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
umfassenden Merkmalskatalog des Art. 21 der Grundrechtscharta mag dies verdeutlichen. So weist etwa das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung einen starken Gruppenbezug auf. Gleiches gilt für das Diskriminierungsverbot wegen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit. Beide Gesichtspunkte basieren auf dem als besonders hoch eingeschätzten Diskriminierungsrisiko im Hinblick auf die Gruppe der Behinderten oder einzelne nationale Minderheitengruppen. Anders verhält es sich hingegen bei Differenzierungskriterien, deren Verdächtigkeit weniger auf der Existenz bestimmter Gruppen mit traditionell hoher Diskriminierungsgefahr basiert, sondern vielmehr auf dem als besonders hoch eingeschätzten Diskriminierungspotential des Kriteriums selbst. In diesem Falle rückt der symmetrische Ansatz des Gleichheitsschutzes in den Vordergrund, während der Bezug auf die spezifische Gefährdungslage einer einzelnen Gruppe zurücktritt. So sieht die Grundrechtscharta in Art. 21 etwa die Anhebung des durch den allgemeinen Gleichheitssatz gewährleisteten Gleichheitsschutzes dort vor, wo es um Diskriminierungen wegen genetischer Merkmale geht. Angesichts der weitreichenden und tief greifenden biomedizinischen Entwicklungen wird hierin ein besonders großes Diskriminierungspotential942 erkannt, weshalb Ungleichbehandlungen aufgrund des genetischen Codes unabhängig von einem speziellen Gruppenbezug als verdächtig gelten und einer erhöhten Schutzintensität unterliegen. Ist der kriterienspezifische Gleichheitsschutz nach diesen Ausführungen also sowohl in asymmetrischer als auch in symmetrischer Form denkbar, so bleibt dennoch auf die Gefahren des angesprochenen Sensibilitätsverlusts gegenüber besonders gefährdeten Gruppen und auf die damit verbundene Zurückdrängung asymmetrischen Gleichheitsschutzes hinzuweisen. Wenn man Differenzierungskriterien aus ihrem historisch-sozialen Kontext herauslöst und von den zu Grunde liegenden besonderen Diskriminierungslagen isoliert, so droht ihre Verwendung selbst unsachlich zu werden.943 Das zeigt sich etwa bei dem verdächtigen Differenzierungskriterium des Geschlechts und dessen primärrechtlicher Verankerung in Art. 141. Wie Generalanwalt Cosmas zu Recht betont, darf insoweit „nicht übersehen werden, daß durch Art. 141 in erster Linie den Arbeitnehmergruppen Rechte eingeräumt werden sollen, die systematisch Opfer von Diskriminierungen aufgrund des Ge942
Zum damit angesprochenen Problemkreis vgl. aus jüngerer Zeit Hendriks, Patients’ Rights – Genetics, Data Protection and Non-Discrimination: Some Reflections from an International Human Rights Law Perspective, Medicine and Law 20 (2001), 37 ff.; Spranger, Prädiktive genetische Tests und genetische Diskriminierung im Versicherungswesen, Versicherungsrecht 2000, 815 ff.; Silvers/Stein, An Equality Paradigm for Preventing Genetic Discrimination, 55 Vanderbilt Law Review 2002, 1341 ff. 943 Dazu Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 484.
4. Kap.: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes
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schlechts sind, wobei es sich wegen der traditionellen Strukturen und Stereotype, die noch in unserer Gesellschaft bestehen, um die Gruppe der weiblichen Arbeitnehmer handelt“944. Insbesondere unter zwei Aspekten gilt es, den historisch-sozialen Hintergrund verdächtiger Differenzierungskriterien in die gleichheitsrechtlichen Erwägungen mit einzubeziehen. Zum einen betrifft dies die Auseinandersetzung über Fragen der Zulässigkeit von Maßnahmen der Affirmative Action, worauf im Einzelnen zurückzukommen sein wird.945 Zum anderen kann nur auf diese Weise einer begründungstheoretischen Aushöhlung des kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes begegnet werden: Nachdem die Untersuchung gezeigt hat, dass die verbreitete Akzentuierung der Faktoren Veränderlichkeit und Unauffälligkeit in ihrer Bedeutung zu relativieren ist, stellt sich die Frage nach dem Ursprung gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion umso dringender. Sie findet ihren letzten Bezugspunkt in der Erkenntnis spezifischer Diskriminierungsrisiken und besonderer Gefährdungspotentiale. Treffen benachteiligende Ungleichbehandlungen auf Personen, die zu solchen mit einem besonders hohen Diskriminierungsrisiko behafteten, gefährdeten Gruppen gehören, so ist der Differenzierung besonderes Gewicht beizumessen und daher gleichheitsrechtlich eine erhöhte Schutzintensität geboten.
D. Zusammenfassung und Teilergebnis: Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes Grundrechtlicher Gleichheitsschutz in Europa verweist auf drei Dimensionen. Diese Dimensionen des Gleichheitsschutzes sind auf gleichheitsspezifische Bezüge von Menschenwürde und Freiheit sowie auf kontextspezifische komplexe Gleichheit gerichtet. Ihre Bedeutung besteht darin, näheren Aufschluss über die Anforderungen der Rechtfertigungsprüfung und somit über den gleichheitsrechtlichen Schutzgehalt zu geben. Sie erfüllen damit jene grundlegende Aufgabe, deren zentralen Stellenwert Somek unlängst mit Nachdruck herausgestellt hat: „Ein Grund, an der Differenz von Prüfungsmaßstäben in unterschiedlicher Strenge festzuhalten, müßte, um als vernünftiger Grund gelten zu können, die Differenz aus der Einheit des Gleichheitsrechts begründen. Er hätte verständlich zu machen, weshalb es dem Gleichheitsrecht angemessen ist, in einer bestimmten Gruppe von Fällen einen strengeren Prüfungsmaßstab anzulegen als in anderen.“946 Mit der hier 944 Generalanwalt Cosmas, verb. Rs. C-50/96, C-234/96, C-235/96, C-270/97, C-271/97, Lilli Schröder/Deutsche Bundespost Telekom, 8.10.1998, Rn. 85. 945 Unten, Vierter Teil, 6. Kapitel. 946 Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 622 (Hervorhebungen im Original).
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
vorgestellten Dogmatik des Gleichheitsgrundrechts wird ein solches Anliegen verfolgt. Dabei ist deutlich geworden, dass es den einen Grund für differenzierten Gleichheitsschutz mit variierenden Prüfungsanforderungen nicht gibt.947 Vielmehr erschließt erst das Zusammenspiel der drei vorgestellten Dimensionen das vollständige Spektrum gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsschutzes – sie alle liefern Maßstäbe für die primärrechtliche Einschätzung des Gewichts von Ungleichbehandlungen und somit für die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen. Die grundrechtliche Gleichheitsprüfung hat daher in jedem Einzelfall den Bezug zu den drei Dimensionen in Betracht zu ziehen und jeweils zu prüfen, welche Erkenntnisse sich aus personenbezogenen, freiheitsorientierten, bereichsspezifischen und kriterienspezifischen Erwägungen für die gleichheitsrechtlich gebotene Schutzintensität ergeben. Erst ein solches Vorgehen bietet nähere Aufschlüsse über die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit von Differenzierungen und damit über den Grad des grundrechtlich vermittelten Gleichheitsschutzes.
5. Kapitel
Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung Wie die rechtsvergleichende Untersuchung des deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrechts gezeigt hat, sind mit der Unterscheidung von unmittelbaren und mittelbaren Formen der Diskriminierung mehrere, im Einzelnen recht heterogene gleichheitsrechtliche Problemlagen verknüpft.948 Dieser Umstand ist eine der Ursachen für die mittlerweile kaum noch überschaubare Diskussion zur Bedeutung mittelbarer Diskriminierungen.949 Auch die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH zu den einzelnen Diskri947 Vgl. dazu für das deutsche Verfassungsrecht Gubelt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, Art. 3, Rn. 3, wonach die Rückführung des allgemeinen Gleichheitssatzes ausschließlich auf Art. 1 Abs. 1 GG Bedenken begegnet. Auch die Verengung des Gleichheitsschutzes auf kriterienspezifische Erwägungen stellt eine unzulässige Verkürzung des Gleichheitsgrundrechts dar: Sie hat unter anderem zur Folge, „die freiheitssichernde Funktion der Gleichheit unterbelichtet zu lassen“ (Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 409). 948 Siehe dazu oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. II. 949 Aus jüngerer Zeit siehe etwa Bieback, Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts. Ihre Grundlagen im Recht der EU und ihre Auswirkungen auf das Sozialrecht der Mitgliedstaaten; Göddeke, Die mittelbare Diskriminierung im System der Gleichbehandlung; Feldhoff, Der Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. Zur mittelbaren Diskriminierung von Frauen in Entgelttarifverträgen; Kalisch, Die Entwicklung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts im Sozialrecht; Traupe, Mittelbare Diskriminierung teilzeitbeschäftigter Betriebsratsmitglieder? Eine kritische Analyse der Rechtsprechung.
5. Kap.: Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
537
minierungsformen trägt nicht durchgängig zur weiteren Klärung bei, bisweilen erhärtet sie vielmehr den in jüngerer Zeit geäußerten Vorwurf, dass „der EuGH selbst nicht mehr weiß, was eine Diskriminierung ist“950. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Systematisierung der Problemlagen im Zusammenhang mit mittelbaren Diskriminierungen aufschlussreich, um die Dogmatik des Gleichheitsgrundrechts auch insoweit näher zu entwickeln.
A. „Mittelbare Diskriminierung“ und Kriterienspezifik des Gleichheitssatzes Ungeachtet vieler Unterschiede im Detail weist die grundrechtliche Auseinandersetzung mit Fragen der mittelbaren Diskriminierung in Deutschland, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union auf strukturell vergleichbare Problemlagen hin.951 Das betrifft zunächst die enge Anbindung des Diskriminierungsbegriffs an den kriterienspezifischen Gehalt des Gleichheitssatzes. Deutlich wird diese Anbindung bei genauerer Betrachtung dessen, was unter „mittelbarer Diskriminierung“ zu verstehen ist und auf diese Weise den Gegenstand der gleichheitsrechtlichen Grundrechtsprüfung bildet. Terminologisch gilt es insofern zu berücksichtigen, dass mittelbare Diskriminierungen teilweise auch als „versteckte“952 oder „materielle“953, unmittelbare Diskriminierungen dagegen als „offensichtliche“ oder „formelle“ Diskriminierungen bezeichnet werden, ohne dass hiermit jeweils sachliche Unterschiede verbunden wären. In der Sache selbst verweisen die Formulierungen auf eine Interpretation des Gleichheitssatzes, wie sie der EuGH insbesondere bei den Diskriminierungsverboten aus Gründen der Staatsangehörigkeit zum Ausdruck bringt: Danach verbieten die Ausprägungen des Gleichheitssatzes „nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit . . ., sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen“954. Eine ähnlich gefestigte Judikatur ist im Hinblick auf geschlechtsbezogene Ungleichbehandlungen zu 950
So Novak, EuZW 1999, 84, 85. Vgl. Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit. Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, S. 63: „Neben einem Verbot der unmittelbaren Diskriminierung ist auch ein Verbot der mittelbaren Diskriminierung in vielen Rechtsordnungen anerkannt, die Diskriminierung wegen askriptiver Persönlichkeitsmerkmale verbieten. Das Verbot hat – bei aller Unterschiedlichkeit der Konzepte – gemeinsame strukturelle Merkmale.“ 952 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 57. 953 So z. B. Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 12, Rn. 13. 951
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
konstatieren. Hier entspricht es ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine gegen Art. 141 verstoßende mittelbare Diskriminierung bei Maßnahmen vorliegt, die Ungleichbehandlungen von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern aufgrund von Kriterien bewirken, welche nicht auf dem Geschlecht beruhen, sofern diese Ungleichbehandlungen nicht objektiv gerechtfertigt sind.955 Ihren aktuellen Niederschlag hat die Auffassung des EuGH zum Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung in den oben bereits erwähnten neuen Gleichbehandlungsrichtlinien 2000/43/EG und 2000/78/EG gefunden. Diese enthalten eine ausdrückliche Definition der mittelbaren Diskriminierung und lehnen sich dabei eng an die Gleichheitsrechtsprechung des Gerichtshofs an. So heißt es in Art. 2 Abs. 2 lit. b der Richtlinie 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft: Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.956 Dogmatisch lässt sich der Begriff der mittelbaren Diskriminierung nach dem Dargestellten damit wie folgt konturieren und anhand eines dreistufigen Prüfungsschemas zusammenfassen: Voraussetzung ist zunächst, dass die fragliche Maßnahme ihrer Formulierung nach nicht an eines der verpönten Merkmale anknüpft, sondern auf ein anderes, zumindest scheinbar „neutrales“ Unterscheidungsmerkmal zurückgreift957 (1). Weiterhin muss die Maß954
EuGH, Rs. C-360/89, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Italienische Republik, 3.6.1992, Slg. 1992, 3415, 3418; verb. Rs. C-430/99 und C-431/99, Inspecteur van de Belastingdienst Douane, Bezirk Rotterdam/Sea-Land Service Inc., Nedlloyd Lijnen BV, 13.6.2002, Rn. 36 (zu Art. 49, Art. 50 Abs. 3); Rs. C-212/99, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Italienische Republik, 26.6.2001, Rn. 24; Rs. C-195/98, Österreichischer Gewerkschaftsbund, Gewerkschaft öffentlicher Dienst/Republik Österreich, 30.11.2000, Rn. 39 (zu Art. 39); Rs. C-411/98, Angelo Ferlini/Centre hospitalier de Luxembourg, 3.10.2000, Rn. 57 (zu Art. 12); st. Rspr. 955 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-167/97, Regina/Secretary of State for Employment, 9.2.1999, Rn. 52 m. w. N.; Rs. C-78/98, Shirley Preston u. a./Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a., 16.5.2000, Rn. 15; st. Rspr. 956 Vgl. auch die parallele Definition der mittelbaren Diskriminierung in Art. 2 Abs. 2 lit. b der Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. 957 EuGH, verb. Rs. C-430/99 und C-431/99, Inspecteur van de Belastingdienst Douane, Bezirk Rotterdam/Sea-Land Service Inc., Nedlloyd Lijnen BV, 13.6.2002,
5. Kap.: Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
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nahme in ihren tatsächlichen Auswirkungen wesentlich mehr Angehörige einer Gruppe benachteiligen, die aufgrund des umgangenen Unterscheidungsmerkmals eigentlich unter dem Schutz eines besonderen Diskriminierungsverbots stehen würde958 (2). Schließlich liegt eine mittelbare Diskriminierung nur dann vor, wenn die betreffende Ungleichbehandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist959 (3). Der enge Zusammenhang von mittelbarer Diskriminierung und kriterienspezifischem Gehalt des Gleichheitssatzes zeigt sich besonders deutlich an der ersten dieser drei Voraussetzungen. Darin kommt zum Ausdruck, dass die Unterscheidung von mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierungen überhaupt nur dort Aussagekraft entfalten kann, wo es um die oben analysierte Form kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes geht. Mit anderen Worten: Es gilt zu berücksichtigen, dass sich „unmittelbare“ Diskriminierungen nach allgemeiner Auffassung durch direkte Anknüpfung an verbotene bzw. verdächtige Differenzierungskriterien auszeichnen. Von mittelbaren Diskriminierungen kann vor diesem Hintergrund nur insofern sinnvoll die Rede sein, als die fragliche Differenzierung gerade auf unverdächtigen, vom EuGH als „neutral“ bezeichneten Kriterien beruht. Das erklärt, weshalb Ausprägungen des Gleichheitssatzes, wie sie eingangs der Ausführungen zur Dimension komplexer Gleichheit untersucht worden sind, nur dann von der hier besprochenen Problematik betroffen sind, wenn sie entweder besondere Kriterien und spezielle Bereiche umfassen (Art. 141) oder wenn sie gar ausschließlich auf besondere Differenzierungskriterien Bezug nehmen (Art. 12). Hingegen ist die dogmatische Figur der mittelbaren Diskriminierung bei ausschließlich bereichsspezifisch orientierten Ausprägungen des Gleichheitsgrundrechts (Art. 34) ohne Belang. Haben wir Kriterienspezifik somit als notwendige Voraussetzung mittelbarer Diskriminierungen benannt, so kann die gleichheitsrechtliche ReleRn. 36: Verbot von mittelbaren Diskriminierungen, „die zwar scheinbar auf neutralen Kriterien beruhen, tatsächlich jedoch zu demselben Ergebnis führen“. Vgl. auch EuGH, Rs. C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Sygesikringens Forhandlingsudvalg, 6.4.2000, Rn. 29: Innerstaatliche Regelung kann eine mittelbare Diskriminierung weiblicher Arbeitnehmer darstellen, wenn sie „zwar neutral gefaßt ist, jedoch tatsächlich prozentual erheblich mehr Frauen als Männer benachteiligt“. 958 Dazu etwa EuGH, Rs. C-322/98, Bärbel Kachelmann/Bankhaus Hermann Lampe KG, 26.9.2000, Rn. 23: „wesentlich höherer Anteil von Frauen als von Männern benachteiligt“, sowie die zuvor zitierten Urteile. 959 Vgl. EuGH, Rs. C-187/96, Kommission der Europäischen Gemeinschaften/ Griechische Republik, 12.3.1998, Rn. 19; Rs. C-50/96, Deutsche Telekom AG/Lilli Schröder, 10.2.2000, Rn. 28: Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, „es sei denn, diese Maßnahme wäre durch Faktoren sachlich gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben“.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
vanz der Unterscheidung von mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierungen nunmehr präzisiert werden. Dabei ist insbesondere festzustellen, dass diesem dogmatischen Spezialproblem im Rahmen des gesamten, nicht kriterienspezifisch konkretisierten Gleichheitsgrundrechts keine Bedeutung zukommt. Nur insoweit, als die normative Offenheit des Gleichheitssatzes durch den oben beschriebenen Prozess der Kriterienselektion konkretisiert wird, entwickelt sich die theoretische Beschäftigung mit Fragen der mittelbaren Diskriminierung zu einer grundrechtsdogmatischen Notwendigkeit. Diese Erkenntnis gestattet zugleich eine Prognose für die zukünftige Bedeutung solcher Diskriminierungsformen in der Dogmatik des primärrechtlichen Gleichheitsgrundrechts. Wie wir im Verlauf der Untersuchung bereits gesehen haben, sind gemeinschaftsrechtliche Bestrebungen nach einer weiteren gleichheitsrechtlichen Kriteriendifferenzierung als wesentliches Element komplexer Gleichheit unverkennbar.960 Aus der jüngeren Zeit sei insofern nur an die umfangreichen Merkmalskataloge verbotener Differenzierungskriterien in Art. 21 der Grundrechtscharta und Art. 13 des EG-Vertrages erinnert. In dem Maße, in dem spezielle Unterscheidungsmerkmale unter erhöhten Gleichheitsschutz gestellt werden, wächst ebenfalls die Relevanz mittelbarer Diskriminierungen – der voranschreitende Prozess gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion wird so von einem weiteren Bedeutungsgewinn dieser dogmatischen Figur des Gleichheitsrechts begleitet werden. Damit steigt indes zugleich die Notwendigkeit, sich über das ob und wie der Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den grundrechtlichen Gleichheitsschutz Klarheit zu verschaffen, was es nachfolgend genauer zu entwickeln gilt.
B. Die Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den grundrechtlichen Gleichheitsschutz Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ist die Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in den grundrechtlichen Gleichheitsschutz mittlerweile fest etabliert.961 Doch auch wenn damit zumindest die oben skizzierten Grundstrukturen für das Vorliegen dieser Diskriminierungsform weitgehend außer Frage zu stehen scheinen, so bleiben die Hintergründe ihrer gleichheitsrechtlichen Berücksichtigung weiterhin klärungsbedürftig. Dabei zeigt die nähere Betrachtung, dass das Konzept der mittelbaren Diskriminierung seine Legitimationsbasis in Erwägungen findet, wie wir sie bereits im Rahmen der Kriterienspezifik des Gleichheitssatzes kennen gelernt haben: Dort 960
Vgl. Vierter Teil, 4. Kapitel, C. V. Vgl. Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 42 m. w. N. 961
5. Kap.: Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
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wurde deutlich, dass der kriterienspezifische Gehalt des Gleichheitsgrundrechts zwischen zwei Polen anzusiedeln ist, die sich auf symmetrischen bzw. asymmetrischen Gleichheitsschutz beziehen.962 Das Konzept der mittelbaren Diskriminierung setzt nun – das kommt in der Voraussetzung (2) zum Ausdruck – die Berücksichtigung der Gruppenzugehörigkeit voraus und weist damit Verbindungslinien zum gruppenbezogenen asymmetrischen Ansatz auf.963 Andererseits ist es insofern symmetrisch, als es nicht auf eine oder mehrere besonders gefährdete Gruppen beschränkt ist, sondern grundsätzlich für alle von einem verdächtigen Differenzierungskriterium betroffenen Gruppen Anwendung findet. In diesem Spannungsfeld findet die dogmatische Figur der mittelbaren Diskriminierung ihre Berechtigung darin, dass Merkmalsträger bestimmter Gruppen dem Schutz von besonderen Diskriminierungsverboten unterstellt wurden, um so spezifischen Gefährdungslagen zu begegnen. Durch Anknüpfung an vermeintlich unverdächtige Kriterien, die jedoch tatsächlich zu gleichen oder ähnlichen Ergebnissen wie bei der Anknüpfung an das verpönte Kriterium führen, droht dieser Schutz aufgehoben zu werden, ohne dass die Schutzbedürftigkeit gegenüber diskriminierenden Benachteiligungen hiervon berührt wäre. Um eine derartige Umgehung besonderer Diskriminierungsverbote zu vermeiden und damit die Wirksamkeit des Gleichheitsgrundrechts zu wahren, ist die Figur der mittelbaren Diskriminierung in den grundrechtlichen Gleichheitsschutz mit einzubeziehen. Hierfür bedarf es auch nicht des von einigen vertretenen Rückgriffs auf die umstrittene Konstruktion eines Gruppengrundrechts964. Die Entbehrlichkeit eines solchen Rückgriffs resultiert aus dem Umstand, dass das Verbot der mittelbaren Diskriminierung am ehesten der „gruppenbezogenen Dimension von Diskriminierungsschutz in ihrer individuellen Ausprägung zugeordnet werden kann. Danach schützt das Recht auf Nichtdiskriminierung das Individuum davor, aufgrund askribierter Gruppenzugehörigkeit gesellschaftlich benachteiligt zu werden . . . . Dementsprechend ist das Verbot der mittelbaren Diskriminierung ein individuelles Recht, das jedoch die Realität der Diskriminierung wegen askribierter Gruppenzugehörigkeit nicht leugnet.“965 962
Oben, Vierter Teil, 4. Kapitel, C. V. 9. Siehe Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 191: „Ein Verbot mittelbarer Benachteiligung läßt sich nur dann stimmig begründen, wenn man den besonderen Gleichheitssätzen eine neue – gruppenbezogene – Deutung zuweist.“ 964 Ebenfalls kritisch dazu Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 559 ff. m. w. N. 965 Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit. Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, S. 69 (Hervorhebung S.M.D.). 963
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
Diese Verbindung von individueller Ebene und Gruppenbezug erfolgt mittels des in Voraussetzung (2) enthaltenen Erfordernisses der statistischen Diskriminierung. Dem Grundrechtsträger wird damit die Möglichkeit eröffnet, eine formell merkmalsneutrale Benachteiligung als mittelbare Diskriminierung aufgrund des verpönten Merkmals anzugreifen, ohne eine entsprechende Diskriminierungsabsicht des Hoheitsträgers nachweisen zu müssen. Die im rechtsvergleichenden Teil festgestellten erheblichen Schwierigkeiten bei der Ermittlung staatlicher Motivation966 bleiben dem Kläger also erspart. Stattdessen hat der Kläger den statistischen Nachweis zu führen, dass die Wirkungen der fraglichen Ungleichbehandlung den Wirkungen einer Differenzierung aufgrund des verpönten Kriteriums insofern ähnlich sind, als sie wesentlich mehr Angehörige einer Gruppe benachteiligen, die eigentlich unter dem Schutz des besonderen Diskriminierungsverbots steht und der er zugehörig ist. Gelingt dieser Nachweis, so greift die Beweislastfunktion des Konzepts der mittelbaren Diskriminierung967: Es wird nun aufgrund der tatsächlichen Auswirkungen der Maßnahme vermutet, dass der Grundrechtsträger gerade in seiner Eigenschaft als Gruppenzugehöriger diskriminiert wird. Die somit entstandene Vermutung kann der für die Differenzierung Verantwortliche nur widerlegen, wenn er die Ungleichbehandlung mit Faktoren rechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des verpönten Merkmals zu tun haben. Das führt uns zur zentralen Frage nach der gebotenen Intensität der Rechtfertigungsanforderungen bei der Überprüfung mittelbarer Diskriminierungen.
C. Intensität der Rechtfertigungsanforderungen Über die Bedeutung der Unterscheidung von mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierungen für die gleichheitsrechtliche Rechtfertigungsprüfung bestehen nach wie vor beträchtliche Unsicherheiten. Das betrifft zum einen Überlegungen, nach denen die Rechtfertigung bestimmter Ungleichbehandlungen prinzipiell ausgeschlossen sein soll. So wird im Zusammenhang mit der Diskussion um absolute oder relative Diskriminierungsverbote zum Teil angenommen, dass nur mittelbare Diskriminierungen gerechtfertigt werden könnten.968 Diese Position ist oben bereits Gegenstand näherer Untersuchung gewesen; sie hat sich dabei insgesamt als wenig überzeugend erwiesen969 und ist insofern ebenso wie die Annahme „absoluter“ Diskriminierungsverbote abzulehnen. 966
Siehe Zweiter Teil, 2. Kapitel, B. II. 1. a) cc). Vgl. dazu im Hinblick auf den Grundsatz der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern Blomeyer, Das Verbot der mittelbaren Diskriminierung gemäß Art. 119 EGV, S. 117 ff. 968 Vgl. oben, Vierter Teil, 3. Kapitel, C. I. 967
5. Kap.: Unmittelbare und mittelbare Diskriminierung
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Unklarheiten bestehen jedoch weiterhin insbesondere im Hinblick auf die gleichheitsrechtlich gebotene Schutzintensität bei mittelbaren Diskriminierungen.970 Insofern stellt sich vor allem die Frage, ob mittelbare Diskriminierungen „leichter“971 als unmittelbare Diskriminierungen zu rechtfertigen sind, oder ob insofern ein grundsätzlich gleiches972 Schutzniveau zu Grunde zu legen ist. Bei der Suche nach einer Antwort gilt es zunächst zu berücksichtigen, dass ausnahmslos jede mittelbare Diskriminierung nach einem verbotenen Unterscheidungsmerkmal zugleich eine unmittelbare Differenzierung nach anderen Merkmalen enthält. Erneut gewinnt daher das Verhältnis des „allgemeinen“ Gleichheitssatzes zu seinen Ausprägungen an Bedeutung. Denn wenn jede mittelbare Diskriminierung ebenso eine unmittelbare Differenzierung darstellt und damit ohnehin dem grundrechtlichen Gleichheitssatz unterfällt, so droht die strukturelle Unterscheidung beider Formen der Diskriminierung zum bloßen Selbstzweck zu geraten. Gleichheitsrechtliche Aussagekraft kann das Konzept mittelbarer Diskriminierung vor diesem Hintergrund nur dann entwickeln, wenn sich die Rechtfertigungsanforderungen von jenen Anforderungen unterscheiden, denen die unmittelbare Differenzierung nach unverdächtigen Merkmalen sowieso ausgesetzt wäre. Dabei ist die gleichheitsrechtlich gewährleistete Schutzintensität bei mittelbaren Diskriminierungen ebenso hoch, wie sie das betreffende besondere Diskriminierungsverbot im Hinblick auf unmittelbare Diskriminierungen gebietet. Die Ursache hierfür ist darin zu sehen, dass sich das Gewicht der Ungleichbehandlung in beiden Konstellationen nicht voneinander unterscheidet: Insbesondere wird der benachteiligte Adressat der Ungleichbehandlung nicht weniger belastet, wenn die Diskriminierung mittelbar erfolgt, als dies bei unmittelbaren Benachteiligungen der Fall ist.973
D. Beweislastregel und Gleichstellungsfunktion als Kernelemente mittelbarer Diskriminierung Nach diesen Ausführungen kann die dogmatische Funktion des Verbots mittelbarer Diskriminierung auf zwei Kernelemente zurückgeführt werden: 969
Vierter Teil, 3. Kapitel, C. I. Dieser Befund gilt nicht allein für die Situation im Gemeinschaftsrecht, sondern auch im Hinblick auf das deutsche Verfassungsrecht, vgl. Kalisch, Die Entwicklung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts im Sozialrecht, S. 143 ff. m. w. N. 971 Kritisch Rossi, EuR 2000, 197, 214. 972 Vgl. zu dieser Ansicht Wisskirchen, Mittelbare Diskriminierung von Frauen im Erwerbsleben, S. 110 ff. 973 Im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot aus Art. 12 ebenso Rossi, EuR 2000, 197, 213 f. 970
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
eine Beweislastregel und eine Gleichstellungsfunktion. Das erste Element hat der EuGH in jüngerer Zeit im Kontext der Geschlechtergleichbehandlung noch einmal zusammengefasst: Danach „wird bei einer Maßnahme, die prozentual erheblich mehr Frauen als Männer benachteiligt oder umgekehrt, vermutet, daß sie eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt, und der Arbeitgeber oder der Autor dieser Maßnahme muß das Gegenteil beweisen“974. Hingegen betrifft die zweite Funktion die Anforderungen an diesen Beweis des Gegenteils, das heißt die Entkräftung der Diskriminierungsvermutung, und stellt mittelbare Formen der Diskriminierung insoweit den unmittelbaren, ausdrücklich unter ein besonderes Diskriminierungsverbot fallenden Maßnahmen gleich. Über diese strukturellen Besonderheiten hinaus vermag das Konzept der mittelbaren Diskriminierung einen weitergehenden dogmatischen Sonderstatus nicht zu begründen. Insbesondere verbleibt es hinsichtlich der im Einzelfall gebotenen gleichheitsrechtlichen Schutzintensität dabei, dass sich deren Bestimmung an den drei Dimensionen des grundrechtlichen Gleichheitsschutzes auszurichten hat. Insofern ist auch die Figur der mittelbaren Diskriminierung Ausdruck der Einheitlichkeit des Gleichheitssatzes975 und damit an dessen dogmatische Grundstrukturen gebunden.976 6. Kapitel
Positive Diskriminierung Europarechtlich ist von „positiven Diskriminierungen“ insbesondere im Hinblick auf Maßnahmen die Rede, mit denen das Ziel der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern im Arbeitsleben verfolgt wird. Berührt ist insofern die Problematik von Frauenförderung und Affirmative Action, wie sie bereits für das deutsche und US-amerikanische Verfassungsrecht behandelt wurde.977 Die zahlreichen hieran anknüpfenden Fragen sind mittlerweile zum Gegenstand ausführlicher Spezialliteratur geworden.978 An dieser Stelle kann es daher nicht darum gehen, die im Zusammenhang mit positiven Diskriminierungen zu konstatierenden Besonderheiten erneut im 974
EuGH, Rs. C-226/98, Birgitte Jørgensen/Foreningen af Speciallæger, Sygesikringens Forhandlingsudvalg, 6.4.2000, Rn. 30. 975 Siehe oben, Vierter Teil, 2. Kapitel, D. 976 Vgl. auch Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit. Diskriminierungsschutz und Vertragsrecht, S. 64, die davon ausgeht, „daß das Verbot der mittelbaren Diskriminierung aus Gründen der dogmatischen Klarheit einheitlich strukturiert sein sollte, daß man also von einer einheitlichen Rechtsfigur unabhängig von den spezifischen askriptiven Persönlichkeitsmerkmalen sprechen kann“. 977 Siehe oben, Zweiter Teil, 3. Kapitel, C. I.
6. Kap.: Positive Diskriminierung
545
Detail zu untersuchen. Im Vordergrund steht vielmehr auch hier die dogmatische Struktur des grundrechtlichen Gleichheitssatzes, wie sie zuvor entwickelt wurde. Gilt diese grundsätzlich auch für alle Maßnahmen positiver Diskriminierungen, so bleibt im weiteren Verlauf zu klären, ob insoweit dogmatische Besonderheiten bestehen und eine Modifikation der Gleichheitsprüfung erforderlich machen. Die verfassungsrechtliche Brisanz von Maßnahmen der Affirmative Action ist im rechtsvergleichenden Teil dieser Arbeit bereits deutlich geworden. Im Kontext des Gemeinschaftsrechts konzentriert sie sich bislang auf Fragen nach der Zulässigkeit von Maßnahmen zur Frauenförderung. Mit welchen Schwierigkeiten entsprechendes Handeln beladen ist, zeigt sich schon in der allgemeinen Umschreibung positiver Diskriminierung: „Positive Diskriminierung (affirmative oder positive action) ist eine . . . Methode zur Bekämpfung von Diskriminierungen. Durch sogenannte positive action werden . . . bestimmte Bevölkerungsgruppen, die in einem speziellen Bereich unterrepräsentiert sind, in diesem bevorzugt behandelt.“979 Bereits der Begriff verweist somit – anders als jener der Affirmative Action – auf das Grunddilemma solcher Maßnahmen, indem er an die widerstreitenden Interessen anknüpft: Der „positiven“ Zielrichtung einer auf effektiver Gewährleistung der Gleichstellung im Erwerbsleben ausgerichteten Frauenförderpolitik einerseits steht auf der anderen Seite deren „diskriminierendes“ Potential durch die Benachteiligung von Männern im Einzelfall gegenüber.
A. Grundsatzentscheidungen des EuGH Vor diesem Hintergrund für sich genommen berechtigter, gleichwohl jedoch konfligierender Interessen sind die Grundsatzentscheidungen des EuGH zur Rechtmäßigkeit positiver Diskriminierungen ergangen und haben für beträchtliches Aufsehen gesorgt. Das gilt zunächst für die Entscheidung in der Rechtssache Kalanke980, bei der es um die Vereinbarkeit einer Quotenregelung mit Art. 2 Abs. 1 und Abs. 4 der allgemeinen Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG981 ging. Nach § 4 des Bremer Landesgleich978 Aus jüngerer Zeit siehe etwa Schubert, Affirmative Action und Reverse Discrimination; Jain/Sloane/Horwitz, Employment Equity and Affirmative Action. An International Comparison. 979 Loutridou/Butt, in: Europäisches Parlament (Hrsg.), Perspektiven der AntiDiskriminierungspolitik, S. 33 f., www.europarl.eu.int/workingpapers/soci/pdf/105_ de.pdf. 980 EuGH, Rs. C-450/93, Eckhard Kalanke/Freie Hansestadt Bremen, 17.10. 1995, Slg. 1995, 3069. 981 Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
stellungsgesetzes war im Falle gleicher Qualifikation von Bewerbern unterschiedlichen Geschlechts der weiblichen Bewerberin automatisch der Vorzug zu erteilen, sofern in dem betreffenden Sektor eine Unterrepräsentation von Frauen festgestellt werden konnte. Eine solche Unterrepräsentation sollte ausweislich des Gesetzes dann vorliegen, wenn weniger als die Hälfte der in einer speziellen Lohngruppe beschäftigten Personen Frauen waren. In seinem Urteil stellt der EuGH zunächst fest, dass die fragliche Regelung gegen das in Art. 2 Abs. 1 enthaltene Diskriminierungsverbot verstößt, da sie eine Diskriminierung der Männer aufgrund des Geschlechts bewirke.982 Zu klären ist dann jedoch, ob sich die Zulässigkeit der Regelung möglicherweise aus Art. 2 Abs. 4 ergibt, der bestimmt: „Diese Richtlinie steht nicht den Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Chancen der Frauen in den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Bereichen beeinträchtigen, entgegen.“ Zwar erkennt der Gerichtshof hierin eine Zulassung von Maßnahmen, die dem Abbau faktischer Ungleichheiten in der sozialen Wirklichkeit dienen.983 Er gelangt jedoch zugleich zu der Einschätzung, dass eine nationale Regelung, die den Frauen bei Ernennungen oder Beförderungen absolut und unbedingt den Vorrang einräumt, über die Förderung der Chancengleichheit hinausgehe und sich damit nicht mehr im Rahmen von Art. 2 Abs. 4 bewege.984 Zudem setze die bremische Quotenregelung durch das Ziel der hälftigen Besetzung einer Dienststelle auf allen Funktionsebenen mit Frauen an die Stelle der in Art. 2 Abs. 4 vorgesehenen Förderung der Chancengleichheit bereits das Ergebnis einer solchen Förderung.985 Im Ergebnis werden daher solche „starren“ Quoten, die Frauen bei gleicher Qualifikation einen absoluten und unbedingten Vorrang einräumen, als Verstoß gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG und somit als gemeinschaftsrechtswidrig angesehen. In der Folgezeit ist die Entscheidung des EuGH zum Gegenstand umfangreicher Kontroversen geworden und hat Rechtsprechung, Schrifttum und Frauenpolitik maßgeblich beeinflusst.986 Dabei blieb jedoch insbesondere umstritten, ob sich die Bedeutung des Urteils auf die automatische Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. L 39, S. 40, 14.2.1976. 982 EuGH, Rs. C-450/93, Eckhard Kalanke/Freie Hansestadt Bremen, 17.10.1995, Slg. 1995, 3069, 3077. 983 EuGH, Rs. C-450/93, Eckhard Kalanke/Freie Hansestadt Bremen, 17.10.1995, Slg. 1995, 3069, 3077. 984 EuGH, Rs. C-450/93, Eckhard Kalanke/Freie Hansestadt Bremen, 17.10.1995, Slg. 1995, 3069, 3078. 985 EuGH, Rs. C-450/93, Eckhard Kalanke/Freie Hansestadt Bremen, 17.10.1995, Slg. 1995, 3069, 3078.
6. Kap.: Positive Diskriminierung
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Bevorzugung von Frauen im Rahmen starrer Quoten beschränke, oder ob der Gerichtshof Frauenquoten generell als gemeinschaftsrechtswidrig erachte.987 Angesichts dieser erheblichen Diskrepanzen in der Rezeption der Kalanke-Entscheidung ist das zwei Jahre später, am 11. November 1997 ergangene Urteil in der Rechtssache Marschall988 von besonderem Interesse, in dem sich der Gerichtshof erneut mit der Zulässigkeit hoheitlicher frauenfördernder Vorrangregelungen zu Lasten von Männern auseinander zu setzen hatte. Ausgangspunkt des Vorabentscheidungsverfahrens war die Bewerbung des beamteten Lehrers Marschall um eine Beförderungsstelle an der Gesamtschule Schwerte. Daraufhin teilte ihm die Bezirksregierung mit, dass beabsichtigt sei, die Stelle mit einer Konkurrentin zu besetzen. Angesichts gleicher Eignung beider Bewerber verwies die Bezirksregierung auf § 25 Abs. 5 S. 2 des Beamtengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen, der lautete: „Soweit im Bereich der für die Beförderung zuständigen Behörde im jeweiligen Beförderungsamt der Laufbahn weniger Frauen als Männer sind, sind Frauen bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung bevorzugt zu befördern, sofern nicht in der Person eines Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen . . .“. Erneut ging es daher um die Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit Art. 2 Abs. 1 und Abs. 4 der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG. Anders als im Fall Kalanke sieht die fragliche Bestimmung jedoch keinen absoluten und unbedingten Vorrang von gleich qualifizierten Frauen vor. Der EuGH erkennt hierin den wesentlichen Unterschied zur Kalanke-Entscheidung und stützt sich in seinem Urteil maßgeblich auf die Existenz dieser sog. Öffnungsklausel, derzufolge Frauen nicht vorrangig befördert werden müssen, sofern in der Person eines männlichen Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen.989 In seiner Begründung weist der Gerichtshof insbesondere darauf hin, dass auch bei gleicher Qualifikation von Bewerbern unterschiedlichen Geschlechts nicht die gleichen beruflichen Chancen bestünden; dies hänge vor allem mit einer „Reihe von Vorurteilen und stereotypen Vorstellungen über 986
Siehe etwa Schiek, Sex Equality Law after Kalanke and Marschall, European Law Journal 1998, 148; Szyszczak, Positive Action after Kalanke, Modern Law Review 1996, 876; Means, Kalanke v. Freie Hansestadt Bremen. The Significance of the Kalanke Decision on Future Positive Action Programs in the European Union, Vanderbilt Journal of Transnational Law 1997, 1087. 987 Vgl. dazu Dungs, Die Europäisierung des deutschen Arbeitsrechts und der geschlechterspezifische Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 233 ff. m. w. N. 988 EuGH, Rs. C-409/95, Hellmut Marschall/Land Nordrhein-Westfalen, 11.11. 1997. 989 EuGH, Rs. C-409/95, Hellmut Marschall/Land Nordrhein-Westfalen, 11.11. 1997, Rn. 24, 35.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
die Rolle und die Fähigkeiten der Frau im Erwerbsleben“990 zusammen. Bestimmungen der vorliegenden Art könnten daher ein Gegengewicht zu den nachteiligen Auswirkungen solcher Einstellungen und Verhaltensmuster darstellen und unter die Ausnahmevorschrift des Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie fallen. Als Ausnahme zu dem in Art. 2 Abs. 1 enthaltenen individuellen Recht auf Nichtdiskriminierung sei die Vorschrift zwar eng auszulegen, ihre Grenzen sieht der Gerichtshof jedoch – anders als bei der dem Urteil Kalanke zu Grunde liegenden bremischen Regelung – als gewahrt an, da die Öffnungsklausel den männlichen Bewerbern mit gleicher Qualifikation in jedem Einzelfall garantiere, dass die Bewerbung zum Gegenstand einer objektiven Beurteilung werde, bei der alle die Person des Bewerbers betreffenden Kriterien zu berücksichtigen seien.991 Die vorrangige Berücksichtigung von Frauen bei gleicher Qualifikation kann somit im Einzelfall durchbrochen werden und stellt demnach keine strikte, ausnahmslose Vorrangregelung dar, weshalb der EuGH entsprechende mit Öffnungsklauseln versehene Bestimmungen zur Frauenförderung als gemeinschaftsrechtlich zulässig erachtet.992 Die mit der Kalanke-Entscheidung begonnene Rechtsprechung zur gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit von Maßnahmen positiver Diskriminierung hat der EuGH demnach zunächst in der Rechtssache Marschall für weiche Quoten mit Öffnungsklausel weiterentwickelt, wobei gewisse Unklarheiten über die inhaltliche Kontinuität der beiden Urteile und die Anforderungen an die Öffnungsklausel verbleiben.993 In jüngerer Zeit ist diese Rechtsprechung zu Maßnahmen der Frauenförderung im Urteil Badeck994 bestätigt und näher konkretisiert worden. Darin ging es um die Vereinbarkeit von Teilen des Hessischen Gesetzes über die Gleichberechtigung von Frauen und Männern und zum Abbau von Diskriminierungen von Frauen in der öffentlichen Verwaltung (HGlG) mit Art. 2 Abs. 1, Abs. 4 der Richtlinie 76/207/EWG. Der Gerichtshof hatte sich zunächst mit einer Regelung zu befassen, die in Bereichen des öffentlichen Dienstes, in denen Frauen unterrepräsentiert sind, bei gleicher Qualifikation von Bewerberin und Bewerber der Frau den Vorrang einräumt, wenn dies zur Erfüllung der Zielvorgaben des Frauenförderplans erforderlich ist und keine Gründe von größerem rechtlichen 990 EuGH, Rs. C-409/95, Hellmut Marschall/Land Nordrhein-Westfalen, 11.11. 1997, Rn. 29. 991 EuGH, Rs. C-409/95, Hellmut Marschall/Land Nordrhein-Westfalen, 11.11. 1997, Rn. 33. 992 EuGH, Rs. C-409/95, Hellmut Marschall/Land Nordrhein-Westfalen, 11.11. 1997, Rn. 35. 993 Vgl. Starck, JZ 1998, 140 f. 994 EuGH, Rs. C-158/97, Georg Badeck u. a., 28.3.2000.
6. Kap.: Positive Diskriminierung
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Gewicht entgegenstehen.995 Unter Rückgriff auf seine zuvor dargestellte Judikatur zur Bedeutung der Öffnungsklausel hält der EuGH auch eine solche Regelung für zulässig, „sofern diese Regelung gewährleistet, daß die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der die besondere persönliche Lage aller Bewerberinnen und Bewerber berücksichtigt wird“996.
B. Starre Quoten, Quoten mit Öffnungsklauseln und die gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit positiver Diskriminierungen Insgesamt offenbaren die Ausführungen des Gerichtshofes die Tendenz, Anforderungen an die inhaltliche Ausgestaltung der Öffnungsklausel deutlich zurückzunehmen und damit zur Zulässigkeit positiver Diskriminierungen zu gelangen; die Annahme einer „absoluten und unbedingten Vorrangregelung“ im Sinne der Kalanke-Rechtsprechung wird so nur unter engen Voraussetzungen gestützt. Das kommt besonders deutlich dort zum Ausdruck, wo es um die Zulässigkeit nationaler Regelungen für den öffentlichen Dienst geht, nach denen in Ausbildungsberufen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind und in denen nicht ausschließlich der Staat ausbildet, Frauen mindestens die Hälfte der Ausbildungsplätze erhalten müssen.997 Nur unter Schwierigkeiten erscheint es möglich, insoweit nicht von einer starren Quote auszugehen, mit der eine strikte hälftige Kontingentierung der Ausbildungsplätze herbeigeführt wird. Gleichwohl begründet der EuGH die gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit mit den einleitenden Worten: „Wie aus der Gesetzesbegründung zu § 7 Absatz 1 HGlG hervorgeht, wollte der hessische Gesetzgeber durch die Einführung einer starren Ergebnisquote . . . im öffentlichen Dienst für eine gleichgewichtige Verteilung von Ausbildungsplätzen sorgen. Diese Absicht führt jedoch nicht zu einer absolut starren Quote. § 7 Absatz 2 sieht nämlich für den Fall, daß nicht genügend Bewerbungen von Frauen um freie Ausbildungsplätze vorliegen, obwohl diese durch geeignete Maßnahmen darauf aufmerksam gemacht wurden, eindeutig vor, daß mehr als die Hälfte dieser Plätze mit Männern besetzt werden können.“998 Die nachfolgenden Erwägungen bestärken indes die in jüngerer Zeit von Epiney999 geäußerte Vermutung, dass hier wie allgemein im Rahmen der Gleichheitskontrolle die Prüfung gleichheitsrechtlicher Verhältnis995 996 997 998 999
Vgl. EuGH, Rs. C-158/97, Georg Badeck u. a., 28.3.2000, Rn. 26 ff. EuGH, Rs. C-158/97, Georg Badeck u. a., 28.3.2000, Rn. 38. EuGH, Rs. C-158/97, Georg Badeck u. a., 28.3.2000, Rn. 45 ff. EuGH, Rs. C-158/97, Georg Badeck u. a., 28.3.2000, Rn. 50 f. Epiney, NVwZ 2001, 524, 535.
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
mäßigkeit den eigentlichen Maßstab bildet. Nur so erklären sich auch Überlegungen des EuGH zum Vorhandensein sonstiger Ausbildungsplätze im Privatsektor, weshalb kein unterlegener männlicher Bewerber definitiv von der Ausbildung ausgeschlossen werde.1000 Vor diesem Hintergrund scheinen die seit dem Kalanke-Urteil geläufigen Fragen nach „absoluten und unbedingten“ Vorrangregeln oder die im Fall Badeck aufgezeigten Erwägungen zum Vorliegen einer „absolut starren Quote“ lediglich als Anhaltspunkte zu fungieren, die auf die Unverhältnismäßigkeit der überprüften Maßnahme hindeuten. Die zentrale Bedeutung gleichheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit auch bei der Überprüfung von Maßnahmen positiver Diskriminierung zeigt sich schließlich in dem nach der Badeck-Entscheidung ergangenen Urteil in der Rechtssache Abrahamsson1001 Dabei ging es um eine schwedische Regelung zur Frauenförderung, nach der ein Bewerber des unterrepräsentierten Geschlechts bei hinreichender Qualifikation für eine Stelle im Staatsdienst vorzuziehen ist, sofern der Unterschied zwischen den Qualifikationen der Bewerber nicht so groß ist, dass sich daraus ein Verstoß gegen das Erfordernis der Sachgerechtigkeit bei der Einstellung ergeben würde. Zutreffend charakterisiert der EuGH die fragliche Regelung dadurch, dass hier dem Bewerber des unterrepräsentierten Geschlechts bei ausreichender Qualifikation für die Stelle „automatisch Vorrang“ eingeräumt werde; dies gelte grundsätzlich auch bei geringerer Qualifikation im Vergleich zu dem Mitbewerber.1002 Angesichts der Unbestimmtheit der einschränkenden „Sachgerechtigkeits-Klausel“ sowie des Fehlens einer objektiven, die persönliche Lage aller Bewerber berücksichtigenden Beurteilung erkennt der Gerichtshof hierin einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1, Abs. 4 der Gleichbehandlungsrichtlinie. In diesem Zusammenhang findet sich erstmals auch der ausdrückliche Hinweis darauf, dass die schwedische Regelung zu dem verfolgten Ziel der tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen „außer Verhältnis steht“1003.
1000
EuGH, Rs. C-158/97, Georg Badeck u. a., 28.3.2000, Rn. 53. EuGH, Rs. C-407/98, Katarina Abrahamsson, Leif Anderson/Elisabet Fogelqvist, 6.7.2000. 1002 EuGH, Rs. C-407/98, Katarina Abrahamsson, Leif Anderson/Elisabet Fogelqvist, 6.7.2000, Rn. 52. 1003 EuGH, Rs. C-407/98, Katarina Abrahamsson, Leif Anderson/Elisabet Fogelqvist, 6.7.2000, Rn. 55. 1001
6. Kap.: Positive Diskriminierung
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C. Zulässigkeit positiver Diskriminierung im Gemeinschaftsrecht: Gleichlauf von Primär- und Sekundärrecht Betrachtet man die dargestellte Rechtsprechung zu Maßnahmen positiver Diskriminierung im Überblick, so gilt es zunächst die bislang überwiegend unter dem Blickwinkel der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG erfolgte Beurteilung der Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht zu konstatieren. Dem hier verfolgten Anliegen einer dogmatischen Konturierung des primärrechtlichen Gleichheitssatzes entsprechend stellt sich somit die Frage nach der Übertragbarkeit dieser Aussagen auf den primärrechtlichen Grundrechtsschutz. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass die sekundärrechtliche Verankerung positiver Diskriminierungen in Art. 2 Abs. 4 der Gleichbehandlungsrichtlinie später auch Einlass in das gemeinschaftliche Primärrecht gefunden hat: Zu erwähnen ist zunächst Art. 6 Abs. 3 des Abkommens vom 1. November 1993 zu dem Protokoll Nr. 14 über die Sozialpolitik, demzufolge der in diesem Artikel enthaltene Grundsatz der Entgeltgleichheit die Mitgliedstaaten nicht daran hindere, zur Erleichterung der Berufstätigkeit der Frauen oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in ihrer beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen. Mit dem Amsterdamer Vertrag vom 1. Mai 1999 erfolgte schließlich die Einführung von Art. 141 Abs. 4, der inhaltlich an Art. 6 Abs. 3 des Abkommens zum Protokoll über die Sozialpolitik anschließt und nunmehr die entscheidende primärrechtliche Bestimmung in Bezug auf Maßnahmen positiver Diskriminierung darstellt. Ihrem Wortlaut nach ist die Regelung dabei recht weit gefasst: „Im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen.“ Ob die durch Art. 141 Abs. 4 vorgesehene Rechtfertigungsmöglichkeit für positive Diskriminierungen indes über Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie 76/207/EWG hinausgeht, ist bislang nicht eindeutig geklärt. Bedeutung gewinnt diese Frage vornehmlich im Hinblick darauf, ob die oben dargestellten Grundsätze der Entscheidungen in den Rechtssachen Kalanke und Marschall auch vor dem Hintergrund des neu eingeführten Art. 141 Abs. 4 als primärrechtlich relevante Grenzen der Zulässigkeit positiver Diskriminierung zu betrachten sind. Zutreffend wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass die tragenden Erwägungen in den Fällen Kalanke und Marschall überholt seien, „soweit Art. 141 Abs. 4 weitergehende Möglichkeiten eröff-
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
net“1004. An einem solchen weitergehenden Gewährleistungsgehalt von Art. 141 Abs. 4 sind jedoch Zweifel angebracht. Zwar ist die Vorbemerkung1005 des EuGH in der Rechtssache Badeck, eine Auslegung von Art. 141 Abs. 4 sei nur erforderlich, wenn die fragliche nationale Regelung gegen Art. 2 der Richtlinie verstoße, zum Teil als Hinweis auf umfassendere primärrechtliche Rechtfertigungsmöglichkeiten verstanden worden.1006 Bereits die nachfolgende Entscheidung in der Rechtssache Abrahamsson deutet indes eher auf einen Gleichlauf von Richtlinie und Art. 141 Abs. 4 hin.1007 Dort hatte der Gerichtshof in der überprüften schwedischen Regelung einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1, Abs. 4 der Richtlinie erkannt und daraufhin zu klären, ob die fragliche Bestimmung unter Umständen nach Art. 141 Abs. 4 gerechtfertigt werden könne.1008 Auch die primärrechtliche Rechtfertigung positiver Diskriminierungen setzt jedoch die gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit der überprüften Maßnahme voraus.1009 Insofern ist es folgerichtig, dass die zu dem verfolgten Ziel der Gleichstellung von Männern und Frauen außer Verhältnis stehende schwedische Regelung zugleich einen Verstoß gegen Art. 141 Abs. 4 darstellt und somit auch keiner primärrechtlichen Rechtfertigung zugänglich ist.1010 Der dargelegte, im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angelegte Gleichlauf von Richtlinie und Art. 141 Abs. 4 wird auch durch einen Änderungsvorschlag der Kommission zu Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie 76/207/EWG gestützt, der den Wegfall der sekundärrechtlichen Ausnahmevorschrift zum Ziel hat.1011 Wie der siebte Erwägungsgrund zur Begründung ausführt, ist das Recht der Mitgliedstaaten, positive Maßnahmen beizubehalten oder zu beschließen, nunmehr in Art. 141 Abs. 4 des Vertrages verankert: „Durch diese Bestimmung des Vertrages wird der bisherige Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie 76/207/EWG überflüssig.“
1004
Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 82. EuGH, Rs. C-158/97, Georg Badeck u. a., 28.3.2000, Rn. 14. 1006 Siehe etwa Starck, JZ 2000, 670, 671 f. 1007 Vgl. Brenner/Huber, DVBl. 2001, 1013, 1018. 1008 EuGH, Rs. C-407/98, Katarina Abrahamsson, Leif Anderson/Elisabet Fogelqvist, 6.7.2000, Rn. 54. 1009 So auch Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 83. 1010 Vgl. EuGH, Rs. C-407/98, Katarina Abrahamsson, Leif Anderson/Elisabet Fogelqvist, 6.7.2000, Rn. 55. 1011 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG, KOM (2000) 334 endg., ABl. C 337 E, S. 204 ff., 28.11.2000. 1005
7. Kap.: Rechtsfolgen von Gleichheitsverstößen
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D. Ergebnis Da somit vieles für eine Kontinuität der gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an Quotenregelungen bei der Einstellung bzw. bei der Beförderung spricht, kann für die Bestimmung von Voraussetzungen und Grenzen entsprechender Maßnahmen weiterhin auf die in den skizzierten Leitentscheidungen entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden. Das gilt insbesondere für die bereits erwähnten Grenzen, die sich aus Erwägungen der Verhältnismäßigkeit ergeben: Danach ist eine Bevorzugung von Frauen auf der Grundlage von Quotenregelungen nur zulässig, sofern ihnen kein absoluter und unbedingter Vorrang eingeräumt wird, sondern jede Bewerbung den Gegenstand einer objektiven Beurteilung bildet, bei der die besondere persönliche Lage aller Bewerber zu berücksichtigen ist. Weiterhin setzen solche Maßnahmen positiver Diskriminierung voraus, dass die Bewerber unterschiedlichen Geschlechts gleich qualifiziert sind. Darüber hinaus verlangt Art. 141 Abs. 4, dass es sich um spezifische Maßnahmen zu Gunsten des unterrepräsentierten Geschlechts handelt. Auch insoweit erlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Bedeutung und gestattet umso intensivere Formen positiver Diskriminierung, je größer das Ausmaß der Unterrepräsentanz und die damit verbundene Dringlichkeit von Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter anzusiedeln ist. Im übrigen richtet sich die gleichheitsrechtlich gebotene Schutzintensität auch hier nach den oben behandelten Dimensionen des Gleichheitsschutzes, deren Zusammenspiel Maßstäbe für die primärrechtliche Einschätzung des Gewichts von Ungleichbehandlungen liefert und somit näheren Aufschluss über die Intensität der grundrechtlich gebotenen Rechtfertigungsanforderungen gibt.
7. Kapitel
Rechtsfolgen von Gleichheitsverstößen Bei den Rechtsfolgen von Gleichheitsverstößen ist zunächst zwischen belastenden und begünstigenden Maßnahmen zu unterscheiden und dabei insbesondere das Verhältnis der Rechtsprechung zur rechtsetzenden Gewalt zu berücksichtigen. Verstößt eine belastende Regelung des sekundären Gemeinschaftsrechts gegen den grundrechtlichen Gleichheitssatz, führt dies zur Nichtigkeit der rechtswidrigen Regelung. Geht es hingegen um gemeinschaftsrechtswidrige belastende Maßnahmen im Rahmen des nationalen Rechts, so ist die diskriminierende Vorschrift zwar nicht nichtig, sie darf jedoch aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht angewendet werden.1012
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4. Teil: Der grundrechtliche Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht
Wie die Untersuchung des deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrechts gezeigt hat, sind weitere Möglichkeiten hinsichtlich der Rechtsfolgen denkbar, sofern die Vorenthaltung einer Begünstigung einen Gleichheitsverstoß darstellt. In Betracht zu ziehen ist dann neben der Nichtigkeit oder Unanwendbarkeit der begünstigenden Regelung auch deren Erstreckung auf die hiervon bislang ausgeschlossene, gleichheitswidrig benachteiligte Gruppe.1013 Wegen des damit verbundenen Eingriffs in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist die Verfassungsrechtsprechung in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika wie gesehen nur in Ausnahmefällen bereit, die gleichheitswidrige Begünstigung einer Gruppe auf nicht berücksichtigte Gruppen auszudehnen.1014 Auch gemeinschaftsrechtlich ist eine solche zurückhaltende, die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers wahrende Position geboten. Der EuGH beschränkt sich daher zu Recht regelmäßig auf die Feststellung der Unvereinbarkeit einer Regelung mit dem Gleichheitsgrundrecht und überlässt es im Übrigen der Gesetzgebung, durch Aufhebung oder Ausdehnung der begünstigenden Regelung zu einer gleichheitskonformen Ausgestaltung zu gelangen.1015 Während dies grundsätzlich für alle Ausprägungen des Gleichheitssatzes gilt und damit erneut auf die einheitliche dogmatische Grundstruktur des Gleichheitsrechts verweist, werden lediglich für das geschlechtsbezogene Diskriminierungsverbot des Art. 141 gewisse Besonderheiten diskutiert. Diese gehen zurück auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache Defrenne II1016, in dem der Gerichtshof unter Hinweis auf das in Art. 136 enthaltene Ziel der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf dem Wege des Fortschritts ausführte, dass das Gebot der Entgeltgleichheit die Anhebung der niedrigeren Löhne und Gehälter auf das Niveau des begünstigten Geschlechts erfordere.1017 Die im Anschluss daran vielfach vertretene Auffassung einer generell gebotenen Anhebung des Entgelts auf das der privilegierten Gruppe zugestandene Niveau1018 kann indes nicht überzeugen, über1012
Störmer, AöR 123 (1998), 541, 549. Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 9, sowie oben, Zweiter Teil, 4. Kapitel, A. 1014 Vgl. Zweiter Teil, 4. Kapitel, A. III. 1015 Vgl. etwa EuGH, verb. Rs. 124/76 und 20/77, S.A. Moulins et Huileries de Pont-à-Mousson/Office National Interprofessionnel des Céréales, 19.10.1977, Slg. 1977, 1795, 1813; verb. Rs. 117/76 und 16/77, Albert Ruckdeschel & Co., HansaLagerhaus Ströh & Co./Hauptzollamt Hamburg-St. Annen, 19.10.1977, Slg. 1977, 1753, 1771. 1016 EuGH, Rs. 43/75, Gabrielle Defrenne/Société anonyme belge de navigation aérienne Sabena, 8.4.1976, Slg. 1976, 455. 1017 EuGH, Rs. 43/75, Gabrielle Defrenne/Société anonyme belge de navigation aérienne Sabena, 8.4.1976, Slg. 1976, 455, 473. 1018 Vgl. Langenfeld, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 141, Rn. 68 m. w. N. 1013
7. Kap.: Rechtsfolgen von Gleichheitsverstößen
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sieht sie doch die entscheidende Bedeutung der unterschiedlichen zeitlichen Wirkungen des Urteils. In zeitlicher Hinsicht gilt es für die Rechtsfolgen eines Gleichheitsverstoßes zu differenzieren: Für in der Vergangenheit liegende Lohndiskriminierungen ist nach Art. 141 ein Ausgleich zu zahlen, der sich am Entgelt des begünstigten Geschlechts zu orientieren hat – angesichts des Fehlens anderweitiger Lösungsmöglichkeiten eine kaum überraschende Variante der „Angleichung nach oben“. Anders stellt sich die Situation hingegen für die Zeit nach der Feststellung des Verstoßes gegen Art. 141 Abs. 1 dar. Insofern kommt es entscheidend darauf an, ob Angleichungsmaßnahmen zur Beseitigung des gleichheitswidrigen Zustands getroffen werden. Wie der EuGH in seiner Judikatur zur Entgeltgleichheit zu Recht betont1019, führt das Vorliegen einer diskriminierenden Bestimmung zu einem Anspruch von Mitgliedern der benachteiligten Gruppe auf die gleiche Behandlung wie die übrigen Arbeitnehmer und auf Anwendung der gleichen Regelung, wobei diese Regelung, solange Art. 141 nicht ordnungsgemäß in das innerstaatliche Recht umgesetzt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt. Solange demnach keine entsprechenden Angleichungsmaßnahmen getroffen werden, kommt es ebenso wie bei dem zuvor dargestellten Anspruch auf Ausgleich zurückliegender Lohndiskriminierungen zu einer Angleichung nach oben. Nehmen der nationale Gesetzgeber oder die Tarifparteien jedoch Maßnahmen vor, mit denen für die Zukunft eine dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz gemäße, diskriminierungsfreie Lohnstruktur gewährleistet werden soll, so sind sie insoweit auch dazu berechtigt, die bislang bestehenden Vergünstigungen für das bevorteilte Geschlecht auf das niedrigere Niveau abzusenken.1020 Die hiermit verbundene gerichtliche Zurückhaltung gegenüber Eingriffen in gesetzliche und tarifvertragliche Gestaltungsspielräume auf nationaler Ebene hat mittlerweile auch in der Gleichheitsrechtsprechung des EuGH ihre ausdrückliche Bestätigung gefunden.1021
1019 Siehe etwa EuGH, Rs. C-154/92, Remi van Cant/Rijksdienst voor pensioenen, 1.7.1993, Slg. 1993, 3830, 3836; Rs. C-184/89, Helga Nimz/Freie und Hansestadt Hamburg, 7.2.1991, Slg. 1991, 314, 320; st. Rspr. 1020 Vgl. Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141, Rn. 70; Langenfeld, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 141, Rn. 68. 1021 Siehe etwa EuGH, Rs. C-408/92, Constance Christina Ellen Smith u. a./Avdel Systems Ltd, 28.9.1994, Slg. 1994, 4457, 4466 f.
Fünfter Teil
Schlussbetrachtung: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz Im Mittelpunkt der vorangegangenen Untersuchungen stand der grundrechtliche Gleichheitsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht. Dabei sind drei Dimensionen des Gleichheitsschutzes sichtbar geworden, denen für die Grundrechtsprüfung entscheidende Bedeutung zukommt. Der damit behandelte Problemkreis soll abschließend in einem Kontext betrachtet werden, dem gegenwärtig besondere Bedeutung zukommt und dessen Relevanz für das Gleichheitsrecht es aufzuzeigen gilt: Angesprochen ist die Herausbildung und Entwicklung einer europäischen Unionsbürgerschaft mit ihren auch für den grundrechtlichen Gleichheitsschutz bedeutsamen Implikationen. Die Arbeit schließt daher mit Überlegungen zur wechselbezüglichen Entwicklung von europarechtlichem Gleichheitsschutz und Unionsbürgerschaft und einer Zusammenfassung der wesentlichen Arbeitsergebnisse in Kapitel 6. 1. Kapitel
Unionsbürgerschaft und Gleichheitssatz Zu den grundlegenden Prinzipien einer auf rechtsstaatlichen Grundsätzen beruhenden Rechtsordnung zählt die rechtliche Gleichheit der ihr zugehörigen Menschen. Für den Integrationsprozess im Rahmen der europäischen Rechtsgemeinschaft ist die rechtliche Gleichbehandlung der Unionsbürger daher von elementarer Bedeutung. Die Entwicklung des „Marktbürgers“ zum Unionsbürger wird von einer intensiven Diskussion über Inhalt und Bedeutung der Unionsbürgerschaft begleitet.1 Dabei ist die Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht teilweise als ein lediglich symbolischer Schritt qualifiziert worden.2 Andere sehen hingegen die Rechtsstellung des EU-Bürgers als substantiell erweitert an oder verweisen 1
Vgl. dazu de Bfflrca, Report on the further development of citizenship in the European Union, S. 39 ff.; Tomuschat, Staatsbürgerschaft – Unionsbürgerschaft – Weltbürgerschaft, S. 73 ff.; S. M. Damm, Bürgergleichheit in Europa, in: Scholz (Hrsg.), Europa der Bürger?, S. 190 ff.; Haltern, Das Janusgesicht der Unionsbürgerschaft, in: Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft 11 (2005), 87 ff. 2 Jessurun d’Oliveira, European Citizenship: its meaning, its potential, S. 147.
2. Kap.: Die Rechte des Unionsbürgers
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zumindest auf die potentielle Tragweite des bürgerschaftlichen Status, der einer dynamischen Fortentwicklung nicht zuletzt aufgrund der Evolutivklausel des Art. 22 EGV zugänglich sei.3 Keine Zweifel bestehen insoweit an der von Generalanwalt La Pergola in der Rechtssache Sala formulierten Auffassung, dem einzelnen werde „ein neuer Status verliehen . . ., eine subjektive Rechtsqualität zusätzlich zu den bereits vorgesehenen“4. Welcher Bedeutungsgehalt dieser subjektiven Rechtsqualität zukommt, ist bislang allerdings nur in Ansätzen sichtbar geworden und bedarf der näheren Untersuchung. 2. Kapitel
Die Rechte des Unionsbürgers Zwar enthält die zentrale Norm des Art. 17 EGV selbst keine eigenen Unionsbürgerrechte. Absatz 2 der Bestimmung verweist jedoch insoweit allgemein auf die „in diesem Vertrag vorgesehenen Rechte und Pflichten“. Dazu gehören unter anderem das Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (Art. 18), das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen am Wohnsitz sowie das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 19), diplomatischer und konsularischer Schutz in Drittländern durch andere Mitgliedstaaten (Art. 20), das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament (Art. 21 Abs. 1, 194), das Recht, sich an den Bürgerbeauftragten zu wenden (Art. 21 Abs. 2, 195) und das Recht auf Auskunft durch die Gemeinschaftsorgane in der eigenen Sprache (Art. 21 Abs. 3). Über diese Rechte hinaus bezieht sich Art. 17 Abs. 2 jedoch auf das gesamte primäre Gemeinschaftsrecht einschließlich der vom EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze, sofern die individuelle Rechtsposition des Unionsbürgers betroffen ist.5 Erfasst werden damit insbesondere auch die Grundfreiheiten und Grundrechte. Der Umstand, dass die meisten dieser Rechte bereits vor Einführung der Unionsbürgerschaft existierten, vermag hieran angesichts des insoweit eindeutigen Art. 17 nichts zu ändern. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob dem Verweis auf die EG-vertraglich vorgesehenen Rechte und Pflichten dann mehr als eine lediglich deklaratorische Funktion zukommen kann. Die damit angesprochenen Überlegungen sind in jüngerer Zeit etwa von Hilf angestellt und dahin 3 Zur Bandbreite der vertretenen Auffassungen vgl. nur die Nachweise bei Reich, Unionsbürgerschaft – Metapher oder Quelle von Rechten?, S. 31 f. 4 Generalanwalt La Pergola, Rs. C-85/96, María Martínez Sala/Freistaat Bayern, 1.7.1997, Rn. 20. 5 Vgl. Hilf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 17, Rn. 54. Ausführlich zu den Rechten und Pflichten der Unionsbürger Schneider, Die Rechte- und Pflichtenstellung des Unionsbürgers. Der Beginn einer europäischen Staatsangehörigkeit?, S. 64 ff.
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
gehend beantwortet worden, dass auch jenen bereits seit längerem und unabhängig von der Unionsbürgerschaft gewährten Rechten (und damit auch: dem grundrechtlichen Gleichheitssatz) durch Art. 17 Abs. 2 „stärkeres Gewicht“ verliehen werde.6 Ob diese Einschätzung in ihrer allgemeinen Zielrichtung zutreffend ist, bedarf an dieser Stelle nicht der Entscheidung. Vielmehr geht es hier allein darum, ihre Berechtigung im Hinblick auf das Verhältnis von Bürgerstatus und Gleichbehandlung zu klären: In den Blickpunkt rückt so die im weiteren zu untersuchende besondere Qualität der wechselseitigen Verschränkung des Konzepts der Unionsbürgerschaft einerseits und der Ausprägungen des grundrechtlichen Gleichheitssatzes andererseits.
3. Kapitel
Mittelbare und unmittelbare Gleichheit des Unionsbürgers Das europäische Gemeinschaftsrecht basiert unter anderem auf der fundamentalen Voraussetzung der rechtlichen Gleichheit aller Mitgliedstaaten.7 Diese allgemein geteilte normative Prämisse mitgliedstaatlicher Gleichheit vor dem Gemeinschaftsrecht darf indes nicht den Blick dafür verstellen, dass eine allein über die Zugehörigkeit zu (gemeinschaftsrechtlich gleichbehandelten) Nationalstaaten vermittelte Gleichheit notwendig defizitär bleiben muss, wenn man den einzelnen Unionsbürger in den Blick nimmt. Die Entwicklung des individuellen Bewusstseins, Bürger oder Bürgerin der Europäischen Union zu sein, setzt die „tatsächlich erfahrbare Gleichheit der Unionsbürger“8 voraus. Dem korrespondiert eine stärker individualrechtliche Demokratiekonzeption, die ihren wesentlichen Bezugspunkt nicht in einem wie auch immer zu definierenden europäischen „Volk“ sieht, sondern vorrangig auf den Unionsbürger als Legitimationssubjekt abstellt. In jüngerer Zeit hat insbesondere Huber eine solche Auffassung vertreten und damit den einzelnen Unionsbürger in das Zentrum der Überlegungen zur demokratischen Legitimation der Europäischen Union gestellt.9 Es wird damit zu Recht unterstrichen, dass zu dem gemeinschaftlichen Grundsatz der rechtlichen Gleichheit aller Mitgliedstaaten die rechtliche Gleichheit der Unions6
Hilf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EU, Art. 17, Rn. 54. Vgl. Bleckmann, DVBl. 1976, 483, 487. 8 So zutreffend Ende, Der Individualrechtsschutz des Unionsbürgers. Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Elemente des gemeineuropäischen ordre public, S. 17. 9 Huber, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? – Zur Demokratiefähigkeit der Europäischen Union, S. 39 ff.; vgl. S. M. Damm, ZParl 2000, 504 ff. 7
4. Kap.: Gleichheitsschutz als Kern der Unionsbürgerschaft
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bürger hinzutreten muss. Nur soweit personale, gemeinschaftsunmittelbare Rechtsgleichheit gewährleistet ist, kommt die Annahme eines umfassenden bürgerschaftlichen Status in Betracht. Gleichheit im so verstandenen Sinne wird damit zum Kriterium für die Qualität eines in Entwicklung begriffenen europäischen Bürgerrechtsstatus. 4. Kapitel
Gleichheitsschutz als rechtlicher Kern der Unionsbürgerschaft Die enge Verschränkung von Unionsbürgerschaft und Gleichheitssatz kommt indes nicht allein in der zuvor aufgezeigten Bedeutung des Gleichheitsrechts für den Status als Unionsbürger zum Ausdruck. Von großer Brisanz ist darüber hinaus die in umgekehrter Richtung zielende Frage, welche rechtlichen, insbesondere gleichheitsrechtlichen Folgen an die Einführung der Unionsbürgerschaft zu knüpfen sind. Während der EuGH in seiner Rechtsprechung zum Inhalt der Unionsbürgerschaft zunächst nur zurückhaltend Stellung bezogen hat, finden sich erste Anhaltspunkte für gleichheitsrechtliche Implikationen in den Schlussanträgen der Generalanwälte. Besondere Beachtung verdienen dabei Ausführungen des Generalanwalts Léger, der – bereits am Beginn der Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft – gleichsam den Horizont der Bürgergleichheit in der Europäischen Union beschrieb: „Zwar erfasst dieser Begriff [der Unionsbürgerschaft, S.M.D.] in Wirklichkeit Aspekte, die durch die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts bereits überwiegend verwirklicht worden sind, und stellt insoweit eine Konsolidierung des gemeinschaftlichen Besitzstandes dar. Es obliegt aber dem Gerichtshof, dem Begriff seine volle Bedeutung zu geben. Wenn man sämtliche Konsequenzen zieht, die mit dem Begriff verbunden sind, müssen alle Unionsbürger unabhängig von ihrer Nationalität genau gleiche Rechte und Pflichten haben. In letzter Konsequenz soll dieser Begriff eine völlige Gleichstellung der Unionsbürger unabhängig von ihrer Nationalität ermöglichen. Diese Gleichstellung müßte in derselben Weise wirksam sein wie zwischen den Staatsangehörigen ein und desselben Staates.“10 Ob und mit welcher Dynamik die Unionsbürgerschaft auch in der Rechtsprechung des EuGH einen entsprechenden Stellenwert einnehmen wird, erscheint bislang nicht abschließend geklärt. Aufschlussreich sind insofern jedoch insbesondere die ersten, im Folgenden erörterten Urteile des Gerichtshofs, die sich ausdrücklich mit der Bedeutung des bürgerschaftlichen Status befassen. 10 Generalanwalt Léger, Rs. C-214/94, Ingrid Deutschland, 14.11.1995, Slg. 1996, 2255, 2271 f.
Boukhalfa/Bundesrepublik
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
A. Rechtssache Sala Mit seinem Urteil vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache Sala11 ging der EuGH erstmals ausdrücklich auf die Unionsbürgerschaft ein. Gegenstand der Entscheidung waren Fragen, die sich auf einen Rechtsstreit vor dem Bayerischen Landessozialgericht bezogen. Darin ging es um die Weigerung des Freistaats Bayern, der Klägerin Sala für ihr Kind Erziehungsgeld zu gewähren. Die Klägerin besaß die spanische Staatsangehörigkeit und wohnte seit 1968 in Deutschland, wo sie bis 1989 verschiedene Tätigkeiten als Arbeitnehmerin ausübte. Nach dem deutschen Gesetz über die Gewährung von Erziehungsgeld hätte Frau Sala im Besitz einer förmlichen Aufenthaltsgenehmigung sein müssen, was sie zum fraglichen Zeitpunkt jedoch nicht war, wenngleich sie sich erlaubter Weise in Deutschland aufhielt. Das vorlegende Gericht ersuchte daher um Vorabentscheidung über die Frage, ob es mit Gemeinschaftsrecht vereinbar sei, wenn ein Mitgliedstaat die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten von der Vorlage einer förmlichen Aufenthaltserlaubnis abhängig mache. Auch die deutsche Regierung sah hierin eine Ungleichbehandlung gegenüber den deutschen Staatsangehörigen, berief sich jedoch darauf, dass der Anwendungsbereich des Vertrages weder in sachlicher noch in persönlicher Hinsicht eröffnet sei und sich die Klägerin somit nicht auf das Diskriminierungsverbot des Art. 12 berufen könne. Anders als die deutsche Regierung hielt der Gerichtshof den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts durchaus für eröffnet, hatte sich nun jedoch mit der heiklen Frage auseinander zu setzen, ob die Klägerin auch dann in den persönlichen Anwendungsbereich des Vertrages falle, wenn sie nicht als Arbeitnehmerin anzusehen sei. Dabei folgte der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts La Pergola und dessen bemerkenswert gehaltvoller Interpretation der Unionsbürgerschaft: „Das Recht auf gleiche Behandlung, wie sie der Aufenthaltsstaat seinen eigenen Staatsangehörigen angedeihen lässt, kann nunmehr meines Erachtens vom einzelnen unabhängig von irgendeiner Form oder Qualität als Marktteilnehmer dank der Stellung als, sagen wir, europäischer Bürger beansprucht werden, die sich aus dem Vertrag ergibt und für dessen Anwendung auf ihn von Bedeutung ist.“12 Als Angehörige eines Mitgliedstaates, die sich rechtmäßig in dem Gebiet eines anderen Staates der EU aufhielt, wurde Frau Sala daher als vom persönlichen Anwendungsbereich der Regeln über die 11
EuGH, Rs. C-85/96, María Martínez Sala/Freistaat Bayern, 12.5.1998. Generalanwalt La Pergola, Rs. C-356/98, Arben Kaba/Secretary of State for the Home Department, 30.9.1999, Rn. 54, unter Bezugnahme auf seine Schlussanträge in der Rs. C-85/96, María Martínez Sala/Freistaat Bayern, 1.7.1997, Rn. 23. 12
4. Kap.: Gleichheitsschutz als Kern der Unionsbürgerschaft
561
Unionsbürgerschaft erfasst angesehen. Da Art. 17 Abs. 2 den Unionsbürgern die vertraglich vorgesehenen Rechte und damit auch das Recht auf Nichtdiskriminierung nach Art. 12 zuspricht, erkannte der EuGH in der vorenthaltenen Gewährung des Erziehungsgeldes einen Verstoß gegen die in Art. 12 enthaltene Ausprägung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes.13 Während Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/6814 lediglich im Hinblick auf Arbeitnehmer vorsieht, dass diese im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießen, ging der Gerichtshof in der Rechtssache Sala hierüber deutlich hinaus. Sekundärrechtliche Beschränkungen der Inanspruchnahme sozialer Leistungen wurden damit auf primärrechtlicher Ebene unter Heranziehung der Regeln über die Unionsbürgerschaft überspielt.
B. Rechtssache Bickel und Franz Weitere Aufschlüsse über die gleichheitsrechtliche Bedeutung der Unionsbürgerschaft gibt das Urteil des EuGH in der Rechtssache Bickel und Franz15 vom 24. November 1998. Dem Vorabentscheidungsverfahren lagen zwei Strafverfahren gegen Bickel und Franz zu Grunde. Der österreichische Lastwagenfahrer Bickel war in der Provinz Bozen von einer Polizeistreife angehalten und in der Folgezeit wegen Trunkenheit im Verkehr angeklagt worden. Hingegen hielt sich der deutsche Staatsangehörige Franz als Tourist in Südtirol auf. Im Rahmen einer Zollkontrolle wurde festgestellt, dass er ein verbotenes Messer mit sich führte. Bei den anschließenden Verfahren wegen Verletzung italienischer Strafrechtsbestimmungen sollte nach dem Wunsch der Angeklagten deutsch Verhandlungssprache sein, da sie der italienischen Sprache nicht mächtig waren. Sie beriefen sich dazu auf Vorschriften für die deutschsprachigen italienischen Staatsangehörigen in der Region Trentino-Südtirol. Zu klären war nun, ob das der deutschsprachigen Minderheit mit italienischer Staatsangehörigkeit in der Provinz Bozen eingeräumte Recht auf ein Verfahren in deutscher Sprache auch auf Besucher der Provinz auszudehnen sei. Erneut ging es daher um die für das Diskriminierungsverbot des Art. 12 zentrale Frage, ob der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts überhaupt eröffnet sei. 13 EuGH, Rs. C-85/96, María Martínez Sala/Freistaat Bayern, 12.5.1998, Rn. 61 ff. 14 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. L 257, S. 2, 19.10.1968. 15 EuGH, Rs. C-274/96, Horst Otto Bickel, Ulrich Franz, 24.11.1998.
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
Der Gerichtshof scheint insofern zunächst an die in der Rechtssache Cowan16 entwickelte Rechtsprechung anknüpfen zu wollen: Dort wurde die Entschädigungszahlung für Touristen zugefügte Schäden deshalb dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts unterstellt, weil ein überaus enger Zusammenhang mit der von Touristen wahrgenommenen Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 bestehe. Auch im vorliegenden Fall verweist der EuGH zunächst auf Art. 49 und dessen weite Auslegung, derzufolge sich die Grundfreiheit auf alle Angehörigen der Mitgliedstaaten bezieht, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben und dort Dienstleistungen „in Empfang nehmen wollen oder die Möglichkeit haben, sie in Empfang zu nehmen“17. Folgt man diesem extensiven Interpretationsansatz des Gerichtshofs, so können kaum Zweifel daran bestehen, dass sich Bickel und Franz als Arbeitnehmer bzw. als Tourist bei ihrem Aufenthalt in Südtirol in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befanden. Fraglich ist dann jedoch, ob zwischen dem (grundsätzlich mitgliedstaatlicher Zuständigkeit unterfallenden) Strafverfahrensrecht und der (weit ausgelegten) Dienstleistungsfreiheit ein hinreichend enger Zusammenhang besteht, der die Anwendung des Diskriminierungsverbots aus Art. 12 erlauben würde. Über diesen Ansatz der Cowan-Rechtsprechung geht der EuGH indes nunmehr hinaus, indem er das in Art. 18 Abs. 1 gewährleistete Unionsbürgerrecht betont, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Die nachfolgende Begründung orientiert sich deutlich an den Schlussanträgen des Generalanwalts Jacobs18, der die fundamentale Bedeutung des Diskriminierungsverbots für den Unionsbürgerstatus hervorgehoben hatte. Ganz im Sinne des Generalanwalts führt der Gerichtshof daher aus, für die Unionsbürger sei die „Möglichkeit, mit den Verwaltungsund Justizbehörden eines Staates mit gleichem Recht wie die Bürger dieses Staates in einer bestimmten Sprache kommunizieren zu können, geeignet, die Ausübung der Freiheit, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern. Folglich haben Personen, die wie Herr Bickel und Herr Franz von ihrem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen, grundsätzlich nach Art. 12 des Vertrages einen Anspruch darauf, nicht gegenüber den Angehörigen dieses Staates ungleich behandelt zu werden, was die Benutzung der dort verwendeten Sprachen angeht“19. Die Nähe der Sprachenregelung zum in Art. 18 Abs. 1 enthaltenen Unionsbürgerrecht wird so als ausreichend er16
EuGH, Rs. 186/87, Ian William Cowan/Trésor public, 2.2.1989, Slg. 1989,
216. 17
EuGH, Rs. C-274/96, Horst Otto Bickel, Ulrich Franz, 24.11.1998, Rn. 15. Generalanwalt Jacobs, Rs. C-274/96, Horst Otto Bickel, Ulrich Franz, 19.3.1998. 19 EuGH, Rs. C-274/96, Horst Otto Bickel, Ulrich Franz, 24.11.1998, Rn. 16. 18
4. Kap.: Gleichheitsschutz als Kern der Unionsbürgerschaft
563
achtet, den bürgerschaftlichen Anspruch auf Gleichbehandlung mit der deutschsprachigen Minderheit in Italien zu begründen.
C. Rechtssache Grzelczyk Von großer sozialrechtlicher Brisanz ist schließlich ein Urteil des Gerichtshofs aus jüngerer Zeit, das den gleichheitsrechtlichen Gehalt der Unionsbürgerschaft deutlich hervortreten lässt. In der Rechtssache Grzelczyk20 vom 20. September 2001 ging es um eine Klage des französischen Staatsangehörigen Grzelczyk, der 1995 ein Studium in Belgien aufgenommen und dazu seinen Aufenthaltsort nach Belgien verlegt hatte. In den ersten drei Studienjahren finanzierte der Student seinen Lebensunterhalt, die Unterbringung und das Studium selbst im Wesentlichen durch verschiedene kleinere Beschäftigungen. Mit Beginn des vierten und letzten Studienjahres beantragte er beim zuständigen Sozialamt die Gewährung des Existenzminimums, da er sich in diesem letzten Studienabschnitt außerstande sah, weiter alleine für seinen Lebensunterhalt aufzukommen, sein Vater arbeitslos und die Mutter schwer krank sei. Das Sozialamt gewährte ihm zunächst das Existenzminimum mit der Begründung, Herr Grzelczyk habe viel gearbeitet, um sein Studium zu finanzieren, das letzte Studienjahr sei jedoch wegen der Erstellung einer schriftlichen Arbeit und der Erbringung weiterer Prüfungsleistungen erheblich schwerer als die vorangegangenen. Bereits nach zwei Monaten wurde dem Studenten die Gewährung des Existenzminimums jedoch wieder entzogen, nachdem der belgische Staat sich weigerte, dem Sozialamt die gezahlten Beträge zu erstatten. Begründet wurde dieses Vorgehen unter Hinweis auf die belgische Rechtslage, derzufolge Ansprüche auf ein Existenzminimum zum einen für Belgier bestünden, die ihren tatsächlichen Aufenthalt im Land haben, nicht über ausreichende Mittel verfügen und sich diese Mittel auch nicht aus eigener Kraft beschaffen können. Erweitert wurde der damit bezeichnete Personenkreis 1987 zudem um jene Personen, auf die die Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft anwendbar ist. Da der Kläger jedoch als Student nicht Arbeitnehmer sei und sich sein Aufenthalt in Belgien nicht aus der Verwirklichung des Grundsatzes der Arbeitnehmerfreizügigkeit ergebe, könne er hieraus folglich keine Ansprüche auf Gewährung des Existenzminimums herleiten. Mit seinem Ersuchen um Vorabentscheidung bat das vorlegende belgische Gericht um Klärung der Frage, ob die Gewährung einer beitragsunabhängigen Sozialleistung wie des Existenzminimums bei Angehörigen anderer 20 EuGH, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk/Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, 20.9.2001.
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
Mitgliedstaaten als des Aufnahmemitgliedstaates in gemeinschaftsrechtlich zulässiger Weise davon abhängig gemacht werden könne, dass sie in den Anwendungsbereich der Verordnung über die Arbeitnehmerfreizügigkeit fallen. Dabei lohnt es sich, den Blick zunächst allein auf die Schlussanträge des Generalanwalts Alber21 zu richten. Auffällig an der ausführlichen Stellungnahme des Generalanwalts ist insbesondere, dass der Schwerpunkt der Ausführungen auf der Arbeitnehmereigenschaft des Studenten liegt.22 Sollte diese letztlich vom vorlegenden Gericht zu entscheidende Frage zu bejahen sein, so wäre der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1612/68 eröffnet, der Kläger könnte demnach hierauf gestützt Gewährung des Existenzminimums verlangen. Nur hilfsweise, das heißt für den Fall der Verneinung der Arbeitnehmereigenschaft durch das vorlegende Gericht, befasst sich der Generalanwalt mit Überlegungen zu möglichen Ansprüchen des Klägers aufgrund seines Studentenstatus.23 Zutreffend wird zunächst auf die Grundvoraussetzungen für gleichheitsrechtliche, auf Art. 12 gestützte Ansprüche des Klägers hingewiesen: Der fragliche Sachverhalt muss in den Anwendungsbereich des Vertrages fallen, zudem darf die Gewährung der Sozialleistung nicht durch spezielle Vorschriften ausgeschlossen sein. Allerdings hat der Gerichtshof Studienfinanzierungen als Beihilfe zum Lebensunterhalt bislang nicht dem Anwendungsbereich des Vertrages unterstellt. Zu erwägen ist daher allenfalls, ob das sekundärrechtlich in Art. 1 der Richtlinie 93/9624 enthaltene Aufenthaltsrecht von Studenten nunmehr dazu führt, dass der Studentenstatus zur gemeinschaftsrechtlich geregelten Materie geworden ist und damit der Gleichheitssatz Anwendung findet. Doch auch diese Erwägung kann letztlich nicht durchgreifen: Voraussetzung für das angesprochene sekundärrechtlich ausgeformte Aufenthaltsrecht ist nach Art. 1 der Richtlinie nämlich gerade das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel auf Seiten des Studenten, so dass dieser während des Aufenthalts keine Leistungen der Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaates in Anspruch nehmen muss. Was bleibt, um einen gleichheitsrechtlich fundierten Anspruch des Klägers zu begründen, ist so allein die Möglichkeit des Verstoßes der Richtlinie gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht. Der Generalanwalt befasst sich daher zu Recht eingehend mit der Frage nach einem primärrechtlich ver21 Generalanwalt Alber, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk/Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, 28.9.2000. 22 Generalanwalt Alber, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk/Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, 28.9.2000, Rn. 65 ff. 23 Generalanwalt Alber, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk/Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, 28.9.2000, Rn. 105 ff. 24 Richtlinie 93/96/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl. L 317, S. 59, 18.12.1993.
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ankerten Aufenthaltsrecht des Studenten und einem darauf aufbauenden weitergehenden Gleichbehandlungsanspruch bezüglich der im Aufnahmemitgliedstaat gewährten sozialen Vergünstigungen.25 Ein solcher könnte sich zum einen aus der extensiven Interpretation der Dienstleistungsfreiheit im Anschluss an die oben dargestellte Cowan-Rechtsprechung ergeben. Im Ergebnis ist der klagende Student indes nicht als Dienstleistungsempfänger im Sinne des Gemeinschaftsrechts anzusehen, so dass dieser primärrechtliche Ansatz ausscheidet. Eine zweite Möglichkeit besteht weiterhin in der Heranziehung von Regeln über die Unionsbürgerschaft. Hier hat es zunächst den Anschein, als gelange der Generalanwalt zu einer recht weitreichenden gleichheitsrechtlichen Ausdeutung der Unionsbürgerschaft, wenn er ausführt: „Die Unionsbürgerschaft verleiht dem Unionsbürger ein originäres Aufenthaltsrecht im Rang des Vertrages. Auf diese unzweifelhaft in den Anwendungsbereich des Vertrages fallende subjektive Rechtsposition muß folglich das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit zur Anwendung kommen. Das würde bedeuten, daß ein Unionsbürger bei einem schrankenlosen Aufenthaltsrecht grundsätzlich auch Gleichbehandlung im Hinblick auf Sozialleistungen beanspruchen könnte.“26 Anschließend findet sich indes der Hinweis darauf, dass die Freizügigkeit nach Art. 18 Abs. 1 nur vorbehaltlich der im EG-Vertrag und in den Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen gewährt wird. Hierzu zählen auch die Aufenthaltsrichtlinien 90/36427, 90/36528 und 93/9629, die das Aufenthaltsrecht lediglich unter der Bedingung ausreichender Existenzmittel auf Seiten des Berechtigten vorsehen und einer übermäßigen Belastung der öffentlichen Finanzen dadurch entgegen wirken sollen. Vor diesem Hintergrund gelangt der Generalanwalt zu dem Ergebnis, dass ein aufenthaltsberechtigter Gemeinschaftsangehöriger zwar kraft seines Status als Unionsbürger grundsätzlich einen Gleichbehandlungsanspruch auch im Hinblick auf Sozialleistungen geltend machen kann. Der gleichheitsrechtlich begründeten Inanspruchnahme von Sozialleistungen seien jedoch enge Grenzen gesetzt, wenn durch das Angewiesensein auf Sozialhilfe ein Been25 Generalanwalt Alber, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk/Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, 28.9.2000, Rn. 112 ff. 26 Generalanwalt Alber, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk/Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, 28.9.2000, Rn. 120. 27 Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht, ABl. L 180, S. 26, 13.7.1990. 28 Richtlinie 90/365/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen, ABl. L 180, S. 28, 13.7.1990. 29 Richtlinie 93/96/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl. L 317, S. 59, 18.12.1993.
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
digungsgrund für das Aufenthaltsrecht geschaffen werde und so die sekundärrechtlichen Beschränkungen der Richtlinien zum Tragen kommen. Der EuGH, so scheint es, hat die im Hinblick auf den Bedeutungsgehalt der Unionsbürgerschaft eher zurückhaltenden Schlussanträge des Generalanwalts mit Skepsis aufgenommen. Jedenfalls könnte die lange Dauer der Entscheidungsfindung (zwischen Schlussanträgen und Urteil liegt ein Jahr) auf Unstimmigkeiten innerhalb des Gerichtshofs hindeuten. Von umso größerer Tragweite ist daher die weitreichende und substantielle gleichheitsrechtliche Interpretation der Unionsbürgerschaft durch den EuGH, der sich mit den ausführlichen Überlegungen des Generalanwalts zur Arbeitnehmereigenschaft des Studenten erst gar nicht näher befasst, sondern direkt auf den gleichheitsschützenden Kern der Unionsbürgerschaft Bezug nimmt, indem er ausführt: „Die Tatsache, daß der Kläger nicht die belgische Staatsangehörigkeit besitzt, stellt das einzige Hindernis für die Gewährung des Existenzminimums an ihn dar; daher steht fest, daß es sich um eine allein auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung handelt. Im Anwendungsbereich des EG-Vertrages ist eine solche Diskriminierung nach Artikel 12 dieses Vertrages grundsätzlich verboten. Im vorliegenden Fall ist dieser Artikel für die Beurteilung seines Anwendungsbereichs in Verbindung mit den Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft zu sehen. Der Unionsbürgerstatus ist nämlich dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“30 Im Gegensatz zu den Ausführungen des Generalanwalts stellt der Gerichtshof im Folgenden nicht etwa sekundärrechtlich gezogene „enge Grenzen“ für die Geltendmachung des Gleichbehandlungsanspruchs auf soziale Grundsicherung in den Vordergrund. Vielmehr nimmt er eine restriktive Auslegung der Richtlinie 93/96 und des darin enthaltenen Erfordernisses ausreichender Existenzmittel für das Aufenthaltsrecht vor. Das Ergebnis dieses Vorgehens knüpft an die in den Rechtssachen Sala und Bickel gewonnenen Erkenntnisse an, indem unter Bezugnahme auf die primärrechtlich neu eingeführte Unionsbürgerschaft vormals etablierte sekundärrechtliche Beschränkungen der Gewährung „sozialer Vergünstigungen“ auf Personen mit Arbeitnehmerstatus im Sinne der Verordnung 1612/68 aufgehoben werden. Der gleichheitsrechtliche Kern des Unionsbürgerstatus wird so zur Triebfeder für Teilhabeansprüche auf soziale Leistungen der Mitgliedstaaten, die unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Begünstigten und 30 EuGH, Rs. C-184/99, Rudy Grzelczyk/Centre public d’aide sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, 20.9.2001, Rn. 29 ff. (Hervorhebungen S.M.D.).
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damit diskriminierungsfrei zu gewähren sind. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Verknüpfung von Sozialleistungsansprüchen mit dem Aufenthaltsrecht aus Art. 18 Abs. 1 den Mitgliedstaaten jedenfalls die Möglichkeit eröffnet, mit der gemeinschaftsrechtskonformen Beendigung des Aufenthaltsrechts zugleich die hieran gebundenen Ansprüche auf soziale Leistungen zu verhindern.
D. Rechtssache Collins In der Rechtssache Collins31 hatte der Gerichtshof im März 2004 über den Fall des irischen Staatsangehörigen Collins zu entscheiden, der in das Vereinigte Königreich eingereist war, um dort eine Arbeit im Bereich der Sozialfürsorge zu suchen. Die von ihm beantragte Beihilfe für Arbeitssuchende wurde mit der Begründung verweigert, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Vereinigten Königreich habe. Der EuGH überprüfte daraufhin die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit des geltenden Wohnorterfordernisses anhand von Art. 39 Abs. 2 als besonderer Ausprägung des allgemeinen Diskriminierungsverbotes aus Art. 12. Angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und der Auslegung, die das Recht der Unionsbürger auf Gleichbehandlung in der Rechtsprechung erfahren habe, sei es „nicht mehr möglich, vom Anwendungsbereich des Artikels 39 Absatz 2, der eine Ausprägung des in Artikel 12 garantierten tragenden Grundsatzes der Gleichbehandlung ist, eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern soll“32. Die Ungleichbehandlung durch das Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts ist daher auf ihre Rechtfertigung hin zu untersuchen. Insoweit bekräftigt der Gerichtshof seine Auffassung, dass es ein legitimes Anliegen des Mitgliedstaates darstelle, die finanzielle Leistung erst zu gewähren, nachdem eine tatsächliche Verbindung des Arbeitssuchenden mit dem betroffenen Arbeitsmarkt festgestellt werde. Für diese Feststellung könne das Wohnorterfordernis durchaus herangezogen werden, sofern im Hinblick auf den damit verfolgten Zweck der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sei.
31
EuGH, Rs. C-138/02, Brian Francis Collins/Secretary of State for Work and Pensions, 23.3.2004. 32 EuGH, Rs. C-138/02, Brian Francis Collins/Secretary of State for Work and Pensions, 23.3.2004, Rn. 63.
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
E. Rechtssache Trojani Am 7. September 2004 hatte sich der EuGH in einem Urteil33 erneut mit der bereits im Fall Grzelczyk umstrittenen Gewährung des Existenzminimums durch ein belgisches Sozialamt zu befassen. Der französische Staatsangehörige Trojani war in einem Heim der Heilsarmee in Belgien aufgenommen worden, wo er gegen Unterkunft und etwas Taschengeld einzelne Tätigkeiten verrichtete. Da er mittellos war, beantragte er sogenannte Minimex-Leistungen zur Aufbringung seines Existenzminimums. Der ablehnende Bescheid des Sozialamts stützte sich darauf, dass der Antragsteller nicht die belgische Staatsangehörigkeit besitze und auch nicht unter die Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft falle. In seiner Entscheidung hält der Gerichtshof es zunächst für möglich, dass Herr Trojani ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer im Sinne von Art. 39 beanspruchen könne, überlässt die genauere Klärung insoweit jedoch dem vorlegenden Gericht. Im Rahmen der zweiten Vorlagefrage setzt sich der EuGH damit auseinander, ob bei fehlender Arbeitnehmereigenschaft des Klägers diesem allein aufgrund seiner Unionsbürgerschaft in unmittelbarer Anwendung von Art. 18 ein Aufenthaltsrecht zustehen könne. Insoweit steht das Recht aus Art. 18 jedoch ausdrücklich unter dem Vorbehalt der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen, zu denen auch das in der Aufenthaltsrichtlinie 90/364 enthaltene Erfordernis ausreichender Existenzmittel gehört. Das Fehlen der hiernach erforderlichen Mittel bei dem Kläger steht daher einem unmittelbar auf Art. 18 gestützten Recht zum Aufenthalt entgegen. In einem ergänzenden Hinweis nimmt der EuGH jedoch im Anschluss an diese Feststellungen darauf Bezug, dass Herr Trojani über eine Aufenthaltserlaubnis verfüge, sich mithin rechtmäßig in Belgien aufhalte.34 Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Mitgliedstaaten den Aufenthalt eines nicht wirtschaftlich aktiven Unionsbürgers zwar von der Verfügbarkeit ausreichender Existenzmittel abhängig machen dürften. Sofern eine Person jedoch über die Aufenthaltserlaubnis verfüge, könne sie sich auf das Prinzip der Gleichbehandlung aus Art. 12 berufen und eine Leistung der Sozialhilfe unter den selben Voraussetzungen beanspruchen wie die Angehörigen des jeweiligen Mitgliedstaats.
33
EuGH, Rs. C-456/02, Michel Trojani/Centre public d’aide sociale de Bruxelles, 7.9.2004. 34 EuGH, Rs. C-456/02, Michel Trojani/Centre public d’aide sociale de Bruxelles, 7.9.2004, Rn. 37 ff.
4. Kap.: Gleichheitsschutz als Kern der Unionsbürgerschaft
569
F. Rechtssache Zhu und Chen Um das Zusammenspiel von Art. 18 und der Aufenthaltsrichtlinie 90/364 ging es auch in dem Urteil vom 19. Oktober 2004 zu der Rechtssache Zhu und Chen35. Die chinesische Staatsangehörige Chen war schwanger in das Vereinigte Königreich eingereist und begab sich daraufhin nach Belfast, wo ihre Tochter Catherine geboren wurde. Nach dem zu dieser Zeit maßgeblichen irischen Recht erwarb jede auf der Insel Irland geborene Person die irische Staatsbürgerschaft, wenn sie nicht die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes beanspruchen konnte. Catherine wurde daher ein irischer Pass ausgestellt. Unstreitig hatte ihre Mutter den Aufenthalt auf der Insel Irland dazu bestimmt, dem Kind mit der Geburt die irische Staatsangehörigkeit zu verschaffen und ihr den Erwerb des Rechts zu ermöglichen, gegebenenfalls mit dem Kind im Vereinigten Königreich zu verbleiben. Die britischen Behörden weigerten sich jedoch in der Folgezeit, der Mutter und ihrem Kind eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Der EuGH entschied, dass sich Catherine als Unionsbürgerin auf das in Art. 18 verankerte Recht zum Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten berufen könne. Die in dieser Vorschrift in Bezug genommenen Beschränkungen und Bedingungen stünden einem solchen Recht vorliegend nicht entgegen, insbesondere verfüge das Kind über die nach der Richtlinie 90/364 erforderliche Krankenversicherung sowie über ausreichende Existenzmittel. Dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, das Verhalten von Frau Chen stelle einen Versuch dar, missbräuchlich gemeinschaftsrechtliche Normen geltend zu machen, folgte der Gerichtshof nicht. Zur Begründung wird insbesondere darauf verwiesen, dass die Festlegung der Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit nach Völkerrecht der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten unterliegt. Es sei daher nicht die Sache eines Mitgliedstaats, die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats dadurch zu beschränken, dass er zusätzliche Voraussetzungen für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung der Grundfreiheiten verlange.36 Im Ergebnis wird Catherine als minderjährigem Kind mit ausreichenden Existenzmitteln und Krankenversicherung daher aufgrund von Art. 18 und der Richtlinie 90/364 das Recht zuerkannt, sich für unbestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufzuhalten. Um dieses Recht nicht seiner praktischen Wirksamkeit zu berauben, soll darüber hinaus dem 35
EuGH, Rs. C-200/02, Kunqian Catherine Zhu, Man Lavette Chen/Secretary of State for the Home Department, 19.10.2004. 36 EuGH, Rs. C-200/02, Kunqian Catherine Zhu, Man Lavette Chen/Secretary of State for the Home Department, 19.10.2004, Rn. 39.
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
Elternteil des minderjährigen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Kleinkindalter, der für dieses Kind tatsächlich sorgt, ebenfalls ein entsprechendes Aufenthaltsrecht nach denselben Vorschriften zustehen.
G. Rechtssache Bidar Fragen der Unionsbürgerschaft stehen auch im Mittelpunkt der Entscheidung zur Rechtssache Bidar37 vom 15. März 2005. Dabei ging es um Beihilfen zu den Unterhaltskosten für Studenten in England und Wales, die dort vom Staat als günstige Studentendarlehen gewährt werden. Voraussetzung für die Gewährung ist insbesondere, dass der Student im Vereinigten Königreich auf Dauer ansässig ist. Allerdings ist es Angehörigen anderer Mitgliedstaaten als Student nicht möglich, den Status einer im Vereinigten Königreich ansässigen Person zu erlangen. Hiergegen wendete sich der französische Staatsangehörige Bidar als Kläger des Ausgangsverfahrens. Er hatte 1998 seine Mutter in das Vereinigte Königreich begleitet, die sich dort einer medizinischen Behandlung unterziehen musste. In der Folgezeit lebte er bei seiner Großmutter und absolvierte die letzten drei Jahre einer weiterführenden Schule. Im Jahr 2001 begann er ein Wirtschaftsstudium am University College London und beantragte hierfür finanzielle Unterstützung zur Deckung seiner Unterhaltskosten in Form eines Studentendarlehens. Dieser Antrag wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass er im Vereinigten Königreich nicht auf Dauer ansässig sei. Der EuGH hatte zunächst darüber zu entscheiden, ob Beihilfen für Studenten zur Deckung ihrer Unterhaltskosten in den Anwendungsbereich des Vertrages gemäß Art. 12 Abs. 1 fallen, der unbeschadet besonderer Bestimmungen des EG-Vertrages in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet. Nach Auffassung des Gerichtshofes ist das Diskriminierungsverbot des Art. 12 für die Bestimmung des Anwendungsbereiches des Vertrages in Verbindung mit den Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft zu sehen.38 Zu den gemeinschaftsrechtlich geregelten Situationen, auf die sich das Diskriminierungsverbot erstreckt, zählen danach insbesondere solche, die die Ausübung der Grundfreiheiten betreffen oder die Ausübung der durch Art. 18 verliehenen Freiheit, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Diese Rechte, so der EuGH, seien den Unionsbürgern durch den Vertrag verliehen und gelten damit auch für Studenten als Unionsbür37
EuGH, Rs. C-209/03, The Queen, auf Antrag von: Dany Bidar/London Borough of Ealing, Secretary of State for Education and Skills, 15.3.2005. 38 Vgl. EuGH, Rs. C-209/03, The Queen, auf Antrag von: Dany Bidar/London Borough of Ealing, Secretary of State for Education and Skills, 15.3.2005, Rn. 31 ff.
4. Kap.: Gleichheitsschutz als Kern der Unionsbürgerschaft
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ger, die sich zu Studienzwecken in einen anderen Mitgliedstaat begeben. Vorliegend habe Herr Bidar als Angehöriger eines Mitgliedstaates, der sich in einen anderen Mitgliedstaat begebe und dort eine weiterführende Schule besuche, von der durch Art. 18 garantierten Bewegungsfreiheit Gebrauch gemacht. Zudem sei ihm während dieser Zeit des Wohnens, des Schulbesuchs und Schulabschlusses nicht entgegen gehalten worden, über keine ausreichenden Mittel oder keine Krankenversicherung zu verfügen, so dass er aufgrund von Art. 18 und der Richtlinie 90/364 ein Aufenthaltsrecht genieße. Nachdem der EU-Vertrag die Unionsbürgerschaft und ein Kapitel zur allgemeinen und beruflichen Bildung eingeführt habe, sei daher nunmehr davon auszugehen, dass die Situation eines Unionsbürgers, der sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, im Hinblick auf den Erhalt einer Studentenbeihilfe zur Deckung der Unterhaltskosten in den Anwendungsbereich des Vertrages falle.39 Ist nach diesen Ausführungen des Gerichtshofs das Diskriminierungsverbot des Art. 12 anwendbar, so stellt sich die Frage nach einer möglichen Rechtfertigung der Ungleichbehandlung von britischen Staatsangehörigen und den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten bei einem Studium im Vereinigten Königreich. Insoweit greift der EuGH zunächst auf die geläufige Formulierung zurück, wonach eine solche Differenzierung nur gerechtfertigt sei, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck steht, der mit der nationalen Rechtsvorschrift zulässigerweise verfolgt wird.40 Als zulässige Erwägung wird dabei das Bestreben der Mitgliedstaaten hervorgehoben, dafür Sorge zu tragen, dass die Gewährung von Beihilfen zur Deckung des Unterhalts von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten nicht zu einer übermäßigen Belastung gerate, die Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben könnte, die dieser Staat gewähren kann. Daher sei es legitim, eine solche Beihilfe nur denjenigen Studenten zu gewähren, die nachweisen können, sich bis zu einem gewissen Grad in die Gesellschaft dieses Staats integriert zu haben.41 Hierfür stelle das in den fraglichen britischen Regelungen enthaltene Erfordernis eines zuvor bestehenden Wohnsitzes von drei Jahren im Vereinigten Königreich ein mögliches Kriterium dar. Hingegen sei es mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 12 unvereinbar, dass die Beihilfegewährung unter der zusätzlichen 39 EuGH, Rs. C-209/03, The Queen, auf Antrag von: Dany Bidar/London Borough of Ealing, Secretary of State for Education and Skills, 15.3.2005, Rn. 42. 40 EuGH, Rs. C-209/03, The Queen, auf Antrag von: Dany Bidar/London Borough of Ealing, Secretary of State for Education and Skills, 15.3.2005, Rn. 54 m. w. N. 41 EuGH, Rs. C-209/03, The Queen, auf Antrag von: Dany Bidar/London Borough of Ealing, Secretary of State for Education and Skills, 15.3.2005, Rn. 57.
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
Voraussetzung dauernder Ansässigkeit im Vereinigten Königreich stehe und der damit gekennzeichnete Status von Studenten anderer Mitgliedstaaten nicht erlangt werden könne. Eine solche Regelung hindere einen Studenten, der sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhält und dort einen großen Teil seiner Ausbildung an weiterführenden Schulen erhalten und eine tatsächliche Verbindung zu der Gesellschaft des Staates hergestellt hat, daran, unter den gleichen Voraussetzungen zu studieren wie ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats.42 5. Kapitel
Reichweite der Bürgergleichheit Aus der dargestellten Rechtsprechung des EuGH resultiert ein spezifisches Verständnis des in Art. 18 Abs. 1 enthaltenen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist dieses Bürgerrecht nur „vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ gewährleistet. Wollte man die Formulierung dahin gehend verstehen, dass bereits das Bestehen des Aufenthaltsrechts von (primär- oder sekundärrechtlichen) Bestimmungen außerhalb des Art. 18 abhängig sei, so käme es unverändert allein auf die bereits vor Einführung der Unionsbürgerschaft vorhandenen Voraussetzungen und damit maßgeblich auf die bereits erwähnten Aufenthaltsrichtlinien 90/364, 90/365 und 93/96 mit ihrem Erfordernis der ausreichenden Existenzmittel an. Die derart lediglich deklaratorisch zu verstehende Regelung des Art. 18 würde dann ein über die Freizügigkeit der Unionsbürger vermitteltes gleichheitsrechtlich fundiertes Teilhaberecht an sozialen Leistungen nicht begründen können. An der Berechtigung einer solchen zurückgenommenen Interpretation des bürgerschaftlichen Aufenthaltsrechts sind indes Zweifel angebracht. Insbesondere würde damit der Regelung in Art. 18 ein eigenständiger rechtlicher Gehalt gänzlich versagt bleiben, obwohl die Einführung der Unionsbürgerschaft unter anderem gerade darauf abzielte, das bestehende Aufenthalts- und Freizügigkeitsrecht aus seiner engen funktionalen Verklammerung mit wirtschaftlichen Tätigkeiten des „Marktbürgers“ herauszulösen und darüber hinausgreifend zu einem primärrechtlich garantierten politischen Grundrecht des Unionsbürgers zu gelangen.43 Für eine solche Auffas42
EuGH, Rs. C-209/03, The Queen, auf Antrag von: Dany Bidar/London Borough of Ealing, Secretary of State for Education and Skills, 15.3.2005, Rn. 62. 43 Vgl. Haag, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EU-/EG-Vertrag, Art. 18, Rn. 1 ff.
5. Kap.: Reichweite der Bürgergleichheit
573
sung spricht auch die Systematik der Vorschrift, deren Absatz 2 das Bewegungs- und Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 als bestehend voraussetzt. Schließlich deutet die herausgehobene Stellung vor den Politiken der Gemeinschaft und zu Beginn der materiellen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft auf eine weite Auslegung hin, die über ein lediglich deklaratorisches Verständnis hinausgeht. Im Ergebnis ist Art. 18 daher als Grundlage eines originären und allgemeinen Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu verstehen, das unmittelbare Wirkung für den Unionsbürger entfaltet.44 Die gleichheitsrechtlichen Wirkungen dieser Auffassung, das zeigt etwa die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Grzelczyk, sind beträchtlich. Ein originäres Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers hat gleichheitsrechtlich den Anspruch auf diskriminierungsfreie Teilhabe an sozialen Leistungen des betreffenden Mitgliedstaates zur Folge, soweit sich der Unionsbürger rechtmäßig in dessen Staatsgebiet aufhält. Besteht das Aufenthaltsrecht demnach also unmittelbar kraft des Status als Unionsbürger, so ist es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, die Ausübung dieses Rechts in gemeinschaftsrechtskonformer Weise zu begrenzen oder zu beenden und damit die Vorbehaltsklausel des Art. 18 zu aktivieren. Solange der betreffende Mitgliedstaat von dieser Möglichkeit jedoch keinen Gebrauch macht, kann der Unionsbürger das mit seinem Aufenthaltsrecht verbundene Grundrecht auf Gleichbehandlung geltend machen und verlangen, nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert und von Leistungen der nationalen Sozialsysteme ausgeschlossen zu werden. Die Weigerung des belgischen Sozialamts, dem Studenten Grzelczyk ebenso wie belgischen Studenten in vergleichbarer Lage im letzten Studienjahr das Existenzminimum zu gewähren, stellt daher einen Verstoß gegen den gleichheitsrechtlichen Kern der Unionsbürgerschaft dar und ist mit den Art. 12, 17 und 18 des EG-Vertrages unvereinbar. Wie die bisherigen Überlegungen gezeigt haben, bestehen enge Verbindungen von Unionsbürgerschaft und Gleichheitssatz. Dem Konzept Unionsbürgerschaft ist, um eine Formulierung von Reich aufzunehmen, der „Stachel“ eines allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes immanent.45 Mit zunehmender individueller Erfahrbarkeit gemeinschaftsrechtlich gewährleisteter Gleichheit wiederum verdichtet sich das einigende Band der Unionsbürger untereinander und wird der europarechtliche Gehalt des bürgerschaftlichen Status weiter angereichert. Im Konzept der Unionsbürgerschaft nimmt grundrechtlicher Gleichheitsschutz somit einen zentralen Rang ein. Diesen hervorragenden Stellenwert des Gleichheitsrechts hat die Untersuchung der 44 45
So auch Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 18, Rn. 9. Reich, Unionsbürgerschaft – Metapher oder Quelle von Rechten?, S. 43.
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
EuGH-Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft deutlich unterstrichen. Allerdings zeigt die Praxis des Gerichtshofs darüber hinaus, dass die Auseinandersetzung mit Fragen der Bürgergleichheit in Europa bislang überwiegend unter einem speziellen, inhaltlich beschränkten Gesichtspunkt erfolgt ist: Im Vordergrund steht einstweilen die Erstreckung des Diskriminierungsverbotes aus Art. 12 auf Personen und Gebiete, die hiervon bislang ausgenommen waren. So wird unter Heranziehung der Regeln über die Unionsbürgerschaft insbesondere versucht, den Anwendungsbereich des Vertrages (und damit den Geltungsbereich des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit) auszudehnen. Auch die einschlägige europarechtliche Literatur ist vielfach von dem Bestreben gekennzeichnet, dem rechtlichen Gehalt des Unionsbürgerstatus durch eine Ausdehnung der Reichweite des Grundsatzes der Bürgergleichbehandlung hinreichend Rechnung zu tragen.46 Hingegen ist bislang weitgehend unbeachtet geblieben, dass die größere Reichweite des Diskriminierungsverbots aus Art. 12 notwendig von einer dogmatischen Vertiefung des Gleichheitsgrundrechts insgesamt flankiert werden muss – Bürgergleichheit in Europa wird neben der Reichweite des Gleichheitssatzes maßgeblich von dem durch das Grundrecht vermittelten gleichheitsrechtlichen Schutzgehalt bestimmt. Eine solche vertiefte Auseinandersetzung mit diesen dogmatischen Konturen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes stand im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung sollen nachfolgend zusammengefasst werden.
6. Kapitel
Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse: Dimensionen des Gleichheitsschutzes Im gemeinschaftlichen Primärrecht wird der Gleichheitsschutz durch den allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz und zahlreiche besondere Diskriminierungsverbote konstituiert. Letztere werden vom EuGH lediglich als besondere Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes angesehen. Nicht zuletzt die Vielzahl gleichheitsrechtlicher Normierungen hat jedoch zu einer Form des gleichheitsrechtlichen Partikularismus geführt, der in der Rechtsprechung des EuGH und im Schrifttum zahlreiche bislang ungeklärte Probleme aufwirft. Im Zentrum stehen dabei Fragen nach der Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen. Zum Kristallisationspunkt effektiven und transparenten Grundrechtsschutzes wird so die Bestimmung des Rechtfertigungsmaßstabs, an dem die Zulässigkeit hoheitlicher Differenzierungen 46
Vgl. Reich, Bürgerrechte in der Europäischen Union, S. 427 f.
6. Kap.: Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse
575
zu messen ist. In diesem Zusammenhang sieht sich die Rechtsprechung des EuGH indes Kritik ausgesetzt, es mangele der grundrechtsbezogenen Rechtfertigungsprüfung an hinreichender dogmatischer Tiefe.47 Die geringe strukturelle Durchdringung der Gleichheitsproblematik ist auch damit zu erklären, dass sich die rechtliche Diskussion bislang überwiegend auf einzelne gleichheitsrechtliche Normierungen konzentriert hat, wodurch die Frage nach einer allgemeinen Systematik weitgehend aus dem Blickfeld geraten ist. Gerade das Gleichheitsgrundrecht bedarf jedoch in besonderem Maße der dogmatischen Präzisierung: Das große Gewicht wertender Gesichtspunkte, die in die Gleichheitsprüfung einfließen, macht insbesondere die Konkretisierung der Prüfungsanforderungen unerlässlich. Zutreffend wird insofern davon ausgegangen, dass Kennzeichen effektiven Grundrechtsschutzes ein möglichst lückenloses, ausdifferenziertes Schutzkonzept ist.48 Im Interesse eines effektivierten Grundrechtsschutzes erscheint daher die sorgfältige Konkretisierung jener Maßstäbe unerlässlich, die über die Rechtmäßigkeit der Ungleichbehandlung von Unionsbürgern und damit über den Schutzgehalt der Bürgergleichheit in Europa entscheiden.
A. Das Spektrum gerichtlicher Kontrolldichte Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH dürfen als vergleichbar erachtete Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, sofern nicht eine Differenzierung „objektiv gerechtfertigt“ ist. Das Spektrum gerichtlicher Kontrolldichte umfasst dabei als zentrale Inhalte eine Willkürkontrolle ebenso wie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Für die Überprüfung von Maßnahmen am gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz gilt es zu berücksichtigen, dass gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit auf das Verhältnis des Gewichts der Verschiedenbehandlung zu den Differenzierungsgründen Bezug nimmt. Vieles spricht dafür, von einer einheitlichen, abgestuften Rechtfertigungsskala für Ungleichbehandlungen auszugehen und im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz den Kern der Gleichheitsprüfung zu sehen, wobei der Gesichtspunkt der Geeignetheit das vergleichsbezogene Willkürverbot in sich aufnimmt. Durch die graduelle Abstufung der Anforderungen erlangt der Gerichtshof hinreichende Flexibilität im Umgang mit Ungleichbehandlungen, die wegen ihres unterschiedlichen Ausmaßes und Gewichts eine differenzierte Berücksichtigung erfordern. Die darin zum Ausdruck kommende Notwendigkeit, unterschiedlich schwerwiegende Ungleichbehandlungen nach einer variablen Prüfungsintensität zu beurteilen, entspricht auch der rechtsvergleichend zu konstatierenden verfassungsrechtlichen Ent47 48
Vgl. Pauly, EuR 1998, 242, 254 ff. Pauly, EuR 1998, 242, 254.
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5. Teil: Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz
wicklung in den USA und in Deutschland im Hinblick auf eine zunehmende Gradualisierung des gleichheitsrechtlichen Prüfungsmaßstabs.
B. Drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes Dem Spektrum gerichtlicher Kontrolldichte korrespondiert auf Seiten des ungleich behandelten Unionsbürgers die durch den Gleichheitssatz gewährte Schutzintensität. In theoretischer wie praktischer Hinsicht von überragender Bedeutung ist dabei die europarechtlich bislang kaum behandelte Frage, von welchen Umständen die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen abhängig ist. Die Antwort hierauf ergibt sich meines Erachtens aus dem Zusammenspiel primärrechtlicher Vorgaben mit dem gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz, das drei Dimensionen des Gleichheitsschutzes sichtbar werden lässt. Nach der hier vertretenen Konzeption kann die gebotene gleichheitsrechtliche Kontrolldichte im Einzelfall hinreichend konkretisiert werden, indem ein Rückgriff auf die unterschiedlichen Dimensionen des Gleichheitsschutzes erfolgt. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei jener Dreiklang, der als europäische Grundrechtstrias bezeichnet wird und sich aus den Elementen Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit zusammensetzt. Darauf aufbauend können drei Dimensionen unterschieden werden, die für die Bestimmung der Rechtfertigungsanforderungen von fundamentaler Wichtigkeit sind. Die erste, personenbezogene Dimension betrifft den Zusammenhang von Menschenwürde und Gleichheit und die hieraus resultierenden Konsequenzen für die Gleichheitsprüfung. Gegenstand der zweiten Dimension sind Erkenntnisse, die sich aus dem Verhältnis von Freiheit und Gleichheit ergeben. In einer dritten Dimension schließlich geht es um Fragen komplexer Gleichheit, bei denen primärrechtliche Spezifika eine maßgebliche Bedeutung besitzen, ohne dass es hierbei auf den gleichheitsrechtlichen Bezug zu Menschenwürdegarantie oder Freiheitsrechten ankäme: In den Vordergrund rückt damit der kontextualistische Schwerpunkt des Gleichheitsgrundrechts. I. Menschenwürde und Gleichheit Die erste Dimension des Gleichheitsschutzes betrifft den Zusammenhang von Menschenwürde und Gleichheit. Die Achtung der Menschenwürde als Ausdruck des Respekts vor der Person gehört auch auf europäischer Ebene zum elementaren Bestand der geschützten Grundrechte. Der personale, vom Menschenwürdegehalt umfasste Kern des grundrechtlichen Gleichheitssatzes stellt gewisse fundamentale Rechte des Einzelnen unter erhöhten Schutz vor Ungleichbehandlungen, die sich hierauf auszuwirken drohen. Diesen
6. Kap.: Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse
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personalen Basisrechten ist gemeinsam, dass sie unabdingbare Voraussetzungen für die Berücksichtigung des Menschen in seiner Personalität darstellen und wegen der jedem Menschen zukommenden Würde allen gleichermaßen zugesprochen werden müssen. Ungleichbehandlungen, die sich auf solche Rechte auswirken, betreffen einen besonders eng mit dem Personstatus verknüpften Rechtsbereich, der aufgrund der Menschenwürdegarantie unter erhöhtem Schutz steht. Inhaltlich beschränken sich die personalen Basisrechte nicht auf einen speziellen Teilbereich des Menschenwürdegehalts. Zu ihnen gehören insbesondere die Achtung und der Schutz menschlicher Existenz in ihrer körperlichen Integrität sowie die Wahrung personaler Identität, aber auch die Gewährleistung elementarer Rechtsgleichheit in der Zugehörigkeit zur Rechtsgemeinschaft. Insoweit verdeutlicht namentlich das Recht auf respektierte Privatsphäre die allen Basisrechten gemeinsame Tendenz, an Differenzierungen umso höhere Anforderungen zu richten, je mehr sich diese auf den grundlegenden Status des Betroffenen als Mensch, als Person und als Persönlichkeit auswirken. Hingegen ist eine weniger intensive Rechtfertigungsprüfung dort geboten, wo sich Ungleichbehandlungen vom personalen Kern des Gleichheitsgrundrechts entfernen und vorrangig auf das gemeinschaftserhebliche, stärker veränderbare Umfeld der Person abzielen. Eine striktere Prüfung gleichheitsrechtlicher Verhältnismäßigkeit ist weiterhin dort geboten, wo der aus der Menschenwürde abzuleitende Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit berührt ist. Die erhöhten Anforderungen der Gleichheitsprüfung resultieren hier nicht aus den Wirkungen, die an ein Unterscheidungsmerkmal geknüpft werden, sondern aus der Eigenart des Differenzierungskriteriums selbst. Im Vordergrund steht die Frage, in welchem Maße der Einzelne dazu in der Lage ist, auf die Verwirklichung des Differenzierungskriteriums Einfluss zu nehmen. Dabei erfährt der Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit graduell abgestufte Einschränkungen in jenem Maße, in dem sich das in Rede stehende Unterscheidungsmerkmal der individuellen Beeinflussbarkeit des ungleich behandelten Personenkreises entzieht. Eine besonders intensive Rechtfertigungsprüfung ist demnach vorzunehmen, wenn Ungleichbehandlungen auf Differenzierungskriterien basieren, die vollständig außerhalb der persönlichen Beeinflussbarkeit stehen. So verhält es sich etwa bei den Kriterien Geschlecht, Rasse, Behinderung oder Abstammung, der Geburt als unehelichem Kind, nationaler, ethnischer oder sozialer Herkunft, der Muttersprache und bestimmten unabänderlichen körperlichen Eigenschaften. Auslöser eines intensivierten Gleichheitsschutzes sind weiterhin Ungleichbehandlungen, die auf individuell schwer beeinflussbaren, identitätsbezogenen Differenzierungsmerkmalen beruhen. Ist ein Kriterium relevant für die Ausbildung und Wahrung persönlicher Identität, so muss der Grad der individuellen Beeinflussbarkeit insoweit als gering
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angesehen werden. Entsprechende Merkmale sind nur unter großen Schwierigkeiten oder Kosten abänderbar, so etwa die Konfessionszugehörigkeit und religiöse oder politische Anschauungen. Rechtliche Ungleichbehandlungen werden hier jeweils an Eigenschaften geknüpft, die insofern persönlichkeitsbildend sind, als sie zentrale Konstitutionsbedingungen der menschlichen Identität betreffen. Da mit einer entsprechenden Benachteiligung wesentliche schwer veränderliche Elemente der Persönlichkeit in Frage gestellt werden, sind Differenzierungen einem erhöhten Rechtfertigungsdruck zu unterwerfen. Im Gegensatz zu den unbeeinflussbaren bzw. schwer beeinflussbaren Merkmalen ist eine lediglich zurückhaltende Gleichheitsprüfung dort geboten, wo Differenzierungskriterien weitgehend zur individuellen Disposition stehen und keinen unmittelbaren Identitätsbezug aufweisen. Aufgrund der vorhandenen Ausweichmöglichkeiten ist dem Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit in diesen Fällen ausreichend Rechnung getragen, so dass für erhöhte Rechtfertigungsanforderungen – jedenfalls vor dem Hintergrund der personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes – kein Anlass besteht. Das Erfordernis einer intensiveren Rechtfertigungsprüfung kann sich somit nur aufgrund der beiden anderen Dimensionen des Gleichheitsschutzes ergeben. II. Freiheit und Gleichheit Die zweite Dimension grundrechtlichen Gleichheitsschutzes bezieht sich auf das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. Ungleichbehandlungen stellen vielfach zugleich eine ungleiche Beschränkung von Freiheitsrechten dar. In diesen Fällen ist die ungleiche Freiheitsbeeinträchtigung ein aufschlussreicher Gesichtspunkt für die Bestimmung des Gewichts der Verschiedenbehandlung und somit im Rahmen der gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsprüfung zu berücksichtigen. Die Rechtsprechung des EuGH ist diesbezüglich bislang noch wenig eindeutig, bringt jedoch die Einschränkung von Freiheitsrechten und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zunehmend auch mit der Prüfung des Gleichheitssatzes in Verbindung. Allerdings wird in der Rechtsprechung ebenso wie in der Literatur vielfach übersehen, dass Ungleichbehandlungen nicht bereits dann gleichheitsrechtlich erhöhtes Gewicht aufweisen, wenn beide Vergleichspartner in derselben Weise in Freiheitsrechten berührt sind. Allein die unterschiedliche Betroffenheit in Freiheitsrechten erhöht das rechtfertigungsbedürftige Gewicht von Ungleichbehandlungen. „Unterschiedliche Betroffenheit“ meint in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich jene Fälle, in denen eine Differenzierung zur Freiheitsbeeinträchtigung des Benachteiligten führt und im Hinblick auf den vergleichbaren Sachverhalt keinerlei Berührung freiheitsrechtlich geschützter Positionen zur Folge hat. Erfasst werden darüber hinaus auch solche Un-
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gleichbehandlungen, die beide Vergleichspartner in Freiheitsrechten betreffen, dabei aber in unterschiedlich intensiver Weise auf die geschützte Position zugreifen: Insoweit hängt das Gewicht von Ungleichbehandlungen (und damit die Intensität der gebotenen Rechtfertigungsanforderungen) maßgeblich vom unterschiedlichen Auswirkungsgrad der fraglichen Differenzierung auf grundrechtlich geschützte Freiheiten ab. III. Komplexe Gleichheit In einer dritten Dimension des Gleichheitsschutzes geht es schließlich um Fragen komplexer Gleichheit. Wie die rechtsvergleichende Untersuchung der Verfassungsrechtsprechung zum Gleichheitssatz gezeigt hat, lassen sich insofern dogmatische Grundstrukturen erkennen, die für einen ausdifferenzierten Gleichheitsschutz kennzeichnend sind und die Intensität der Rechtfertigungsprüfung maßgeblich beeinflussen. Bestimmendes Kennzeichen des hierdurch charakterisierten Gleichheitsschutzes sind bereichsspezifische und kriterienspezifische Anhebungen oder Absenkungen der Prüfungsintensität, ohne dass es hierfür auf gleichheitsrechtliche Bezüge zu Menschenwürdegarantie oder Freiheitsrechten ankäme, mit der die Komplexität des Gleichheitssatzes eingeschränkt wird. In den Vordergrund rückt somit der kontextualistische Schwerpunkt verfassungsrechtlicher Gleichheitsinterpretation. Aufgrund der besonderen Normstruktur des Gleichheitssatzes, der keinen sachlich umgrenzten Normbereich aufweist, ist eine vielfältige, zum Teil hochspezialisierte Aufgliederung der Gleichheitsprüfung in zahlreiche bereichs- und kriterienspezifische Elemente zu konstatieren. 1. Bereichsspezifischer Gleichheitsschutz Der bereichsspezifische Gehalt des Gleichheitssatzes ist bislang nur selten in grundsätzlicher Weise reflektiert worden. Hierin mag eine wesentliche Ursache dafür liegen, dass bereichsspezifische Erwägungen zum Gleichheitsgrundrecht noch nicht näher mit der von Walzer entwickelten Theorie komplexer Gleichheit in Verbindung gebracht worden sind. Erst in jüngerer Zeit hat Somek auf diesen bisher nicht erforschten Zusammenhang hingewiesen.49 Ein Ziel der vorliegenden Arbeit war es, den in Rede stehenden Grenzbereich von juristischer Grundrechtsdogmatik und politischer Philosophie näher zu beleuchten und für die verfassungsrechtliche Gleichheitsprüfung fruchtbar zu machen. Den Ausgangspunkt der Theorie komplexer Gleichheit bildet eine Form der Egalitarismuskritik, die auf die Unterschätzung von Komplexität durch 49
Somek, Rationalität und Diskriminierung, S. 33.
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egalitaristische Gerechtigkeitskonzeptionen zielt. Wie die Untersuchung gezeigt hat, verschärft der Umstand, dass immer weitere Hinsichten der Gleichheit als die entscheidende Hinsicht postuliert werden, die Dringlichkeit der Frage nach dem Grund für eine solche ausschließlich monistische Sichtweise. Dabei korrespondiert der verbreiteten Reduktion auf ein einzelnes, allein maßgebliches Equalisandum zumeist die Reduktion der Distributionsprinzipien, wie etwa der Rawls’schen Beschränkung auf zwei Gerechtigkeitsgrundsätze und der damit verbundenen Abmilderung des Gleichheitsprinzips zum Differenzprinzip. In dieser zweifachen moralphilosophischen Selbstbescheidung liegt der egalitarismuskritische Ausgangspunkt begründet, den man als eigentlichen Keim der Konzeption komplexer Gleichheit begreifen kann. Beide reduktionistischen Vorgehensweisen der politischen Philosophie sind als unzulässige Vereinfachungen der Wirklichkeit abzulehnen. Einem pauschalisierten Gerechtigkeitsbegriff steht insbesondere die große Vielfalt zu verteilender Güter und Lasten mit unterschiedlichsten Bedeutungen entgegen. Bereits die Spannbreite der distribuierbaren Güter und Lasten lässt die Hoffnung auf ein einzelnes überzeugendes, für alle Bereiche Gültigkeit beanspruchendes „master principle“ gering erscheinen. Vielmehr basiert die Verteilung von Gütern und Lasten in unterschiedlichen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten auf einer Vielzahl von Gerechtigkeitsaspekten, die sich in unterschiedlichen Distributionsprinzipien wie dem Verdienstprinzip, dem Bedürfnisprinzip oder dem Marktprinzip Geltung verschaffen. Diese Erwägungen legen den Schluss nahe, in Abkehr von der traditionell verbreiteten Suche nach einem einheitlichen Set von Prinzipien distributiver Gerechtigkeit den Fokus stärker auf die Komplexität unserer Gerechtigkeitskultur zu richten und damit jenem Vorwurf der Realitätsblindheit zu entgehen, wie er vielen Vertretern des egalitären Liberalismus zu Recht entgegengebracht wird. Um der dargestellten Kritik an die Adresse „einfacher“ egalitärer Theorien zu entgehen, bedarf es einer über die beschriebenen Reduktionen hinausgreifende Gerechtigkeitskonzeption. Diese hat sich an der heterogenen Vielfalt der zu verteilenden Güter auszurichten und den Stellenwert des Gleichheitspostulats neu zu bestimmen. Entsprechend dem hier verfolgten Zweck galt es vorliegend, eine solche Konzeption nur insoweit zu entfalten, als sie der genaueren Konturierung grundrechtlichen Gleichheitsschutzes dient. Im Zentrum komplexer Gleichheit steht zunächst die Forderung nach einer Trennung verschiedener Distributionssphären unter Wahrung ihrer eigentümlichen Verteilungsregeln. Die Konzeption komplexer Gleichheit zielt nicht auf eine großflächig angelegte Bekämpfung materieller, physischer oder psychischer Unterschiede. Vielmehr werden Ungleichheiten in einzelnen Bereichen solange für tolerabel erachtet, als die unterlegene Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre (etwa im Bereich des Marktes)
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nicht zwangsläufig die Unterlegenheit in anderen Bereichen (etwa im Bereich politischer Einflussnahme) nach sich zieht. Komplexe Gleichheit zielt auf eine Gesellschaft, in der Menschen mit mehr Geld, mehr Macht oder sonstigen Überlegenheiten daran gehindert sind, allein deswegen systematisch die Vorherrschaft auf andere Bereiche auszudehnen. Nicht die Einebnung von Ungleichheiten bildet so den Kern der Gerechtigkeitstheorie, sondern die Bekämpfung des Missbrauchs von Ungleichheiten. Gerechtigkeitsethisches Ziel ist es daher, die Integrität unterschiedlicher Bereiche mit eigentümlichen Verteilungskriterien zu schützen und so die Chance des Einzelnen zu gewährleisten, ungeachtet seiner Benachteiligungen in bestimmten Bereichen gleichwohl in der einen oder anderen Sphäre zu etwas zu gelangen. a) Lokale Kriterien der Gerechtigkeit Wie die Untersuchung gezeigt hat, kann die Erforschung der sozialen Bedeutung eines Guts zwar nähere Aufschlüsse, entgegen der Auffassung Walzers jedoch keine hinreichenden Erkenntnisse über dessen eigentümliche, angemessene Verteilungskriterien geben. Im Rahmen der gleichheitsrechtlichen Dimension komplexer Gleichheit sind diese lokalen Kriterien distributiver Gerechtigkeit dennoch zu berücksichtigen, wenn auch in einem gegenüber der Konzeption Walzers abgeschwächten Sinne. Im Verlauf der Arbeit ist die besondere Nähe von grundrechtlichem Gleichheitssatz und allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen mehrfach deutlich geworden. Insoweit wurde wiederholt vor einer gerechtigkeitstheoretischen Überstrapazierung des Gleichheitspostulats gewarnt. Allerdings haben die Untersuchungen zur bereichsspezifischen Entfaltung des Gleichheitssatzes gezeigt, dass lokale Kriterien der Gerechtigkeit für die Gleichheitsprüfung notwendig an Bedeutung gewinnen. Gerade darin liegt der eigentliche Sinn von Bereichsspezifik: durch die Berücksichtigung lokaler Kriterien den Eigenarten des jeweiligen Bereichs ausreichend Rechnung zu tragen und die vorgefundenen Besonderheiten im Rahmen der Gleichheitskontrolle sachgerecht aufnehmen zu können. Die verfassungsrechtliche Berücksichtigung solcher gerechtigkeitsbezogener Erwägungen muss gleichwohl besonders zurückhaltend erfolgen und bedarf genauer Überprüfung, will sie sich nicht dem Vorwurf des moralischen Intuitionismus ausgesetzt sehen. Lokale Kriterien können lediglich zu einer gleichheitsrechtlich deutlich zurückgenommenen Kontrolle der überprüften Maßnahme führen. Im Mittelpunkt der Rechtfertigungsprüfung steht die Frage nach der Exklusion des fraglichen Differenzierungskriteriums aus dem Kreis jener lokalen Kriterien der Gerechtigkeit, die als bereichsspezifische Unterscheidungskriterien gemeinschaftlich anerkannt sind. Die Exklusion führt jedoch nicht automatisch zum Verdikt der
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Verfassungswidrigkeit, sondern bewirkt vielmehr eine Erhöhung der gleichheitsrechtlichen Prüfungsintensität und damit eine striktere Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der entscheidende Grund hierfür liegt in der Verwendung eines „suspekten“ Differenzierungsmerkmals, dessen Abweichung von etablierten Unterscheidungsstandards innerhalb eines Bereiches eine intensivere Kontrolle gebietet. Lokalen Kriterien der Gerechtigkeit kommt somit insbesondere eine gleichheitsrechtliche Filterfunktion zu, die der negativen Auslese bestimmter Differenzierungskriterien zum Zwecke genauerer Nachprüfung dient. Dabei bedarf der verfassungsrechtliche Rückgriff auf lokale Kriterien konkretisierender Anhaltspunkte, die jene bereichsspezifischen Besonderheiten gleichheitsrechtlich operationalisierbar machen. Mit ihrer Berücksichtigung wird das Gleichheitsgrundrecht nicht für allgemeine Erwägungen der Gerechtigkeit geöffnet, vielmehr hat es die Besonderheiten und die Bedeutung der dem betroffenen Lebensbereich innewohnenden Ordnung sachgerecht aufzunehmen. Dem Verfassungsgericht kommt daher nicht die Aufgabe der rechtsschöpferischen Gewinnung von Gerechtigkeitskriterien zu, sondern es steht vor der Aufgabe, das positive Recht und die vorhandenen Ordnungssysteme auf darin enthaltene lokale Kriterien zu untersuchen. Die Untersuchung hat insoweit exemplarisch Kriterien des primären und des sekundären Gemeinschaftsrechts aufgezeigt, an denen sich die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit von Differenzierungen auszurichten hat. Die gleichheitsrechtliche Aussagekraft des Gebots systemimmanenter Folgerichtigkeit darf dabei nicht überspannt werden: Nicht jede Systemwidrigkeit führt zum Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Der Gesetzgeber ist an die von ihm selbst zuvor aufgestellten lokalen Kriterien, also grundlegende Wertungen und Ordnungsprinzipien in einem von ihm geregelten Bereich, nicht streng gebunden. Ihm muss vielmehr die Möglichkeit belassen werden, von seinen vormaligen Wertungen abzurücken und fehlende Konsequenz oder mangelnde Folgerichtigkeit durch überwiegende anderweitige Gründe zu rechtfertigen. Die Systemwidrigkeit einer Regelung ist daher nicht generell, sondern nur im Falle des Widerspruchs mit grundlegenden bereichsspezifischen Ordnungsprinzipien gleichheitsrechtlich von Bedeutung; zudem führt sie selbst dann nicht automatisch zur Annahme eines Gleichheitsverstoßes, sondern begründet lediglich erhöhte Anforderungen an die Rechtfertigung von Differenzierungen bei vergleichbaren Sachverhalten.
b) Kontrolldichte bei Sphärenüberschreitung Ihrem Grundgedanken nach ist die Theorie komplexer Gleichheit darauf ausgerichtet, die Überschreitung einzelner Sphären durch die freie Konver-
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tierbarkeit von Gütern zu verhindern. Komplexe Gleichheit zielt mit der Brechung von sphären-transzendierender Dominanz zugleich auf die Zurückdrängung irrelevanter distributionsbezogener Gründe. Aus der Perspektive des Gleichheitsrechts wird dieser „relevant reasons approach“ generalisiert, das heißt über den Bereich der verteilenden Gerechtigkeit auf sämtliche Anwendungsbereiche des Gleichheitssatzes ausgedehnt. Im Vordergrund steht demnach nicht mehr allein die Kontrolle irrelevanter Verteilungskriterien, sondern darüber hinausgreifend die allgemeinere Frage nach der gleichheitsrechtlichen Zulässigkeit des gewählten Unterscheidungskriteriums. Hierfür kommt es, wie die Untersuchung zur gleichheitsrechtlichen Verhältnismäßigkeit gezeigt hat, maßgeblich darauf an, ob Ausmaß und Gewicht der Verschiedenbehandlung und die zur Rechtfertigung herangezogenen Umstände in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Das Gewicht einer Ungleichbehandlung indes ist dann besonders groß, wenn der fraglichen Differenzierung eine Überschreitung einzelner Sphären zu Grunde liegt, die nach der Theorie komplexer Gleichheit voneinander getrennt sind. Nach der hier vertretenen Auffassung stellt die Überschreitung der Sphären einen ausreichenden Grund für die Anhebung der gleichheitsrechtlichen Kontrolldichte dar. Eine Entscheidung über die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der Maßnahme mit dem Gleichheitssatz ist damit noch nicht getroffen. Gleichwohl ist jedenfalls Misstrauen im Sinne erhöhter Prüfungsintensität angebracht, wenn Ungleichbehandlungen zu einer Vermischung von Sphären mit jeweils eigentümlichen, voneinander abweichenden Verteilungsstrukturen führen. Der beliebigen Konvertierbarkeit von Gütern gilt es demnach Grenzen zu setzen, um die Integrität einzelner gesellschaftlicher Bereiche zu bewahren. Zwar wäre es, wie Swift ausführt, „naive not to acknowledge that conversion processes are many and myriad“50. Allerdings kann dieser empirische Befund nicht die normative Zielrichtung einer Eindämmung unzulässiger Konvertierungen in Frage stellen. In der Tat: „While it would be utopian to assume that all conversions are preventable, there remains every reason to prevent those that are so.“51 Der angesprochene empirische Befund unterstreicht jedenfalls die große Bedeutung einer Konkretisierung der als unzulässig oder zumindest als „verdächtig“ erachteten Sphärenüberschreitungen. Dabei bleiben Interpretationen der Reichweite ausdifferenzierter Bereiche notwendige und wertungsbedürftige Bestandteile einer Theorie komplexer Gleichheit. Deutet die gleichheitsrechtliche Überprüfung einer Differenzierung darauf hin, dass es sich um eine verdächtige Sphärenüberschreitung handeln könnte, so bedarf es des Rückbezuges auf gemeinschaftlich geteilte 50 51
Swift, The Sociology of Complex Equality, S. 263. Swift, The Sociology of Complex Equality, S. 265.
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Wertvorstellungen. Diese finden ihren europarechtlich relevanten Ausdruck im gemeinschaftlichen Primärrecht und Sekundärrecht sowie den gemeinsamen Wertvorstellungen in den Rechtordnungen der Mitgliedstaaten. Grenzen von verbreitet herangezogenen Bereichen wie etwa der Ökonomie, der Politik, des Rechts, der Familie, der Bildung, der Religion oder der Freizeit sind demnach gleichheitsrechtlich in flexibler Weise in Abhängigkeit vom Stand des Gemeinschaftsrechts zu bestimmen. Im Verlauf der Untersuchung sind solche gemeinschaftlich akzeptierten Grenzziehungen konkretisiert und belegt worden. Dabei standen Trennungen zwischen dem Bereich des Marktes und anderen Bereichen zwar lediglich exemplarisch, aber nicht zufällig im Vordergrund der Betrachtungen. So ist deutlich geworden, dass die Sphäre des Geldes in besonderem Maße expansive Tendenzen aufweist und es gerade deshalb gilt, gegenüber Tendenzen zur Verdinglichung des sozialen Status, des politischen Einflusses usw. besonders misstrauisch zu sein und danach zu fragen, ob hierdurch gemeinschaftlich akzeptierte Grenzziehungen missachtet oder außer Kraft gesetzt werden. Die große Zahl der im gemeinschaftlichen Primär- und Sekundärrecht sowie in den gemeinsamen Wertvorstellungen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommenden Grenzen bietet dabei ein dichtes Geflecht von Bereichskonkretisierungen, das gleichheitsrechtlich nutzbar gemacht werden kann und zu Anhebungen der Prüfungsintensität führt. Zwar sind Überlegungen zu strengeren Anforderungen an die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen, denen eine Überschreitung voneinander abgegrenzter Bereiche zu Grunde liegt, in der Dogmatik des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes bislang kaum angestellt worden. Allerdings ist die Integrität einzelner Sphären auch unter anderen, nicht speziell grundrechtsbezogenen Gesichtspunkten von Bedeutung und jedenfalls in dieser Hinsicht Gegenstand europarechtlicher Untersuchungen. So unterstreichen bereits kompetenzielle Unterschiede im Rahmen der einzelnen Gemeinschaftspolitiken die Notwendigkeit, sorgfältige Trennungen zwischen den primärrechtlich verankerten Politikbereichen vorzunehmen. Insoweit kann die komplexe Dimension des Gleichheitsschutzes auf entsprechende Arbeiten zu europarechtlichen Abgrenzungsfragen zurückgreifen und darauf aufbauen.
c) Komplexität des Entscheidungsprozesses Neben Anhebungen der Kontrolldichte bei Sphärenüberschreitungen hängen bereichsspezifische Modifikationen gleichheitsrechtlicher Prüfungsintensität weiterhin von der Komplexität des in Rede stehenden Entscheidungsprozesses ab. Den Organen der Gemeinschaft ist ein weiter Ermes-
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sensspielraum in Politikbereichen einzuräumen, in denen besonders komplexe Abwägungen vorzunehmen sind. Insofern gilt es zwei Elemente zu unterscheiden. Zum einen geht es um die Eigenarten der Sachmaterie selbst: Ist diese von hochkomplexer Natur und daher in besonderem Maße interpretationsfähig und wertungsbedürftig, so steht den politischen Akteuren ein verhältnismäßig großer Gestaltungsspielraum zur Verfügung. Zum anderen gilt es den Umfang der eingeräumten Regelungsbefugnisse zu beachten. Insoweit wird den Organen der Gemeinschaft ein weites Ermessen grundsätzlich in jenen Politikbereichen zugestanden, in denen ihnen aufgrund des hohen Grades an Vergemeinschaftung umfangreiche Regelungsbefugnisse zustehen. Treffen beide Elemente zusammen, geht es also um eine besonders komplizierte Materie, für die umfangreiche Regelungsbefugnisse bestehen, so hat dies gleichheitsrechtlich eine deutliche bereichsspezifische Absenkung der Prüfungsintensität zur Folge. 2. Kriterienspezifischer Gleichheitsschutz Kriterienspezifische Elemente verfassungsgerichtlichen Gleichheitsschutzes sind im Verlauf der Arbeit vielfach angeklungen. Das betrifft insbesondere die konventionelle Anbindung kriterienspezifischer Erwägungen an einen gleichheitsrechtlich zu berücksichtigenden Diskriminierungsverdacht. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass durch den Prozess der Kriterienselektion bestimmte Klassifikationen ausgefiltert werden, die über den moralischen Status einer Person im Hinblick auf die Verteilung von Vor- und Nachteilen regelmäßig keine Auskunft geben sollen. Die Anknüpfung an solche Merkmale, etwa Geschlecht und Rasse, begründet daher den Verdacht diskriminierenden Handelns und wird aus diesem Grunde einer strikten Gleichheitskontrolle unterzogen. Die Grundstrukturen gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion sind bislang dennoch kaum näher untersucht worden. So ist weitgehend ungeklärt, nach welchen Gesichtspunkten die Aufnahme einzelner Klassifikationen in die Liste der als diskriminierungsverdächtig erachteten Merkmale erfolgt. Einen aktuellen Ausdruck der anhaltenden Tendenz zur Ergänzung dieser Liste bildet Art. 21 der EU-Grundrechtscharta, der sich an Art. 12 und 13 EGV, an Art. 14 EMRK sowie an Art. 11 des Übereinkommens über Menschenrechte und Biomedizin in Bezug auf das genetische Erbe anlehnt. Die Bestimmung enthält eine Vielzahl von Klassifikationen, die bestimmte Gruppen unter einen besonderen Diskriminierungsschutz stellen – erfasst werden insbesondere Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Staatsangehörigkeit, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit,
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des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Wie die Untersuchung in diesem Zusammenhang gezeigt hat, ist die mit den einzelnen Klassifikationen verbundene Intensität des gewährten Diskriminierungsschutzes durchaus unterschiedlich. Zudem wohnt der listenmäßigen Erfassung unzulässiger Differenzierungskriterien die Tendenz inne, einen über diese etablierten Klassifikationen hinausgreifenden (als verfassungskräftig erachteten) Aussagegehalt auch hinsichtlich sonstiger Klassifikationen zu entwickeln. So geht etwa das Bundesverfassungsgericht von einer Anhebung der Rechtfertigungsanforderungen aus, soweit sich das Differenzierungskriterium den ausdrücklich in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmalen „annähert“. Ein ähnliches Vorgehen ist bei der Analyse des Umgangs des U.S. Supreme Court mit den besonderen Diskriminierungsverboten zum Vorschein gekommen, wonach sich das Gericht bei der Bestimmung der Rechtfertigungsintensität maßgeblich an echten oder vermeintlichen strukturellen Gemeinsamkeiten der bereits anerkannten Diskriminierungsverbote orientiert und diese mit den Eigenarten des in Frage stehenden Unterscheidungsmerkmals vergleicht. Auch für das Gleichheitsgrundrecht des europäischen Primärrechts wird in der europarechtlichen Literatur zum Teil von einer Intensivierung der Prüfungsanforderungen ausgegangen, sofern sich das überprüfte Unterscheidungsmerkmal den bereits etablierten verdächtigen Klassifikationen annähert. Bei der Suche nach den wesentlichen Übereinstimmungen bereits etablierter suspekter Differenzierungskriterien ist deutlich geworden, dass die mittels des Differenzierungskriteriums unterschiedenen Gruppen allgemein danach systematisiert werden können, wie hoch die wahrnehmbare Stabilität der sie voneinander abgrenzenden Merkmale (ihr Distinktionsgrad) ist. Je höher diese wahrnehmbare Stabilität der unterscheidenden Merkmale und damit der gruppenbezogene Distinktionsgrad, desto eher wird den betroffenen Gruppen ein besonders intensiver gleichheitsrechtlicher Schutz vor Ungleichbehandlungen zuerkannt. Als für den Gleichheitsschutz bedeutsame Faktoren des Distinktionsgrades hat die Untersuchung die Unveränderlichkeit sowie die Auffälligkeit von gruppenbezogenen Eigenschaften ergeben. Ungleichbehandlungen von Gruppen mit unveränderlichen, auffälligen Merkmalen wird dabei traditionell ein besonders großes Gewicht zugemessen, da diese Gruppen generell als besonders verletzlich und schutzbedürftig gelten. Hierin besteht zugleich die Scheidelinie zur personenbezogenen Dimension des Gleichheitsschutzes, bei der der Aspekt der Veränderlichkeit, wie dargestellt, ebenfalls eine Rolle spielt. Die am Würdeprinzip orientierte Anhebung der Rechtfertigungsanforderungen bei fehlender individueller Beeinflussbarkeit basiert jedoch auf einem individualbezogenen, die Person in
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den Mittelpunkt stellenden Begründungszusammenhang. Im Gegensatz dazu verweisen die aufgezeigten kriterienspezifischen Überlegungen auf gruppenorientierte Ansätze, wie sie auch in aktuellen Entwicklungen des völkerrechtlichen Diskriminierungsverbots zunehmend aufscheinen: „Moderner völkerrechtlicher Diskriminierungsschutz entwickelt – ohne seine Individualbezogenheit zu verlieren – zunehmend eine gewisse ‚Gruppendimension‘. Es geht um besonders verletzliche (‚vulnerable‘) Gruppen, solche, die besonders anfällig für die Verletzung ihrer Menschenrechte sind.“52 Vor diesem Hintergrund wurde untersucht, ob Gruppen mit unveränderlichen, auffälligen Merkmalen wirklich generell verletzlicher als veränderliche, unauffällige Gruppen sind. In dem Falle würde das Ausmaß des Distinktionsgrades von Gruppen zugleich Auskunft über den Grad ihrer Schutzbedürftigkeit geben. Bei genauerer Betrachtung dieser allgemein verbreiteten Grundannahme gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion ist deutlich geworden, dass insoweit traditionell vorrangig auf den Nutzen des ausweichenden Verhaltens abgestellt, das heißt die Vermeidung nachteiliger Wirkungen von Ungleichbehandlungen in den Blick genommen wird. Hingegen bleiben die Formen und Kosten ausweichenden Verhaltens – allgemeiner formuliert: die Folgen adaptiven Verhaltens für die Zugehörigen zu Gruppen mit niedrigem Distinktionsgrad – bislang weitgehend unbeachtet. Eine differenzierte Folgenbetrachtung adaptiven Verhaltens hat jedoch über den positiven Effekt der Vermeidung nachteiliger Wirkungen hinauszugehen. Hinzutreten muss die Untersuchung der bislang wenig beachteten weiteren Implikationen adaptiven, gleichheitsrechtlich relevanten Verhaltens. Damit rückt der von Yoshino konstatierte „assimilationist bias“ grundrechtlichen Gleichheitsschutzes in den Mittelpunkt53, der in unterschiedlichen Formen der Anpassung zum Ausdruck kommt. Wer sich mit einer benachteiligenden Ungleichbehandlung konfrontiert sieht, kann deren Auswirkungen durch Anpassung zu entgehen suchen. In Betracht kommen insoweit insbesondere drei Formen der Anpassung: Konvertieren, Verbergen und Abschwächen. Nur Gruppen mit veränderlichen und unauffälligen Merkmalen sind zu den beiden weitreichendsten Formen der Anpassung – Konvertieren und Verbergen – in der Lage. Nur solche Gruppen vermögen sich durch entsprechendes Ausweichen von den Wirkungen benachteiligender Ungleichbehandlungen zu befreien. Diese zunächst vermeintlich unspektakuläre deskriptive Aussage über die hohe Anpassungsfähigkeit von Gruppen mit niedrigem Distinktionsgrad droht jedoch unter dem Eindruck des Gleichheitsgrundrechts den von Yoshino analysierten „assimilationist bias“ zu erhalten. Die 52 Mohr, Aktuelle Konturen des völkerrechtlichen Diskriminierungsverbotes, S. 275. 53 Vgl. Yoshino, 108 Yale Law Journal 1998, 485 ff.
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damit bezeichnete Tendenz, faktische Anpassungsfähigkeit von Gruppen im Wege generell abgesenkter gleichheitsrechtlicher Prüfungsanforderungen zu einem nachhaltigen Assimilierungsdruck zu verdichten, kann nur im Vergleich mit der fehlenden Anpassungsfähigkeit unveränderlicher, auffälliger Gruppen gerechtfertigt werden. Soll die generelle Absenkung der Kontrolldichte bei Gruppen mit theoretischer Anpassungsfähigkeit aufrecht zu halten sein, so kann dies allein über die Annahme eines generell geringeren Gewichts benachteiligender Ungleichbehandlungen von Gruppen mit veränderlichen und unauffälligen Merkmalen begründet werden. Die Untersuchung hat indes gezeigt, dass es zwar durchaus gruppenbezogene Argumente für einen erhöhten Gleichheitsschutz bei unveränderlichen Differenzierungskriterien gibt, die sich insbesondere auf fehlende Ausweichfähigkeiten bei Diskriminierungen und auf mangelnde Identifikationsmöglichkeiten mit den ungleich Behandelten beziehen. Es ist jedoch zugleich deutlich geworden, dass nicht von einem generell geringeren Gewicht von Differenzierungen aufgrund veränderlicher Kriterien ausgegangen werden kann. Insofern gilt es die zumeist kaum thematisierte Stellung veränderlicher Gruppen zu berücksichtigen. Deren Situation ist zum einen dadurch gekennzeichnet, dass die grundsätzlich vorhandenen Ausweichfähigkeiten vor diskriminierenden Wirkungen einer Maßnahme oftmals mit erheblichen Folgen – den Kosten des Konvertierens – verbunden sind. Darüber hinaus konnte ein weiterer Ansatz entkräftet werden, der die Mitglieder unveränderlicher Gruppen als Destinäre eines besonders intensiven Gleichheitsschutzes ausmacht und dabei auf mangelnde Identifikationsmöglichkeiten rekurriert. Insofern ist deutlich geworden, dass die Veränderlichkeit von Merkmalen auch unter diesem Aspekt keine prinzipiellen Anhaltspunkte für eine privilegierte Stellung der Merkmalsinhaber bietet, sondern vielfach sogar besondere Diskriminierungsgefahren begründet. Generelle Aussagen über eine gleichheitsrechtlich relevante geringere Verletzlichkeit veränderlicher Gruppen sind daher zurückzuweisen. Auch im Hinblick auf die Kosten des Verbergens und den Faktor Auffälligkeit hat die Untersuchung ergeben, welche gravierenden Folgen die Adaption durch Verbergen für Angehörige von unauffälligen Gruppen bewirken kann. Während die Konversion zur effektiven Änderung des fraglichen Merkmales selbst führt, intendiert das Verbergen zwar im Ansatz nicht mehr, als bestimmte Kennzeichen unauffällig zu stellen, deren soziale Wahrnehmbarkeit zu verhindern. Die Kosten des Verbergens sind gleichwohl in vielen Fällen alles andere als gering und können ein Ausmaß erreichen, das bei unvoreingenommener Betrachtung geeignet ist, die Annahme von der generellen gleichheitsrechtlichen Privilegierung auffälliger Gruppen zu erschüttern. So birgt die adaptive Verhaltensform des Verbergens für den An-
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passenden beträchtliche Gefahren hinsichtlich der Entfremdung von seinen Bezugsgruppen. Neben dem Effekt der Entfremdung droht das Verbergen von Unterschieden zudem die Inanspruchnahme von Hilfe zu vereiteln, wenn diese nur in öffentlich wahrnehmbarer Weise angeboten wird und das verborgene Charakteristikum die Hilfsbedürftigkeit des Merkmalsträgers begründet. Darüber hinaus besteht vielfach ein enger Zusammenhang zwischen dem Verbergen von Eigenschaften und dem Problem der Selbstverleugnung. Schließlich ist jener individuelle Energieaufwand zu berücksichtigen, durch den das Verbergen von Unterschieden erst ermöglicht wird und der notwendige Voraussetzung des Anpassungsprozesses in vielen Bereichen ist. Auch hinsichtlich des Faktors Auffälligkeit sind demnach Generalisierungen abzulehnen, denen die Annahme eines allgemein geringeren Gewichts von benachteiligenden Ungleichbehandlungen gegenüber solchen Gruppen zu Grunde liegt, die das Unterscheidungsmerkmal durch Verbergen sozial unauffällig stellen können. Die generelle Absenkung des Gleichheitsschutzes für veränderliche und unauffällige Gruppen, das hat die Untersuchung gezeigt, ist demnach gleichheitsrechtlich nicht aufrecht zu halten. Zwar ist die Grundannahme, derzufolge veränderliche und unauffällige Gruppen Diskriminierungen durch Flucht in den Mainstream grundsätzlich ausweichen können, im Ansatz zutreffend. Dieser Umstand indes, so ist deutlich geworden, reicht angesichts der weitreichenden Folgen des Anpassens nicht zur Begründung eines generell abgesenkten gleichheitsrechtlichen Gewichts der Benachteiligung solcher Gruppen aus. Über das Ausmaß der gebotenen Schutzintensität vermag der gruppenbezogene Distinktionsgrad somit keine allgemeingültigen und allein maßgeblichen Aufschlüsse zu geben. Angesichts der damit konstatierten mangelnden gleichheitsrechtlichen Relevanz des gruppenbezogenen Distinktionsgrades erscheint zunächst problematisch, in wie weit sich überhaupt allgemeine Aussagen zum Prozess der Kriterienselektion treffen lassen. In diesem Zusammenhang hat die nähere Untersuchung der Ursachen für die verbreitete Berücksichtigung der Faktoren Unveränderlichkeit und Auffälligkeit deren dogmatische Bedeutung im Rahmen des Gleichheitssatzes hervortreten lassen. Danach kommt den untersuchten Faktoren eine wichtige „gatekeeping function“ zu, die darin besteht, den Kreis der unter erhöhtem Gleichheitsschutz stehenden Gruppen zu begrenzen und die Aufnahme in diesen Kreis zu reglementieren. Die Ausschlusskriterien (Veränderlichkeit, Unauffälligkeit) haben sich dabei aus Analogien zwischen bereits anerkannten, besonders geschützten Gruppen entwickelt. Indem somit Analogien zu gemeinsamen Merkmalen verfassungsrechtlich etablierter, diskriminierungsgefährdeter Gruppen über den Gleichheitsschutz anderer Gruppen entscheiden, wird jedoch der kriterien-
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spezifische Gehalt des Gleichheitssatzes unzulässig verkürzt. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn man die unzulängliche gleichheitsrechtliche Aussagekraft der aus wenigen Gruppen herausgelesenen Gemeinsamkeiten berücksichtigt. So spricht nichts dafür, dass etwa Benachteiligungen aufgrund der Rasse oder des Geschlechts weniger streng zu beurteilen wären, wenn die beiden Merkmale im Zuge technologischer Entwicklungen veränderbar gestellt würden. Die Suche nach den Gründen für diese Annahme führte zum eigentlichen Ursprung gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion. Im Verlauf der Arbeit ist deutlich geworden, dass gleichheitsrechtliche Kriterienselektion nur als historischer Prozess angemessen verstanden werden kann. Differenzierungskriterien mögen unveränderlich oder veränderlich, auffällig oder unauffällig oder in sonstiger Weise theoretisch zu unterscheiden sein – es ist gleichwohl nicht zu verkennen, dass die Kriterienspezifik des Gleichheitssatzes zu allererst das Resultat historisch auftretender Diskriminierungslagen darstellt. Historisch geht es dabei um Reaktionen auf ein hohes soziales Diskriminierungsrisiko bestimmter Gruppen durch intensivierten Gleichheitsschutz. Der Grund für die strenge Rechtfertigungsprüfung besteht darin, Diskriminierungen dort entgegen zu wirken, wo angesichts der geschichtlichen Situation einer Gruppe besonders große Diskriminierungsgefahren bestehen. Allein hierin, nicht jedoch in fragwürdigen Analogien zu übereinstimmenden Merkmalen anderer Gruppen, liegt der Ursprung gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion. Im Mittelpunkt des kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes, das hat die vorliegende Untersuchung gezeigt, stehen demnach Erwägungen zu besonderen Gefährdungslagen bestimmter Gruppen. Es ist dieses besondere Diskriminierungsrisiko, das die Erhöhung der Schutzintensität begründet. Wird demgegenüber der verbreiteten Auffassung gefolgt und vorrangig auf Faktoren wie Unveränderlichkeit oder Auffälligkeit abgestellt, so bestimmt sich der Einlass neuer Gruppen in jenen Kreis, der gleichheitsrechtlich erhöhte Schutzintensität genießt, nicht mehr nach spezifischer Gefährdungslage und besonderem Diskriminierungsrisiko der betreffenden Gruppen, sondern allein nach abstrakter Ähnlichkeit zu den anerkannten paradigmatischen Fällen wie Geschlecht und Rasse. Als Folge dieses Vorgehens kommt es zu einer zunehmenden Entpolitisierung kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes. Die dargestellte Entwicklung hat bedeutende Auswirkungen auf die Interpretation des Gleichheitsgrundrechts. So führt die Ablösung des Gleichheitsschutzes von historisch-politischen Erwägungen zu einem Verlust an Sensibilität gegenüber besonders gefährdeten Gruppen. In dem Maße, in dem diese Sensibilität verloren geht, wird der grundrechtliche Gleichheitsschutz auf einen symmetrischen, gegenüber Gruppen indifferenten Ansatz reduziert. Dabei basiert der symmetrische Ansatz kriterienspezifischen
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Gleichheitsschutzes auf der Annahme, dass die durch ein Differenzierungskriterium unterschiedenen Gruppen generell derselben Schutzintensität unterliegen. Demgegenüber verfährt ein Ansatz, der auf besonders gefährdete Gruppen abstellt, asymmetrisch. Im Rahmen des Gleichheitssatzes ist keine der beiden Interpretationsmöglichkeiten prinzipiell auszuschließen. Vielmehr bewegt sich der kriterienspezifische Gehalt des Gleichheitsgrundrechts zwischen diesen beiden Polen und ist damit teilweise von weitgehender Indifferenz gegenüber den unterschiedenen Gruppen geprägt, zum Teil hingegen stärker gruppenorientiert. Im Verlauf der Arbeit ist dies am Merkmalskatalog des Art. 21 der Grundrechtscharta exemplarisch verdeutlicht worden. Ist der kriterienspezifische Gleichheitsschutz nach dem Dargestellten also sowohl in asymmetrischer als auch in symmetrischer Form denkbar, so hat die Untersuchung dennoch Gefahren aufgezeigt, die aus dem angesprochenen Sensibilitätsverlust gegenüber besonders gefährdeten Gruppen und aus der damit verbundenen Zurückdrängung asymmetrischen Gleichheitsschutzes resultieren. Werden Differenzierungskriterien aus ihrem historisch-sozialen Kontext herausgelöst und von den zu Grunde liegenden besonderen Diskriminierungslagen isoliert, so droht ihre Verwendung selbst unsachlich zu werden. Den historisch-sozialen Hintergrund verdächtiger Differenzierungskriterien gilt es daher in die gleichheitsrechtlichen Erwägungen einzubeziehen. Nur auf diese Weise kann einer begründungstheoretischen Aushöhlung des kriterienspezifischen Gleichheitsschutzes begegnet werden: Nachdem die Untersuchung belegt hat, dass die verbreitete Akzentuierung der Faktoren Veränderlichkeit und Unauffälligkeit in ihrer Bedeutung zu relativieren ist, stellt sich die Frage nach dem Ursprung gleichheitsrechtlicher Kriterienselektion umso dringender. Sie findet ihren letzten Bezugspunkt in der Erkenntnis spezifischer Diskriminierungsrisiken und besonderer Gefährdungspotentiale. Treffen benachteiligende Ungleichbehandlungen auf Personen, die zu solchen mit einem besonders hohen Diskriminierungsrisiko behafteten, gefährdeten Gruppen gehören, so ist der Differenzierung besonderes Gewicht beizumessen und daher gleichheitsrechtlich eine erhöhte Schutzintensität geboten.
C. Schlussbemerkung Die Entwicklung einer europäischen Unionsbürgerschaft steht in enger Wechselbezüglichkeit zur Entfaltung des europarechtlichen Gleichheitsschutzes. Wie die Gleichheitsrechtsprechung des EuGH verdeutlicht, können sich zunehmend nicht allein wirtschaftlich tätige „Marktbürger“ wie Arbeitnehmer, Dienstleistende oder Niedergelassene auf das Diskriminie-
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rungsverbot des Art. 12 berufen, sondern darüber hinaus all jene, denen der Status als Unionsbürger zukommt. Der damit verbundenen Erstreckung des grundrechtlichen Gleichheitssatzes auf Personen und Gebiete, die hiervon bislang ausgenommen waren, ist im Grundsatz zuzustimmen. Allerdings steht die materielle Entfaltung des Gleichheitssatzes noch am Anfang. In Zukunft wird daher neben der Reichweite des Gleichheitsgrundrechts zunehmend auch der gleichheitsrechtliche Schutzgehalt zur Geltung zu bringen sein. Insofern ist zu berücksichtigen, dass differenzierter Gleichheitsschutz wesentlich durch primärrechtliche Spezifika bestimmt wird, die die Gleichheit der Bürger weiter ausformen. Bürgergleichheit in Europa verweist auf drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, die auf gleichheitsspezifische Bezüge von Menschenwürde und Freiheit sowie auf kontextspezifische „komplexe Gleichheit“ gerichtet sind. Erst das Zusammenspiel dieser Dimensionen erschließt das vollständige Spektrum des gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsschutzes – sie alle liefern Maßstäbe für die primärrechtliche Einschätzung des Gewichts von Ungleichbehandlungen und somit für die Intensität der Rechtfertigungsanforderungen. Die grundrechtliche Gleichheitsprüfung hat daher in jedem Einzelfall den Bezug zu den drei vorgestellten Dimensionen in Betracht zu ziehen und jeweils zu prüfen, welche Erkenntnisse sich aus personenbezogenen, freiheitsorientierten, bereichs- und kriterienspezifischen Erwägungen für die gleichheitsrechtlich gebotene Schutzintensität ergeben. Erst ein solches Vorgehen bietet nähere Aufschlüsse über die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit von Differenzierungen und damit über den Grad des grundrechtlich vermittelten Gleichheitsschutzes.
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Stichwortverzeichnis Affirmative Action 217 ff. Allgemeiner Gleichheitssatz 93 ff. – Europäisches Gemeinschaftsrecht 303 ff. Amendment 14 91 f., 95 ff. – Bindungswirkung 98 ff. – Exegetische Ausweitung 96 ff. – Originäre und derivative Leistungsrechte 133 f. – Originärer Normgehalt 95 f. Anerkennungsprinzip 422 Anpassung 517 ff. – Auffälligkeit 525 ff. – Folgen der Anpassung 519 ff. – Konvertieren, Verbergen, Abschwächen 517 ff. – Kosten des Konvertierens 520 ff. – Kosten des Verbergens 525 ff. – Unveränderlichkeit 520 ff. Antinomien 283 ff. – Assimilation oder Antisubordination 284 ff. – Intentionen oder Effekte 290 ff. – Klassifikationen oder Klassen 287 ff. Antisubordination 284 ff. Art. 3 Abs. 1 GG 93 ff. – Annäherung von Merkmalen an die des Art. 3 Abs. 3 GG 112 f. – Bindungswirkung 95 – Freiheitsgrundrechte 113 f. – Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes 108 ff., 135 ff. – Kontextbezug 106 ff. – Leistungsrechte 132 ff. – „Neue Formel“ 104 ff.
– Personen- und sachverhaltsbezogene Differenzierungen 109 ff. – Sozialstaatsprinzip 114 ff. – Systemgerechtigkeit 107 f. – Verhaltensbezogene Merkmale 111 f. Art. 12 EGV 299 f. Art. 13 EGV 304 f. Art. 34 EGV 431 ff. – Intensität der Rechtfertigungsanforderungen 437 ff. – Landwirtschaftlicher Bereich 431 f. – Persönlicher Schutzbereich 434 ff. – Sachlicher Schutzbereich 432 f. Art. 141 EGV 444 ff. – Differenzierungskriterium Geschlecht 452 ff. – Intensität der Rechtfertigungsanforderungen 456 ff. – Persönlicher Schutzbereich 451 f. – Sachlicher Schutzbereich 447 ff. – Überblick 445 ff. Art. 14 EMRK 305 f. Articles of Confederation 74 f. Assimilation 284 ff. Assimilationist bias 519 ff. Asymmetrischer Gleichheitsschutz 533 ff. Auffälligkeit 525 ff. Aufklärung 40 ff., 71 ff. Basistest 295 f. Begriff der Gleichheit 28 f. Bereichsspezifischer Gleichheitsschutz 137 f., 430 ff., 467 ff. Besondere Diskriminierungsverbote 139 ff.
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Stichwortverzeichnis
– Bundesrepublik Deutschland 139 f., 141 ff. – Europäisches Gemeinschaftsrecht 299 ff. – Vereinigte Staaten von Amerika 140, 166 ff. Besondere Diskriminierungsverbote, Art. 3 Abs. 3 GG 146 ff. – Abstammung 149 f. – Geschlecht 149 – Glaube 155 f. – Heimat und Herkunft 151 ff. – Inhalt der Differenzierungsverbote 146 ff. – Kausalität und Finalität 147 – Rasse 150 – Religiöse oder politische Anschauungen 155 f. – Sprache 151 – Verbot der Benachteiligung Behinderter 156 ff. – Verständnis als Anknüpfungsverbot 147 f. Bill of Rights (1791) 81 f. Blockierte Tauschgeschäfte 503 ff. Bürgergleichheit und europarechtlicher Gleichheitsschutz 556 ff. Dimensionen des Gleichheitsschutzes 376 ff. – Freiheit und Gleichheit 417 ff. – Komplexe Gleichheit 428 ff. – Menschenwürde und Gleichheit 379 ff. Dominanz und Tyrannei 497 f. Dreiklassenwahlrecht 60 f. Due process-Klausel 99 f. Effekte 290 ff. Egalitarismuskritik 408 ff. – Entscheidungen und Umstände 412 ff. – Mitgefühl und Mitleid 410 ff.
– Selbstverschulden und „kalkuliertes Pech“ 409 f. – Unterschätzung von Komplexität 472 ff. Eingriff in Freiheitsrechte 423 ff. Entgeltgleichheit 444 ff. Entscheidungen und Umstände 412 ff. Equal protection-Klausel 91 f., 95 ff., 117 ff., 166 ff. Faktische Gleichheit 246 ff. Federalist Papers 79, 81 Französische Revolution 41 ff. Frauenförderung 214 ff. Freiheit 417 ff. – Eingriff 423 ff. – Verhältnis von Freiheit und Gleichheit 418 ff. Frühkonstitutionalismus 49 ff. Fundamentale Rechte 183 ff. Gemeinschaftsgrundrechte 313 ff. – Grundrechtscharta 317 f. – Methodik der Ermittlung 316 – Rechtserkenntnisquellen 315 f. – Rechtsquelle 314 f. Gerechtigkeit 357 ff., 474 ff. Geschlecht 452 ff. Gesundheitsversorgung 480 ff. Gleichberechtigung, Art. 3 Abs. 2 GG 141 ff., 214 ff. – Besondere Verfassungsbestimmungen 143 f. – Biologische Unterschiede 142 – „Funktionale Unterschiede“ 144 f. – Positive Maßnahmen 145 f., 214 ff. – Striktes Differenzierungsverbot 142 Gleicher Zugang zu öffentlichen Ämtern 161 ff. Gleichheit und Gerechtigkeit 357 ff. – Egalitarismuskritik 359 ff. – Komplexität 360 f. – „Nebenprodukteinwand“ 359 – Vorwurf der Inhumanität 360
Stichwortverzeichnis Gleichheit und Verantwortung 389 ff. Gleichheitsprüfung im Einzelnen 324 ff. – Rechtfertigung 344 ff. – Ungleichbehandlung 341 ff. – Vergleichbarkeit 326 ff. Gleichheitsrechtlicher Partikularismus 307 ff. Gleichstellung unehelicher Kinder 160 f., 206 ff. Gradualisierung des Prüfungsmaßstabes 108 ff., 135 ff., 352, 355 Grenzen der Genauigkeit 413 ff. Grundstruktur des Gleichheitssatzes 321 ff. – Ähnlichkeit, Gleichheit, Identität 323 f. – Gleichheit als Beziehung 322 – Tertium comparationis 322 f. Güter 477 ff. – Gerechte Verteilung 479 ff. – Gesundheitsversorgung 480 ff. – Soziale Bedeutung 477 ff. Historische Wurzeln des Gleichheitssatzes 40 ff. – Deutsche Verfassungsgeschichte 40 ff. – US-amerikanische Verfassungsgeschichte 70 ff. Identität 401 ff. Individuelle Beeinflussbarkeit 389 ff. – Beeinflussbare Differenzierungsmerkmale 407 ff. – Empirie und Normativität 393 ff. – Schwer beeinflussbare Differenzierungsmerkmale 402 ff. – Unbeeinflussbare Differenzierungsmerkmale 396 ff. Intentionen 290 ff. Intermediate Scrutiny Test 191 ff. – Anwendungsbereich 194 ff. – Fallgruppen 196 ff.
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Geschlecht 196 ff. Inhaltsbestimmung 191 ff. Kriterien 195 f. Substantielle Zweck-Mittel-Relation 193 f. – Unehelichkeit 206 ff. – Wichtiges öffentliches Ziel 192 f. Judicial self-restraint 255 ff. Klassen 287 ff. Klassifikationen 287 ff. Komplexe Gleichheit 428 ff. – Bereichsspezifik des Gleichheitssatzes 467 ff. – Bereichsspezifik und Kriterienselektion 430 ff. – Differenzierter Gleichheitsschutz 429 ff. – Dominanz und Tyrannei 497 f. – Komplexität des Entscheidungsprozesses 507 ff. – Kontextualismus und Unbestimmtheit 428 ff. – Kontrolldichte bei Sphärenüberschreitung 496 ff. – Kriterienselektion 509 ff. – Lokale Kriterien der Gerechtigkeit 477 ff. – Operationalisierbarkeit 498 ff. – Politische Philosophie komplexer Gleichheit 472 ff. Konvertieren 520 ff. Kriteriendifferenzierung 137 f., 466 f. Kriterienselektion 509 ff. – als historischer Prozess 531 ff. – Analogische Verkürzung 530 ff. – Faktoren des Distinktionsgrades 513 ff. – Grundstrukturen 512 ff. – Kriterienselektiver Diskriminierungsschutz 510 ff. – Kriterienspezifik und Diskriminierung 509 f.
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Stichwortverzeichnis
– Symmetrischer/asymmetrischer Gleichheitsschutz 533 ff. Legislative Gestaltungsfreiheit 255 ff. Lokale Kriterien der Gerechtigkeit 477 ff. – des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts 488 ff. – Gleichheitsrechtliche Filterfunktion 485 ff. Maßstäbe der Gleichheitsprüfung 101 ff., 141 ff., 376 ff. Menschenwürde 379 ff. – als europäisches Grundrecht 379 f. – Gehalt 380 f. – Personale Basisrechte 384 ff. – Personalität und Würde 381 ff. Methode der Verfassungsauslegung 263 ff. Minderheitenschutz 173 f., 273 ff. Missouri Compromise 83 ff. Mitgefühl und Mitleid 410 ff. Mittelbare Diskriminierung 243 ff., 536 ff. – Beweislastregel und Gleichstellungsfunktion 543 ff. Nationalsozialismus 68 f. Naturrecht 40 ff., 71 ff. Neue Egalitarismuskritik 27 Original Intention 263 ff. Paulskirchen-Verfassung 55 ff. Personstatus und Gleichheitsschutz 384 ff. Positive Diskriminierung 544 ff. Preußische Reformgesetzgebung 48 ff. Preußisches Allgemeines Landrecht 46 ff. Principle of consistency 229, 278, 286 f.
Race-gender analogies 268 f. Rasse 150, 179 ff. – Rassenbegriff 397 ff. – Rassentrennung 175 ff., 259, 294 Rational Basis Test 117 ff., 127 ff. – Anwendungsbereich 125 – Legitimer Zweck 121 ff. – Prüfintensität 117 ff. – Underinclusiveness/Overinclusiveness 119 ff. Rechtfertigung 344 ff. – Absolutes/relatives Diskriminierungsverbot 345 ff. – Präzisierung der Schutzintensität 351 ff. – Willkürprüfung, Verhältnismäßigkeit 351 ff. Rechtliche Gleichheit 246 ff. Rechtsanwendungsgleichheit 44, 56, 64, 98 Rechtsfolgen von Gleichheitsverstößen 553 ff. Revolution von 1848 55 ff. Richterlicher Aktivismus 255 ff. Selbstverschulden und „kalkuliertes Pech“ 409 f. Sklavenhaltung 73 f., 76 ff., 83 ff. Sphären der Gerechtigkeit 474 ff. Sphärenüberschreitungen 496 ff. – Gemeinschaftsrechtliche Konkretisierungen 500 ff. – Probleme gleichheitsspezifischer Bereichsabgrenzung 499 f. Strict Scrutiny Test 166 ff. – Anwendungsbereich 172 ff. – Ausländerstatus 181 f. – Besonders diskriminierungsgefährdete Gruppen 178 – Freizügigkeit 189 ff. – Fundamentale Rechte 183 ff. – Gleicher Zugang zu Gericht 188 f. – Inhaltsbestimmung 167 ff.
Stichwortverzeichnis – Kriterien der Verdächtigkeit 172 ff. – Leicht abgrenzbare Minderheiten 173 f. – Nationale Herkunft 181 f. – Notwendigkeit der Maßnahme 170 f. – Rasse 179 ff. – Stigmatisierung 175 ff. – Unveränderbare Persönlichkeitsmerkmale 177 f. – Verdächtige Klassifizierungen 172 ff. – Verwendung irrationaler Gruppenklischees 174 f. – Wahlrechtsgleichheit 184 ff. – Zwingendes öffentliches Interesse 167 ff. Symmetrischer Gleichheitsschutz 533 ff. Tertium comparationis 29 Testformen 31 ff., 126 f. Unabhängigkeitserklärung 71 ff. Uneheliche Kinder 160 f., 206 ff. Ungleichbehandlung 341 ff. – Benachteiligung 342 – Gleichheit im Unrecht 342 – Vergleichbare Sachverhalte 341 Unionsbürgerschaft und Gleichheitssatz 556 ff. Unmittelbare Diskriminierung 243 ff., 536 ff. Unveränderlichkeit 520 ff. Urteilsausspruch und Gewaltenteilung 250 ff. Verantwortung 389 ff. – Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit 390 ff. – Individuelle Beeinflussbarkeit 389 ff.
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– Willensfreiheit und Kontrollfähigkeit 392 f. Verbergen 525 ff. Verfassungskonvent von Philadelphia 77 ff. Vergleichbarkeit 326 ff. – Versuch der Maßstabsgewinnung 329 ff. – von Mitgliedstaaten 335 ff. – von Personen 329 ff. – von Produkten 333 f. – von Unternehmen 334 f. Verhältnismäßigkeit 362 ff. – Besonderer Inhalt im Gleichheitsrecht 366 ff. – Dogmatischer Standort 365 f. – Grundlagen im Gemeinschaftsrecht 362 f. – Kontrolle durch EuGH 362 ff. – Verhältnis zum Willkürverbot 373 ff. Virginia Bill of Rights 75 f. Vormärz 51 ff. Wahlrecht 163 ff., 184 ff., 273 ff. Weimarer Reichsverfassung 62 ff. Willensfreiheit und Kontrollfähigkeit 392 f. Willkürverbot 65 f., 102 ff., 127 ff., 351 ff. – „Objektive“ und „subjektive“ Willkür 130 ff. – und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 373 ff. – Vergleichsbezogene Willkürformel 356 ff. – Willkürkontrolle durch EuGH 353 ff. – Willkürverbot, Gleichheit und Gerechtigkeit 357 ff.