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German Pages 308 [329] Year 2022
Natascha Müller Menschenrechte und Antisemitismus
Sozialtheorie
Natascha Müller promovierte an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus- und Rassismusforschung, Gesellschaftstheorie, Sozialpsychologie sowie jüdische Geschichte.
Natascha Müller
Menschenrechte und Antisemitismus Die transnationale BDS-Kampagne gegen Israel
Die vorliegende Arbeit wurde von der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg unter dem Titel »Travelling Antisemitism – der Menschenrechtsdiskurs und antisemitische Deutungsangebote in der transnationalen Boykott-, Desinvestitionen- und Sanktionen (BDS) Kampagne gegen Israel« als Dissertation angenommen. Ihre Entstehung wurde durch ein Promotionsstipendium der Lilli und Michael Sommerfreund-Stiftung gefördert und von Prof. Dr. Johannes Heil, Prof. Dr. Sebastian Harnisch und Prof. Dr. Anna Amelina betreut und begutachtet.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6216-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6216-4 https://doi.org/10.14361/9783839462164 Buchreihen-ISSN: 2703-1691 Buchreihen-eISSN: 2747-3007 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
1
1.1 1.2
1.3
1.4
1.5 2 2.1
Menschenrechte und Antisemitismus Die transnationale Boykott-, Desinvestitionen- und Sanktionen-Kampagne gegen Israel (BDS) ................................................................... 11 Der Forschungskontext .............................................................. 11 Die Problematisierung des Gegenstandes. Die Genese der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung ....................... 14 1.2.1 Der palästinensische Aufruf zum Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel. Kontext und Entstehung der Bewegung .......... 15 1.2.2 BDS – Forderungen und Ziele .................................................. 16 1.2.3 BDS als Transnationalisierungsstrategie: Organisationsstruktur und Mobilisierungserfolge...............................18 1.2.4 Die Reichweite des Boykotts: Widersprüche, Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten............................ 19 Die ambivalente Gleichzeitigkeit von antisemitischen Menschenrechtsforderungen: das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ................................................ 21 1.3.1 Eine poststrukturalistische Perspektive auf die Deutungsarbeit sozialer Bewegungen: hegemoniale Projekte, soziale Fantasien und die Einheit der Paradoxie ................................................ 25 Poststrukturalistische Operationalisierung: Forschungsfrage und Methoden .......... 29 1.4.1 Triangulation durch Genealogie, politische Strategemanalyse und Logiken der kritischen Erklärung ......................................... 31 1.4.2 Samplingstrategie und Datenauswahl ........................................ 32 Struktur der Studie ................................................................. 33 Das theoretische Problem ......................................................... 37 Die paradoxe Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen als Leerstellen dominanter Ansätze der politischen Soziologie ....................... 37 2.1.1 Zur Funktion von Menschenrechten für die Mobilisierung und Legitimation von Forderungen sozialer Bewegungen: die paradigmatischen Ansätze der sozialen Bewegungsforschung ............. 38
2.1.2 Die Rolle von Subjekten als Objekten von und Akteuren in den kulturellen Aneignungs- und Konstruktionsprozessen des Menschenrechtsdiskurses. Ansätze der soziologischen Menschenrechtsforschung ................................ 42 2.1.3 Die Entkopplung von Antisemitismusforschung und Soziologie: die Erklärungsdefizite der Antisemitismusforschung.......................... 46 2.1.4 Poststrukturalistische Perspektiven in der sozialen Bewegungs-, Menschenrechts- und Antisemitismusforschung: zur sinnstiftenden Einheit ambivalenter Diskurse ............................. 52 3
3.1 3.2
3.3
3.4
3.5 3.6
3.7
Die konzeptuelle Blickverschiebung Poststrukturalistische Hegemonietheorie, soziale Fantasien und das Handeln sozialer Bewegungen ............................................................... 55 Einleitung: der Mehrwert poststrukturalistischer Theorien für die Analyse antisemitischer Menschenrechtsdiskurse sozialer Bewegungen ...................... 55 Postfundationalismus und Ontologie: theoretische Grundannahmen .................. 58 3.2.1 »Sozialtheorie als Diskurstheorie«. Gesellschaft als Ausdruck von Diskursen ..................................... 62 Macht als Mittel der Erzeugung gesellschaftlicher Wirklichkeit: soziale Bewegungen im Kampf um Hegemonie....................................... 66 3.3.1 Hegemonie, Antagonismus, leerer Signifikant................................. 67 3.3.2 Ontologischer und ontischer Antagonismus................................... 68 3.3.3 Der leere Signifikant als Hegemonialisierungslogik partikularer Diskurse ...... 73 Das politische Subjekt der Hegemonie: zur Rolle der Fantasie ........................ 79 3.4.1 Subjektpositionen ........................................................... 80 3.4.2 Das politische Subjekt ........................................................ 81 3.4.3 Zur Funktionsweise sozialer Fantasien ....................................... 84 Der Übergang zwischen Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie. Zur poststrukturalistischen Triangulation der Hegemonietheorie ..................... 90 Menschenrechte als Universalisierungslogik partikularer Diskurse: eine hegemonietheoretische Perspektive............................................ 92 3.6.1 Der demokratische Horizont – Freiheit und Gleichheit der Menschenrechte als Hegemonialisierungsprinzip gegenhegemonialer Diskursprojekte ......................................... 93 3.6.2 Die deontische Logik der Selbstbestimmung – oder warum Selbstbestimmungsrechte Menschenrechte garantieren können .............. 101 Antisemitismen als Stabilisierungsfaktor politischer Diskurse. Eine hegemonietheoretische Perspektive........................................... 105 3.7.1 Die Bedeutungsfixierung durch soziale Fantasie: Antisemitismen als Vektor politischer Diskurse ...............................................107 3.7.2 »Jüdische« Allmacht und Weltverschwörung ................................. 112
3.7.3 Konkrete »Gemeinschaft« und »jüdische Gesellschaft«....................... 113 3.7.4 »Jüdische« Amoralität und Grausamkeit ..................................... 114 3.7.5 Der Zionismus als negativer leerer Signifikant: die komplexitätsreduzierende Funktion antisemitischer Diskurse über den Nahostkonflikt ..................................................... 115 3.8 Auf dem Weg zur Operationalisierung: Hegemonie, Fantasie, Menschenrechte und Antisemitismen .......................... 121 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie ........ 131 Plausibilität als Objektivität: poststrukturalistische Forschung und Methodologie .... 132 4.1.1 Die retroduktive Erklärung als Prinzip poststrukturalistischer Erkenntnisgenerierung .............................. 133 4.1.2 Multiperspektivität als Validität: Triangulation durch Genealogie, Strategemanalyse und die Rekonstruktion narrativer Muster ................. 134 4.1.3 Genealogie: die Analyse der sozialen Logik des Nahostkonflikts .............. 135 4.1.4 Strategemanalyse: die Analyse der politischen Logik des palästinasolidarischen Diskurses ....................................... 137 4.1.5 Narrative Muster: die Analyse der phantasmatischen Logik des palästinasolidarischen Diskurses ....................................... 140 4.2 Externe Validität durch empirische Fallstudien ..................................... 142 4.2.1 Fallauswahl................................................................. 143 4.2.2 Datenauswahl .............................................................. 148 4.3 Wissenschaftlicher Konsens als Reliabilität......................................... 149 4.4 Schlussbetrachtung ............................................................... 150
4 4.1
5
Ergebnisse der empirischen Fallstudie Die Gleichzeitigkeit von Antisemitismen und Menschenrechtsnarrativen.............. 151 5.1 Der Nahostkonflikt als Konflikt um territoriale Ansprüche: die soziale Logik des israelisch-palästinensischen Diskurses ........................................ 153 5.1.1 Der Kontext: die politische Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinenser/-innen als Territorialkonflikt .............................. 154 5.1.2 Der Zionismus: Entstehung, Konzepte und Akteure........................... 156 5.1.3 Die geplante Migration nach Palästina und die konfliktreiche Geschichte arabisch-jüdischen Zusammenlebens...... 158 5.1.4 Das israelische Selbstverständnis als jüdischer und demokratischer Staat ... 160 5.1.5 Das palästinensische Flüchtlingsproblem.................................... 163 5.1.6 Die besetzten Gebiete und der Bau der israelische Sperranlagen ..............167 5.1.7 Die israelische Sperranlage ................................................. 169 5.1.8 Der Gazastreifen nach 2005 ..................................................170 5.1.9 Der israelische Siedlungsbau ................................................ 171 5.2 Schlussbetrachtung: die soziale Logik des Nahostkonflikts...........................172
5.3 Zum Verhältnis von palästinensischem und israelischem Recht auf universale Selbstbestimmung: die politische Logik des Diskurses ................175 5.3.1 »For us, Zionism is not a national liberation movement but a colonial movement«: der »Zionismus« als symbolischer Inbegriff des Mangels am Allgemeinen (Strategem IV)........ 177 5.3.2 »The Palestinian struggle is, at its core, a basic human instinct and drive for self-determination«: das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen »Volks« als symbolisches Äquivalent des imaginären Allgemeinen (Strategem III) ................................. 182 5.3.3 »These are three basic rights without which the Palestinian people cannot exercise its inalienable right to self-determination.« Die Konstruktion des palästinensischen »Volks« (Strategem I und II) ......... 184 5.3.4 »Das Grundrechtder arabisch-palästinensischen Bürger/-innen Israels auf völlige Gleichheit« – die Zielforderung nach rechtlicher Gleichstellung der Palästinenser/-innen und die Elemente ihrer Blockade ............................................ 187 5.3.5 Die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren. Die Zielforderung nach einem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge................ 192 5.3.6 »Ending its occupation and colonization of all Arab lands and dismantling the Wall« – die Zielforderung der hegemonial-offensiven Strategie und die Elemente ihrer Blockade durch das »zionistische Regime« .............................197 5.3.7 Zusammenspiel der Strategeme: die politischen Zielforderungen des Hegemonieprojekts und die antagonistischen Elemente ihrer Blockade... 202 5.3.8 »A progressive, antiracist sophisticated, sustainable, moral, and effective form of civil nonviolent resistance«. Die Mittelforderung nach Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen .......... 203 5.4 Schlussbetrachtung: die politische Logik des BDS-Diskurses ........................ 208 5.5 Eine Welt von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für das palästinensische Volk: zur phantasmatischen Logik des Diskurses ...........212 5.5.1 Die grauenvolle Dimension der Fantasie: der jüdische Staat als Dieb der Jouissance ...................................214 5.5.2 Zusammenfassung: der »jüdische« Plot als grauenvolle Dimension der Fantasie des Hegemonieprojekts ........................................ 229 5.5.3 Die glückseligmachende Dimension der Fantasie: Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit als Gesellschaftsutopie des Menschenrechtsprojekts der Palästinasolidarität ........................ 230 5.6 Zusammenfassung: universale Menschenrechte als glückseligmachende Dimension der Fantasie.....................................241 5.7 Schlussbetrachtung: die phantasmatische Logik des BDS-Diskurses ................ 243
6
Protoerklärung Zur Einheit der Paradoxie .......................................................... 247 6.1 Empirische und theoretische Ergebnisse: Hegemonie, soziale Fantasie und die Einheit der Paradoxie ...................................................... 248 6.2 Zur poststrukturalistischen Anschlussfähigkeit der Ergebnisse: theoretische Implikationen und empirische Konsequenzen für Forschung und Praxis .......................................................... 257 6.3 Praktische Konsequenzen: zum politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der BDS-Kampagne............................. 263 Literatur- und Quellenverzeichnis ...................................................... 269 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis................................................... 305
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Menschenrechte und Antisemitismus Die transnationale Boykott-, Desinvestitionenund Sanktionen-Kampagne gegen Israel (BDS)
1.1
Der Forschungskontext The BDS movement stands for freedom, justice and equality. Anchored in the Universal Declaration of Human Rights, the BDS movement, led by the Palestinian BDS National Committee, is inclusive and categorically opposes as a matter of principle all forms of racism, including Islamophobia and anti-semitism. (BDS o.D.a) We quickly realized that the delegitimization of Israel is fundamentally about challenging Israel’s very existence, and not about correcting its policies, and does not emanate from liberal humanistic values but instead represents a modern-day version of anti-Semitism, directed against the nationhood of Jews. (The Reut Institute 2015)
So paradox die beiden Zitate zunächst nebeneinanderstehen, so signifikant bilden sie die beiden unvereinbaren Pole des medialen, politischen und öffentlichen Diskurses zwischen Befürworter/-innen und Kritiker/-innen der global diffundierenden Palästinasolidaritätsbewegung seit ihrem Aufkommen ab. Nach dem sogenannten Call von 171 palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen1 an die internationale Gemeinschaft im Jahr 2005 hat die globale Boykott-, Desinvestitionen-und Sanktionen-Kampagne gegen Israel (BDS) international an erhebli-
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Die Klassifikation als »zivilgesellschaftliche Organisation« ist eine Selbstbezeichnung der BDS-Kampagne. Unter den insgesamt 171 Gruppierungen, die den Aufruf zum internationalen Israelboykott unterzeichnet haben, befinden sich auch parteipolitische Verbände, die in der EU, den USA oder Kanada als Terrororganisation gelistet sind. So ist der Erstunterzeichner des Aufrufs etwa die Koalition der »Palestinian National and Islamic Forces«, zu deren Mitgliedern die Hamas, der Islamische Dschihad (PIJ), die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) oder die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) gehören.
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Menschenrechte und Antisemitismus
chem Einfluss auf die Wahrnehmung des Nahostkonflikts genommen. Vor allem seit dem Gazakrieg 2008/09 (McMahon 2014; Omer 2009; Dart 2015; Bakan/Abu Laban 2009) ist die Boykottbewegung trotz ihrer marginalen Auswirkungen auf die israelische Wirtschaft ein machtvoller Akteur im Israel-Palästina-Konflikt. Weltweit fordern zahlreiche Unterstützer/-innen, darunter auch prominente Persönlichkeiten wie der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu oder der ehemalige Pink-Floyd-Frontsänger Roger Waters, renommierte Wissenschaftler/-innen wie die Philosophin Judith Butler, der Historiker Ilan Pappe oder der Völkerrechtler Richard Falk, einen umfassenden wirtschaftlichen, politischen, akademischen und kulturellen Boykott des jüdischen Staats im Namen der universalen Menschenrechte im Sinne der internationalen Solidarität, moralischer Standfestigkeit und im Kampf für Gerechtigkeit und Frieden (BDS 2005). Doch der menschenrechtsorientierte Solidaritätsaktivismus für Palästinenser/-innen ist umstritten. Die Legitimität des humanitären Protestnarrativs wird durch israelische Gegenkampagnen,2 prozionistische Gruppierungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs)3 angegriffen, die den durch Boykott verursachten wirtschaftlichen Schaden für die Palästinenser/-innen selbst betonen, die eine Isolation des jüdischen Staats durch BDS als Hindernis für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts betrachten und in dem Aufruf zum akademischen Boykott einen Widerspruch zu den Normen des akademischen Friedens sehen. Auch der Bewegungsdiskurs selbst ist kontradiktorisch. Irritiert werden die Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen durch ihre Anschlussfähigkeit für antizionistische Antisemitismen (Omer 2009; Fishman 2012), die, an Kübler und Falter anschließend, in einer »scheinbar paradoxe[n] Situation« (2010, 451) münden: Vermeintlich menschenrechtsorientierte Argumente transformieren sich in einem kosmopolitischen Umfeld zu antisemitischen Manifestationen (ebd.). Diese scheinbar paradoxe Situation ist in der Forschung über die transnationale Palästinasolidaritätsbewegung4 (fortan TPSB) bislang unaufgelöst. Zwar herrscht in der disziplinübergreifenden Literatur (Bröning 2011; Norman 2011;
2 3 4
Beispielsweise klärt die Öffentlichkeitsarbeit der israelischen Regierung im Ausland, Hasbara, über den ambivalenten Charakter der BDS-Kampagne auf. Hierzu zählen etwa die Anti-Defamation League, The Jewish Agency oder die World Zionist Organisation, The Israel Project, StandWithUs u.v.m. Unter dem Begriff der transnationalen Palästinasolidarität wird in dieser Arbeit eine Vielzahl von Gruppierungen – wie Gewerkschaften, Kirchenverbände, NGOs, soziale Bewegungen, islamistische Terrororganisationen u.v.m. – sowie einzelnen Individuen – wie Politiker, Prominente, Professor/-innen, Publizist/-innen usw. – subsumiert, die den »BDS-Call« an die internationale Zivilgesellschaft von 2005 unterzeichnet oder sich öffentlich zu BDS bekannt haben. Eine Liste der Erstunterzeichner/-innen des BDS-Calls ist unter https://bdsmovement .net/call einsehbar. Der Begriff »transnational« rekurriert dabei auf Akteure, die die Grenzen des Nationalen überschreiten. Synonym spreche ich auch von der BDS-Kampagne.
1 Menschenrechte und Antisemitismus
Seidel 2011; Carter Hallward 2013; Jamjoum 2011; Schmidt 2012) über den transnationalen Palästinaaktivismus Einigkeit darüber, dass sich eine veränderte Deutung des israelisch-palästinensischen Konflikts über den »globalen Bezugshorizont« (Pfaff-Czarnecka 2007, 271) der universalen Menschenrechte durch die TPSB etabliert hat. Wie sich die universale Sprache der Menschenrechte, in der Israel u.a. mit dem südafrikanischen Apartheidsystem gleichgesetzt wird, im kulturellen Kontext des Israel-Palästina-Konflikts mit antizionistischen Antisemitismen diskursiv amalgamieren kann, bleibt jedoch hinter dem Fokus auf die legitimierende (Barghouti 2011; Bakan/Abu Laban 2009; Hijab 2009) oder delegitimierende (Curtis 2012; Fishman 2012; Poller 2012; Cohen 2007) Bewertung der menschenrechtsorientierten Interpretation des Konflikts zurück, ohne dabei kritische Befunde der Menschenrechts- oder Antisemitismusforschung zu integrieren. Wieso bezieht sich die Kampagne gerade auf die universalen Menschenrechte als Deutungshorizont des Israel-Palästina-Konflikts? Wann werden Menschenrechtsforderungen in dem kontingenten Kontext des Nahostkonflikts für antisemitische Narrative anschlussfähig? Und warum solidarisieren sich weltweit Subjekte mit dem Protestanliegen, obgleich es mit Antisemitismen assoziiert wird? Die soziologische Menschenrechtsforschung geht von einem wachsenden Einfluss humanitärer Normen im internationalen Rahmen aus (Benhabib 2016; Habermas 1998; Held 1995) und untersucht im Feld sozialer Bewegungen, wie universale Menschenrechtsdiskurse von lokalen Akteuren adaptiert und reartikuliert werden, um politischen Widerstand zu organisieren (De Sousa Santos 2008; ders./Rodriguez-Garavito 2005; Baxi 2002). Humanitäre Forderungen nach Menschenrechten werden demzufolge als Mobilisierungsfaktor für partikulare Protestdiskurse bewertet und zugleich als diskursive Aushandlungsprozesse zwischen universalen Normen und lokaler Anpassung gedeutet. Was ereignet sich dabei im Prozess der ergebnisoffenen diskursiven Adaption universaler Menschenrechte im partikularen Kontext des Israel-Palästina-Konflikts? Eine erste Annäherung an diese Frage liefern kritische Menschenrechtsforscher/-innen, die das Verschwinden der israelischen Konfliktperspektive durch das humanitäre Framing des Nahostkonflikts als Konflikt um palästinensische Menschenrechte (Omer 2009; Landy 2013) betonen. Hinter dem positiv besetzten Postulat universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen können im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts demzufolge Ausschlüsse produziert werden, die zwischen den legitimen Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen einerseits und der unsichtbar bleibenden israelischen Perspektive, ihren Forderungen, Interessen und Zielen andererseits differenzieren. Die sozialwissenschaftliche Antisemitismusforschung dockt genau an dieser Schnittstelle an und konkretisiert, wann eine Exklusion der israelischen Perspektive im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts zu der Reproduktion von antiisraelischen Antisemitismen führt. Unter antiisraelischen Antisemitismen versteht die
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Menschenrechte und Antisemitismus
Forschung dabei Artikulationsweisen, die sich gegen das Recht auf Sicherheit und Existenz eines jüdischen Staats im Nahen Osten richten und diesen als »Symbol jüdischen Lebens« (Schwarz-Friesel/Reinharz 2013, 194) diffamieren (Klug 2003; Rabinovici/Speck/Sznaider 2006). Antiisraelische Antisemitismen gehen demzufolge über eine bloße Kritik an einzelnen Handlungen des jüdischen Staats hinaus. Die These, dass sich in der vermeintlich progressiven Deutung des Nahostkonflikts als Konflikt um die Geltungswirksamkeit universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen Kommunikationen eines auf Israel bezogenen Antisemitismus verbergen können, bildet demzufolge den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Ihr übergeordnetes Ziel ist es, die anfangs zitierte »paradoxe Situation« einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen einerseits im empirischen Feld des transnationalen Palästinasolidaritätsaktivismus aufzulösen. Andererseits sollen die bislang getrennt voneinander diskutierten Forschungsfelder der Menschenrechts-, Antisemitismus- und poststrukturalistisch inspirierten Bewegungsforschung in eine kritische politisch-soziologische Perspektive überführt werden, mit der Heterogenitäten, Paradoxien und Ambiguitäten in kulturellen Deutungskämpfen fokussiert werden können. Die folgenden Abschnitte konkretisieren das übergeordnete Ziel dieser Arbeit.
1.2
Die Problematisierung des Gegenstandes. Die Genese der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung
Die vorliegende Arbeit positioniert sich im Feld der modernen politischen Soziologie, die seit den 1980er-Jahren von poststrukturalistischen Perspektiven angeregt wurde (Hicks/Janoski/Schwartz 2015, 1). Diese poststrukturalistisch inspirierten Perspektiven gehen in jüngster Zeit, vor allem in der englischsprachigen Literatur, mit einem Typus problemorientierter Forschung5 (»problem-driven research«) (Howarth 2005; Glynos/Howarth 2007; Howarth/Griggs 2012) einher, deren Forschungspraxis weder theorie- noch methoden-, sondern problemgeleitet vorgeht. Damit wird eine Art von Forschung stark gemacht, die, ausgehend von einem konstruierten6 , fokussierten Gegenstand, theoretische Modelle, analytische Konzepte und die empirische Fallstudie miteinander in Beziehung setzt (Münch 2016, 70). Den Ausgangspunkt problemorientierter Forschungspraxis bildet dabei ein »set of pressing political and ethical problems in the present« (Howarth 2005, 318).
5 6
Exemplarisch für den Typus problemorientierter Forschung ist Foucaults Studie über Sexualität und Wahrheit (1986). Hierzu ausführlich Glynos und Howarth (2007, 44ff.). Der Verweis auf die Konstruktion des fokussierten Gegenstands wird in Kapitel 4 näher beschrieben. In einer ersten Annäherung ist damit gemeint, dass die Untersuchungsgegenstände nicht objektiv vorhanden, sondern immer Ergebnis sozialer Konstuktion sind.
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Menschenrechte und Antisemitismus
Forschung dabei Artikulationsweisen, die sich gegen das Recht auf Sicherheit und Existenz eines jüdischen Staats im Nahen Osten richten und diesen als »Symbol jüdischen Lebens« (Schwarz-Friesel/Reinharz 2013, 194) diffamieren (Klug 2003; Rabinovici/Speck/Sznaider 2006). Antiisraelische Antisemitismen gehen demzufolge über eine bloße Kritik an einzelnen Handlungen des jüdischen Staats hinaus. Die These, dass sich in der vermeintlich progressiven Deutung des Nahostkonflikts als Konflikt um die Geltungswirksamkeit universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen Kommunikationen eines auf Israel bezogenen Antisemitismus verbergen können, bildet demzufolge den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Ihr übergeordnetes Ziel ist es, die anfangs zitierte »paradoxe Situation« einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen einerseits im empirischen Feld des transnationalen Palästinasolidaritätsaktivismus aufzulösen. Andererseits sollen die bislang getrennt voneinander diskutierten Forschungsfelder der Menschenrechts-, Antisemitismus- und poststrukturalistisch inspirierten Bewegungsforschung in eine kritische politisch-soziologische Perspektive überführt werden, mit der Heterogenitäten, Paradoxien und Ambiguitäten in kulturellen Deutungskämpfen fokussiert werden können. Die folgenden Abschnitte konkretisieren das übergeordnete Ziel dieser Arbeit.
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Die Problematisierung des Gegenstandes. Die Genese der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung
Die vorliegende Arbeit positioniert sich im Feld der modernen politischen Soziologie, die seit den 1980er-Jahren von poststrukturalistischen Perspektiven angeregt wurde (Hicks/Janoski/Schwartz 2015, 1). Diese poststrukturalistisch inspirierten Perspektiven gehen in jüngster Zeit, vor allem in der englischsprachigen Literatur, mit einem Typus problemorientierter Forschung5 (»problem-driven research«) (Howarth 2005; Glynos/Howarth 2007; Howarth/Griggs 2012) einher, deren Forschungspraxis weder theorie- noch methoden-, sondern problemgeleitet vorgeht. Damit wird eine Art von Forschung stark gemacht, die, ausgehend von einem konstruierten6 , fokussierten Gegenstand, theoretische Modelle, analytische Konzepte und die empirische Fallstudie miteinander in Beziehung setzt (Münch 2016, 70). Den Ausgangspunkt problemorientierter Forschungspraxis bildet dabei ein »set of pressing political and ethical problems in the present« (Howarth 2005, 318).
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Exemplarisch für den Typus problemorientierter Forschung ist Foucaults Studie über Sexualität und Wahrheit (1986). Hierzu ausführlich Glynos und Howarth (2007, 44ff.). Der Verweis auf die Konstruktion des fokussierten Gegenstands wird in Kapitel 4 näher beschrieben. In einer ersten Annäherung ist damit gemeint, dass die Untersuchungsgegenstände nicht objektiv vorhanden, sondern immer Ergebnis sozialer Konstuktion sind.
1 Menschenrechte und Antisemitismus
Die Genese der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung, ihre spezifische Forderungsstruktur und Proteststrategie ebenso wie damit einhergehenden Kontradiktionen werden im Folgenden als ein solches irritierendes Set von Problemen dargestellt, das die im letzten Abschnitt formulierte »paradoxe Situation« einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen im empirischen Feld des transnationalen Palästinasolidaritätsaktivismus abbildet. Von diesem irritierenden Ausgangspunkt ausgehend, wird das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit formuliert.
1.2.1
Der palästinensische Aufruf zum Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel. Kontext und Entstehung der Bewegung
Die Entstehung der transnationalen Palästinasolidaritätskampagne wird in der Forschung auf unterschiedliche historische Vorbedingungen zurückgeführt.7 Konsens herrscht jedoch darüber, dass das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) über den Bau der israelischen Sperranlage zentral für die Konstitution der TPSB war. Am ersten Jahrestag des IGH-Gutachtens,8 am 9. Juli 2005, veröffentlichten Organisationen, Gruppierungen und Koalitionen von Palästinenser/-innen in den besetzten Gebieten, in Israel und der Diaspora, den als Gründungsmanifest der Bewegungen geltenden palästinensischen Aufruf zu Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (fortan: BDS-Call) gegen Israel (Jamjoum 2011, 140; Ananth 2013). Durch den akademischen, kulturellen und ökonomischen Boykott soll Israel auf verschiedenen Ebenen international isoliert werden; Desinvestitionen zielen darauf ab, ökonomischen Druck auf Unternehmen auszuüben, die von der »Besatzung, Kolonisierung und den Apartheidstrukturen in Israel/Palästina profitieren« (BDS Palästina o.D.). Sanktionen sind mit der Absicht verbunden, Israel zu zwingen, dem »internationalen Recht und den universellen Prinzipien der Menschenrechte« nachzukommen (ebd). Politische und wirtschaftliche Boykottaufrufe gegenüber dem jüdischen Staat stellen dabei keine Innovation im arabisch-palästinensischen Kampf gegen Israel dar (Bröning 2011; Jamjoum 2011). So richteten sich arabische Boykottinitiativen bereits vor der Gründung des israelischen Staates gegen die jüdische Migration nach Palästina und gehören seit 1948
7 8
Hierzu siehe beispielsweise Hallward/Shaver 2012, 396, Jamjoum 2011, 138, Bakan und Abu Laban 2009, 47. Der internationale Gerichtshof (IGH) warf der israelischen Besatzung in einem Rechtsgutachten 2004 Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte durch den Bau der Sperranlage im Westjordanland vor (International Court of Justice 2004, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion).
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Menschenrechte und Antisemitismus
zur »offiziellen Politik« der Arabischen Liga9 (Becker 2016, 20). Der durch den BDSCall initiierte, weltweit agierende Boykottaktivismus gegen Israel wird demzufolge auch als eine Form des zweiten Generationenboykotts (Bröning 2011, 142) klassifiziert. Dieser zweite Generationenboykott ist dabei durch politische Forderung nach Rechten, durch einen politischen Repräsentationsanspruch gegenüber allen Palästinenser/-innen sowie eine Transnationalisierungsstrategie charakterisiert (ebd.; Jamjoum 2011; Ananth 2013). Ich stelle diese drei Merkmale im Folgenden nacheinander vor.
1.2.2
BDS – Forderungen und Ziele
Die transnationale Palästinasolidaritätskampagne bezeichnet ihren Ansatz als »rights-based-approach« und grenzt ihn scharf von einem »solution-basedapproach« ab (Barghouti 2009). Anstelle eines politischen Programms zur diplomatischen Lösung des israelisch-palästinensischen Antagonismus fordert die Kampagne die Durchsetzung dreier irreduzibler Rechte für das palästinensische ›Volk‹10 durch die Umsetzung eines allumfassenden Boykotts. Im internationalen Aufruf zu BDS heißt es diesbezüglich: We, representatives of Palestinian civil society, call upon international civil society organizations and people of conscience all over the world to impose broad boycotts and implement divestment initiatives against Israel similar to those applied to South Africa in the apartheid era. […] These non-violent punitive measures should be maintained until Israel meets its obligation to recognize the Palestinian people’s inalienable right to self-determination and fully complies with the precepts of international law by: 1. Ending its occupation and colonization of all Arab lands and dismantling the Wall; 2. Recognizing the fundamental rights of the Arab-Palestinian citizens of Israel to full equality; and 3. Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN resolution 194. (2005)
Die Forderungen nach Rechten, wie dem Recht auf Rückkehr, dem Recht auf Gleichheit oder dem Recht auf Selbstbestimmung, werden in dem Diskurs dabei 9
10
Seit dem Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten (1979) beendeten einige Länder den Israelboykott teilweise oder auch ganzheitlich. Die Boykottbestimmungen der Arabischen Liga sind bis heute jedoch formal in Kraft(Becker 2016, 20). Ein ›Volk‹ zu konstruieren, bedeutet in dieser Arbeit, populare Forderungen in einer Äquivalenzkette zu artikulieren. Hierzu S. 64ff.
1 Menschenrechte und Antisemitismus
über die Bezugnahme auf Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht sowie UN-bezogene Resolutionen über den Israel-Palästina-Konflikt legitimiert. Rechte einzufordern, ohne konkrete Vorschläge für deren Umsetzung zu unterbreiten, lässt sich dabei als eine zentrale strategische Ausrichtung der Bewegung definieren (Schmidt 2012; McMahon 2014). Hinter dieser strategischen Ausrichtung steht die Überlegung, dass Forderungen nach Rechten eine größere Anschlussfähigkeit für globale Gerechtigkeits- und Menschenrechtsdiskurse besitzen als jener mit einer konkreten Staatlichkeit verknüpfte palästinensische Nationalismus- oder »Befreiungsdiskurs« (Schmidt 2012, 40). Aus diesem Grund positioniert sich die Bewegung auch offiziell »agnostisch« (McMahon 2014, 67) in der Frage, ob ihre Ziele und Forderungen auf eine Einoder Zweitstaatenlösung11 des Nahostkonflikts (ebd.; Barghouti 2009) hinauslaufen sollen. Neben dem rechtebasierten Ansatz der Solidaritätsbewegung stellt der Repräsentationsanspruch des BDS-Calls eine weitere Besonderheit dar. Denn die politischen Ziele und Forderungen sowie die Tatsache, dass der BDS-Call von insgesamt 171 palästinensischen Organisationen in Israel, in den besetzten Gebieten und der palästinensischen Diaspora unterzeichnet wurde, führt zu der Einordnung des Calls als »most significant document the Palestinian people have produced since the national movement emerged in the 1960s« (Hijab 2009, 569). Der Osloer Friedensprozess habe der Kampagne zufolge dazu geführt, den politischen Fokus nur auf die israelische Besatzung zu richten. Die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge ebenso wie diejenigen der arabisch-palästinensischen Staatsbürger Israels wurden in dieser Lesart durch die palästinensische Autonomiebehörde (PA) »verkauft« (Schmidt 2012, 33). Der BDS-Call beansprucht nun, die Interessen und Bedürfnisse aller Palästinenser/-innen zu repräsentieren, indem er die kollektiven Rechte des geografisch in Israel, in der Diaspora und in den besetzten Gebieten verteilten palästinensischen ›Volks‹ und ihres Rechts auf nationale Selbstbestimmung einfordert. The three-tiered campaign transcends the exclusive focus on Israel’s colonial regime in the West Bank and Gaza Strip and thereby represents the interests
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Eine Einstaatlösung, z.T. auch binationale Lösung genannt, bezeichnet einen Lösungsansatz des Nahostkonflikts, in der die Etablierung eines binationalen säkularen Staates auf dem jetzigen Staat Israel, dem Westjordanland und dem Gazastreifen gefordert wird. Die Einstaatlösung findet weder in der arabisch-palästinensischen noch in der israelischen Bevölkerung mehrheitliche Unterstützung (Asseburg/Busse 2016, 186; Tami Steinmetz Center 2018). Die Zweistaatenlösung hingegen sieht die Schaffung eines unabhängigen Staats Palästina neben dem heutigen Staat Israel auf dem Territorium westlich des Jordans vor. Die genauen Grenzlinien sind dabei Gegenstand von Verhandlungen zwischen den politischen Vertreter/innen von Israelis und Palästinenser/-innen.
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of all Palestinians. In this sense, BDS is truly a Palestinian national movement. (McMahon 2014, 67) Im scharfen Kontrast zu früheren, diplomatischen Verhandlungsstrategien zwischen offiziellen israelischen und palästinensischen Vertreter/-innen adressiert die Kampagne die internationale Zivilgesellschaft als Akteur/-in, die zusammen mit der palästinensischen Zivilgesellschaft für Gerechtigkeit und Frieden im Nahen Osten kämpfen soll. Die Internationalisierung des Nahostkonflikts durch die Anrufung der globalen Zivilgesellschaft wird im Folgenden als Proteststrategie der Kampagne dargestellt.
1.2.3
BDS als Transnationalisierungsstrategie: Organisationsstruktur und Mobilisierungserfolge
Der Aufruf zu BDS 2005 führte zu einer beschleunigten Diffusion der BDSKampagne in die Gesellschaften des globalen ›Nordens‹ und ›Südens‹. Eine breite Koalition von NGOs, Kirchen, Gewerkschaften, Kommunen, Unternehmen und parteipolitischen Verbänden hat sich dem Boykottaufruf seit 2005 angeschlossen. 2007 wurde in Rahmallah das Boycott National Committee (BNC) gegründet, das die globale Organisation von BDS-Aktionen, Strategien und Programmen, die Vernetzung der transnationalen Solidaritätsbewegung mit lokalen palästinensischen Aktivist/-innen und die Verbreitung von Informationen im globalen Netzwerk koordiniert. Die Kampagne versteht sich selbst als dezentrales Bewegungsnetzwerk, dessen Handlungszentrum in den globalen BDS-Aktivitäten besteht (Jamjoum 2011, 141). Die einzelnen lokalen Ableger der Kampagne formieren zusammen mit dem BNC die heterogene transnationale Palästinasolidaritätsbewegung, deren Einheit der BDS-Call darstellt. Der palästinensische Protest für Menschenrechte hat sich demzufolge transnationalisiert. Die transnationale Reichweite des palästinensischen Protestdiskurses wird in der Forschung dabei auf unterschiedliche Aspekte zurückgeführt. Für Eva Schmidt (2012, 44ff.) liegt seine Mobilisierungsdynamik vor allem in dem Menschenrechtsfokus der Kampagne ebenso wie in der Verwendung des Apartheidkonzepts begründet. Die Deutung des Nahostkonflikts als Konflikt um Menschenrechte schaffe dabei Empathie, moralisches Mitgefühl und internationale Solidarität, indem die Menschenrechtssemantik Anschlussfähigkeiten für globale Gerechtigkeitsdiskurse generiert. Gleichzeitig liefert die in dem BDS-Call angeführte Inspiration des Protests durch den südafrikanischen Boykottvorläufer die Möglichkeit, den Kampf um palästinensische Rechte mit dem Kampf um Rechte zu Zeiten der südafrikanischen Apartheid moralisch gleichzusetzen. Gemeinsamkeiten zwischen Israel und dem südafrikanischen Apartheidregime wurden von einzelnen Akademiker/-innen (Said 1980; Davis 1987) bereits in den 1980er-Jahren artikuliert
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(Schmidt 2012, 6). Durch die strategische Verwendung des Apartheidkonzepts wird die Analogie zwischen Israel und Südafrika jedoch von palästinensischen Aktivist/innen in ein »Widerstandsframing« (ebd.) überführt, das für internationale Solidaritätsdiskurse anschlussfähig ist. Warum der palästinensische Protest dabei transnationalisiert werden soll, erklären einige Autor/-innen mit dem Ziel, den Kampf um die internationale Meinung über den Nahostkonflikt zu beeinflussen. In Anlehnung an den marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci wird dieser Kampf als »war of position« (Hussein 2015, 12), als »legitimacy war« (Falk 2010) oder »war by other means« (Hallward/Shaver 2012) bezeichnet. Damit wird eine Form von symbolischen Kämpfen charakterisiert, die darauf ausgerichtet sind, tief sedimentierte politische Diskurse, unhinterfragbare Grenzziehungen sowie Identitätskonstruktionen im Israel-Palästina-Konflikt anzugreifen (McMahon 2014) und eine neue Perspektive auf den Nahostkonflikt zu werfen, die verstärkt palästinensische Positionen reflektiert. Demzufolge stellt sich nun die Frage, gegen welche gesellschaftlichen Strukturen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie dominanten Diskurse sich der transnationale Boykottaktivismus eigentlich konkret richtet und welche Stellung die israelische Perspektive dabei einnimmt.
1.2.4
Die Reichweite des Boykotts: Widersprüche, Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten
Der Literaturkorpus ist von der anhaltenden Spannung in der Frage, wogegen sich die Boykottforderungen und rechteorientierten Ziele der Bewegung konkret richten, durchzogen (Hijab 2009; Erakat 2010; McMahon 2014; Bakan/Abu Laban 2009; Lerner 2012; Finkelstein 2012). Sie löst Widersprüche, Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten aus, die sich auf die Deutung des israelischen Staats, des israelischen Existenzrechts als jüdischer Staat und der Stellung der israelischen Perspektive im Rahmen des palästinensischen Menschenrechtsaktivismus beziehen. Mit anderen Worten artikuliert sich in der Frage der Positionierung Israels im Rahmen des Solidaritätsdiskurses nun die übergeordnete Frage nach der Schnittstelle zwischen universalen Menschenrechtsforderungen und antiisraelischen Antisemitismen. Drei Kontradiktionen sind hierfür ausschlaggebend. Die erste Kontradiktion betrifft die Reichweite des Boykotts. Der BDS-Call fordert einen umfassenden akademischen, kulturellen und wirtschaftlichen Boykott »of Israel’s entire regime« (BDS o.D.b) und damit nicht nur von jenen Institutionen und Akteuren, die von der israelischen Besatzung profitieren. Damit löst die Kampagne Mehrdeutigkeiten in ihrer strategischen Ausrichtung aus: Wenn sich
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der Boykott gegen den gesamten israelischen Staat richtet, ist das übergeordnete Ziel dann kein Ende der Besatzung, sondern ein Ende des Staates Israel?12 Eine ähnliche Ambivalenz artikuliert sich zweitens über die rechtebasierte Forderungsstruktur der Bewegung. Wie bereits dargestellt, fordert die Kampagne, die Interessen und Bedürfnisse aller Palästinenser/-innen zu repräsentieren, indem sie die unveräußerlichen Rechte des geografisch in Israel, in der Diaspora und in den besetzten Gebieten verteilten palästinensischen ›Volks‹ kollektiv eingeklagt. Damit bricht die Bewegung mit einer Reihe von Grundsätzen der durch den Osloer Friedensprozess angestrebten Zweistaatenlösung des Nahostkonflikts (Jamjoum 2011; Bröning 2011). Denn die einzelnen geforderten Rechte konterkarieren das israelische Selbstverständnis als jüdischer und demokratischer Staat (Finkelstein 2012; Omer 2009; Lorber 2016), d.h., sie können auch als grundsätzliche Infragestellung des jüdischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung gelesen werden. Die Konsequenz dieser Implikationen wird von der Bewegung ausgelassen; sie scheint hinter dem Verweis auf die Forderung nach Rechten zu verschwinden. Eine Aberkennung des im Völkerrecht verankerten Anspruchs auf Existenz und Fortbestehen des jüdischen Staats wird in der Forschung als Ausdrucksform antisemitischer Diskurse verstanden. Daher stellt sich die Frage, ob Jüdinnen und Juden in dem Bewegungsdiskurs dieselben (Selbstbestimmungs-)Rechte verweigert werden, die Aktivist/-innen für Palästinenser/-innen solidarisch einfordern. Eine dritte Ambiguität wird durch die spezifische Deutung des israelischen Staats in dem Diskurs aufgeworfen. Die Charakterisierung Israels als völkerrechtswidriger Apartheid- und Kolonialstaat ist der Bewegung zufolge eine neue Deutung des hegemonialen Diskurses über den Nahostkonflikt (Schmidt 2012, 33), die ihn in abstrakte Kategorien übersetzbar und bewertbar macht. Während diese abstrakte Aneignung des universalen Menschenrechtsdiskurses und globaler Unrechtssymboliken – wie »Apartheid«, »Imperialismus« oder »Rassismus« – einerseits emotionale solidarische Resonanzen erzeugt, können sie andererseits auch politische, historische, kulturelle und nationale Diskurse dekontextualisieren. Exemplarisch hierfür steht die Apartheidanalogie zwischen Israel und Südafrika. Die Apartheidanalogie wird von der Antisemitismusforschung oft als simplifizierende (Avnery 2013) oder dekontextualisierende (Schwarz-Friesel/Reinharz 2013, 216) Metapher klassifiziert, die eine einseitige Perspektive auf den Nahostkonflikt hervorbringt, in der israelische Narrationen, Erfahrungen und Sichtweisen hinter dem Schlagwort »Apartheid« unsichtbar werden (Omer 2009 und 2015). Oft wird die Metapher selbst schon als antisemitische Dämonisierung bezeichnet (Bernstein et al. 2018; Bayefsky 2011; Judaken 2008; Taguieff 12
Dafür, dass sich die Boykottforderungen lediglich auf das Ende der seit 1967 besetzten Gebiete und nicht auf das israelische Existenzrecht beziehen, argumentieren etwa Hijab 2009, Erakat 2010. Dagegen argumentieren Bakan und Abu Laban 2009, McMahon 2014.
1 Menschenrechte und Antisemitismus
2004). Dergestalt stellt sich die Frage, ob die ›neue Deutung‹ des Nahostkonflikts durch die Kampagne zu einer entkontextualisierten Konfliktperspektive führt, in der durch simplifizierende Schlagwörter, Analogien und abstrakte Menschenrechtsforderungen der transnationale Solidaritätsakt gegen Israel legitimiert, während israelische Sichtweisen, Rechte und Narrationen durch antisemitische Klassifikationen delegitimiert und zum Schweigen gebracht werden. Diese Kontradiktionen konkretisieren den irritierenden Ausgangspunkt der problemorientierten Forschungspraxis, der nun auf das empirische und theoretische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit übertragen wird.
1.3
Die ambivalente Gleichzeitigkeit von antisemitischen Menschenrechtsforderungen: das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit
Die Genese der Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen, die durch BDS gegen Israel verwirklicht werden sollen, ihre weltweite Verbreitung durch transnationale Solidaritätsaktivist/-innen sowie die spezifischen Boykottziele bilden den irritierenden Ausgangspunkt der problemorientierten Forschungspraxis. Irritierend ist er, weil er von den dargestellten drei kontradiktorischen und ambivalenten Positionierungen durchzogen ist. Widersprüche legitimieren oder delegitimieren eine Protestbewegung allerdings nicht per se, sondern müssen bezüglich ihrer direkten und indirekten Ziele, Absichten und Folgen beurteilt werden.13 Für die vorliegende Untersuchung ist demzufolge nicht die Präsenz von Friktionen innerhalb des propalästinensischen Solidaritätsaktivismus relevant, sondern die Frage nach ihren spezifischen diskursiven Effekten. Der größte und offensichtlichste diskursive Effekt der Kampagne ist die weltweite Diffusion des propalästinensischen Menschenrechtsdiskurses, ein weniger sichtbarer Effekt sind die möglichen Ausschlüsse israelischer Konfliktperspektiven, Ansprüche und Narrationen, die im kulturellen Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts mit der Reproduktion antiisraelischer Antisemitismen einhergehen können. Das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zielt darauf ab, das potenzielle Zusammenspiel eines palästinasolidarischen Menschenrechtsaktivismus mit antisemitischen Deutungsange-
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Damit grenzt sich die vorliegende Arbeit von Zugängen ab, die den Boykott des Staates Israel durch die historische Assoziation mit dem Boykott jüdischer Geschäfte durch die Nationalsozialisten bereits als antisemitisch klassifizieren. Ein Boykott des jüdischen Staats Israels kann vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte Erinnerungen an den antisemitischen Judenboykott des frühen Nationalsozialismus aufrufen. Sie ist jedoch nicht über den historisch kontingenten Kontext der deutschen Vergangenheit generalisierbar.
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1 Menschenrechte und Antisemitismus
2004). Dergestalt stellt sich die Frage, ob die ›neue Deutung‹ des Nahostkonflikts durch die Kampagne zu einer entkontextualisierten Konfliktperspektive führt, in der durch simplifizierende Schlagwörter, Analogien und abstrakte Menschenrechtsforderungen der transnationale Solidaritätsakt gegen Israel legitimiert, während israelische Sichtweisen, Rechte und Narrationen durch antisemitische Klassifikationen delegitimiert und zum Schweigen gebracht werden. Diese Kontradiktionen konkretisieren den irritierenden Ausgangspunkt der problemorientierten Forschungspraxis, der nun auf das empirische und theoretische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit übertragen wird.
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Die ambivalente Gleichzeitigkeit von antisemitischen Menschenrechtsforderungen: das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit
Die Genese der Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen, die durch BDS gegen Israel verwirklicht werden sollen, ihre weltweite Verbreitung durch transnationale Solidaritätsaktivist/-innen sowie die spezifischen Boykottziele bilden den irritierenden Ausgangspunkt der problemorientierten Forschungspraxis. Irritierend ist er, weil er von den dargestellten drei kontradiktorischen und ambivalenten Positionierungen durchzogen ist. Widersprüche legitimieren oder delegitimieren eine Protestbewegung allerdings nicht per se, sondern müssen bezüglich ihrer direkten und indirekten Ziele, Absichten und Folgen beurteilt werden.13 Für die vorliegende Untersuchung ist demzufolge nicht die Präsenz von Friktionen innerhalb des propalästinensischen Solidaritätsaktivismus relevant, sondern die Frage nach ihren spezifischen diskursiven Effekten. Der größte und offensichtlichste diskursive Effekt der Kampagne ist die weltweite Diffusion des propalästinensischen Menschenrechtsdiskurses, ein weniger sichtbarer Effekt sind die möglichen Ausschlüsse israelischer Konfliktperspektiven, Ansprüche und Narrationen, die im kulturellen Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts mit der Reproduktion antiisraelischer Antisemitismen einhergehen können. Das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zielt darauf ab, das potenzielle Zusammenspiel eines palästinasolidarischen Menschenrechtsaktivismus mit antisemitischen Deutungsange-
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Damit grenzt sich die vorliegende Arbeit von Zugängen ab, die den Boykott des Staates Israel durch die historische Assoziation mit dem Boykott jüdischer Geschäfte durch die Nationalsozialisten bereits als antisemitisch klassifizieren. Ein Boykott des jüdischen Staats Israels kann vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte Erinnerungen an den antisemitischen Judenboykott des frühen Nationalsozialismus aufrufen. Sie ist jedoch nicht über den historisch kontingenten Kontext der deutschen Vergangenheit generalisierbar.
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Menschenrechte und Antisemitismus
boten – d.i. die ambivalente Gleichzeitigkeit von antisemitischen Menschenrechtsforderungen – am empirischen Beispiel des BDS-Aktivismus zu untersuchen. Davon ausgehend, stellt sich die Frage, auf welche theoretischen Perspektiven die vorliegende Arbeit zurückgreifen kann, um den irritierenden empirischen Ausgangspunkt zu erklären. Auf den ersten Blick scheinen Aneignung, Verbreitung und Übersetzung von Menschenrechten ein oft bearbeiteter Forschungsschwerpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit transnationalen Bewegungen zu sein (Goodale 2007; Christophersen 2009; Dworkin 1977; Gamson 1992; Tsutsui/Whitlinger/Lim 2012; Tsutsui/Smith 2018; Narr/Roth 1996; Kaldor 2003). Auch Antisemitismen werden relativ häufig im Zusammenhang mit Diskursen der »Neuen Linken«14 analysiert (Wistrich 2004, 2005 und 2015; Arnold 2016; Ullrich 2008 und 2013; Edthofer 2017). Dennoch lassen die etablierten Ansätze der politischen Soziologie, die sich in unterschiedlicher Weise mit dem Untersuchungsphänomen dieser Arbeit beschäftigen, zentrale Aspekte des empirischen Ausgangspunkts unberücksichtigt. Zu diesen zentralen Aspekten gehört, dass sie Brüche, Widersprüche und Ambivalenzen von solidarischen Menschenrechtsdiskursen nicht reflektieren. Ich stelle die Grenzen der jeweiligen Forschungsdisziplinen für das empirische Erkenntnisinteresse im Folgenden überblicksartig15 vor und leite daraus den Mehrwert der eigenen Forschungsperspektive ab. Das Ziel sozialer Proteste wird in der Bewegungsforschung darauf zurückgeführt, »sozialen Wandel durch Protest herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen« (Neidhardt/Rucht 1993, 307). Menschenrechtsideen, Normen und Symbole werden dabei als strategisch einsetzbare Erfolgsressource klassifiziert, durch die es rational handelnden sozialen Bewegungsakteur/-innen gelingen kann, die eigenen Forderungen zu mobilisieren und normativen Wandel umzusetzen (Keck/Sikkink 1998; Schatral 2012; Sikkink 2005; Passy 2009; Brysk 2000; Benford/Snow 2000; Mooney/Hunt 1996). Von dieser ontologischen Grundannahme eines rational handelnden Bewegungsakteurs ausgehend, konzentriert sich das epistemologische Erkenntnisinteresse der Bewegungsforschung dann auf die strukturellen Entstehungs-, Formierungs- und Erfolgsbedingungen sozialer Menschenrechtsbewegungen oder untersucht die Mobilisierungsfunktion menschenrechtsorientierter Solidaritätsdiskurse. Die Analyse des dynamischen Verhältnisses zwischen sozialer Bewegung und dem gesellschaftlichen Kontext, der durch die sym-
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Unter dem Sammelbegriff der »Neuen Linken« versteht die Forschung verschiedene Einzelgruppen, politische Bewegungen und Parteien, die sich seit Mitte der 1960er-Jahre auf emanzipatorisch-sozialistische Praktiken und internationale Ideale beziehen (Backes/Jesse 1993). Die BDS-Bewegung gilt dabei als Teil der »Neuen Linken« (Hirsh 2007; Whine 2010; Hillman 2013; Bundesministerium des Inneren 2011). Eine ausführliche Diskussion des Forschungsstands erfolgt in Kapitel 2.
1 Menschenrechte und Antisemitismus
bolischen Kämpfe um Rechte angegriffen, »neu gedeutet« und durch solidarischen Protest verändert werden soll – wie es weiter oben als Ziel des BDS-Aktivismus artikuliert wurde –, gerät dabei aus dem Blick (ähnlich Ullrich 2015). Damit können auch Phänomene der Exklusion, Kontradiktion und Friktion im Konflikt um die kollektive Deutung der sozialen Wirklichkeit, die insbesondere im diskursiven Kontext des Nahostkonflikts bedeutsam sind, nicht hinreichend erklärt werden. Mit einer ähnlichen epistemologischen Herangehensweise betrachtet auch die politisch-soziologische Menschenrechtsforschung die Beziehung zwischen individuellen wie kollektiven Subjekten und universalen Menschenrechtsdiskursen. In ihrer Extremform reduzieren kritische Perspektiven (Brown 1995; Žižek 2005a; Williams 2010) die westliche Ideologie des universalen Menschenrechtsdiskurses monokausal auf seine marginalisierenden Wirkungsweisen für nicht westliche Subjekte und Diskurse, ohne dabei zu reflektieren, welches Handlungspotenzial universale Menschenrechtsideen für die politische Praxis kollektiver, auch »subalterner« Subjekte in kontingenten, gesellschaftlichen Kontexten eröffnen können. Warum artikuliert die palästinensische Zivilgesellschaft ihre dreifachen Forderungen nach Rechten als Ausdruck eines gemeinsamen Willens des palästinensischen »Volks« (hierzu siehe Abschnitt 1.2.2), wenn universale Menschenrechtsdiskurse nur marginalisierte Objekte produzieren? Zwar gibt es anthropologische Studien (Merry 2006; Levitt/Merry 2009; Acharya 2004; Rosen/Yoon 2009), die sich empirisch mit dem Grad der »Vernakularisierung«, d.i. die kulturelle Aneignung, Reinterpretation und Adaption von Menschenrechtsdiskursen durch lokale Akteure – wie NGOs, soziale Bewegungen und Menschenrechtsaktivist/-innen – beschäftigen. Diese Ansätze reflektieren jedoch Ambivalenzen, Kontradiktionen und Widersprüche im Rahmen des Vernakularisierungsverfahrens ebenso wenig wie Fragen der transnationalen Solidarität mit kulturell-kontextualisierten Menschenrechtsdiskursen, wie sie kennzeichnend für den BDS-Aktivismus sind. Antisemitismustheorien erschöpfen sich meist in dem Forschungsinteresse nach der Deskription historischer (Dis-)Kontinuitäten zwischen »neuen« und »alten« Vorurteilen über Jüdinnen und Juden (Rabinovici/Speck/Sznaider 2004; Schoenfeld 2005; Chesler 2015). Sobald antiisraelische Antisemitismen in linken Bewegungen (Wistrich 2012 und 1979; Mendes 2014; Rubinstein 1982; Traverso 1995; Reiter 2001) untersucht werden, wird überwiegend eine genealogisch-deskriptive Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand eingenommen. Andere Autor/-innen verweisen explizit auf den Nexus zwischen dem neuen Antisemitismus und einer kosmopolitischen Menschenrechtsrhetorik internationaler NGOs (Herzberg 2013; Fishman 2012; Steinberg 2007) und beschreiben die Amalgamierung zwischen Antisemitismen und dem völkerrechtswidrigen »Kolonial-« und menschenrechtsverletzenden »Apartheidframing« Israels (Poller 2012). Insofern all diese Ansätze jedoch ohne eine explizite Einbettung des antisemitischen »Vor-
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Menschenrechte und Antisemitismus
urteils« in eine Gesellschaftstheorie auskommen, verharren sie auf der Ebene der »Deskription des Ressentiments« (Edthofer 2017, 408). Wie sich Antisemitismen im dynamischen Zusammenspiel mit Menschenrechtsdiskursen im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts aktualisieren und mehr noch für die transnationale Solidarisierungsdynamik des palästinensischen Protestdiskurses mobilisierend wirken können, bleibt in diesen Ansätzen ungeklärt. All diesen Zugängen ist dabei gemeinsam, dass sie politische Menschenrechtspraktiken und Antisemitismen zu häufig unabhängig von ihrer Einbettung in gesamtgesellschaftliche Dynamiken betrachten, sodass Gleichzeitigkeiten, Ambivalenzen und Kontradiktionen als diskursive Effekte von solidarischen Menschenrechtsdiskursen, hier dem BDS-Diskurs, nicht hinreichend betrachtet werden können. Aus diesem Grund zielt das theoretische Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit darauf ab, den palästinasolidarischen Diskurs in eine gesellschaftstheoretisch angelegte, relationale Theorieperspektive zu integrieren, mit der Brüche, Ambiguitäten und Friktionen nicht als unauflösbare Paradoxie, sondern als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden können. Postmoderne politische Soziologien in ihrer poststrukturalistischen Ausrichtung lehnen ein vermeintliches Fundament gesellschaftlicher Strukturen, fest fixierter Identitäten und stabiler Grenzziehungen innerhalb der Sphäre des Sozialen ab und betonen den Bruch, die Ambivalenz und Konflikthaftigkeit als Movens gesellschaftlicher Auseinandersetzung um die diskursive Aushandlung der sozialen Wirklichkeit. Aus diesem Grund eignen sie sich für ein Verständnis des symbolischen Kampfes der BDS-Bewegung, der gerade durch den Widerspruch charakterisiert wird. Ich möchte in dieser Arbeit auf Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes Hegemonie- und Diskurstheorie (2000, darauf aufbauend: Laclau 1990, 1994, 2000, 2002, 2005 und 2017), Jacques Lacans kulturtheoretische Psychoanalyse sowie ihre ideologietheoretische Weiterentwicklung durch u.a. Slavoj Žižek (1997, 1998, 1999, 2000 und 2013; auch Glynos/Howarth 2007; Glynos/Stavrakakis 2002 und 2004; Stavrakakis 1999 und 2007) als poststrukturalistische Sozialund Gesellschaftstheorie zurückgreifen, die als allgemeine Ontologie in dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden soll. Ausgehend von der dadurch gewonnenen theoretischen Konzeption, werden soziologische Zugänge zu Menschenrechten (Joas 2015; Douzinas 2000; Wardle 2016; Salecl 1994) ebenso wie soziologische Antisemitismusansätze (Holz 2001 und 2005; Haury 2002) poststrukturalistisch trianguliert. Die Triangulation mit den erwähnten Zugängen resultiert dabei aus der empirischen Beobachtung, der zufolge Menschenrechtsforderungen und Antisemitismen eine Schnittstelle im politischen Kampf der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung einnehmen. Damit reflektiert die theoretische Heuristik die besonderen Merkmale der Protestdynamik im empirischen Kontext des Nah-
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ostkonflikts und entwickelt so ein innovatives Analysemodell, das die Vermittlung zwischen Sozial- und Gesellschaftstheorie mit der konkreten empirischen Praxis vollzieht (ähnlich argumentieren Leinius, Vey und Hagemann 2017, 4; Reckwitz 2016, 12). Die folgenden Abschnitte zeigen auf, wie ein solches dynamisches Modell der paradoxen Situation menschenrechtsorientierter Antisemitismen theoretisch begegnen kann.
1.3.1
Eine poststrukturalistische Perspektive auf die Deutungsarbeit sozialer Bewegungen: hegemoniale Projekte, soziale Fantasien und die Einheit der Paradoxie
Das übergeordnete Ziel dieser Arbeit ist es, die eingangs zitierte »paradoxe Situation« menschenrechtsorientierter Antisemitismen einerseits im empirischen Feld des transnationalen Palästinasolidaritätsaktivismus, andererseits in den bislang getrennt voneinander diskutierten Forschungsfeldern aufzulösen. Das theoretische Modell, die konkreten Analyseverfahren ebenso wie die untersuchte Fallstudie dieser Arbeit stehen demnach in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Im ersten Teil dieser Arbeit wird demzufolge eine umfassende Gesellschafts- und Sozialtheorie entwickelt, die menschenrechtsorientierte Antisemitismen theoretisch erklären kann. Der folgende Abschnitt zeigt auf, weshalb Antisemitismen im menschenrechtsorientierten Umfeld aus einer radikalkonstruktivistischen Konfliktperspektive nicht als Paradoxie, sondern als sinnstiftende Einheit interpretiert werden können. Mit der Diskurs- und Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2000) wählt diese Arbeit eine poststrukturalistische und postmarxistische Forschungsperspektive für die Untersuchung transnationaler Bewegungen, die sich auf diskursive Prozesse des fortwährenden Kampfes um gesellschaftliche Hegemonien und darin enthaltener Bruchlinien fokussiert (Glasze/Mattissek 2009; Krüger 2015; Stäheli/Hammer 2016; Nonhoff 2006). Im Zentrum der Sozial- und Gesellschaftstheorie Laclaus und Mouffes steht eine radikale Kontingenz- (Marchart 2013a, 49) und Konfliktperspektive auf Gesellschaft, die von dem Interesse geleitet wird, die machtvolle Erzeugung hegemonialer Ordnungen zu dechiffrieren, d.h. zu verdeutlichen, dass diese immer temporär stabilisierte Ergebnisse politischer Kämpfe um gesellschaftliche Deutungen darstellen und damit grundsätzlich veränderbar ist (Flügel-Martinsen 2017, 20). Dieser antiessenzialistische Ausgangspunkt macht die theoretischen Überlegungen Laclaus und Mouffes für ein Verständnis des politischen Kampfs der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung, der sich in der antagonistischen Sphäre des Nahostkonflikts nun als politischer Kampf um die hegemoniale Deutung sozialer Wirklichkeit kategorisieren lässt, aus zweierlei Gründen interessant.
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Menschenrechte und Antisemitismus 1. Wenn gesellschaftliche Wirklichkeit radikal kontingent ist, werden die politischen Kämpfe sozialer Bewegungen als Angriff auf oder Infragestellung des herrschenden Status quo begreifbar und damit aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive analysierbar (Leinius/Vey/Hagemann 2017, 10) 2. Der Fokus auf politische Kämpfe um Hegemonie stellt dabei die konkreten Prozesse der diskursiven Konstruktion gesellschaftlicher Praktiken und Verhältnisse ins Zentrum der Analyse. Hegemonie ist dabei immer das instabile Resultat des Kampfes »zwischen antagonistischen Positionen« (Flügel-Martinsen 2017, 22). Demzufolge werden soziale Identitäten, Akteure, Ideen, Handlungen, Institutionen, Praktiken, kurzum alles, was Gesellschaft ist (Laclau/Mouffe 2000), immer durch die Differenzbeziehungen zu anderen Gruppen, Subjekten und Deutungen konstituiert. Damit richtet sich der Blick auf die identitätsstiftende Funktion von Grenzziehungsprozessen zwischen »Eigenem« und »Fremdem«.
Insgesamt hilft die Diskurs- und Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes, die Beziehung zwischen Gesellschaft und dem politischen Kampf sozialer Bewegung – in meinem Fall der BDS-Bewegung – in den Vordergrund zu stellen und dabei den Blick auf die Prozesse der Identitätsbildung und Grenzziehung im Rahmen der konflikthaften Aushandlung hegemonialer Wirklichkeit zu richten. Im Anschluss an Jacques Lacan plädiert Slavoj Žižek für eine Ergänzung der Diskurs- und Hegemonietheorie um den Subjekt- und Begehrensbegriff der Lacan’schen Psychoanalyse. In der Lacan’schen Psychoanalyse wird das Subjekt durch einen fundamentalen Mangel charakterisiert (Lacan 1991a, 1991b, 1991c und 1991d). Dieser konstitutive Mangel des Subjekts wird durch soziale Fantasien verschleiert, indem er auf einen antagonistischen Gegner – wie beispielsweise »Migrant/-innen« oder »Jüdinnen und Juden« in rassistischen/antisemitischen Diskursen – projiziert wird, der als »Sündenbock« für gesellschaftlich und subjektiv unverstandene Prozesse, Ambivalenzen und Konflikte fungiert. Soziale Fantasien werden dabei als ideologische Narrative definiert, die hegemoniale Projekte durch »emotionale Besetzungen« (Hall 2011, 657) plausibilisieren und ihnen die kulturell spezifische Bedeutung des Begehrenswerten zukommen lassen. Diese relationale Ausrichtung auf die Beziehung zwischen gesellschaftlichen Diskursen und politischen Subjektivitäten verspricht einen zentralen Mehrwert für die Frage nach der transnationalen Solidarisierung mit dem palästinensischen Protestanliegen und seinen inhärenten Kontradiktionen. Mit einem psychoanalytischen Verständnis von Protest als eine Art »Affektenlehre« (Marchart 2013a, 438) richtet sich der analytische Blick durch die Betrachtung soziodiskursiver und psychodynamischer Prozesse der (subjektiven) Identifikation und (kollektiven) Identitätsbildung auf die affektive Begehrensdynamik kulturspezifischer Identifikationsprozesse (Reckwitz 2008, 68) hegemonialer Projekte. Der Mehrwert einer solchen Ausrichtung liegt dann in seinem Verständnis für
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das duale Zusammenspiel viszeraler, atavistischer, paranoider Fantasien einerseits und dem psychologischen Wunsch nach gesellschaftlicher Heilung, nach subjektiver Vollkommenheit durch die kontingenzverschleiernde Funktion sozialer Fantasien (Žižek 1992 und 1998) andererseits. Mit einem subjektorientierten Zugang auf ideologische Fantasien erklärt sich die weltweite Solidarisierung mit dem partikularen Anliegen der Palästinenser/innen nicht durch das Handeln rationaler Bewegungsakteure, sondern durch die affektive Anziehungskraft von Fantasien und ihrer kulturspezifischen Identifikationsangebote innerhalb des BDS-Aktivismus. Ausgehend von den theoretischen Erkenntnissen der poststrukturalistischen Diskurs- und Hegemonietheorie sowie ihrer Weiterentwicklung in der Tradition der Essex School16 , werden verschiedene sozialwissenschaftliche Zugänge der Menschenrechts- und Antisemitismusforschung qua Theorietriangulation17 (Denzin 1970) in eine umfassende theoretische Heuristik überführt. Diese Integration um weitere theoretische Zugänge ist deswegen notwendig, um die Vermittlung zwischen Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie vollziehen zu können, der zufolge Menschenrechte und Antisemitismen eine erklärungsbedürftige Schnittstelle im Bewegungsdiskurs der transnationalen Palästinasolidarität bilden. In einem ersten Schritt werden die hegemonie- und subjekttheoretischen Grundlagen der entwickelten poststrukturalistischen Gesellschafts- und Sozialtheorie durch sozialphilosophische (Joas 2015), psychoanalytische (Douzinas 2000; Wardle 2016; Salecl 1994) und sozialkonstruktivistische (Cheah 2014; Yuval-Davis 2011 und 2003) Ansätze der politisch-soziologischen Menschenrechtsforschung komplementär ergänzt. Damit ist ein zweifaches Ziel verbunden. Durch eine Lacan’sche Lesart von Menschenrechtsdiskursen wird erstens das affektive Investment von Subjekten in soziale Menschenrechtsfantasien und ihrer imaginären Begehrensdynamik in das Zentrum der Betrachtung gerückt. Der Mehrwert eines subjektiven Begehrensverständnis für Menschenrechtsnarrative liegt darin begründet, aufzeigen zu können, welche globale Anschlussfähigkeit, subjektive Attraktivität und emotive Mobilisierungskraft die menschenrechtsorientierten Identifikationsangebote des palästinasolidarischen Rechtediskurses besitzen. Mit einer diskurs- und hegemonietheoretischen Perspektive auf Menschenrechte soll zweitens die Universalisierungslogik politischer Kämpfe um Rechte
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Unter Essex School wird die von Laclau und Mouffe inspirierte politische Diskurstheorie (Political Discourse Theory [PDT]) verstanden, die einen Fokus auf artikulatorische Praktiken, Identitäten, Prozesse, Subjektivitäten und ideologische Diskurse legt (Münch 2016, 64). Für einen Überblick über die Vielzahl der Studien der Essex School siehe Townshend 2003. Der positivistische Begriff der Triangulation (Denzin 1970) wird in Kapitel 4.1.2 einer postpositivistischen Reartikulation unterzogen.
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konzeptualisierbar werden. Als (imaginäre) Universalisierungslogik für partikulare Kämpfe kann der Universalitätsanspruch der Menschenrechte und seiner Leitmotive der Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde verstanden werden, der den Kampf um gleiche Rechte als Handlungspotenzial für die politische Praxis gegenhegemonialer Kräfte (Laclau/Mouffe 2000) eröffnet und plausibilisiert. Die hegemonietheoretische Interpretation von Menschenrechten zeigt dann, wie sich soziale Akteur/-innen auf die universale Norm in kontingenten politischen Praktiken beziehen, d.h., wie eine lokale Konfliktlage als Situation ungleicher Rechte interpretiert werden kann und gegen welche soziale Ordnung sich der Kampf um Rechte richtet. In einem zweiten Schritt werden sozialpsychologische (Adorno/Horkheimer 2008; Ostow 1988) und soziologische Ansätze (Holz 2001 und 2005; Haury 2002) der Antisemitismusforschung hegemonie- und ideologietheoretisch reformuliert. Auch hieran ist ein doppeltes Ziel geknüpft. Mit einer an Lacans Psychoanalyse geschulten Perspektive werden Antisemitismen erstens hinsichtlich ihrer subjektiv-affektiven Wirkungsweise als grauenvolle Dimension sozialer Fantasien konzeptualisiert. Es wird ein zentrales Argument von Kapitel 3 sein, dass Antisemitismen als emotiv besetzte und kulturell anpassungsfähige Identifikationsangebote wirksam werden, die als obszön überzeichnete ideologische Fiktionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit ressentimentgesteuerte Gefühle von Wut, Aggression und Hass produzieren. Der Blick auf den manichäischen Charakter antisemitischer Fantasien und ihrer Welterklärungsfunktion kann dann eine vielversprechende Erklärung liefern, warum sich Subjekte mit dem Identifikationsangebot des palästinensischen Menschenrechtsdiskurses solidarisieren. Der diskurs- und hegemonietheoretische Blick auf Antisemitismen zeigt zweitens, wie antiisraelische Antisemitismen in historisch kontingenten Kontexten ausgehandelt und entsprechend einer »Kommunikationslatenz« (Bergmann/Erb 1986) offen antisemitischer Artikulationsweisen durch die politische Praxis angepasst werden können. Im Kontext des Nahostkonflikts ist es demzufolge die Frage der Differenzbeziehung zu israelischen Perspektiven, Identitäten und Ansprüchen, die damit fokussiert werden kann. Ein zentrales Argument wird dabei sein, dass über Israel artikulierten Antisemitismen, ihren spezifischen Mechanismen der Dämonisierung und Delegitimierung, ein komplexitätsreduzierender Zweck im kontingenten Diskurs des Nahostkonflikts zukommt. Insgesamt entwickelt die problemorientierte Forschungspraxis im ersten Teil dieser Arbeit eine umfassende Gesellschafts- und Sozialtheorie, die sich im reziproken Austausch mit der Empirie befindet. Aus einer radikalkonstruktivistischen Konfliktperspektive stellen menschenrechtsorientierte Antisemitismen damit keine scheinbare Paradoxie dar, sondern können als sinnstiftende Einheit
1 Menschenrechte und Antisemitismus
in der antagonistischen Auseinandersetzung um gesellschaftliche Hegemonie interpretiert werden. Ausgehend von der daraus gewonnen Theoriematrix, wird im zweiten Teil dieser Arbeit eine qualitative Fallstudie über die Diskursproduktion dreier zentraler Netzwerke der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung durchgeführt. Der folgende Abschnitt zeigt, wie die theoretische Heuristik poststrukturalistisch operationalisiert und auf den problematisierten Gegenstand empirisch angewendet wird.
1.4
Poststrukturalistische Operationalisierung: Forschungsfrage und Methoden
Der zweite Teil dieser Arbeit zielt auf die Umsetzung einer qualitativen Fallstudie über die Diskursproduktion dreier zentraler Netzwerke der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung, wobei diese als paradigmatische Fälle für den gesamten Diskurs der TPSB gelten. Um ein kohärentes und umfassendes Forschungsprogramm zu entwickeln, zeige ich nun erstens, wie die Theorie in die Methodologie übertragbar wird, und gehe zweitens darauf ein, mit welcher Methode die qualitative Fallstudie analysiert werden soll. Durch die Übersetzung der Theorie in Methodologie und Methode wird dabei gleichzeitig dem oft zitierten methodologischen Defizit poststrukturalistischer Forschungspraktiken begegnet (s. hierzu ausführlich Kap. 4). Dabei greift die vorliegende Arbeit auf eine Form der Operationalisierung der Laclau-/Mouffe’schen Theorie zurück, die vor allem in der englischsprachigen Literatur (Methmann 2014; Zienkowski 2017; Hawkins 2015) stark rezipiert wurde. Hierbei handelt es sich um die »Logics of Critical Explanation«, die Jason Glynos und David Howarth (2007) als »theoretisch-methodologisches Denkgebäude« (Mattissek 2011, 264) für die hegemonietheoretischen Prämissen Laclaus und Mouffes und ihrer Anwendbarkeit für empirisch zu beobachtende, diskursive Praktiken entwickelt haben. Auch im deutschsprachigen Soziologiekontext ist der innovative »Logiken-Ansatz« als poststrukturalistisches Scharnier zwischen den ontologischen Annahmen der Hegemonietheorie und seiner kontextspezifischen Übertragung vermehrt verwendet worden (Bedall 2014; Krüger 2015; Mattissek 2011). Aus diesem Grund soll er in dieser Arbeit für das untersuchte Fallbeispiel des transnationalen Boykottaktivismus gegen Israel fruchtbar gemacht werden. Um gesellschaftliche Phänomene dechiffrieren, charakterisieren und erklären zu können, differenzieren Glynos und Howarth zwischen drei verschiedenen Typen von Logiken, die Reproduktions- und Transformationsprozesse sozialer Praktiken und Regime sichtbar machen. Logiken werden in Anlehnung an Laclau und Mouffe als relationales Set von Subjektpositionen, Objekten, Bedeutungen, Ideen und In-
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in der antagonistischen Auseinandersetzung um gesellschaftliche Hegemonie interpretiert werden. Ausgehend von der daraus gewonnen Theoriematrix, wird im zweiten Teil dieser Arbeit eine qualitative Fallstudie über die Diskursproduktion dreier zentraler Netzwerke der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung durchgeführt. Der folgende Abschnitt zeigt, wie die theoretische Heuristik poststrukturalistisch operationalisiert und auf den problematisierten Gegenstand empirisch angewendet wird.
1.4
Poststrukturalistische Operationalisierung: Forschungsfrage und Methoden
Der zweite Teil dieser Arbeit zielt auf die Umsetzung einer qualitativen Fallstudie über die Diskursproduktion dreier zentraler Netzwerke der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung, wobei diese als paradigmatische Fälle für den gesamten Diskurs der TPSB gelten. Um ein kohärentes und umfassendes Forschungsprogramm zu entwickeln, zeige ich nun erstens, wie die Theorie in die Methodologie übertragbar wird, und gehe zweitens darauf ein, mit welcher Methode die qualitative Fallstudie analysiert werden soll. Durch die Übersetzung der Theorie in Methodologie und Methode wird dabei gleichzeitig dem oft zitierten methodologischen Defizit poststrukturalistischer Forschungspraktiken begegnet (s. hierzu ausführlich Kap. 4). Dabei greift die vorliegende Arbeit auf eine Form der Operationalisierung der Laclau-/Mouffe’schen Theorie zurück, die vor allem in der englischsprachigen Literatur (Methmann 2014; Zienkowski 2017; Hawkins 2015) stark rezipiert wurde. Hierbei handelt es sich um die »Logics of Critical Explanation«, die Jason Glynos und David Howarth (2007) als »theoretisch-methodologisches Denkgebäude« (Mattissek 2011, 264) für die hegemonietheoretischen Prämissen Laclaus und Mouffes und ihrer Anwendbarkeit für empirisch zu beobachtende, diskursive Praktiken entwickelt haben. Auch im deutschsprachigen Soziologiekontext ist der innovative »Logiken-Ansatz« als poststrukturalistisches Scharnier zwischen den ontologischen Annahmen der Hegemonietheorie und seiner kontextspezifischen Übertragung vermehrt verwendet worden (Bedall 2014; Krüger 2015; Mattissek 2011). Aus diesem Grund soll er in dieser Arbeit für das untersuchte Fallbeispiel des transnationalen Boykottaktivismus gegen Israel fruchtbar gemacht werden. Um gesellschaftliche Phänomene dechiffrieren, charakterisieren und erklären zu können, differenzieren Glynos und Howarth zwischen drei verschiedenen Typen von Logiken, die Reproduktions- und Transformationsprozesse sozialer Praktiken und Regime sichtbar machen. Logiken werden in Anlehnung an Laclau und Mouffe als relationales Set von Subjektpositionen, Objekten, Bedeutungen, Ideen und In-
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stitutionen verstanden, die in einer bestimmten diskursiven Formation (Regime18 ) zusammenspielen. Während soziale Logiken einzelne Praktiken oder Regime in unterschiedlichen Kontexten beschreiben, zeigen politische Logiken auf, wie Regime oder Praktiken auftauchen, angegriffen und verändert werden können. Zuletzt erklären phantasmatische Logiken, warum Subjekte für bestimmte Praktiken oder Regime eingenommen werden können. Wird der politische Kampf um die hegemoniale Durchsetzung des palästinensischen Protestanliegens nun als Regime von Praktiken verstanden, lassen sich die zuvor dargestellten theoretischen Zugänge in die drei Logiken integrieren. Diese Integration in den Ansatz der »Logiken kritischer Erklärung« ist deswegen relevant, um das empirische und theoretische Erkenntnisinteresse in konkrete Forschungsfragen zu übersetzen und damit ein umfassendes, poststrukturalistisches Forschungsdesign vorzustellen (Methmann 2014, 13). Das Konzept der politischen Logik ist mit dem Laclau-/Mouffe’schen Hegemonieverständnis kongruent, während phantasmatische Logiken das Lacan’sche Subjektverständnis und damit die affektiv-kathektische Bindung von partikularen Diskursen in ein methodologisches Framework übersetzbar machen. Die soziale Logik erklärt dann, gegen welche sozial sedimentierten Praktiken und Regime sich die ›neuen‹ Ideale, Ideen und Forderungen richten. Ausgehend von diesem methodologischen Framework der »Logiken kritischer Erklärung«, leiten Glynos und Howarth drei zentrale Forschungsfragen ab, die jede problematisierte Forschungspraxis begleiten und als Scharnier zwischen den theoretischen Konzepten und der konkreten empirischen Praxis gelten: »what, how, and why-questions« (2007, 108). Im Untersuchungsfeld der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung stellen sich die konkreten Forschungsfragen, die das empirische und theoretische Erkenntnisinteresse nun in drei Fragestellungen übersetzen, folgendermaßen dar: 1. Wenn soziale Wirklichkeit kontingent und umkämpft ist, muss sich die erste Forschungsfrage darauf konzentrieren, was die Praktiken und Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts charakterisiert – d.i. die soziale Logik –, die von der TPSB angegriffen wird. 2. Wenn Hegemonie immer das Ergebnis des antagonistischen Kampfes um die eigenen Forderungen, soziale Identitäten und Ideen in Differenz zu anderen Gruppen, Subjekten und Deutungen ist, zielt die zweite Forschungsfrage darauf ab, zu untersuchen, wie – d.h. durch welche politische Logik – sich die partiku-
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Der Unterschied zwischen einem Regime und einer Praktik liegt in der »nächsthöheren Organisationsebene« (Mattissek 2011, 267) begründet. Demzufolge produzieren Praktiken Regime.
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laren Forderungen nach Rechten der Palästinenser/-innen hegemonialisieren und welche Stellung antisemitische Differenzkonstruktionen dabei einnehmen. 3. Wenn soziale Fantasien als ideologische Narrative hegemonialer Projekte gelten, die das subjektive Identifikationsangebot durch emotionale Besetzung plausibilisieren, übersetzt sich die dritte Forschungsfrage nun dahingehend, welche affektiv-ideologische Anziehungskraft Antisemitismen und Menschenrechtsnarrative – d.i. die phantasmatische Logik – für die Transnationalisierung des palästinensischen Protestanliegens einnehmen. Diese drei heuristischen Fragen, die zusammengenommen ein problematisiertes Phänomen kritisch erklären können, beantworten nun das übergeordnete Erkenntnisinteresse dieser Arbeit: die paradoxe Situation menschenrechtsorientierter Antisemitismen theoretisch und empirisch auflösen zu können. Der folgende Abschnitt zeigt, mit welcher Methode die qualitative Fallstudie analysiert werden kann.
1.4.1
Triangulation durch Genealogie, politische Strategemanalyse und Logiken der kritischen Erklärung
Um die drei Forschungsfragen im zweiten Teil dieser Arbeit anhand einer qualitativen Fallstudie über die Diskursproduktion dreier zentraler Netzwerke der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung erklären und analysieren zu können, werden drei unterschiedliche Methoden poststrukturalistisch trianguliert. Die gewählten Methoden sind dabei als diskursive Analysestrategien angelegt, die unterschiedliche Aspekte des problematisierten Phänomens »der Paradoxie antisemitischer Menschenrechtsdiskurse« mit je unterschiedlichen Analysetools beleuchten kann. Um die erste Forschungsfrage, »was die Praktiken und Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts charakterisieren«, rekonstruieren zu können, wird eine genealogische Betrachtung über die hegemoniale Verfasstheit des Diskurses über den Nahostkonflikt dargestellt. Die Datengrundlage bilden hierbei Primärund Sekundärliteratur. Die zweite Forschungsfrage, wie und ob sich partikulare Forderungen nach Rechten durch Antisemitismen hegemonialisieren, wird mit der Methode der Strategemanalyse (Nonhoff 2006, 2007 und 2008) analysiert. Das Konzept der Strategeme wird von Nonhoff aus dem Theoriewerk Laclaus und Mouffes extrahiert, um die »methodische Lücke« (Marchart 2013b, 161) der Hegemonietheorie zu schließen. Demzufolge eignet sie sich auch für die Rekonstruktion des Versuchs der Durchsetzung von Hegemonie sozialer Bewegungen. Durch die dritte Forschungsfrage soll die Frage nach dem Warum des Solidaritätsaktivismus nachvollzogen werden. Um die Benennung von phantasmatischen
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Menschenrechte und Antisemitismus
Logiken methodisch kontrolliert aus den empirischen Daten herauskristallisieren zu können, werden in Anlehnung an Glynos und Howarth (2007) narrative Muster rekonstruiert. Insgesamt zeigt sich durch die forschungspraktische Entscheidung einer poststrukturalistischen Triangulation unterschiedlicher Methoden, wie divergierende Aspekte des problematisierten Phänomens ambivalenter Solidarität mit einem menschenrechtsorientierten Antisemitismus sichtbar gemacht werden können. Im nächsten Abschnitt stelle ich die konkrete Samplingstrategie sowie das Datenmaterial der untersuchten Fallstudie vor.
1.4.2
Samplingstrategie und Datenauswahl
Problemorientierte Forschung, die, ausgehend von einem empirischen Phänomen, theoretische Prämissen, Forschungsfragen und Analysestrategien im ständigen Oszillieren zwischen Theorie und Empirie bildet, kann auf eine empirische Fallanalyse nicht verzichten. Demzufolge wird im zweiten Teil dieser Arbeit eine qualitative Fallstudie über die Diskursproduktion dreier zentraler Netzwerke der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung – der Boykott-, Desinvestitionen undSanktionen-Kampagne gegen Israel (BDS), der palästinensischen Kampagne für den akademischen und kulturellen Boykott (PACBI) sowie der Grassroots Palestinian Anti-Apartheid Wall Campaign (Stop the Wall) – durchgeführt, die als paradigmatischer Fall für den Gesamtdiskurs der TPSB gelten kann. Entsprechend muss eine Samplingstrategie gewählt werden, die die Anschlussfähigkeit19 der Ergebnisse erlaubt. Aus dreierlei Gründen repräsentieren die drei Netzwerke den gesamten Fall der insgesamt 171 Gruppierungen des transnationalen Palästinasolidaritätsnetzwerks. Erstens korrelieren sie hinsichtlich einer kollektiv geteilten Forderungsstruktur nach dreifachen Rechten für das palästinensische ›Volk‹ sowie der spezifischen Deutung des Nahostkonflikts. Diese Lesart wird durch ihre gemeinsame Unterschrift des BDS-C alls von 2005 sichtbar. Auf den Seiten 145 bis 147 ist die kollektiv geteilte Ideologie der Bewegung als Samplingstrategie abgebildet. Zweitens stehen sie als paradigmatische Fälle für die ganze Klasse des ProPalästina-Aktivismus, weil sie sowohl eines der ersten (Stop the Wall, PACBI) als auch eines der größten (BDS-)Netzwerke des palästinensischen Graswurzelaktivismus (Non-violent-grassroot activism) darstellen, die einen rechtebasierten Protestansatz verfolgen (Bröning 2011; Schmidt 2012; Ananth 2013; Carter Hallward 2013).
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In dieser Arbeit wird der Begriff der Anschlussfähigkeit oder Generalisierung nicht in einem positivistischen Sinne verwendet. Hierzu siehe Kapitel 4.2.
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Drittens werden sie als kritische Fallbeispiele (Flyvbjerg 2006) gesampelt. Kritische Fallbeispiele stärken oder schwächen eine Hypothese im Sinne eines »mostlikely cases«. Die drei Solidaritätsnetzwerke wurden sowohl medial als auch im akademischen Diskurs mit der Reproduktion antisemitischer Grenzziehungsprozesse in Verbindung gebracht. Demzufolge wurden sie als »most-likely case« ausgesucht, der die Hypothese zugrunde liegt: Wenn die These, dass sich im Umfeld des BDS-Aktivismus menschenrechtsorientierte Antisemitismen in den Diskurs integrieren, in diesen drei gewählten Fällen, bei denen alles dafürspricht, nicht zutrifft, wird die These wohl nirgendwo gelten. Das konkrete Datenmaterial bilden dabei die Internetpräsenzen der Bewegung. Aus forschungsstrategischen Überlegungen wurden als Zugang zu den Diskursbeiträgen der TPSB deren Internetauftritte gewählt. Dieser Textauswahl lag die Beobachtung zugrunde, dass das Internet und damit affiliierte Kommunikationskanäle eine Art materialer Infrastruktur für den transnationalen Aktivismus darstellen (della Porta 2009). Die Internetseiten der drei Netzwerke werden entsprechend den bereits erwähnten Methoden untersucht. Insgesamt ergibt sich aus den einzelnen elaborierten Schritten des Forschungsprogramms die im Folgenden dargestellte Struktur der Studie.
1.5
Struktur der Studie
Die Studie gliedert sich in zwei Sinnabschnitte. Im ersten Teil dieser Arbeit (Kap. 24) werden die konzeptuellen Grundlagen der Studie gelegt. Ausgehend von den jeweiligen Forschungslücken ambivalenter Solidaritätsdiskurse, werden theoretische Ansätze und methodologische Überlegungen der Studie dargestellt. Im zweiten Teil der Arbeit (Kap. 5 und 6) sollen die drei Forschungsfragen mithilfe der entwickelten theoretischen Heuristik, ihrer methodologischen Übersetzung und methodischen Umsetzung beantwortet werden. Die qualitative Fallstudie ist dabei nicht als vergleichende Untersuchung unterschiedlicher Diskurse dreier Netzwerke des Palästinasolidaritätsaktivismus angelegt, sondern wird als paradigmatischer Ausdruck eines Gesamtdiskurses betrachtet. Konkret gliedert sich das Buch in sechs Kapitel. In Kapitel 2 werden die dominanten Forschungsansätze, die sich dem Untersuchungsgegenstand »transnationale Bewegungen« nähern, vorgestellt. Über die Rekonstruktion der theoretischen Grenzen der sozialwissenschaftlichen Bewegungs-, (2.1.1) Menschenrechts- (2.1.2) und Antisemitismusforschung (2.1.3) für die Fragestellungen dieser Arbeit wird der Mehrwert eines dynamischen Theorieverständnisses von Gesellschaft, Subjekt, Macht und sozialer Bewegung abgeleitet. Diese konzeptuelle Blickverschiebung auf soziale Bewegung (Leinius/Vey/Hagemann 2017) wird in Kapitel 3 als theoretische Heuristik entwickelt. Die theore-
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Drittens werden sie als kritische Fallbeispiele (Flyvbjerg 2006) gesampelt. Kritische Fallbeispiele stärken oder schwächen eine Hypothese im Sinne eines »mostlikely cases«. Die drei Solidaritätsnetzwerke wurden sowohl medial als auch im akademischen Diskurs mit der Reproduktion antisemitischer Grenzziehungsprozesse in Verbindung gebracht. Demzufolge wurden sie als »most-likely case« ausgesucht, der die Hypothese zugrunde liegt: Wenn die These, dass sich im Umfeld des BDS-Aktivismus menschenrechtsorientierte Antisemitismen in den Diskurs integrieren, in diesen drei gewählten Fällen, bei denen alles dafürspricht, nicht zutrifft, wird die These wohl nirgendwo gelten. Das konkrete Datenmaterial bilden dabei die Internetpräsenzen der Bewegung. Aus forschungsstrategischen Überlegungen wurden als Zugang zu den Diskursbeiträgen der TPSB deren Internetauftritte gewählt. Dieser Textauswahl lag die Beobachtung zugrunde, dass das Internet und damit affiliierte Kommunikationskanäle eine Art materialer Infrastruktur für den transnationalen Aktivismus darstellen (della Porta 2009). Die Internetseiten der drei Netzwerke werden entsprechend den bereits erwähnten Methoden untersucht. Insgesamt ergibt sich aus den einzelnen elaborierten Schritten des Forschungsprogramms die im Folgenden dargestellte Struktur der Studie.
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Struktur der Studie
Die Studie gliedert sich in zwei Sinnabschnitte. Im ersten Teil dieser Arbeit (Kap. 24) werden die konzeptuellen Grundlagen der Studie gelegt. Ausgehend von den jeweiligen Forschungslücken ambivalenter Solidaritätsdiskurse, werden theoretische Ansätze und methodologische Überlegungen der Studie dargestellt. Im zweiten Teil der Arbeit (Kap. 5 und 6) sollen die drei Forschungsfragen mithilfe der entwickelten theoretischen Heuristik, ihrer methodologischen Übersetzung und methodischen Umsetzung beantwortet werden. Die qualitative Fallstudie ist dabei nicht als vergleichende Untersuchung unterschiedlicher Diskurse dreier Netzwerke des Palästinasolidaritätsaktivismus angelegt, sondern wird als paradigmatischer Ausdruck eines Gesamtdiskurses betrachtet. Konkret gliedert sich das Buch in sechs Kapitel. In Kapitel 2 werden die dominanten Forschungsansätze, die sich dem Untersuchungsgegenstand »transnationale Bewegungen« nähern, vorgestellt. Über die Rekonstruktion der theoretischen Grenzen der sozialwissenschaftlichen Bewegungs-, (2.1.1) Menschenrechts- (2.1.2) und Antisemitismusforschung (2.1.3) für die Fragestellungen dieser Arbeit wird der Mehrwert eines dynamischen Theorieverständnisses von Gesellschaft, Subjekt, Macht und sozialer Bewegung abgeleitet. Diese konzeptuelle Blickverschiebung auf soziale Bewegung (Leinius/Vey/Hagemann 2017) wird in Kapitel 3 als theoretische Heuristik entwickelt. Die theore-
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tische Heuristik wird dabei aus poststrukturalistischen Ansätzen der Sozialwissenschaft mit einem spezifischen Fokus auf die Hegemonie- und Diskurstheorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes ebenso wie ihrer subjekttheoretischen Weiterentwicklung durch einzelne Autor/-innen der Essex School entfaltet. Ziel ist es, die politische Praxis sozialer Bewegungen als Kampf um Hegemonie darzustellen und damit die prozessualen Mechanismen der Herstellungs- und subjektiven Identifikationsmechanismen mit bestimmten Forderungen, Idealen und Leitbildern zu werfen, die selbst durch Widersprüche, Ambivalenzen und Kontradiktionen gekennzeichnet sind (3.1-3.5). Davon ausgehend, werden theoretische Zugänge der politik- und sozialwissenschaftlichen Menschenrechtsforschung (3.6.) ebenso wie soziologische Antisemitismuszugänge (3.7) poststrukturalistisch trianguliert (3.8), um den problematisierten Gegenstand in Kapitel 5 angemessen untersuchen zu können. Kapitel 4 leitet den methodologischen Erklärungsrahmen aus der entwickelten theoretischen Heuristik ab. Gegenstand des Kapitels wird die Reflexion poststrukturalistischer Methodologien und ihrer konkreten Forschungspraxis sein. Das zentrale Ziel des Kapitels ist es, dem vielfach kritisierten methodologischen Transparenzdefizit interpretativer Sozialforschung durch die Offenlegung der eigenen Forschungspraxis sowie der Elaboration von Plausibilität als Gütekriterien qualitativer Sozialforschung zu begegnen (4.1). En passant rekonstruiert das Kapitel auch die gewählten diskursanalytischen Methoden dieser Arbeit, ebenso wie das zugrunde liegende Datenmaterial und Auswertungsverfahren (4.2-4.3). Kapitel 5 stellt die Ergebnisse der Auswertung des theoretischen und empirischen Materials in 3 Unterkapiteln dar. Dabei wird die erste Forschungsfrage durch die Rekonstruktion von Primär- und Sekundärliteratur der hegemonialen Logik des Diskurses über den Nahostkonflikt beantwortet. Gleichzeitig liefert das Kapitel den soziohistorischen Kontext, der von den zivilgesellschaftlichen Akteuren des transnationalen Palästinasolidaritätsaktivismus durch die Etablierung einer »neuen« Hegemonie angegriffen wird (5.1-5.2). Von dieser Kontextualisierung des Diskurses über den Nahostkonflikt ausgehend, zeigen die nächsten beiden Abschnitte, wie diese neue Hegemonie auf der empirischen Ebene des palästinasolidarischen Diskurses etabliert wird. Durch die diskursanalytische Betrachtung des hegemonialen Diskurses der TPSB mit der Methode der Strategemanalyse (Nonhoff 2006 und 2007) wird die zweite Forschungsfrage danach beantwortet, wie, d.h. durch welche politische Logik, sich die partikularen Forderungen nach Rechten der Palästinenser/-innen hegemonialisieren und welche Stellung Antisemitismen dabei einnehmen. Einen Schwerpunkt bildet dabei der Vergleich zu der israelischen Perspektive (5.3-5.4). Zuletzt wird die dritte Forschungsfrage – welche affektiv-ideologische Anziehungskraft Antisemitismen und Menschenrechtsnarrative für die Transnationalisierung partikularer Proteste einnehmen können – mithilfe der Analyse phantasmatischer Logiken (Glynos/Howarth 2007) auf der empirischen Ebene des
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Diskurses beantwortet. Es geht dabei um die Rekonstruktion der Frage nach dem »Warum« der Solidarisierung mit dem palästinensischen Rechtediskurs (5.5-5.6). Kapitel 6 leistet eine theoriegeleitete Interpretation der Ergebnisse, die anhand der Forschungsfragen geführt wird (6.1). Darüber hinaus zeigt sie theoretische Implikationen für daran anschließende Forschungspraktiken auf (6.2) und diskutiert den politischen Umgang mit BDS auf der Ebene der politischen Praxis (6.3).
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2 Das theoretische Problem
2.1
Die paradoxe Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen als Leerstellen dominanter Ansätze der politischen Soziologie
Die vorliegende Arbeit verortet sich im Feld der politischen Soziologie. Im letzten Kapitel wurde überblicksartig dargestellt, dass die scheinbar paradoxe Situation eines menschenrechtsorientierten Antisemitismus in einem transnational-kosmopolitischen Umfeld durch einzelne theoretische Zugänge der sozialen Bewegungsforschung, soziologischen Menschenrechts- und Antisemitismusforschung nicht hinreichend erklärt werden kann. In diesem Abschnitt wird argumentiert, welche theoretischen Gesichtspunkte des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit durch die einzelnen Zugänge der politischen Soziologie im Feld der Bewegungs-, Menschenrechts- und Antisemitismusforschung theoretisch nicht reflektiert werden. Zu diesen Aspekten gehört erstens ein dynamisches Verständnis der Verflechtung des Handelns sozialer Bewegungen mit gesamtgesellschaftlichen Diskursen, zweitens die Reflexion der vielschichtigen Bedeutung von Macht für die Entstehung und Praxis sozialer Bewegungen und drittens die Kontemplation der relationalen Wechselbeziehung von Diskurs und Subjekt. Diese drei Lücken lassen sich auf die mangelnde Bezugnahme neuerer Forschungsansätze der postmodernen politischen Soziologie für die Erklärung des Phänomens »soziale Bewegungen« zurückführen (ähnlich Leinius/Vey/Hagemann 2017). Genauer werden poststrukturalistische Diskurs- und Hegemonietheorien selten auf den Gegenstand »transnationale Bewegungen« übertragen. Gerade die radikale Kontingenz- und Konfliktperspektive auf Gesellschaft, die poststrukturalistischen und postmarxistischen Arbeiten zugrunde liegt, kann jedoch für die Analyse der Deutungsarbeit kollektiver Subjekte – wie transnationaler Bewegungen – von zentraler Bedeutung sein. Für ein Verständnis der kontradiktorischen Gleichzeitigkeit von Menschenrechten und Antisemitismen im kontingenten Kontext des Nahostkonflikts liefert sie einen zentralen Mehrwert, der sich folgendermaßen skizzieren lässt. Wenn so-
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Menschenrechte und Antisemitismus
ziale Realität radikal kontingent und umkämpft ist, rückt das Verhältnis zwischen der Palästinasolidaritätsbewegung und dem zu verändernden gesellschaftlichen Status quo – dem Nahostkonflikt – ins Zentrum der Analyse, d.h. die Prozesse und Machtstrukturen politischer Kämpfe um Hegemonie, die immer mit Mechanismen der Ausschließung, der Grenzziehung und subjektiven Identifikationsweisen einhergehen. Damit kann eine relationale und prozessuale Perspektive auf das Handeln sozialer Bewegungen gerade die identitätsstiftende Einheit der vermeintlichen Paradoxie antisemitischer Menschenrechtsdiskurse offenlegen. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, ein systematisches Bild über die angedeuteten Schwachstellen der einzelnen theoretischen Ansätze im heterogenen Feld der politischen Soziologie zu liefern (2.1.1-2.1.6), um davon ausgehend den analytischen Mehrwert einer »konzeptuellen Blickverschiebung« (Moebius/Reckwitz 2008, 13) auf soziale Bewegungsforschung, Menschenrechts- und Antisemitismusforschung (2.1.7) durch poststrukturalistische Diskurs- und Hegemonietheorien abzuleiten. Der folgende Abschnitt beginnt mit konstruktivistischen Ansätzen der politischen Soziologie im Feld der Menschenrechte, die sich mit Estévez (2011) in zwei für die Fragestellung dieser Arbeit zentrale Forschungsbereiche gliedern. Erstens in theoretische und empirische Zugänge der amerikanischen und europäischen sozialen Bewegungsforschung (2.1.1) und zweitens in Ansätze der soziologischen Menschenrechtsforschung (2.1.2).
2.1.1
Zur Funktion von Menschenrechten für die Mobilisierung und Legitimation von Forderungen sozialer Bewegungen: die paradigmatischen Ansätze der sozialen Bewegungsforschung
Die Universalität der »Menschenrechte«,1 die jedes Mitglied der Spezies Homo sapiens qua seiner Kategorie des »Mensch-Seins« (Donnelly 2013, 10) dazu berechtigt, diese Rechte einzufordern, stellen einen idealen Mobilisierungsfaktor für soziale Bewegungen dar (Goodale 2007; Christophersen 2009; Dworkin 1977; Gamson 1992; Tsutsui/Whitlinger/Lim 2012; Tsutsui/Smith 2018; Narr/Roth 1996; Kaldor 2003). »Keine internationale Organisation, keine NGO und keine soziale Bewegung, die sich nicht positiv auf die weltweiten Menschenrechte bezieht, um ihre Aktivitäten zu legitimieren und gesellschaftspolitische Konsenspositionen zu stärken und zu begründen« (Schatral 2012, 22). Aus diesem Grund beschäftigen sich theoretische und empirische Zugänge der amerikanischen und europäischen sozialen Bewegungsforschung seit Mitte der 1990er-Jahre (Tsutsui/Smith 2018) mit der Mobilisierungs- und Legitimationsfunktion von Menschenrechtsforderungen, 1
Universalität rekurriert an dieser Stelle auf die Möglichkeit, Menschenrechte einzufordern, und nicht auf einen universalen Anspruch von Menschenrechten.
2 Das theoretische Problem
Praktiken und Diskursen für das Protestanliegen lokaler, nationaler und transnationaler Bewegungen.2 Dass sich gerade die Ansätze der Bewegungsforschung mit ihrem Fokus auf die Analyse der spezifischen Effekte des transnationalen Menschenrechtsprotests für die Untersuchung des problematisierten Gegenstands dieser Arbeit kaum eignen, erscheint zunächst als contradictio in adiecto und muss erklärt werden. Zentrales Erkenntnisinteresse der sozialen Bewegungsforschung im Feld der Menschenrechte ist die Frage, wie Menschenrechtsideen, Normen und Symbole von lokalen, nicht staatlichen Akteuren strategisch genutzt werden, um für ihr partikulares Anliegen zu mobilisieren und welcher normative Menschenrechtswandel durch das kollektive Handeln von Menschenrechtsnetzwerken erreicht werden kann. Dabei hat die einschlägige Forschung verschiedene Erfolgsfaktoren für das transnationale Mobilisierungspotenzial von Menschenrechtsprotesten für lokale Bewegungen identifiziert, die sich mit den zentralen Paradigmen der bis in die 1980er-Jahre auf den Analyserahmen des Nationalstaats bezogenen Social-Movement-Forschung überschneiden (Tsutsui/Whitlinger/Lim 2012; Tsutsui/Smith 2018). Diese Paradigmen – politische Gelegenheitsstrukturen, Ressourcenmobilisierungs- sowie Framingansatz – wurden vor allem in der konstruktivistischen IB-Forschung angewendet und weiterentwickelt, um die Dynamik der Normdiffusion3 durch sogenannte transnationale Menschenrechtsnetzwerke (Keck/Sikkink 1998; Sikkink 1993; Risse/Ropp/Sikkink 1999) zu untersuchen. Die Kombination dieser Forschungsstränge ist besonders fruchtbar genutzt worden, um empirisch zu rekonstruieren, wie lokale, nicht staatliche Akteure die politischen Gelegenheitsstrukturen und Ressourcen des globalen Menschenrechtsregimes zum Einfordern ihrer Rechte in Anspruch nehmen, um den als ›Bumerangeffekt‹ bezeichneten transnationalen Kommunikations- und Interaktionsprozess zwischen lokalen sozialen Bewegungen und internationalen Akteuren zu ermöglichen (Sikkink 2005; Passy 2009; Khagram/Riker/Sikkink 2002; Brysk 2000). Im Ergebnis stellen diese Studien fest, dass das zielgerichtete Handeln von transnationalen Menschenrechtsnetzwerken nationalen Druck auf normverletzende Regierungen ausüben kann, was zu einer nationalen Normdiffusion der Menschenrechte führt.
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Das Attribut »transnational« wird in der Bewegungsforschung für Gruppierungen verwendet, deren Aktivist/-innen in mehr als zwei unterschiedlichen Nationalstaaten agieren (Herkenrath 2011; Rucht 1999; Smith 1997). Unter Diffusion versteht die Forschung einen Prozess der Verbreitung einer Innovation – wozu etwa Normen, Ideen und Praktiken gezählt werden – über Raum, Zeit und verschiedene Kontexte hinweg (Polloni 2001; Rogers 1983).
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In jüngster Zeit ist der Frage der internationalen Anschlussfähigkeit von Menschenrechten durch die strategische Interpretationsleistung (Snow/Benford 1998 und 2000) sozialer Bewegungen vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt worden. Im Zentrum des damit angesprochenen Framingansatzes steht die identitätsstiftende Konstruktionsweise von menschenrechtsorientierten Deutungsrahmen – Frames – für die Mobilisierung und Legitimierung von partikularen Protestanliegen (Tsutsui/Whitlinger/Lim 2012; Boyle/Thompson 2001). Unter dem Begriff des »Framings« versteht die Forschung dabei in Anlehnung an Goffman (1974) ein »schemata of interpretation« (21), das soziale Akteure befähigt, ihre Umwelt zu deuten und ihre Forderungen intersubjektiv zu plausibilisieren (Benford/Snow 2000; Tarrow 2005). Um den konkreten Prozess der Transnationalisierung partikularer Proteste zu erklären, führen Benford und Snow (2000) das Konzept des Master-Framings ein. Masterframes werden dabei als »sufficiently broad in interpretative scope inclusivity, and cultural resonance« (619) bezeichnet. Über den »rights master frame« (ebd.) können marginalisierte Gruppen dabei ihre unterschiedlichen Ideologien, Interessen, Identitäten und Ansprüche in universalistische Deutungsrahmen übersetzen, um ihre partikularen Forderungen zu exportieren (Mooney/Hunt 1996), lokalen Missständen international Gehör zu verschaffen (Johnson 2006) und normativen Wandel zu erreichen (Keck/Sikkink 1998). Die Mobilisierungs- und Legitimationsfunktion des Menschenrechtsframings für partikulare, lokale Kämpfe wurde für unterschiedliche Bewegungen, wie etwa die südafrikanische Anti-Apartheid-Bewegung (Klotz 1995 und 2002), Bewegungen für Indigenen- und Landrechte (Sieder 2011; Idrus 2010; Black 2012; Johnstone 2006) oder auch die Palästinasolidaritätsbewegung (Schmidt 2012; Norman 2011; Morrison 2015; Todorova 2014) empirisch nachgewiesen. Die Menschenrechtsforscherin Atalia Omer (2009) zeigt am Beispiel dreier Kampagnen der globalen BDSBewegung, wie das Framing palästinensischer Rechte zu der Produktion exkludierender Ausschlüsse führt, die zwischen den legitimen Forderungen nach palästinensischen Rechten und der illegitimen israelischen Konfliktperspektive differenzieren. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Julia Edthofer (2017), die am Beispiel der BDS-Kampagne untersucht, wie hinter dem menschenrechtsorientierten Kolonial- und Apartheidframing des jüdischen Staats exkludierende, über Israel bezogene Antisemitismen reproduziert werden. Auch wenn die Ansätze der konstruktivistischen Bewegungsforschung insgesamt zentrale Hinweise dafür liefern, um verstehen zu können, wie lokale Akteure internationale Menschenrechtsnormen, Ideen, Diskurse und Institutionen als politische Gelegenheitsstrukturen und Ressourcen strategisch nutzen, um ihre kollektiven Forderungen, Überzeugungen und Ansprüche durchzusetzen und normativen Wandel herzustellen, können sie die scheinbar paradoxe Situation eines menschenrechtsorientierten Antisemitismus im Rahmen eines transnationa-
2 Das theoretische Problem
len Menschenrechtsnetzwerkes nicht erklären. Drei ontologische Grundannahmen und theoretische Leerstellungen führen zu einem Erklärungsdefizit für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit: Erstens: die Ausblendung eines relationalen Gesellschaftsverständnisses An der amerikanischen und europäischen sozialen Bewegungsforschung wird oft kritisiert, dass sie die gesamtgesellschaftlichen Dynamiken ausblenden, in denen die Mobilisierungs- und Legitimationsfähigkeit von partikularen Protesten – hier dem menschenrechtsorientierten Protestanliegen – eingebunden ist. Der Framingansatz rekurriert beispielsweise auf ein Kulturverständnis als »determinierende[n] Möglichkeitsraum« (Hagemann 2016, 152), der durch rationale Bewegungsakteure strategisch genutzt werden kann, um erfolgreich für Menschenrechtsforderungen mobilisieren zu können. Ohne die Einbettung der politischen Praxis sozialer Bewegungen in ihre hegemonialen Formationen – das heißt in die gesellschaftliche Ordnung und die sie konstituierenden Sinn- und Identitätsprozesse – können keine Aussagen darüber getroffen werden, in welche gesellschaftlichen Dynamiken die artikulierte Unrechtssituation des hegemonialen Status quo eingebunden ist – in meinem Fall dem Nahostkonflikt –, das durch das Menschenrechtsframing einer Bewegung aufgehoben werden soll. Zweitens: die Ausblendung eines relationalen Machtbegriffs Durch den entkulturalisierten Fokus auf menschenrechtsorientierten Solidaritätsaktivismus im Kampf um normativen Wandel folgt zweitens ein tendenziell idealisierendes Bild von transnationalen Menschenrechtsbewegungen als »›das Andere‹ von Macht« (Leinius/Vey/Hagemann 2017, 8; ähnlich Laclau 2017). Der politische Kampf um Hegemonie ist immer das deutungsoffene Resultat antagonistischer Positionen, Identitäten, Akteure, Ideen und Handlungen, d.h. durch Exklusionen von anderen Ansprüchen, Subjekten und Forderungen charakterisiert – die idealisierende Annahme von Menschenrechtsaktivismus im normativen Kampf um nationale und internationale Menschenrechtsdiffusion führt zu der Ausblendung von Exklusionen, Kontradiktionen und Ambivalenzen, die sich mit den Forderungen nach Rechten amalgamieren können. Die Frage danach, wie sich partikulare Forderungen nach palästinensischen Rechten gerade über antisemitische Differenzkonstruktionen hegemonialisieren können, bleibt in diesen Ansätzen offen. Drittens: die Ausblendung eines relationalen Subjektbegriffs Die ontologischen Annahmen eines der Rational-choice-Theorie entsprungenen Subjektverständnisses als autonomem Akteur mit rationalen Interessen, Zielen und Perspektiven schränkt die Erklärungskraft der Bewegungsansätze für die Fragestellung dieser Arbeit enorm ein. Der solidarische BDS-Aktivismus nimmt
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weltweit zu – trotz seines marginalen ökonomischen und politischen Einflusses auf den israelischen Staat (Reuter 2018) und obgleich er mit Antisemitismen in Beziehung gesetzt wird, was durch das ökonomistische Kosten-Nutzen-Kalkül rationaler Protestsubjekte nicht erklärt werden kann. Diese drei theoretischen Leerstellungen resultieren insgesamt aus dem fokussierten Erkenntnisinteresse nach Entstehung, Erfolg und Effekt des transnationalen Menschenrechtsaktivismus, der durch »Theorien mittlerer Reichweite« (Leinius/Vey/Hagemann 2017, 8) auf der Mesoebene (Staggenborg 2002, 124) von Bewegungen und Bewegungsorganisationen erklärt wird. Ohne die Integration in eine Gesellschaftstheorie kann jedoch die dynamische Relation von Gesellschaft, Subjekt, Macht und sozialer Bewegungen nicht berücksichtig werden. Der folgende Abschnitt diskutiert stärker subjektzentrierte Ansätze der soziologischen Menschenrechtsforschung bezüglich der Frage, ob sich hier ähnliche blinde Flecke für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit darstellen.
2.1.2
Die Rolle von Subjekten als Objekten von und Akteuren in den kulturellen Aneignungs- und Konstruktionsprozessen des Menschenrechtsdiskurses. Ansätze der soziologischen Menschenrechtsforschung
Nach Estévez (2011) ist die Frage der Stellung des Subjekts als Objekt sowie Akteur in Prozessen der Konstruktion, Anwendung und Ausweitung des Menschenrechtsdiskurses eine der wichtigsten Debatten innerhalb der politischen Soziologie der Menschenrechte. Diese Diskussion gliedert sich in zwei Literaturstränge, die Aspekte der Unterdrückung und/oder Emanzipation von Subjekten durch die Aneignung des Menschenrechtsdiskurses betonen. Auf den unterdrückenden Effekt für Subjekte beziehen sich kritische Perspektiven auf Menschenrechte, die durch verschiedene theoretische Strömungen wie den Marxismus (Brown 1995; Žižek 2005a; Williams 2010), Feminismus (Brown 2002), Postkolonialismus (Matua 2000; Asad 2003) oder eine Kombination aller Richtungen (Spivak 1999) inspiriert sind. Gemeinsam ist diesen Zugängen, dass sie die Menschenrechte vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Strukturprinzipien, wie dem Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus, Sexismus und Rassismus, betrachten (Nash 2015, 11). Kritisiert wird dabei einerseits das Fundament der Menschenrechte, ihre Wertprinzipien individueller Freiheit, Gleichheit und Würde, die als Teil westlicher Ideengeschichte, Kodifizierungsschritte und Ausdruck liberaler Traditionen identifiziert werden (Kumar 2003; Baxi 2000; Kirkby/Coleborne 2001; Spivak 2007). Andererseits wird der universale, egalitäre und unveräußerliche Anspruch der Menschenrechte infrage gestellt. Postkoloniale und feministische Perspektiven haben
2 Das theoretische Problem
in diesem Zusammenhang häufig darauf hingewiesen, dass zwar von universalen Rechten gesprochen wird, jedoch eine euro- und androzentrische Sichtweise als universell präsupponiert wird. Ein dritter Kritikpunkt betrifft die Instrumentalisierung der Menschenrechte für politische, ökonomische, militärische und humanitäre Interventionen in dekolonisierten Staaten (Neokolonialismus) des Südens. Die subaltern studies haben in diesem Zusammenhang auf neokoloniale Formen des Differentmachens (»Othering« [Spivak 1999, 113]) von subalternen Akteuren durch westlich-paternalistische Menschenrechtshumanismen (ähnlich Mohanty/Russo/Torres 2003, Mohanty 2003 und Baxi 2002) aufmerksam gemacht. Postmodere (Brown 2004; Rancière 2004; Mouffe 2015a) Ansätze und Zugänge der Critical Legal Studies (Douzinas 2000 und 2014) betonen vor allem die Depolitisierung des Politischen durch universale Menschenrechtsdiskurse, die zu einer Marginalisierung politischer Projekte nicht westlicher Subjekte führt. All diese kritisch-theoretischen Zugänge sind mit einem Erkenntnisinteresse verbunden, die diskursiven Effekte von westlich-universalen Menschenrechten für Subjekte, darin eingebetteter Ein- und Ausschlüsse, Repräsentationsverhältnisse und Marginalisierungseffekte offenzulegen. Problematisch sind diese Zugänge jedoch, insofern sie in ihrer Extremform mit einer strukturalistischen Sichtweise auf das Subjekt verbunden sind, die das Subjekt als bloße Determinante der Struktur (des westlichen Menschenrechtsdiskurses) konzipiert (Stammers 1999, 2008 und 2015). Mit anderen Worten reduzieren diese Autor/-innen den Menschenrechtsdiskurs auf seine strukturierende Wirkungsweise für nicht westliche Subjekte, die zu Objekten des westlichen Menschenrechtsimperialismus viktimisiert werden. Auch wenn diese Zugänge valide Kritikpunkte über den dominierenden Effekt des vermeintlichen Universalismus, Objektivismus und Essenzialismus von Menschenrechten hervorbringen, sind sie gegenüber einer zentralen Funktionsweise des bedeutungsoffenen Horizonts universaler Rechte gerade für die Handlungsmacht von dominierten Subjekten blind, auf die Landy aufmerksam macht: »Though these critics address the question as to who is the subject (or rather the abject object) of human rights, the advocate of human rights is largely absent.« (2013, 410) Warum artikuliert die palästinensische Zivilgesellschaft ihre dreifachen Forderungen nach Rechten als Ausdruck eines gemeinsamen Willens des palästinensischen »Volks« (hierzu siehe Abschnitt 1.2.2), wenn universale Menschenrechtsdiskurse nur Objekte produzieren? Wie kann das Subjekt der Menschenrechte durch den performativen Akt gerade seine Sichtbarkeit erkämpfen? Auf den emanzipatorischen Effekt von Menschenrechten für Subjekte durch die politische Praxis sozialer Bewegungen verweist der zweite Literaturstrang der politischen Soziologie im Feld der Menschenrechte. Hierfür sind sozialanthropologische (Levitt/Merry 2009; Merry 2007; Rosen/Yoon 2009) und kosmopolitische
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Menschenrechte und Antisemitismus
(Baxi 2002; De Sousa Santos 2005; Bhabha 1996) Ansätze zentral, die mit einem Bottom-up-Verständnis von Menschenrechten arbeiten. Beide Richtungen begreifen den Vermittlungszusammenhang von universaler Norm und lokaler Kontextualisierung als komplexes Übersetzungsverfahren. Im Zentrum des Vernakularisierungsansatzes von Engle Merry steht beispielsweise die kulturelle Reinterpretation, Aneignung und Übertragung von Menschenrechtsnormen als mehrdimensionales Translationsverfahren (d.h. durch eine Mundart = »vernacular«) zwischen NGOs, sozialen Bewegungen und lokalen Menschenrechtsaktivist/-innen. Durch die konkrete Aneignung der Menschenrechte können relativ macht- und einflusslose Subjekte teilweise Handlungsmacht (agency) erlangen. Rosen und Yoon (2009) zeigen die emanzipatorische Praxis von Menschenrechtsdiskursen in einer ethnografischen Feldstudie auf. Ihr zentrales Ergebnis ist dabei, dass der Rekurs auf internationale Frauenrechte im Rahmen einer lokalen Kampagne neue Subjektpositionen etabliert hat. Upendra Baxi (2002) entwirft das Konzept der »contemporary human rights«, die er von den rassistischen, sexistischen und eurozentrischen »modern human rights« abgrenzt. »Contemporary human rights« sind dabei als bedeutungsoffene Rechte zu verstehen, durch die eine emanzipatorische Praxis generiert werden kann, weil sie verschiedene Subjekte in verschiedenen Kontexten inkludieren. Diese »insurrectionary practice« der Menschenrechte wird dabei folgendermaßen definiert: Through myriad struggles and movements throughout the world, »human rights« become an arena of transformative political practice that disorients, destabilizes, and at times even helps destroy deeply unjust concentrations of political, social, economic, and technological power. (Baxi 2002, 10) Exemplarisch hierfür steht für Baxi der Dekolonisierungs-, Umwelt- oder Frauenrechtskampf. Damit wird das Dilemma zwischen (westlichem) Universalismus und (nicht westlichem) Partikularismus von den eher subjektzentrierten Zugängen, die sich auf den progressiven Effekt von Menschenrechten für soziale Bewegungen beziehen, transzendiert und durch die Analyse der komplexen Wechselwirkungen von Menschenrechtsideen und -praktiken ersetzt. Dennoch sind beide hier besprochenen Literaturstränge, die Aspekte der Unterdrückung und/oder Emanzipation von Subjekten durch die Aneignung des Menschenrechtsdiskurses betonen, für die Untersuchung des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit nicht ausreichend, und das aus dreierlei Gründen: Erstens: die Ausblendung eines relationalen Gesellschaftsverständnisses Die kritische soziologische Perspektive, wie sie durch verschiedene theoretische Strömungen formuliert wird, betrachtet Menschenrechte mit einem theoretischen
2 Das theoretische Problem
Analysefokus auf Prozesse der Konstitution von gesellschaftlichen Strukturprinzipien und Subjekten, d.h. aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus. Diese Zugänge verharren jedoch in einer kritischen Top-down-Explanation des (westlich) universalen Menschenrechtsdiskurses (Grewal 2017; Stammers 2015; Landy 2013) und seiner diskursiven Effekte für (nicht westliche) Subjekte und Diskurse. Ohne eine radikale Kontingenzperspektive auf Gesellschaft bleibt offen, warum Menschenrechte einerseits illegitime Marginalisierungseffekte produzieren, andererseits aber dennoch einen legitimen Fluchtpunkt für politisches Handeln subalterner Akteur/-innen in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten – wie dem Nahostkonflikt – darstellen, um lokale Konfliktlagen als Situationen ungleicher Rechte zu interpretieren und gesellschaftlichen Wandel zu erreichen. Mit Kaur Grewal (2017) fehlt es den abstrakt-theoretischen Menschenrechtsdiskussionen an einer Rückbindung an die Empirie, um durch die Analyse konkreter Praktiken nach den dominierenden oder emanzipierenden Effekten von Menschenrechten für Subjekte zu fragen. Zweitens: die Ausblendung eines relationalen Machtbegriffs Aus der einseitigen Top-down-Betrachtung von Menschenrechten folgt zweitens eine Ausblendung von komplexen Machtbeziehungen und den unterschiedlichen Formen ihrer Ausprägung. Werden Menschenrechte lediglich als subordinierende Ideologie westlicher Machtinteressen wahrgenommen, wird damit das Handlungspotenzial für soziale Bewegungen, das durch den Kampf um gleiche Rechte instituiert wird, ausgeblendet. Ein idealisierender Blick auf (subalterne) Akteure als das Andere von Macht lässt keinen Begriff von Gegenmacht zu. Offen bleibt demzufolge, wie gegenhegemoniale Bewegungen im Kampf um gesellschaftlichen Wandel antagonistische Positionen hervorbringen, um ihre eigenen Forderungen, Leitbilder und Ideen zu universalisieren. Drittens: die Ausblendung eines relationalen Subjektbegriffs Sozialanthropologische und kosmopolitische Ansätze der soziologischen Menschenrechtsforschung betonen die spezifische Konstruktionsweise von Menschenrechten durch soziale Bewegungen. Der Vorteil dieser Perspektive liegt darin begründet, dass sie erklären kann, wie der Rekurs auf universale Normen in kulturellen Kontexten neue Subjektpositionen für lokale Akteure hervorbringt, etwa durch die diskursiv bereitgestellte Subjektposition des »Rechtssubjekts« in lokalen Menschenrechtsdiskursen. Ein zentraler Kritikpunkt an den Prämissen dieses Forschungszweigs besteht jedoch darin, dass sie den universellen Geltungscharakter der lokalisierten Menschenrechtsnorm nicht reflektieren (López 2018; Nash 2015; Stammers 2015). Damit können sie nicht nachvollziehen, wie Subjekte diskursiv sowie emotional besetzte kulturell-kontextualisierte (Menschen-
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rechts-)Diskurse artikulieren, deren affektive Identifikationsangebote auch nicht betroffene Individuen mobilisieren können. Offen bleibt demzufolge, warum sich transnationale Akteure für das Identifikationsangebot des palästinensischen Menschenrechtsdiskurses solidarisieren lassen. Diese drei theoretischen Leerstellen resultieren insgesamt aus der Analyse der dominierenden oder emanzipierenden Effekte des Menschenrechtsdiskurses für individuelle oder kollektive Subjekte, die entweder entlang einer Top-down- oder Bottom-up-Explanation ohne ihre Rückbindung an die jeweilige andere Erklärungsrichtung auskommen. Damit bleibt das dynamische Zusammenspiel von Gesellschaft, Subjekt, Macht und Menschenrechtsdiskursen sozialer Bewegungen unreflektiert. Der folgende Abschnitt rekonstruiert Ansätze der soziologischen Antisemitismusforschung hinsichtlich der Frage, ob sich hier ähnliche blinde Flecken identifizieren lassen.
2.1.3
Die Entkopplung von Antisemitismusforschung und Soziologie: die Erklärungsdefizite der Antisemitismusforschung
In der Literatur wird auf eine »Entkopplung von Soziologie und Antisemitismusforschung« hingewiesen (Holz 2001; Bergmann 2004; Bergmann/Erb 1991; Gerhardt 1992; Cousin/Fine 2012), die in einem starken theoretischen und methodischen Defizit in der erklärenden Beurteilung des Phänomens »Antisemitismus« mündet. Nicht nur werden soziologische Methoden- und Theorieentwicklung nur unzureichend auf die Antisemitismusforschung übertragen. Auch das Phänomen »Antisemitismus« wird innerhalb der Soziologie (Globisch 2013) oder im Rahmen von Rassismus-, Ethnizitäts- und Nationalismusstudien (Cousin/Fine 2012) nicht betrachtet. Ich stelle nun drei dominante Zugänge der Antisemitismusforschung vor, die sich mit dem hier zu untersuchenden Phänomen von israelbezogenen Antisemitismen im Feld linker Diskurse und sozialer Bewegungen beschäftigen. Die zentrale Forschungslücke wird dabei sein, dass die jeweiligen Forschungsperspektiven »Antisemitismen« ohne ein notwendiges Verständnis für die dynamische Relation von Gesellschaft, Subjekt und Macht analysieren. Damit bleiben die paradoxe Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen und ihre transnationale Anschlussfähigkeit ungeklärt. Der folgende Abschnitt beginnt mit der Rekonstruktion der »neuen Antisemitismusforschung«.
2.1.3.1
Die »neue Antisemitismusforschung« – zur Deskription des Ressentiments
Infolge der zweiten Intifada kommt es ab den 2000er-Jahren zu einer vermehrten wissenschaftlichen Diskussion über die Entwicklung eines sogenannten neuen
2 Das theoretische Problem
israelbezogenen Antisemitismus (Chesler 2015; Rabinovici/Speck/Sznaider 2004; Schoenfeld 2005). Im Zentrum steht dabei die Frage, ob es eine über Israel artikulierte Form des Antisemitismus geben kann (dagegen plädieren etwa Bunzl 2005, Butler 2004 und Beller 2007), inwiefern dieses beobachtbare Phänomen als »neu« (Foxman 2003; Schoenfeld 2005) oder »alt-neu«4 (Faber/Schoeps/Stawaski 2006; Coulibaly 2013; Bergmann 2006; Judaken 2008) zu bewerten ist und wo die Trennlinien zwischen legitimer Israelkritik und israelbezogenem Antisemitismus verlaufen (Ullrich 2007). Trotz definitorischer Ambivalenz über die Reichweite des Begriffs »neuer Antisemitismus« etabliert sich in der Forschung ein sogenannter Minimalkonsens (Salzborn 2013, 9) über israelbezogenen Antisemitismus. Demzufolge werde Israelkritik dann antisemitisch, wenn der jüdische Staat »delegitimiert«, »dämonisiert« oder mit »doppelten Standards« beurteilt wird (EUMC 2004). Allerdings liefern diese relativ vagen Kriterien lediglich interpretationsbedürftige und zu kontextualisierende Indikatoren dafür, dass eine Grenze zwischen legitimer Kritik und antisemitischem Ressentiment überschritten wird. Wann diese Kriterien jedoch erfüllt sind, bleibt in der Forschung diffus (Globisch 2008; Arnold 2016). Diese Beobachtung spiegelt sich auch in der Betrachtung antisemitischer Deutungsangebote in der antiimperialistischen, antirassistischen und globalisierungskritischen Linken wider, die als »neue« Trägergruppe des israelbezogenen Antisemitismus klassifiziert wird – die palästinensische Solidaritätsbewegung gilt dabei als Teil der »Neuen Linken« (Hirsh 2007; Whine 2010; Hillman 2013; BdI 2011). Die meisten Arbeiten, die sich mit Antisemitismen in linken sozialen Bewegungen beschäftigen, nähern sich dem Gegenstand aus einer genealogisch-deskriptiven Perspektive (Wistrich 2012 und 1979; Mendes 2014; Rubinstein 1982; Traverso 1995; Reiter 2001). Andere verweisen explizit auf den Nexus zwischen dem neuen Antisemitismus und einer kosmopolitischen Menschenrechtsrhetorik internationaler NGOs (Herzberg 2013; Fishman 2012; Steinberg 2007), beschreiben die Vermengung zwischen Antisemitismen und dem völkerrechtswidrigen »Kolonial-« und menschenrechtsverletzenden »Apartheidframing« des jüdischen Staats (Poller 2012) oder betrachten die Aussonderung Israels als das »absolut Böse« der menschenrechtsorientierten Weltgemeinschaft (Meir/Alterman 2011; Hirsh 2018; Friedman 2001). Insofern all diese Ansätze jedoch ohne eine explizite Einbettung des antisemitischen »Vorurteils« in eine Gesellschaftstheorie auskommen, verharren sie auf der Ebene der »Deskription des Ressentiments« (Edthofer 2017, 408). Von einem wissenschaftstheoretischen Standpunkt ausgehend, muss argumentiert werden, dass es
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Das Gros der Scientific community weist die Attribuierung »neu« im Hinblick auf die qualitativen Merkmale des antiisraelischen Antisemitismus mit dem Argument zurück, dass israelbezogene Antisemitismen an tradierte Codes der modernen Judenfeindschaft anknüpfen und es sich daher nicht um einen neue, sondern um eine an die veränderten weltgeschichtlichen Kontextbedingungen angepasste From des Antisemitismus handelt.
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bei der Frage des israelbezogenen Antisemitismus eher um eine politische als um eine epistemologisch oder methodisch differenziert geführte Debatte geht. Viele Beiträge zeigen demzufolge lediglich auf, was der Fall ist – nämlich eine Beschreibung der Sichtbarkeit einer auf den Staat Israel bezogenen antisemitischen Artikulationsform. Sie geben jedoch keine Antwort auf die Frage, durch welche methoden-, theorie- oder problemgeleiteten Forschungsprinzipien das Explanandum erklärt werden kann, d.h., wie das Verhältnis zwischen »neuem« Antisemitismus und legitimer Israelkritik theoretisch oder empirisch konzeptualisierbar wird (ähnlich Arnold 2016 und Edthofer 2017). Es gibt antisemitimustheoretische Studien, die explizit mit einer soziologischen Perspektive arbeiten und den »neuen« Antisemitismus in eine konkrete Gesellschaftstheorie einbinden. Diese Zugänge lassen sich dabei heuristisch in Erklärungsansätze erstens auf der Ebene von Kultur und Kommunikation sowie zweitens auf der Ebene des Subjekts5 unterteilten.
2.1.3.2
Antisemitismustheorien auf der Ebene von Kultur und Kommunikation
Zu der ersten Kategorie zählen kultur- (Volkov 2000; Baumann 2002) und wissenssoziologische Ansätze (Holz 2001 und 2005; Holz/Kiefer 2010, daran anschließend auch Globisch 2013; Weyand 2010 und 2016), in denen Antisemitismen als »kulturelle Codes« (Volkov 2000) oder »kulturelle Semantiken« (Holz 2001) verstanden werden, die einer eigenständigen, kulturellen Handlungslogik folgen. Shulamit Volkovs Zugang von Antisemitismen als kultureller Code fasst die prozessuale und kulturelle Dynamik von Antisemitismen dabei explizit vor den Hintergrund eines kultursoziologischen Verständnisses und kann damit gesellschaftliche Kontexte theoretisch reflektieren. Zentrales Erkenntnisinteresse ihrer historischen Untersuchung ist dabei die Frage, nach welchen Regeln sich antisemitische Kodes zu einer umfassenden politischen Weltanschauung artikulieren können. Mit einem symbolorientieren Ansatz untersuchen Forscher/-innen (Volkov 2006; Galvin 2008; Bokser Liwerant/Siman 2016) seit den 2000er-Jahren beispielsweise, wie der »Zionismus« die symbolische Repräsentation des »hegemonialen Westens« übernimmt und es damit ermöglicht, ein Set von linken (antirassistischen, antikapitalistischen
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Ich folge hierbei der Einteilung von Globisch (2013), die sozialwissenschaftliche Ansätze der Antisemitismusforschung in solche Ansätze auf der der Ebene von Kultur/Kommunikation – erstens – und Subjekt – zweitens – sowie auf der Ebene der Sozialstruktur – drittens – differenziert. Insofern die dominanten Vertreter/-innen auf der Ebene der Sozialstruktur (wie beispielsweise Adorno/Horkheimer 2008) jedoch kategorial ebenso zu den Ansätzen auf Subjektebene subsumiert werden können, wähle ich lediglich einen Zweischritt. Ähnlich Weyand 2010, 61ff.
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und antiimperialistischen) Diskursen und Praktiken in ihrer gemeinsamen Opposition zu dem »bösen« jüdischen Staat bündeln zu können. Wissenssoziologische Zugänge kritisieren, dass die kulturelle Semantik des Antisemitismus an ein kollektives Selbstbild gebunden ist, womit sie den Fokus nicht nur auf die kulturelle Codierung, sondern auch die binäre Strukturierung von Antisemitismen legen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Arbeit von Klaus Holz (2001, 2005 und 2010), der Antisemitismen im Anschluss an Niklas Luhmanns systemtheoretischen Begriffsapparat als »nationale Semantik« versteht, in der sich die »Imagined Community« (Anderson 1983) einer Nation in Abgrenzung von dem »nicht identischen« jüdischen »Anderen« konstituiert. Seit den 2000er-Jahren mehren sich Perspektiven, die mit dem systemtheoretischen Begriffsapparat von Antisemitismus als »nationaler Semantik« israelbezogene Antisemitismen in linken Diskursen als ideologische Weltanschauung untersuchen (Globisch 2013; Weyand 2010 und 2016) – ein expliziter Fokus auf die transnationale Palästinasolidaritätsbewegung und ihre Menschenrechtsforderungen ist dabei nicht vorhanden. Wissenssoziologische Ansätze im Feld von Antisemitismen sagen jedoch wenig darüber aus, welche politisch-psychologische Deutung (Rensmann 2004) der antisemitischen Semantik zugrunde liegt. Offen bleibt, warum sich Subjekte mit antisemitischen Deutungsangeboten identifizieren. Auf die spezifische Rolle von Subjekten und antisemitischen Deutungsangeboten nimmt der zweite Literaturstrang der soziologischen Antisemitismusforschung Bezug, der im Folgenden hinsichtlich seiner Vor- und Nachteile für die Fragestellung dieser Arbeit besprochen wird.
2.1.3.3
Antisemitismustheorien auf der Ebene des Subjekts
Sozialpsychologische und psychoanalytische Theorien6 der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung führen Antisemitismen auf die gesellschaftlich vermittelte psychosoziale Struktur des Subjekts zurück (Adorno/Horkheimer 2008; Freud 2000; Fenichel 1993; Loewenstein 1967; Grunberger/Dessuant 2000; Orr 2002; Sartre 1994). Ihre zentrale Prämisse ist dabei, dass das antisemitische Fremdbild eine realitätsverzerrende Funktion übernimmt, indem die subjektiven Frustrationserfahrungen – unbefriedigte Triebe, Aggressionen und Fantasien – auf eine kulturell anerkannte Projektionsfläche übertragen werden – Jüdinnen und Juden –, die nun als »Sündenböcke« für gesellschaftlich unverstandene Prozesse, Ambivalenzen und Konflikte fungieren. Mit einem solchen sozialpsychologischen Verständnis betrachten einige Autor/-innen (Rensmann 2004; Scholz 2005; Böttcher 2016; Radonić 2016) den über Israel artikulierten Antisemitismus, vor allem im Zusammenhang
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Einen Überblick über die verschiedenen Ansätze liefern Bergmann (1988), Salzborn (2010), Stender, Follert und Özdogan (2010).
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eines antikapitalistischen »linken« Weltbilds, das komplexe gesellschaftliche Verhältnisse, Verwerfungen und Antagonismen auf die Existenz des jüdischen Staats zurückführt. Kritisiert werden Antisemitismustheorien, die das Phänomen aus der gesellschaftlich determinierten Psyche der Subjekte erklären, für ihre Reduktion des Antisemitismus auf ein Desiderat, d.h. psychologisches »Nebenprodukt« gesellschaftlich vermittelter Strukturen (Weyand 2010; Holz 2001; Globisch 2013). Damit verschließen sich sozialpsychologische Antisemitismusanalysen gegenüber der relativ eigenständigen kulturellen Operationslogik antisemitischer Diskurse, die eine sinnhafte Konstruktion der sozialen Wirklichkeit hervorbringt. Die beiden hier diskutierten Literaturstränge, die Antizionismen einerseits als anpassungsfähige Codes oder Semantiken beschreiben – d.i. die kulturell/kommunikative Ebene – und andererseits auf die psychodynamischen Funktionen antisemitischer Nahostdiskurse für die Deutung komplexer gesellschaftlicher Konfliktkonstellationen, Antagonismen und Ambiguitäten verweisen – d.i. die subjektive Ebene –, können jedoch die scheinbar paradoxe Situation eines international anschlussfähigen, menschenrechtsorientierten Antisemitismus im Kontext des Nahostkonflikts aus dreierlei Gründen nicht erklären: Erstens: die Ausblendung eines relationalen Gesellschaftsverständnisses Die eingangs zitierte Entkopplung von Soziologie und Antisemitismusforschung führt dazu, dass Antisemitismen selten aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive betrachtet wurden (Edthofer 2017). Selbst Ansätze, in denen die ideologische Konstruktion von Antisemitismen explizit vor dem Hintergrund einer differenztheoretischen Perspektive konzipiert werden (Holz 2001, 2005 und 2010), rekonstruieren die binär codierten Sinnstrukturen antisemitischer Semantiken dabei unabhängig von dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sie kommuniziert werden (Rensmann 2004, 110ff.)7 . Mit einem Verständnis von Antisemitismen als relativ kontextunabhängige Sinnstruktur kommunizierter Semantiken kann nicht nachvollzogen werden, wie politische Subjekte um die gesellschaftsverbindliche Durchsetzung bestimmter abwertender Bedeutungskonstitutionen des »Jüdischen«, d.h. wandelbarer Formen des symbolischen Ausschlusses von Jüdinnen und Juden, in kontingenten gesellschaftlichen Kontexten wie dem Nahostkonflikt kämpfen. Zweitens: die Ausblendung eines relationalen Machtbegriffs Während die vorgestellten Theorien auf der Ebene des Subjektes Antisemitismen ohne ein prozessuales Verständnis für die kulturellen Handlungsdynamiken antisemitischer Diskurse konzipieren, reflektieren Theorien auf der Ebene der Kultur zwar, dass Antisemitismen als permanent flexible, recodierbare kulturelle Codes 7
Jan Weyand (2010 und 2016(ist hiervon auszunehmen, da er die antisemitische Semantik mit der gesellschaftlichen Struktur verbindet.
2 Das theoretische Problem
verstanden werden müssen, lassen jedoch aus, wie der Signifikant »Jude« als kultureller Code zum konstitutiven Außen der eigenen, essenzialisierten Selbstidentifikation wird – auch wenn Prozesse der Polarisierung beispielsweise bei Volkov implizit mitgedacht werden (Salzborn 2010, 152). Damit bleibt aus einer machtanalytischen Perspektive ungeklärt, welche Formen alternativer Sinnfixierung und Identitäten durch Antisemitismen und Antizionismen als hierarchisierende Resultate machtvermittelter Prozesse der In- und Exklusion ausgeschlossen werden, d.h. vor allem, wie sich antisemitische Differenzkonstruktionen in der politischen Sphäre gesellschaftlicher Aushandlungen des Nahostkonflikts machtvoll sedimentieren können. Drittens: die Ausblendung eines relationalen Subjektbegriffs Sozialpsychologische Antisemitismusanalysen erklären, wie Antizionismen bestimmte ideologische »Wahrheitseffekte« vermitteln, indem sie subjektive Frustrationserfahrungen – Wut, Aggressionen, Emotionen – auf einen Gegner, »den Zionisten/den Juden«, projizieren. Aufgrund ihres mangelnden Verständnisses für die vielschichtigen Verschränkungen und Wechselwirkungen von Subjekt und gesellschaftlichen Strukturen können diese Zugänge die Kontingenz von rassialisierten Sündenbockstrategien und ihrer emotiven Anziehungskraft für Subjekte in spezifischen Konfliktkonstellationen – wie dem Nahostkonflikt – nicht erklären. So bleibt offen, wie Subjekte diskursiv sowie emotional besetzte, kontingente »Judenbilder« konstruieren, die für einen gemeinsamen Kampf gegen Juden oder jüdisches Leben mobilisieren. Diese drei theoretischen Leerstellen resultieren aus der eingangs zitierten Entkopplung von Soziologie und Antisemitismusforschung, die in einem starken theoretischen und methodischen Defizit für die Erklärung des kontingenten Phänomens »Antisemitismus« mündet. Es fehlt demzufolge an einem Verständnis dafür, wie Antisemitismen in einem dynamischen Zusammenspiel von Gesellschaft, Subjekt und Macht kontingent kontextualisiert werden. Der folgende Abschnitt diskutiert diskurs- und hegemonietheoretische Arbeiten im Feld der Bewegungsforschung, soziologischen Menschenrechts- und Antisemitismusforschung mit dem Ziel, aufzuzeigen, wie die angedeuteten Schwachstellen der einzelnen Forschungsstränge bereits teilweise transzendiert wurden. Davon ausgehend, wird der Mehrwert einer poststrukturalistischen Blickverschiebung auf soziale Bewegungen dargestellt, die die bislang getrennt voneinander diskutierten theoretischen Disziplinen in eine kritische Gesellschafts- und Sozialtheorie überführt, mit der Heterogenitäten, Paradoxien und Ambiguitäten in kulturellen Deutungskämpfen des Nahostkonflikts fokussiert werden können.
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Menschenrechte und Antisemitismus
2.1.4
Poststrukturalistische Perspektiven in der sozialen Bewegungs-, Menschenrechts- und Antisemitismusforschung: zur sinnstiftenden Einheit ambivalenter Diskurse
Im Feld der sozialen Bewegungsforschung sind in jüngster Zeit einige Studien entstanden, die mit einem relationalen Verständnis von Gesellschaft und sozialen Bewegungen arbeiten – auch mit einem expliziten Fokus auf israelbezogene Antisemitismen (Arnold 2016; Ullrich 2008) –und die konkreten politischen Praktiken von kollektiven Subjekten dabei explizit vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen Diskurs- und Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (Vey 2015 und 2016; Marchart 2013b; Hagemann 2016; Methmann 2014; Bedall 2016) sowie dem Subjekt- und Begehrensbegriff der Lacan’schen Psychoanalyse (Marchart 2009; Zeiher 2014) betrachten. Auch im Feld der soziologischen Menschenrechtsforschung sind seit Mitte der 2000er-Jahre vermehrt Studien sichtbar, die den kontingenten und bedeutungsoffenen Menschenrechtsdiskurs unter Rückgriff auf Laclaus konstruktivistische Perspektive in eine Gesellschaftstheorie überführen (Estévez 2008 und 2011; Rüdiger 2017) oder ihn mit der Lacanʼschen Subjekttheorie als »ideologische Fantasie« interpretieren (Wardle 2016; Douzinas 2000; Salecl 1994; Žižek 2014a). Menschenrechte werden dabei entweder in ihrer Funktion als hegemoniales Imaginativ untersucht, vor dessen Hintergrund soziale Bewegungen um die gesellschaftliche Verallgemeinerung – d.h. »Hegemonialisierung« – ihrer politischen Forderungen und Deutungsmuster kämpfen können oder als ideologische Fantasie beschreiben, die eine affektive Anziehungskraft auf Subjekte besitzt. Zuletzt sind auch im Feld der Antisemitismusforschung vereinzelte Studien erschienen (Marcus 2015; Barth 2009; Szabó 2016), die mit einem poststrukturalistischen Kontingenz- und Konfliktverständnis sozialer Ordnungen arbeiten und Antisemitismen damit explizit in relationale Beziehung zu gesamtgesellschaftlichen Diskursen, Strukturen, Subjekten und Machtbeziehungen setzen. In diesen bislang unterrepräsentierten Zugängen werden Antisemitismen und Antizionismen als sozial-performative, kontingente diskursive Praktiken verstanden, in deren Zentrum ein semantisch-entleerter Knotenpunkt8 , »Jude«/»Zionist«, steht, der als wandelbares Unterscheidungszeichen die Identifikation mit einem kollektiven »Selbst« ermöglicht. Demzufolge lässt sich resümieren, dass es durchaus Arbeiten in den jeweiligen Forschungsfeldern gibt, die auf Zugänge der poststrukturalistischen Diskurstheo-
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Unter einem diskursiven Knotenpunkt versteht Ernesto Laclau eine Art privilegierten Signifikanten, der eine immer nur temporäre Fixierung von Sinn ermöglicht und damit die Identität eines Diskurses durch die In-Beziehung-Setzung unterschiedlicher Diskurselemente und Subjektpositionen vorübergehend stabiliseren kann. Hierzu Kapitel 3.2.1.
2 Das theoretische Problem
rie Laclaus und Mouffes und die kulturtheoretische Weiterentwicklung der Lacanʼschen Subjekttheorie durch Žižek zurückgreifen, um das jeweilige Forschungsinteresse und ihre fokussierten Untersuchungsgegenstände zu konzeptualisieren. Die bislang getrennt voneinander diskutierten theoretischen Disziplinen wurden jedoch noch nicht in eine umfassende theoretische Heuristik überführt, um die empirisch beobachtete »paradoxe Situation« einer kontradiktorischen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen im Feld des transnationalen Palästinasolidaritätsaktivismus erklären zu können. Ich zeige nun, wie die einzelnen drei identifizierten Schwachstellen der dominanten Ansätze der politischen Soziologie durch eine poststrukturalistisch ausgerichtete Sozial- und Gesellschaftstheorie, in deren Zentrum eine radikale Kontingenz- und Konfliktperspektive auf das Soziale und ihre kulturspezifischen Identifikationsangebote steht, überwunden werden können. Erstens9 rückt aus einem postfundationalistischen10 Verständnis von Gesellschaft heraus der Kampf um die temporäre Deutung der sozialen Wirklichkeit ins Zentrum der Analyse, die primär davon ausgeht, dass gesellschaftliche Strukturen erst in und durch diskursive Aushandlungsprozesse hervorgebracht werden. Damit wird das Handeln transnationaler Bewegungen – wie der TPSB –, deren Ziel es ist, Gesellschaft zu verändern, nur aus einer dynamischen Relation zu einem spezifischen, d.h. kontingenten gesamtgesellschaftlichen Kontext – wie dem Nahostkonflikt – erklärbar. Zweitens folgt aus der radikalen Kontingenzperspektive auf das Soziale, dass der machtvolle Deutungskampf um gesellschaftliche Hegemonie, verstanden als instabiles Resultat des Kampfes zwischen antagonistischen Positionen, immer mit Brüchen, Ambivalenzen und Widersprüchen einhergeht. Der Idealisierung sozialer Menschenrechtsbewegungen oder subalterner Akteur/-innen als das »Andere« von Macht wird in dieser Perspektive gerade ein vielschichtiges, dynamisches Verständnis von Macht und Machteffekten für die Analyse von Protestdiskursen, ihren Forderungen, widerständigen Praktiken und je spezifischen Formen des Ausschlusses entgegnet. Drittens folgt aus der Rezeption der Lacan’schen Subjekttheorie ein Verständnis von Protestdiskursen, in deren Zentrum die dynamische Verbindung von Diskurs, sozialer Fantasie und Identität steht. Warum sich transnationale Akteure für das Identifikationsangebot des palästinensischen Menschenrechtsdiskurses entscheiden und mit ihrem Protestanliegen solidarisieren, wird dabei nicht durch ein
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Eine ähnliche Argumentation entwickeln Leinius, Vey und Hagemann (2017), denen ich in den ersten beiden Punkten folge. Der Begriff rekurriert auf einen Zugang auf das Soziale, der sich jeder transzendentalen, determinierten Form der Letztbegründung von Gesellschaft (beispielsweise der Ökonomie) widersetzt. Hierzu ausführlich Kapitel 3.2.
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Menschenrechte und Antisemitismus
gewinnbringendes Kosten-Nutzen-Kalkül oder strukturalistische Determination, sondern durch die emotionale Anziehungskraft von Fantasien und ihrer affektvermittelten Identifikationsangebote erklärt. Damit hilft die Diskurs- und Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes insgesamt, die paradoxe Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen und ihrer transnationalen Anschlussfähigkeit durch eine relationale Perspektive auf die dynamischen Verflechtungen von gesellschaftlichen Strukturen, Identitätskonstruktionen und Machtverhältnissen erklären zu können, um zu verdeutlichen, dass Brüche, Ambivalenzen und Widersprüche keine Anomalien, sondern Teil menschenrechtsorientierter Praktiken sein können. Aus diesem Grund wird im nächsten Kapitel die Sozial- und Gesellschaftstheorie Laclaus und Mouffes als allgemeine Ontologie dieser Arbeit dargestellt und anschließend mit einer poststrukutralistischen Lesart einzelner Zugänge der soziologischen Menschenrechtsforschung sowie sozialpsychologischen und differenztheoretischen Zugängen der Antisemitismusforschung trianguliert. Die Triangulation der erwähnten Zugänge resultiert aus der empirischen Beobachtung, der zufolge Menschenrechtsforderungen und Antisemitismen eine Schnittstelle im politischen Kampf der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung einnehmen. Damit vollzieht die vorliegende Arbeit einen Übergang von Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie und versucht, eine »konzeptuelle Blickverschiebung« auf den Forschungsgegenstand »soziale Bewegungen« stark zu machen.
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung Poststrukturalistische Hegemonietheorie, soziale Fantasien und das Handeln sozialer Bewegungen
3.1
Einleitung: der Mehrwert poststrukturalistischer Theorien für die Analyse antisemitischer Menschenrechtsdiskurse sozialer Bewegungen
Am Ende des letzten Kapitels habe ich drei wesentliche Punkte identifiziert, an denen die etablierten Forschungsstränge mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit – d.i. die paradoxe Situation menschenrechtsorientierter Antisemitismen – an ihre Grenzen stoßen: Ihnen fehlt es an einer relationalen Perspektive auf die dynamischen Verflechtungen zwischen gesellschaftlichen Strukturen, Identitätskonstruktionen, Machtverhältnissen und der spezifischen Deutungsarbeit sozialer Bewegungen. Brüche, Gleichzeitigkeiten und Ambivalenzen können ohne die Einbettung von Bewegungsdiskursen in gesamtgesellschaftliche Dynamiken nicht hinreichend analysiert werden. Der erste Teil dieser Arbeit zielt dementsprechend darauf ab, eine umfassende Gesellschafts- und Sozialtheorie zu entwickeln, in der Antisemitismen in einem menschenrechtsorientierten Umfeld nicht als Paradoxie verweilen, sondern als sinnstiftende Einheit theoretisch erklärt werden können. Postmoderne politische Soziologien in ihrer poststrukturalistischen Ausrichtung lehnen ein vermeintliches Fundament gesellschaftlicher Strukturen, fest fixierter Identitäten und stabiler Grenzziehungen innerhalb der Sphäre des Sozialen ab und betonen den Bruch, die Ambivalenz und Konflikthaftigkeit als Grundmotiv gesellschaftlicher Auseinandersetzung um die diskursive Aushandlung der sozialen Wirklichkeit. Aus diesem Grund eignen sie sich für ein Verständnis symbolischer Kämpfe sozialer Bewegungen, die, wie alle sozialen Phänomene, auch durch Abweichungen, Vielfältigkeiten und Mehrdeutigkeiten strukturiert sein können.
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Menschenrechte und Antisemitismus
Die Hegemonie- und Diskurstheorie Ernesto Laclaus, die er in großen Teilen zusammen mit Chantal Mouffe1 (2000) verfasst hat, ebenso wie ihre theoretische Weiterentwicklung durch einzelne Autor/-innen der Essex School (Glynos/Howarth 2007; Glynos/Stavrakakis 2002, Glynos et al. 2009; Stavrakakis 1999 und 2007) bilden einen Sammelpunkt poststrukturalistischer Theoriebildung der letzten Jahrzehnte, mit der ein dynamisches Verständnis für die politischen Kämpfe sozialer Bewegungen entwickelt werden kann. Demzufolge prägen die Konzepte der diskurstheoretischen Hegemonieanalyse (fortan: Hegemonietheorie) die Forschungsperspektive dieser Arbeit. Sie leiten die im letzten Kapitel geforderte »konzeptuelle Blickverschiebung« auf den Forschungsgegenstand ein. Insofern eine Vielzahl von Einführungen in die Hegemonietheorie2 Laclaus und Mouffes (Torfing 1999; Howarth 2000; Nonhoff 2010) und ihrer Ergänzung durch den Lacan’schen Kategorienapparat (Stavrakakis 1999; Marchart 1999; Glynos/Stavrakakis 2004) vorhanden sind, diskutiert das folgende Kapitel die einzelnen Perspektiven vor allem hinsichtlich der Fruchtbarkeit für die eigene Forschungsfrage, ohne dabei auf alle Aspekte der sehr komplexen Ontologie der Hegemonietheorie in der Tradition der Essex School einzugehen. Ausgangspunkt Laclaus und Mouffes ist eine radikale Kontingenz- und Konfliktperspektive auf das Soziale, die von der Skepsis gegenüber festen Fundamenten, stabilen Ordnungen und sozialen Phänomenen (Marchart 2013a, 49; Glasze/Mattissek 2009, 153; Leinius/Vey/Hagemann 2017, 9) geleitet wird. Vor diesem Hintergrund sind es insbesondere vier Gründe, weshalb die poststrukturalistisch ausgerichtete
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Jenseits des gemeinsamen Theoriewerks Hegemonie und radikale Demokratie publizieren Ernesto Laclau und Chantal Mouffe nicht zusammen, weshalb Wenman (2003) gegen die Lesart einer »authorial identity« (582) Laclaus und Mouffes argumentiert. Ich folge hier der Differenzierung von Marchart (2010), der die jeweiligen Weiterführungen der kooperatoven theoretischen Einheit durch zwei Varianten postfundationalistischen Denkens motiviert sieht. Im Folgenden wird von Laclau und Mouffe gesprochen, wenn sich die Arbeit auf Hegemonie und radikale Demokratie bezieht. Für weiterführende Überlegungen, die Laclau oder Mouffe in den Folgejahren publiziert haben, wird der/die jeweilige Autorin einzeln benannt. Aufgrund der Tatsache, dass sich in der Hegemonie- und Diskurstheorie Laclaus und Mouffes unterschiedliche theoretische und politische Strömungen überlagern, wird sie verschiedentlich als postmarxistisch, poststrukturalistisch oder postmodern bezeichnet (Vey 2015, 52). Je nach Kontext der Untersuchung erhellen all diese Bezeichnungen divergierende, aber dennoch zentrale Aspekte der Theorie. Zu den wichtigsten Anknüpfungspunkten des gemeinsamen Werks Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus (2000) zählen Jacques Derridas Methode der Dekonstruktion, Antonio Gramscis Hegemonie- und Michel Foucaults Diskursbegriff, die strukturalistische Linguistik Ferdinand de Saussures und die psychoanalytischen Überlegungen Jacques Lacans, die alle mit dem Ziel aufgegriffen, reartikuliert und z.T. von essenzialistischen Annahmen befreit werden, die Vielfältigkeit, Dynamik und Heterogenität zeitgenössischer politischer Proteste und sozialer Kämpfe zu reflektieren (Jørgensen/Phillips 2002, 25ff.).
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Gesellschafts- und Sozialtheorie eine »konzeptuelle Blickverschiebung« auf ambivalente Diskursstrategien sozialer Bewegungen werfen kann. Diese vier Gründe werde ich zusammen mit den jeweils chronologisch folgenden Kapiteln elaborieren. •
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Erstens rückt aus einem postfundationalistischen Verständnis von Gesellschaft heraus der permanente Kampf um die Neuaushandlung gesellschaftlicher Ordnungen ins Zentrum wissenschaftlicher Analysen. Soziale Bewegungen, deren Ziel es ist, Gesellschaft zu verändern, können demzufolge nur dann hinreichend verstanden werden, wenn sie aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus betrachtet werden. Im ersten Teil des folgenden Kapitels (3.2) werden die postfundationalistischen Grundannahmen der Gesellschaftstheorie Laclaus und Mouffes mit Blick auf das spezifische Handlungspotenzial sozialer Bewegungen elaboriert. Aus dem radikalkonstruktivistischen Verständnis von Gesellschaft folgt zweitens, dass Diskurse, Identitäten und Ordnungen nicht als objektiv gegeben, sondern als temporär stabilisierte Ergebnisse der machtvollen Deutungskämpfe um gesellschaftliche Hegemonie verstanden werden müssen. Hegemonien sind dabei immer das prekäre Ergebnis des politischen Kampfes zwischen antagonistischen Positionen, Subjekten, Gruppen und Ideen. Damit wirft die Theorie eine Perspektive auf die konkreten Praktiken sozialer Bewegungen, in deren Zentrum umkämpfte Grenzziehungs- und Identifikationsprozesse stehen. Wie sich Hegemonien über das »Medium des Diskurses« (Marchart 2013b, 95) konstituieren und inwiefern machtanalytische Fragen der Privilegierung und Ausschließung bestimmter Deutungsweisen dabei ins Zentrum eines Verständnisses über das Handeln sozialer Bewegungen rücken, ist Gegenstand von Kapitel 3.3. Durch die Integration der poststrukturalistischen Psychoanalyse Jacques Lacans als vielversprechender Ergänzung und häufig rezipiertem Zugang zur Hegemonietheorie wird drittens ein psychoanalytisches Verständnis von politischem Protest als eine Art »Affektlehre« (Marchart 2013a, 438) stark gemacht, mit dem soziodiskursive und psychodynamische Prozesse der (subjektiven) Identifikation und (kollektiven) Identitätsbildung erklärt werden können. Damit liefert der subjekttheoretische Aspekt der poststrukturalistischen Perspektive ein Verständnis für die transnationale Anziehungskraft partikularer Diskurse sozialer Bewegungen. In Kapitel 3.4 wird das Verständnis des Subjekts in den diskursiven Kämpfen um Hegemonie elaboriert und hinsichtlich der Frage, welche Funktion Affekte bei der Transnationalisierung von Protestdiskursen sozialer Bewegungen einnehmen, diskutiert. Viertens sind poststrukturalistische Zugänge dafür offen, Dynamiken der sozialen Wirklichkeit durch unterschiedliche theoretische Perspektiven zu beleuch-
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Menschenrechte und Antisemitismus
ten und durch die Integration verschiedener Analysewerkzeuge je unterschiedliche Aspekte der empirischen Wirklichkeit zu untersuchen. Damit wird Multiperspektivität zum zentralen Charakteristikum poststrukturalistischer Forschungspraktiken. In Kapitel 3.5-3.7 wird die Gesellschafts- und Sozialtheorie Laclaus und Mouffes durch verschiedene sozialwissenschaftliche Zugänge der Menschenrechts- (3.6) und Antisemitismusforschung (3.7) qua Theorietriangulation in ein dynamisches Theoriemodell überführt, mit dem der Komplexität der Empirie des BDS-Diskurses, der zufolge Menschenrechte und Antisemitismen eine erklärungsbedürftige Schnittstelle bilden, Rechnung getragen werden soll. Damit hilft die Hegemonie- und Diskurstheorie in vielerlei Hinsicht, einen Blick auf die prozessualen Mechanismen der Konstruktion und transnationalen Identifikation mit bestimmten Diskursen sozialer Bewegungen zu werfen, die selbst durch Widersprüche, Abweichungen und Heterogenitäten gekennzeichnet sein können. Das Kapitel endet mit einer Operationalisierung (3.8) der einzelnen theoretischen Konzepte in die »Logiken kritischer Erklärung« nach Jason Glynos und David Howarth (2007).
3.2
Postfundationalismus und Ontologie: theoretische Grundannahmen
In diesem Abschnitt stehen die ontologischen Grundannahmen der poststrukturalistischen Gesellschafts- und Sozialtheorie Laclaus und Mouffes im Zentrum der Betrachtung, die in die Begriffe der Kontingenz und Konflikthaftigkeit als »Grundbestimmungen des Sozialen« (Marchart 2013b, 32f.) einführen sollen. Durch die Einführung in die gesellschaftstheoretischen Annahmen der Hegemonietheorie wird aufgezeigt, warum das Handeln sozialer Bewegungen, wie es in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der BDS-Kampagne untersucht werden soll, nur aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus analysiert werden kann. Damit zeigt sich der erste Mehrwert einer poststrukturalistisch ausgerichteten Gesellschafts- und Sozialtheorie als »konzeptueller Blickverschiebung«, mit der ambivalente, kontradiktorische und paradoxe Diskurse sozialer Bewegungen theoretisch reflektiert werden können. Um die Relevanz der dynamischen Einbindung des Protests sozialer Bewegungen in den jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Kontext illustrieren zu können, greife ich auf den irritierenden Ausgangspunkt der problemorientierten Forschungspraxis zurück, wie er in Abschnitt 1.3 beschrieben wurde. Der rechteorientierte Forderungskatalog der globalen BDS-Kampagne löst internationale Kritik aus, die sich auf eine antisemitische Deutung des israelischen Staats, der Aberken-
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Menschenrechte und Antisemitismus
ten und durch die Integration verschiedener Analysewerkzeuge je unterschiedliche Aspekte der empirischen Wirklichkeit zu untersuchen. Damit wird Multiperspektivität zum zentralen Charakteristikum poststrukturalistischer Forschungspraktiken. In Kapitel 3.5-3.7 wird die Gesellschafts- und Sozialtheorie Laclaus und Mouffes durch verschiedene sozialwissenschaftliche Zugänge der Menschenrechts- (3.6) und Antisemitismusforschung (3.7) qua Theorietriangulation in ein dynamisches Theoriemodell überführt, mit dem der Komplexität der Empirie des BDS-Diskurses, der zufolge Menschenrechte und Antisemitismen eine erklärungsbedürftige Schnittstelle bilden, Rechnung getragen werden soll. Damit hilft die Hegemonie- und Diskurstheorie in vielerlei Hinsicht, einen Blick auf die prozessualen Mechanismen der Konstruktion und transnationalen Identifikation mit bestimmten Diskursen sozialer Bewegungen zu werfen, die selbst durch Widersprüche, Abweichungen und Heterogenitäten gekennzeichnet sein können. Das Kapitel endet mit einer Operationalisierung (3.8) der einzelnen theoretischen Konzepte in die »Logiken kritischer Erklärung« nach Jason Glynos und David Howarth (2007).
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Postfundationalismus und Ontologie: theoretische Grundannahmen
In diesem Abschnitt stehen die ontologischen Grundannahmen der poststrukturalistischen Gesellschafts- und Sozialtheorie Laclaus und Mouffes im Zentrum der Betrachtung, die in die Begriffe der Kontingenz und Konflikthaftigkeit als »Grundbestimmungen des Sozialen« (Marchart 2013b, 32f.) einführen sollen. Durch die Einführung in die gesellschaftstheoretischen Annahmen der Hegemonietheorie wird aufgezeigt, warum das Handeln sozialer Bewegungen, wie es in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der BDS-Kampagne untersucht werden soll, nur aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus analysiert werden kann. Damit zeigt sich der erste Mehrwert einer poststrukturalistisch ausgerichteten Gesellschafts- und Sozialtheorie als »konzeptueller Blickverschiebung«, mit der ambivalente, kontradiktorische und paradoxe Diskurse sozialer Bewegungen theoretisch reflektiert werden können. Um die Relevanz der dynamischen Einbindung des Protests sozialer Bewegungen in den jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Kontext illustrieren zu können, greife ich auf den irritierenden Ausgangspunkt der problemorientierten Forschungspraxis zurück, wie er in Abschnitt 1.3 beschrieben wurde. Der rechteorientierte Forderungskatalog der globalen BDS-Kampagne löst internationale Kritik aus, die sich auf eine antisemitische Deutung des israelischen Staats, der Aberken-
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
nung des israelischen Existenzrechts als jüdischem Staat sowie dem Verschwinden israelischer Perspektiven im Rahmen des palästinensischen Solidaritätsaktivismus bezieht. Diese möglichen Konsequenzen können von den dominanten Ansätzen der sozialen Bewegungsforschung nicht hinreichend reflektiert werden, gerade weil diese Zugänge die politische Praxis sozialer Bewegungen unabhängig von dem gesamtgesellschaftlichen Kontext betrachten, der durch die Forderungen der Protestakteure verändert, aufgehoben und stabilisiert werden soll (hierzu Kap. 2.1.1). Ich zeige nun auf, warum die postfundationalistische Epistemologie Laclaus und Mouffes gerade die Verschränkung von gesamtgesellschaftlichen Dynamiken und der politischen Praxis sozialer Bewegungen analysierbar macht. Im Zentrum der postfundationalistischen Epistemologie der Diskurs- und Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes steht die Annahme, dass gesellschaftliche Ordnung nicht auf einem letztbegründeten Fundament, einer Art privilegierten sozialen Struktur oder metaphysischen Substanz beruht, sondern wandelbares Resultat der politischen Aushandlung um die Fundierung dieser Ordnung selbst sind. »This means that, between the ability of a certain order to become a principle of identification and the actual contents of that order, there is no necessary link.« (Laclau 1994, 3) Ein solcher Gesellschaftsbegriff impliziert jedoch keine prinzipielle Unmöglichkeit verstetigter sozialer Ordnungen, Praktiken und Beziehungen oder betrachtet alle gesellschaftlichen Strukturen als Gegenstand permanenter Neuverhandlungen (Laclau 2005, 133; Krüger 2015, 32; Wullweber 2012, 52). Vielmehr ist damit die ontologische Setzung einer fundamentalen Instabilität des Sozialen, d.h. der hegemonialen Wirklichkeit, verbunden, deren Sinngebung sich zwar als gesellschaftliches Legitimationsverhältnis temporär stabilisieren kann, jedoch aufgrund ihres kontingenten Ursprungs niemals letztgültig fixierbar ist. Wenn wir uns die gesellschaftlichen Strukturen des Israel-Palästina-Konflikts anschauen, rufen immer wieder neue Ereignisse, wie beispielsweise kriegerische Auseinandersetzungen, Wahlen oder das Aufkommen der TPSB, die Instabilität kontingenter sozialer Ordnungen im Nahen Osten hervor. Dieser Blick auf die grundsätzliche Instabilität sozialer Ordnungen als Grundbestimmung einer postfundationalistischen Gesellschaftstheorie bedingt dabei den Konflikt als zweites ontologisches Fundament. Denn welche gesellschaftliche Struktur sich am Ende durchsetzt, ist das konflikthafte Ergebnis des politischen Kampfes um die jeweilige Struktur, niemals Ausdruck einer objektiven sozialen Realität (Laclau 2002, 132). Dass der Konflikt und die Kontingenz als »gleichursprünglich« (Marchart 2013b, 33) gedacht werden müssen, resultiert aus der Annahme eines sogenannten Primats des Politischen (Laclau 2007, 36) in der Laclau-/Mouffe’schen Theoriearchitektur. Unter dem Primat des Politischen verstehen Laclau und Mouffe dabei, dass jede routinierte soziale Praxis, verfestigte Identität, institutionalisierte Beziehung oder Handlung – d.i. das Soziale – auf einen politischen Ursprung
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Menschenrechte und Antisemitismus
zurückzuführen ist, der durch diese fundamentale Konflikthaftigkeit geprägt ist (Laclau/Mouffe 2000). Damit erhält das Politische einen ontologischen Status, den Laclau als »anatomy of the social world«, als »institution of the social« (2005, 154) beschreibt. Das Politische ist dabei nicht mit dem Begriff der Politik als Phänomen eines institutionellen politischen Systems zu verwechseln, sondern bezeichnet das Konstituens von Gesellschaft. Damit fällt Gesellschaftstheorie mit politischer Theorie zusammen. In der Laclau-/Mouffe’schen Ontologie entstehen soziale Ordnungen demzufolge durch politische Kämpfe3 um die Hegemonialisierung bestimmter Ansprüche bzw. Deutungs- und Handlungsmuster. Setzen sich diese Ansprüche durch, findet eine Entpolitisierung durch den Prozess der Sedimentation4 , d.h. der Verstetigung, Verfestigung und Unhinterfragbarkeit des Sozialen, statt. Das Politische, d.h. die Möglichkeit der Veränderung des Ensembles sozial sedimentierter, in Raum und Zeit institutionalisierter Strukturen, Regeln, Praktiken, Normen oder Werte, ist im Sozialen nicht präsent – ein Beispiel hierfür wäre ein bestimmtes, »westlich« dominiertes Verständnis von »universalen Menschenrechten«, das alternative Deutungen der Kategorie »Menschenrechte« zugunsten der legitim anerkannten Ordnung unsichtbar und undenkbar macht. Eine Politisierung erfährt das zu einem gegebenen Zeitpunkt sozial Sedimentierte, wenn hegemoniale Ordnungen durch soziale Konflikte problematisiert und angegriffen, d.h. reaktiviert werden (Marchart 1998, 15). In Anlehnung an Derridas Methode der Dekonstruktion (Wullweber 2012, 37) ist die Reaktivierung5 als Mechanismus der Infragestellung sozialer Selbstgewissheiten zu verstehen, weil sie die kontingente Natur des Sozialen, die immer als Ergebnis von Machtkonstellationen zu begreifen ist, aufzeigt (Laclau 1990, 33) und gleichzeitig Platz für die Etablierung neuer Identitäten und Sedimentationen schafft. Was folgt nun aus der Einsicht in die radikale Kontingenz- und Konfliktperspektive auf Gesellschaft als ontologischer Annahme einer postfundationalistischen Theorie sowie der Gegenüberstellung der Begriffe des Sozialen und des Politischen für ein poststrukturalistisches Verständnis auf soziale Bewegungen?
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Der konkrete politische Kampf muss von dem Begriff des Politischen als ontologischer Kategorie unterschieden werden. Die Kategorien »ontisch« und »ontologisch« können mit Heidegger als das Konkrete (ontisch) im Gegensatz zu dem Abstrakt-Transzendentalen (ontologisch) klassifiziert werden (Heidegger 2006). Zum Konzept der Sedimentierung siehe Laclau (1990, 34). Zu der Laclau’schen Rezeption des Husserl’schen Begriffs der Sedimentation siehe Marchart (2013a, 189-195). Ein Schichtmodell über das Zusammenspiel von Sedimentierung und Reaktivierung entwickelt Wullweber (2012, 36). Diejenigen Kräfte, die die Verfestigung des sozial Sedimentierten angreifen, nennt Laclau »Dislokationen« (1990, 21).
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Die Idee einer fundamentalen Kontingenz- und Konfliktperspektive auf das Soziale ermöglicht es, die konkrete Praxis sozialer Bewegungen, ihre Forderungen, Ansprüche und Narrative in Relation zu der gesellschaftlichen Ordnung zu erfassen, egal ob diese Ordnung angegriffen, neu gegründet oder reformiert werden soll. Während die dominanten Paradigmen der sozialen Bewegungsforschung, wie ich sie in Kapitel 2.1.1 beschrieben habe, die Mobilisierungs-, Legitimationsund Erfolgspotenziale sozialer Bewegungen häufig unabhängig von den sie umgebenden gesellschaftlichen Strukturen betrachten, kann mit Laclau und Mouffe gerade die Verschränkung von gesamtgesellschaftlichen Dynamiken und der politischen Praxis sozialer Protestakteure analysiert werden (Leinius/Vey/Hagemann 2017, 10). Durch das ontologische Verständnis von Politik als permanentem Konflikt öffnet sich das Theoriegebäude dabei für die »Logik der Kämpfe sozialer Bewegungen« (Demirović 2007, 60) jenseits eines rationalen Verständnisses für Protest. Die Mechanismen der Politisierung liefern dabei einen Erklärungsrahmen, der soziale Bewegungen als gegenhegemoniale Kräfte interpretierbar macht, die darauf ausgerichtet sind, die Transformation des gegenwärtigen Status quo durch die Etablierung einer »neuen« gesellschaftlichen Wirklichkeit zu (re-)produzieren. Für die empirische Analyse des BDS-Diskurses können wir damit auf ein analytisches Verständnis zurückgreifen, das genau jenen Moment des Politischen in der gegenhegemonialen Deutung des Nahostkonflikts interpretierbar werden lässt: Soziale Bewegungen zielen auf genau jene Momente des Politischen ab, egal, ob sie den aktuellen Status Quo hinterfragen, dem Wandel entgegenstehen oder in einer alltäglichen sozialen Situation ein bestehendes Rollenmuster nicht akzeptieren und damit die als normal verstandene soziale Ordnung unterminieren. Im Politischen wird das Soziale hinterfragt und seine soziale Genese und Veränderbarkeit sichtbar gemacht. (Leinius/Vey/Hagemann 2017, 11) Aus einem postfundationalistischen Verständnis von Gesellschaft heraus ist das Handeln sozialer Bewegungen demzufolge nur in seiner dynamischen Relation zu dem gesamtgesellschaftlichen Kontext – wie dem Nahostkonflikt, seiner Ursachen, Lösungsvorschläge, Akteur/-innen, Ereignisse etc. – erklärbar. Im empirischen Teil dieser Arbeit (Kap. 5) kann damit gezeigt werden, gegen welche sozial sedimentierten Praktiken, Regime und Regeln – d.i. der gesellschaftliche Kontext – sich die BDS-Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen richten und welche Stellung die israelische Perspektive dabei einnimmt. Während die vorliegenden Überlegungen nun den gesellschaftstheoretischen Rahmen der Hegemonietheorie hinsichtlich des Mehrwerts für ein Verständnis des Handels sozialer Bewegungen rekonstruiert haben, zeigt der folgende Abschnitt, wie sich das hegemonial gewordene »Soziale« und »Gesellschaft« über das »Medium des Diskurses« (Marchart 2013b, 95) konstituieren. Denn in dem sozialkon-
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struktivistischen Gesellschaftsverständnis von Laclau und Mouffe »ist das, was die moderne Sozialtheorie das ›Soziale‹ und die ›Gesellschaft‹ nennt, nichts anderes als eine Agglomeration von ›Diskursen‹« (Reckwitz 2006b, 341). Folglich konzipieren Laclau und Mouffe ihre Sozialtheorie als Diskurstheorie, in der das Soziale mit dem Diskursiven identifiziert werden kann. Wie kann das Konzept des Diskurses verstanden werden? Welche Bedeutung hat der Diskurs für die Deutungsarbeit sozialer Bewegungen? Diese Fragen möchte ich im kommenden Abschnitt beantworten.
3.2.1
»Sozialtheorie als Diskurstheorie«.6 Gesellschaft als Ausdruck von Diskursen
Ein zentrales Konzept der poststrukturalistischen Perspektive Laclaus und Mouffes bildet der Diskurs. Im Diskurs wird die Bedeutung von gesellschaftlichen Phänomenen ausgehandelt und festgeschrieben. Dabei schlagen Laclau und Mouffe ein Diskursverständnis vor, das sowohl sprachliche als auch nicht sprachliche Elemente umfasst, womit sie die etwa bei Foucault vorhandene Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht diskursiven Praktiken (2000, 145) aufheben. Diese Aufhebung führt dazu, dass alle gesellschaftlichen Handlungen, Phänomene und Praktiken als Bestandteile von hegemonial (hierzu Kap. 3.3) und partiell stabilisierten Diskursen klassifiziert werden können.7 »Diskurs – und darin eingeschlossen: Macht – ist deshalb nicht länger als eine Ebene sozialer Wirklichkeit zu verstehen, sondern wird zum eigentlichen Medium, worin gesellschaftliche Wirklichkeit verhandelt und fixiert wird.« (Marchart 2013b, 93) Diskurse selbst sind dabei als Differenzsysteme zu verstehen, in denen die kulturelle Sinngebung der sozialen Wirklichkeit, das sind die gesellschaftlichen Denkund Sagbarkeitsgrenzen – »das Soziale« – durch die temporär stabilisierende Wirkung der Aushandlung von Bedeutung erfolgt (Laclau/Mouffe 2000, 141ff.). Mit diesem Verständnis von Diskursen als gleichermaßen relationalen wie machtvermittelnden Differenzsystemen rekurrieren Laclau und Mouffe auf die strukturalistische Linguistik Ferdinand de Saussures. De Saussures zentrales Argument ist es, dass die Bedeutung eines Zeichens (als Einheit von Signifikat – das ist der Zeicheninhalt – und Signifikanten – das ist die Zeichenform) nicht a priori festgelegt 6 7
Marchart 2013a, 308. Die Aufhebung von diskursiven und nicht diskursiven Praktiken führt jedoch nicht zu der Negation der Existenz einer nicht diskursiv materialisierten Wirklichkeit – ein Erdbeben existiert auch unabhängig von seiner diskursiven Einbindung –, sondern folgt der radikalkonstruktivistischen Perspektive Laclaus und Mouffes, der zufolge soziale Realität nur durch die artikulatorische Praxis (hierzu Absatz 3.2.1) konstituiert und repräsentiert werden kann – ob das Erdbeben als Naturereignis oder als Zorn Gottes interpretiert wird, hängt von seiner diskursiven Bedeutungszuschreibung (Laclau/Mouffe 2000, 144) ab.
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
ist, sondern erst innerhalb eines Zeichensystems, d.h. aus den relationalen Beziehungen zu anderen Elementen, hergestellt werden kann.8 Nehmen wir das Beispiel des Signifikanten »Gerechtigkeit«. Dieser Signifikant enthält keine substanziell positive Bedeutung. Erst in Relation zu anderen Signifikanten wie »Gleichheit« oder »Menschenrechten« kommt diesem Zeichen Sinn zu. Daraus folgt für Laclau und Mouffe, dass Diskurse, ebenso wie die Sprache, arbiträre Systeme darstellen, in denen Bedeutungen nur relational zu anderen Elementen generiert werden können. By discourse […] I do not mean something that is essentially restricted to the areas of speech and writing, but any complex of elements in which relations play the constitutive role. This means that elements do not pre-exist the relational complex but are constituted through it. (Laclau 2005, 68f.) Während de Saussure in einer gewissen »Unhintergehbarkeit der Struktur«9 (Frank 1984, 12) verfangen bleibt, radikalisieren Laclau und Mouffe die Saussure’sche Linguistik in Anlehnung an Jacques Derridas Begriff der »différance« (1990), um auf dreierlei aufmerksam zu machen. Erstens ist nach Derrida die Beziehung zwischen verschiedenen Signifikanten in ein Spiel der Differenzen eingebunden, in dem sich Bedeutung über die iterablen10 Prozesse der Unterscheidung von anderen Signifikanten ergibt, wodurch eine abschließende oder eindeutige Fixierung des Zeicheninhalts nicht möglich ist (Derrida 1974). Daher sind die den Diskurs konstituierenden Signifikanten zweitens radikal kontingent und temporalisiert. Die unendliche Vielzahl an Bedeutungsüberschüssen, die Laclau und Mouffe mit dem von Althusser entlehnten Begriff der »Überdetermination«11 (2000, 97ff.) fassen, führt dazu, dass jedes Element auch in »völlig neue Bezüge gestellt werden« (Nonhoff 2006, 37) kann, sodass der Diskurs grundsätzlich durch Widersprüche, Polysemien und Instabilitäten gekennzeichnet ist. Um unser Beispiel erneut aufzunehmen, kann auf die Frage »Was ist Gerechtigkeit?« unterschiedlich geantwortet werden, etwa 8
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Weil der Komplexität der Saussure’schen Semiotik hier nicht allumfassend Rechnung getragen werden kann, verweise ich an dieser Stelle auf Saussures Beispiel von Sprache als Schachspiel: »Der Wert der einzelnen Schachfiguren hängt von ihrer jeweiligen Stellung auf dem Schachbrett ab, ebenso wie in der Sprache jedes Glied seinen Wert durch sein Stellungsverhältnis zu anderen Gliedern hat.« (1967, 105) In strukturalistischen Theorien können Essentialismen über die Annahme geschlossener Systeme, die die soziale Praxis determinieren, reproduziert werden (Howarth 2000, 28). Diskurse erscheinen dann als starre Reproduktion übersubjektiv wirksamer Differenzrelation. »Iterabilität« meint nach Derrida die Unkontrollierbarkeit von Zeicheninhalten in Sprechakten. Weil sich jede praktische Aneignung von Wissen zwar als reproduktive »Wiederholung« von Signifikanten darstellt, die »Übersetzung« bestehender Differenzen in einem anderen sozialen Kontext aber Bedeutungsverschiebungen verursachen und damit performativ »neuen« Sinnn produzieren, zeigt sich Sprache dynamisch, variabel und indeterminiert (Derrida 1974). Siehe Reckwitz 2006b, 341f., über die Herkunft des Begriffs bei Althusser und Freud.
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mit dem Verweis auf ein staatliches Prinzip, einer menschlichen Tugend individuellen Verhaltens oder dem Prinzip der Verwirklichung von Gerechtigkeit durch Menschenrechte. All diese Antworten betten den Signifikanten »Gerechtigkeit« in neue Bezüge ein, die in unterschiedlichen diskursiven Kontexten differente und widersprüchliche Bedeutungszuschreibungen implizieren können. Damit reflektiert der poststrukturalistische Ansatz Laclaus und Mouffes die kontinuierliche Veränderbarkeit und niemals endgültige Fixierbarkeit von Diskursen, Identitäten und sozialen Beziehungen, worauf bereits im letzten Kapitel mit der Einsicht in die radikale Kontingenzperspektive auf Gesellschaft hingewiesen wurde.12 Die Unmöglichkeit der endgültigen Fixierung von Bedeutung hat dabei drittens zur Folge, dass der Versuch der Schließung des Feldes des Diskursiven13 , d.i. der Bereich des Bedeutungsüberschusses (Laclau/Mouffe 2000, 149), zum fortlaufenden Kampf um die »Teil-Fixierung« (Nonhoff 2006, 37) von Bedeutung wird. Ohne diese teilweise Fixierung ist die Herstellung von Sinn grundsätzlich unmöglich. Der Diskurs geriert sich damit als Versuch, in jener überdeterminierten und instabilen Situation relative Ordnung zu schaffen (Glasze/Mattissek 2009, 158; Nonhoff 2006, 37). Demzufolge stellt sich die Frage, wie die prozessuale Konstruktion differenter Bedeutungsrelationen als Ursprung eines gesellschaftlich hervorgebrachten Sinns gedacht werden kann. Wie wird darüber entschieden, was gedacht und wie darüber gedacht werden kann? Um ein Verständnis dafür zu liefern, wie ein bestimmter Bedeutungshorizont innerhalb eines Diskurses (re-)produziert wird, führen Laclau und Mouffe den Begriff der Artikulation ein. [Wir] bezeichnen […] als Artikulation jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, daß ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird. Die aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Totalität nennen wir Diskurs. Die differenziellen Positionen, insofern sie innerhalb eines Diskurses artikuliert erscheinen, nennen wir Momente. Demgegenüber bezeichnen wir jede Differenz, die nicht diskursiv artikuliert ist, als Element. (2000, 141)
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Da auch Identitäten im Prozess der symbolischen Bedeutungsproduktion (Glasze/Mattissek 2009, 157) hergestellt werden, müssen auch diese als kontingent verstanden werden. Hierauf komme ich in Kapitel 3.4 zurück. Das Feld des Diskursiven wird von Laclau und Mouffe folgendermaßen zusammengefasst: »Dieser Begriff [das Feld des Diskursiven] gibt die Form der Beziehung zu jedem konkreten Diskurs an: er bestimmt zugleich den notwendigerweise diskursiven Charakter jedes Objekts und die Unmöglichkeit jedes gegebenen Diskurses eine endgültige Naht zu bewerkstelligen.« (2000, 149)
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Diskurse entstehen also durch die politische Praxis ihrer Artikulation. In dieser artikulatorischen Praxis werden einzelne Diskurselemente (z.T. auch »flottierende Signifikanten« [Laclau/Mouffe 2000, 151]) zueinander in Beziehung gesetzt, die zu Momenten (synonym auch »Knotenpunkten« [ebd., 150]) eines spezifischen Diskurses avancieren. Zentral ist auch hier noch einmal der Differenzgedanke Laclaus und Mouffes. Denn jedes Moment des Diskurses erhält seine Identität nur durch seine differenzielle Position innerhalb des Diskurses. Erst dann entsteht eine zwar unvollständige (ebd., 156 und 166), aber in sich geschlossene Totalität (Demirović 2007, 62). Als eine solche temporär geschlossene Totalität des Diskurses kann beispielsweise ein bestimmtes Verständnis über den Nahostkonflikt gelten, das im Feld des Diskursiven mit je spezifischen Bedeutungen ausgehandelt und partiell fixiert wurde. Andere mögliche Deutungszuschreibungen wurden dabei zugunsten der diskursiv Verfestigten verdrängt. Damit zeigt sich, dass die Bedeutungen von gesellschaftlichen Phänomenen diesen nicht inhärent sind, sondern erst durch den Diskurs festgeschrieben werden. Aus diesem Grund fallen das Soziale und das Diskursive in der Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes zusammen, womit Gesellschaftstheorie zur Diskurstheorie und andersrum wird. In späteren Schriften, die sich vor allem auf die Herausbildung kollektiver Identitäten beziehen, beschreibt Laclau die Fixierung von Sinn als Praxis der Artikulation von Forderungen in der Sphäre politischer Konfliktaustragung (»demands« [Laclau 2007, 72]). Forderungen bringen dabei ein bestimmtes, ungelöstes soziales Problem zum Ausdruck, das als Partikularinteresse von bestimmten Akteur/-innen formuliert wird und sich an bestimmte Adressat/-innen richtet (Angermüller 2007, 167). Zentral für den Begriff der Forderung ist dabei, dass sie »gegen ein[en] als defizitär erlebten status quo gerichtet sind« (ebd.) und ein spezifisches Allgemeinwohl artikulieren (hierzu Kap. 3.3.3). Ich möchte den Begriff der Forderung fortan als zentralen Begriff der politischen Auseinandersetzung um die Konstitution des Sozialen – des Diskursiven – verwenden. Dabei folge ich Marchart (2013b), der die »Kategorie der Forderungen für Protestdiskurse« (161) als zentral klassifiziert.14 Auch für unser Fallbeispiel der transnationalen Boykottkampagne gegen Israel ist der Begriff der Forderungen virulent. In Kapitel 1 habe ich argumentiert, dass die TPSB
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Einwände gegen den Begriff der Forderung formuliert Angermüller (2007), der mit Blick auf die empirische Diskursanalyse darauf hinweist, dass sich Laclaus Forderungen als kleinste Analyseeinheit nicht »ohne Weiteres abgrenzen lassen« (170). Dagegen betont Nonhoff den Vorteil des Begriffs der Forderung für die Materialität des politsichen Diskurses, der bei linguistischen Analysen aus dem Blick gerate (2007, 176). Insofern konstatiert Nonhoff, dass es diskursanalytisch hilfreich ist, bei der Analyse von Hegemonien nach der Vorherrschaft von Forderungen zu suchen.
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die Umsetzung dreier zentraler Rechte für das palästinensische ›Volk‹ als Ziel des Protests fordert. Mit Laclau und Mouffe können wir an dieser Stelle argumentieren, dass es die politischen Forderungen sozialer Bewegungen – wie der BDS-Bewegung – sind, die durch ihre je spezifische artikulatorische Praxis versuchen, den Diskurs temporär mit einer spezifischen Bedeutung zu fixieren. Damit zeigt sich erneut der erste Mehrwert einer poststrukutralistischen Perspektive auf soziale Bewegungen, die im diskursiven Kampf um die soziale Wirklichkeit bestehende Wahrheitsmuster verschieben, angreifen oder Sinn auf der Grundlage ihrer artikulatorischen Praxis »neu« etablieren wollen. Die diskursive Operation, die das mäandernde Fließen von Bedeutungssequenzen im Feld der Diskursivität stillzulegen versucht, wird von Laclau und Mouffe als »Hegemonie« bezeichnet. Hegemonie in der Laclau-/Mouffe’schen Terminologie ist demzufolge immer als diskursives Phänomen zu begreifen, als Dominanzprinzip spezifischer Diskurskonstellationen, als Herrschaft bestimmter Artikulations- und gesellschaftlicher Ordnungsmuster. In diesem Sinne berührt das Konzept der Hegemonie machtanalytische Fragen der Privilegierung und Ausschließung bestimmter Deutungsweisen, sozialer Normen, Institutionen und Identitäten, die sich vor dem Hintergrund politischer Aushandlungsprozesse und Deutungskonflikte als temporär stabilisierte Bedeutungsfixierungen zeigen. Denn welches bestimmte Verständnis des Nahostkonflikts, um bei dem obigen Beispiel zu bleiben, sich naturalisiert und als gesellschaftsfähige »Wahrheit« verfestigt, ist nicht arbiträr. Vielmehr ist es das Ergebnis des machtvollen Ausschlusses von alternativen Möglichkeiten bei gleichzeitiger Vorherrschaft eines spezifischen Deutungsmusters. Damit kommen wir nun zu dem zweiten zentralen Mehrwert der poststrukturalistisch ausgerichteten Gesellschafts- und Sozialtheorie Laclaus und Mouffes, die eine »konzeptuelle Blickverschiebung« auf die Diskurse sozialer Bewegungen – in meinem Fall der BDS-Bewegung – und darin enthaltener Brüche, Ambivalenzen und Widersprüche werfen kann: der »Rolle von Macht« (Leinius/Vey/Hagemann 2017) als zentralem Angelpunkt des Kampfes sozialer Bewegungen um Hegemonie. Dieser Zusammenhang ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.
3.3
Macht als Mittel der Erzeugung gesellschaftlicher Wirklichkeit: soziale Bewegungen im Kampf um Hegemonie
Im diesem Unterkapitel stehen die genauen Konturen der hegemonietheoretischen Dimension der Diskurstheorie im Vordergrund der Betrachtung, um aufzeigen zu können, dass der Kampf um Hegemonie immer das Ergebnis des machtvollen Ausschlusses antagonistischer Positionen, Subjekte, Gruppen oder Ideen ist. Insgesamt entwickelt der folgende Abschnitt ein relationales Verständnis dafür, wie
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die Umsetzung dreier zentraler Rechte für das palästinensische ›Volk‹ als Ziel des Protests fordert. Mit Laclau und Mouffe können wir an dieser Stelle argumentieren, dass es die politischen Forderungen sozialer Bewegungen – wie der BDS-Bewegung – sind, die durch ihre je spezifische artikulatorische Praxis versuchen, den Diskurs temporär mit einer spezifischen Bedeutung zu fixieren. Damit zeigt sich erneut der erste Mehrwert einer poststrukutralistischen Perspektive auf soziale Bewegungen, die im diskursiven Kampf um die soziale Wirklichkeit bestehende Wahrheitsmuster verschieben, angreifen oder Sinn auf der Grundlage ihrer artikulatorischen Praxis »neu« etablieren wollen. Die diskursive Operation, die das mäandernde Fließen von Bedeutungssequenzen im Feld der Diskursivität stillzulegen versucht, wird von Laclau und Mouffe als »Hegemonie« bezeichnet. Hegemonie in der Laclau-/Mouffe’schen Terminologie ist demzufolge immer als diskursives Phänomen zu begreifen, als Dominanzprinzip spezifischer Diskurskonstellationen, als Herrschaft bestimmter Artikulations- und gesellschaftlicher Ordnungsmuster. In diesem Sinne berührt das Konzept der Hegemonie machtanalytische Fragen der Privilegierung und Ausschließung bestimmter Deutungsweisen, sozialer Normen, Institutionen und Identitäten, die sich vor dem Hintergrund politischer Aushandlungsprozesse und Deutungskonflikte als temporär stabilisierte Bedeutungsfixierungen zeigen. Denn welches bestimmte Verständnis des Nahostkonflikts, um bei dem obigen Beispiel zu bleiben, sich naturalisiert und als gesellschaftsfähige »Wahrheit« verfestigt, ist nicht arbiträr. Vielmehr ist es das Ergebnis des machtvollen Ausschlusses von alternativen Möglichkeiten bei gleichzeitiger Vorherrschaft eines spezifischen Deutungsmusters. Damit kommen wir nun zu dem zweiten zentralen Mehrwert der poststrukturalistisch ausgerichteten Gesellschafts- und Sozialtheorie Laclaus und Mouffes, die eine »konzeptuelle Blickverschiebung« auf die Diskurse sozialer Bewegungen – in meinem Fall der BDS-Bewegung – und darin enthaltener Brüche, Ambivalenzen und Widersprüche werfen kann: der »Rolle von Macht« (Leinius/Vey/Hagemann 2017) als zentralem Angelpunkt des Kampfes sozialer Bewegungen um Hegemonie. Dieser Zusammenhang ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.
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Macht als Mittel der Erzeugung gesellschaftlicher Wirklichkeit: soziale Bewegungen im Kampf um Hegemonie
Im diesem Unterkapitel stehen die genauen Konturen der hegemonietheoretischen Dimension der Diskurstheorie im Vordergrund der Betrachtung, um aufzeigen zu können, dass der Kampf um Hegemonie immer das Ergebnis des machtvollen Ausschlusses antagonistischer Positionen, Subjekte, Gruppen oder Ideen ist. Insgesamt entwickelt der folgende Abschnitt ein relationales Verständnis dafür, wie
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Diskurse sozialer Bewegungen erst durch ein komplexes machtvermitteltes Verhältnis im Ringen um gesellschaftliche Hegemonie entstehen, die immer mit Inund Exklusionsprozessen einhergehen. Damit zeigt sich der zweite Mehrwert einer poststrukturalistisch ausgerichteten Gesellschafts- und Sozialtheorie dahingehend, als sie umkämpfte Grenzziehungs- und Identifikationsprozesse sozialer Bewegungen theoretisch fassen kann. Die Virulenz einer solchen Perspektive kann illustriert werden, wenn wir auf den irritierenden Ausgangspunkt des ersten Kapitels (1.3) zurückkommen. Will die BDS-Bewegung eine »neue« Perspektive auf den Nahostkonflikt werfen, in dessen Zentrum die palästinensischen Forderungen nach Rechten stehen, muss sie, mit Laclau und Mouffe gesprochen, um gesellschaftliche Hegemonie im Nahen Osten ringen. Da der machtvolle Deutungskampf um Hegemonie immer mit Formen des Ausschlusses, der Unterdrückung und Dominanz zusammenhängt, können auch egalitäre Forderungen nach Rechten sozialer Bewegungen – wie die Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen in meinem Untersuchungsbeispiel – diskursive Ausschlüsse produzieren, die im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts israelbezogene Antisemitismen (re-)produzieren können. Mittels dieser theoretischen Perspektive setzt die poststrukturalistische Theoriearchitektur jenen Ansätzen, die mit einer Idealisierung sozialer Menschenrechtsbewegungen (siehe Kap. 2.1.2) einhergehen, wie etwa den hegemonialen Ansätzen der sozialen Bewegungsforschung, oder subalterne Akteur/-innen als das »Andere« von Macht idealisieren, wie in Ansätzen der Menschenrechtsforschung, ein vielschichtiges, dynamisches Verständnis von Macht für die Analyse von Protestdiskursen, ihren Forderungen, widerständigen Praktiken und je spezifischen Formen des Ausschlusses entgegnen. Ich zeige nun auf, wie sich Hegemonien über das Medium des Diskurses konstituieren.
3.3.1
Hegemonie, Antagonismus, leerer Signifikant
Bevor ich die genauen Operationslogiken hegemonialer Projekte und der dadurch produzierten Ein- und Ausschlüsse nachzeichne, möchte ich zunächst an verschiedene Argumentationsstränge anknüpfen, die ich im Laufe des Kapitels aufgeworfen habe. Die im ersten Abschnitt (3.2) elaborierte, radikalkonstruktivistische Kontingenzund Konfliktperspektive auf das Soziale begreift alle gesellschaftlichen Ordnungen und Praktiken ihrem Ursprung nach als politisch. Das Politische als ontologische Kategorie beschreibt bei Laclau und Mouffe demzufolge die Art und Weise, wie Gesellschaft eingerichtet ist (Mouffe 2015a, 15), nämlich: kontingent und konflikthaft. Auf der ontischen Ebene verweist der Begriff des Politischen dabei auf die konkreten symbolischen Kämpfe um Hegemonie, die das Soziale, gesell-
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schaftliche Ordnungen und Praktiken generiert, verobjektiviert und repolitisiert (Wullweber 2012, 34ff.), d.h. die »Objektivität des Sozialen« (Laclau 1990, 28) durch die hegemoniale Operationslogik temporär fixiert. Das postmarxistisch reartikulierte Hegemoniekonzept Antonio Gramscis15 fasst bei Laclau und Mouffe also den konflikthaften Prozess, der die kontingenten Versuche der Konstitution des Sozialen beschreibt. Insofern das Soziale, wie im letzten Abschnitt dargestellt, gleichzusetzen mit dem Diskursiven ist, übersetzt sich Hegemonie nun als »diskurstheoretisch zu fassende operative Logik des Politischen« (Marchart 2013b, 93), die alle Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit verhandelt und temporär fixiert. Damit öffnet die diskurstheoretische Reartikulation der Gramscianischen Hegemonietheorie das Theoriegebäude Laclaus und Mouffes für das Handeln sozialer Bewegungen, das sich nun als diskursiver wie politischer Kampf um Gesellschaft, d.h. der Hegemonialisierung bestimmter Bedeutungsmuster, darstellt. Im Folgenden stehen mit den Konzepten des »Antagonismus« und der »Hegemonie« zwei »Schlüsselbegriff[e]« (Mouffe 2015a, 25) für die Untersuchung des Politischen – in meinem Fall der politischen Deutungsarbeit sozialer Bewegungen am Beispiel des BDS-Diskurses – im Zentrum der Betrachtung. Durch das Konzept des Antagonismus soll dabei erstens aufgezeigt werden, dass der machtvolle Deutungskampf um Hegemonie immer mit Brüchen, Ambivalenzen und Kontradiktionen einhergeht. Das Laclau-/Mouffe’sche Hegemoniekonzept verdeutlicht zweitens, wie sich partikulare Diskurse universalisieren und als hegemoniale Deutungsmuster legitimieren können. Ich beginne nun mit dem Konzept des ontologischen und ontischen Antagonismus.
3.3.2
Ontologischer und ontischer Antagonismus
Wie kann der Diskurs eine relative Stabilisierung erreichen? Wie wird eine bestimmte gesellschaftliche Wirklichkeit hegemonial? Hegemoniale Diskurse können ihre Identität nur durch die Differenz zu einem radikalen Außen, d.h. durch Abgrenzung von etwas »Anderem«, einem »Außerhalb« (Mouffe 2015a, 23), konstituieren. Mit dem Begriff des Antagonismus wird diese konflikttheoretische Perspektive (Auer 2002) auf Gesellschaft, Identität und Diskurse auf eine in der Laclau-/Mouffe’schen Theoriearchitektur zentrale Kategorie zurückgeführt (Marchart 2017; Nonhoff 2017; Hildebrand/Séville 2015). Auch das Konzept des »Antagonismus« wird in der Hegemonietheorie mit einer ontologischen und ontischen Bedeutungszuschreibung versehen. Beide Schlüsselkonzeptionen sind für das theoretische und
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Den Hegemoniebegriff übernehmen Laclau und Mouffe von Antonio Gramsci (hierzu FlügelMartinsen 2017, 22).
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zentral (hierzu Abschnitt 1.3), worauf ich im Laufe des Abschnittes zurückkommen möchte. In der Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes liefert die Kategorie des ontologischen Antagonismus den Erklärungsrahmen für die kontingente Begrenztheit des Sozialen und damit für die Unmöglichkeit einer vollständigen Schließung von Gesellschaft, Diskursen und Identitäten (Laclau/Mouffe 2000, 161ff.; Nonhoff 2010, 182). »Genaugenommen existieren Antagonismen nicht innerhalb, sondern außerhalb der Gesellschaft; beziehungsweise sie konstituieren die Grenzen der Gesellschaft und deren Unmöglichkeit, sich selbstständig zu konstituieren« (Laclau/Mouffe 2009, 165). Demzufolge bildet der Antagonismus den Bruch, die Friktionen und Konflikthaftigkeit des Sozialen ab, sodass er als die zentrale Dimension des Politischen (Nonhoff 2007, 10 und 2010, 282; Stäheli/Hammer 2016, 77; Mouffe 2015a, 25) kategorisiert werden kann. »Politik ist konfliktorisch, weil sich Gesellschaft zu keiner Totalität schließen lässt – und der ontologische Name dafür ist Antagonismus« (Marchart 2010, 321). Laclau bezeichnet den ontologischen Antagonismus als eine Gestalt reiner Negativität (1990, 72), dessen konstitutive Eigenschaft darin begründet liegt, die Grenze jeder gesellschaftlichen Formation, jedes Diskurses, jeder Identität abzubilden. Diese Idee des Antagonismus als Grenze der Unmöglichkeit von Gesellschaft lässt sich einfacher nachvollziehen, wenn wir uns ein Beispiel vor Augen führen. Der Nahostkonflikt als geschlossenes, konsensuales und vollständiges Soziales ist, mit Laclau gesprochen, eine Unmöglichkeit. Die ontologische Grenze des Sozialen zeigt sich in jenen Konstellationen, in denen der Diskurs über den Nahostkonflikt politisiert wird. Das Auftreten der globalen Boykottkampagne gegen Israel zeigt diesen Mechanismus der Politisierung, worauf ich bereits in Abschnitt 1.2.3 hingewiesen habe, insofern sie die Kontingenz des Diskurses, einzelner »Vorstellungen« über die Konfliktparteien, Konfliktursachen und -lösungen sichtbar macht. Der Antagonismus, der Einbruch des radikalen Außens in das Innen des Diskurses – der sozial sedimentierten Logik des Nahostkonflikts – zeigt nun die ontologisch unmögliche Verwirklichung einer alternativlosen, totalisierenden Gesellschaft. »Es gibt immer andere unterdrückte Möglichkeiten, die aber reaktiviert werden können.« (Mouffe 2015a, 12) Gleichzeitig ist es die zentrale Eigenschaft des ontologischen Antagonismus, dass er nicht nur zur Grenze der Unmöglichkeit von Gesellschaft, sondern auch zur Möglichkeitsbedingung von Gesellschaft wird. Erst durch den Rekurs auf das konstitutive Außen (Laclau 1990, 17), das heißt in Abgrenzung zu dem, was nicht zur Gesellschaft gehört, können sich kulturelle Ordnungen überhaupt erst begründen und legitimieren. Aus diesem Grund kommt dem Antagonismus eine paradoxe Doppelfunktion (Nonhoff 2007, 10) in der Theoriearchitektur Laclaus und Mouffes zu, die einen wichtigen Beitrag für die Konzeptualisierung sozialer Bewegungen liefert. Das Schlüsselkonzept des Antagonismus zeigt auf gesellschaftstheoretischer Ebene die konstitutive
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Umkämpftheit, den Bruch, die Leerstelle gesellschaftlicher Ordnungen, diskursiver Strukturen und sozialer Identitäten16 auf, womit soziale Bewegungen für die bestehenden Formationen einen Antagonismus darstellen (Demirović 2007, 70), wie etwa das Auftreten der globalen Boykottkampagne mit ihrer alternativen Deutung des Nahostkonflikts einen solchen Antagonismus für einzelne »Vorstellungen« über die Konfliktparteien, Konfliktursachen und -lösungen darstellt. Während Antagonismen als ontologische Kategorie aufzeigen, warum es keine stabilen Ordnungen, vollkommenen Identitäten oder abgeschlossenen Diskurse gibt, zeigen ontische Antagonismen auf, wie sich der ontologische Antagonismus in konkrete gesellschaftliche Konflikte übersetzt. Ontische Antagonismen sind demzufolge sozial-performative Wir-sie-Beziehungen, durch die soziale Wirklichkeit hergestellt, verteidigt oder angegriffen wird. Zentral ist dabei, um den Ausgangspunkt noch einmal zu wiederholen, dass die radikale Demarkationslinie zwischen »eigenen« Identitäten, Ideen, Handlungen und Praktiken und der Differenz zu »anderen« Gruppen, Subjekten und Deutungen nicht unabhängig voneinander zu denken ist. Der Antagonismus ist ein sinnhaft konstituierter, in ihm wird eine Grenze markiert zwischen dem, was legitimerweise ›innerhalb‹ der intelligiblen Sphäre der Gesellschaft verläuft, und dem, was als bedrohliches, inakzeptables und kaum begreifbares Anderes außerhalb der Grenzen der Gesellschaft […] situiert wird. (Reckwitz 2006b, 345) Auf welche Weise diese antagonistische Grenzziehung zwischen einem identitätsstiftenden Innen und verworfenen Außen dabei hergestellt wird, wie über etwas gedacht, welcher Sinn dabei produziert und welche Bedeutung exkludiert wird, ist nicht etwa arbiträr. Hierarchisierende Kategorien wie Schwarz und Weiß oder Frau und Mann zeigen exemplarisch, dass historisch kontingente Grenzziehungsprozesse auf der Grundlage machtvoller Strukturen der sozialen Wirklichkeit gezogen werden, d.h. Ergebnisse diskursiver Kämpfe um Hegemonie sind. Im Folgenden stelle ich die Mechanismen der antagonistischen Grenzziehung vor dem Hintergrund der diskurs- und differenztheoretischen Perspektive der Hegemonietheorie vor, um aufzeigen zu können, wie hegemoniale Diskurse Sinn nur auf der Grundlage der Exklusion anderer Möglichkeiten der Bedeutungszuschreibungen herstellen können. Damit kann erklärt werden, wie Differenzrelationen zwischen palästinensischen Forderungen nach Rechten, Ansprüchen und Idealen in Relation zu israelischen Positionen, Perspektiven und Forderungen ausgehandelt werden.
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Auf die spezifische Funktionsweise des ontologischen Antagonismus für die Herausbildung von Identität komme ich in Kapitel 3.4.2 zurück.
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Welche artikulatorischen Praktiken greifen ineinander, um einen diskursiven Antagonismus zu generieren? Im vorherigen Abschnitt (3.2.1) wurde der Diskurs als bedeutungsgenerierendes System von Differenzen kategorisiert, der nur durch Schließung des Bereichs des Bedeutungsüberschusses Sinn temporär fixieren kann. Schließung implizierte bislang, dass bestimmte differenzielle Forderungen (synonym: Diskurselemente oder frei flottierende Signifikanten) durch die artikulatorische Praxis in spezifische Positionen innerhalb des Diskurses platziert (d.h. zu sinnstiftenden Diskursmomenten) werden. Das Konzept des Antagonismus liefert nun die Erklärung dafür, wie sich das mit Derrida herausgearbeitete bedeutungsfixierende Spiel der Differenzen in eine äquivalenzlogische Einheit des Diskurses überführen lässt. »Die Bedingung für totale Äquivalenz ist, dass sich der diskursive Raum strikt in zwei Lager aufteilt – der Antagonismus lässt kein tertium quid zu« (Laclau/Mouffe 2000, 169). Daraus folgt, dass es erst die antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums ermöglicht, den differenziellen Charakter der einzelnen ungleichartigen Forderungen (d.h. differenzieller Diskurselemente) zu subvertieren, weil er sie in Bezug auf ein negatives Außen als Äquivalente kommensurabel macht.17 Diese komplexe Ausgangsthese möchte ich am Beispiel des BDS-Diskurses illustrieren: Die einzelnen Forderungen nach Rechten für das heterogene palästinensische ›Volk‹ in den Occupied Palestinian Territories (fortan: OPT), in Israel und in der Diaspora (hierzu siehe Kap. 1.2.2) sind zunächst eine Vielzahl nebeneinander und gegeneinander existierender Forderungen (Differenzen). Damit aus den differenten Forderungen ein gemeinsamer, übergreifender Diskurs wird, müssen all diese Forderungen durch die Konstruktion eines radikalen Anderen, der die vollständige und uneingeschränkte Verwirklichung der einzelnen Forderungen blockiert, äquivalenziert werden. So lassen sich beispielsweise die einzelnen Forderungen nach Rechten für arabische Israelis, Palästinenser/-innen in den arabischen Nachbarländern und Palästinenser/-innen in den OPT über die gemeinsame Identifikation als palästinensisches ›Volk‹, dessen jeweilige Rechte von Israel als grundsätzlichem Außen des Diskurses blockiert wird, in eine Äquivalenzkette artikulieren. Die Beschreibung für diese Form der Konfrontation um den diskursiven Bruch herum ist nun der (ontische) Antagonismus. Das folgende Schaubild (Abb. 1) zeigt prototypisch die diskursive Zweiteilung des Raumes durch die Artikulation 17
In Ideologie und Post-Marxismus fasst Laclau das logische Wechselspiel von Äquivalenz und Differenz pointiert zusammen: Wenn Sprache und jedes Signifikationssystem »ein System aller Differenzen ist, kann das, was sich jenseits der Grenze befindet, nur von der Art eines Exkludierten sein. […] Exklusion operiert allerdings auf widersprüchliche Weise: Sie macht auf der einen Seite das System der Differenzen als Totalität erst möglich; doch auf der anderen Seite sind die Differenzen nicht mehr nur Differenzen, sondern gegenüber dem ausgeschlossenen Element miteinander äquivalent. Weil sich diese Spannung logisch nicht vermeiden lässt, ist die Totalität ein Gegenstand, der zugleich unmöglich und notwendig ist.« (Laclau 2007, 30)
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eines Ensembles von Mängeln/Bedrohungen (Mangel/Bedrohung 1 usw.), die der Verwirklichung der Forderungen (Forderung 1 usw.) konträr entgegensteht:
Abb. 1: Antagonistische Zweiteilung (in Anlehnung an Nonhoff 2017, 94)
Artikulatorische Praktiken folgen demnach einer binären Logik von Differenz und Äquivalenz. Während die Differenzlogik alle Forderungen (Diskurselemente) unterscheidet, werden sie durch die Äquivalenzlogik einander gleichgesetzt. Der Antagonismus, ontisch betrachtet, ist dabei eine komplexe Relation – genauer: eine »Kontraritätsrelation« (Nonhoff 2007, 177) –, die sich als diskursiver Effekt ergibt, wenn sich einzelne differente Forderungen auf der einen Seite zu einer Äquivalenzkette artikulieren, die verschiedenen Mängeln/Feindsignifikanten (dem ausgeschlossenen Außen des Diskurses) konträr gegenüberstehen (die Differenzkette). Wie eine gesellschaftliche Formation, ein hegemonialer Diskurs oder bestimmte Identitätskonstruktionen beschaffen sind, hängt demzufolge davon ab, wie soziale Antagonismen kontextualisiert, verschoben und in wandelbaren sozialen Konfliktlinien politisch neu ausgehandelt werden. Für das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liefert die Perspektive des ontischen Antagonismus damit die Möglichkeit nachzuvollziehen, wie die Differenzrelationen zwischen palästinensischen Forderungen nach Rechten, Ansprüchen und Idealen in Relation zu israelischen Positionen, Perspektiven und Forderungen ausgehandelt werden. Der nächste Abschnitt bespricht den »leeren Signifikanten« als Hegemonialisierungslogik partikularer Diskurse. Denn bislang bliebt die Frage offen, welche machtvollen Mechanismen dazu führen, dass sich gerade eine antagonistische Position als hegemonial durchsetzt. Warum dominieren bestimmte Sinnfixierungen – wie im obigen Beispiel etwa die Kategorie »weiß« – gegenüber dem exkludierten Deutungsmuster? Mit anderen Worten: »Wie kommt die Hegemonie in den Diskurs?« (Vey 2015, 62)
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
3.3.3
Der leere Signifikant als Hegemonialisierungslogik partikularer Diskurse
Rekapitulieren können wir bis zu dieser Stelle, dass das Politische in der postfundationalistischen Gesellschaftstheorie Laclaus und Mouffes die ontologische Grundbestimmung von Gesellschaft als leeren Ort der Kontingenz und des Antagonismus beschreibt, wohingegen die politische Praxis auf der empirischen Ebene aufzeigt, wie die Fixierung bestimmter Bedeutungsmuster, konkreter Diskurse, Identitäten, Gruppen und hegemonialer Projekte ontisch realisiert wird. Hegemonien entstehen in der poststrukturalistischen Theorie Laclaus und Mouffes demzufolge durch den konkreten politischen Kampf; sie sind diskursive Ergebnisse antagonistischer Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Ordnungen. Von einer etablierten Hegemonie kann gesprochen werden, wenn sich ein Diskurs als universal, als alternativlos, als »natürlich« präsentiert, als Sphäre sozial sedimentierter Praktiken, institutionalisierter Verfahrens- und selbstverständlich wirkender Lebensweisen. Das hegemoniale Projekt des Neoliberalismus, des Nationalismus, des universalen Menschenrechtssystems, der Massendemokratie oder des Staatssozialismus (Reckwitz 2006b, 344) sind Beispiele für Hegemonien, d.h. universaler Diskurse der modernen Gesellschaft. Wie kommt es nun dazu, dass sich Hegemonien als universal, verbindlich und erstrebenswert präsentierten? Auf diese Frage antwortet das Konzept des »leeren Signifikanten« als zentraler Schlüsselbegriff der Hegemonietheorie. Gesellschaften inhärieren in der Laclau-/Mouffe’schen Sozialtheorie bestimmte Idealvorstellungen – die ideologische Idee einer geheilten Gesellschaft (Nonhoff 2017, 89) –, die jedoch aufgrund der ontologisch unmöglich zu verwirklichenden, letztendlichen Schließung des Sozialen, des Antagonismus, niemals erreicht werden kann. Mit dem leeren Signifikanten wird nun ein Theorem eingeführt, das diese universalisierende, gesellschaftliche Idealvorstellung repräsentiert. Im Zentrum eines hegemonialen Diskurses steht demzufolge ein leerer Signifikant, wie beispielsweise das ›Volk‹ in nationalen Diskursen, das Prinzip der »Gleichheit« im universalen System der Menschenrechte usw., der die imaginäre Einheit des Diskurses symbolisiert. Um diese Wirkungsweise des leeren Signifikanten hegemonialer Projekte adäquat darstellen zu können, muss ich an verschiedene Stränge anknüpfen, die in den letzten Kapiteln eruiert wurden. Wie aufgezeigt wurde, benötigen hegemoniale Projekte äquivalente Forderungen, die als Artikulation einer Äquivalenzkette bezeichnet wurden, um das Unterschiedliche gleichzusetzen. Mit dem Konzept des Antagonismus wurde eine Kernfunktion hegemonialer Diskurse eingeführt, die es überhaupt erst ermöglicht, differente Forderungen über ihre jeweilige Kontraritätsrelation zu einem radikalen Außen, einem soge-
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Menschenrechte und Antisemitismus
nannten Dritten, das ihrer Verwirklichung entgegensteht (die reine Negativität), als Äquivalente artikulierbar zu machen. Mit dem leeren Signifikanten als Repräsentationsfunktion eines hegemonialen Projekts soll nun diejenige diskursive Logik hinzugefügt werden, die die hegemoniale Schließung des Diskurses (Stäheli/Hammer 2016, 73), seine temporär stabilisierte Totalität und Kohärenz, zum Ausdruck bringt, weil sie die Äquivalenzkette der Forderungen an sich repräsentiert und hegemonialisiert (Marchart 2013b, 145). Aufgrund dieser Aufgaben, d.h. der Funktion, die Äquivalenzkette der Forderungen an sich zu repräsentieren, muss sich der leere Signifikant – ich spreche synonym mit Nonhoff auch von einer umfassenden Forderung (2006, 120) – weitgehend von seinem partikularen Inhalt entleeren (Laclau 2005, 95ff.), anderenfalls wäre er eine bloße weitere Differenz (d.h. ungleichartige Forderung) im diskursiven System. Gleichzeitig zeichnet sich der leere Signifikant ja gerade dadurch aus, dass er den Diskurs als solchen repräsentiert, sodass er chronisch unterbestimmt und überdeterminiert zugleich ist (Laclau 2000, 57f.; Reckwitz 2006b, 343). Leere Signifikanten sind demzufolge eine Art kleinster »gemeinsamer Nenner« (Glasze/Mattissek 2009, 165) einzelner heterogener Forderungen, die diese zu einem kohärenten Zusammenhang verknüpfen.18 »The whole is always going to be embodied by a part. In terms of our analysis: there is no universality which is not a hegemonic one.« (Laclau 2005, 115) Um ein Verständnis für diese Entleerungslogik zu gewinnen, greife ich auf das bereits angesprochene Beispiel der Forderungen nach Rechten für Palästinenser/innen, wie sie im BDS-Call artikuliert werden, zurück. Wie bereits dargestellt, sind die einzelnen Forderungen nach Rechten für das heterogene palästinensische ›Volk‹ in den OPT, in Israel und in der Diaspora (hierzu s. Kap. 1) zunächst eine Vielzahl nebeneinander und gegeneinander existierender Forderungen (Differenzen), die ihre Gemeinsamkeit nur über die Konstruktion eines radikalen Anderen, der die vollständige und uneingeschränkte Verwirklichung der einzelnen Forderungen nach Rechten blockiert, herstellen können. Damit der Diskurs hegemonial werden kann, muss sich eine dieser Forderungen aus der Äquivalenzkette erheben, um den Diskurs als solchen zu repräsentieren. Im Falle des palästinensischen Rechtediskurses wird sich die Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung für das palästinische ›Volk‹ als ein solcher leerer Signifikant erweisen, der die Äquivalenzkette an sich repräsentiert und hegemonialisiert. Als leerer Signifikant spaltete
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Insofern es in der Empirie keinen absolut leeren Signifikanten gibt (Stäheli/Hammer 2016, 72) und die Bezeichnung als »leerer Signifikant« einen »objektiven Zustand« (Nonhoff 2006, 132) beschreibt, verwendet Laclau in späteren Schriften die Bezeichnung des »tendentially empty signifiers« (2000, 57 und 304). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es sich um einen von seinem Inhalt durch hegemoniale Prozesse formal geleerten und durch hegemoniale Artikulationen wieder aufgefüllten Signifikanten handelt (Nonhoff 2006, 132).
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
sich die politische Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung in einen partikularen (Recht auf Selbstbestimmung) und universalen (Kampf um Rechte) Gehalt. Infolge seiner symbolischen Repräsentationsfunktion als Kampf um Rechte wird diese umfassende Forderung für eine Vielzahl weiterer Forderungen anschlussfähig, die sich allesamt gegen den Staat Israel als Gegner richtet, der das ›Volk‹ an der Verwirklichung seiner Rechte behinderte (siehe Abb. 2).
Abb. 2: Leerer Signifikant, eigene Darstellung (in Anlehnung an Nonhoff 2017, 94)
Auf diese Weise kann mit Laclau und Mouffe präzise erklärt werden, warum umfassende Forderungen nach »Menschenrechten« oder Signifikanten wie ein »Recht auf Selbstbestimmung« für partikulare Gruppen innerhalb eines historischkontingenten Zeitraums mit enorm vielen Äquivalenzrelationen angereichert werden, sodass sich verschiedene Subjekte mit dem Begriff identifizieren können. Ein zentraler leerer Signifikant, der soziale Kämpfe einen kann und dabei gleichzeitig so überdeterminiert ist (Torfing 1999, 301), dass er in unterschiedlichen Diskursen je Unterschiedliches bedeuten kann, ist der Begriff »Demokratie«, zu dessen Prinzipien die allgemeinen Menschenrechte gehören (hierzu ausführlich Abschnitt 3.6.1). Damit zeigt das Konzept des leeren Signifikanten nun, wie soziale Bewegungen versuchen können, neue gesellschaftliche Hegemonien durch die Forderungen nach Rechten herzustellen, wenn sie gesellschaftliche Ordnungen verändern wollen. Anstelle der strukturalistischen Sichtweise auf das Subjekt als bloßer Determinante der Struktur des westlichen Menschenrechtsdiskurses, wie sie in den hegemonialen Ansätzen der Menschenrechtsforschung (s. Kap. 2.1.2) diskutiert wird, rückt das differenztheoretische Paradigma des Poststrukturalis-
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Menschenrechte und Antisemitismus
mus gerade die Frage nach der Funktionsweise des bedeutungsoffenen Horizonts universaler Rechte für die Handlungsmacht von Subjekten in das Zentrum der Analyse. Damit öffnet sich das Theoriegebäude für die empirische Fragestellung dieser Arbeit, die nach der Gleichzeitigkeit hegemonialer Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen (der leere Signifikant) und der Stellung von antisemitischen Differenzkonstruktionen innerhalb dieses Diskurses (der Antagonismus) fragt. Während in Laclaus früheren Arbeiten jedoch nur ein leerer Signifikant die Bezeichnung der Grenze des Diskurses übernimmt, sich seiner Bedeutung entleert und damit die niemals zu erreichende gesellschaftliche Idealvorstellung symbolisiert, geht die vorliegende Arbeit im Anschluss an Kritik (Žižek 2014b) und Weiterentwicklung der Hegemonietheorie (Glynos/Howarth 2007; Glynos/Stavrakakis 2002; Glynos et al. 2009; Stavrakakis 1999 und 2007) davon aus, dass hegemoniale Projekte nicht nur die ideologische Idee einer geheilten Gesellschaft als symbolisches Allgemeines des Diskurses, sondern auch dessen Kehrseite: den Signifikanten »reiner Bedrohung, reiner Negativität, des schlichtweg Ausgeschlossenen« (Laclau 2002, 68) repräsentieren können. »The signifier of exclusion, on the other hand, is also an empty signifier, but one that represents the opposite of the point de capiton19 : pure negativity; what has to be negated and excluded in order for reality to signify its limits.« (Stavrakakis 1999, 80) Vor allem Žižek (2014b) weist darauf hin, dass in populistischen Diskursen – die Laclau als politischen Diskurs »par excellence« klassifiziert (2005, 153) – die spezifische Art und Weise hinzugefügt werden muss, in der der antagonistische Andere als soziopolitischer Feind der Forderungsseite verlagert wird.20 Žižeks Argument ist, dass sich die sozial frustrierten Forderungen eines populistischen »Volks« – wie in unserem obigen Beispiel diejenigen des palästinensischen »Volks« – oft nicht gegen das institutionalisierte System als solches richten, sondern auf einen »Eindringling« verlagert werden, der als Manipulator einer prinzipiell gerechten Ordnung erscheint und dessen abstrakter Charakter durch eine »Pseudokonkretheit der Figur« (2014b, 94) personifiziert wird. Dieser pseudokonkrete Feind wird dabei als singuläre Ursache hinter allen Marginalisierungen, Frustrationen und Bedrohungen des »Volks« identifiziert. Aufgrund dieser
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Der Begriff »point de capiton« stammt von dem Psychoanalytiker Jacques Lacan und entspricht vage der Funktionsweise eines bedeutungsstabilisierenden Knotenpunkts bei Laclau und Mouffe (Stavrakakis 2007, 67), bezieht sich aber an dieser Stelle auf seine mögliche Erscheinungsform als leerer Signifikant. Hierzu ausführlich Kapitel 3.4.2, Fn 24. Insofern jedes Hegemonieprojekt über den Antagonismus zu einem radikalen Außen etabliert wird, ist die zugespitzte Freund-Feind-Konstellation nicht zwingend notwendig. Jedoch besteht gleichzeitig immer die Möglichkeit, einen Repräsentanten der Negation auszubilden, der den Kern des Mangels symbolisiert (Nonhoff 2006, 129).
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Verlagerungsfunktion projiziert der populistische Diskurs den der Gesellschaft immanenten Antagonismus (ontologisch) auf einen ontischen Kampf zwischen dem »›vereinten Volk‹ und seinem externen Feind« (95), womit ihm eine komplexitätsreduzierende Funktion für die Deutung sozialer Zusammenhänge und Strukturen zukommt (107). Übersetzt in das diskurstheoretische Vokabular der Hegemonietheorie bedeutet das erstens, dass ein besonderer Antagonismus mit Rekurs auf ein absolut ausgeschlossenes Anderssein, das sich nicht auf die bestehende Institution, sondern auf einen externen Feind der Wirgruppe bezieht, gezogen wird. Um auf unser Beispiel aus der Forschungspraxis zurückzukommen, wird die antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums zwischen den Forderungen nach Rechten für das palästinensische ›Volk‹ über ihre Abgrenzung zu dem Feindsignifikanten »Zionismus« hergestellt, der zugleich der gesellschaftlichen Idealvorstellung des Diskurses, der umfassenden Forderung nach Selbstbestimmung für das palästinensische ›Volk‹, entgegensteht. Damit avanciert der externe Feindsignifikant also zweitens zum »Inbegriff« des Mangels der antagonistischen Kette und bündelt »die Kontraritätsverhältnisse der gesamten Konstellation« (Marchart 2017, 170), indem er sie auf einen zentralen Begriff – hier: »Zionismus« – reduziert, der die Verwirklichung des imaginären Allgemeinen – das utopische Gesellschaftsideal – verhindert. Wenn sich die sozial frustrierten Forderungen nicht auf das institutionalisierte System und damit auf relevante politische, soziale oder kulturelle Kontextfaktoren richten – wie sie sich beispielsweise über eine legitime Kritik an einzelnen Staatspolitiken Israels ergeben könnten –, sondern auf einen externen Feind – den »Zionismus« – verschoben werden, kann drittens davon ausgegangen werden, dass auch »ideologische Elemente wie brutaler Rassismus und Antisemitismus« in eine Logik der Äquivalenz verkettet werden können, und zwar durch die spezifische Art und Weise, »wie sie konstruiert werden« (Žižek 2014b, 91). Durch das bedeutungsoffene Spiel der Signifikanten zeigt sich demzufolge, dass die eingangs formulierte kontradiktorische Gleichzeitigkeit von Menschenrechten und Antisemitismen innerhalb des transnationalen Palästinasolidaritätsdiskurses durch die radikale Kontingenz- und Konfliktperspektive auf das diskursive Soziale gar zur sinnstiftenden Einheit von Diskursen werden kann. Mit einer poststrukturalistischen Perspektive auf soziale Bewegungen im Kampf um Hegemonie rücken demzufolge die Prozesse und Machtstrukturen der Deutung um die hegemoniale Wirklichkeit ins Zentrum der Analyse, die immer mit Mechanismen der Ausschließung, der Grenzziehung und subjektiven Identifikationsweisen einhergehen. Damit kann eine relationale und prozessuale Perspektive auf das Handeln sozialer Bewegungen gerade den Bruch, die Ambivalenz und Konflikthaftigkeit des Solidaritätsdiskurses offenlegen, womit dem tendenziellen, idealisierenden Bild von transnationalen Menschenrechtsbewegungen als »›das Andere‹ von
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Menschenrechte und Antisemitismus
Macht« (siehe S. 45) gerade ein vielschichtiges Verständnis von machtvollen Wechselbeziehungen in der Aushandlung von Wirklichkeit entgegengesetzt wird. Nachdem ich nun das Minimalmodell (Marchart 2013b, 159) hegemonialer Projekte dargestellt habe, in dem • •
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erstens differente, heterogene Forderungen als Äquivalente artikuliert werden, zweitens bestimmte Mängel/Bedrohungen (das radikale Außen) für die Blockade der Forderungen ausgemacht werden müssen (sozialer Antagonismus respektive antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums) und es drittens eines positiven oder negativen leeren Signifikanten bedarf, der alle anderen Forderungen/Mängel als Äquivalente repräsentiert, weil er das ideologische Versprechen nach gesellschaftlicher Heilung und seinem Hindernis daran symbolisiert,
möchte ich nun abschließend den Mehrwert der poststrukturalistischen Theorieperspektive für das theoretische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit in zweierlei Hinsicht zusammenfassend formulieren: •
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Erstens rückt mit dem postfundationalistischen Verständnis von Gesellschaft, wie ich es in Abschnitt 3.2 beschrieben habe, der Kampf um die instabile Deutung der sozialen Wirklichkeit ins Zentrum der Analyse. Das Handeln sozialer Bewegungen kann dementsprechend nur dann angemessen untersucht werden, wenn es in eine dynamische Relation zu dem gesamtgesellschaftlichen Kontext – wie dem Nahostkonflikt – gesetzt wird, der durch die politische Praxis verändert werden soll. Zweitens zeigt uns das poststrukturalistische Verständnis von Hegemonie, dass der antagonistische Kampf um die gesellschaftliche Wirklichkeit immer an machtvolle Prozesse der Grenzziehung zu anderen Positionen, Ideen, Identitäten und Gruppen gebunden ist. Damit rückt die Reflexion der vielschichtigen Bedeutung von Macht für Entstehung und Praxis sozialer Bewegungen ins Zentrum des Verständnisses von Protest. So zeigt uns die radikale Kontingenzund Konfliktperspektive auf Gesellschaft, die der poststrukturalistischen Theoriearchitektur zugrunde liegt, wie Ambivalenzen, Brüche und Widersprüche Gegenstand ein und desselben Diskurses sein können.
Für die empirische Fragestellung nach der kontradiktorischen Gleichzeitigkeit von Menschenrechten und Antisemitismen im kontingenten Kontext des Nahostkonflikts liefert sie damit einen zentralen analytischen Wert. Der folgende Abschnitt konzentriert sich auf die subjekttheoretischen Perspektiven der Hegemonietheorie.
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
3.4
Das politische Subjekt der Hegemonie: zur Rolle der Fantasie
Was mit den Ausführungen hegemonialer Projekte bislang rekapituliert wurde, kann als die spezifische Funktionsweise politischer Diskurse bezeichnet werden. Wullweber betont, dass die Erfüllung dieser drei Bedingungen (Äquivalenzkette, antagonistische Zweiteilung, leerer Signifikant) einerseits notwendig, andererseits nicht hinreichend ist, um einen hegemonialen Diskurs zu etablieren: Damit das hegemoniale Projekt auch zu einer hegemonialen sozialen Struktur wird […] müssen sich konkrete Akteure diesem hegemonialen Projekt anschließen und ihre Handlungen, zumindest in der Tendenz, danach ausrichten. Eine weitere Bedingung ist also, dass eine Vielzahl von Akteuren und gesellschaftlichen Kräften diese, ihnen durch das hegemoniale Projekt angebotenen Subjektpositionen auch annehmen bzw. auf ihre Weise ausfüllen. (2014b, 279) Das Ziel des vorliegenden Abschnitts ist es demzufolge, ein Verständnis für die Rolle des Subjekts in den diskursiven Kämpfen um Hegemonie zu gewinnen. Wie kommt es dazu, dass eine Vielzahl von Akteuren und gesellschaftlichen Kräften die von dem Diskurs angebotenen Subjektpositionen, wie Wullweber sagt, annehmen und ausfüllen? Welche Anziehungskraft strahlen Hegemonieprojekte also auf Subjekte aus, sodass sie sich für die Reproduktion oder Anfechtung von hegemonialen Machtverhältnissen oder gegenhegemonialen Projekten entscheiden? Warum solidarisieren sich Menschen weltweit mit dem BDS-Aktivismus, um auf unseren irritierenden Ausgangspunkt von Kapitel 1 zurückzukommen, obwohl die Bewegung selbst mit der Reproduktion antisemitischer Narrative in Verbindung gebracht wird? Im Laufe der Argumentation müsste sichtbar geworden sein, dass diese Frage mit dem Theorem des leeren Signifikanten zusammenhängt. Dennoch kann das Theorem des leeren Signifikanten bislang nicht erklären, warum sich einzelne Subjekte gerade für die Reproduktion eines spezifischen Diskursangebots entscheiden. Warum reartikulieren heterogene Akteur/-innen gerade das menschenrechtsorientierte Interpretationsangebot der Palästinasolidarität? Die Argumentation des folgenden Abschnitts wird sich in zweifacher Hinsicht entfalten. Zunächst werde ich das an die Lacanʼsche Subjekttheorie orientierte Subjektverständnis »politischer Subjektivitäten« (Laclau 1990, 1994) elaborieren und darauf aufbauend die Laclau-/Mouffeʼsche Subjektkonzeption in entscheidender Hinsicht erweitern. Durch die Bezugnahme auf das Konzept der »sozialen Fantasie« (Žižek 1997, 1998 und 2013, Glynos/Howarth 2007; Stavrakakis 1999) soll das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Hegemonie, überdeterminierter Struktur und Subjekt durch soziodiskursive und psychodynamische Prozesse der Identifikation und Identitätsbildung näher spezifiziert werden. Mit der Ebene der Fantasie richtet sich der analytische Blick demzufolge auf die
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Menschenrechte und Antisemitismus
kulturspezifischen Identifikationsangebote hegemonialer Projekte und damit auf die affektive Anziehungskraft bestimmter, etwa antisemitischer oder menschenrechtsorientierter, Subjektivierungsweisen für einzelne Subjekte. Im Ergebnis wird dabei ein relationales Subjektverständnis entwickelt, in dessen Zentrum eine dynamische Verbindung von (gesellschaftlichem) Diskurs, sozialer Fantasie und (subjektiver) Identität steht. Damit zeigt sich der dritte Mehrwert einer poststrukturalistisch ausgerichteten Gesellschafts- und Sozialtheorie, insofern sie zentrale theoretische Leerstellen konstruktivistischer Ansätze der Bewegungs- und soziologischen Menschenrechtsforschung transzendiert. Gehen diese entweder von prädiskursiv bestehenden Identitäten – wie etwa in jenem durch die Rationalchoice-Theorie geprägten Subjektverständnis – aus oder verstehen sie Subjektivierung als Ausdruck strukturalistischer Determination – wie es tendenziell etwa in kritischen Ansätzen der Menschenrechtsforschung zu beobachten ist –, kann die soziodiskursive Kontingenzperspektive auf die Wirkungsweise sozialer Fantasien erklären, wie sich vielfältig verflochtene subjektive Identifikationsprozesse im gesellschaftlichen Kontext des Nahostkonflikts vollziehen. Ich beginne nun mit einem streng an Foucault angelehnten, diskurstheoretischen Subjektbegriff, den Laclau und Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie fruchtbar machen.
3.4.1
Subjektpositionen
In der Hegemonietheorie werden Subjekte als Agglomerat von diskursiv vermittelten Subjektpositionen klassifiziert (Laclau/Mouffe 2000, 150ff.).21 Der Begriff der Subjektposition bezeichnet dabei die Bereitstellung von Identifikationsangeboten durch die soziale Struktur (das ist der Diskurs) – zum Beispiel des menschenrechtsorientierten Friedensaktivisten im Solidaritätsnetzwerk der Palästinabewegung –, die das Individuum annehmen kann (Nonhoff 2006, 154f.). Infolge der 21
Es wird in der Forschung zwischen zwei verschiedenen Subjektkonzeptionen der Hegemonietheorie unterschieden, auf die hier aus Platzgründen nur am Rande eingegangen werden kann. So herrscht in den frühen Arbeiten Laclaus und Mouffes zunächst ein strukturalistisch orientiertes Subjektverständnis (Reckwitz 2006b, 346). Dem Subjekt wird in dieser ersten Variante kein Platz außerhalb der diskursiven Struktur zugewiesen (Žižek 1999, 250; Wullweber 2010, 76; Stäheli/Hammer 2016, 79; Torfing 1999, 52) – die Struktur ruft das Subjekt in eine Position; durch die determinierte Aneignung wird das Subjekt als Subjekt konstituiert – und verschwindet damit in der diskursiven Struktur. Dies widerspricht allerdings dem Anspruch Laclaus und Mouffes, eine Mittelposition zwischen voluntaristischen Positionen, die von der Autonomie des Subjekts gegenüber der Struktur ausgehen, und strukturalistischen Positionen, die das Subjekt als bloße Determinante der Struktur konzipieren (Bedall 2016, 51; Nonhoff 2006, 150ff.; Nonhoff/Gronau 2012; Stäheli/Hammer 2016, 79; Marchart 2010, 313), zu vertreten. Angeregt durch die Kritik Slavoj Žižeks (1989) entwickelt Laclau schließlich in späteren Schriften ein zweites Subjektmodell, in dem eine relative Freiheit des Subjekts durch die konstitutiv antagonistische Struktur (Howarth/Stavrakakis 2000, 13) begründet wird.
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Übernahme einer spezifischen Subjektposition innerhalb der diskursiven Struktur wird die Identität des Subjekts (Jørgensen/Phillips 2002, 40) – als Friedensaktivist – hergestellt. Subjekte sind in der Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes also nicht als physisch gegebene Materialisierung, sondern als »Identitätsträger« (Nonhoff 2017, 85) konzipiert. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen der Herstellung individueller wie kollektiver Identitäten. Da es vielfältige Diskurse gibt, gibt es auch eine »heterogene Pluralität von Subjektpositionen« (Stäheli/Hammer 2016, 79). Das Laclau-/Mouffe’sche Subjekt ist also ein fragmentiertes, dezentriertes Subjekt, das gezwungen ist, sich mehrere Subjektpositionen zur gleichen Zeit einzuverleiben (Reckwitz 2006a, 34), um sich identifizieren zu können. Lässt sich der einzelne oder kollektive Akteur in eine spezifische Subjektposition hineinrufen,22 spricht er von der angebotenen Subjektposition aus und stabilisiert, verbreitet und (re-)produziert hegemoniale Diskursformationen, indem er sie durch die artikulatorische Praxis der Äquivalenzierung differenzieller Forderungen und Subjektpositionen in weitere Relationsnetze einbindet. Damit erklärt sich, warum die Praxis der (Re-)Artikulation von diskursiv bereitgestellten Subjektpositionen so relevant für den Erfolg hegemonialer Projekte ist (Nonhoff 2006, 173). Lassen sich mit dem hegemonietheoretischen Verständnis von »Subjektpositionen« also die Erfolgsbedingungen hegemonialer Projekte erklären, ermöglicht eine an Lacan angelegte Subjekttheorie, wie sie von der Hegemonietheorie, speziell von Laclau (1990, 1994) und ihrer Weiterentwicklung durch die Essex School (Glynos/Howarth 2007; Stavrakakis 1999; Howarth/Stavrakakis 2000) formuliert wurde, zu rekonstruieren, wie und warum sich Subjekte mit den Identifikationsangeboten (gegen-)hegemonialer Projekte identifizieren.
3.4.2
Das politische Subjekt
Im Anschluss an die Lacan’sche Psychoanalyse lässt sich die Anrufung des Subjekts in eine diskursiv bereitgestellte Subjektposition als politischer Prozess der Identifikation verstehen, der mithilfe des individuell Unbewussten erklärt werden kann (Jørgensen/Phillips 2002, 42; Mattissek 2011; Howarth/Stavrakakis 2000). Wie ich
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Das Verb »hineinrufen« verweist auf den Begriff der »Anrufung« (Interpellation), den Louis Althusser für die Unterwerfung des Subjekts unter spezifischen Ideologien entwickelt hat (1977). Althussers zentrale These ist, dass sich Subjektivität durch die Indoktrination ideologischer Staatsapparate wie der Familie, Schule oder Kirche stabilisiert, die in der Vermittlung spezifischer Vorstellungsweisen gesellschaftlicher Positionen als Familienvater, Mann oder Arbeiter zu einer handlungsrelevanten Selbstwahrnehmung des Individuums führt, das nun in der vorgesehenen Subjektposition »angerufen« wird. Laclau und Mouffe befreien den Begriff von seinen essenzialistischen Grundannahmen durch seine diskurstheoretischen Einbindungen (Jørgensen/Phillips, 2002, 41).
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Menschenrechte und Antisemitismus
im Folgenden zeigen werde, ermöglicht die Verknüpfung der Lacan’schen Subjekttheorie mit dem Laclau-/Mouffe’schen Diskurs- und Gesellschaftsverständnis, vermittelt über Slavoj Žižek (1998, 2013), ein affektorientiertes Verständnis für die subjektive Anschlussfähigkeit von gesellschaftlichen Leitbildern hegemonialer Projekte. Lacan geht von einem Subjekt »vor« der Subjektivierung aus (Reckwitz 2006b, 346), d.h. von einem Subjekt, das schon vor der Anrufung in einer bestimmten Subjektposition existiert (Spies 2017, 78). In einer differenztheoretischen Deutung der Freud’schen Psychoanalyse argumentiert Lacan, dass jedem Subjekt eine konstitutive Leerstelle, ein primordialer Mangel, zukommt, was zu dem unstillbaren Begehren führt, diesen Mangel zu beseitigen (Reckwitz 2006b, 346; Pries 2017, 78; Marchart 2013a, 383). Primordial mangelhaft ist das Subjekt deswegen, weil ihm eine ontologische Selbstblockade von Identität (Hildebrand 2017, 96) zugrunde liegt. Mit Begehren wird ein nie zu erreichender Wunsch nach vollkommener Identität, nach einem »Sein ohne Mangel«, beschrieben. Zentral für die Lacan’sche Subjekttheorie ist demzufolge das Verhältnis von subjektiver Mangelhaftigkeit und dem Begehren danach, diesen Mangel zu kitten. Um diesen Zusammenhang erklärbar zu machen, entwickelt Lacan ein – nicht chronologisch zu verstehendes – Dreiebenenmodell der Psyche: das Imaginäre, das Symbolische und das Reale. Das Imaginäre ist die Ebene, in der die Vorstellung eines mit sich selbst identischen Zustands der Ganzheit, der Fülle, dem Sein ohne Mangel vorhanden ist (Jouissance).23 Insofern das Imaginäre jedoch diffus, formlos und nicht sprechbar (Nonhoff 2006, 110; Stavrakakis 1999, 17-19) ist, muss es im Raum des Symbolischen – das ist der Laclau’sche Diskurs (Stavrakakis 2007, 69) – formuliert werden, wodurch der symbolische Raum als Ort des Begehrens konstituiert wird. Über die Identifikation mit einem Objekt des Begehrens – objet petit a24 – versucht das Subjekt diesen imaginä23
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Das Imaginäre ist bei Lacan als die Ebene des Spiegelstadiums (1991b) beschrieben. Bereits in diesem ersten Stadium kommt dem Kleinkind (Infans) ein konstitutiver Mangel zu, denn durch die Identifikation mit seinem Spiegelbild erlebt das Kleinkind nicht nur einen mit sich selbst identischen Zustand der Ganzheit, der Fülle, dem Sein ohne Mangel infolge der Identifikation mit seinem Spiegelbild (Jouissance). Durch die Identifikation mit dem Spiegelbild wird das Kleinkind jedoch gleichzeitig mit der Erfahrung eines konstitutiven Mangels (dem Realen) konfrontiert. Denn die Spiegelung eines ganzheitlichen Selbst gelingt nur über die Identifikation mit einem differenten Anderen, dem nicht identischen Spiegelbild (Stavrakakis 1999, 17). Unschwer lässt sich hier die frappante Ähnlichkeit zu der hegemonietheoretischen Funktionsweise des ontologischen Antagonismus erkennen, indem eine vollständige Ausbildung von Gesellschaft und Identiät durch die Präsenz des antagonistischen »Außen« konstitutiv verhindert wird. Bei Lacan ist dieses Objekt des Begehrens als objet petit a beschrieben (hierzu ausführlich Lacan 1991a, 1991b und 2010). Es befindet sich als imaginäre Repräsentation des begehrenswerten Zustands von Jouissance im Zentrum des subjektiven Verlangens (Glynos/Stavrakakis 2008, 262f.; Reckwitz 2006a, 60ff.) und in Kombination mit dem Lacan’schen Herrensignifi-
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
ren Zustand an Ganzheit in kontingenten und andauernden Prozessen der Identifikation zu erreichen und scheitert kontinuierlich, weil das Imaginäre in der durch Differenz markierten Ordnung – das ist die Laclau-/Mouffeʼsche Logik der Differenz – nicht vollständig repräsentiert werden kann: »[E]s gibt keinen Signifikanten, der den psychischen Mangel aufzufüllen oder nur zu repräsentieren vermag. Die Identität des Subjekts ist von vornherein gescheitert« (Reckwitz 2006b, 347), d.h., sie ist konstitutiv mangelhaft. Dennoch bleibt das Begehren nach Jouissance als Imaginäres im Raum des Symbolischen vorhanden. Und diese Diskrepanz zwischen der imaginären Vorstellung und dem wiederkehrenden Scheitern in der symbolischen Ordnung führt zu einer »abwesenden Fülle«25 (»absent fullness«, Stavrakakis 1999, 47, oder »mythical fullness«, Laclau 2005, 115), die das Subjekt durch Akte der Identifikation permanent wieder zu füllen versucht. Das Reale als letzte Ebene ist dasjenige, »was weder symbolisch noch imaginär ist […] es unterwirft sich nie, es zeigt dem Symbolischen die Grenze auf« (Nonhoff 2006, 111) und ermöglicht durch seine Anwesenheit gleichzeitig erst die Konstitution des Symbolischen als Raum des Mangels. Begehrt das Subjekt also weiterhin danach, die konstitutive Leerstelle seiner Identität – die in einem hegemonietheoretischen Sinne als Produkt der Unabschließbarkeit des Diskurses und seiner antagonistischen Strukturen zu verstehen ist (Laclau 1990, 20ff.; Marchart 2013a, 383; Stavrakakis 1999, 67f.) – durch permanente Akte der Identifikation mit einem Objekt zu kompensieren, ist es dieser kontingente Entscheidungsvorgang für eine spezifische, auch widerständige Identität,26 die von Howarth und Stravrakakis (2000) als Charakteristikum des po-
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kanten an der Schnittstelle zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären (Glynos/Stavrakakis 2004). Verkörpert das Objet petit a das Quasiimaginäre (Stavrakakis 1999, 45) oder auch das »imaginäre a« (Reckwitz 2006a, 60) als unerreichbare, nicht positivierbare Form einer begehrenswerten Wunschvorstellung (Glynos/Stavrakakis 2008, 263), artikuliert der Herrensignifikant in der Sphäre des Symbolischen das Streben nach diesem Zustand und verweist zugleich auf seine unüberwindbare – konstitutive – Blockade (Glynos/Howarth 2007, 130f.). Nach Žižek stellt sich die kontingente Dynamik des Begehrens folgendermaßen dar: »[A]ny object that can satisfy my desire is experienced as contingent, since my desire is conceived as an ›abstract‹ formal capacity, indifferent towards the multitude of particular objects that may – but never fully do – satisfy it.« (2000, 105) »The barred subject, however, doesn’t stop desiring its absent fullness – it is the fact that it is barred that posits fullness as lost [prohibited] but possible in principle, that is to say possible to be desired.« (Stavrakakis 1999, 47) Wichtig ist, dass das Moment der Entscheidung weder im Sinne eines emphatischen Akts der freien und rationalen Entscheidung (Wullweber 2010, 78) missverstanden werden darf noch unabhängig von ihrer relationalen Einbindung in hegemoniale Machtverhältnisse und antagonistische Kämpfe betrachtet werden soll. Laclau spricht von einem machtdurchzogenen Terrain, auf dem die Entscheidung stattfindet (Stäheli/Hammer 2016, 76). Machtdurchzogen ist es deshalb, weil alternative Identitäten unterdrückt und ausgeschlossen werden müssen,
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litischen Subjekts innerhalb hegemonial umkämpfter gesellschaftlicher Ordnungen beschrieben wird: The political subject is neither simply determined by the structure, nor does it constitute the structure. Rather, the political subject is forced to take decisions – or identify with certain political projects and the discourses they articulate – when social identities are in crisis and structures need to be recreated. (14)27 Warum sich allerdings einzelne Subjekte gerade für eine spezifische Subjektposition gewinnen lassen und diese reartikulieren, bleibt bislang noch offen. Anders formuliert, kann bis hierhin noch nicht erklärt werden, warum sich transnationale Aktivist/-innen im hegemonial umkämpften gesellschaftlichen Kontext des Nahostkonflikts gerade für das Identifikationsangebot des palästinensischen Rechtediskurses entscheiden und sich mit dem Protestanliegen der Palästinenser/innen solidarisieren. Mit dem Konzept der »sozialen Fantasie« (Žižek 1990, 2000 und 2013; Glynos/Howarth 2007; Stavrakakis 1999) soll der folgende Abschnitt genau die psychodynamische Schnittstelle zwischen Subjekt und Hegemonie, d.h. ihren ideologischen »Kitt«, ausloten und ein dynamisches Verständnis für die Wechselwirkungen von subjektiver Identifikation und (gegen-)hegemonialen Subjektangeboten entwickeln. Entsprechend der hier ausgearbeiteten soziodiskursiven Kontingenz- und Konfliktperspektive richtet sich der analytische Blick damit auf die Frage »nach den vertrackten Wegen, in denen das Begehren in der kulturellen Realität, d.h. den Ordnungen des Symbolischen und des Imaginären, Orientierung erhält und sich erneut desorientiert« (Reckwitz 2006a, 57).
3.4.3
Zur Funktionsweise sozialer Fantasien
Im Anschluss an das Lacan’sche Subjektverständnis schlägt Žižek vor, die Attraktivität und affektive Anziehungskraft bestimmter Subjektivierungsformen als soziale Fantasien28 zu begreifen, die das Versprechen formulieren, in einem imaginären
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um die erfolgreiche Entscheidung zu realisieren. Dennoch gilt, dass die Struktur die Entscheidung nicht determiniert (Laclau 1990, 44; Nonhoff 2017, 87; Stäheli/Hammer 2016, 76). An dieser Stelle lässt sich die Unterscheidung zwischen sozialen und politischen Identitäten im Anschluss an Glynos und Stavrakakis (2008) folgendermaßen ausdifferenzieren: »In this view social subjectivity can be connected to practices whose norms are taken for granted, and political subjectivity to those practices in which these norms are actively contested or defended.« (264) Mit dem soziopolitisch angelegten Begriff der »sozialen« Fantasie wird die »klinische« Erfahrung individuell-subjektiver Fantasien durch die psychoanalytische Praxis unterschieden. Dabei zeigt sich eine strukturelle Homologie zwischen der Erscheinungsweise »klinischer« und »sozialer« Fantasien. So offenbart der Patient in der psychoanalytischen Behandlung nur unter Überwindung großer psychischer Widerstände seine innersten Wünsche und Begierden, sprich: Fantasien. Eine ähnlich unbwusst bleibende Wirkungsweise lässt sich auch für
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Bedeutungshorizont aufzugehen, d.h. das subjektive Begehren nach einer (notwendig scheiternden) Komplettierung der eigenen Identität zu befriedigen.29 Fantasy is then to be conceived as an imaginary scenario the function of which is to provide a kind of positive support filling out the subject’s constitutive void. […It] is a necessary counter- part to the conception of antagonism, a scenario filling out the voids of the social structure by the fullness of enjoyment. (2013, 242f.) Die zentrale Funktion von Fantasien ist demzufolge, das subjektive Begehren als endloses Streben nach dem »lost/impossible enjoyment« (Stavrakakis 1999, 42) – das ist der Lacan’sche Begriff von Jouissance – eines gesellschaftlichen Idealzustands auf der Ebene von Affekten libidinös zu besetzen und damit als Motor der andauernden Identifikationsprozesse zu fungieren (Glynos/Stavrakakis 2008, 262)30 ; also psychodynamisch strukturierte Prozesse der Affizierung auf einer
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das fantasmatische Begehren des sozialen Subjekts im soziodiskursiven Feld konstatieren, indem sie die politische Praxis des Subjekts zwar als Narrativ begleitet, ohne allerdings auf der Oberfläche öffentlicher Diskurse sichtbar zu werden (Glynos 2001, 203ff.). Nach Stavrakakis (1999) lässt sich dieses subjektive Streben nach Schließung und Komplettierung subjektontologisch als »human condition« (46) begreifen, wodurch die sozialen Imaginative der Fantasie eine Schlüsselposition in der Theorie hegemonialer Diskurse einnehmen. Mit anderen Worten: »[…] it is the imaginary promise of recapturing our lost/impossible enjoyment [d.i. das Jouissance] that provides, above all, the fantasy support for many of our political projects and choices.« (Stavrakakis 2007, 196) Laclau (2005) selbst hat auf den Zusammenhang von Affekt und hegemonialer Praxis rekurriert, indem er die Logik des Begehrens (objet petit a) als hegemoniale Logik identifiziert und ihr einen primären ontologischen Status zuschreibt. Laclau zufolge repräsentieren leere Signifikanten auf der symbolischen Ebene des Diskurses die unmögliche Vollkommenheit des gesellschaftlichen Seins, die er als kontingente Verkörperung einer »mythical fullness«, der verlorenen Jouissance bei Lacan, betrachtet, die die ständigen Identifikationsversuche des fragementierten Subjekts antreibt (115). Trotz dieses Zusammenspiels Laclau’scher und Lacan’scher Theoreme fehlt das Konzept des Jouissance in der Laclau’schen Theoriearchitekur beinahe vollständig (Stavrakakis 2007, 75). Es ist anzunehmen, dass Laclau die körperliche, d.h. psychodynamische Erfahrung des Jouissance aufgrund ihrer Verortung in einem vordiskursiven Grenzbereich als tendenziell essenzialistisch zurückweist. Damit fehlt allerdings ein für die Analyse psychosozialer Dynamiken kollektiver Mobilisierung und Identifikation wesentlicher Aspekt, der die affektive Anziehungskraft hegemonialer Projekte erklärbar machen kann (Stäheli 2007). Stavrakakis (2007, 66-104) weist in seiner Auseinandersetzung über die (schwierige) theoretische Beziehung von Lacan und Laclau auf die kategoriale Notwendigkeit der Jouissance im Feld soziopolitischer Identifikation und Identitäsbildung hin. In diesem Sinne wird Identifikation folgendermaßen definiert: »Identification has to be understood as operating in both these distinct but interprenetating fields: discursive structur/representation and Jouissance [Hervorhebung im Original].« (Ebd. 195) Eine theoretische Reflexion der Jouissance auf der affektgeleiteten Ebene soziopolitischer Praxis ermöglicht es also zu verstehen, warum es manchen Hegemonieprojekten erfolgreich gelingt, Subjekt-
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soziodiskursiv kontingenten Ebene bestimmter Subjekte, Objekte oder Vorstellungen als kulturelle Bedeutung des Begehrenswerten (vgl. Reckwitz 2016, 104-110). Wenn jede symbolische Ordnung des Sozialen antagonistisch und mangelhaft ist, können soziale Fantasien als Ideologien verstanden werden, die in affektivvermittelnder Form auf die brüchigen Strukturen gesellschaftlicher Diskurse reagieren und damit den subjektiven Zugang zur Realität strukturieren (Žižeks 1989, 29; Glynos 2001, 200ff.; Stavrakakis 1999, 62).31 Ihr ideologisch vermittelter Schein als politische Identifikationsangebote besteht nun darin, zu suggerieren, das subjektive Begehren nach Schließung des konstitutiven Mangels komplettieren zu können (Žižek 2000; Glynos/Stavrakakis 2008; Stavrakakis 2007). Wird also die hegemoniale Stabilität gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Kontingenz von Bedeutungen und Ereignissen immer wieder aufs Neue infrage gestellt, liefern Fantasien als imaginäres Surrogat des unerreichbaren Objekts des Begehrens (objet petit a) ein utopisches und sozialontologisch nicht zu verwirklichendes Versprechen dafür, dass eine Welt ohne soziale Konflikte und gesellschaftliche Antagonismen möglich wäre. Glynos (2001) erklärt die affektive Anziehung phantasmatischer Subjektivierungsangebote am Beispiel des leeren Signifikanten »Gerechtigkeit« folgendermaßen: »A social subject identifies with […], the signifier ›Justice for All‹ insofar as the latter carries a content that appears to promise a fullness, insofar as it promises to resolve issues that are perceived as directly affecting the social subject.« (198) Im Forschungsfeld politischer Hegemonieanalysen kann die Idee der sozialen Fantasien demzufolge aufzeigen, wie und warum Subjekte auf die spezifischen Identifikationsangebote hegemonialer Projekte reagieren: »[T]hey concern the force of our identification« (Norval 2013, 582). Mit der affektiven Dimension des Versprechens nach einer Jouissance sozialer Fantasien wird daher auf der symbolischen Ebene des Diskurses die emotive Mobilisierungskraft hegemonialer Projekte reflektiert, insofern sich die Attraktivität hegemonialer Positionen durch ein kathektisches, d.h. libidinöses, Investment der begehrenden Subjekte vermittelt, das diskursiv repräsentierbare Gefühle, Emotionen und Leidenschaften zum Ausdruck bringt (Glynos/Stavrakakis 2008, 266f.; Stavrakakis 2007, 66-109).32 Glynos
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positionen für ihr politisches Anliegen bereitzustellen und andere Hegemonieprojekte in diesem Vorhaben der Hegemonialisierung eines Diskurses scheitern (ebd. 99). Im Gegensatz zu orthodox-marxistischen Spiegelungstheorie werden Ideologien in den hier diskutierten postmarxistischen Ansätzen als soziale Fantasien definiert: »The fundamental level of ideology, however, is not that of an illusion masking the real state of things but that of an [unconscious] fantasy structuring our social reality itself.« (Žižek 1989, 30) Während Affekte die libidinös besetzten Identifikationsleistungen auf der Ebene von Begehren und Genießen (Jouissance) betreffen, werden die damit einhergehenden aktivierten Emotionen wie Wut, Zuneigung, Mitgefühl, Angst oder Hass auf der symbolischen Ebene von Diskursen durch das bedeutungsgenerierende Zusammenspiel von Äquivalenz und
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
und Howarth (2007) bezeichnen diese phantasmatische Anziehungskraft als Vektor hegemonialer Projekte, die der Artikulation von Forderungen und den Hindernissen, die ihrer Verwirklichung entgegenstehen, Halt und Richtung verleihen (147), weil sie als kulturspezifische Identifikationsangebote eine ideologische Ganzheit des Subjekts insinuieren. Diese ideologische Komponente sozialer Fantasien ist es auch, die Subjekte zu »Komplizen« (Glynos/Howarth 2007, 15 und 117) hegemonialer Projekte werden lässt, insofern Fantasien die Illusion einer fraglosen, selbstverständlichen und natürlich wirkenden Normalität des artikulierten Bedeutungshorizonts eines Diskurses vermitteln.33 Im Ergebnis verschleiern soziale Fantasien also die radikale Kontingenz sozialer Beziehungen, Praktiken oder Regime (Glynos/Howarth 2007, 15 und 117-121; Norval 2013, 582) und vermitteln als narrativer Vektor eines Diskurses gleichzeitig Glaubwürdigkeit und Überzeugungspotenzial eines diskursiven Bedeutungsuniversums (Glynos/Stavrakakis 2008, 262). Zugleich enthalten Fantasien Elemente, die sich dem öffentlichen Denk- und Sagbarkeitsraum entziehen oder ein Begehren artikulieren, dessen Eigenschaften im öffentlichen Raum illegitim erscheinen (Glynos/Howarth 2007, 147ff.).34 Dabei sind es
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Differenz sowie den ihnen zugrunde liegenden Fantasien artikuliert. »[T]heir [der Emotionen] meaning and significance is a function not of their intrinsic properties, but rather of the subject’s universe of meaning and the way that fantasy structures this.« (Glynos/Stavrakakis 2008, 267) Subjekte reagieren nach Glynos und Howarth (2007, 117-121) durch ethische oder ideologische Formen sozialer und politischer Praxis auf die Krisenhaftigkeit gesellschaftlicher Strukturen. Während das ideologische Versprechen einer (unmöglichen) gesellschaftlichen Heilung Kontingenzen reduziert und verschleiert, ist die ethische Dimension »related to the ›traversal‹ of fantasy in the name of an openness to contingency corresponding to an ›enjoyment of openness‹« (151). Insofern es eine These dieser Arbeit ist, dass die Menschenrechte eine komplexitätsreduzierende Funktion für die Darstellung des Nahostkonflikts durch das Hegemonieprojekt der TPSB erfüllen, gehe ich davon aus, dass der Normenkosmos der Menschenrechte in dem palästinensischen Selbstbestimmungsdiskurs als ideologische Fantasie verstanden werden muss, die die antagonistische Struktur der Konfliktkonstellation zwischen Israelis und Palästinenser/-innen verschleiert. Gleiches wird für die Wirkungsweise antisemitischer Fantasien im Rahmen der gegenhegemonialen Artikulationspraxis der Palästinasolidarität angenommen. Als Beispiel für die nur implizit identifizierbare Wirkungsweise fantasmatischer Narrative führen Glynos und Howarth (2007) die rassistische Struktur des Diskurses über den vermeintlichen Missbrauch sozialstaatlicher Leistungen durch schwarze Frauen in den USA an: »[…] consider how policy debates in the US, which typically assume the welfare system is inefficient, are often underpinned by a fantasmatic narrative in which single African-American mothers are alleged to sponge off hard-working, tax-paying citizens.« (148) Ich werde in Abschnitt 3.7.1 auf die offenkundige Übereinstimmung zu antisemitischen Narrativen eingehen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem öffentlichen Sagbarkeitsraum verbannt wurden, dennoch aber in impliziter Form und unterschiedlichen Diskurszusammenhängen weiterhin aktualisiert und reproduziert werden.
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zwei wesentlich miteinander interferierende Dimensionen phantasmatischer Narrative, die als zwei Seiten derselben ideologischen Medaille (Žižek 1998, 192, 2005 und 2013) in hegemonialen Auseinandersetzungen vorhanden sind und eine affirmative Zustimmung zu bestehenden Hegemonien erzeugen oder für die Ablösung des hegemonialen Wahrheitshorizonts mobilisieren können: Die glückseligmachende Dimension der Fantasie verspricht, das sozialontologisch unmöglich zu realisierende Begehren nach Harmonie und Vollkommenheit – Jouissance – zu verwirklichen, indem sie das utopische Imaginativ einer abwesenden »fullness-tocome« formuliert, sobald der spezifische Mangel am Allgemeinen überwunden ist (Glynos/Stavrakakis 2008, 262; Žižek 2000, 100). Demzufolge entspricht die glückseligmachende Fantasie nun dem imaginären Allgemeinwohl eines Hegemonieprojekts, das als begehrenswertes Objekt der identitätsstiftenden Gesellschaftsutopie, einem »Sein ohne Mangel«, durch einen leeren Signifikanten (der umfassenden Forderung) symbolisch repräsentiert wird. Kurzum verweist das Theorem des Laclau’schen leeren Signifikanten, ohne tatsächlich vollständig repräsentierbar zu sein, auf welches Objekt des Begehrens (objet petit a) sich dieser subjektive Wunsch nach Harmonie und Vollkommenheit richtet. Salecl (1994) argumentiert, dass die universale Deklaration der Menschenrechte und ihr imaginärer Horizont als soziale Fantasie im Sinne Lacans verstanden werden kann, weil sie eine vom antagonistischen Mangel geheilte Gesellschaft und Subjektivität verspricht, die von der uneingeschränkten Realisierung der Menschenrechte abhängig gemacht wird. Demzufolge verstehe ich den Bezug auf die Universalität der Menschenrechte als ideologische Fantasie, die als Vektor politischer Rechte fungiert. Dieser Zusammenhang wird zentral sein, wenn ich in Kapitel 3.6 die theoretische Fundierung einer ideologischen Fantasie universaler Menschenrechte herausarbeite. Während die glückseligmachende Dimension der Fantasie also das subjektive Begehren nach einem gesellschaftlichen Zustand von Harmonie und Vollkommenheit strukturiert, der Mangel des Subjekts/der Struktur aufgrund des ontologischen Antagonismus jedoch irreduzibel ist – ein geschlossenes »Wir« (Glasze/Mattissek 2009, 164) ist aufgrund der nicht fixierbaren Struktur des Diskurses niemals endgültig möglich –, wird die blockierte Identität auf den antagonistischen Anderen verlagert – »the negativity of the other which is preventing me from achieving my full identity with myself is just an externalisation of my own auto-negativity« (Žižek 1990, 252f.) –, der nun als Projektionsfläche für die eigenen Frustrationserfahrungen erscheint (Stravakakis 1999/2003; Žižek 1997, 2000 und 2013). Hierin zeigt sich die zweite Narration ideologischer Fantasien, die Glynos und Howarth als »grauenvolle Dimension der Fantasie« (2007, 147; Žižek 1998) bezeichnen. Diese grauenvolle Dimension der Fantasie ist von der dystopischen Vorstellung angetrieben, dass eine unheilvolle Katastrophe droht, sollte ein artikulierter Mangel am Allgemeinen, der »Dieb an Jouissance«, nicht überwunden werden: »Indeed, oftentimes the cause of the lack of enjoyment is attributed to someone who has
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has ›stolen it‹.« (Glynos/Stavrakakis 2008, 262) Der Laclau-Schüler Yannis Stavrakakis (1999, 100-110) macht darauf aufmerksam, dass die antisemitische Konstruktion des »Juden« mit einer Lacan’schen Linse als Projektionsfläche einer grauenvollen Dimension der Fantasie gelesen werden kann. So verkörpert die sinistere und omnipotente Antifiguration des »Juden« den »Dieb an Jouissance«, dessen Auslöschung die Verwirklichung der Utopie einer »besseren Welt« verspricht, weil sie die Blockade der frustrierten sozialen Bedürfnisse und Identitäten löst. Entscheidend ist hierbei die für antisemitische Diskurse charakteristische libidinöse Besetzung des »Jüdischen« als Objekt des Begehrens (Žižek 1989, 68ff.). So wird der »Jude« in kontingenten politischen Diskurskonstellationen als genießendes Subjekt, d.h. als ein »Sein« ohne Mangel imaginiert. Als phantasmatisches Schema verkörpert er damit einerseits das Utopia des »guten Lebens« oder der »gerechten Gesellschaft« und entzieht es – das Gesellschaftsideal einer verlorenen Jouissance – andererseits den mangelhaften Subjekten. »The Jew in this sense becomes a symptom insofar as they suggest a seemingly external reason for the internal impossibility of jouissance.« (Žižek 2013, 357) Es wird also sichtbar, dass ideologische Fantasien des Antisemitismus eine diskursstabilisierende Funktion einnehmen, fungieren sie doch als Vektor der antagonistischen Kette von Hindernissen, die der Erfüllung der Gesellschaftsutopie entgegenstehen. Damit liefert das Konzept der sozialen Fantasie ein hilfreiches Framework für die Dechiffrierung antisemitischer Feindbildkonstruktionen und ihrer realitätsverzerrenden Wirkungsweise. In Kapitel 3.7 werde ich das Konzept der sozialen Fantasie mit Ansätzen der Antisemitismusforschung synthetisieren, um die ideologische Komponente von Antisemitismen entwickeln zu können. Abschließend lässt sich nun der stabilisierende Effekt ideologischer Fantasien auf Ordnungen des antagonistischen Sozialen folgendermaßen zusammenfassen: This means that ideological fantasy is not simply the fantasy of the impossible fullness of Society: not only is Society impossible, this impossibility itself is distortedly represented – positivized within an ideological field – that is the role of ideological fantasy (say of the Jewish plot). (Žižek 2000, 100) Mit dem Konzept der »sozialen Fantasie« lässt sich nun die Frage danach, warum heterogene Akteur/-innen das menschenrechtsorientierte Interpretationsangebot der Palästinasolidarität reartikulieren und sich weltweit mit dem Selbstbestimmungsanliegen solidarisieren, obwohl die Bewegung mit Antisemitismen in Verbindung gebracht wird, relational beantworten. Es ist die theoretische Heuristik einer »Affektlehre« ideologischer Fantasien, die den analytischen Blick durch die Betrachtung soziodiskursiver und psychodynamischer Prozesse der (subjektiven) Identifikation und (kollektiven) Identitätsbildung auf die Begehrensdynamik kulturspezifischer Identifikationsangebote hegemonialer Projekte richtet. Damit kann der vermeintlichen Paradoxie menschenrechtsorientierter Antisemitismen
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im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts durch einen relationalen Zugang zu gesellschaftlichen Diskursen und politischen Subjektivitäten begegnet werden. Das hier elaborierte Subjektverständnis kann abschließend folgendermaßen gegliedert werden: •
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Erstens ist das Subjekt fragmentiert und dezentriert, seine temporär fixierte Identität kann nur durch die Identifikation mit bestimmten, diskursiv bereitgestellten Subjektpositionen hergestellt werden (Subjektposition). Zweitens kommt der subjektiven Identität ein konstitutiver Mangel, eine Selbstblockade zu, die es durch die Identifikation mit einer Subjektposition auflösen muss (politisches Subjekt), Drittens wird der Akt der Entscheidung für ein bestimmtes Identifikationsangebot hegemonialer Projekte von spezifischen ideologischen Fantasien geleitet, durch die sich die subjektive Attraktivität und Anziehungskraft bestimmter, diskursiv bereitgestellter Subjektpositionen erklären lässt.
Der Übergang zwischen Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie. Zur poststrukturalistischen Triangulation der Hegemonietheorie
Nachdem das letzte Kapitel die Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes sowie ihre Ergänzung durch an Jacques Lacan orientierte psychoanalytische Subjekttheorien als poststrukturalistische Gesellschaft- und Sozialtheorie dargestellt hat, widmet sich der folgende Abschnitt der Frage, wie das ontologische Grundgerüst Laclaus und Mouffes mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen der Menschenrechtsforschung einerseits sowie Zugängen der Antisemitismusforschung andererseits ergänzt werden kann, um eine problemorientierte Erklärung für den empirisch und theoretisch zu erklärenden Gegenstand dieser Arbeit – den Menschenrechtsdiskurs der transnationalen Palästinasolidarität und seiner potenziellen Anschlussfähigkeit für Antisemitismen – generieren zu können. Warum ist diese Ergänzung um weitere theoretische Zugänge nötig? Soziale Bewegungen, wie die BDS-Bewegung, stehen in komplexen Wechselbeziehungen mit gesellschaftlichen Strukturen, machtvollen Beziehungen und Subjektivierungsweisen, wie das letzte Kapitel gezeigt hat. Um spezifische Ambivalenzen, Widersprüche und Brüche nachvollziehen zu können, die mit der Aushandlung sozialer Wirklichkeit einhergehen, müssen Erklärungsmodelle gefunden werden, die die Komplexität der Empirie erfassen können. Allerdings wird den Arbeiten der Essex School oft vorgeworfen, eine zu abstrakte und komplexe Ontologie bereitzustellen, deren theoretischer Sophismus nur wenig Relevanz für die Analy-
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im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts durch einen relationalen Zugang zu gesellschaftlichen Diskursen und politischen Subjektivitäten begegnet werden. Das hier elaborierte Subjektverständnis kann abschließend folgendermaßen gegliedert werden: •
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Erstens ist das Subjekt fragmentiert und dezentriert, seine temporär fixierte Identität kann nur durch die Identifikation mit bestimmten, diskursiv bereitgestellten Subjektpositionen hergestellt werden (Subjektposition). Zweitens kommt der subjektiven Identität ein konstitutiver Mangel, eine Selbstblockade zu, die es durch die Identifikation mit einer Subjektposition auflösen muss (politisches Subjekt), Drittens wird der Akt der Entscheidung für ein bestimmtes Identifikationsangebot hegemonialer Projekte von spezifischen ideologischen Fantasien geleitet, durch die sich die subjektive Attraktivität und Anziehungskraft bestimmter, diskursiv bereitgestellter Subjektpositionen erklären lässt.
Der Übergang zwischen Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie. Zur poststrukturalistischen Triangulation der Hegemonietheorie
Nachdem das letzte Kapitel die Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes sowie ihre Ergänzung durch an Jacques Lacan orientierte psychoanalytische Subjekttheorien als poststrukturalistische Gesellschaft- und Sozialtheorie dargestellt hat, widmet sich der folgende Abschnitt der Frage, wie das ontologische Grundgerüst Laclaus und Mouffes mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen der Menschenrechtsforschung einerseits sowie Zugängen der Antisemitismusforschung andererseits ergänzt werden kann, um eine problemorientierte Erklärung für den empirisch und theoretisch zu erklärenden Gegenstand dieser Arbeit – den Menschenrechtsdiskurs der transnationalen Palästinasolidarität und seiner potenziellen Anschlussfähigkeit für Antisemitismen – generieren zu können. Warum ist diese Ergänzung um weitere theoretische Zugänge nötig? Soziale Bewegungen, wie die BDS-Bewegung, stehen in komplexen Wechselbeziehungen mit gesellschaftlichen Strukturen, machtvollen Beziehungen und Subjektivierungsweisen, wie das letzte Kapitel gezeigt hat. Um spezifische Ambivalenzen, Widersprüche und Brüche nachvollziehen zu können, die mit der Aushandlung sozialer Wirklichkeit einhergehen, müssen Erklärungsmodelle gefunden werden, die die Komplexität der Empirie erfassen können. Allerdings wird den Arbeiten der Essex School oft vorgeworfen, eine zu abstrakte und komplexe Ontologie bereitzustellen, deren theoretischer Sophismus nur wenig Relevanz für die Analy-
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se sozialer, kultureller und politischer Phänomene besitzen würde.35 Zwar lassen sich die ontischen Kämpfe sozialer Bewegungen, so das Argument, auf der empirischen Oberflächenform der Gesellschaft in das ontologische Rahmenwerk der Hegemonietheorie einordnen, jedoch mangelt es der abstrakten »Metatheorie« (Torfing 1999, 190) Laclaus und Mouffes an einer dynamischen Modellarchitektur, mit der die jeweiligen Sinnkonstruktionen und Subjektivierungsweisen reflektiert werden können, in denen die konkreten antagonistischen Konstellationen – in meinem Falle der Nahostkonflikt – eingebettet sind. Einige Autor/-innen (Torfing 1990; Glynos/Howarth 2007; Howarth 2005; Glynos/Stavrakakis 2000) plädieren deshalb dafür, die ontologische Perspektive Laclaus und Mouffes als Basis zu verwenden, auf deren Grundlage sich im Forschungsprozess weitere theoretische Konzepte anknüpfen, verändern und anpassen lassen.36 Ohne zu viel über die Methodologie dieser Arbeit vorweggreifen zu wollen, folgt die vorliegende Studie dieser kritischen Positionierung und versteht die relationale In-Beziehung-Setzung einzelner traditioneller Theorien zueinander als retroduktiven Prozess, in dem verschiedene theoretische Konzepte relational zu dem fokussierten empirischen Gegenstand in eine umfassende theoretische Heuristik überführt werden können. Damit zeigt sich nun der vierte Mehrwert des poststrukturalistischen Zugangs dahingehend, als der von Reckwitz (2006) geforderte Übergang von Gesellschaftstheorie, Sozialtheorie und Empirie fließend in ein dynamisches Theoriekonzept übersetzt werden kann. Diese Ausrichtung macht den gewählten Ansatz besonders für aktuelle soziale Dynamiken – wie der transnationalen Diffusion des palästinasolidarischen Diskurses – fruchtbar. Poststrukturalistische Zugänge sind demzufolge offen, die dynamischen Prozesse der sozialen Wirklichkeit durch unterschiedliche theoretische Perspektiven zu beleuchten und mithilfe verschiedener Analysewerkzeuge je unterschiedliche Aspekte der empirischen Wirklichkeit zu untersuchen. Deutlich wird nun, warum Multiperspektivität als zentrales Charakteristikum poststrukturalistischer Forschungspraktiken charakterisiert wurde (Kap. 3.1). Nach Howarth (2005) muss bei der geforderten Triangulation gewährleistet sein, dass die theoretischen Ansätze mit den diskurstheoretischen Grundlagen vereinbar sind, d.h., die zugrunde liegenden Annahmen müssen hegemonietheoretisch reformuliert, deessenzialisiert und von deterministischen Aspekten befreit werden. Ziel der folgenden zwei Kapitel ist es demzufolge, eine theoretische Heuristik zu entwickeln, die, ausgehend von der Laclau-/Mouffe’schen Ontologie, ein-
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Autor/-innen, die auf diese Kritik hinweisen, sind etwa Glasze 2008, Nonhoff 2007, Opratko 2012, Bedall 2014, Wullweber 2014a, Howarth 2005, Glynos und Howarth 2007, Keller 2011, Scherrer 1995, Torfing 1999. Dass dieser Vorschlag dem Prinzip eines retroduktiven »to-and-fro movement« (Glynos/Howarth 2007, 34) zwischen Theorie und Empirie zugrunde liegt, bespreche ich in dem Methodenteil dieser Arbeit.
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zelne theoretische Ansätze hinsichtlich des spezifischen Forschungsgegenstands zueinander in Beziehung setzt. Hierfür wird die Hegemonietheorie erstens in die Menschenrechtsforschung eingebettet und zweitens durch Konzepte der Antisemitismusforschung ergänzt, die jeweils mit den ontologischen Parametern der Diskurstheorie harmonisiert werden.
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Menschenrechte als Universalisierungslogik partikularer Diskurse: eine hegemonietheoretische Perspektive
Das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zielt darauf ab, das potenzielle Zusammenspiel eines palästinasolidarischen Menschenrechtsaktivismus mit antisemitischen Deutungsangeboten und seine transnationale Anschlussfähigkeit zu untersuchen. Um den geforderten Übergang von Gesellschaftstheorie, Sozialtheorie und Empirie durch ein dynamisches Theoriemodell umsetzen zu können, d.h., die empirisch beobachteten Gleichzeitigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen als spezifische Charakteristika des BDS-Diskurses durch ein angemessenes theoretisches Modell systematisieren zu können, werden nun verschiedene sozialwissenschaftliche Zugänge der Menschenrechtsforschung qua Theorietriangulation in die poststrukturalistische Ontologie dieser Arbeit integriert. Damit ist ein zweifaches Ziel verbunden: Erstens soll durch eine Lacan’sche Lesart einzelner Zugänge der sozialwissenschaftlichen Menschenrechtsforschung nachvollziehbar werden, wie ein gleichermaßen psychodynamisch und soziodiskursiv konzeptualisiertes Begehrensverständnis das affektive Investment von Subjekten in soziale Menschenrechtsutopien verstehbar machen kann. Davon ausgehend, soll zweitens gezeigt werden, wie das partikulare »Recht auf Selbstbestimmung« – wie es in meinem Beispiel von der transnationalen BDS-Kampagne gegen Israel gefordert wird – in kontingenten Diskursen als imaginärer Fluchtpunkt der politischen Praxis sozialer Bewegungen fungiert. Insgesamt wird im Laufe des Kapitels sichtbar, dass sich die hier entwickelte relationale Perspektive auf die komplexe Beziehung zwischen Menschenrechtsdiskursen, ihren subjektiven Identifikationspotenzialen und machtvollen Aushandlungsprozessen im scharfen Kontrast zu Ansätzen der soziologischen Menschenrechtsforschung (s. Kap. 2) befindet. Denn obgleich sich diese Ansätze zwar teilweise für kulturelle Aneignungsprozesse von Menschenrechten interessieren, reflektieren sie nicht, welche emotive Besetzung Menschenrechtssymboliken auch für Subjekte projizieren, die nicht von einer lokalen Konfliktlage betroffen sind. Im Ergebnis arbeite ich drei zentrale Punkte einer imaginären Menschenrechtsfantasie und ihrer symbolisch-diskursiven Wirkungsweise durch den Signifikanten »Recht auf Selbstbestimmung« heraus:
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zelne theoretische Ansätze hinsichtlich des spezifischen Forschungsgegenstands zueinander in Beziehung setzt. Hierfür wird die Hegemonietheorie erstens in die Menschenrechtsforschung eingebettet und zweitens durch Konzepte der Antisemitismusforschung ergänzt, die jeweils mit den ontologischen Parametern der Diskurstheorie harmonisiert werden.
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Menschenrechte als Universalisierungslogik partikularer Diskurse: eine hegemonietheoretische Perspektive
Das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zielt darauf ab, das potenzielle Zusammenspiel eines palästinasolidarischen Menschenrechtsaktivismus mit antisemitischen Deutungsangeboten und seine transnationale Anschlussfähigkeit zu untersuchen. Um den geforderten Übergang von Gesellschaftstheorie, Sozialtheorie und Empirie durch ein dynamisches Theoriemodell umsetzen zu können, d.h., die empirisch beobachteten Gleichzeitigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen als spezifische Charakteristika des BDS-Diskurses durch ein angemessenes theoretisches Modell systematisieren zu können, werden nun verschiedene sozialwissenschaftliche Zugänge der Menschenrechtsforschung qua Theorietriangulation in die poststrukturalistische Ontologie dieser Arbeit integriert. Damit ist ein zweifaches Ziel verbunden: Erstens soll durch eine Lacan’sche Lesart einzelner Zugänge der sozialwissenschaftlichen Menschenrechtsforschung nachvollziehbar werden, wie ein gleichermaßen psychodynamisch und soziodiskursiv konzeptualisiertes Begehrensverständnis das affektive Investment von Subjekten in soziale Menschenrechtsutopien verstehbar machen kann. Davon ausgehend, soll zweitens gezeigt werden, wie das partikulare »Recht auf Selbstbestimmung« – wie es in meinem Beispiel von der transnationalen BDS-Kampagne gegen Israel gefordert wird – in kontingenten Diskursen als imaginärer Fluchtpunkt der politischen Praxis sozialer Bewegungen fungiert. Insgesamt wird im Laufe des Kapitels sichtbar, dass sich die hier entwickelte relationale Perspektive auf die komplexe Beziehung zwischen Menschenrechtsdiskursen, ihren subjektiven Identifikationspotenzialen und machtvollen Aushandlungsprozessen im scharfen Kontrast zu Ansätzen der soziologischen Menschenrechtsforschung (s. Kap. 2) befindet. Denn obgleich sich diese Ansätze zwar teilweise für kulturelle Aneignungsprozesse von Menschenrechten interessieren, reflektieren sie nicht, welche emotive Besetzung Menschenrechtssymboliken auch für Subjekte projizieren, die nicht von einer lokalen Konfliktlage betroffen sind. Im Ergebnis arbeite ich drei zentrale Punkte einer imaginären Menschenrechtsfantasie und ihrer symbolisch-diskursiven Wirkungsweise durch den Signifikanten »Recht auf Selbstbestimmung« heraus:
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Die Fantasie universaler Menschenrechte strukturiert als ideologische Utopie das subjektive Begehren nach einer (unerreichbaren) gesellschaftlichen Harmonie und Vollkommenheit, die für eine Vielzahl von Subjekten attraktiv erscheint und die Kontingenz sozialer Ordnungen reduziert. Menschenrechte wirken als phantasmatisches Identifikationsangebot solidarisierend, insofern ihr affektiver Wert auf dem normativen Fundament des demokratischen Horizonts gleicher Rechte und dem Prinzip der Menschenwürde als einem sakralisierten Glaubenssystem gründet. Durch die Universalisierungslogik des Menschenrechtsdiskurses lässt sich die partikulare Forderung nach Selbstbestimmung als leerer Signifikant im Kampf um antikoloniale (Selbstbestimmungs-)Rechte interpretieren.
3.6.1
Der demokratische Horizont – Freiheit und Gleichheit der Menschenrechte als Hegemonialisierungsprinzip gegenhegemonialer Diskursprojekte
Es war der Sinn der Menschenrechte, Glück auch dort zu versprechen, wo keine Macht ist. Weil die betrogenen Massen ahnen, daß dies Versprechen, als allgemeines, Lüge bleibt […], erregt es ihre Wut; sie fühlen sich verhöhnt. (Adorno/Horkheimer 2008, 181) In Abschnitt 3.4.3 habe ich argumentiert, dass soziale Fantasien als diskursplausibilisierende Vektoren hegemonialer Projekte fungieren, die politischen Forderungen Halt und Richtung verleihen. Um diese Funktion einnehmen zu können, projizieren soziale Fantasien die Utopie eines gesellschaftlichen Idealzustands – der Wiederherstellung der immer schon verlorenen Jouissance –, sobald der Mangel am Allgemeinen, der externe Feind der Wirgruppe, überwunden ist. Diese Funktion wurde als glückseligmachende Dimension der Fantasie beschrieben, die erstens das subjektive Begehren nach »Ganzheit« affiziert, wodurch zweitens die radikale Kontingenz sozialer Beziehungen, Praktiken oder Regime verschleiert wird und damit drittens kulturspezifische Identifikationsangebote attraktiv oder begehrenswert erscheinen. Nach Glynos und Howarth (2007) lässt sich die Wirkungsweise der ideologischen Fantasie eines gesellschaftlichen Zustands von Harmonie und Vollkommenheit folgendermaßen beschreiben: In sum, whether in the context of social practices or political practices, fantasy operates so as to conceal or close off the radical contingency of social relations. It does this through a fantasmatic narrative or logic that promises a fullness-tocome once a named or implied obstacle is overcome […]. (147). Der folgende Abschnitt zeigt nun, wie der Normenkosmos universaler Menschenrechte als kontingenzreduzierende Fantasie von politischen Diskursen verstanden
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werden kann und versucht, ihre kathektisch-affektiven Eigenschaften als global attraktive Identifikationsressource herauszuarbeiten. Dieses Vorgehen soll analytisch durch meta-theoretische Zugänge der Menschenrechtsforschung ergänzt werden, um den ideologischen »Grip«, den das »Gleichheitsgebot« der Menschenrechte einerseits und das Prinzip der Menschenwürde andererseits als phantasmatische Narrative auf den palästinensischen Protestdiskurs und die Mechanismen seiner transnationalen Solidarisierung ausüben, erklären zu können. Als kontingenzreduzierende Fantasie plausibilisieren Menschenrechte die Illusion einer fraglosen Selbstverständlichkeit des artikulierten Bedeutungshorizonts hegemonialer Projekte. Plausibilisierend deswegen, weil Fantasien das affektiv besetzte Versprechen projizieren, eine von Antagonismen geheilte Gesellschaft und Subjektivität zu realisieren, wenn nur diese bestimmten politischen Forderungen nach Rechten erfüllt werden (Wardle 2016; Salecl 1994; Douzinas 2000). Rights give the impression that the subject and society can become whole: only if all the attributes and characteristics of the subjects were to be given legal recognition, he would be happy; only if the demands of human dignity and equality were to be fully enforced by the law, the society would be just. (Douzinas 2000, 314f.) In Anlehnung an Lacan repräsentieren universale Menschenrechte daher ein unerreichbares Objekt des Begehrens (objet petit a), das als Substitution für den Mangel des Subjekts fungiert, ohne diesen tatsächlich überwinden zu können (Salecl 1994, 126f.). Weil das Objekt des Begehrens – hier der Normenkosmos der Menschenrechte – aber ein nicht erreichbares imaginäres Jenseits des Diskurses markiert, seine symbolische Besetzung nicht abschließend gelingen kann, enthält der Prozess der andauernden Identifikation mit der Idee universaler Menschenrechte auch keine signifizierbare Forderung, sondern muss als Objektursache des Lacanʼschen Begehrens nach der abwesenden »Fülle« von Subjekt und Gesellschaft verstanden werden (ebd., 127; Douzinas 2000, 312f.).37 Denn als Forderungen beziehen sich Rechte auf je spezifische Rechte, aber »the entire logic of rights turns on the impossibility of enumerating rights on which any claim could then be staked« (Salecl 1994, 127). In diesem Sinne affizieren Menschenrechte Subjekte, weil sie die Fiktion eines universal geltungswirksamen Korpus von scheinbar objektiv vorhanden Rechten entwerfen, die als quasi ontologische Substanz des Menschen erscheinen. Damit verschleiern Menschenrechte als Phantasmagorie gesellschaftlicher Heilung Komplexität und Kontingenz antagonistischer politischer Konfliktkonstellation, in denen gerade um die Durchsetzung und Ausweitung von Menschenrechten für gesellschaftliche Gruppen gekämpft wird.
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Zur Lacan’schen Unterscheidung zwischen Signifikanten (Forderungen) und Begehren siehe Fußnote 24 in Kapitel 3.4.2
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
In this way, the desire of subjects is sustained through an unchanging object cause of desire. This procures enjoyment for subjects of human rights discourses and can act to blind subjects from the perpetuation of social stratification in nations that do endorse and protect human rights. (Wardle 2016, 315) So liegt das ideologische Moment von Menschenrechten in der unüberwindbaren Distanz zwischen dem positivierten, d.h. dem sprachlich-symbolisch materialisierten Gesetz und dem gesellschaftlichen Versprechen universaler Vollkommenheit der Menschenrechte (Salecl 1994, 132) begründet. Denn die Unabgeschlossenheit und Überdetermination des universalen Rechtekorpus negiert die vermeintliche Geschlossenheit des Kernbereichs der Menschenrechte, weil die immer wiederkehrenden sozialen Kämpfe um die Ausweitung des Geltungsbereichs der Menschenrechte zeigen, dass die Vorstellung eines abgeschlossenen Systems von politischen Rechten und ihrer Wiederherstellung einen ideologischen Mythos schimärischer Fantasien darstellt (Wardle 2016, 315). Deutlich sichtbar erscheint diese Disparität der begehrenswerten, aber unerreichbaren Wunschvorstellung eines vermeintlich ontologisch vorhandenen Menschenrechtsuniversalismus und ihrer symbolischen Überdetermination in der Sphäre des Politischen, wenn der Rechtekosmos hegemonietheoretisch als Bestandteil des demokratischen Horizonts gleicher Rechte38 (Laclau/Mouffe 2000) konzeptualisiert und in die durch Lacan geprägte Ideologietheorie sozialer Fantasien integriert wird. Unter dem demokratischen Horizont oder Dispositiv (Marchart 2013b, 118) verstehen Laclau und Mouffe eine »neue Matrix des sozialen Imaginären« (2000, 195), die auf den Grundprinzipien der Gleichheit und der Freiheit beruht und sich seit der Französischen Revolution zu einem »fundamentale[n] Knotenpunkt in der Konstruktion des Politischen« (ebd.) ausgebildet hat.39 Dementsprechend legt der hegemoniale Horizont der Möglichkeiten (Marchart 2002, 294) zugleich fest, was innerhalb der Grenzen der Demokratie denk- und sagbar ist.
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An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, Fragen der rechtlichen Verbindlichkeit des Menschenrechtssystems zu beantworten, eine detaillierte Aufstellung und Einordnung der zentralen Menschenrechtskonventionen und Verträge zu leisten, sondern um die soziologische Kontextualisierung der Bedeutung von Menschenrechten für das Handeln einer sozialen Bewegung. Für eine ausführliche Darstellung und Einführung in das System der Menschenrechte siehe Donnelly 2013. Bei der von Laclau und Mouffe (2000) beschriebenen historisch-diskursiven Formation der »Demokratie«, die sie im Anschluss an Tocqueville auch als »demokratische Revolution« beschreiben (195), handelt es nicht um ein konkretes politisches System oder eine spezifische Ordnung, sondern um eine Art bedeutungsoffenes normatives Leitbild (Bruell 2017, 193), das aufgrund seines hegemonialen Status den institutionellen Rahmen für die hegemoniale Austragung politischer Deutungskonflikte liefert (Marchart 2013b, 117ff.).
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Wir nennen Horizont, was zu ein und demselben Zeitpunkt die Grenzen und das Terrain der Konstitution jedes möglichen Objektes errichtet – und folglich jedes »jenseits« verunmöglicht. Vernunft für die Aufklärung, Fortschritt für den Positivismus, die kommunistische Gesellschaft für den Marxismus – dies sind nicht die Namen von Objekten innerhalb eines bestimmten Horizonts, sondern die des Horizonts selbst. (Laclau 2002, 147) Das Gesellschaftsimaginativ des demokratischen Horizonts gleicher Rechte kann demzufolge als phantasmatisches Narrativ verstanden werden, das als Vektor für spezifische Artikulationspraktiken im Rahmen dieses Horizonts fungiert – Artikulationspraktiken, die außerhalb des demokratischen Diskurses formuliert werden, wie zum Beispiel Forderungen nach einem islamistischen Staat, können entsprechend der ausgeprägten Stellung des demokratischen Diskurses kaum wahrgenommen werden und verharren im Bereich des gesellschaftlich Irrelevanten. In Anlehnung an Lefort (1986) sprechen Laclau und Mouffe von Demokratie als einem leeren Ort der Macht,40 um dessen universalisierende Füllung, sprich zeitweise Hegemonialisierung, soziale Akteur/-innen und politische Kräfte in kontingenten Konfliktkonstellationen kämpfen. Den universellen Menschenrechten kommt nun aufgrund ihres besonderen Status als eines »totalizing Grand Narrative« (Lindgren Alves 2000, 500) eine solche hegemoniale Repräsentationsfunktion zu, die als »leerer Platz« (Laclau 2002, 91) des demokratischen Diskurses eine Vielzahl unterschiedlicher Diskurse äquivalenzieren und integrieren kann, d.h. sich vor dem normativen Hintergrund des Prinzips gleicher Rechte zu einem beständig expandierenden Ausgangspunkt sozialer Kämpfe um demokratische Rechte transformiert. Warum sich die Nichtfixierbarkeit des Menschenrechtsdiskurses dabei als mobilisierendes Imaginativ subjektiver Identifikationsprozesse darstellt, wird deutlich, wenn gezeigt wird, wie das »Gleichheitsgebot« der Menschenrechte auf der ideologischen Ebene sozialer Fantasien politischen Rechtediskursen Attraktivität und Anschlussfähigkeit vermittelt. So lässt sich argumentieren, dass es sich bei dem »Recht, Rechte zu haben« (Arendt 2001, 614), wie es durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) und ihre Leitmotive der Freiheit und Gleichheit instituiert und sedimentiert wurde, um das imaginäre Movens der Logik des Politischen handelt, weil es soziale Akteur/-innen dazu ermächtigt, Ungleichheiten zu klassifizieren und ihre Forderungen am Horizont universaler Rechte als äquivalente Forderungen nach glei-
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Das für Demokratien konstitutive leere Zentrum der Macht konnte nach Lefort (1986) erst durch die revolutionäre Ablösung des französischen Ancien Régime und speziell der Guillotinierung des Königs als substanzialisierenden Knotenpunkt der göttlich legitimierten Gesellschaftsordnung des Absolutismus instituiert werden (302f. Zur hegemonietheoretischen Pointe des demokratischen Diskurses siehe Marchart 1999, 125f.; Flügel-Martinsen 2017, 19).
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chen Rechten zu artikulieren.41 Dieses sogenannte Recht der Rechte wird durch das normative Fundament der Menschenrechtserklärung konstituiert, verstanden als »equal and inalienable rights that all human beings have and may exercise against society and the state« (Donnelly 2013, 86). In Artikel 1 der AEMR heißt es etwa: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren« (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948). Weil aber die Unabgeschlossenheit des Menschenrechtskorpus darin begründet liegt, dass notwendig unklar bleibt, »welche Rechte und welche Träger gemeint sind« (Joas 2015, 37), lässt sich die »subversive Macht des demokratischen Diskurses« (Laclau/Mouffe 2000, 196) nun dahingehend bestimmen, den Genuss gleicher Rechte für immer neue Gruppen, Minoritäten oder Personen zu fordern und zu legitimieren.42 Lefort nennt die Ausweitung der Menschenrechte für machtund rechtlose Bewegungen daher auch das generative Prinzip der Demokratie (1986, 260), das fortlaufend neue Antagonismen und politische Subjektivitäten erzeugt.43 Theoretische Ansätze der politik- und sozialwissenschaftlichen Menschenrechtsforschung, wie sie teilweise in Kapitel 2.1.2 vorgestellt wurden, betonen dementsprechend auch den Nutzen und die normative Relevanz der AEMR, wenn es darum geht zu erklären, warum sich soziale Akteur/-innen auf den global zirkulierenden Normen- und Ideenkosmos der Menschenrechte beziehen,
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Laclau und Mouffe (2000) beschreiben den progressiven Gehalt des demokratischen Horizonts durch die Unterscheidung zwischen »Unterdrückung« und »Unterordnung« (194f.). Erst die demokratische Idee von Freiheit und Gleichheit ermöglicht es, in dislozierenden Strukturen antagonistische Konfliktkonstellationen politisch zu reaktivieren, indem Unterordnungsverhältnisse und darin eingeschriebene Subjektpositionen durch die Identifikation (rechtlicher) Ungleichheiten als Unterdrückungsverhältnisse klassifizierbar werden. »Unsere These ist, daß erst ab dem Moment, als der demokratische Diskurs in der Lage war, die verschiedenen Widerstandsformen gegen die Unterordnung zu artikulieren, die Bedingung der Möglichkeit des Kampfes gegen die verschiedenen Typen von Ungleichheit existieren.« (Ebd: 195) Nach Lefort besteht das kritische Potenzial des Menschenrechtsregimes in eben dieser Bedeutungsoffenheit: »The rights of man reduce right to a basis which, despite its name, is without shape, is given as interior to itself and, for this reason, eludes all power which would claim to take hold of it – whether religious or mythical, monarchical or popular.« (1986, 258) Laclau (2002, 62f.) beschreibt die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Menschenrechte am Beispiel des historischen Kampfes der britischen Frauenrechtlerin Mary Woolstonecraft. Woolstonecraft kritisierte die Ausschließung von Frauen aus dem Geltungsbereich der Menschen- und Bürgerrechte und machte damit die Inkohärenz universaler Rechte sichtbar, indem sie unter Bezugnahme auf das Universalitätsprinzip der Gleichheit, die Reartikulation der Bürgerrechte als Frauenrechte einforderte. Weitere signifikante Beispiele für die historische Ausweitung des demokratischen Diskurses wären etwa die Abolitionismusbewegung, das Wahlrecht für Schwarze, das Streikrecht für Arbeiter, die sexuellen Selbstbestimmungsrechte von Homosexuellen oder die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit im antikolonialen Befreiungskampf (Marchart 2001, 132;Smith 1998, 7).
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um ihre politischen Ziele durchzusetzen oder auch lokale Konfliktlagen thematisierbar zu machen (Amelina 2017, 89; Merry 2006; Levitt/Merry 2009; Keck/Sikkink 1998; Gonçalves/Costa 2016). So konstatiert Lindgren Alves (2000), dass es gerade die diffundierenden Ideen und Praktiken des Menschenrechtsregimes sind, die subordinierten Akteur/-innen eine autoritative »Leitsemantik« (Kastner 2017, 218) für die Legitimation ihrer Forderungen bereitstellen (Lindgren Alves 2000, 478). Nach Amelina (2017) lassen sich die Vorteile des egalitären und bedeutungsoffenen Horizonts universaler Menschenrechte für die politische Praxis heterogener Gruppen oder subalterner Akteur/-innen, deren Rechte in vielfältiger Form bedroht oder in ganz unterschiedlicher Weise verweigert werden, folgendermaßen zusammenfassen: »[…] the human rights discourse contributes to the multiplicity of equality-releated demands, in that it considers every form of discrimination inacceptable« (88). Es ist diese bedeutungsoffene Leere des Menschenrechtskorpus, die erklären kann, worauf das subjektive Identifikationspotenzial der Menschenrechte und seine imaginären Begehrensdynamiken gründen. So liefert ein ideologietheoretisches Verständnis von Menschenrechten Hinweise darauf, warum sich Menschen weltweit mit dem Protestanliegen der Palästinenser/-innen solidarisieren. Denn Menschenrechte als imaginäres Identifikationsangebot mobilisieren aufgrund der ihnen eigentümlichen »Inkohärenz« (Laclau 2002, 62) für ein unmögliches Vorhaben; die uneingeschränkte Verwirklichung eines gesellschaftlichen Idealzustands, der mit der universalen Garantie unteilbarer Rechte einhergehen soll (Salecl 1994, 127; Douzinas 2000, 313f.). The discourse of universal human rights strives to produce the impression that the object has already been attained. By claiming that we have human rights which the state must guarantee, we presuppose that the object of desire is already ours: all we need to do is to describe it and codify it in law. The discourse of universal human rights thus presents a fantasy scenario in which society and the individual are perceived as whole, as non-split. In this fantasy, society is understood as something that can be rationally organized, as a community that can become nonconflictual if only it respects »human rights. (Salecl 1994, 127f.) Um ein tiefergehendes Verständnis für die komplexe Begehrensdynamik von Menschenrechtsdiskursen und ihres Solidarisierungspotenzials gewinnen zu können, möchte ich nun auf den affektiven Wert des »axiomatischen normativen Status« (Bielefeldt 2010, 22) der Menschenwürde eingehen, den ich unter Bezugnahme auf Hans Joas’ Konzept der »Sakralität der Person« (2015) erklären möchte.44
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Die hegemonietheoretische Übersetzung der Joas’schen Genealogie der Menschenrechte folgt hier der Argumentation von Amelina (2017), die auf die Bedeutung des Narrativs der Individualität als quasisakralen, in der Lacan’schen Sprechweise, dem imaginären Kern des Menschenrechtsdiskurses für soziale Kämpfe gegen Ungleichheit, hingewiesen hat.
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Ausgangspunkt der Joasʼschen Genealogie ist die These, »daß wir den Aufstieg der Menschenrechte als einen Prozess der Sakralisierung der Person zu verstehen haben« (Joas 2015, 204). Sakralisierung meint hierbei einen Vorgang, der eine »subjektive Evidenz und affektive Intensität besitzt« (ebd., 5), der die Heiligkeit des/der Einzelnen begründet und den Menschenrechten somit die Einzigartigkeit des Individuums präskriptiv einschreibt (ebd., 251ff.). Der Sakralisierungsbezug der Menschenrechte drückt sich demzufolge in der AEMR und ihrem zentralen Grundpfeiler des Schutzgebots der individuellen Menschenwürde aus, die das Individuum kraft seines »Menschseins« als »heiliges Objekt« (ebd., 82) und damit Träger/-in von unteilbaren Rechten konstituiert.45 Daher besitzt das Prinzip der irreduziblen Menschenwürde Joas zufolge deswegen eine subjektive Evidenz, weil sie als Wertbindung den Erfahrungshorizont einer Vielzahl von Menschen abbildet und damit keine Tatsachenbehauptung darstellt, sondern in einem säkularen Sinne als Glaube an ihre verbindliche Wahrheit zu deuten ist (Joas 2015, 81-95). Ganz ähnlich verweist auch Poferl (2015, 125f.) auf die Geltungswirksamkeit des Symbolsystems der Menschenrechte als einer transnationalen Solidaritätsressource, die sich auch jenseits einklagbarer Rechte, d.h. aufgrund ihrer subjektiven Relevanz, ergibt. In das Interpretationsrepertoire der Menschenrechte fließen die Vielfalt menschlicher Erfahrungen, […] Aspekte von Identität, Affekte, Emotionen und Empfindungen dessen, was Menschen zumutbar, erträglich oder unerträglich, angemessen oder unangemessen sei (ebd., 128), ein. Die Aneignung des Menschenrechtsdiskurses als Fantasie einer gesellschaftlichen Harmonie und Vollkommenheit kann auf diese Weise als anpassungsfähiges, kontingenzbehaftetes Identifikationsangebot gedeutet werden, das auf einer affektvermittelten Ebene besondere, moralische Gefühle des Mitgefühls, des Mitleids und der Empathie hervorrufen kann (Poferl 2014 und 2015; Beck 2003 und 2004). Denn die grenzüberschreitend mobilisierende Wirkung von Menschenrechten beruht auf einem gemeinsam geteilten Erfahrungshorizont, der die Wahrnehmung
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Über den Begriff der Heiligkeit schreibt Joas im Anschluss an Durkheim, dass »die Qualität ›Sakralität‹ […] Objekten spontan zugeschrieben [wird], wenn sich eine Erfahrung eingestellt hat, die so intensiv ist, daß sie das gesamte Weltbild und das Selbstverständnis derer, die diese Erfahrung gemacht haben, konstituiert oder transformiert« (2015: 93). Aus einer ideologiekritischen Perspektive betrachtet, erscheint der Zusammenhang zu der diskursiven Wirkungsweise sozialer Fantasien offenkundig: Die Heiligkeit der Menschenwürde und der Menschenrechte strukturiert als Identifikationsangebot die politische Logik des Hegemonieprojekts der Palästinasolidarität, so meine These, weil sie als imaginäres Objekt des Begehrens, das erreicht werden soll, aber symbolisch unerreichbar ist, den spezifischen Forderungen und Subjektpositionen Attraktivität, Glaubwürdigkeit und Plausibilität vermittelt.
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von Leiden, Unrecht und Unterdrückung innerhalb der strukturierenden Grenzen des phantasmatischen Menschenrechtsnarrativs als kulturelles Konstrukt intersubjektiv plausibilisierbar macht (Poferl 2015, 128). Der affektive Zugewinn, den der emotional begründete Einsatz für die Rechte Anderer verspricht, wird also hervorgebracht durch den Glauben daran, durch kollektives Handeln die Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu bewahren und zu schützen. So erlaubt die kollektiv geteilte Vorstellung unteilbarer Menschenrechte und ihrer sakral-absoluten Setzung der Menschenwürde solidarische »Akte des Mitfühlens und Mitleidens« (ebd. 2014, 189), die einen Hinweis auf Attraktivität und Anschlussfähigkeit des Imaginativs universaler Menschenrechte liefern. Aus diesem Grund lässt sich der ideologische Normenkosmos universaler Menschenrechte auch nicht von seiner affektgeleiteten Ebene der Emotionen, d.h. Leidenschaften und Gefühlen, trennen, die sich in kontingente diskursive Kontexte einfügen lassen und für heterogene politische Anliegen in einem transnationalen Rahmen mobilisiert werden können. Ihre [die Menschenrechte] gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung macht sich an der – in der Regel sehr konkreten – Vorstellung einer Würde des Menschen fest, die es zu achten, zu wahren oder wiederherzustellen gilt, wo sie missachtet und mit Füßen getreten worden ist. (Ebd. 2015, 126) In Anlehnung an Mouffe (2000) können Menschenrechte demzufolge als subjektive Begehrensdynamik konzeptualisiert werden, die es ermöglicht, Gefühle und Leidenschaft für politische Projekte zu mobilisieren und damit Identifikationsangebote zu liefern, die als demokratische Idealvorstellungen verallgemeinerbar erscheinen. In einem hegemonietheoretischen Sinne lässt sich die empathische Evidenz des Sakralisierungsbezugs der Menschenrechte also als phantasmatische Füllung der subjektiven Leere interpretieren, die etwa signifikant in der AEMR und ihrem zentralen Grundpfeiler, dem Schutzgebot der individuellen Menschenwürde, zum Ausdruck kommt. Geleitet von dem subjektiven Begehren nach Jouissance, verspricht die Durchsetzung des Schutzes der Menschenwürde gesellschaftliche Harmonie und Vollkommenheit durch die Achtung der »Heiligkeit« der Person. Dass die »Heiligkeit« des Menschen und seiner unteilbaren Rechte eine ideologische Figur ist, die bestehende Kontingenzen in der Aushandlung sozialer Konfliktlinien verschleiert, macht Žižek (2005b) deutlich, wenn er auf den begrenzten Geltungsbereich der Universalie »Mensch« hinweist. Wer als »Mensch« mit schützenswerter Würde klassifiziert werden kann, bleibt im symbolischen Spannungsfeld von Universalem und Partikularem notwendig unklar, weshalb der unbedingte Glaube an die Wirksamkeit der Menschenrechte lediglich ein imaginäres Glück, in den Worten Durkheims die abgeschlossene »moralische Einheit des Landes« (1986, 62), in Aussicht stellt. Insgesamt kann die Konzeptualisierung von Menschenrechten als soziale Utopie eines kontingenzreduzierenden Menschenrechtsuniversalismus sichtbar machen,
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
wie Menschenrechte Protestdiskurse und ihre Identifikationsangebote affizieren können. Warum Menschenrechtsfantasien attraktive Mobilisierungsfaktoren der Solidarisierung darstellen, kann in diesem Zusammenhang durch des phantasmatische Narrativ eines demokratischen Horizonts gleicher Rechte und den affektiv besetzten Glauben an die Menschenwürde als sakralen Kernbereich der Menschenrechte erklärt werden. Davon ausgehend, zeigt der folgende Abschnitt, wie das partikulare »Recht auf Selbstbestimmung« in kontingenten Diskursen als leerer Signifikant fungieren kann, um auf diese Weise darzustellen, wieso die Frage nach »palästinensischer Selbstbestimmung« zu einem globalen Protestsymbol transnationaler Solidarität avanciert.
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Die deontische Logik der Selbstbestimmung – oder warum Selbstbestimmungsrechte Menschenrechte garantieren können
[…] support for Palestinian human rights and self-determination has become the emblematic solidarity movement of our time. Palestine has become our Spanish civil war, our Cuba, our Nicaragua – the young of the rich world yearn for the exoticism of a far-away battle. For defenders of Israel, this is yet another example of the world’s failure to understand that the complexities of the conflict cannot be reduced to pleas for love not war […]. (Bhattacharyya 2008, 46) Im vorangegangenen Abschnitt wurde die kontingente Bedeutungsoffenheit des Menschenrechtskorpus als ideologische Fantasie beschrieben, die eine Vielzahl heterogener Kämpfe um gleiche Rechte plausibilisieren kann. Das folgende Kapitel zeigt nun, wie sich die Forderung nach einem Recht auf Selbstbestimmung für partikulare Gruppen vor dem Hintergrund des sakralen Horizonts gleicher Rechte legitimiert. Hegemonietheoretisch formuliert geht es dabei um die Frage, wie sich die Forderungen nach einem »Recht auf Selbstbestimmung« als Hegemonialisierungslogik partikularer Protestdiskurse – in meinem Beispiel dem partikularen palästinensischen Protestdiskurs – interpretieren lässt. Denn, wie im Laufe des Kapitels dargestellt wurde, die Forderung nach einem Recht auf Selbstbestimmung für das palästinensische ›Volk‹ kann als leerer Signifikant des Hegemonieprojekts der BDS-Kampagne klassifiziert werden. Das Argument des vorliegenden Abschnitts wird sich dabei in zweierlei Hinsicht entfalten. Erstens soll dargestellt werden, wie sich partikulare Selbstbestimmungsbestrebungen vor dem normativen Hintergrund unteilbarer Menschenrechte als Positionen eines universalen Rechtediskurses legitimieren können (leerer Signifikant). Zweitens wird eine postkoloniale Lesart von Selbstbestimmungsprinzipien fruchtbar gemacht, die politische Selbstbestimmung als Dekolonisierungspraxis von kolonialer Fremdbestimmung interpretierbar macht und dabei Prozesse der
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Grenzziehung in das Zentrum der Betrachtung rückt. Beide Argumentationsstränge sind für das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zentral, worauf ich im Laufe der Argumentation noch zu sprechen kommen werde. Inwiefern kann das partikulare »Recht auf Selbstbestimmung« in kontingenten Diskursen als imaginärer Fluchtpunkt der politischen Praxis sozialer Bewegungen, d.h. als leerer Signifikant, fungieren? Wie wird das Prinzip der Selbstbestimmung definiert und international legitimiert? Allgemein wird das Selbstbestimmungsprinzip vor allem im Hinblick auf »nationale« Selbstbestimmung definiert als »a political project aimed at securing increased political autonomy or independent statehood for national minorities« (Moore 2006, 140). Dabei hat sich das Konstrukt der nationalen Selbstbestimmung als »ideologisches, juristisches und politisches Rückgrat der Weltordnung von Staaten« (Wimmer 2005, 118) ausgebildet. In der Ordnung des internationalen Rechts ist das Selbstbestimmungsprinzip sowohl in der UN-Charta als auch in den beiden ersten Artikeln des Zivilpakts (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) und des Sozialpakts (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) festgeschrieben. Die Bezugnahme auf das Selbstbestimmungsprinzip als Recht hat sich dabei vor allem im Kontext der Dekolonisierung ehemaliger Kolonien und der politischen Praxis antikolonialer Befreiungsbewegungen als normativ exponierte und gleichwohl ambivalente Idee erwiesen. Normativ exponiert ist die Idee politischer Selbstbestimmung, weil sie als beeinflussender Faktor für Transformations- und Emanzipationsprozesse in kolonialen Herrschaftssystemen verstanden wird (Chatterjee 2012 und 2017). Ambivalent ist die Idee deshalb, weil die Bezugnahme auf das »Nationale« durch die politische Praxis antikolonialer Befreiungsbewegungen den modernen (europäischen) Nationalismus, dessen Ausdruck gerade die institutionalisierte Herrschaftsform des kolonialen Staats ist, perpetuiert (Özkirimli 2005). Um sich von den modernen (europäischen) Nationalismen abzugrenzen, definieren einzelne Autor/-innen der Postcolonial Studies antikoloniale Selbstbestimmungsbestrebungen als »beyond the national frame« (Richter-Devroe 2018), d.h., sie differenzieren zwischen einem »guten« postkolonialen Nationalismus und einem »bösen« ethnisch-kolonialen Nationalismus. Ich schließe mich für die Analyse des Rechtediskurses der TPSB diesem interpretativen Zugang der Postcolonial Studies an. Paradigmatisch für diese normative Unterscheidung kann Edward Saids (1993, 2001 und 2009) tendenziell idealisierende Sichtweise auf den universalisierenden Charakter antikolonialer Befreiungskämpfe gelten. Das globale Protestsymbol »Palästina« steht dabei als »universalist cause« (Said 2001, 545) eines dekonstruktivistischen Verständnisses von »Selbstbestimmung«, das nicht als Nationalismus, Staatlichkeit oder Unabhängigkeit, sondern als Freiheit von Fremdbestimmung definiert wird:
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Liberation is really what I am trying to talk about, and freeing oneself from the need to repeat the past […] I’m trying, here, to move toward some notion of a universalism….it has to be universally accepted that certain democratic freedoms, certain freedoms from domination of one kind or another, freedom from various kinds of exploitations, and so on, are the rights of every human being—which is not the framework of the imperial world in which we live. (Said 1993, 14) Eine solche normative Legitimation gegenhegemonialer Selbstbestimmungsrechte als Dekolonisierungspraxis der imperialen Fremdbestimmung ermöglicht es, Forderungen nach politischer Selbstbestimmung hegemonietheoretisch aufgrund ihrer Bedeutungsoffenheit und Anschlussfähigkeit für demokratische oder emanzipatorische Diskurse als leeren Signifikanten im Laclau-/Mouffeʼschen Sinne zu definieren, dessen Universalitätsanspruch globale Anschlussfähigkeit besitzt. Ganz in diesem Duktus begründet sich nach Cheah (2014) auch das Ideal einer souveränen Menschheit, d.i. »the human capacity for freedom« (224), insbesondere durch das Prinzip der Selbstbestimmung, insofern es die ontologische Basis aller anderen Menschenrechte darstellt. Erst die Ausübung souveräner Staatsgewalt als Resultat des Selbstbestimmungsstrebens kann demzufolge den Schutz der Menschenrechte und ihrer fundamentalen Freiheitsprinzipien institutionalisieren und damit auch garantieren. In this endless oscillation between the self-determination of sovereign humanity as the basis of all human rights and the collective right of peoples to self-determination, what we see is the unfolding of the latter as the concrete actualization of the former qua potentiality. (Ebd., 223) Auch Yuval-Davis (2003 und 2011) stellt eine ähnliche Repräsentationsfunktion des Signifikanten Selbstbestimmung für (globale) Kämpfe um politische und soziale Rechte fest, wobei sie, und damit folgt die Sozialwissenschaftlerin der herrschenden Lehrmeinung des Völkerrechts (s. hierzu etwa Saxer 2010), zwischen einem externen – d.i. die Durchsetzung von Eigenstaatlichkeit einer nationalen Bewegung in einem abgrenzbaren Territorium – und einem überwiegend von nationalen Minderheiten in Anspruch genommenen internen – d.i. die Stärkung kultureller Autonomierechte einer Minderheit innerhalb der Grenzen eines bestehenden Staats – Selbstbestimmungsrecht (Yuval-Davis 2003, 137) unterscheidet. So erscheint der Anwendungsbereich des bedeutungsoffenen Zeicheninhalts des Signifikanten »Selbstbestimmung« für die Interessen und Ziele einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppen, etwa indigenen Bewegungen oder ethnisierten Minderheiten, anschlussfähig. Diese Ausweitung des Selbstbestimmungsrechts markiert einen Bedeutungswandel des Signifikanten, der Selbstbestimmung nicht länger primär entlang nationaler Kategorien ordnet, sondern als eine Art globales Gerechtigkeitsprinzip begreift. »In this way, self-determination is being shifted from a
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Menschenrechte und Antisemitismus
nationalist discourse to become part of a global movement for collective, as well as individual, human rights […].« (Yuval-Davis 2011, 112) Hegemonietheoretisch lässt sich das Prinzip der Selbstbestimmung daher als symbolischer Platzhalter für rechtebasierte Kämpfe insgesamt funktionalisieren, insofern das Selbstbestimmungsstreben von seinem partikularen (d.h. nationalen) Ursprung weitestgehend gelöst und als universaler Ausdruck der Menschenrechte gelesen werden kann. Jedoch ist der Anwendungsbereich des Selbstbestimmungsrechts umstritten (Joas 2015, 270). Die Applikation seiner universalen Standards ist von einer für den Menschenrechtsdiskurs spezifischen Ambivalenz geprägt. Halliday (2003, 62) weist darauf hin, dass vor allem nationalen Selbstbestimmungsbestrebungen ein inhärent widersprüchliches Verhältnis zu dem universalen Charakter der Menschenrechte zugrunde liegen. Denn durch den Bezug auf das Menschenrechtskonvolut wird dem notwendig exkludierenden Anspruch einer partikularen Gruppe – Selbstbestimmungsforderungen verwirklichen sich immer gegen die partikularen Ansprüche anderer Gruppen – universale Geltungswirksamkeit verliehen. Wie lässt sich das Paradox eines universalen Rechts auf partikulare Selbstbestimmung hegemonietheoretisch auflösen? Diese Frage führt zu dem zweiten Punkt des Kapitels, der sich mit Prozessen des Ausschlusses durch die politische Forderung nach Selbstbestimmung beschäftigt. Diesen Zusammenhang, der besonders für die Frage nach antagonistischen Ausschlüssen, d.h. der Konstruktion eines Antagonismus zwischen legitimen palästinensischen und illegitimen jüdischen Selbstbestimmungsrechten (Smith 1998) im Kontext des transnationalen Boykottaktivismus relevant ist, möchte ich mit Blick auf den propalästinensischen Solidaritätsdiskurs näher ausführen. Wird Palästinenser/-innen die Ausübung kollektiver Selbstbestimmungsrechte verweigert, dann ermöglicht der Rekurs auf den demokratischen Horizont gleicher Rechte, die bestehende rechtliche Ungleichbehandlung – Israelis verfügen über nationale Selbstbestimmungsrechte – als einen antagonistischen »equaltiy-related claim« (ebd., 119) zu formulieren. Die normative Pointe, die sich für gegenhegemoniale Selbstbestimmungsbestrebungen ergibt, besteht nun darin, dass die kollektive Aneignung des Rechts auf Selbstbestimmung nach Laclau und Mouffe nur in solchen Fällen legitim erscheint, wenn durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts keine neuen Ungleichheiten für machtlose Gruppen hervorgebracht werden, worauf Smith (1998) aufmerksam macht: »Laclau and Mouffe would not extend autonomy rights, for example, to a dominant group that wanted to trump the equal rights claim of a subordinate group in the name of the preservation of its special way of life.« (119) Für ein relationales Verständnis von Menschenrechtsprotesten und darin eingebetteten Ein- und Ausschlüssen erscheint der Rekurs auf ein legitimes Selbstbestimmungsrecht als Praxis der Dekolonisierung bedeutsam, insofern der Verweis auf das gegenhegemoniale Selbstbestimmungsstreben mit illegitimen Ausschlüssen einhergehen kann. Empirisch lässt sich dann danach fragen,
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
ob sich die Legitimität des Selbstbestimmungsdiskurses der Palästinasolidarität erst durch die Abgrenzung von israelischen Selbstbestimmungsrechten ausbilden kann. Welcher analytische Mehrwert lässt sich nun zusammenfassend durch die poststrukturalistische Triangulation einzelner Zugänge der soziologischen Menschenrechtsforschung für die empirische Untersuchung der paradoxen Gleichzeitigkeit antisemitischer Menschenrechtsdiskurse am Fallbeispiel der antiisraelischen BDS-Kampagne festhalten? •
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Eine Konzeptualisierung von Menschenrechten als soziale Fantasien kann psychodynamisch erklären, wieso Subjekte durch Identifikationsangebote von Menschenrechtsdiskursen affiziert werden. Denn als libidinös besetzte Fiktion eines universal geltungswirksamen Korpus von scheinbar objektiv vorhandenen, gleichen Rechten verschleiert sie die Kontingenz sozialer Konfliktkonstellationen. Ein soziodiskursives Verständnis der imaginären Begehrensdynamik von Menschenrechtsfantasien ermöglicht es zu rekonstruieren, warum sich Subjekte mit Menschenrechtsprotesten identifizieren und solidarisieren: Durch den sakralisierten Glauben an die irreduzible Würde des Menschen verspricht der emotiv begründete Einsatz für die Rechte Anderer einen affektiven Zugewinn für Subjekte. Die theoretische Annäherung an gegenhegemoniale Selbstbestimmungsrechte eröffnet eine postkoloniale Lesart des Selbstbestimmungsprinzips als normativ legitimierter Idee der antikolonialen Überwindung von Fremdbestimmung.
Der folgende Abschnitt diskutiert Antisemitismen vor dem Hintergrund der hier entwickelten Theorieperspektive.
3.7
Antisemitismen als Stabilisierungsfaktor politischer Diskurse. Eine hegemonietheoretische Perspektive
Wie in Abschnitt 1.3 beschrieben, richtet sich das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf die paradoxe Gleichzeitigkeit von Antisemitismen und Menschenrechtsforderungen im politischen Kampf der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung sowie ihre internationalen Diffusionsmechanismen. Insofern die hier entwickelte Theoriearchitektur eine dynamische Verbindung von Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie vollzieht, um die konkreten Charakteristika des BDS-Diskurses auf diese Weise besser systematisieren zu können, werden in diesem Abschnitt sozialpsychologische (Adorno/Horkheimer 2008; Ostow 1988) und soziologische Ansätze (Holz 2001, 2005 und 2010; Haury
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3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
ob sich die Legitimität des Selbstbestimmungsdiskurses der Palästinasolidarität erst durch die Abgrenzung von israelischen Selbstbestimmungsrechten ausbilden kann. Welcher analytische Mehrwert lässt sich nun zusammenfassend durch die poststrukturalistische Triangulation einzelner Zugänge der soziologischen Menschenrechtsforschung für die empirische Untersuchung der paradoxen Gleichzeitigkeit antisemitischer Menschenrechtsdiskurse am Fallbeispiel der antiisraelischen BDS-Kampagne festhalten? •
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Eine Konzeptualisierung von Menschenrechten als soziale Fantasien kann psychodynamisch erklären, wieso Subjekte durch Identifikationsangebote von Menschenrechtsdiskursen affiziert werden. Denn als libidinös besetzte Fiktion eines universal geltungswirksamen Korpus von scheinbar objektiv vorhandenen, gleichen Rechten verschleiert sie die Kontingenz sozialer Konfliktkonstellationen. Ein soziodiskursives Verständnis der imaginären Begehrensdynamik von Menschenrechtsfantasien ermöglicht es zu rekonstruieren, warum sich Subjekte mit Menschenrechtsprotesten identifizieren und solidarisieren: Durch den sakralisierten Glauben an die irreduzible Würde des Menschen verspricht der emotiv begründete Einsatz für die Rechte Anderer einen affektiven Zugewinn für Subjekte. Die theoretische Annäherung an gegenhegemoniale Selbstbestimmungsrechte eröffnet eine postkoloniale Lesart des Selbstbestimmungsprinzips als normativ legitimierter Idee der antikolonialen Überwindung von Fremdbestimmung.
Der folgende Abschnitt diskutiert Antisemitismen vor dem Hintergrund der hier entwickelten Theorieperspektive.
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Antisemitismen als Stabilisierungsfaktor politischer Diskurse. Eine hegemonietheoretische Perspektive
Wie in Abschnitt 1.3 beschrieben, richtet sich das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit auf die paradoxe Gleichzeitigkeit von Antisemitismen und Menschenrechtsforderungen im politischen Kampf der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung sowie ihre internationalen Diffusionsmechanismen. Insofern die hier entwickelte Theoriearchitektur eine dynamische Verbindung von Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie vollzieht, um die konkreten Charakteristika des BDS-Diskurses auf diese Weise besser systematisieren zu können, werden in diesem Abschnitt sozialpsychologische (Adorno/Horkheimer 2008; Ostow 1988) und soziologische Ansätze (Holz 2001, 2005 und 2010; Haury
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2002) der Antisemitismusforschung hegemonietheoretisch und psychoanalytisch reartikuliert. Auch hieran ist ein doppeltes Ziel geknüpft. Erstens soll durch die Lacan’sche Lesart einzelner sozialpsychologischer und soziologischer Ansätze der Antisemitismusforschung nachvollziehbar werden, welche psychosoziale Begehrensdynamik antisemitischen Affekten zugrunde liegt. Ziel ist es dabei, Antisemitismen auf der soziodiskursiven Ebene als wandelbare, mehrdeutige und anpassungsfähige Fiktionen einer kontingenzverschleiernden Form der manichäischen Weltdeutung dechiffrierbar zu machen. Davon ausgehend, wird zweitens ein dynamisches Verständnis antizionistischer Antisemitismen herausgearbeitet, das die kulturspezifischen Identifikationsangebote antisemitischer Differenzrelationen in konkreten Signifikationsprozessen analysierbar macht. Durch eine relationale Perspektive auf die ideologischen Wahrheitseffekte ambivalenter antisemitischer Diskurse, ihrer inhärenten Machtrelationen und emotiven Anziehungskraft für subjektive Identifikationsprozesse soll im Laufe des Abschnitts sichtbar werden, warum die hier entwickelte theoretische Heuristik zentrale Leerstellen der Antisemitismusforschung, die Antisemitismen entweder als psychologisches »Nebenprodukt« begreift oder auf der Ebene einer bloßen Deskription transformierter antisemitischer »Vorurteile« verharrt, transzendiert. Insgesamt soll der folgende Abschnitt drei zentrale Ergebnisse für die theoretische Diskussion hervorbringen: •
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Die anpassungsfähige Konstruktion des »konzeptionellen Juden« als grauenvolle Dimension der Fantasie kann die Intensität der negativen Gefühle gegenüber dem jüdischen »Anderen« auf einer affektvermittelten Ebene angemessen reflektieren. Paranoische Phantasmagorien antisemitischer Überwältigungs- und Unterwerfungsszenarien plausibilisieren Diskurse, weil ihre wirklichkeitskonstitutiven Narrative und nicht sagbaren Codes politischen Forderungen und Identifikationsangeboten hegemonialer Projekte Halt und Richtung verleihen können. Ein Verständnis der Vielschichtigkeit antizionistischer Antisemitismen ermöglicht es, Differenzkonstruktionen in den Blick zu nehmen, die auf machtvollen Prozessen der Exklusion beruhen und jüdische Identitäten, Positionen und Ansprüche delegitimieren.
Welche ideologische Funktion erfüllen antisemitische Fantasien nun für die Ablösung hegemonialer Ordnungen?
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
3.7.1
Die Bedeutungsfixierung durch soziale Fantasie: Antisemitismen als Vektor politischer Diskurse
»In antisemitic apocalyptic mythology, the secret that is revealed is that it is the Jew who is at fault for the suffering and who must be destroyed. The antisemitic myth is the apocalyptic revelation.« (Ostow 1996, 139) In Abschnitt 3.4.3 wurde gezeigt, dass ein an Lacan angelehntes Konzept sozialer Fantasien erklären kann, warum sich Subjekte für bestimmte Identifikationsangebote hegemonialer Projekte rekrutieren lassen. Ihre subjektive Anziehungskraft und Attraktivität liegt darin begründet, dass sie Ganzheit, Fülle, Sein ohne Mangel versprechen, sobald der externe Feind der Wirgruppe, der Mangel am Allgemeinen, überwunden wird. Dieser Aspekt wurde im letzten Abschnitt mit der glückseligmachenden Dimension der Fantasie nach universalen Menschenrechten als Utopie gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit erläutert. Der folgende Abschnitt möchte daher einen an Lacans poststrukturalistischer Psychoanalyse orientierten, postfundationalistischen Analysezugang zur Untersuchung antisemitischer Diskurse eröffnen, der die dynamische Wandelbarkeit antisemitischer Deutungsmuster und ihre affektiv-emotionale Mobilisierung in kontingenten sozialen Ordnungen dechiffrierbar machen soll. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie die Glaubwürdigkeit des phantasmatischen Begehrens nach Harmonie und Vollkommenheit von dem paranoischen Phantasma antisemitischer Allmachts- und Unterwerfungsfantasien als grauenvolle Narrative hegemonialer Projekte unterstützt werden kann. Darauf aufbauend, möchte ich nun in einem ersten Schritt theoretisch darstellen, wie sich Antisemitismen als diskursabschließende und affektmobilisierende Imaginative in Lacanʼsche Fantasien interpretieren lassen und in einem zweiten Schritt Merkmale judenfeindlicher Fantasien identifizieren, die sich in den imaginären Bereich des Nichtsagbaren einordnen lassen und das Phantasma eines bösartigen jüdischen »Plots« in antisemitischen Diskursen plausibilisieren. Zunächst kann im Anschluss an Žižek konstatiert werden, dass die grauenvolle Dimension der antisemitischen Fantasie des »konzeptuellen Juden« (1996, 1999) einen narrativen Rahmen konstruiert, der den subjektiven Zugang zur Realität strukturiert. Während die glückseligmachende Dimension der Fantasie also das ideologische Versprechen nach Vollkommenheit leitet, die Formation einer geschlossenen Gesellschaft/Identität jedoch eine ontologische Unmöglichkeit darstellt (ontologischer Antagonismus), ist die ideologische Antwort, die diese Utopie verdeckt – in unserem Beispiel ist es die uneingeschränkte Verwirklichung eines gesellschaftlichen Idealzustands, der mit der universalen Garantie der Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und Würde einhergeht –, nun die kontingenzverschleiern-
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de Gestalt des phantasmatischen »Juden«46 . »In the anti-Semitic ideological fantasy, social antagonism is explained away via the reference to the Jew as the secret agent who is stealing social jouissance from us (amassing profits, seducing our women …).« (Žižek 1997, 43)47 Mit anderen Worten liefern antisemitische Phantasmagorien dem Subjekt eine Erklärung dafür, warum die glückseligmachende Dimension noch nicht verwirklicht ist, indem sie das Narrativ einer »fantasy which tells us why it went wrong« (Žižek 1998, 209) erzählen. Der »Jude« verkörpert damit das Scheitern der Vollendung des Gesellschaftskörpers; er ist innerhalb der Ideologie nichts anderes als die Verkörperung der Unmöglichkeit von gesellschaftlicher Harmonie. Damit verlagert die phantasmatische Gestalt des »Juden« den ontologischen Antagonismus der Gesellschaft und projiziert den konstitutiven Mangel von Subjekt und Struktur auf ein Objekt, das als Schuldiger der Blockade ausgemacht wird und das Erreichen des imaginären Objekts des kollektiven Begehrens verhindert. Der »Jude« ist damit für die antisemitische Idee von Gesellschaft notwendig; ohne ihn gäbe es keine Antwort auf die Frage, warum die Welt ist, wie sie ist. Die Antwort wird nicht auf der Ebene der Struktur gesucht, sondern in einem Etwas, das der Struktur fremd gegenübersteht. (Heil 2002/03, 7) In diesem Sinne trifft Žižek die auch für diese Arbeit maßgebliche Unterscheidung zwischen dem phantasmatischen Imaginativ des »konzpetionellen Juden« (1996, 108; 2005, 205ff. und 616ff.) und Jüdinnen und Juden als empirisch handelnden Subjekten. Denn als phantasmatische Bedrohung personifiziert die symbolische Konstruktion des »Juden« in kontingenten Diskurskonstellationen libidinös besetzte Ängste und Hoffnungen, deren fiktive Struktur in ihrer verallgemeinerten Erscheinungsform keinerlei Gemeinsamkeit mit dem empirischen Verhalten
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Um diesen Zusammenhang anschaulicher zu machen, greife ich auf das Beispiel Žižeks über die Funktion des »Juden« in dem völkischen »Rassendiskurs« der Nationalsozialisten zurück. In der Ideologie des NS wurde die Vision einer harmonischen Volksgemeinschaft im Sinne der Formel »ein ›Volk‹, ein Land, ein Staat« als stabilisierte Form eines verwirklichten Phantasmas projiziert. Um gleichzeitig erklären zu können, weshalb die Fantasie einer homogenen und in sich geschlossenen Gemeinschaft notwendig scheitert, muss das Moment des Scheiterns selbst als Teil der Ideologie aufgenommen werden. Die Figur des Juden verkörperte im nationalsozialistischen Diskurs ebendiese strukturelle Unmöglichkeit einer geschlossenen Gesellschaft, indem sie die Konstruktion eines fetischisierten »Juden« als beides: der Möglichkeit wie Unmöglichkeit von Gesellschaft projizierte (Žižek 1996, 107). An anderer Stelle schreibt Žižek in diesem Zusammenhang: »What ›bothers‹ us in the ›other‹ [Jew, Japanese, African, Turk …] is that he appears to entertain a privileged relationship to the object – the other either possesses the object-treasure, having snatched it away from us [which is why we don’t have it], or he poses a threat to our possession of the object […].« (Žižek 1999, 122)
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
tatsächlich lebender Jüdinnen und Juden aufweist (Žižek 1989, 48ff.).48 Vielmehr konstruiert die ideologische Fantasie des Antisemitismus ein Narrativ des »jüdischen«, das auf der imaginären Ebene von Affekten bedeutsam wird und aus einer an Jean-Paul Sartre (1994) geschulten Perspektive als Synthese von Weltanschauung und Leidenschaft zu verstehen ist. Diese emotive Dimension des Antisemitismus49 resultiert in sozialen Fantasien, wie in Abschnitt 3.4.3 beschrieben, aus der Dynamik des Begehrens, d.h. aus der kathektisch-affektiven Identifikation des »Juden« mit dem Objekt des Begehrens einer immer schon verlorenen Jouissance. Demzufolge werden Jüdinnen und Juden in antisemitischen Fantasien nicht nur als »Dieb« der sozialen Jouissance einer von Antagonismen geheilten Gesellschaft konstruiert, sondern in einem verlagernden Akt der Projektion als »Inhaber« von Jouissance, dem vollen Genießen, dem Sein ohne Mangel, imaginiert. Im Anschluss an Lacan lässt sich das affektive Investment in ideologische Vorstellung des »Juden« als »verleugnetes Wunschbild« (Adorno/Horkheimer 2008, 181) interpretieren, das das Begehren in Bewegung setzt (objet petit a) (Stavrakakis 2007, 197f.). Gleichgültig wie die Juden an sich selber beschaffen sein mögen, ihr Bild, als das des Überwundenen, trägt die Züge, denen die totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein muß: des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der
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Nach Žižek korreliert das antisemitische Imago einer jüdischen Weltverschwörung mit der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit der jüdischen Fremdgruppe: Je geringer die Zahl der lebenden Juden, desto größer die Furcht vor ihrer versteckten Einflussnahme: »And the same goes for the figure of the ›conceptual Jew‹: he doesn’t exist [as part of our experience of social reality], yet for that reason I fear him even more – in short, the very non-existence of the Jew in reality functions as the main argument for anti-Semitism.« (Žižek 2013, 225) Jensen und Schüler-Springorum (2013) haben auf die Notwendigkeit hingewiesen, die emotiven Aspekte des Antisemitismus, die Intensität seiner negativen Gefühle, in dynamischer Wechselwirkung mit seinen kognitiven Wahrnehmungsweisen zu untersuchen. Die Dynamik antisemitischer Emotive und ihrer diskursiven Wahrnehmungsweisen wird dabei als kontingent begriffen, insofern sie sich als affektgetragene Erklärungsmuster an historisch wandelbare, soziale, politische oder kulturelle Kontexte anpassen können. Eine an Lacan orientierte Forschung zum Thema Antisemitismus versteht sich in diesem Sinne als sozialkonstruktivistischer und hegemonietheoretischer Zugang, der das dynamische Zusammenspiel von Kognition und Emotion in der antagonistischen Sphäre des Sozialen reflektieren soll. Denn, wie bereits in Kapitel 3.4.3 beschrieben, lassen sich ideologische Operationen, worunter eben auch antisemitische Vorstellungskomplexe zu subsumieren sind, durch eine Lacan’sche Linse betrachtet, nicht auf die Ebene kognitiver Wahrnehmungsweisen beschränken, sondern müssen in ihrer strukturierenden Vermittlung durch Affekte (Jouissance) analysiert werden. In dieser Arbeit wird daher Affekten mit den Konzepten des Jouissance und der Fantasie ein besonderer Stellenwert in (judenfeindlichen) Identifikationsprozessen politischer Diskurse eingeräumt, um die emotive Bedeutung antisemitischer Differenzrelationen in kontingenzbehafteten Deutungskonflikten erklären zu können.
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Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen. (Adorno/Horkheimer 2008, 208f.) In dem affektgenerierten Bedrohungsszenario grauenvoller Fantasien verfügen Juden und Jüdinnen demzufolge in maßloser und grenzenloser Form über die begehrenswerte Jouissance, die sie zugleich den (kollektiv) nach identifikatorischer Geschlossenheit strebenden Subjekten vorenthalten. In dieser obszönen Dimension des Imaginären (Žižek 1998) besitzen Jüdinnen und Juden auch disparate Eigenschaften, die affektgeleitete Gefühle der Wut, der Angst, der Ohnmacht, des Ekels, des Neids, des Hasses, kurzum der Abscheu auslösen (Jensen/Schüler-Springorum 2013), indem sie das »jüdische« Kollektiv etwa als sexuell unersättlich oder körperlich defizitär kennzeichnen (Gilman 1991; Hödl 2005; von Braun 2006), verschwörungstheoretisch mit ungeheuerlicher Macht oder unermesslichem Reichtum ausstatten (Salzborn 2010; Piper 1999) und als grausam, gierig, intrigant und wuchernd überzeichnen (Žižek 2013, 171ff.)50 . Auf der ontischen Ebene kontingenter Diskurskonstellationen rationalisiert und plausibilisiert die imaginäre Bedrohungsinszenierung eines ›Jewish plot‹ (ebd., 99ff.) daher durch das anpassungsfähige Narrativ anonymer »jüdischer« Machenschaften eine simplifizierende Perspektive auf den kontingenzbehafteten Erfahrungshorizont historischer Ereignisse, sozialer Frustrationsprinzipien, mithin der Wahrnehmung der komplexen und von Antagonismen durchzogenen Prozesse der (Post-)Moderne (Rürüp 1975; Fréville/Harms/Karakayali 2010, 194). Im Zentrum des antisemitischen Phantasmas steht dabei die Vorstellung einer dämonischen Wesenhaftigkeit von »Jüdinnen und Juden« als das absolut Böse, das der Realisierung des imaginären Versprechens nach gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit bedrohlich entgegensteht, wodurch antisemitische Imaginative als kontingenzverschleiernde Narrative der grauenvollen Anteile ideologischer Fantasien prädestiniert erscheinen: So gleicht der Jude dem Geist des Bösen. […] Durch ihn kommt das Böse auf die Erde, alles Böse in der Gesellschaft (Krisen, Kriege, Hungersnöte, Umsturz und Aufruhr) geht direkt oder indirekt zu seinen Lasten. Der Antisemit fürchtet sich vor der Erkenntnis, daß die Welt schlecht eingerichtet ist: […]. Deshalb begrenzt er alles Übel der Welt auf den Juden. (Sartre 1994, 27f.) Anders formuliert sind affektgetragene Formen der antisemitischen Sinnvermittlung besonders geeignet, um als diskursabschließende Narrative zu fungieren, weil 50
Die Disparität judenfeindlicher Imaginative, die Vorstellung also, dass Jüdinnen und Juden für Kommunismus und Kapitalismus gleichermaßen verantwortlich sein sollen, folgt der Logik ideologischer Fantasien. Denn eine besondere Eigenschaft phantasmatischer Logiken besteht in ihrer kontradiktorischen Struktur, d.h., sie können widersprüchliche Diskurselemente und Subjektpositionen in eine scheinbar widerspruchsfreie Erzählung integrieren (s. Abschnitt 3.4.3).
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
alle Antagonismen der bedeutungsüberschüssigen Sphäre politischer Konfliktaustragung unter der antisemitischen Prämisse einer Gegnerschaft mit den »Jüdinnen und Juden« interpretiert und in einen vermeintlich plausiblen Zusammenhang gebracht werden können (Benz 2004). Insofern also ein zentrales Moment sozialer Fantasien in der Identifikation eines Objekts der Blockade des Subjekts, hier die Schimäre des »konzeptuellen Juden«, begründet liegt, lässt sich dieses, in unterschiedlichen diskursiven Kontexten aktualisierbare Zusammenspiel von Utopie und antisemitischer Dystopie als Manichäismus begreifen (Sartre 1994, 30). Nach Thomas Haury besteht der Manichäismus aus einem »Zusammenspiel dreier ideologischer Komponenten […]: einer radikalen Zweiteilung der Welt in Gut und Böse, der Stilisierung des Feindes zum existenziell bedrohlichen, wesenhaft Bösen sowie ein[em] eschatologische[n] Grundzug« (2002, 109). Diese bedrohliche Komponente manichäischer Fantasien des Antisemitismus korrespondiert dabei mit der in Kapitel 3.4.3 beschriebenen, grundlegenden Struktur der grauenvollen Dimension von Fantasien, in deren Zentrum Bilder eines omnipotenten und ubiquitären Gegners sowie Vorstellungen einer durch ihn unterdrückten, viktimisierten und machtlosen Opfergruppe stehen. Das dämonisierte Feindbild des »Juden« entwirft demzufolge Fragmente einer dystopischen Auslöschungs- und Unterwerfungsfantasie, die ein bedrohliches Schicksal für die existenziell bedrohte »Wirgruppe« skizziert, wenn der »jüdisch« identifizierte Mangel am imaginären Allgemeinwohl nicht überwunden wird. Ein Verständnis des antisemitischen Manichäismus, der klaren und scheinbar unzweifelhaften Teilung der Welt in »Gut« und »Böse« als Strukturprinzip antisemitischer Vorstellungswelten, enthält also auch zwingend das Versprechen eines zukünftigen eschatologischen Heils. So machen antisemitische Erlösungsverheißungen die Verwirklichung des begehrenswerten Objekts eines »manichäischen Paradies[es]« (Grunberger 1962, 262) von der symbolischen Auslöschung der anthropologisierten Antifiguration des »konzeptuellen Juden« abhängig. »Demnach ist der Antisemitismus ursprünglich ein Manichäismus. Er erklärt den Lauf der Welt durch den Kampf des Guten mit dem Bösen. Zwischen diesen beiden ist kein Ausgleich möglich. Der eine muß siegen, der andere untergehen.« (Sartre 1994, 129) Aus diesem Grund reflektiert die phantasmatische Logik der antisemitischen Sinnvermittlung das dialektische Spiel der Gegensätze, die coincidentia oppositorum (Stavrakakis 1999, 108; Žižek 2013, 232) als zentrale Prämisse ideologischer Fantasien – »Utopia is not that far from dystopia« (Stavrakakis 1999, 108). Um den konzeptionellen Ausgangspunkt der Struktur antisemitischer Fantasien abschließend nochmals zu rekapitulieren, personifiziert die »Jüdin«/der »Jude« in antisemitischen Narrativen all jene antagonistischen Verwerfungen, die das Subjekt durch die Kontingenz der diskursiven Struktur erfährt. Gleichzeitig plausibilisiert die antisemitische Fantasie damit im Umkehrschluss den Glauben an eine (un-)mögliche identifikatorische Ganzheit des Subjekts – wie etwa den Glauben an die unein-
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Menschenrechte und Antisemitismus
geschränkte Verwirklichung universaler Menschenrechte –, sobald der (jüdische) Mangel am Allgemeinen überwunden ist.51 »The elimination of disorder depends then on the elimination of this group.« (Stavrakakis 1999, 101) Von welchen Vorstellungskomplexen wird nun das affektgeleitete Phantasma des antisemitischen Grauens geleitet? Durch welche phantasmatischen Objekte gelingt es antisemitischen Narrativen, Subjekte für die Identifikationsangebote hegemonialer Projekte zu rekrutieren? Nachdem ich bislang Antisemitismen als affektmobilisierende und diskursplausibilisierende Fantasie des »konzeptuellen Juden« reartikuliert habe, möchte ich im nächsten Schritt solche Elemente antisemitischer Phantasmagorien in den Mittelpunkt stellen, die einen Viktimisierungseffekt hervorbringen und sich entlang der Binarität von Macht/Machtlosigkeit einordnen lassen.52
3.7.2
»Jüdische« Allmacht und Weltverschwörung
Warum die Figur der »Jüdin«/des »Juden« das Scheitern einer von Antagonismen befreiten Gesellschaft verkörpert, wird durch Fantasien des antisemitischen Mythos einer »jüdischen Weltverschwörung« gegen die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft rationalisiert und plausibilisiert (Holz 2005, 30; Rensmann 2004, 242). Als narrativer Vektor antisemitischer Diskurse werden Jüdinnen und Juden daher als machtvolle Drahtzieher hinter anonymen gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen, sozialem Wandel und historischen Ereignissen imaginiert, die zentrale Institutionen der Macht wie Finanzwirtschaft, Massenmedien oder Börse verkörpern (Postone 2005, 2011). Vice versa bieten antisemitische Verschwörungsfantasien und Omnipotenzkonstruktionen die Möglichkeit, sich »selbst als Opfer zu sehen und sich vorzustellen, beherrscht und ausgebeutet zu werden« (Messerschmidt 2010, 230). Diese konspirative Entlarvungslogik vermeintlich »jüdischer« Machenschaften« kann in Anlehnung an Lacan als Versuch interpretiert werden, die Blockade des Subjekts, mithin die Kontingenz sozialer Ordnungen, durch die Imagination eines verschwörerischen »jüdischen« Plots zu verschleiern (Žižek 1997, 9; Glynos 2001, 202). Denn Jüdinnen und Juden verfügen mit ihrer unbegrenzten Macht über das Objekt des Begehrens einer sozialen Jouissance, das sie den Subjekten einer als machtlos identifizierten »Wirgruppe« vorenthalten. Als affektgetragene Bedrohungsinszenierung produziert die apokalyptische Schimäre einer jüdischen
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Diese Konzeption hat wesentlich mit dem von Sigmund Freud entwickelten Konzept des Thanatos, dem Todestrieb, zu tun, der das Reale im Lacan’schen Sinne darstellt. Hierzu ausführlich Žižek 1992. Die hier diskutierten Objekte antisemitischer Fantasien sind nicht in einem abschließenden Sinne zu verstehen, sondern wurden – entsprechend der problemorientierten Ausrichtung des Forschungsdesigns (s. Kap. 1) – hinsichtlich des konkreten Gegenstands konzeptualisiert.
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Weltverschwörung (Stavrakakis 1999, 104) daher einen Viktimisierungseffekt, der das Selbstbild eines »nicht jüdischen Opfers« durch das dämonisierte Handeln eines omnipotent imaginierten »jüdischen« Kollektivs herstellt (Rensmann/Schoeps 2010, 24).
3.7.3
Konkrete »Gemeinschaft« und »jüdische Gesellschaft«
Die manichäische Struktur des Zusammenspiels von glückseligmachender und grauenvoller Dimension antisemitischer Fantasien lässt sich insbesondere durch die phantasmatische Antonymie von Gemeinschaft und Gesellschaft interpretieren (Holz 2001 und 2005). Als imaginäres Objekt des Begehrens wird in antisemitischen Fantasien das Konkrete der »Gemeinschaft« einer homogenisierten »Wirgruppe« gegenübergestellt, dessen harmonisches Gemeinschaftsideal dem bedrohlichen Antipoden einer »jüdisch« identifizierten »Gesellschaft« entgegensteht. Das Besondere an der antisemitischen Kollektivkonstruktion ist nun, dass beide, die »Wirgruppe« und die jüdische »Siegruppe«, »als ethnisch-ontologische Kollektive in der Geschichte vorgestellt [werden], die jeweils spezifische Abstrakta […] personifizieren« (Holz 2001, 24). Innerhalb dieses Zusammenspiels der vielfältig kontextualisierbaren Binarität von »Gemeinschaft«/»Gesellschaft« verkörpert die »Gemeinschaft« Abstrakta der Natürlichkeit, Traditionalität und Solidarität, während die jüdische Fremdgruppe für das Nichtidentische, für die Künstlichkeit, die Macht der »Gesellschaft« steht, die auf Zerstörung, Zersetzung und Vernichtung natürlich scheinender Ordnungen abzielt.53 Entscheidend ist hierbei die Verbindung zwischen Antisemitismus und Antimodernismus.54 Demnach konstituiert sich die viktimisierte, ohnmächtige Opfergemeinschaft in Relation zu der Fantasie des künstlichen, anorganischen und abstrakten »jüdischen« Diebs an Jouissance, der die Erfüllung des imaginären Begehrens nach Rückkehr zu einem idealisierten, vergangenen Status quo ante ebenso verhindert, wie er 53
54
Im Umkehrschluss lässt sich der antagonistische Gegensatz zwischen »jüdischer Fremdgruppe« und harmonisierter »Wirgruppe« auch in solchen Differenzkonstruktionen finden, die eine Unvereinbarkeit spezifischer Merkmale einer vermeintlich besonderen Lebensweise von Jüdinnen und Juden mit den Werten der Mehrheitsgesellschaft behaupten. Dabei ließe sich etwa an stereotype Repräsentationen »unheimlicher« und »fremder« religiöser und kultureller Praktiken von Jüdinnen und Juden denken. Holz schreibt über den hier relevanten Begriff des Antimodernismus:»Der Antimodernismus ist eine moderne Ideologie, die sich eine erfundene Vergangenheit als Gegenbild zur Gegenwart und als Heil für die Zukunft erträumt. […] Die Begleiterscheinungen der Moderne […] werden im Antisemitismus als Phänomene verstanden, hinter denen die Juden stecken und durch die ›unsere‹ angeblich traditionalen Lebensweisen zerrütten.« (Holz 2005, 24f.) Unzweifelhaft lassen sich diese Abstrakta moderner Vergesellschaftungsprozesse auch auf die Imaginative des Kolonialismus und Imperialismus beziehen, die als Repräsentation machtasymmetrischer Ungleichheitsbeziehungen im globalen Maßstab wirksam sind.
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Menschenrechte und Antisemitismus
der unmöglichen Erfüllung einer zukünftigen Harmonie und Vollkommenheit entgegensteht: During this imagined golden age, the nation was prosperous and happy, only to be later destroyed by an evil »Other«, someone who deprived the nation of its enjoyment. Typically, nationalist narratives are rooted in the desire of each generation to try and heal this (metaphoric) castration, and give back to the nation its lost full enjoyment. (Glynos/Stavrakakis 2008, 262)
3.7.4
»Jüdische« Amoralität und Grausamkeit
Das Wissen um das »wahre Wesen« der Juden, das durch Bösartigkeit, Unehrlichkeit und Zügellosigkeit definiert wird, kann sich in antisemitischen Diskursen über die Imaginationen »jüdischer« »Amoralität« und »Grausamkeit« artikulieren. Werden Jüdinnen und Juden als besonders grausam oder als dämonische Gegner einer kollektiven Moral imaginiert, stabilisieren diese Erzählungen eines bösartigen »jüdischen Plots« die Mobilisierung für ein spezifisches Gesellschaftsideal, das im Angesicht der affektgeleiteten Bedrohungsinszenierung eines hemmungs- und gewissenlosen »jüdischen Gegners« wirksam wird. Warum Jüdinnen und Juden in antisemitischen Diskursen als »grausam« repräsentiert werden, erklärt sich durch tradierte antisemitische Bedeutungs- und Vorstellungskomplexe, die Jüdinnen und Juden etwa in Form der Ritualmordlegende ein blutlüsterndes Wesen unterstellen. Gemäß dem antijudaistischen Mythos der »Blutbeschuldigung« (von Braun 1999) drückt sich das blutrünstige Wesen des jüdischen Kollektivs durch die Schuldzuweisung eines vermeintlichen rituellen Blutopfers von christlichen Kindern aus. Dieser antisemitische Topos enthält Hirsh (2007, 63ff.) zufolge zwei wesentliche Komponenten, die in unterschiedlichen diskursiven Kontextzusammenhängen aktualisiert werden können. Zum einen soll das jüdische Kollektiv das Blut Unschuldiger vergießen, entweder um spezifische Gruppeninteressen zu verfolgen oder aus einer rein selbstzweckhaften, destruktiven Lustbefriedigung, d.i., in einer Lacanʼschen Lesart, die Vorstellung einer maßlosen Jouissance der subordinierenden Gewalt. Zum anderen reproduziert sich in dem Phantasma »jüdischer Grausamkeit« ein dezidiertes Verschwörungselement. Denn, so die Legende, um das Verbrechen des Blutopfers zu verschleiern, versuchen Jüdinnen und Juden in konspirativer Absicht, ihr Handeln auf manipulative Weise zu verheimlichen. Damit korrespondieren auch Zuschreibungen, die Jüdinnen und Juden mit Eigenschaften eines besonders »amoralischen Wesens« belegen. Das phantasmatische Stereotyp der jüdischen Morallosigkeit reproduziert sich dabei durch das »jüdische« Charaktermerkmal der »Unehrlichkeit«, das als »Jüdinnen« und »Juden« markierten Subjekten eine Mimikry zuschreibt. Im Sinne einer bedeutungsgenerierenden Entlarvungslogik rekurriert der antisemitische Vorwurf einer jüdischen Mimikry
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
auf eine vorgebliche Anpassung der Jüdinnen und Juden an Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft, die jedoch letztlich darauf abzielt, ihre nicht jüdische Umwelt über ihr wahres und unveränderliches, sprich »jüdisches« Wesen zu täuschen. Wird die jüdische Fremdgruppe in phantasmatischen Logiken als unmoralisch und grausam konstruiert, kann das Bedrohungsnarrativ des »konzeptuellen Juden« schließlich auf der affektgesteuerten Ebene des Imaginären eine antisemitische Wahrnehmungsweise auf soziale Kontexte prägen, in denen scharfe Binaritäten durch diese manichäischen Viktimisierungseffekte mit eindeutigen TäterOpfer-Konstellationen hergestellt werden. Nachdem ich nun die antisemitische Ideologie und ihre affektiv-emotionale Mobilisierungsfunktion für hegemoniale Projekte dargestellt habe, versuche ich nun, ein antisemitismustheoretisches Verständnis des Antizionismusmus zu entwickeln, um erklären zu können, wie die Feindbildkonstruktion des »Zionismus« in antisemitischen Diskursen die Funktionsweise eines Hauptsignifikanten für den Feind erfüllen kann.
3.7.5
Der Zionismus als negativer leerer Signifikant: die komplexitätsreduzierende Funktion antisemitischer Diskurse über den Nahostkonflikt
In gewisser Weise nimmt der Staat Israel auf kollektiver Ebene sieben Jahrzehnte nach seiner Gründung dieselbe Rolle des »Anderen« ein, die die Juden jahrtausendelang als Individuen gespielt haben und der die Zionisten eigentlich entkommen wollten. Die »Judenfrage« des neunzehnten Jahrhunderts ist im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert durch die »Israelfrage« ersetzt worden. »Israel« und »Antizionismus« haben die Begriffe »Jude« und »Antisemitismus« als kulturellen Code abgelöst. (Brenner 2016, 22) Das Zitat von Michael Brenner zeigt, wie sich die Identität des phantasmatisch konstruierten »Objekts«, das die Position des »Anderen« einnimmt, in historisch spezifischen Kontexten wandeln und anpassen kann. Diese Beobachtung reflektiert die hegemoniale Meinung der Antisemitismusforschung (Bergmann/Erb 1991; Holz 2001; Rensmann/Schoeps 2008), die nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz (Diner 1988) einen Formwandel antisemitischer Artikulationsweisen konstatiert, der sich aufgrund einer politisch verordneten »Vorurteilsrepression« (Bergmann/Heitmeyer 2005) über antisemitische Kommunikationen im öffentlichen Raum ergibt. Der antizionistische Antisemitismus eröffnet nach Bergmann und Heitmeyer dabei die Möglichkeit, sich »auf Umwegen über die israelische Politik gegen die Juden« (2005, 224) zu richten. Mit Laclau (2007) gesprochen, ist der antizionistische Diskurs Ergebnis einer politischen Aushandlung über die zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren, kontingenten Signifikationen des
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Menschenrechte und Antisemitismus
jüdischen »Anderen«, der sich als phantasmatisches Weltdeutungsschema im Rahmen politischer Praxis an die gegebenen ideologischen Ansprüche anpasst. Damit fügt sich ein solches Verständnis der Kommunikationslatenz (Bergman/Erb 1991) antisemitischer Diskurse in das hier elaborierte theoretische Framework der narrativen Funktionsweise ideologischer Fantasien ein, das davon ausgeht, dass sich Elemente phantasmatischer Narrative dem »public official disclosure« (Glynos/Howarh 2007, 148 [Hervorhebung im Original]) widersetzen. Ich möchte mich in einem nächsten Schritt der Frage widmen, wie in antizionistischen Diskursen antisemitische Fantasien identifiziert und durch den »Zionismus« repräsentiert werden können. Im Zentrum der »linken« »Spielart« (Holz 2005; ähnlich Haury 2002; Postone 1995; Bergmann 2004; Kiefer 2010; Marcus 2015) einer antizionistischen Variation des modernen Antisemitismus steht ein globaler Bezugshorizont zu antirassistischen, antifaschistischen, antiamerikanischen, antikapitalistischen und antiimperialistischen sowie postkolonialen und postmodernen Diskursen, die eine Vielzahl von Subjekten durch die gemeinsame Opposition gegen den als Kolonialgebilde klassifizierten jüdischen Staat Israel rekrutieren können. Dieser globalen Anschlussfähigkeit des antizionistischen Antisemitismus liegt dabei ein simplifizierendes, dichotomes Weltbild zugrunde, das entsprechend einer antiimperialistischen Globalperspektive auf der normativen Konstruktion eines binären Gegensatzes zwischen den als »böse« identifizierten Mächten des (westlichen) Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus sowie den »guten« und »gerechten« Opfern dieser Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnisse (Haury 1992, 128) differenziert. Entscheidend dabei ist, dass es die antisemitische Fantasie einer Kollektivkonzeptualisierung ermöglicht, dass Israel nun als »Jude unter den Staaten« (Poliakov 1992) das grundlegende Böse der globalen Dominanzverhältnisse, den Störfaktor in einer harmonischen Weltgemeinschaft, symbolisiert (Schwarz-Friesel/Reinharz 2013; Wistrich 2010). Zionism is pictured as a criminal conspiracy and its dimensions are global. It is seen as the base from which the West tried to liquidate the Palestinian people, using Israel as its spearhead. […]. Zionism has thereby become the main catharsis for the unleashing of Arab aggression, frustration and hatred against a »satanic evil,« supposedly threatening not only the Palestinians but the whole of humanity. (Wistrich 2004, 12) Kurzum erscheinen der »Zionismus« respektive »Israel« als »kollektiver Jude« (Klug 2003, 120f.), insofern er als Projektionsfläche antisemitischer Stereotype fungiert und auf diese Weise durch die Zuschreibung von Eigenschaften, die in einem antisemitischen Sinne als »jüdisch« gelten, abgewertet werden (Heyder/Iser/Schmidt 2005, 147) kann. Aus einer hegemonietheoretischen Perspektive wirkt der »Zio-
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
nismus«55 daher als symbolische Repräsentation der antisemitischen Fantasie des »konzeptionellen Juden«, die ihm seine bedrohliche Struktur als ein zu überwindendes Hindernis zum Erreichen der (immer schon verlorenen) Jouissance glaubwürdig verleiht.56 Damit sind drei zentrale Bedeutungskomplexe verbunden, die allgemein als analytische Merkmale antisemitischer Deutungsangebote des Israel-PalästinaKonflikts verstanden werden können. Diese Bedeutungsmuster antisemitischer Nahostdiskurse werden im Folgenden im Sinne der hegemonietheoretischen Heuristik reartikuliert und als relationale Formen der machtvollen Ausschließung und Umdeutung jüdischer Perspektiven und Identitäten gelesen. Allerdings sind diese Analysekategorien in der diskursiven Praxis nicht trennscharf zu unterscheiden, sondern befinden sich, wie in der empirischen Auswertung zu zeigen sein wird, in einem dynamischen Beziehungsgeflecht zueinander. Als antizionistische Sinnfixierungen gelten dabei: Delegitimierungen (1) und Dämonisierungen (2) des jüdischen Staats sowie komplexitätsreduzierende Simplifizierungen des Nahostkonflikts (3). Als ersten Bedeutungskomplex antizionistischer Antisemitismen können Sinnzuweisungen der Delegitimierung Israels (Rosenfeld 2018; Gessler 2004; Kloke 2010; Sharansky 2004) definiert werden. Als Delegitimierungen lassen sich Zuschreibungen des jüdischen Staats verstehen, die das Existenzrecht Israels als »jüdische[r] und demokratische[r] Staat in Frage stellen« (Kloke 2010, 195) und das jüdische Recht auf nationale Selbstbestimmung grundsätzlich delegitimieren (Benz 2004, 200-208; Pfahl-Traughber 2007, 51ff.). Dabei werden die Signifikanten »Zionismus« und »Israel« synonym verwendet, wobei »Zionismus« auf die (historische) Idee eines jüdischen Nationalismus Bezug nimmt, während »Israel« das konkrete politische Handeln des jüdischen Staats meint, etwa in Form der Ausübung seiner Souveränitätsrechte, und damit auf die soziale Realität der nationalen Idee eines jüdischen Staats rekurriert (Yakira 2013, 53). Demzufolge können sich Delegitimierungen nicht nur auf die Negation eines legitimen jüdischen Strebens nach nationaler Staatlichkeit, sondern auch auf die staatlich-institutionalisierte Form des Zionismus beziehen, indem etwa die politische Realisierung der zionistischen Idee als »rassistisch« identifiziert wird. Dadurch erscheint das »Jüdische« als partikulare Chiffre für allgemeines Unrecht (Salzborn 2013, 10). Aus einer hegemonie55
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Unter dem Term »Zionismus« versteht die vorliegende Arbeit eine plurale jüdische Nationalbewegung, deren Ziel die Errichtung und Aufrechterhaltung eines jüdischen Staats war, der sich ungefähr auf das Territorium des jetzigen Staats Israel bezieht. Hierzu ausführlich Kapitel 5.1.2. Weshalb der Zionismus eine solche Repräsentationsfunktion erfüllen kann, liegt nach Žižek in der Besonderheit der ideologischen Figur des »Juden« begründet, die sowohl imaginär als auch symbolisch diskursiv wirksam wird: Der »Jude« besetzt gleichermaßen die Position des begehrenswerten Objet petit a und den Hauptsignifikanten für den Feind (2013).
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Menschenrechte und Antisemitismus
theoretisch inspirierten Perspektive lassen sich Prozesse der Delegitimierung als relationale Formen des Ein- und Ausschlusses begreifen, die jüdische Formen der nationalen Identifikation oder der Ausübung nationaler Selbstbestimmungsrechte in das antagonistische Außen des Diskurses verlagern und damit ihre Legitimität negieren. Insbesondere bieten sich auf diese Weise Anknüpfungspunkte für die Untersuchung des Rechtediskurses der BDS-Kampagne, insofern danach gefragt werden kann, wie sich der solidarische Akt der Parteinahme für das Selbstbestimmungsanliegen der Palästinenser/-innen überhaupt erst durch die diskursive Artikulation des »Zionismus« als illegitimen »Anderen« der Menschenrechte konstituieren kann. Die normative und scheinbar unzweifelhafte Unterscheidung zwischen »legitim« und »illegitim« folgt dabei der tradierten antisemitischen Repräsentation von Jüdinnen und Juden als »the other of the universal« (Fine/Spencer 2017, 74). Als zweiten Bedeutungsträger antizionistischer Antisemitismen lassen sich zuletzt Prozesse der diskursiven Dämonisierung (2) des »Zionismus«/»Israels« darstellen. Dämonisierungen reproduzieren eine manichäische Konfliktperspektive, die eine für antisemitische Deutungsangebote typische Unterscheidung zwischen machtvollen »jüdischen« Täter/-innen und viktimisierten palästinensischen »Opfern« treffen (Judaken 2008, 555). Dieser Repräsentationslogik zufolge wird Israel monokausal für Ursprung und Andauern des Konflikts verantwortlich gemacht (Pfahl-Traughber 2007, 51). Entsprechend der poststrukturalistischen Perspektive der Hegemonietheorie zeigt sich durch die Bedeutungsoffenheit des Haupt-FeindSignifikanten als einem antagonistischen Außen des Diskurses, wie Prozesse der Dämonisierung Israels ideologische Wahrheitseffekte produzieren, indem sie eine Vielzahl sozialer Frustrationserfahrungen auf einen Gegner, den »Zionismus/Israel«, projizieren, der als Inbegriff des »Bösen« politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse repräsentiert wird. Mit Laclau und Mouffe verstehe ich diese Indikatoren der antizionistischen Dämonisierung also als Artikulation einer Kette von Feindsignifikanten, die sich über die universale Repräsentation des leeren Signifikanten »Zionismus« zu einer sinnhaften Verknüpfung von Zuschreibungen im Rahmen eines hegemonialen Projekts verbinden können. So wird der jüdische Staat als homogenisiertes und unveränderlich scheinendes Gebilde eines Kolonialregimes betrachtet, das als »powerful aggressor« (Rensmann/Schoeps 2010, 50; ähnlich Hirsh 2007; Holz 2005; Haury 2002; Globisch 2013; Rensmann 2004) auf die imperialistische Zerstörung, Vertreibung und Herrschaft über die unterdrückte palästinensische Opfergemeinschaft abzielt. Daneben stehen solche Feindbildrepräsentationen, die Israel als ultranationalistisches Gebilde mit Signifikationen, wie einem staatlich sanktionierten Rassismus (Kübler/Falter 2010, 456), einer systematischen Apartheidpolitik gegenüber den Palästinenser/-innen, Praktiken der ethnischen Säuberung, Gewaltexzessen oder Genoziden (SchwarzFriesel/Reinharz 2013, 216) in Beziehung setzen, um die besonders enthemmte, destruktive Partikularität des jüdischen Staats diskursiv artikulieren zu können.
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Eine besonders wirksame Form der Dämonisierung des jüdischen Staats stellen dabei Täter-Opfer-Umkehrungen dar, die auf eine Gleichsetzung des israelischen Handelns mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik des Holocausts abzielen (Heyder/Iser/Schmidt 2005, 149). Versuchen hegemoniale Projekte also differenzielle Positionen, Identitäten und Forderungen temporär »stillzustellen«, kann im gesellschaftlichen Kontext des Nahostkonflikts eine solche vorübergehende Sinnfixierung gegenhegemonialer Positionen durch diskursive Mechanismen der Dämonisierung gelingen. Denn die Äquivalenzierung israelischer Politik mit Apartheid- und Kolonisierungspraktiken, Bantustanisierungs- und Ghettoisierungspolitiken oder emotional besetzten Schlagwörtern, wie ethnische Säuberung oder Bevölkerungstransfers, generieren einen subjektiven »sense of solidarity […] because these terms powerfully resonate with modern perceptions of ›evil‹« (Omer 2009, 512). Durch die Einbettung Israels in ein Netz von »negativen« Feindsignifikanten werden die Forderungen nach Solidarität für die partikulare Gruppe der Palästinenser/-innen, wie sie etwa im Zentrum des Menschenrechtsprojekts der BDS-Kampagne stehen, vice versa legitimiert, weil sie auf die Überwindung des konstatierten Mangels am gesellschaftlichen Allgemeinen abzielen. Eng mit den Deutungsmustern der Dämonisierung und Delegitimierung ist drittens die komplexitätsreduzierende Interpretation der politischen, sozialen, kulturellen und historischen Kontextfaktoren sozialer Antagonismen – wie sie sich in meinem Beispiel aus den legitimen Ansprüchen von Palästinenser/-innen und Israelis auf ein umkämpftes Territorium ergeben (hierzu Kap. 5.1) – verbunden. Demzufolge ermöglicht es der entleerte Zeicheninhalt des zionistischen HauptFeind-Signifikanten im diskursiven Kontext des Nahostkonflikts, alle sozialen Frustrationserfahrungen und Marginalisierungen des palästinensischen »Volks« auf den »Zionismus« als Inbegriff des Mangels am Allgemeinen zurückzuführen, ohne dabei auf den realen Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser/-innen Bezug zu nehmen.57 »Rigorously filtering out any facts that may challenge this
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An dieser Stelle zeigt sich ein qualitatives Merkmal, mit dem legitime Israelkritik von antizionistischen Antisemitismen differenziert werden kann. Während ich in Kapitel 2 gezeigt habe, dass sich die hegemonialen Ansätze der Antisemitismusforschung oft mit der deskriptiven Frage auseinandersetzen, wie, wann und ob Israelkritik von antisemitischem Antizionismus differenziert werden kann, liefert die Hegemonietheorie ein Verständnis für antisemitische Antizionismen, mit dem das qualitative des antizionistischen Antisemitismus eruiert werden kann. Demzufolge spricht die vorliegende Arbeit dann von antisemitischem Antizionismus, wenn nicht die konkreten Politiken des jüdischen Staats oder diskriminierende Maßnahmen gegenüber ethnischen Minderheiten in Israel Gegenstand intersubjektiv nachvollziehbarer Kritiken sind, sondern alle sozialen Antagonismen im Nahen Osten auf den »Zionismus« zurückgeführt werden, der sich demzufolge über eine antisemitisch verzerrte Wahrnehmung der realen Konfliktsituation zwischen Israel und den Palästinenser/-innen artikuliert.
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Menschenrechte und Antisemitismus
binary code, such anti-Zionism is part of a manichean perspective that projects domestic fantasies on the complex Middle East conflict.« (Rensmann/Schoeps 2010, 50) Der »Zionismus« erscheint demzufolge als absolut unvereinbares Negativ der protagonistischen Äquivalenzkette – in meinem Fall den als normativ »legitim« bezeichneten Forderungen der Palästinenser/-innen sowie der internationalen Solidarität mit den Palästinenser/-innen –, dessen Wahrnehmung und Bewertung also relativ unabhängig von bestehenden »realen« Phänomenen des israelisch-palästinensischen Antagonismus hervorgebracht wird. Diese verzerrende Darstellung der Konfliktkonstellation folgt einer einseitigen Täter-Opfer-Dichotomie und wird in der Antisemitismusforschung auf die manichäische Konstruktion des jüdischen Staats als omnipotent und übermächtig zurückgeführt, was mit Blick auf die Konstruktion des antagonistischen Außen Israels zuvor als Bedeutungszuweisungen der Dämonisierung bezeichnet wurde (s. 115ff.). Beschreiben also artikulatorische Praktiken der Dämonisierungen abwertende Identifikationen israelischer Politik mit gesellschaftlichen Unrechtsverhältnissen sui generis, beleuchten Simplifizierungen die Differenzbeziehung als solche. Darauf aufbauend, reflektieren Simplifizierungen antizionistische Formen der Grenzziehungen des Diskurses, in deren Folge eine normative Unterscheidung zwischen »gerechten« palästinensischen Forderungen und dem konstitutiv »ungerechten« Handeln des jüdischen Staats getroffen wird. Hinsichtlich der empirischen Untersuchung antizionistischer Antisemitismen ist daher die Frage entscheidend, ob die diskursive Artikulation eines spezifischen Antagonismus zu einer Entkontextualisierung des Nahostkonflikts führt, der in dem machtvollen Ausschluss israelischer Perspektiven, Positionen und Identitäten oder relevanten Kontextfaktoren des israelisch-palästinensischen Konflikts mündet. Welcher analytische Mehrwert lässt sich nun für eine Integration sozialwissenschaftlicher Zugänge der Antisemitismusforschung in die Ontologie der Hegemonie- und Diskurstheorie sowie des psychodynamischen Verständnisses soziodiskursiver Identifikationsprozesse durch soziale Fantasien für die Untersuchung des ambivalenten Menschenrechtsprotests der Palästinasolidaritätsbewegung feststellen? Wie können Antisemitismus und Antizionismus zu einer diskursiven Signifikationspraxis führen, die in hegemonialen Kämpfen um die legitime Wirklichkeitskonstruktion des Nahostkonflikts auf machtvollen Ausschlüssen und Abwertungen jüdischer Identitäten und Positionen beruhen? •
Soziale Fantasien des »konzeptuellen Juden« lassen sich als affektiv anpassungsfähige ideologische Fiktionen interpretieren, deren spezifische Begehrensdynamik obszön überzeichnete – antisemitische – Vorstellungsweisen der sozialen Wirklichkeit hervorbringt und damit die Intensität negativer Gefühle
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
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3.8
des Hasses, der Wut oder Abneigung gegenüber Jüdinnen und Juden erklären kann. Die soziodiskursive Wirksamkeit antisemitischer Affekte kann durch paranoische Phantasmagorien der »jüdischen Allmacht und Weltverschwörung«, »Grausamkeit und Amoralität« und »konkreten Gemeinschaft und jüdischen Gesellschaft« identifiziert werden. Als diskursplausibilisierende Bedrohungsund Unterwerfungsinszenierungen verleiht ihr Manichäismus politischen Forderungen und Identifikationsangeboten hegemonialer Projekte Halt und Richtung. Ein antisemitismuskritisches Verständnis des »Zionismus« als ein bedeutungsoffenes »proxy of all evil« (Omer 2009, 503) ermöglicht es dabei, durch die diskursiven Mechanismen der »Simplifizierung«, »Delegitimierung« und »Dämonisierung« den analytischen Blick auf antisemitische Differenzbeziehungen in kontingenten politischen Diskursen im Kontext des Nahostkonflikts zu richten.
Auf dem Weg zur Operationalisierung: Hegemonie, Fantasie, Menschenrechte und Antisemitismen
Was mit den theoretischen Ausführungen bislang rekapituliert wurde, kann als das theoretische Gerüst der vorliegenden Studie begriffen werden, auf dessen Grundlage die Diskursanalyse in Kapitel 5 durchgeführt wird: »[I]n Heideggerian terms, discourse theory corresponds to the ontological level58 , […] while discourse analysis operates at the ontical level.« (Howarth 2005, 336) Mit anderen Worten fungiert die hier entwickelte Sozial- und Gesellschaftstheorie Laclaus und Mouffes sowie ihre Ergänzung durch eine poststrukturalistische Lesart einzelner Zugänge der soziologischen Menschenrechts- und Antisemitismusforschung als allgemeine Ontologie dieser Arbeit, auf deren Grundlage die Analyse des empirischen Materials (ontisch) im übernächsten Kapitel durchgeführt wird. Diese Übersetzung zwischen den diskurstheoretischen Kontemplationen und ihrer Fruchtbarmachung für die konkrete Empirie resultiert, um den Mehrwert der hier entwickelten poststrukturalistischen Perspektive noch einmal zu wiederholen, aus der Verbindung zwischen dem gesellschafts- und sozialtheoretischen Analyseapparat, der entlang des empirisch beobachteten Gegenstands einer paradoxen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen im politischen Kampf der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung entwickelt wurde. Damit ist der theoretische Zugang auch weniger als ein geschlossenes System, sondern vielmehr als ein dynamisches und anpassungsfähiges Format zu ver58
Für eine Klärung der Begriffe siehe Kapitel 3.2, Fußnote 3.
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3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
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des Hasses, der Wut oder Abneigung gegenüber Jüdinnen und Juden erklären kann. Die soziodiskursive Wirksamkeit antisemitischer Affekte kann durch paranoische Phantasmagorien der »jüdischen Allmacht und Weltverschwörung«, »Grausamkeit und Amoralität« und »konkreten Gemeinschaft und jüdischen Gesellschaft« identifiziert werden. Als diskursplausibilisierende Bedrohungsund Unterwerfungsinszenierungen verleiht ihr Manichäismus politischen Forderungen und Identifikationsangeboten hegemonialer Projekte Halt und Richtung. Ein antisemitismuskritisches Verständnis des »Zionismus« als ein bedeutungsoffenes »proxy of all evil« (Omer 2009, 503) ermöglicht es dabei, durch die diskursiven Mechanismen der »Simplifizierung«, »Delegitimierung« und »Dämonisierung« den analytischen Blick auf antisemitische Differenzbeziehungen in kontingenten politischen Diskursen im Kontext des Nahostkonflikts zu richten.
Auf dem Weg zur Operationalisierung: Hegemonie, Fantasie, Menschenrechte und Antisemitismen
Was mit den theoretischen Ausführungen bislang rekapituliert wurde, kann als das theoretische Gerüst der vorliegenden Studie begriffen werden, auf dessen Grundlage die Diskursanalyse in Kapitel 5 durchgeführt wird: »[I]n Heideggerian terms, discourse theory corresponds to the ontological level58 , […] while discourse analysis operates at the ontical level.« (Howarth 2005, 336) Mit anderen Worten fungiert die hier entwickelte Sozial- und Gesellschaftstheorie Laclaus und Mouffes sowie ihre Ergänzung durch eine poststrukturalistische Lesart einzelner Zugänge der soziologischen Menschenrechts- und Antisemitismusforschung als allgemeine Ontologie dieser Arbeit, auf deren Grundlage die Analyse des empirischen Materials (ontisch) im übernächsten Kapitel durchgeführt wird. Diese Übersetzung zwischen den diskurstheoretischen Kontemplationen und ihrer Fruchtbarmachung für die konkrete Empirie resultiert, um den Mehrwert der hier entwickelten poststrukturalistischen Perspektive noch einmal zu wiederholen, aus der Verbindung zwischen dem gesellschafts- und sozialtheoretischen Analyseapparat, der entlang des empirisch beobachteten Gegenstands einer paradoxen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen im politischen Kampf der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung entwickelt wurde. Damit ist der theoretische Zugang auch weniger als ein geschlossenes System, sondern vielmehr als ein dynamisches und anpassungsfähiges Format zu ver58
Für eine Klärung der Begriffe siehe Kapitel 3.2, Fußnote 3.
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Menschenrechte und Antisemitismus
stehen, mit dessen Hilfe die je spezifischen Merkmale, Veränderungen und Dynamiken empirischer Prozesse – in meinem Fall der ambivalenten Paradoxie antisemitischer Menschenrechtsdiskurse – besser gefasst werden kann. Um ein kohärentes und umfassendes Forschungsprogramm in dieser Arbeit entwickeln zu können, möchte ich die Ergebnisse der bislang elaborierten Überlegungen nun in das integrieren, was die traditionell »positivistische«59 Forschung als »Operationalisierung« bezeichnet, wobei ich mich dabei auf die »Logiken kritischer Erklärung« von Glynos und Howarth (2007) beziehe. Ich gehe davon aus, dass das Laclau-/Mouffe’sche Hegemonieverständnis durch die spezifische Funktionsweise »politischer Logiken« erklärt werden kann, während das Lacan’sche Verständnis von subjektiven Identifikationsprozessen hegemonialer Projekte durch die Wirkungsweise »phantasmatischer Logiken« interpretierbar wird. Die »soziale Logik« zeigt auf, gegen welche sozial sedimentierten Diskurse, anerkannten Vorstellungen und als legitim verstandenen Ordnungen sich der gegenhegemoniale Kampf sozialer Bewegungen richtet. Bevor ich die »Logiken kritischer Erklärung« als »methodologische Ableitungen der Ontologie« (Maeße 2010, 81) der poststrukturalistischen Diskurstheorie konzipiere, möchte ich kurz auf das hier zugrunde liegende Verständnis von »Operationalisierung« eingehen, das sich von einem positivistischen Methodologiebegriff abgrenzt. Denn während die positivistische Forschungspraxis oft mit einem deduktiv-nomologischen Modell wissenschaftlicher Erkenntnis arbeitet (Glynos/Howarth 2007, 20-24), d.h. ausgehend von allgemeingültigen wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten – Universaltheorien – Hypothesen deduziert, die dann am empirischen Material »getestet« und in eine wissenschaftliche Kausalerklärung überführt werden, lehnt die postpositivistische Forschung, wie sie hier verfolgt wird, ein derartiges Wissenschaftsverständnis ab. Ohne zu viel auf den methodologischen Teil dieser Arbeit vorweggreifen zu wollen, folgt aus der radikalen Kontingenz des Sozialen, dass auch wissenschaftliches Wissen kontextual, relational und fragil ist. Wie jede diskursive Praxis ist somit auch das ontologische Gerüst jeder Forschung kontingent (Bedall 2016, 202), sodass der Prozess der Operationalisierung in poststrukturalistischen Forschungspraktiken eine andere Funktion einnimmt. Mit Glynos und Howarth (2007) können die
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Ein positivistisches Wissenschaftsverständnis verfolgt den Anspruch, allgemeine Gesetzmäßigkeiten und wertfreie Aussagen zu generieren. Der Begriff »Postpositivismus« dient als Klammer einer Vielzahl von Theorien, wie dem Poststrukturalismus, dem kritischen Realismus oder dem Neogramscianismus, deren übereinstimmende Gemeinsamkeit in der Ablehnung positivistischer Formen wissenschaftlicher Erkenntnis begründet liegt (Wullweber 2014a, 248f.). Aus einem postpositivistischen Wissenschaftsverständnis heraus ist das Streben nach Objektivität und universalen Erklärungen aufgrund der Deutungsoffenheit des Sozialen unmöglich (Münch 2016, 150).
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
»practices of social scientists themselves« (180) als artikulatorischer Akt der Bedeutungsgenerierung durch die diskursive In-Beziehung-Setzung verschiedenerer theoretischer Elemente und Logiken eines bestimmten Forschungsfelds zu einem singulären und kohärenten Deutungszusammenhang verstanden werden (hierzu ausführlich Abschnitt 4.1.1). Theoretische Modelle fungieren demzufolge weniger als unabhängige Idealtheorie und zeitlose Variable für daran zu überprüfende Hypothesen, sondern als theoretisches Deutungsangebot innerhalb eines spezifischen Untersuchungskontexts. Die Funktionsweise der Methodologie ist es dann, als eine Art »Passung zwischen Theorie und Methode« (Diaz-Bone 2006, Paragraf 6) zu fungieren. Demzufolge bildet die dynamische Triade von Theorie, Methodologie und Methode einen ästhetischen Zusammenhang, in dem die Methodologie als kontextualisierendes Scharnier zwischen Theorie und Empirie wirksam wird. Mit den »Logics of Critical Explanation« entwerfen Glynos und Howarth (2007) ein solches theoretisch-methodologisches Denkgebäude, das als poststrukturalistisches Bindemittel zwischen den hegemonietheoretischen Prämissen und den kontextspezifischen diskursiven Praktiken in dem hier untersuchten Fallbeispiel fungieren kann. Aus diesem Grund möchte ich im Folgenden die hier entwickelte Theorieheuristik nun abschließend in ein theoretisches wie methodologisches Analysekonzept übersetzen, um im übernächsten Kapitel eine plausible Interpretation des empirisch nicht zu erklärenden Gegenstands – dem Menschenrechtsprotest der Palästinasolidaritätsbewegung sowie seine Nähe zu antisemitischen Differenzrelationen – liefern zu können. Wie können die bislang diskutierten ontologischen Annahmen nun als Scharnier zwischen Ontologie und Epistemologie fruchtbar gemacht werden? Die Logiken der kritischen Erklärung basieren auf dem ontologischen Grundgerüst der Laclau-/Mouffeʼschen Diskurs- und Hegemonietheorie, dem Lacan’schen Verständnis sozialer Fantasien, der Saussur’schen Linguistik und dem Dekonstruktivismus Jacques Derridas, die den Ausgangspunkt für die Analyse konkreter Logiken bzw. Funktionsweisen politischer Diskurse bilden. Das ontologische Grundgerüst der Laclau-/Mouffeʼschen Diskurs- und Hegemonietheorie sowie ihre Weiterentwicklung durch einzelne Vertreter/-innen der Essex School of discourse analysis wurde in Kapitel 3 rekonstruiert. Drei zentrale Punkte fassen das gesellschafts- und sozialtheoretische Verständnis der poststrukturalistischen Diskurs- und Hegemonietheorie zusammen. Erstens hat sich als zentraler Ausgangspunkt der postfundationalistischen Epistemologie der Diskurs- und Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes eine radikalkonstruktivistische Kontingenz- und Konfliktperspektive auf gesellschaftliche Ordnung herausgestellt, die an einen Primat des Politischen als ontologischer Grundkategorie der Laclau-/Mouffe’schen Gesellschaftstheorie geknüpft ist. Unter dem Primat des Politischen, so wurde argumentiert, verstehen Laclau und Mouffe dabei, dass gesellschaftliche Ordnungen, legitim anerkannte Normen und
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Menschenrechte und Antisemitismus
verstetigte Handlungen – das ist das sedimentierte Soziale – auf den niemals abschließbaren, permanent verschieb- und anfechtbaren politischen Kampf um die Strukturierung sozialer Räume (Laclau 2007, 36) zurückgeführt werden müssen. Zweitens wurde das Konzept der Hegemonie als wesentliches Element der Laclau-/Mouffe’schen Sozialtheorie vorgestellt. Zentral hierfür war ein Verständnis von Diskursen als Gesamtheit aller sozialer Praktiken, Beziehungen und Ordnungen (das Soziale), in denen durch die In-Beziehung-Setzung von einzelnen Forderungen (Signifikanten) temporalisierte Bedeutungssysteme hergestellt werden. Diese Bedeutungssysteme können dabei nur auf der Grundlage der machtvollen Exklusionen anderer Sinnzuschreibungen fixiert werden, was durch das Schlüsselkonzept des Antagonismus und des leeren Signifikanten in Abschnitt 3.3.3 beschrieben wurde. Auf welche Art und Weise die antagonistische Grenzziehung zwischen einem identitätsstiftenden Innen und einem verworfenen Außen konstituiert wird, d.h., wie über etwas gedacht, welcher Sinn produziert und exkludiert wird, ist dabei das Ergebnis der diskursiven Kämpfe um Hegemonie. Drittens konnte mit dem Konzept der sozialen Fantasie die ideologische Funktionsweise hegemonialer Projekte eingeführt werden. Soziale Fantasien setzen dabei an der Schnittstelle zwischen Hegemonie und Subjekt an, indem sie die subjektive Identifikation mit kulturspezifischen Diskursen durch eine affektive Begehrensdynamik strukturieren. Ich habe gezeigt, dass das ontologische Grundgerüst der poststrukturalistischen Gesellschafts- und Sozialtheorie für die empirische Untersuchung des palästinasolidarischen Netzwerkes dreierlei bedeutet: •
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Erstens setzt die radikale Kontingenzakzeptanz von Gesellschaft das Ringen um gesellschaftliche Deutungshoheit durch die politischen Kämpfe sozialer Bewegungen ins Zentrum der Analyse. Damit wird das Handeln sozialer Bewegungen – wie der BDS-Bewegung –, deren Ziel es ist, gesellschaftliche Ordnungen zu transformieren, aus der dynamischen Relation zu dem kontingenten gesamtgesellschaftlichen Kontext – wie dem Nahostkonflikt – analysierbar. Wenn soziale Realität historisch-kontingent und permanent umkämpft ist, folgt daraus zweitens, dass der machtvolle Deutungskampf um gesellschaftliche Hegemonie, verstanden als instabiles Resultat antagonistischer Positionen, zum zentralen Ausgangspunkt der Analyse sozialer Bewegungen avanciert. Damit richtet sich der Blick auf die machtvolle Aushandlung von Grenzen innerhalb sozialer Bewegungsdiskurse, d.h. ihren Forderungen, widerständigen Praktiken und je spezifischen Formen des Ausschlusses. Drittens folgt aus der Rezeption der Lacan’schen Subjekttheorie ein Verständnis von Protestdiskursen, mit dem die affektive Wirkungsweise kulturspezifischer Identifikationsprozesse sozialer Bewegungsdiskurse fokussiert werden kann.
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
Insgesamt, so wurde in Kapitel 3 argumentiert, liefert die Gesellschafts- und Sozialtheorie Laclaus und Mouffes sowie ihre Ergänzung durch das Lacan’sche Subjektverständnis eine relationale Perspektive auf das dynamische Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen, Machtverhältnissen und affektiven Identitätskonstruktionen, in deren Zentrum Phänomene des Bruchs, der Ambivalenz und Abweichung als Konstituens von Gesellschaft stehen. Für die empirische Analyse folgt daraus, dass der paradoxen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen und ihrer transnationalen Anschlussfähigkeit für weltweit solidarische Palästinadiskurse durch einen theoretischen Zugang begegnet werden kann, der sich auf das Denken in Paradoxien, Differenzen und Vielfältigkeiten als sinnstiftender Einheit der komplexen sozialen Wirklichkeit konzentriert. Ausgehend von der ontologischen Annahme, dass soziale Wirklichkeit Ergebnis antagonistischer Kämpfe um Hegemonie, protegiert von kulturspezifischen subjektiven Identifikationsangeboten, ist, entwickeln Glynos und Howarth (2007) ein formalisiertes Konzept von Logiken. Logiken werden dabei als »rules and grammar of the practice, as well as the conditions which make the practice both possible and vulnerable« (136) klassifiziert. Als basale Erklärungseinheit kann das Konzept der Logik Transformations- oder Reproduktionsprozesse gesellschaftlicher Praktiken und Regime60 (ontische Ebene) unter Berücksichtigung ihrer ontologischen Bedingung erklären. Logics seek to capture the purposes, rules and self-understandings of a practice in a way that is sensitive to key ontological presuppositions. They aim to assist not just in describing or characterizing it, but in capturing the various conditions which make the practice »work« or »tick«, thereby contributing to our understanding of how a practice becomes possible, intelligible and vulnerable. (Glynos 2008, 278) Logiken beschreiben dabei das relationale Set von Subjektpositionen, Objekten, Bedeutungen, Ideen und Institutionen, die in einer bestimmten diskursiven Formation zusammenspielen, als auch Fragen danach, was bestimmte Praktiken und Regime charakterisiert, wie sich diese Praktiken durch politische Kämpfe 60
In Anlehnung an die Hegemonietheorie verstehen Glynos und Howarth (2007) unter dem Begriff der Praktik/des Regimes von Praktiken »discursive entities, in the sense in which Ernesto Laclau and Chantal Mouffe understand the ›discursive‹ nature of all actions, practices and social formations« (109). Der Unterschied zwischen einem Regime und einer Praktik liegt in der »nächsthöheren Organisationsebene« (Mattissek 2011, 267) begründet. Demzufolge produzieren Praktiken Regime, wobei Regime den Kontext für »empirisch beobachtbare[r] Praktiken« (ebd.) darstellen. In den Worten Laclaus können Praktiken auch als Artikulation von Forderungen verstanden werden, die Äquivalenzen herstellt, indem sie antagonistische Grenzen konstruiert (Howarth/Griggs 2012, 318-320). Regimes sind sodann sozial sedimentierte Ordnung von Praktiken, die ein diskursives Feld strukturieren.
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um bestimmte Deutungsmuster etabliert haben, welche Alternativen ausgeschlossen wurden und warum sich Subjekte mit bestimmten Deutungsmustern identifizieren. Aus diesem Grund habe ich in Kapitel 1 auch, ausgehend von dem methodologischen Framework der »Logiken kritischer Erklärung«, drei zentrale Forschungsfragen aufgeworfen, die jede problematisierte Forschungspraxis begleiten und als Scharnier zwischen den theoretischen Konzepten und der konkreten empirischen Praxis gelten. Im Untersuchungsfeld der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung stellen sie sich als »Was, wie und warum«-Fragen des BDS-Diskurses dar, die das empirische und theoretische Erkenntnisinteresse in drei konkrete Fragestellungen übersetzen. Um zu verdeutlichen, was eine konkrete Logik ist, können wir uns die »Logik des Marktes« vor Augen führen. In der »Logik des Marktes« werden »Verkäufer«, »Waren« und »Käufer« konstruiert. Auch wenn sich etwa die »Börse« oder der »Hochschulmarkt« voneinander unterscheiden, gibt es, im Sinne Wittgensteins, »Familienähnlichkeiten« zwischen den einzelnen Märkten, sodass sie als Logiken generalisierbar werden (Glynos/Howart 2007, 136). Über das spezifische Urteil des Forschers können die empirischen Phänomene in Familien gegliedert und als sie beherrschende Logik klassifiziert werden. Glynos und Howarth differenzieren zwischen drei verschiedenen Logiken (hierzu siehe auch Kap. 1), die spezifische Praktiken oder Diskurse dechiffrierbar machen. Soziale Logiken beschreiben die Regeln und Routinen, die bestimmten Praktiken und Regimen zugrunde liegen. Sie sind eng mit dem Begriff des sozial Sedimentieren (siehe Kap. 3.2) bei Laclau und Mouffe verbunden. Demzufolge können sie auch als Offenlegung fest fixierter Sets sozialer Strukturen, legitim anerkannter Ordnungen sowie unhinterfragbarer gesellschaftlicher Normen – d.i. das routinierte und zur »natürlichen« Gewohnheit fixierte Soziale – verstanden werden. Im Sozialen, so hat sich in Abschnitt 3.2 gezeigt, wird die radikale Kontingenz gesellschaftlicher Ordnungen oft »vergessen«; die Vorstellung, dass Alternativen zu den sozial anerkannten Strukturen, Identitäten und gesellschaftlich etablierten Normen existieren, ist im Sozialen kaum präsent, für viele Individuen undenkbar. Mithilfe der sozialen Logiken lassen sich demzufolge einzelne Praktiken in unterschiedlichen Kontexten beschreiben. In Bezug auf das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zielt die theoriegeleitete Charakterisierung der sozialen Logik des Nahostkonflikts darauf ab, zu untersuchen, was die Praktiken und Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts charakterisieren, die von der BDS-Bewegung angegriffen, verändert und sichtbar gemacht werden sollen. Damit übersetzt sich die Laclau-/Mouffe’sche Ontologie, in der das Soziale ein temporalisiertes, relativ fest fixiertes Resultat politischer Kämpfe um Hegemonie darstellt, dessen »politischer« Ursprung in den alternativlos wirkenden stabilen Organisationsprinzipien gesell-
3 Die konzeptuelle Blickverschiebung
schaftlicher Wirklichkeit in den Hintergrund rückt, nun in ein methodologisches Analysewerkzeug, das die empirische Analyse in Kapitel 5 leiten kann. Politische Logiken zeigen die dynamischen Prozesse einer Praktik/eines Regimes auf. Sie beschreiben Situationen, in denen die Kontingenz gesellschaftlicher Strukturen, Ordnungen und Normen sichtbar und unter Berufung auf »neue« Ideale, Leitbilder und Prinzipien anfechtbar und veränderbar werden. Demzufolge sind sie mit dem Begriff des Politischen in der Laclau-/Mouffe’schen Gesellschaftstheorie gleichzusetzen. Über die Rekonstruktion politischer Logiken lässt sich demzufolge aufzeigen, wie bestehende hegemoniale Deutungsmuster unter Berufung auf etwas »Neues« infrage gestellt, herausgefordert und transformiert werden sollen. In Kapitel 3 habe ich argumentiert, dass soziale Bewegungen als Phänomene des Politischen klassifiziert werden können: Ihre symbolischen Kämpfe um Hegemonie stellen für gesellschaftliche Ordnungen, Praktiken und Formationen einen Antagonismus dar. Aus diesem Grund gehe ich davon aus, dass sich das Laclau-/Mouffe’sche Hegemonieverständnis mit dem konzeptionellen Toolkit der politischen Logik bei Glynos und Howarth analysieren lässt. Dieses Hegemonieverständnis wurde im Verlauf des Kapitels durch zwei wesentliche Funktionsweisen charakterisiert. Um gesellschaftliche Ordnungen herauszufordern, zu verändern und »neue« gesellschaftliche Praktiken zu etablieren, müssen hegemoniale Projekte erstens heterogene Forderungen als Äquivalente in Bezug auf ein radikales Außen artikulieren, das als Blockade der einzelnen Forderungen ausgemacht wird. Dieser Mechanismus wurde durch den Schlüsselbegriff des Antagonismus als sozialperformative Wir-sie-Beziehung erklärt. Zweitens bedarf es eines positiven und/oder negativen leeren Signifikanten, der die Äquivalenzkette der Forderungen als solche repräsentiert und hegemonialisiert, weil er das ideologische Versprechen nach gesellschaftlicher Heilung und ihrem Hindernis daran symbolisiert. Insgesamt hat uns Kapitel 3.3 gezeigt, durch welche Operationslogiken (sozialer Antagonismus, leere Signifikanten) hegemoniale Projekte diskursiv konstruiert werden. Entsprechend der problemorientierten Ausrichtung der eigenen Forschungspraxis (s. Kap. 1) habe ich im weiteren Verlauf des Kapitels Ansätze der Menschenrechts- und Antisemitismusforschung ergänzt. Ich habe argumentiert, dass die partikulare Forderung nach einem »Recht auf Selbstbestimmung« als leerer Signifikant im Laclau-/Mouffe’schen Sinne interpretiert werden kann, während der negative leere Signifikant »Zionismus« in kontingenten Diskursen über den Nahostkonflikt aus einer hegemonietheoretischen Perspektive heraus als symbolische Repräsentation eines zu überwindenden Hindernisses (negativen leeren Signifikanten) artikulierbar wird. Im empirischen Teil dieser Arbeit (Kap. 5) wird sich zeigen, wie sich die Forderungen nach unveräußerlichen Rechten des geografisch in Israel, in der Diaspora und in den besetzten Gebieten verteilten palästinensischen »Volks« nur über den Ausschluss israelischer Perspektiven, Rechte und Ansprüche legitimieren lässt
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Menschenrechte und Antisemitismus
(sozialer Antagonismus). Damit der Diskurs hegemonial werden kann, fungiert die Forderung nach einem »Recht auf Selbstbestimmung für das ›palästinensische Volk‹ als leerer Signifikant, der die einzelnen Forderungen nach Rechten über den Sammelpunkt des »Zionismus« als Blockade dieser Rechte in eine äquivalenzlogische Einheit des Diskurses überführt. Auf diese Weise lässt sich das Laclau-/Mouffe’sche Verständnis von Hegemonie präzise in das theoretisch-methodologische Analysewerkzeug politischer Logiken übersetzen, mit der im empirischen Teil dieser Arbeit erklärt werden kann, wie – d.h. durch welche politische Logik – sich die partikularen Forderungen nach Rechten der Palästinenser/-innen hegemonialisieren und welche Stellung antisemitische Differenzkonstruktionen dabei einnehmen. Phantasmatische Logiken zeigen die affektive Funktionsweise hegemonialer Projekte auf. Sie erklären, warum sich Subjekte mit kulturspezifischen Identifikationsangeboten von Diskursen identifizieren – ein Aspekt, der auf das Lacan’sche Konzept von »Jouissance« zurückzuführen ist. »[…] the logic of fantasy, which is predicated on the Lacanian category of enjoyment (jouissance), shows how subjects are rendered complicit in concealing or covering over the radical contingency of social relations.« (Glynos/Howarth 2007, 15) Die Untersuchung phantasmatischer Logiken überträgt das Lacan’sche Reale und die affektive Bindung hegemonialer Projekte demzufolge in ein diskursanalytisches Framework, das rekonstruieren kann, welche Anziehungskraft bestimmte Praktiken und Regime für Subjekte produzieren. Diese Anziehungskraft wird dabei auf die imaginäre Funktionsweise phantasmatischer Logiken zurückgeführt, ein ideologisches Versprechen nach Harmonie und Vollkommenheit gesellschaftlicher Wirklichkeit und individueller Subjektivität zu projizieren. Demzufolge ist sie mit dem Begriff der sozialen Fantasie, wie er in Kapitel 3.4 entwickelt wurde, identisch. Soziale Fantasien wurden in Abschnitt 3.4.3 im Anschluss an das Lacan’sche Subjektverständnis als ideologische Narrative klassifiziert, die hegemoniale Projekte durch affektive Besetzung plausibilisieren und ihnen dabei eine kulturell spezifische Bedeutung des subjektiv Begehrenswerten (Jouissance) zukommen lassen. Als imaginäres Surrogat des unerreichbaren Objekts des Begehrens (objet petit a) liefern soziale Fantasien ein utopisches und sozialontologisch nicht zu verwirklichendes Versprechen dafür, dass eine Welt ohne soziale Konflikte und gesellschaftliche Antagonismen möglich wäre. Aus diesem Grund wirken sie als »Kitt« zwischen Hegemonie, überdeterminierter Struktur und Subjekt, indem sie bestimmte Identifikationsangebote hegemonialer Projekte durch das Versprechen nach einem gesellschaftlichen Zustand von Harmonie und Vollkommenheit protegieren. Das Kapitel hat dabei zwei wesentlich miteinander interferierende Dimensionen sozialer Fantasien vorgestellt, die eine affirmative Zustimmung zu bestehenden Hegemonien erzeugen oder für die Ablösung des hegemonialen Wahrheitshorizonts mobilisieren können. Einerseits, so hat sich dargestellt, verspricht die glückseligmachende Dimension der Fantasie, das sozialontologisch unmöglich zu realisierende Begeh-
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ren nach Harmonie und Vollkommenheit (Glynos/Howarth 2007, 147; Žižek 2013, 232f.) – Jouissance – zu verwirklichen. Andererseits wird die grauenvolle Dimension der Fantasie von der dystopischen Vorstellung einer unheilvollen Katastrophe angetrieben. Entsprechend der irritierenden Ausgangshypothese eines diskursiven Zusammenspiels von Menschenrechtsnarrationen einerseits und antisemitischen Differenzartikulationen andererseits habe ich unter Rückgriff auf sozialphilosophische (Joas 2015), psychoanalytische (Douzinas 2000; Wardle 2016; Salecl 1994) und sozialkonstruktivistische Ansätze der politisch-soziologischen Menschenrechtsforschung ebenso wie unter Bezugnahme sozialpsychologischer (Adorno/Horkheimer 2008; Ostow 1998) und soziologischer Ansätze (Holz 2001 und 2005; Haury 2002) der Antisemitismusforschung eine glückseligmachende Dimension der Fantasie universaler Menschenrechte entwickelt, die der antisemitischen Konstruktion des »konzeptuellen Juden« als grauenvolle Dimension der Fantasie in kontingenten Diskursen über den Nahostkonflikt gegenüberstehen kann. Insgesamt konnte damit aufgezeigt werden, wie das Zusammenspiel von Menschenrechtsfantasien und antisemitischer Imaginationen über den jüdischen »Anderen« bestimmte Affekte hervorrufen, die zu der Identifikation mit bestimmten Deutungsangeboten führen. In dem empirischen Teil dieser Arbeit (Kap. 5) soll gezeigt werden, wie die sakrale Fantasie universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen und ihrer utopischen Moralprinzipien von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit das projizierte Versprechen nach gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit des BDS-Diskurses strukturieren. Im Zusammenspiel mit der grauenvollen Dimension der antisemitischen Fantasie des »konzeptionellen Juden« werden affektvermittelte Gefühle wie »Wut«, »Hass« und »Ekel« produziert, die zu der Mobilisierung für das propalästinensische Protestanliegen führen. Im Ergebnis zeigt das Kapitel, wie das Zusammenspiel von antisemitischer Dystopie und menschenrechtsorientierter Utopie auf der ontischen Ebene des BDS-Diskurses zu einer kontingenzverschleiernden Simplifizierung des Nahostkonflikts führt, die die Attraktivität, Plausibilität und affektive Anziehungskraft des gegenhegemonialen Deutungsangebots der Palästinasolidaritätsbewegung begründet. Auf diese Weise übersetzte sich das Lacan’sche Verständnis sozialer Fantasien in das theoretisch-methodologische Analysewerkzeug phantasmatischer Logiken, mit der die Forschungsfrage, welche affektiv-ideologische Anziehungskraft Antisemitismen und Menschenrechtsnarrative – d.i. die phantasmatische Logik – für die Transnationalisierung des palästinensischen Protestanliegens einnehmen, im empirischen Teil dieser Arbeit erklärt werden kann. Demzufolge kann die Logik der Fantasie als »quasi-transzendentales« (Glynos/Howarth 2007, 154) Konstrukt, das das Ontologische mit dem Ontischen verbindet, verstanden werden. Sie zeigt uns, wie Affekt/Jouissance
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(ontologische Ebene) in bestimmte Fantasien (ontische Ebene) übersetzt werden, um die Kontingenz der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verbergen. In Kapitel 2 (Stand der Forschung) habe ich argumentiert, dass die hegemonialen Ansätze der sozialen Bewegungsforschung, soziologischen Menschenrechtsund Antisemitismusforschung unzureichend sind, um die scheinbar paradoxe Situation eines menschenrechtsorientierten Antisemitismus im transnationalkosmopolitischen Umfeld erklären zu können. Ihnen fehlt es an einem dynamischen Verständnis der Verflechtung des Handelns sozialer Bewegungen mit gesamtgesellschaftlichen Diskursen, einer vielschichtigen Reflexion der Bedeutung von Macht für Entstehung und Praxis sozialer Bewegungen sowie der Kontemplation der wechselseitigen Beziehung von Diskurs und Subjekt. Mit dem hier entwickelten diskurstheoretischen und analytischen Framework werden die einzelnen Forschungslücken durch eine relationale und prozessuale Perspektive auf die dynamischen Verflechtungen von gesellschaftlichen Strukturen, Identitätskonstruktionen, Machtverhältnissen und dem Handeln sozialer Bewegungen transzendiert. Damit kann die eingangs zitierte »paradoxe Situation« menschenrechtsorientierter Antisemitismen sowohl theoretisch als auch empirisch aufgelöst werden.
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie
Wie in Kapitel 1 beschrieben, positioniert sich die vorliegende Arbeit im Feld der modernen politischen Soziologie, die seit den 1980er-Jahren von poststrukturalistischen Perspektiven angeregt wurde. Poststrukturalistische Forschungsperspektiven wurden in der Vergangenheit oft mit den Vorwürfen eines methodischen Defizits konfrontiert (Milliken 1999; Yanow/Schwartz-Shea 2006). Gerade empirischen Studien, die auf der hegemonietheoretischen Diskurstheorie Laclaus und Mouffes aufbauen, wurde erstens vorgehalten, methodologische Fragen nur unzureichend zu reflektieren (Torfing 2005; Glasze 2008; Nonhoff 2007; Bedall 2014), d.h., die forschungspragmatischen Überlegungen, konkreten Entscheidungen und normativen Setzungen kaum zu explizieren und zweitens selten über eine angemessene Form der Operationalisierung zu verfügen. Torfing (2005) fordert die Diskurswissenschaft daher auf, sich mehr auf methodologische und methodische Fragen zu konzentrieren. Dieser Aufforderung wurde vor allem in der englischsprachigen Literatur seit Ende der 2000er-Jahre von zentralen Vertreter/-innen der Essex School (Glynos/Howarth 2007; Howarth/Torfing 2005; Howarth 2005; Martilla 2015) Rechnung getragen. Seitdem existiert eine Fülle postpositivistischer, -strukturalistischer und konstruktivistischer methodologischer Überlegungen, Diskussionen und anerkannter Forschungspraktiken. In jüngster Zeit ist vor allem der Band von Martilla (2015) als systematischer Operationalisierungsversuch postfundationalistischer Theorien erschienen. Mittlerweile sind auch im deutschsprachigen Raum einige Arbeiten sichtbar, die den eindrucksvollen Beitrag, den etwa Glynos und Howarth (2005) für die Operationalisierung der Laclau-/Mouffeʼschen Diskurstheorie geleistet haben, als solide Grundlage für die eigenen praktischen Forschungsstrategien anwenden (hier vor allem Methmann 2014, Bedall 2014, Krüger 2015 und Wullweber 2010). Wie bereits im letzten Abschnitt durch die poststrukturalistische Operationalisierung der Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes dargestellt, basiert die vorliegende Arbeit auf dem theoretisch-methodologischen Denkgebäude der »Logiken kritischer Erklärung« von Glynos und Howarth, das zwischen der hier entwickelten Theorieheuristik und dem zu untersuchenden Fallbeispiel der Dis-
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Menschenrechte und Antisemitismus
kursproduktion der BDS-Bewegung vermittelt. Dementsprechend möchte auch diese Arbeit einen Beitrag zu der Weiterentwicklung postpositivistischer Ansätze im deutschsprachigen Forschungskontext leisten und gleichzeitig die eigenen forschungspragmatischen Entscheidungen und methodischen Vorgehensweisen offenlegen, um dem methodischen Defizit zu entgegnen. Zu diesem Zweck greife ich die Diskussion über poststrukturalistische Forschung und Methodologien im ersten Abschnitt dieses Kapitels auf und stelle dar, warum Plausibilität statt Objektivität das zentrale Kriterium postpositivistischer Wissenschaft abbildet. Daran anschließend diskutiert der zweite Abschnitt (4.1.2-4.3) Plausibilitätskriterien des hier verwendeten Forschungsdesigns. In diesem Teil wird sich insbesondere der methodischen Operationalisierung der eigenen Forschungspraxis gewidmet.1
4.1
Plausibilität als Objektivität: poststrukturalistische Forschung und Methodologie
Wie bereits in Abschnitt 3.8 angeschnitten, gehen postpositivistische, konstruktivistische und poststrukturalistische Methodologien davon aus, dass jeder Forschungsgegenstand das Produkt theoretisch informierter Begriffe und Deutungsmuster sowie normativer Setzungen ist, durch die empirische Phänomene wahrgenommen und konstruiert werden (Howarth 2005). Demzufolge verwerfen postpositivistische Wissenschaftsperspektiven die Vorstellung wissenschaftlicher Erklärungen als kausaler Abbildung zwischen sozialer Objektivität und wissenschaftlichem Ergebnis und setzen an ihre Stelle das Prinzip der Plausibilität. Hiernach ist eine wissenschaftliche Erklärung dann berechtigt, wenn sie für einen bestimmten empirischen Sachverhalt plausibel erscheint. Die Plausibilität wird dabei durch zwei Kriterien hergestellt: erstens durch die Konsistenz zwischen gewählter Theorie, Methodologie und Methode; zweitens durch die Kompatibilität des eigenen Forschungsdesigns mit den Bewertungskriterien eines jeweils bestehenden Wissenschaftsfeldes (Nonhoff 2011). Diese beiden Punkte werden in den folgenden Abschnitten nacheinander dargestellt und hinsichtlich des eigenen Vorgehens diskutiert.
1
In meiner Argumentation und dem daraus folgenden Aufbau des Kapitels folge ich wesentlich Chris Methmann (2014), der die Methodologie von Glynos und Howarth eindrucksvoll mit methodischen Ableitungen verbindet, wobei hier andere Methoden für die Erklärung des kontingenten Phänomens Antisemitismen und Menschenrechtsnarrationen am Beispiel des BDS-Diskurses gewählt werden.
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kursproduktion der BDS-Bewegung vermittelt. Dementsprechend möchte auch diese Arbeit einen Beitrag zu der Weiterentwicklung postpositivistischer Ansätze im deutschsprachigen Forschungskontext leisten und gleichzeitig die eigenen forschungspragmatischen Entscheidungen und methodischen Vorgehensweisen offenlegen, um dem methodischen Defizit zu entgegnen. Zu diesem Zweck greife ich die Diskussion über poststrukturalistische Forschung und Methodologien im ersten Abschnitt dieses Kapitels auf und stelle dar, warum Plausibilität statt Objektivität das zentrale Kriterium postpositivistischer Wissenschaft abbildet. Daran anschließend diskutiert der zweite Abschnitt (4.1.2-4.3) Plausibilitätskriterien des hier verwendeten Forschungsdesigns. In diesem Teil wird sich insbesondere der methodischen Operationalisierung der eigenen Forschungspraxis gewidmet.1
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Plausibilität als Objektivität: poststrukturalistische Forschung und Methodologie
Wie bereits in Abschnitt 3.8 angeschnitten, gehen postpositivistische, konstruktivistische und poststrukturalistische Methodologien davon aus, dass jeder Forschungsgegenstand das Produkt theoretisch informierter Begriffe und Deutungsmuster sowie normativer Setzungen ist, durch die empirische Phänomene wahrgenommen und konstruiert werden (Howarth 2005). Demzufolge verwerfen postpositivistische Wissenschaftsperspektiven die Vorstellung wissenschaftlicher Erklärungen als kausaler Abbildung zwischen sozialer Objektivität und wissenschaftlichem Ergebnis und setzen an ihre Stelle das Prinzip der Plausibilität. Hiernach ist eine wissenschaftliche Erklärung dann berechtigt, wenn sie für einen bestimmten empirischen Sachverhalt plausibel erscheint. Die Plausibilität wird dabei durch zwei Kriterien hergestellt: erstens durch die Konsistenz zwischen gewählter Theorie, Methodologie und Methode; zweitens durch die Kompatibilität des eigenen Forschungsdesigns mit den Bewertungskriterien eines jeweils bestehenden Wissenschaftsfeldes (Nonhoff 2011). Diese beiden Punkte werden in den folgenden Abschnitten nacheinander dargestellt und hinsichtlich des eigenen Vorgehens diskutiert.
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In meiner Argumentation und dem daraus folgenden Aufbau des Kapitels folge ich wesentlich Chris Methmann (2014), der die Methodologie von Glynos und Howarth eindrucksvoll mit methodischen Ableitungen verbindet, wobei hier andere Methoden für die Erklärung des kontingenten Phänomens Antisemitismen und Menschenrechtsnarrationen am Beispiel des BDS-Diskurses gewählt werden.
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie
4.1.1
Die retroduktive Erklärung als Prinzip poststrukturalistischer Erkenntnisgenerierung
Im folgenden Abschnitt wird der retroduktive Zirkel als epistemologischer Erkenntnisprozess dargestellt, der die Konsistenz von Theorie, Methodologie und Methode in dieser Arbeit generiert und damit das erste Plausibilitätskriterium in postpositivistischen Forschungspraktiken darstellt. Nach Glynos und Howarth (2007) steht im Zentrum postpositivistischer Forschung die Konstruktion einer plausiblen Erklärung für ein problematisiertes Phänomen (Glynos et al. 2009). Aus diesem Grund bezeichnen sich poststrukturalistisch inspirierte Forschungspraktiken oft als Typus problemorientierter Forschung (hierzu Kap. 1.2). Ausgangspunkt poststrukturalistischer Forschungsprozesse ist dabei zunächst eine Irritation, d.h. ein erklärungsbedürftiger Zusammenhang, der sich in keinen geltenden Wissenschaftsdiskurs integrieren lässt. Ausgehend von diesem ursprünglichen Irritationsmoment, erfolgt die Problematisierung des Gegenstands, die Konstruktion des Explanandums. Im Weiteren, nicht zwingend chronologischen Forschungsablauf werden Hypothesen gebildet und mögliche Erklärungen (Explanans) gesucht. Der Prozess der Hypothesenbildung ist dabei an Praktiken der Verknüpfung verschiedener theoretischer Konzepte und Logiken geknüpft, die sich als adäquate ontologische Annahmen für den problematisierten Gegenstand darstellen. Die dadurch entstehende Protoerklärung kann dann am Untersuchungsgegenstand getestet und möglicherweise falsifiziert werden. Diese Form der zirkulären Generierung von Erkenntnis wird als Retroduktion bezeichnet. Unter dem Begriff der Retroduktion wird dabei der idealtypische Forschungsprozess als kontinuierliche und zirkuläre Hin- und Herbewegung (Glynos/Howarth 2007, 34) zwischen theoriegeleiteten Erklärungen und empirischen Erscheinungen verstanden. Demzufolge stellt der retroduktive Zirkel als Praxis der In-Beziehung-Setzung von Theorie, Methodologie und Methode die Konsistenz als Plausibilitätskriterium konstruktivistischer Forschungspraktiken her. Ich zeige nun auf, wie sich der retroduktive Prozess in meiner eigenen Forschungspraxis manifestiert hat. Die retroduktive Zirkelbewegung innerhalb meines Forschungsprozesses wurde durch die Beobachtung des hoch ambivalenten Menschenrechtsdiskurses der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung im Diskursfeld des Nahostkonflikts eröffnet, dessen Menschenrechtsforderungen einerseits und antisemitische Grenzziehungsprozesse andererseits den paradigmatisch nicht integrierbaren empirischen Ausgangspunkt als Irritation konstruierte und sodann zur Konstitution des Problems überleitete, das ich in Kapitel 1 dargestellt habe. Darauf aufbauend, habe ich in Kapitel 2 rekonstruiert, warum das von mir problematisierte Phänomen nicht mit den hegemonialen Ansätzen der Bewegungs-, Antisemitismus- und Menschenrechtsforschung erklärt werden
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Menschenrechte und Antisemitismus
kann – d.h., auch einen theoretisch bislang nicht zu erklärenden Gegenstand bildet. Auf der Basis größtmöglicher Offenheit gegenüber der Diskurslogik des empirischen Materials habe ich anschließend erste Hypothesen gebildet, die den palästinensischen Kampf um Menschenrechte als politischen Kampf um Hegemonie lesbar werden ließen. Dieser hypothetische Zugang erschien unter Berücksichtigung poststrukturalistischer Perspektiven, genauer der Diskurs- und Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes in Ergänzung durch den Subjekt- und Begehrensbegriff der Lacan’schen Psychoanalyse, notwendig. Entsprechend habe ich in Kapitel 3 eine immer mit dem fokussierten Gegenstand vermittelte theoretische Heuristik entwickelt, die soziologische Menschenrechts- und Antisemitismustheorien poststrukturalistisch reartikuliert und qua Theorietriangulation in eine umfassende theoretische Heuristik überführt, die in Kapitel 5 anhand der Fallstudie des transnationalen Bewegungsnetzwerkes der TPSB durch empirisches Material bereichert wird. In Kapitel 6 wird das Ergebnis der Studie dann als Protoerklärung für den hier untersuchten Fall der vermeintlichen Paradoxie menschenrechtsorientierter Antisemitismen innerhalb des Diskurses sozialer Bewegungen aufgezeigt. Damit entfaltet sich der hier gewonnene Erkenntnisvorgang retroduktiv im oben entwickelten Sinne und gewährleistet die Konsistenz der verwendeten ontologischen Annahmen, theoretischen Konzepte und methodologischen Ableitungen sowohl zueinander als auch im dynamischen Wechselspiel mit dem konstruierten empirischen Forschungsgegenstand in dieser Arbeit. Gleichzeitig leitet der hier gewählte Typus problemorientierter Forschung den von Reckwitz und Leinius, Vey und Hagemann (s. S. 27) betonten Übergang zwischen Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie ein. Der folgende Abschnitt expliziert das zweite Plausibilitätskriterium der eignen Arbeit, die ich weiter oben als Kompatibilität poststrukturalistischer Forschungsdesigns mit den Bewertungskriterien innerhalb eines jeweils bestehenden, sedimentierten Wissenschaftsfeldes (Nonhoff 2011) definiert habe. Konkret werden dabei die positivistischen Beurteilungskriterien von Validität, Reliabilität und Repräsentativität vor dem Hintergrund eines postpositivistischen Verständnisses reartikuliert. Gleichzeitig widme ich mich dabei der Operationalisierung der Diskursund Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes.
4.1.2
Multiperspektivität als Validität: Triangulation durch Genealogie, Strategemanalyse und die Rekonstruktion narrativer Muster
Im Folgenden schlage ich das Konzept der Triangulation als Validitätsstrategie (Denzin 1970) vor, um Gültigkeit als Kriterium der Qualitätsgüte von Forschungsergebnissen explizit vor dem Hintergrund konstruktivistischer und postmoderner Erkenntnistheorien zu gewährleisten. Der Kerngedanke des Triangulationsprin-
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie
zips liegt darin begründet, durch die Ergänzung einer Zweit- oder Drittmethode den Anspruch auf Objektivität der Forschungsergebnisse gewährleisten zu können. Im Anschluss an Methmann (2014) plädiere ich jedoch für ein Verständnis von Triangulation als Kristallisation (Richardson 2003). Mit dem Begriff der Kristallisation wird dabei ein relationales wissenschaftstheoretisches Verständnis von Forschung stark gemacht, das, je nach Blickwinkel und methodologischer Ausrichtung, unterschiedliche Aspekte des Untersuchungsgegenstandes durch verschiedene Analysestrategien hervorheben kann. Von dieser Grundlage ausgehend, entwerfe ich im Folgenden ein Methodendesign, das drei unterschiedliche Analyseverfahren für die Erklärung des problematisierten Phänomens, »der Paradoxie antisemitischer Menschenrechtsdiskurse«, kristallisiert. Wie bereits in Kapitel 3.6 expliziert, fungiert das methodologische Konzept der »Logiken kritischer Erklärung« von Glynos und Howarth (2007) dabei als methodologisches Scharnier zwischen den theoretischen Zugängen und der konkreten empirischen Praxis. Dementsprechend geht es um die Frage, mit welchen Methoden die soziale, die politische und die phantasmatische Logik von Diskursen rekonstruiert werden können. Ich zeige nun auf, wie durch die Kristallisation dreier unterschiedlicher Analysestrategien die drei zentralen Forschungsfragen in dieser Arbeit beantwortet werden.
4.1.3
Genealogie: die Analyse der sozialen Logik des Nahostkonflikts
Um die erste Forschungsfrage zu beantworten, die sich darauf konzentriert, was die Praktiken und Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts charakterisieren – d.i. die soziale Logik –, die von der TPSB angegriffen werden, wird eine genealogische Betrachtung über die hegemoniale Verfasstheit des Diskurses über den Nahostkonflikt dargestellt (Kap. 5.1 und 5.2). Für Foucault sind Genealogien historisch-praktische Narrative, die der Produktion kontingenter Wissen-Macht-Konfigurationen (Glynos/Howarth 2007) als Geschichte nachspüren. Damit werden Genealogien zur historisch-praktischen Methodologie für die Analyse von Praktiken, Institutionen und Prozessen, die Diskursen und den darin ausgehandelten Wissen-Macht-Komplexen zugrunde liegen. Aus diesem Grund eignet sich die genealogische Perspektive Foucaults für die Analyse sozialer Logiken als Set von Subjektpositionen, Objekten, Ereignissen, Sachlagen und routinierten Praktiken, die einen hegemonialen Diskurs – wie den hegemonialen Diskurs über den Nahostkonflikt – strukturieren. Demzufolge können historische Narrative soziale Logik charakterisieren. Insofern Foucault selbst keinen methodischen Vorschlag für die Durchführung genealogischer Diskursanalysen entwickelt hat (Keller 2011, 53), verwende ich den von Jean Carabine (2001) empfohlenen Leitfaden für eine an Foucault orientierte genealogische Herangehensweise.
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Menschenrechte und Antisemitismus
Als Basis der genealogischen Untersuchung der sozialen Logik des israelischpalästinensischen Antagonismus dient dabei die Rekonstruktion von einschlägiger Forschungsliteratur über den Nahostkonflikt. Da die Geschichte des Konflikts sowohl zentrale historische Ereignisse, Lösungskonzepte, Positionen und Ansprüche ebenso wie nationale Identitätskonstruktionen von Israelis und Palästinenser/innen beinhaltete, wurden verschiedene Zugänge von Forschungsliteratur über den Konflikt gewählt, wie beispielsweise Judentums- und Nahostforschung (Brenner 2002 und 2008; Timm 2003) oder Zugänge der Nationalismusforschung (Smith 1995, 2003 und 2010; Neuberger 1985 und 1986; Conforti 2015). Die Auswahl des Datenmaterials schien insofern gerechtfertigt, als soziale Logiken spezifische Sachlagen, Ereignisse und Praktiken erläutern (Howarth 2005, 127), die von der Forschungsliteratur über den Konflikt dargestellt werden. Dabei waren Auflagenhöhe, Zitationshäufigkeit und Expert/-inneneinschätzungen Auswahlkriterien für die Zusammenstellung wissenschaftlicher Schlüsseltexte über den Nahostkonflikt. Ich stelle den Leitfaden für die genealogische Rekonstruktion von Diskursen im Anschluss an Carabine (2001, 281ff.)2 im Folgenden vor und zeige auf, wie ich die Forschungsliteratur dahingehend gelesen habe.
4.1.3.1
Konkrete Analyseschritte
1. Auswahl des Forschungsgegenstandes und Identifikation einschlägiger Quellen Um historisch-praktische Abfolgen des Nahostkonflikts darstellen zu können, wurde die Forschungsliteratur über den Nahostkonflikt zunächst erkundet. Hierbei wurden sowohl Zugänge der jüdischen Studien, der Nahost- und Konfliktforschung sowie der Nationalismusforschung als Quellen herangezogen. Da sich die Darstellung der sozialen Logik des Konflikts vor allem auf den Kontext beziehen soll, der von der BDS-Bewegung gegenhegemonial umgedeutet wird, habe ich mich bei der Lektüre vor allem auf Konfliktereignisse beschränkt, die für den BDS-Diskurs relevant sind. 2. Wiederholtes Lesen Durch wiederholtes Lesen und Vergleichen konnten Ähnlichkeiten in den Erzählungen über die Geschichte des Nahostkonflikts erkannt werden. 3. Zentrale Themen, Kategorien, Objekte des Diskurses identifizieren Anschließend habe ich die zentralen Themen, Ursachen, historischen Ereignisse, Akteure und umkämpften Positionen des Nahostdiskurses identifiziert, was Foucault in der Archäologie des Wissens (1981) als »regularity in dispersion«, das sind bestimmte Regelmäßigkeiten innerhalb von Texten, bezeichnet. 2
Nicht alle von Carabine 2001 vorgeschlagenen Schritte haben sich für meine eigene Vorgehensweise als relevant erwiesen, sodass ich auf ihre Darstellung verzichte.
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie
4. Suche nach Gegendiskursen, dem Nichtgesagten und Widerständigkeiten Als letzten Schritt wurde nach Gegendiskursen gesucht, d.h. nach alternierenden Deutungen des israelisch-palästinensischen Konflikts. Beispielsweise ist der Diskurs über den politischen Status von Westbank, Gaza und Ostjerusalem – als »besetzte« oder »umstrittene« Gebiete – in der Forschungsliteratur umkämpft. In solchen Fällen wurden die gegensätzlichen Positionen beide in die Darstellung des Konflikts aufgenommen. 5. Kontext Davon ausgehend, hat sich zuletzt ein historisches Narrativ über die Diskursformation »Nahost« herausgebildet, das in Abschnitt 5.1 dargestellt wird. In dieser Narration ist die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts als Konflikt um territoriale Ansprüche zu lesen, der mit dem hegemonialen Lösungsansatz eines »Friedens durch zwei Staaten« einhergeht.
4.1.4
Strategemanalyse: die Analyse der politischen Logik des palästinasolidarischen Diskurses
Die zweite Forschungsfrage, wie und ob sich partikulare Forderungen nach Rechten durch Antisemitismen hegemonialisieren – das ist die politische Logik –, wird mit der Methode der Strategemanalyse (Nonhoff 2006, 2007, 2008 und 2014) untersucht. Die Strategemanalyse ist dabei als entscheidendes Scharnier zwischen den hegemonietheoretischen Prämissen Laclaus und Mouffes und ihrer empirischen Umsetzung konzipiert und zielt darauf ab, die politische Funktionslogik von Diskursen, d.h. ihre Orientierung am imaginären Allgemeinen und Konfliktivität (Nonhoff 2007, 181), zu rekonstruieren. Damit eignet sich die Strategemanalyse hervorragend für die Untersuchung der politischen Logik des palästinensischen Solidaritätsdiskurses. Im Zentrum der Strategemanalyse steht ein »bestimmtes Verständnis der hegemonialen Strategie« (ebd.). Unter dem Begriff der Strategie versteht Nonhoff eine spezifische Anordnung von Diskurselementen in einer gegebenen Diskursformation (Nonhoff 2006, 209). Um die Komplexität einer offensiv-hegemonialen Strategie3 rekonstruierbar zu machen, teilt Nonhoff das von Laclau und Mouffe beschriebene Minimalmodell hegemonialer Projekte in ihre »logischen Bestandteile« (Marchart 2013b, 161) auf und bezeichnet ihre verschiedenen Aspekte als »Strategeme«. Die sogenannten Kernstrategeme4 bilden dabei den Ausgangspunkt jeder
3 4
Als offensiv-hegemoniale Strategien bezeichnet Nonhoff die Universalisierungsprojekte politisch-gesellschaftlicher Kräfte, die auf die Ablösung einer etablierten Hegemonie zielen. Im Sinne des retroduktiven Erkenntniszirkels zeigte sich, dass nicht alle Strategeme des Nonhoff’schen Modells für die Analyse des TPSB-Diskurses relevant waren. Demzufolge werden
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Menschenrechte und Antisemitismus
hegemonietheoretischen Diskursanalyse (Marchart 2017, 62). Ich stelle die Strategeme nun nacheinander vor und zeige gleichzeitig auf, wie diese im konkreten Datenmaterial aufgesucht wurden. Kernstrategem I: Die Äquivalenzierung differenter, am Allgemeinen orientierter Forderungen als erstes Strategem bezeichnet die Artikulation einer Reihe von Forderungen und Subjektpositionen und bezeichnet damit die Bildung der protagonistischen Äquivalenzkette in der Terminologie Laclaus und Mouffes. Kernstrategem II: Die antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums als zweites Strategem jeder offensiv-hegemonialen Strategie zeigt, dass sich die unterschiedlichen Forderungen der Äquivalenzkette nur in Kontraritätsrelation zu einer ihr antagonistischen Äquivalenzkette sowie der darin enthaltenden Subjektpositionen ausbilden können, die den Mangel am Allgemeinen symbolisiert und damit die antagonistische Grenze des diskursiven Felds formiert. In der Laclau-/Mouffe’schen Terminologie geht es dabei um die Artikulation einer Kette von Feindsignifikanten. Analyse von Strategem I und II: Um die Artikulation von Forderungen (Strategem I) zu erkennen, habe ich das Material dementsprechend dahingehend befragt, welche Feindsignifikanten und antagonistischen Subjektpositionen in den verschiedenen Texten zu einer Äquivalenzkette artikuliert werden und damit den Mangel am Allgemeinen (Strategem II), der durch die Äquivalenzierung differenter, am Allgemeinen orientierter Forderungen aufgehoben werden soll (Strategem I), konturieren. Ich zeige am Beispiel des BDS-C alls (S.17f.), wie Strategem I und II in dem Diskursmaterial identifiziert wurden: Israel is occupying and colonising Palestinian land (Mangel 1: Israelische Besatzung und Kolonisierung), discriminating against Palestinian citizens of Israel (Mangel 2: israelische Apartheid) and denying Palestinian refugees the right to return to their homes (Mangel III: verweigerte Flüchtlingsrückkehr) […] Mangel 1, Mangel 2, Mangel 3 bilden gemeinsam Strategem II) […] Inspired by the South African anti-apartheid movement, the Palestinian BDS call urges nonviolent pressure on Israel until it complies with international law by meeting three demands: 1. Ending its occupation and colonization of all Arab lands […] (Forderung I: Ende der Besatzung und Kolonisierung) 2. Recognizing the fundamental rights of the Arab-Palestinian citizens of Israel to full equality (Forderung II: Gleichheit für arabische Israelis)
Grundlagen-, ergänzende und sekundär hegemoniale Strategeme hier nicht weiter expliziert.
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie 3. Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN resolution 194 (Forderung III: Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge) (Forderung 1, 2 und 3 bilden gemeinsam Strategem I) (BDS o.D.c)
Kernstrategem III: Die Repräsentation als drittes Strategem jeder offensiv-hegemonialen Strategie erklärt, weshalb eine spezifische Forderung die Funktion des symbolischen Äquivalents des imaginären Allgemeinen oder, in den Worten Laclaus und Mouffes, des leeren Signifikanten übernehmen kann. Kernstrategem IV – Ergänzendes Repräsentationsstrategem: Repräsentation des symbolischen Äquivalents des Mangels am Allgemeinen. Während Martin Nonhoff kein Strategem für einen allumfassenden Knotenpunkt aufseiten der Differenzkette vorsieht, folge ich hier Anja Gebel (2012), die den Mehrwert eines Hauptsignifikanten auf der antagonistischen Äquivalenzkette aufgrund seiner diskursfunktionalen Strukturierung des imaginären Allgemeinen betont und die Nonhoff’sche Strategemanalyse entsprechend durch ein solches Strategem ergänzt.5 Demzufolge wird das Strategem der »Repräsentation des symbolischen Äquivalents des Mangels am Allgemeinen« der Analyse hinzufügt, um ein Verständnis für die spezifische Logik des palästinasolidarischen Hegemonieprojekts zu gewinnen. Analyse von Strategem III und VI: Um die Artikulationspraktiken, die das symbolische Äquivalent des imaginären Allgemeinen (Strategem III) und den Inbegriff des Mangels daran (Strategem VI) charakterisieren, in dem Datenmaterial identifizieren und damit verbundene Diskurselemente rekonstruieren zu können, habe ich im Anschluss an Nonhoff (2006) auf Hinweis auf Begriffe wie »unser« »wir«, »ganz« »gesamt« »Volk« etc. geachtet, die auf die Präsenz von Strategem III hinweisen. Exemplarisch zeigt sich die Manifestation des Strategems III etwa in folgendem Statement des BDS-Calls: We, representatives of Palestinian civil society, call upon international civil society organizations and people of conscience all over the world to impose broad boycotts and implement divestment initiatives against Israel […]. These non-violent punitive measures should be maintained until Israel meets its obligation to recognize the Palestinian people’s inalienable right to self-determination (Strategem III, Recht auf Selbstbestimmung für das palästinensische Volk) and fully complies with the precepts of international law by […] (BDS 2005)
5
Diese Konzeption ist darüber hinaus im Einklang mit der spezifischen Funktionsweise des externen Feinds in populistischen Diskursen bei Žižek.
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Menschenrechte und Antisemitismus
4.1.5
Narrative Muster: die Analyse der phantasmatischen Logik des palästinasolidarischen Diskurses
Um die dritte Forschungsfrage zu beantworten, die nach der affektiv-ideologischen Anziehungskraft von Antisemitismen und Menschenrechtsnarrativen – d.i. die phantasmatische Logik – für die Transnationalisierung des palästinensischen Protestanliegens fragt, werden in Anlehnung an Glynos und Howarth (2007) narrative Muster rekonstruiert. Um den Ausgangspunkt von Kapitel 3.4.3 noch einmal zu rekapitulieren, rekurriert das Konzept der sozialen Fantasie auf die affektive Bindung hegemonialer Projekte, die ein subjektives Begehren beinhalten, welches sich oft dem öffentlichen Denk- und Sagbarkeitsraum entzieht. Die Analyse phantasmatischer Logiken zielt dementsprechend darauf ab, die spezifische Funktion der affektiven Bindung für die Etablierung, Aufrechterhaltung oder Ablösung politischer Diskurse herauszukristallisieren, womit sie sich ideal für die Identifikation von antisemitischen sowie menschenrechtsorientierten Diskursfantasien eignen. Stavrakakis (1999 und 2007) weist in diesem Zusammenhang auf ein Paradox hin: Wenn sich das Lacan’sche Reale der Symbolisierung entzieht, d.h. keine unmittelbare Übereinstimmung mit den phänomenalen Eigenschaften der empirisch beobachtbaren Realität einnehmen (Martilla 2015, 122), wie können dann phantasmatische Elemente in Texten empirisch lokalisiert werden? Gerade für antisemitische Fantasien gilt, wie in Abschnitt 3.7 gezeigt wurde, eine Form der Kommunikationslatenz, die offen antisemitische Diskurse aus dem Bereich des Sagbaren verbannen und damit im Diskursmaterial nicht unmittelbar ersichtlich sind. Glynos und Howarth (2007) schlagen vor, das Lacan’sche Reale als narrative Erzählstruktur zu verstehen, die in ihrer Form diskursiv und in ihrer Struktur affektiv geladen ist. Dabei handelt es sich einerseits um affektive Strukturen, die eine zukünftige Harmonie und Vollkommenheit (fullness to come) versprechen, sobald der Mangel am Allgemeinen überwunden ist – wir nannten diese Funktion die glückseligmachende Dimension der Fantasie. Andererseits um narrative Erzählformen, in deren Zentrum erschreckende Bilder von Viktimisierung und Machtlosigkeit stehen – dieser Aspekt wurde in Abschnitt 3.4.3 mit der grauenvollen Dimension der Fantasie beschrieben. Während die Anzahl und Vielfalt phantasmatischer Logiken auf der ontischen Ebene des Diskurses prinzipiell unendlich ist, ist ihre ontologische Logik immer gleichbleibend. Phantasmatische Logiken können demzufolge als singuläre Logiken konzipiert werden, die sich durch eine Vielzahl von Manifestationen formalisieren lassen und das Ausmaß der subjektiven Bindung an die Fantasie erfassen.
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie
4.1.5.1
Konkrete Analyseschritte
Insofern die Benennung von Fantasien an die kaum artikulierten, »unsichtbaren« Elemente im Diskurs angewiesen ist, ist dieser Schritt einer starken Interpretation des Forschenden ausgesetzt, der nur über kontextuelles sowie theoretisches Hintergrundwissen gelingen kann. Um die phantasmatische Struktur des Diskurses dennoch methodisch kontrolliert herauskristallisieren zu können, habe ich mich auf vier Artikulationsformen bezogen. Erstens habe ich das Datenmaterial dahingehend befragt, in welchem Ausmaß das Erreichen des symbolischen Äquivalents des imaginären Allgemeinen (Strategem III) sowie der Inbegriff des Mangels daran (Strategem VI) mit glückseligmachenden und grauenvollen Konsequenzen im Textmaterial versehen wird. Zentral war dabei die Suche nach Bildern, in denen ein omnipotenter und ubiquitärer Gegner mit Vorstellungen einer durch ihn unterdrückten, viktimisierten und machtlosen Opfergruppe konstruiert wird (Glynos/Howarth 2007), der das imaginative Versprechen eines begehrenswerten Ideals gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit – die unerreichbare Jouissance einer Fullness-to-come – blockiert. In diesem Schritt hat sich beispielsweise die strikte Binarität zwischen einem »zionistisch-imperialistischen« Täterkollektiv auf der einen und einem homogenisierten palästinensischen Opferkollektiv auf der anderen Seite als zentrales Merkmal der phantasmatischen Logik des TPSB-Diskurses herausgebildet. Zweitens wurden transgressive, kontradiktorische und zweckwidrige Diskurselemente als Charakteristikum phantasmatischer Diskurse (Glynos/Howarth 2007) untersucht. In meinem Fallbeispiel sind etwa Widersprüche in Artikulationen sichtbar, die einerseits eine offene, andererseits eine versteckte Ausübung von Gewalt und Terror Israels gegenüber den Palästinenser/-innen diskursivieren. Drittens habe ich auf Artikulationsformen geachtet, in denen die Vorstellungen einer exzessiven Jouissance sowie eines Diebstahls an Jouissance auffindbar sind. Daraus folgt, dass diskursanalytisch solche Artikulationen in den Untersuchungsfokus rücken, die dem Agieren des jüdischen Staats eine Obszönität oder Maßlosigkeit unterstellen, die jenseits einer empirischen Entsprechung liegen. Beispielhaft gelten hierfür die projektiven Bilder eines israelischen Genießens an der Ausübung exzessiver Gewalt gegenüber der palästinensischen Opfergruppe oder einer schrankenlosen Allmacht des jüdischen Staats. Viertens wurden Diskurselemente in den Blick genommen, die eine besonders detaillierte und pittoreske Beschreibung glückseligmachender und grauenvoller Zustände artikulieren – etwa die detaillierte Auflistung israelischer Verbrechen (»genocide«, »slaughtering«, »massacre«) und ihrem Genießen daran (»bloodbath«). Fünftens habe ich die diskursiven Identifikationsangebote für Subjekte aus dem Datenmaterial herauskristallisiert. Da es die subjektive Funktionsweise von Fan-
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Menschenrechte und Antisemitismus
tasien ist, Subjekten diskursive Identifikationsangebote bereitzustellen, die eine ideologische Ganzheit insinuieren und damit gesellschaftliche Antagonismen, Ambiguitäten und Friktion verlagern, habe ich das Datenmaterial dahingehend befragt, inwiefern die narrativen Strukturen an das subjektive Versprechen geknüpft sind, in dem artikulierten Bedeutungshorizont aufzugehen, d.h., alle gesellschaftlichen Antagonismen im Nahen Osten zu nivellieren. Hierfür waren beispielsweise moralische Diskursartikulationen sinngebend. Damit sind Situationen gemeint, die in dem Diskurs als moralisch unerträglich charakterisiert wurden (»jüdische Amoralität«, »Grausamkeit«, »Vernichtungswillen«), zum ethischen Handeln mobilisieren (»moral responsibility to act«, »moral obligation«), die menschliche Würde adressieren oder Gefühle der Dringlichkeit hervorrufen (»we need to act now«).
4.1.5.2
Kodierung in MAXQDA
Die aufgefundenen Forderungen, Mangelsignifikanten, Subjektpositionen und Repräsentationssignifikanten als diskursive Struktur der Analysematerialien (Strategemanalyse) ebenso wie die aufgefundenen phantasmatischen Elemente (Analyse narrativer Muster) wurden anschließend mit dem qualitativen Analysesystem MAXQDA kodiert. Durch die identifizierten Artikulationsketten und phantasmatischen Narrative konnten sodann Konturen des Hegemonieprojekts der TPSB herausgearbeitet werden, d.h. ein analytisches Set von Forderungen (Strategem II und III) und Mängeln (Strategem I und VI) sowie die sie plausibilisierenden Fantasien in ihren einzelnen Varianten.
4.2
Externe Validität durch empirische Fallstudien
Um das Gütekriterium der externen Validität, d.h. den Grad der Verallgemeinerung der untersuchten sozialen Phänomene, auch in qualitativen Forschungsdesigns partiell reproduzieren zu können, plädiere ich in Anlehnung an Flyvbjerg (2006) und Glynos und Howarth (2007) für ein Verständnis von Fallanalysen, deren Mehrwert zwar auch unabhängig von dem Moment ihrer Repräsentativität besteht, begründet gewählte Fallstudien jedoch eine erklärende Funktion haben können, die weit über den Einzelfall hinausreichen. In poststrukturalistischen Forschungsperspektiven rekurriert das Moment der Verallgemeinerung dabei auf eine im retroduktiven Vorgang gewonnene Form von Anschlussfähigkeit für weitere Forschungsansätze, in der die Kombination von empirischen Daten und theoretischen Konzepten eine Grundlage bereitstellt, die über den untersuchten empirischen Einzelfall hinausgehen kann, ohne dabei in eine Übergeneralisierung zu verfallen (ebd., 189).6 Dabei ist es die gewählte Samplingstrategie, die es ermöglicht, 6
In Kapitel 6 komme ich auf diesen Zusammenhang zurück.
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Menschenrechte und Antisemitismus
tasien ist, Subjekten diskursive Identifikationsangebote bereitzustellen, die eine ideologische Ganzheit insinuieren und damit gesellschaftliche Antagonismen, Ambiguitäten und Friktion verlagern, habe ich das Datenmaterial dahingehend befragt, inwiefern die narrativen Strukturen an das subjektive Versprechen geknüpft sind, in dem artikulierten Bedeutungshorizont aufzugehen, d.h., alle gesellschaftlichen Antagonismen im Nahen Osten zu nivellieren. Hierfür waren beispielsweise moralische Diskursartikulationen sinngebend. Damit sind Situationen gemeint, die in dem Diskurs als moralisch unerträglich charakterisiert wurden (»jüdische Amoralität«, »Grausamkeit«, »Vernichtungswillen«), zum ethischen Handeln mobilisieren (»moral responsibility to act«, »moral obligation«), die menschliche Würde adressieren oder Gefühle der Dringlichkeit hervorrufen (»we need to act now«).
4.1.5.2
Kodierung in MAXQDA
Die aufgefundenen Forderungen, Mangelsignifikanten, Subjektpositionen und Repräsentationssignifikanten als diskursive Struktur der Analysematerialien (Strategemanalyse) ebenso wie die aufgefundenen phantasmatischen Elemente (Analyse narrativer Muster) wurden anschließend mit dem qualitativen Analysesystem MAXQDA kodiert. Durch die identifizierten Artikulationsketten und phantasmatischen Narrative konnten sodann Konturen des Hegemonieprojekts der TPSB herausgearbeitet werden, d.h. ein analytisches Set von Forderungen (Strategem II und III) und Mängeln (Strategem I und VI) sowie die sie plausibilisierenden Fantasien in ihren einzelnen Varianten.
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Externe Validität durch empirische Fallstudien
Um das Gütekriterium der externen Validität, d.h. den Grad der Verallgemeinerung der untersuchten sozialen Phänomene, auch in qualitativen Forschungsdesigns partiell reproduzieren zu können, plädiere ich in Anlehnung an Flyvbjerg (2006) und Glynos und Howarth (2007) für ein Verständnis von Fallanalysen, deren Mehrwert zwar auch unabhängig von dem Moment ihrer Repräsentativität besteht, begründet gewählte Fallstudien jedoch eine erklärende Funktion haben können, die weit über den Einzelfall hinausreichen. In poststrukturalistischen Forschungsperspektiven rekurriert das Moment der Verallgemeinerung dabei auf eine im retroduktiven Vorgang gewonnene Form von Anschlussfähigkeit für weitere Forschungsansätze, in der die Kombination von empirischen Daten und theoretischen Konzepten eine Grundlage bereitstellt, die über den untersuchten empirischen Einzelfall hinausgehen kann, ohne dabei in eine Übergeneralisierung zu verfallen (ebd., 189).6 Dabei ist es die gewählte Samplingstrategie, die es ermöglicht, 6
In Kapitel 6 komme ich auf diesen Zusammenhang zurück.
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie
eine Basis für die Anschlussfähigkeit der eigenen Protoerklärung zu gewinnen. Im Folgenden möchte ich die informationsorientierte Samplingstrategie von Fallstudien (Flyvbjerg 2006) als ein solches Kriterium der Generalisierbarkeit für postpositivistische Forschungsdesigns vorstellen.
4.2.1
Fallauswahl
Die vorliegende Arbeit greift auf das informationsbasierte Auswahlverfahren von paradigmatischen und kritischen Fallstudien als Samplingstrategie zurück, um eine Basis für die Repräsentativität der eigenen Protoerklärung im poststrukturalistischen Sinne gewinnen zu können. Nach Flyvbjerg (2006) kommt dem paradigmatischen Fall als Samplingstrategie eine metaphorische Funktion zu, weil er für eine ganze Klasse von Fällen steht.7 Um paradigmatische Fälle der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung bestimmen zu können, wurden insgesamt fünf theoriegeleitete (Rueschemeyer/Mahoney 2003, della Porta 2014) Kriterien entwickelt. Hierzu zählt, in Anlehnung an die Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes, erstens eine kollektiv geteilte Ideologie, d.i. die Überlagerung dreier Relationsstrukturen (hierzu Tab. 1, Datensampling), sowie zweitens die grenzüberschreitende Organisationsform des Netzwerks (d.h. eine Präsens in mindestens zwei verschiedenen Ländern). Diese beiden Merkmale leiteten in einem ersten Schritt die Auswahlkriterien derjenigen Netzwerke/Koalitionen der insgesamt 171 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die den BDS-Call 2005 unterschrieben haben. Drittens habe ich alle Diskurskoalitionen des Palästinaaktivismus ausgeschlossen, die nicht dezidiert der palästinensischen Definitionshoheit zugeordnet werden können. Als sinnvolles Ausschlusskriterium erschien dabei die Fokussierung auf jene Netzwerke, die Mitglieder des Palestinian BDS National Committee (BNC) sind. Als »Palestinian reference point for BDS campaigns in the region and worldwide« (BDS o.D.d) repräsentiert der BNC die palästinensische Zivilgesellschaft und verbindet sie mit ihren globalen Advokat/-innen. Ein weiteres Kriterium war viertens die Wahrung des zivilgesellschaftlichen Charakters der Bewegungen. So wurden Gruppierungen innerhalb des BNC ausgeschlossen, die mit Regierungszentren verbunden sind, mit parteipolitischen Verbänden zusammenhängen oder in der EU als Terrororganisation gelistet sind. Vor allem der letzte Punkt widerspricht dem von der TPSB selbst klassifizierten gewaltfreien Charakter des menschenrechtsorientierten Protests. Insofern ich
7
Das subjektive Moment der Entscheidung im Rahmen der Selektion von paradigmatischen Fallbeispielen kann dabei nicht verleugnet werden kann. Dennoch ist das Sample paradigmatischer Fälle vertretbar, sobald der Zugang für Andere sichtbar und nachvollziehbar gemacht wird (Flyvbjerg 2006).
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Menschenrechte und Antisemitismus
als Datengrundlage Internetseiten der Bewegungsakteure verwende, war ein forschungsheuristisches Kriterium das Vorhandensein einer eigenen Internetseite. Diese Auswahlkriterien haben die Akteure sodann auf insgesamt drei Netzwerke beschränkt. Diese Netzwerke stellen dabei den paradigmatischen Fall für die ganze Klasse des Pro-Palästina-Aktivismus dar, da sie sowohl eine der ersten (Stop the Wall, PACBI) als auch der größten (BDS) Netzwerke in den OPTs seit der zweiten Intifada sind und exemplarisch für den sogenannten Non-violent-grassrootAktivismus, der einem rechtebasierten Ansatz folgt, stehen (Bröning 2011; Schmidt 2012; Ananth 2013; Carter Hallward 2013; Jamjoum 2011). Als kritische Fallbeispiele wurden sie deswegen gesampelt, weil alle drei Netzwerke mindestens einmal auf medialer (Stop the Wall) oder akademischer Ebene (BDS) mit der Reproduktion von antisemitischen Grenzziehungsprozessen konfrontiert wurden. Nach Flyvbjerg (2006) können kritisch gewählte Fallstudien etwa eine strategische Funktion für die Stärkung oder Schwächung einer Protoerklärung besitzen (230). Hierbei übernimmt die Auswahlmethode von »least-likely cases« (am unwahrscheinlichsten) und »most-likely cases« (am wahrscheinlichsten) eine relevante Fallauswahlstrategie. Die drei Solidaritätsnetzwerke wurden dementsprechend als »most-likely case« ausgesucht, weil hier die Vermutung gilt: Wenn es in diesem Fall, bei dem alles dafür spricht, nicht zutrifft, wird es wohl nirgendwo gelten. Die folgende Tabelle zeigt die vorliegende Samplingstrategie überblicksartig.
Gründung, Struktur
Tab. 1a: Datensampling
Die Stop-the-Wall-Kampagne ist eine der ersten und größten Netzwerke in der Westbank seit der zweiten Intifada. Sie wurde 2002 von dem Palestinian Environmental Non-Governmental Organisation Network (PENGON) mit dem Zweck initiiert, den palästinensischen Protest infolge des Baus der israelischen Sperranlage in den Dörfern zu koordinieren. Bis heute fungiert die Kampagne als Bindeglied der Koalition von transnationalen und lokalen NGOs im gewaltfreien Widerstand gegen das Bauvorhaben. Als Koalition verschiedener NGOs und palästinensischer Volkskomitees rotiert der Zuständigkeitsbereich für die Organisation der Kampagne zwischen den einzelnen Mitgliedsorganisationen in regelmäßigen Abständen. Stop the Wall ist BNC-Mitglied und koordiniert die BDS-Kampagne auf nationaler und internationaler Ebene.
Stop the Wall Die BDS-Kampagne wurde von Badil, dem Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights, Stop the Wall und PACBI 2005 initiiert. Als Gründungsmanifest gilt der sogenannte BDS-Call, der von insgesamt 170 palästinensischen Netzwerken, Koalitionen und Organisationen unterzeichnet wurde und die palästinensische Zivilgesellschaft repräsentiert. Nach dem Vorbild der Boykottmaßnahmen im Kampf gegen Apartheid in Südafrika streben die konkreten Aktionsrepertoires der BDS-Bewegung einen Boykott der Sphären Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft an. Die BDS-Kampagne verfügt über eine koordinierende Leitungsebene, das Boycott National Committee (BNC), das als palästinensischer Referenzpunkt für globale Aktionen fungiert. Der BNC setzt sich aus Delegierten von 19, den Call unterzeichnenden Hauptnetzwerken palästinensicher NGOs zusammen (Jamjoum 2011, 141).
BDS
PACBI wurde wesentlich durch die Petition nach einem Ende der EU-Forschungsförderungsmittel für Forschungs-projekte mit israelischen Hochschulen durch die britischen Akademiker/-innen Hilary und Steven Rose inspiriert. 2003 riefen palästinensische Akademiker/-innen in den besetzten Gebieten zu einem Boykott israelischer akademischer Institutionen auf, woraufhin sich die PACBIKampagne 2004 aus einzelnen Interessenverbänden palästinensischer Akademiker/-innen formierte. In ihrem Gründungscall fordert die PACBI-Kampagne Akademiker/-innen der internationalen Gemeinschaft zu einem umfassenden Boykott israelischer Akademien und kulturellen Institutionen auf. PACBI ist aufgrund der Einschränkung der akademischen Freiheit international umstritten. Als BNC-Mitglied ist PACBI für die Organisation, Koordination und Durchführung des akademischen und kulturellen Boykotts der BDS-Bewegung zuständig.
PACBI
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie 145
Forderungsstruktur
Tab. 1b: Datensampling
Stop The Wall fordert das Niederreißen der Mauer und mit ihr des rassistischen, zionistischen Regimes Stop the Wall fordert die Durchsetzung palästinensischer Rechte im Einklang mit dem internationalen Recht und verschiedener UN-Resolutionen wie: dem Ende der Besatzung und Kolonisierung von Westbank und Gaza dem Recht auf Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in ihre Heimstätten dem Ende der rassistischen Diskriminierung und Apartheid gegenüber den palästinensischen Bürger/-innen Israels Stop The Wall fordert die internationale Staatengemeinschaft und Zivilgesellschaft auf, Israel auf allen Ebenen zu boykottieren und sich dem antikolonialen Kampf gegen Rassismus, Kolonialismus und Ausbeutung anzuschließen
Stop the Wall BDS fordert Repräsentant/-innen der Zivilgesellschaft, internationale Organisationen und alle rechtschaffenden Menschen dazu auf, Boykotts und Investitionsentzug gegen Israel durchzusetzen und Druck auf die Staaten auszuüben, Embargos und Sanktionen gegen Israel zu verhängen solange bis Israel den Palästinenser/-innen das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung gewährt und das internationale Recht einhält Israel die Besatzung und Kolonisierung allen arabischen Lands beendet und die Mauer abreißt Israel das Grundrecht der arabischpalästinensischen Bürger/-innen auf Gleichheit anerkennt Israel die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimstätten und ihrem Eigentum zurückzukehren, wie es in UN-Resolution 194 vereinbart wurde, respektiert, schützt und befördert
BDS
PACBI fordert gewissenhafte Akademiker/-innen, Intellektuelle und Kulturschaffende der internationalen Gemeinschaft zu einem umfassenden und konsequenten Boykott des akademischen und kulturellen Sektors des israelischen Regimes so lange auf, bis Israel sein Besatzungs-, Kolonisierungsund Apartheidsystem beendet hat. Hierzu zählt: die Beendigung jeder Form von akademischer oder kultureller Kooperation mit israelischen Institutionen die Durchsetzung eines umfassenden Boykotts israelischer Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene die Förderung palästinensischer akademischer und kultureller Institutionen, ohne auf eine israelische Partnerschaft als Bedingung für die Unterstützung zu beharren
PACBI
146 Menschenrechte und Antisemitismus
Differenzstruktur
Tab. 1c: Datensampling
Stop The Wall sieht den israelischen Sicherheitszaun als integralen Part der zionistischen Besatzung, Kolonisierung und Apartheid integralen Part der rassistischen Ambitionen des Zionismus integralen Part des zionistischen Projekts der Vertreibung und Ghettoisierung der Palästinenser/innen Stop The Wall sieht demzufolge in der Mauer und des damit assoziiere Regimes das Hindernis für die nationalen Bestrebungen und dem Recht der Palästinenser/-innen auf Selbstbestimmung Stop the Wall sieht in der Unterstützung Israels durch den Westen die Voraussetzung des israelischen Projekts der ethnischen Säuberung und Apartheid
Stop the Wall BDS sieht in den anhaltenenden israelischen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht und das System der Menschenrechte ein zentrales Hindernis für die Durchsetzung der Forderungsstruktur BDS sieht in dem Zionismus die rassistische Quelle des israelischen Regimes, wozu die Verweigerung des palästinensischen Rückkehrrechts die militärische Besatzungs- und Kolonisierung der Westbank, Ostjerusalem und Gaza sowie das rassistische System israelischer Rassendiskriminierung und Segregation arabischer Israelis zählt BDS sieht in der internationalen Unterstützung Israels durch den Westen die Voraussetzung des israelischen Kolonisierungs- und Vertreibungsprojekts
BDS
PACBI sieht in dem Zionismus die rassistische Quelle des israelischen Besatzungs-, Kolonisierungs- und Apartheidssystems über die Palästinenser/-innen. PACBI sieht israelische Universitäten als zentrale Stütze der Aufrechterhaltung und Durchsetzung des israelischen Besatzungs-, Kolonial- und Apartheidregimes, weil sie in die Entwicklung von Waffen und Militärsystemen involviert sind die andauernde Kolonisierung palästinensischen Lands legitimieren die ethnische Säuberung des Landes von indigenen Palästinenser/-innen rationalisieren PACBI sieht in israelischen Kulturprodukten Propagandainstrumente des Staates, die das israelische Besatzungs-, Kolonisierungs- und Apartheidsystem weißwaschen und legitimieren.
PACBI
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie 147
148
Menschenrechte und Antisemitismus
4.2.2
Datenauswahl
Wie bereits anfangs erwähnt, wurde die soziale Logik des Diskurses über den Nahostkonflikt durch die Analyse von Forschungsliteratur rekonstruiert. Für die empirische Analyse des BDS-Diskurses wurde ein virtueller Textkorpus (Busse 2001, 53) aus textförmigen Datenformaten (Keller 2011) der zu untersuchenden drei Netzwerke zusammengestellt, die im Sinne der hier angewendeten Samplingstrategie als »paradigmatische Dokumente« eines Bewegungsdiskurses gelten können. Vier zentrale Überlegungen begründen, warum das in den hier gewählten Datenkorpus einfließende Material als paradigmatisch gelten kann und damit eine Basis für die Generalisierung der Ergebnisse liefert. Aus forschungsstrategischen Überlegungen wurden die jeweiligen Internetauftritte als Zugang zu den Diskursbeiträgen der TPSB gewählt. Dem zugrunde lag erstens die Annahme, dass gerade das Internet und damit affiliierte Kommunikationskanäle eine Art materiale Infrastruktur für den transnationalen Aktivismus darstellen (della Porta 2009; Mosca 2010; Stein 2009) und so die globalen Interaktionen zwischen Bewegungsakteur/-innen verdichten. Zweitens kann davon ausgegangen werden, dass die auf den Webauftritten bereitgestellten Dokumente die »organizational ideology« (della Porta 2014, 292), d.h. – in der hegemonietheoretischen Terminologie Laclaus und Mouffes – die Forderungs-, Mangel- und Repräsentationsstruktur als Kernfunktion hegemonialer Diskurse, der Bewegungen abbilden und damit einen geeigneten Ausgangspunkt für die repräsentative Zusammenstellung des Datenkorpus darstellen. Eine dritte forschungspragmatische Entscheidung bezog sich auf die Begrenzung des in den Korpus einfließenden Datenmaterials und damit auf die Frage, welche textförmigen Daten auf den Websites hinreichend repräsentativ sind, um von dem »Menschenrechtsdiskurs« der transnationalen Palästinasolidarität sprechen zu können. Welche Texte können möglichst plausibel und nachvollziehbar ausgewählt werden? Um möglichst programmatische Texte des Bewegungsdiskurses auswählen zu können, habe ich mich auf Dokumente wie Selbstverständniserklärungen, Gründungsaufrufe und Manifeste konzentriert, insofern diese die Funktion erfüllen, gemeinsame Ziele, Motive des Handelns und normative Haltungen pointiert darzustellen (della Porta/Reiter 2006) und demzufolge als »kleinster gemeinsame Nenner einer Bewegungsallianz« (Marchart 2013b, 171) gelten können. Hegemonietheoretisch produzieren gemeinsame Ziele und Problembeschreibungen nach innen die politische Identität der Bewegung. Nach außen sind die Dokumente darauf angelegt, potenzielle Mitstreiter/-innen zu mobilisieren (Rohgalf 2015, 33f.), sodass sie relevante Texte für den Untersuchungskorpus darstellen. Ein viertes Kriterium, das repräsentative von nicht repräsentativen Textmengen differenzierbar macht, liefern die methodologische Verortung des Erkenntnisinteresses der Studie, die gewählten Forschungsfragen sowie die damit einhergehenden Eingrenzungskriterien (Busse 2001). Insofern es in dieser Arbeit nicht
4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie
darum geht, in umfassender Weise zeitlich alle relevanten Texte zu rekonstruieren oder den diskursiven Wandel durch konkrete Diskursereignisse zu analysieren, wurde ein Untersuchungszeitraum zwischen 2005 und 2018 gewählt, der zunächst all jene virtuellen Textdokumente umfasste, die sich auf das als Forschungsgegenstand gewählte Thema der »Menschenrechte« konzentrieren. Diese Einschränkung erscheint plausibel, da sich der thematische »rote Faden« dadurch anzeigte, dass ähnliche Artikulationsformen identifizierbar wurden (ähnlich Nonhoff 2006, 252). Um den konkreten Korpus fünftens zu verkleinern, wählte ich als zentrale Kategorie zur Abgrenzung des Korpus die Sprecherposition (Glasze 2008). Darunter verstehe ich in Anlehnung an Foucault eine institutionell stabilisierte Subjektposition innerhalb der einzelnen Netzwerke, die unabhängig von dem Individuum ist, welches die Position einnimmt. Konkret heißt das, dass hier nur solche Texte mit in den Korpus einflossen, die eindeutig dem BNC, den politischen Aussagen des jeweiligen Netzwerkes (PACBI, BDS oder Stop the Wall) einzelnen Gründungsmitgliedern (beispielsweise Omar Barghouti für BDS) oder offiziellen BDSUnterstützer/-innen, die eine zentrale Funktion für die transnationale Koordination des Protests einnehmen, zuzuordnen sind. Insgesamt konnte über die Wahl eines nicht reaktiven, nicht standardisierten Erhebungsverfahrens (Howarth 2005, 335) ein insgesamt 200 Textdokumente umfassender Datenkorpus gesampelt werden, der als paradigmatisch für den Bewegungsdiskurs der TPSB gelten kann.
4.3
Wissenschaftlicher Konsens als Reliabilität
Anstelle eines positivistischen Verständnisses von Reliabilität im Sinne einer zuverlässigen Wiederholbarkeit der Ergebnisse bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen rekurriert Reliabilität im postpositivistischen Begriffsverständnis auf die diskursive Anschlussfähigkeit von Untersuchungsergebnissen in der Wissenschaftscommunity, auf einen »Konsens im sozialen Feld der Forschergemeinschaft« (Nonhoff 2011, 94), welcher die produzierten Ergebnisse zu legitimen und kollektiv geteilten »Wissensbeständen« (ebd. 100) werden lässt. Flyvbjerg (2006) verdeutlicht diesen Zusammenhang exemplarisch anhand der Forschungsförderung wissenschaftlicher Projekte: »A research council ideally operates as society’s test of whether the researcher can account, in collectively acceptable ways, for his or her intuitive choice, even though intuition may be the real, or most important, reason why the researcher wants to execute the project.« (233) Insofern wissenschaftliche Aussagen also immer nur relative Wahrheiten produzieren können, kann die Reliabilität als Zuverlässigkeit der eigenen Protoerklärung durch kritische Beurteilung, Anerkennung oder Formulierung plausibler Einwände des wissenschaftlichen Umfelds gesteigert werden. Mit anderen Wor-
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4 Reflexionen zur Operationalisierung poststrukturalistischer Methodologie
darum geht, in umfassender Weise zeitlich alle relevanten Texte zu rekonstruieren oder den diskursiven Wandel durch konkrete Diskursereignisse zu analysieren, wurde ein Untersuchungszeitraum zwischen 2005 und 2018 gewählt, der zunächst all jene virtuellen Textdokumente umfasste, die sich auf das als Forschungsgegenstand gewählte Thema der »Menschenrechte« konzentrieren. Diese Einschränkung erscheint plausibel, da sich der thematische »rote Faden« dadurch anzeigte, dass ähnliche Artikulationsformen identifizierbar wurden (ähnlich Nonhoff 2006, 252). Um den konkreten Korpus fünftens zu verkleinern, wählte ich als zentrale Kategorie zur Abgrenzung des Korpus die Sprecherposition (Glasze 2008). Darunter verstehe ich in Anlehnung an Foucault eine institutionell stabilisierte Subjektposition innerhalb der einzelnen Netzwerke, die unabhängig von dem Individuum ist, welches die Position einnimmt. Konkret heißt das, dass hier nur solche Texte mit in den Korpus einflossen, die eindeutig dem BNC, den politischen Aussagen des jeweiligen Netzwerkes (PACBI, BDS oder Stop the Wall) einzelnen Gründungsmitgliedern (beispielsweise Omar Barghouti für BDS) oder offiziellen BDSUnterstützer/-innen, die eine zentrale Funktion für die transnationale Koordination des Protests einnehmen, zuzuordnen sind. Insgesamt konnte über die Wahl eines nicht reaktiven, nicht standardisierten Erhebungsverfahrens (Howarth 2005, 335) ein insgesamt 200 Textdokumente umfassender Datenkorpus gesampelt werden, der als paradigmatisch für den Bewegungsdiskurs der TPSB gelten kann.
4.3
Wissenschaftlicher Konsens als Reliabilität
Anstelle eines positivistischen Verständnisses von Reliabilität im Sinne einer zuverlässigen Wiederholbarkeit der Ergebnisse bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen rekurriert Reliabilität im postpositivistischen Begriffsverständnis auf die diskursive Anschlussfähigkeit von Untersuchungsergebnissen in der Wissenschaftscommunity, auf einen »Konsens im sozialen Feld der Forschergemeinschaft« (Nonhoff 2011, 94), welcher die produzierten Ergebnisse zu legitimen und kollektiv geteilten »Wissensbeständen« (ebd. 100) werden lässt. Flyvbjerg (2006) verdeutlicht diesen Zusammenhang exemplarisch anhand der Forschungsförderung wissenschaftlicher Projekte: »A research council ideally operates as society’s test of whether the researcher can account, in collectively acceptable ways, for his or her intuitive choice, even though intuition may be the real, or most important, reason why the researcher wants to execute the project.« (233) Insofern wissenschaftliche Aussagen also immer nur relative Wahrheiten produzieren können, kann die Reliabilität als Zuverlässigkeit der eigenen Protoerklärung durch kritische Beurteilung, Anerkennung oder Formulierung plausibler Einwände des wissenschaftlichen Umfelds gesteigert werden. Mit anderen Wor-
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Menschenrechte und Antisemitismus
ten hängt die Plausibilität der eigenen Forschung wesentlich vom dem Urteil der Wissenschaftscommunity ab und der Frage danach, ob das produzierte Wissen in den Augen der Peers als plausibel eingeschätzt wird. Demzufolge versteht sich die vorliegende Untersuchung als retroduktiver Beitrag für die erfolgreiche Gestaltung von Wissenschaft im Feld der Antisemitismusforschung, Bewegungs- und Hegemonieforschung, deren Reliabilität dann gesteigert werden kann, wenn sie sich gegenüber formulierten Inkonsistenzen, Gegenerklärungen oder Einwänden durch die Forschergemeinschaft absichert.
4.4
Schlussbetrachtung
Das vorliegende Kapitel hat eine postpositivistische, poststrukturalistische und konstruktivistische Forschungsperspektive für die eigene Forschungspraxis diskutiert. Ziel des Kapitels war es, Plausibilität als Kriterium postpositivistischer Methodologien fruchtbar sowie das eigene methodologische Vorgehen in dieser Arbeit sichtbar zu machen. Die Plausibilität kann einerseits dadurch gesteigert werden, wenn die Konsistenz von Theorie, Methodologie und Methode gewährleistet wird. Andererseits kann eine poststrukturalistische Reartikulation der klassischen Gütekriterien sozialwissenschaftlicher Forschung – Validität, Reliabilität und Repräsentativität – ein Plausibilitätskriterium für qualitative Sozialforschung sein. Im Ergebnis hat das Kapitel gezeigt, welche Plausibilitätskriterien als Maßstab für die Beurteilung der eigenen Forschungspraxis angewendet wurden.
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Menschenrechte und Antisemitismus
ten hängt die Plausibilität der eigenen Forschung wesentlich vom dem Urteil der Wissenschaftscommunity ab und der Frage danach, ob das produzierte Wissen in den Augen der Peers als plausibel eingeschätzt wird. Demzufolge versteht sich die vorliegende Untersuchung als retroduktiver Beitrag für die erfolgreiche Gestaltung von Wissenschaft im Feld der Antisemitismusforschung, Bewegungs- und Hegemonieforschung, deren Reliabilität dann gesteigert werden kann, wenn sie sich gegenüber formulierten Inkonsistenzen, Gegenerklärungen oder Einwänden durch die Forschergemeinschaft absichert.
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Schlussbetrachtung
Das vorliegende Kapitel hat eine postpositivistische, poststrukturalistische und konstruktivistische Forschungsperspektive für die eigene Forschungspraxis diskutiert. Ziel des Kapitels war es, Plausibilität als Kriterium postpositivistischer Methodologien fruchtbar sowie das eigene methodologische Vorgehen in dieser Arbeit sichtbar zu machen. Die Plausibilität kann einerseits dadurch gesteigert werden, wenn die Konsistenz von Theorie, Methodologie und Methode gewährleistet wird. Andererseits kann eine poststrukturalistische Reartikulation der klassischen Gütekriterien sozialwissenschaftlicher Forschung – Validität, Reliabilität und Repräsentativität – ein Plausibilitätskriterium für qualitative Sozialforschung sein. Im Ergebnis hat das Kapitel gezeigt, welche Plausibilitätskriterien als Maßstab für die Beurteilung der eigenen Forschungspraxis angewendet wurden.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie Die Gleichzeitigkeit von Antisemitismen und Menschenrechtsnarrativen
Der zweite Teil dieser Arbeit zielt auf die Umsetzung einer qualitativen Fallstudie über die Diskursproduktion dreier zentraler Netzwerke der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung. Dabei gelten die untersuchten Netzwerke als paradigmatische Fälle für den gesamten Diskurs der BDS-Bewegung (hierzu s. Kap. 4.2.1). Um das generelle Forschungsinteresse dieser Studie entlang der übergeordneten Forschungsfrage, wie sich der palästinensische Rechtediskurs zu einem globalen Protestsymbol transnationalisieren konnte, obwohl die Bewegung mit Antisemitismen in Verbindung gebracht wird, empirisch untersuchen zu können, wurde das übergeordnete Forschungsinteresse detailliert in drei konkrete Forschungsfragen übersetzt, die sich als Was-, Wie- und Warumfragen an den problematisierten, theoretisch und empirisch zu erklärenden Gegenstand eines menschenrechtsorientierten Antisemitismus gerichtet haben. Die drei Forschungsfragen orientierten sich dabei an den methodologischen Grundsätzen der »Logiken kritischer Erklärungen« (Glynos/Howarth 2007), die als poststrukturalistisches Scharnier zwischen den hegemonie- und subjekttheoretischen Prämissen in dieser Arbeit sowie den kontextspezifischen diskursiven Praktiken in dem hier untersuchten Fallbeispiel fungieren. Im Untersuchungsfeld der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung stellen sich die konkreten Forschungsfragen mit Blick auf die »Logiken kritischer Erklärung« dabei folgendermaßen dar: Soziale Logiken sind mit der Laclau-/Mouffe’schen Dimension des Sozialen verbunden und kennzeichnen die Regeln, Praktiken und Regime, d.h. den gesellschaftlichen Kontext bestimmter sedimentierter Ordnungen. Davon ausgehend, konzentriert sich die erste Forschungsfrage auf die Untersuchung nach dem »Was« der sedimentierten Praktiken und diskursiven Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts, die von der BDS-Bewegung angegriffen werden. Um die erste Forschungsfrage, »was die Praktiken und Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts charakterisieren«, rekonstruieren zu können, liefert
152
Menschenrechte und Antisemitismus
der erste Abschnitt des empirischen Teils dieser Arbeit (5.1 und 5.2) eine genealogische Betrachtung der hegemonialen Verfasstheit des Diskurses über den Nahostkonflikt. Die genealogische Rekonstruktion des Diskurses über den Nahen Osten, seiner zentralen Ursachen, Entstehungsbedingungen, umkämpften Ansprüche und offiziellen Lösungsvorschläge ist dabei ein wichtiger erster Schritt, um den gegenhegemonialen Diskurs der BDS-Bewegung, der auf die Ablösung dieses sedimentieren Diskurses abzielt, nachvollziehen zu können. Politische Logiken zielen auf die Hegemonialisierung bestimmter Forderungen, sozialer Identitäten und Ideen in Differenz zu anderen Gruppen, Subjekten und Deutungen. Ihre Analyse zeigt die Art und Weise auf, wie soziale Wirklichkeit herausgefordert, angegriffen und umgedeutet wird. Demzufolge konzentriert sich die zweite Forschungsfrage auf die Untersuchung des »Wies« der politischen Auseinandersetzung um Hegemonie. Um die zweite Forschungsfrage – wie sich die partikularen Forderungen nach Rechten der Palästinenser/-innen hegemonialisieren und welche Stellung antisemitische Differenzkonstruktionen dabei einnehmen – untersuchen zu können, liefert der zweite Abschnitt des empirischen Teils dieser Arbeit (5.3. und 5.4) eine strategemanalytische Betrachtung des rechteorientierten Diskurses der BDS-Bewegung. Ein zentraler Schwerpunkt wird dabei auf der Untersuchung der Stellung von israelischen Perspektiven, Bedürfnissen und Positionen liegen. Damit soll die empirisch beobachtete Kontradiktion, der zufolge die einzelnen geforderten Rechte für Palästinenser/-innen das israelische Selbstverständnis als jüdischer und demokratischer Staat konterkarieren, hinsichtlich ihres diskursiven Effekts untersucht werden. Phantasmatische Logiken sind mit der ideologischen Funktionsweise von sozialen Fantasien verbunden; sie zeigen auf, warum Subjekte bestimmte Identifikationsangebote reproduzieren. Um die dritte Forschungsfrage, welche affektivideologische Anziehungskraft Antisemitismen und Menschenrechtsnarrative – d.i. die phantasmatische Logik – für die Transnationalisierung des palästinensischen Protestanliegens einnehmen, beantworten zu können, rekonstruiert der dritte Abschnitt dieses Kapitels die phantasmatischen Narrative des palästinasolidarischen Diskurses. Ein besonderes Augenmerk wird in diesem Abschnitt auf die Frage geworfen, wie sich das gegenhegemoniale Identifikationsangebot der TPSB durch die spezifische Funktionsweise von antisemitischen und menschenrechtsorientierten Narrationen plausibilisiert. Im Ergebnis zeigt das Kapitel, wie die drei heuristischen Fragen zusammengenommen das übergeordnete Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, die paradoxe Situation menschenrechtsorientierter Antisemitismen, auflösen kann.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
5.1
Der Nahostkonflikt als Konflikt um territoriale Ansprüche: die soziale Logik des israelisch-palästinensischen Diskurses
Soziale Logiken beschreiben den Charakter von Regimen und Praktiken in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext – sie charakterisieren demzufolge die kontingenten historischen und politischen Umstände, bezeichnen also die »grammar or rules of a practice or regime, which enable us to distil their purpose, form and content« (Glynos/Howarth 2007, 106). Mit Laclau und Mouffe sprechen wir von hegemonialen Diskursen, darin involvierten Sets von Subjektpositionen, Ansprüchen, Forderungen, Objekten, Ereignissen, Sachlagen und routinierten Praktiken. In meinem Forschungskontext geht es dabei um den hegemonialen Diskurs über den israelisch-palästinensischen Konflikt, seine Ursachen und Lösungen, involvierte Akteure und vertretene Positionen. Die Rekonstruktion der sozialen Logik des Nahostkonflikts ist zentral, um verstehen zu können, gegen welche gesellschaftlichen Strukturen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse sowie dominanten Narrative sich die Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen richten und welche Stellung die israelische Perspektive dabei einnimmt. Um den Ausgangspunkt von Kapitel 1 an dieser Stelle noch einmal zu rekapitulieren, zielt der internationale Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft zum Boykott des israelischen Staats durch BDS darauf ab, die hegemoniale Meinung über den Nahostkonflikt zu beeinflussen. Mit anderen Worten ist der politische Kampf um Rechte für Palästinenser/-innen darauf ausgerichtet, tief sedimentierte Diskurse, Grenzziehungen und Identitätskonstruktionen im Israel-Palästina-Konflikt anzugreifen und eine neue Perspektive auf den Nahostkonflikt zu werfen, die verstärkt palästinensische Positionen reflektiert. Demzufolge ist die Analyse der sozialen Logik des Nahostkonflikts zentral für die Einordnung des gegenhegemonialen Diskurses der BDS-Bewegung. In Kapitel 4 habe ich argumentiert, dass soziale Logiken durch genealogische Untersuchungen rekonstruierbar werden. Genealogien können dabei als historisch-praktische Narrative klassifiziert werden, die der Produktion bestimmter diskursiver Formationen als Geschichte und ihrer jeweiligen Einbindung in spezifische Machtstrukturen und Subjektivierungsweisen nachspüren. Über die genealogische Darstellung der für den Nahostkonflikt zentralen Themen, Ereignisse, involvierten Akteure und Positionen soll die erste Forschungsfrage, was die Praktiken und Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts charakterisiert – d.i. die soziale Logik –, die von der TPSB angegriffen werden, beantwortet werden. Als Basis der genealogischen Untersuchung der sozialen Logik des israelischpalästinensischen Antagonismus dient dabei die Rekonstruktion von einschlägiger Forschungsliteratur über den Nahostkonflikt. Die genealogische Darstellung des Diskurses über den Nahostkonflikt anhand von Forschungsliteratur, so wurde
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Menschenrechte und Antisemitismus
in Kapitel 4 argumentiert, erscheint plausibel, insofern soziale Logiken spezifische Sachlagen, Ereignisse und Praktiken erläutern, d.h. sich damit auf einer stark deskriptiven Ebene befinden (Howarth 2005, 127), die in der Sekundärliteratur über den Konflikt nachvollzogen werden kann. Dabei handelt es sich um gemeinsame historische Erzählweisen, die sich in Bezug auf den Nahostkonflikt ausmachen lassen.1 Um die soziale Logik des Diskurses über den Israel-Palästina-Konflikt durch die Darstellung seiner historischen Narration charakterisieren zu können, gliedert sich das Kapitel in acht Sinnabschnitte. Diese Sinnabschnitte beinhalten dabei die zentralen Themen, Ereignisse und Akteure des hegemonialen Diskurses, die sich im Rahmen der genealogischen Untersuchung als relevantes Kontextwissen ausgebildet haben. In dem ersten Abschnitt wird der Konflikt zunächst als Kampf um territoriale Ansprüche charakterisiert (5.1.1). Anschließend gehe ich zweitens auf die Genese des Zionismus (5.1.2), drittens auf die geplante jüdische Migration nach Palästina (5.1.3), viertens auf das israelische Selbstverständnis als jüdischer und demokratischer Staat (5.1.4), fünftens auf das palästinensische Flüchtlingsproblem (5.1.5) sowie sechstens auf den Status quo der »besetzten Gebiete« (5.1.6)2 , auf die israelische Sperranlage (5.1.7), den Gazastreifen (5.1.8) sowie den israelischen Siedlungsbau (5.1.9) ein.
5.1.1
Der Kontext: die politische Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinenser/-innen als Territorialkonflikt
Der folgende Abschnitt widmet sich der genealogischen Narration des Nahostkonflikts. Dabei wird zunächst die hegemoniale Definition des Konfliktverständnisses
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2
Dass die Darstellung des historischen Kontexts gerade in dem diskursiv umkämpfen Konfliktfeld »Nahost« keine »neutrale« historische Sachlagenbeschreibung oder »objektive« Realität abbilden kann, folgt aus dem hier zugrunde gelegten, poststrukturalistischen Verständnis von Forschung, wie es im letzten Kapitel starkgemacht wurde. Die Deskription eines historischen Phänomens ist immer schon der subjektiven Interpretation des Forschers unterworfen, was etwa an dem Moment der Entscheidung für die Auswahl oder die Ausblendung »relevanter« Ereginisse deutlich wird. Der vorliegende Abschnitt konzentriert sich demzufolge auf die genealogische Darstellung der diskursiven Formation »Nahostkonflikt«, wie er in der Forschungsliteratur diskutiert wird, ohne dabei einen Anspruch auf Objektivität oder Abgeschlossenheit des akademischen, politischen und juristischen Diskurses begründen zu wollen. An dieser Stelle muss erneut betont werden, dass sich die genealogische Darstellung des Konflikts aus forschungspragmatischen Gründen nur auf solche historischen Ereignisse und Sachlagenbeschreibungen konzentriert, die von der BDS-Bewegung angegriffen werden. Damit verfolgt die Darstellung des Konflikts keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
rekonstruiert. Anschließend stelle ich die sozial sedimentierten Ansätze der Konfliktlösung dar. Im Zentrum des hegemonialen Diskurses über den Nahostkonflikt, hier definiert als israelisch-arabischer Konflikt, steht ein Konfliktverständnis, in dessen Kern die politische Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinenser/-innen steht (Asseburg/Busse 2016, 11). Weitestgehend übereinstimmend wird der Nahostkonflikt dabei als ein nach dem Ersten Weltkrieg einsetzender Konflikt zwischen zwei antagonistischen Nationalismen charakterisiert, die (zumindest temporär und teilweise) Ansprüche auf denselben geografischen Raum – das ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina – als Territorium ihres souveränen Nationalstrebens erheben (Johannsen 2006, 11; Asseburg/Busse 2016, 17; Caplan 2009, 22). Demzufolge wird der Nahostkonflikt in dem hegemonialen wissenschaftlichen Diskurs als Territorialkonflikt definiert, in dessen Zentrum antagonistische Positionen bezüglich der Frage über die entsprechende Gebietshoheit, den territorialen Grenzverlauf sowie die Ressourcenverteilung – insbesondere die Zuteilung von Wasser, fruchtbarem Land und Steinbrüchen (Asseburg/Busse 2016, 17) – stehen. Entscheidend ist hierbei, dass die politischen Ansprüche von Israelis und Palästinenser/-innen als gleichermaßen legitim anerkannt werden. Neben der territorialen Ebene konkurrierender jüdischer und palästinensischer Gebietsansprüche auf das ehemalige britische Mandatsgebiet besitzt der Nahostkonflikt darüber hinaus auch eine ethnonationale Komponente. Hier konkurrieren zwei ethnisierte Gruppen – Jüdinnen und Juden und Palästinenser/-innen – über die Umsetzung ihres Rechts auf nationale Selbstbestimmung als »Volk« in einem Nationalstaat. Damit geht der Nahostkonflikt mit antagonistischen (nationalen) Identitätskonstruktionen einher, die beide beanspruchen, legitime Ansprüche auf das Land zu formulieren. Die Legitimität der jeweiligen Konstruktion als jüdisches/palästinensisches »Volk« wird teilweise von dem jeweils anderen infrage gestellt (Asseburg/Busse 2016, 27; Caplan 2009, 18f.), womit der Anspruch auf das Territorium delegitimiert werden soll. Während sich durch die Gründung des Staates Israel 1948 das Recht der Juden auf nationale Selbstbestimmung in einem Teil des umkämpften Territoriums verwirklichte, blieb das Streben der Palästinenser/-innen nach nationaler Selbstbestimmung bislang unerfüllt. Zuletzt hat der Nahostkonflikt auch eine religiöse Komponente, die jedoch nicht als dominantes Konfliktdeutungsmuster gilt (Pabst 2018). Zum Teil begründen jedoch religiöse Teile der Konfliktparteien ihre Ansprüche auch mit dem Verweis auf göttliche Versprechen an das »Volk« (Asseburg/Busse 2016). Wie sehen nun sozial sedimentierte Regeln der Konfliktlösung aus, die die konkurrierenden politischen Ansprüche auf das Territorium des ehemaligen britischen Mandatsgebiets harmonisieren sollen? Der hegemoniale Konfliktlösungsansatz artikuliert sich durch die international anerkannte »Land für Frieden«-Formel (Schlegel 2014, 34) und beruht auf der Problemkonstruktion eines Territorialkonflikts, in der israelische und palästinensi-
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Menschenrechte und Antisemitismus
sche Selbstbestimmungsinteressen, Perspektiven und Bedürfnisse gleichermaßen anerkannt werden. Im Zentrum der Formel steht dabei die »Zwei Staaten für zwei Volksgruppen«-Idee, wonach ein territorial zu erzielender Kompromiss zwischen den Konfliktparteien ausgehandelt werden soll, an dessen Ende ein palästinensischer Nationalstaat neben Israel auf einem Teil des historischen Palästinas errichtet wird. Mit dem Vokabular der Hegemonietheorie kann hier von einer sozial sedimentierten, verstetigten und verfestigten Logik des »Friedens durch zwei Staaten« gesprochen werden, die beständig reartikuliert wird. Der Logik des »Friedens durch zwei Staaten« liegt die Idee zugrunde, dass Frieden in der Region nur durch die Schaffung zweier Staaten für zwei »Völker« errichtet werden kann, die in Sicherheit und anerkannten Grenzen koexistieren sollen. Diese Logik hat sich durch verschiedene soziale Praktiken materialisiert. Sie war Gegenstand des Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinenser/-innen, angefangen von der Madrider Konferenz 1991 über Oslo I 1993, dem Gaza-Jericho-Abkommen 1994, Oslo II 1995, Camp David II 2000 sowie seiner Fortsetzung in Taba 2001. Der letzte Versuch einer Regelung des Konflikts auf diplomatischem Wege scheiterte im Rahmen der israelischpalästinensischen Friedensgespräche 2013 bis 2014. Zu der Idee eines »Friedens durch zwei Staaten« gehört demzufolge ein dualer Kompromiss, verhandelt durch bilaterale, diplomatische Gespräche der Konfliktparteien. Diese Idee basiert auf der Norm, auf Gewalt als Mittel der Konfliktlösung zu verzichten und an ihre Stelle diplomatische Verhandlungen der Konfliktparteien als selbstverständliche Lösung zwischenstaatlicher Streitigkeiten zu setzen. Kurzum beruht die hegemoniale Logik der Konfliktbeilegung auf der gleichberechtigten Anerkennung israelischer und palästinensischer Ansprüche, Interessen und Ziele, die die Koexistenz und Sicherheit zweier Staaten für zwei »Völker« garantieren soll. Nachdem ich nun auf die hegemoniale Definition von Konfliktursache und -lösung des israelisch-palästinensischen Antagonismus eingegangen bin, die eine gleichberechtigte Anerkennung israelischer und palästinensischer Ansprüche, Identitäten und Forderungen legitimiert, werde ich im Folgenden die Entstehung und Entwicklung des Zionismus als Ausdruck jüdisch-nationaler Selbstbestimmung darstellen.
5.1.2
Der Zionismus: Entstehung, Konzepte und Akteure
In der Forschung wird die jüdische Einwanderung seit dem späten 19. Jahrhundert in das zunächst zur Provinz Damaskus des Osmanischen Reichs, später zu dem britischen Mandatsgebiet zählende Palästina (Asseburg/Busse 2016, 28) als ein Eckpfeiler des Nahostkonflikts charakterisiert, die mit der Genese des Zionismus sowie der Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Europa zusammenhängt. Der kommende Abschnitt ordnet die historischen Hintergründe, Sachlagen und Ereignisse
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
der jüdischen Migration und Flucht nach Palästina mit Literatur der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Judentums- und Nahostforschung (Brenner 2002 und 2008; Timm 2003) sowie mit Konzepten der Nationalismusforschung (Smith 1995, 2003 und 2010; Neuberger 1985 und 1986; Conforti 2015) ein. Das zentrale Argument wird dabei sein, dass der Zionismus eine Form von Diasporanationalismus darstellt und innerhalb des hegemonialen Diskurses über den Nahostkonflikt als legitime Form nationaler Selbstbestimmung anerkannt wird. Die klassischen Vertreter der sozialkonstuktivistischen Nationalismusforschung definieren Nationen und Nationalismen als vorgestellte politische Gemeinschaften, die eine Kongruenz zwischen Nation, Staat (Macht), Territorium und Kultur (Gellner 1991, 8-17; Donnan/Wilson 1999, 6) konstruieren.3 Nationalismen gehen dabei der Generierung von Nationen voraus (Gellner 1991, 97; Hobsbawm 1990, 20-24). Neuere, konstruktivistisch und relational inspirierte Ansätze (Wimmer 2004, 2005, 2008 und 2010) argumentieren, dass ethnische Grenzziehungsprozesse zentral für die Konstruktion einer Nation sind. Vor allem für den diasporischen Nationalismus ist die Politisierung von Ethnizität, definiert als subjektiver Glaube an eine gemeinsame Abstammungsgemeinschaft (Weber 1985), Tradition, Religion oder andere Merkmale sozial konstruierter, kultureller Identitäten (Heckmann 1992, 30; Oswald 2007), ein zentraler Bezugspunkt (Smith 1995) im Rahmen des Nationen-Building-Prozesses. Im Falle des jüdischen Nationalismus als Nationalbewegung und identitätsstiftende Ideologie von Juden und Jüdinnen, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand, bildeten materielle Not, Existenz- (Timm 2003, 84) und Identitätskrisen (Brenner 2002, 18) osteuropäischer und westeuropäischer Jüdinnen und Juden den Ausgangspunkt für das Aufkommen des modernen Zionismus als einem von mehreren konkurrierenden politischen Diskursen der jüdischen Gesellschaften Europas – wie dem Territorialismus, dem Assimilationismus oder DiasporaAutonomismus (hierzu ausführlich Brenner 2002) –, die sich in unterschiedlicher Weise auf das »Nationale« in Reaktion auf die erschütterten jüdischen Lebenswelten (Kreisky/Stachowitsch 2010, 435) bezogen. Jüdinnen und Juden wurden seit Jahrhunderten als ethnisiertes »Anderes« der nicht jüdischen, christlichen Mehrheitsgesellschaft aufgrund kulturalisierter Merkmale – religiöser Traditionen, Symboliken, Rituale etc. – klassifiziert. Der zionistische Diskurs knüpfte an diese, aus einem Wechselspiel von Fremd- und Selbstzuschreibung gewonnene, kollektive Identität von Jüdinnen und Juden als ethnische Gemeinschaft an und verband sie mit dem säkularisierten Diskurs des Nationalismus (Conforti 2015,
3
Entsprechend der hegemonietheoretischen Ontologie dieser Arbeit wird hier ein Verständnis von Nationen als Diskursen zugrunde gelegt (Torfing 1999, 194; Calhoun 1997), die behauptete nationale Kongruenz zwischen »Volk«, Staat und Territorium wird dementsprechend als »große Fiktion« (Donnan/Wilson 1996, 6) aufgefasst.
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Menschenrechte und Antisemitismus
142). Die Diasporasituation,4 konzipiert als Exil aus dem Land Israel (ebd., 7), bildete dabei den negativen Ausgangspunkt der kollektiven Erfahrung von Flucht, Vertreibung und damit einhergehender ökonomischer, politischer, kultureller und sozialer Marginalisierung, die der zionistische Diskurs durch die Etablierung eines eigenen Nationalstaats, durch die »Rückkehr« in das »Homeland« Eretz Israel, aufzuheben forderte. Im Diasporanationalismus wird das »Homeland« als »ethnoscape of reference« (Safran 2007, 340) oft mit dem Prinzip einer (entweder symbolischen oder realen) Rückkehr in das »Herkunftsland« verbunden (Kuhlmann 2014, 12; Safran 1991, 83; Clifford 2010, 322). Im Falle der jüdischen Diaspora war das imaginierte Homeland als Territorium eines zukünftigen souveränen Staats ein »sacred territory and the return was part of a religious drama, enacted by God as part of the salvation of His people and the world« (Smith 1995, 8). Die Idee einer Rückkehr nach Eretz Israel, das Land Israel, hatte in den Jahren zwischen 1695 und 1845 »zahlreiche religiös motivierte Projekte eines Judenstaats hervorgebracht« (Kreisky/Stachowitsch 2010, 444). Auch unter nicht religiösen Zionisten war die symbolische Bindung an das ehemalige britische Mandatsgebiet Palästina jedoch »so stark, daß jede andere geographische Option letztlich zum Scheitern verurteilt war« (Brenner 2005, 85). Der politische Zionismus kombinierte nationale und ethnisch-religiöse Motive (Salzborn 2015, 10), um Forderungen nach einem Homeland zu begründen und damit zur »Nation« zu werden – somit folgte er der allgemeinen Konstruktions- und Entstehungslogik von Nationen und Nationalismen. Er unterscheidet sich demzufolge explizit nicht von anderen Formen nationaler Grenzziehungsprozesse.
5.1.3
Die geplante Migration nach Palästina und die konfliktreiche Geschichte arabisch-jüdischen Zusammenlebens
Die geplante Massenmigration nach Palästina begann in den 1880er-Jahren. Als Teil der zionistischen Bewegung unterstützten der jüdische Nationalfond, die Jewish Agency und die Zionistische Weltorganisation (World Zionist Orfanization, WZO) den Landerwerb in Palästina, verwalteten und koordinierten die Einwanderung und organisierten den Aufbau von Erziehungs- und Gesundheitswesen innerhalb der jüdischen Community. Auf dem Gebiet Palästina lebten bis 1881 jedoch ungefähr eine halbe Million Menschen, darunter etwa 450.000 Muslime, 42.000 meist
4
Die jüdische Diaspora wird im Hebräischen in galut und golah differenziert. Während Erstere als unfreiwilliges Exil und Strafe Gottes gilt, beschreibt Letztere eine stabile Gemeinschaft im Exil/der Diaspora. In der Diasporaforschung wird die jüdische Diaspora als victim group klassifiziert, was der ersten Deutung ähnlich ist (Baumann 2007, 67ff.; Cohen 1996a, 177; 1996b, 507; Safran 1991, 83, 2007, 337).
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
griechisch-orthodoxe Christen und ca. 20.000 Juden (Johannsen 2006, 18). Demzufolge stellt sich die Frage, wie das gegenseitige Verhältnis zwischen zionistischen Migrant/-innen und arabischen Einwohner/-innen charakterisiert werden kann. In der Forschungsliteratur über die jüdische Geschichte wird darauf hingewiesen, dass die jeweilige Sicht auf die sogenannte arabische Frage innerhalb des heterogenen zionistischen Diskurses davon abhing, wie man den eigenen Zionismus definierte (Siegmund 2008; Brenner 2008, 8; Caplan 2009, 46). Denn der zionistische Diskurs entwickelte sich nicht als homogenes politisches Ideengebilde, wie er oftmals verkürzend (Said 1980; Khalid 1997; Pappe 2007) abgebildet wird. Die politischen Kämpfe um konkurrierende Politikkonzepte und ideologische Ausrichtungen zwischen kultur- und politischen Zionist/-innen, Revisionist/-innen, liberalen, religiösen und sozialistischen Zionist/-innen sind in der Forschung oftmals dargestellt worden (Siegemund 2008; Brenner 2002 und 2008; Salzborn 2015; Nipperdey 1978). Der Diskurs der zionistischen Mitte kommt in der »Resolution zur arabischen Frage« des Zionistischen Kongresses – und damit der Legislative der zionistischen Bewegung – von 1921 zum Ausdruck (Siegemund 2008). Darin erklärte der Kongress »seinen Willen, mit dem arabischen Volk in einem Verhältnis der Eintracht und der gegenseitigen Achtung zu leben« (zit.n. ebd.). Den Völkern in Palästina solle »eine ungestörte nationale Entwicklung« zugesprochen werden (ebd.). Von einer explizit rassistischen Ideologie kann demzufolge nicht gesprochen werden. Die oft fälschlicherweise Theodor Herzl zugeschriebene Parole eines »Lands ohne Volk für ein Volk ohne Land« war zu keiner Zeit ein offizielles Leitmotiv der Zionist/-innen (Muir 2008). Auf arabischer Seite fehlte ein entsprechender Wille zur Kooperation (Siegemund 2008). Die jüdische Einwanderung wurde von der arabischen Mehrheitsbevölkerung überwiegend abgelehnt (Böhme/Kriener/Sterzing 2009, 26). Der junge panarabische und palästinensische Nationalismus entwickelte sich in Differenz zu der vorherrschenden britischen Mandatsmacht und vor allem als Reaktion auf den Strom der zionistischen Siedler, die als »jüdische Kolonisatoren« (Johannsen 2006, 18) wahrgenommen wurden. Ben Gurion rief am 14. Mai 1948 den Staat Israel als jüdischen Nationalstaat aus. Die Invasion von fünf arabischen Staaten am darauffolgenden Tag endete mit einer arabischen Niederlage, der Kontrolle von 78 Prozent des ehemaligen britischen Mandatsgebiets als israelisches Staatsgebiet (Grüne Linie) sowie der Transformation von Teilen der arabisch-palästinensischen Bevölkerung zu Flüchtlingen. Die israelische Staatsgründung hatte also mehrere Folgen für die weiteren Konturen des Konflikts um Territorium und mögliche Friedenslösungen (Asseburg/Busse 2016, 32). Der kommende Abschnitt (5.1.4) beschäftigt sich zunächst mit den Konturen des 1948 gegründeten jüdischen Staats, der das Recht der Jüdinnen und Juden auf nationale Selbstbestimmung in die Staatsform einer ethnischen Demokratie transformierte. Anschließend (5.1.5) steht das palästinensische Flüchtlingsproblem als Konsequenz des Krieges im Zentrum der Betrachtung.
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Menschenrechte und Antisemitismus
5.1.4
Das israelische Selbstverständnis als jüdischer und demokratischer Staat
Der folgende Abschnitt kontextualisiert das israelische Selbstverständnis als jüdischer und demokratischer Staat, das entsprechend des hegemonialen Diskurses einer Friedenslösung durch die gleichberechtigte Anerkennung jüdischer und palästinensischer Ansprüche und Positionen als institutionalisierter Ausdruck jüdischnationaler Selbstbestimmung legitimiert wird. Das Staatsmodell Israels wird im Folgenden als »ethnische Demokratie« (Smooha 1997 und 2002) klassifiziert, die durch bestimmte Merkmale, Regeln, Praktiken und Muster charakterisiert ist. Nach Smooha gehen ethnische Demokratien aus ethnischen Nationalbewegungen hervor. Im letzten Kapitel wurde der jüdische Nationalismus als eine solche Form des ethnischen Nationalismus, genauer als ethnischer Diasporanationalismus, kategorisiert. In ethnischen Demokratien wird die ethnisierte Mehrheitsgruppe als authentischer Kern der vorgestellten Nation konstruiert. Die Mitglieder der Nation werden dabei in jene innerhalb des Nationalstaats und jene in der Diaspora unterteilt und von den nicht nationalen Mitgliedern als »Anderen« der Nation differenziert (Smooha 2002, 477). Entgegen dem Modell der liberalen Demokratie5 ist die Zugehörigkeit zur ethnischen Demokratie nicht über die Staatsbürgerschaft, sondern über das Abstammungsprinzip reguliert; Nationalität und Staatsbürgerschaft sind demzufolge voneinander losgelöst. Die Vorherrschaft der dominanten ehnischen Gruppe ist dabei im Staat institutionalisiert. Der Staat zielt entsprechend darauf ab, die partikularen Interessen der ethnischen Kerngruppe in nationaler, demografischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht zu hegemonialisieren. Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Deutschland bis zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 2000, Griechenland und eben auch Israel sind Beispiele für ethnische Demokratien (ebd., 498). Das politische System ist in ethnischen Demokratien demokratisch organisiert. Mitglieder der ethnisierten Minderheit besitzen dieselbe Staatsbürgerschaft wie die ethnisierte Mehrheit, verfügen über Menschen- und Bürgerrechte, politische, kulturelle und soziale Rechte. Neben Individualrechten kann die ethnisierte Minderheit auch Kollektivrechte, die z.T. auch Autonomierechte beinhalten, ausüben sowie an den zivilgesellschaftlichen Prozessen der demokratischen Konfliktaustragung partizipieren (ebd., 477ff.). Da sie die Grenze zur nationalisierten, auf ethnisch konstruierten Mitgliedschaftskriterien beruhenden Wirgruppe allerdings nicht überschreiten können und damit in dieser Hinsicht nicht dieselben Rechte wie die nationale Mehrheit in Anspruch
5
In liberalen Demokratien wie den Vereinigten Staaten wird die Zugehörigkeit zu einem territorial klar begrenzten Raum über die Staatsbürgerschaft hergestellt (Smith 1995).
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
nehmen, ist eine (partielle) rechtliche Ungleichstellung zwischen den ethnisierten Gruppen zwangsläufig vorhanden. Demzufolge spricht Smooha auch von einer »minimalen« und »prozeduralen« Form von Demokratie (478). Hervorgegangen aus den nationalen Bestrebungen von Jüdinnen und Juden ist Israel als ethnische Demokratie ein Nationalstaat, in dem das ethnisch-nationale Selbstverständnis als jüdischer Staat mit dem Prinzip demokratischer Organisationsformen vereinbar ist. Im Sinne des eben entwickelten Modells der ethnischen Demokratie ist das demokratische System mit der institutionalisierten Dominanz der jüdischen Mehrheitsgruppe verbunden. Diese institutionalisierte Dominanz wird durch verschiedene Komponenten signifiziert, die Auswirkung auf die Stellung der (arabisch-palästinensischen) Minderheiten haben. Ich stelle nun einige dieser Aspekte der ethnischen Demokratie Israel vor. Israels politisches und rechtliches Selbstverständnis ist das eines demokratischen und jüdischen Staats.6 Sein Verständnis als nationale Heimstätte für Jüdinnen und Juden weltweit bezieht sich auch auf die 61 Prozent der jüdischen Diaspora – das sind 13,5 Millionen Jüdinnen und Juden (Smooha 2002, 485) außerhalb Israels. Der erklärte Schutz jüdischen Lebens und jüdischer Interessen außerhalb der Grenzen des jüdischen Staats wird als Staatsverantwortung verstanden und stellt einen Grundpfeiler israelischer Außenpolitik dar (ebd., 486). Wie bereits dargestellt, wurde der jüdische Staat mit dem Ziel gegründet, die Identität des ethnisierten Kollektivs von Jüdinnen und Juden mittels der Aneignung des Staatsapparats zu bewahren sowie Jüdinnen und Juden eine sichere Heimstätte zu garantieren. Der Zionismus kann in dieser Hinsicht als Quelle oder de facto-Ideologie (ebd., 485) des jüdischen Staats verstanden werden. Der Staat bezieht sich dabei auf das historisch-kontingente Selbstverständnis von Jüdinnen und Juden als ethnischer Nation, d.h. auf die Äquivalenzierung von Ethnizität und Nationalität. Um den jüdischen Charakter des Staates zu wahren, wird jüdische Immigration durch das israelische Rückkehrgesetz erleichtert. Das 1950 verabschiedete Immigrationsgesetz bietet allen nach halachischer Definition klassifizierten Jüdinnen und Juden die Möglichkeit der Einwanderung nach Israel. Ergänzt durch das Nationalitätengesetz von 1952, ist ein jüdischer Einwanderer auch berechtigt, die Staatsbürgerschaft unmittelbar zu erwerben.7 Diese Gesetze sichern die Existenz einer
6
7
Vgl. dazu die »Declaration of the Establishment of the State of Israel« (Declaration of Establishment of State of Israel 1948), Basic Law: Human Dignity and Freedom (Basic Law: Human Dignitiy and Liberty 1992). Diese Immigrationspraxis unterscheidet sich nicht von derjenigen in anderen Ländern wie Großbritannien, der Schweiz, Griechenland, Armenien oder Deutschland. All diese Länder gewähren ein Rückkehrgesetz für exilierte »Volksangehörige« auf der Grundlage eines ethnischen Nationalismus.
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jüdischen Mehrheit im Staat (Zilbershats 2017, 239). Da die Erlangung der Staatsbürgerschaft für Palästinenser/-innen und andere ethnisierte Minderheiten deutlich schwerer ist, artikuliert sich in der Immigrationspraxis ein scharfer rechtlicher Gegensatz zwischen jüdisch-nationaler Mehr- und nicht jüdischer Minderheit (Smooha 2002, 485; Penev 2004, 114). Einen völkerrechtlichen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot bildet die Immigrationspraxis dabei nicht (Zilbershats 2017, 243). Eine weitere Komponente, die den ethnischen Aspekt des jüdischen Staates signifiziert, zeigt sich in dem rechtlichen Status der zionistischen Organisationen – wie der Jewish Agency, der WZO und dem Jewish National Fund – und ihrer Kompetenzen. Wie bereits dargestellt, koordinierten diese Organisationen während der Entwicklungszeit des politischen Zionismus die geplante Massenmigration nach Palästina, übernahmen Landerwerbe und organisierten den Aufbau verschiedener Institutionen. Auch nach der Staatsgründung sind diese Organisationen weiterhin im Interesse der jüdischen Mehrheit tätig (Penev 2004, 113), wonach die arabischen Israelis nicht davon profitieren können (Kretzmer 1990, 98). Wie stellt sich nun der demokratische Charakter Israels im Hinblick auf die Teilhaberechte der ethnisch-arabischen Minderheit dar? Nach demokratischen Gesichtspunkten ist der 1948 gegründete Staat Israel strukturell als gewaltenteiliges System einer parlamentarischen Demokratie konzipiert, in der die Staatsgewalt auf der Vermittlung von Regierung, Parlament (Knesset) und unabhängiger Justiz beruht (Penev 2004, 84). Alle israelischen Staatsbürger wählen per Verhältniswahl die parlamentarische Zusammensetzung. Die demokratische Struktur des Staates wird in einer Reihe von »Basic Laws«, die in Abwesenheit einer kodifizierten Verfassung als Grundgesetze des jüdischen Staats fungieren (Weinblum/Iglesias 2013, 167; Smooha 2002, 495), expliziert. Der israelische Staat ist mit Blick auf seine große arabische Minderheit sowohl multinational als auch hinsichtlich seiner heterogenen Zusammensetzung einer jüdischen Einwanderungsgesellschaft aus europäischen, orientalischen, äthiopischen und russischen Jüdinnen und Juden innerhalb der Mehrheitsgesellschaft polyethnisch (Penev 2004, 85). Arabische Israelis sind in den demokratisch-politischen Prozess eingebunden. Sie nutzen die Möglichkeit der politischen Organisation, können hohe politische Ämter erlangen, ins israelische Parlament gewählt werden und für arabische Interessen auch außerparlamentarisch durch die Gewährleistung des Demonstrations- und Streikrechts kämpfen (Tessler/Grant 1998, 100). Neben den parlamentarisch-demokratischen Partizipationsmöglichkeiten in einer gewaltenteilig organisierten Demokratie besitzen Angehörige der ethnisierten arabischen Minderheit als israelische Staatsbürger/-innen zudem vollumfängliche Freiheitsrechte, darunter Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, Wahlfreiheit und Religionsfreiheit. Neben den Individualrechten erkennt Israel seine arabischen Bürger/-innen zudem als religiöse, kulturelle und linguistische Minderheit an und gewährleistet ihnen kollektive Rechte (Penev 2004,
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
250; Smooha 2002, 221), nur werden sie als nationale Minderheit in Israel nicht anerkannt. Demzufolge können die ethnisierten Minderheiten in ethnischen Demokratien im zivilen Bereich vollkommene Gleichberechtigung genießen. Ihnen kommen jedoch nicht dieselben nationalen Rechte wie der dominanten ethnischen Mehrheit zu. Nationale Integration und Identität kann in ethnischen Demokratien nicht hergestellt werden: »It is a democracy in which rights are extended to all but not equally.« (Smooha 2004, 496) Dennoch unterscheiden sich ethnische Demokratien fundamental zu denjenigen Staatsmodellen, die in der Forschung als Apartheidtypus einer »dominant ethnic minority« (Wimmer 2004) klassifiziert werden. In diesen Staatsmodellen, wie beispielsweise Südafrika zu Zeiten der Apartheid, kontrolliert eine ethnisierte Minderheit den Zugang zu staatlichen Ressourcen, Institutionen und dem Staatsapparat, womit die Mehrheit der Bevölkerung von der Partizipation notwendig ausgeschlossen werden muss. Die Repräsentation einer Mehrheit durch die Herrschaft einer Minderheit verletzt dabei das fundamentale Prinzip der souveränen Staatsgewalt eines Nationalstaats »that ›likes‹ should rule over ›likes‹« (Wimmer 2004, 47) – ein solches Regime kann nicht demokratisch verfasst sein. Nachdem ich nun das sozial sedimentierte Selbstverständnis des jüdischen Staats und seiner konstitutionell demokratischen Verfasstheit rekonstruiert habe, möchte ich im Folgenden das palästinensische Flüchtlingsproblem als weitere Folge des ersten (1948/1949) und dritten (1967) arabisch-israelischen Krieges rekonstruieren. Das Problem palästinensischer Geflüchteter ist ein zentraler Eckpfeiler des Nahostkonflikts.
5.1.5
Das palästinensische Flüchtlingsproblem
Der folgende Abschnitt ordnet die verschiedenen Ereignisse, Kontexte, Akteure sowie die völkerrechtliche Stellung des palästinensischen Flüchtlingsproblems ein, wie es in der Forschungsliteratur diskutiert wird. Dabei werde ich zunächst die historischen und anschließend die rechtlichen Kontextbedingungen des palästinensischen Flüchtlingsproblems eruieren. Der erste Nahostkrieg 1948/49, der im israelischen Diskurs als »Unabhängigkeitskrieg«, im palästinensischen Diskurs als »Nakba« fungiert, endete mit Flucht und Vertreibung (Becke 2018) von ca. 600.000 bis 760.0008 palästinensischen Arabern aus dem israelischen Staatsgebiet und ca. 500.000 bis 600.000 orientalischen Jüdinnen und Juden, die aus muslimischen Ländern als Vergeltungsakt für die israelische Staatsgründung vertrieben worden sind (Becke 2018; Johannsen 2006, 8
Zur Diskussion über die unterschiedlichen Angaben der Zahl der Flüchtlinge siehe Golan 2007, 96.
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Menschenrechte und Antisemitismus
80ff.; Brenner 2002, 115). Die meisten palästinensischen Araber flohen in das jordanisch besetzte Westjordanland, den ägyptisch kontrollierten Gazastreifen sowie in die Nachbarländer Libanon, Syrien und Jordanien. In den Grenzen des neu gegründeten Staats Israel blieben nur ca. 150.000 bis 160.000 (Johannsen 2009, 24) Palästinenser/-innen, die durch das israelische Nationalitätengesetz von 1952 zu israelischen Staatsbürgern wurden. Im dritten arabisch-israelischen Krieg von 1967 und der damit zusammenhängenden israelischen Besatzung von Westjordanland, Ostjerusalem und dem Gazastreifen kam es zu weiteren palästinensischen Flüchtlingsströmen (Asseburg/Busse 2016, 103), die sich nach UN-Angaben auf eine Zahl von 250.000 bis 300.000 Palästinenser/-innen belaufen. Viele von den palästinensischen Flüchtlingen flohen dabei zum zweiten Mal, überwiegend in die arabischen Nachbarstaaten (ebd.). Die Frage danach, ob die Folge des ersten Nahostkriegs 1948/49 als geplante zionistische Vertreibung oder durch die arabischen Staaten initiierte Flucht der Palästinenser/-innen definiert werden muss, ist politisch und wissenschaftlich umstritten (Zilbershats 2017, 242; Brenner 2002, 116).9 Mittlerweile hat sich vor allem durch die detailreiche Arbeit des israelischen Historikers Benny Morris (1987) ein hegemonialer wissenschaftlicher Konsens etabliert, der belegt, dass es sich bei der zwangsweisen Wanderungsbewegung der palästinensischen Araber/-innen aus dem israelischen Territorium um eine Mischung aus Flucht und Vertreibung handelt. Während des Krieges wurden etwa 250 palästinensische Dörfer zerstört (Penev 2004, 38). Das von den Flüchtlingen zurückgelassene Land wurde durch verschiedene Gesetze nach dem Krieg verstaatlicht. Das palästinensische Flüchtlingsproblem ist bis zum heutigen Zeitpunkt nicht gelöst worden. Die lang anhaltende Dauer und die enorme Zahl der Palästinaflüchtlinge sind in der Geschichte einmalig. Diese problematische Situation wird in der Forschung u.a. auf die rechtliche Sonderstellung der Palästinaflüchtlinge in dem internationalen Flüchtlingsschutzsystem zurückgeführt (Zilbershats 2017, 242; Zilbershats/Goren-Amitai 2011, 22ff.; Dershowitz 2003, 145). Im Folgenden gehe ich zunächst auf die rechtliche Situation der palästinensischen Flüchtlinge und anschließend auf die Frage eines Rückkehrrechts ein.
5.1.5.1
Die rechtliche Stellung der palästinensischen Flüchtlinge
Für die Versorgung der Flüchtlinge in Gaza, der Westbank sowie Jordanien, Libanon und Syrien ist das im Dezember 1949 gegründete Hilfswerk der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA)
9
Einen Überblick zwischen der unterschiedlichen Darstellung der israelischen und palästinensischen Narration liefert Golan 2007, 41 und 45f. für eine völkerrechtliche Perspektive, siehe Zilbershats 2007, 191 und 213.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
verantwortlich. Laut UNRWA-Definition umfasst der Personenkreis palästinensischer Flüchtlinge alle »persons whose normal place of residence was Palestine during the period 1 June 1946 to 15 May 1948, and who lost both home and means of livelihood as a result of the 1948 conflict« (UNRWA). Diese Anerkennung wird auf alle Nachfahren registrierter Flüchtlinge übertragen. Mit der völkerrechtlich einzigartigen Möglichkeit zur Vererbung des Flüchtlingsstatus wuchs die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge seit dem Ende des Krieges 1948 von ca. 750.000 auf rund 5 Millionen bei der UNRWA registrierte Flüchtlinge im Jahr 2018 (UNRWA). Diese rechtliche Sonderstellung des palästinensischen Flüchtlingsstatus trägt daher nicht zuletzt zu der anhaltenden Dauer des Problems bei. Denn die Weigerung vieler arabischer Aufnahmeländer, die palästinensischen Flüchtlinge in die jeweilige Gesellschaft einzubürgern, hängt wesentlich mit der Forderung nach einer generationenübergreifenden Umsetzung des »Rückkehrrechts«, d.h. der Repatriierung der palästinensischen Flüchtlinge durch den israelischen Staat, zusammen (Zilbershats 2017; Zilbershats/Goren-Amitai 2011; Akram 2014 und 2016; Ryseck/Johannsen 2007), die der Umsiedlung in die jeweiligen Aufnahmeländer entgegensteht. Die Frage der Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge ist eine der umstrittensten Konfliktgegenstände im israelisch-palästinensischen Antagonismus. Ob ein international verbrieftes Rückkehrrecht für Palästinenser/-innen existiert und auf welche Rechtsgrundlagen es sich dabei berufen kann, ist politisch umkämpft.10 Für Befürworter leitet sich das »unveräußerliche« Rückkehrrecht aus der Resolution 194 der UN-Generalversammlung von 1948 ab, in der den palästinensischen Flüchtlingen in Artikel 11, unter gewissen Bedingungen, ein Rückkehrrecht in israelisches Staatsgebiet offeriert wird.11 Gegner dieser Rechtsinterpretation verwei10
11
Für die rechtliche Argumentation eines Rückkehrrechts palästinensischer Geflüchteter siehe etwa Quigley 1998, für die ausführliche rechtliche Argumentation gegen ein solches Recht siehe Zilbershats und Goren-Amittai 2011. In ihrem Wortlaut beschließt die Generalversammlung, »dass den Flüchtlingen, die in ihre Wohnstätten zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dies zum frühesten möglichen Zeitpunkt gestattet werden soll und dass für das Eigentum derjenigen, die sich entscheiden, nicht zurückzukehren, und für den Verlust oder die Beschädigung von Eigentum, wofür nach den Grundsätzen des Völkerrechts oder der Billigkeit von den verantwortlichen Regierungen und Behörden Wiedergutmachung zu leisten ist, Entschädigung gezahlt werden soll«. (UN General Assembly, 194 [III] 1948, para. 11) Besonders die Frage, was »frühestmöglichster Zeitpunkt« bedeutet und wie der Gegenstand der Friedensbereitschaft auch hinsichtlich der Anerkennung des Staates Israels durch die arabischen Staaten interpretiert werden kann, ist heftig umkämpft (Zilvershats 2017, 248ff.). Die UN-Resolution 194 wurde lange Zeit von der Mehrheit der Palästinenser/-innen und den arabischen Staaten abgelehnt, gerade weil in ihr die Forderung nach einer friedlichen Koexistenz zwischen Israelis und Palästinenser/-innen formuliert wird, die mit einer Anerkennung des jüdischen Staats einhergeht.
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sen darauf, dass Resolutionen der UN-Generalversammlung völkerrechtlich nicht bindend sind, sondern lediglich empfehlenden Charakter (vgl. UN-Charta, Art. 13) besitzen. Ein zwingendes »Recht« auf Rückkehr kann jedoch aus der Resolution 194 explizit nicht abgeleitet werden (Ryseck/Johannsen 2007, 229). Darüber hinaus bezieht sich die geforderte Rückkehr nicht auf eine Rückkehr aller Flüchtlinge, sondern nur eines gewissen Teils.12 Unabhängig von der umstrittenen Frage nach dem rechtlichen Status der Palästinaflüchtlinge ist die Lösung der palästinensischen Flüchtlingsfrage für die Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts unumgänglich (Johannsen 2006, 83; Asseburg/Busse 2016). Dieser hegemoniale Konsens spiegelt sich in der politischen Praxis der Konfliktlösung wider. Zur Regulierung des Problems wurden bereits mehrere Lösungsvarianten artikuliert. Grundsätzlich kann zwischen Rückkehr, Ansiedlung in den Drittstaaten und Entschädigung differenziert werden (ebd. 61). Im Rahmen des hegemonialen Lösungsansatzes des Friedens durch die Zweistaatenlösung durch diplomatische Verhandlungen dominieren Ansätze, in denen das individuelle Recht auf Rückkehr anerkannt, es praktisch jedoch durch die Ansiedlung in den jeweiligen Aufenthaltsstaaten oder Drittstaaten (mit deren Zustimmung) und in Ausnahmefällen mit der Rückkehr nach Israel umgesetzt werden soll (siehe etwa die Clinton-Parameter).13 Eine Rückkehr von fünf Millionen Flüchtlingen in das israelische Staatsgebiet wird in der Forschung als »Maximalforderung« der Palästinenser/-innen klassifiziert, insofern sie die im letzten Abschnitt dargestellte Logik des israelischen Nationalismus, der mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit im Land Israel einhergeht, unterminiert. Damit impliziert sie eine Lösung des Konflikts, in der die jüdische Identität des Staats Israel bedroht werden würde – eine Lösung des Nahostkonflikts, die auf keiner einvernehmlichen Basis beruhen kann und mit der Aberkennung des legitimen Rechts der jüdischen Gemeinschaft auf nationale Selbstbestimmung verbunden ist 12
13
Dies wird deutlich, wenn Artikel 11 der Resolution 194 beachtet wird. Hierin fordert die Versammlung eine »Vergleichskommission an, die Rückführung, Wiederansiedlung und wirtschaftliche und soziale Rehabilitation der Flüchtlinge sowie die Zahlung von Entschädigung« (UN General Assembly, 194 [III] 1948, para. 11) fördern soll. Damit bezieht sich die UN-Versammlung auf eine Praxis, mit der große Flüchtlingskrisen bereits zuvor bewältigt wurden (Zilbershats 2017, 254). Mit den Clinton-Parameters sind Richtlinien für eine dauerhafte Friedenslösung des Nahostkonflikts gemeint, die von dem damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton im Rahmen der Camp-David-Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinenser/-innen im Jahr 2000 vorgelegt wurden. Mit Blick auf die Flüchtlingsfrage wurde in den ClintonParametern eine Absage an ein uneingeschränktes Rückkehrrecht der Flüchtlinge formuliert. Stattdessen wurden Entschädigungszahlungen, Repatriierungen in dem dann neu gegründeten Staat Palästina respektive Aufenthaltsstaaten und Drittstaaten oder die Rückkehr einer geringen Zahl von Flüchtlingen im Rahmen von Familienzusammenführungen (Shindler 2013, 286) vorgeschlagen.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
(Sabel 2010, 418; Zilbershats 2017, 246). Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit dem israelischen Besatzungszustand sowie dem Bau der israelischen Sperranlage. Diese Ereignisse sind zentral für das historische Verständnis des Konflikts.
5.1.6
Die besetzten Gebiete und der Bau der israelische Sperranlagen
Im folgenden Abschnitt möchte ich auf einzelne Ereignisse und Sachlagen eingehen, die den hegemonialen Diskurs der Besatzung von Westbank, Ostjerusalem und Gaza konturieren. Anschließend wird auf den Bau der israelischen Sperranlage eingegangen. Dabei soll es insbesondere darum gehen, auch israelische Sicherheitsinteressen abzubilden. Diese Sicherheitsinteressen werden im Rahmen des hegemonialen Diskurses über den Nahostkonflikt anerkannt, insofern eine friedliche Lösung des Konflikts, wie bereits an vorheriger Stelle beschrieben, nur durch die gleichberechtigte Achtung palästinensischer und israelischer Ansprüche und Forderungen verwirklicht werden kann. Der dritte arabisch-israelische Krieg 1967 stellt einen historisch einschneidenden Wendepunkt im Israel-Palästina-Konflikt dar. Mit der Kontrolle von Westbank, Ostjerusalem und Gaza kamen 800.000 bis 900.000 Palästinenser/-innen unter israelische Besatzung.14 Durch die Ergebnisse des Krieges wurde gleichzeitig eine 14
Selten erscheint die Gegensätzlichkeit der konkurrierenden Deutungsangebote des Nahostkonflikts signifikanter als in dem hegemonialen Disput über den politischen Status von Westbank, Gaza und Ostjerusalem, insofern jede dieser unterschiedlichen Positionen mit weitreichenden Konsequenzen für die völkerrechtliche Bewertung der Legitimität oder Illegitimität des Handelns der jeweiligen Konfliktpartei verbunden ist. Dabei ist insbesondere die Frage nach dem völkerrechtlichen Status von Westbank und Gaza politisch hoch umkämpft. Während die Westbank von Israel als »umstrittenes Gebiet klassifiziert wird« (Botschaft des Staates Israel in Berlin 2009), werden die Gebiete von den Vereinten Nationen (Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Resolution 2334 2016) als »besetzte Gebiete« bewertet, wohingegen etwa die Hamas (2017) das gesamte ehemalige Mandatsgebiet als besetzt betrachtet. Weniger umstritten erscheint jedoch der Status des Gazastreifens, der nach dem vollständigen Abzug des israelischen Militärs sowie dem restlosen Abbau der vorhandenen Siedlungen 2005 offiziell als nicht länger okkupiert gilt und darüber hinaus unter vollständiger – ziviler und militärischer – Kontrolle der Hamas steht (Sabel 2010; Cuyckens 2016). Aus völkerrechtlicher Sicht sind diese Fragen von zentraler Bedeutung, ergeben sich daraus doch weitreichende Konsequenzen der Verantwortlichkeit einer Besatzungsmacht und für die (De-)Legitimation der israelischen Palästinapolitik. So argumentiert die israelische Perspektive, dass der Status von Westbank und Gaza keine Besatzung nach dem Wortlaut der Genfer Konvention IV darstellt, insofern diese die Folgen militärischer Aneignung von Territorien einer fremden, souveränen Staatsmacht umfassen. Da weder ein palästinensischer Staat im völkerrechtlichen Sinne existiere noch Jordanien oder Ägypten einen souveränen Anspruch auf die Gebiete geltend machten, sind auch die Genfer Konventionen solange nicht anwendbar, bis ein palästinensischer Staat gegründet wird. Ohne auf die völkerrechtliche Diskussion eingehen zu können, die, wie jeder Diskurs, Ergebnis hegemonia-
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Menschenrechte und Antisemitismus
Situation hergestellt, in der eine regionale Friedenslösung zwischen Israelis und Palästinenser/-innen möglich schien – formelhaft verkörpert in dem Slogan eines Austauschs von »Land für Frieden«, wie sie dem in Abschnitt 5.1.1 explizierten Lösungsmechanismus des »Friedens durch zwei Staaten« zugrunde liegt. Vertreter/-innen einer Zweistaatenlösung stimmen wesentlich darin überein, dass sich ein zukünftiger Staat Palästina an den Grenzen von 1967 orientiert, d.h. auf der Fläche von West Bank, Ostjerusalem und dem Gazastreifen errichtet werden soll, während die Palästinenser/-innen im Gegenzug israelische Sicherheitsbedürfnisse anerkennen und Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung im Nahostkonflikt endgültig ausschließen. Der erste Schritt zu dem Ende der Besatzung, wie sie auch von der BDSBewegung gefordert wird, schien infolge der Oslo-Verhandlungen in den 1990erJahren erreicht (Asseburg/Busse 2016, 59). Im Rahmen des Friedensprozesses zogen israelische Streitkräfte aus dem Gazastreifen ab, in der Westbank hatte die PLO in einigen Gebieten vollkommene (sogenannte A-Gebiete), in anderen partielle (sogenannte B-Gebiete) Kontrolle über das Territorium und 98 Prozent seiner Einwohner/-innen. Die Fortführung der Friedensverhandlungen im ägyptischen Taba 2001 wurde von dem Ausbruch der Zweiten Intifada (2000-2005), dem militanten Aufstand der Palästinenser/-innen gegen Israel, überlagert. In der Forschung wird der Ausbruch der zweiten Intifada u.a. als Auslöser für das vorläufige Ende des bisher verfolgten Konfliktlösungsansatzes klassifiziert (Asseburg/Busse 2016, 67; Böhme/Kriener/Sterzing 2009, 52; Johannsen 2006, 138). Auf die militanten Aktionen der islamistischen und nationalistischen Gruppierungen um Hamas, Islamischer Dschihad und den Al-Aqsa-Brigaden gegen israelische Zivilisten reagierte das israelische Militär mit zwei militärischen Operationen in der Westbank, in deren Folge eine weitestgehende Besatzung auch jener Gebiete durchgesetzt wurde, die seit dem Oslo-II-Abkommen unter vollständiger palästinensischer Kontrolle gestanden haben. Die Einschränkungen der Besatzungspolitik sowie das gleichzeitige Weiterführen israelischer Siedlungspolitik führte in dem palästinensischen Diskurs zu der Deutung, dass die israelische Politik gezielt auf die Negation des palästinensischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung ausgerichtet sei. Als dominante israelische Perspektive lässt sich hingegen die Auffassung hervorheben, dass auch der Rückzug aus den besetzten ler Aushandlungsprozesse ist, folgt die vorliegende Arbeit der juristischen Klassifikation von Westbank als besetztes Gebiet, wobei die Besatzung in Gaza als »offiziell beendet« verstanden wird. Trotz seiner negativen Konnotation verweist der Begriff der »Besatzung« in der Westbank nicht auf einen illegalen Status im Sinne des internationalen Rechts, sondern auf eine rechtmäßige Handlung in bewaffneten Konflikten. Aus diesen Gründen erklärte auch der UN-Sicherheitsrat die israelische Okkupation bis dato nicht als illegal per se (Sabel 2010, 413). Mit Blick auf den Gazastreifen komme ich erneut auf die völkerrechtliche Einordnung zu sprechen.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Gebieten keinen Frieden herstellen würde, sich die Palästinenser/-innen nicht mit der Existenz des israelischen Staates abgefunden haben und auf die Vernichtung des israelischen Staats ausgerichtet sind (Böhme/Kriener/Sterzing 2009, 67ff.). Als im Juni 2002 noch immer kein Ende der palästinensischen Attentate in Aussicht schien, begann Israel mit dem Bau eines Sicherheitszauns, der der verschlechterten Sicherheitslage entgegenwirken sollte. Im Folgenden möchte ich den Kontext, die Ziele und möglichen Bedingungen für einen Abbau der Sperranlage darstellen.
5.1.7
Die israelische Sperranlage
Der Bau der israelischen Sperranlage verfolgte das Ziel, der massenhaften Infiltration palästinensischer Selbstmordattentäter sowohl im israelischen Kernland als auch in Siedlungen innerhalb der Westbank entgegenzuwirken, d.h., die israelische Zivilgesellschaft vor terroristischen Anschlägen zu schützen. Durch den Bau der Sperranlage konnte Israel die Zahl der Selbstmordattentate de facto signifikant reduzieren (Asseburg/Busse 2016, 59; Böhme/Kriener/Sterzing 2009, 96; Johannsen 2006, 63). Der Hintergrund der terroristischen Bedrohung israelischer Zivilisten durch Selbstmordattentäter ist relevant, um verstehen zu können, aus welchen Gründen Israel die Sperranlage errichtet hat. Damit werden Sicherheitsinteressen formuliert, die im hegemonialen Diskurs als relevantes Wissen zur Deutung verschiedener Konfliktlösungsmechanismen im Nahostkonflikt gelten. Bautechnisch bestehen drei Prozent der Sperranlage aus einer Betonverstärkung, die in dicht besiedelten Stadtgebieten wie Jerusalem dem Schutz gegen Feuerüberfälle auf Autos und Zivilisten auf israelischer Seite dienen. Problematisch erscheint der Bau der Sperranlage, weil er z.T. einige hundert Meter in Gebiete eines möglichen Palästinenserstaates hineinläuft, um auf diese Weise grenznahe jüdische Siedlungen an israelisches Kernland anzugliedern. Insgesamt liegen 85 Prozent der jüdischen Siedlungen auf der Westseite der Anlage. Für viele Palästinenser/-innen, meist in und um Jerusalem, erschwert die Anlage den Alltag, weil sie auf den Zugang zu der anderen Seite der Barriere angewiesen sind, etwa aufgrund der dortigen Arbeitsplätze, Schulen, Krankenhäuser etc. Einige palästinensische Ortschaften sind isoliert, vollständig von Zäunen und Mauern umschlossen oder geteilt (Asseburg/Busse 2016, 60). Das israelische Außenministerium argumentierte hingegen, dass der Verlauf des Grenzzauns im Falle einer friedlichen Einigung entsprechend der hypothetisch konstituierten Territorialgrenzen eines künftigen Palästinenserstaats korrigiert werde, die Sperranlagen also keine künftige Grenzziehung vorwegnehmen und bis zu diesem Zeitpunkt ein legitimes Mittel der Selbstverteidigung gemäß UN-Charta darstellen. Die Frage der (Un-)Rechtmäßigkeit der israelischen Sperranlage ist international umstritten.
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Menschenrechte und Antisemitismus
In einem nächsten Abschnitt gehe ich auf die Situation der Palästinenser/innen in Gaza nach dem unilateralen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen 2005 ein.
5.1.8
Der Gazastreifen nach 2005
In der Forschung ist die Frage nach dem völkerrechtlichen Zustand von Gaza umstritten (s. Fn. 109). Nachdem Israel einen unilateralen Rückzug aus dem Gazastreifen sowie den Abbau der dortigen Siedlungen 2005 anordnete – ohne ausgehandelte Gegenleistungen von palästinensischer Seite zu verlangen –, wird der Besatzungszustand im offiziellen israelischen Diskurs als beendet klassifiziert15 (Israeli Ministery of Foreign Affairs 2005). Die gegen-hegemonialen Artikulationen, denen zufolge Gaza völkerrechtlich weiterhin als »besetzt« kategorisiert wird, beziehen sich auf die im Folgenden dargestellten Ereignisse seit 2007. Seit dem israelischen Rückzug aus Gaza haben militante Palästinensergruppen wie die Hamas, der Islamische Dschihad und die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas Tausende von Raketenangriffen auf zivile Ziele in israelischem Territorium durchgeführt (Inbar 2010, 14). Als die islamische Terrororganisation Hamas16 2007 die Macht in Gaza übernahm, reagierte Israel, ebenso wie Ägypten, mit einer Schließung der Grenzübergänge nach Gaza sowie einer See- und Luftblockade des Küstenstreifens. Ziel war es, die Hamas wirtschaftlich weitestgehend zu isolieren, die Einfuhr waffenfähiger Produktionsmittel zu verhindern und damit die Sicherheit der israelischen Bürger/-innen vor weiteren Angriffen zu garantieren.17 Der Import von Waren wurde aus Sicherheitsgründen zahlreichen Restriktionen unterworfen, Exporte und Personenverkehr nach Israel größtenteils unterbunden (Singh 2011; Sabel 2010, 421) Die Grundversorgung der 1,9 Millionen Bewohner/-innen stellte Israel in Gaza sicher. Aufgrund der Kontrolle über die Landesgrenzen, den Küstenstreifen sowie den Luftraum spricht die palästinensische Seite von dem völkerrechtlichen Zustand der Besatzung des Gazastreifens. Im israelischen Diskurs ist sie ein legaler Akt der
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Zur völkerrechtlichen Einordnung von Gaza siehe Sabel 2014. In der Charta der Hamas wird das Ziel der militärischen Vernichtung des jüdischen Staats explizit gefordert, zum Dschihad gegen die »Juden« aufgerufen und ihre Ermordung beansprucht. Zudem bezieht sich die Hamas in ihrer Gründungscharta auf antisemitische Verschwörungstheorien wie die Protokolle der Weisen von Zion (Botschaft des Staates Israel 2006). Auch die internationale Gemeinschaft reagierte auf den Wahlsieg der Hamas mit einem Boykott der neuen Regierung und knüpfte die Wiederaufnahme der Beziehung und finanziellen Zuwendung an die Anerkennung des Existenzrechts Israels durch die Hamas, an das Bekenntnis zu den Prinzipien der Gewaltlosigkeit sowie die Anerkennung aller israelisch-palästinensischen Vereinbarungen (Böhme/Kriener/Sterzing 2009, 110).
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Verteidigung gegen eine »feindliche Entität« – so die offizielle Bezeichnung der israelischen Regierung für Gaza. Die Menschenrechtslage und die Lebensbedingungen der Bevölkerung in Gaza haben sich seit der Machtübernahme der Hamas erheblich verschlechtert – die islamistische Regierung verbietet Presserechte, schränkt Bürgerrechte ein, foltert, misshandelt und verhaftet politische Oppositionelle (HRW 2018; AI 2009). Infolge des Fatah-Hamas-Konflikts ist die Autonomiebehörde faktisch in einen von der Hamas kontrollierten Gazastreifen und die der PLO unterstellte Westbank gegliedert (Shindler 2013, 355ff.), sodass die geografische Teilung der OPT auch auf politischer und institutioneller Ebene vollendet ist. Damit wird die Zweistaatenlösung mit einem territorial und politisch zusammengehörigen Palästina von innerpalästinensischen Antagonismen erschwert.
5.1.9
Der israelische Siedlungsbau
Zuletzt möchte ich auf den israelischen Siedlungsbau in Westbank und Ostjerusalem als zentralen Konfliktpunkt des israelisch-palästinensischen Antagonismus eingehen. Seit dem Ende des arabisch-israelischen Krieges 1967 wurden jüdische Siedlungen in Westbank, Ostjerusalem und Gaza gebaut. Die ersten, unter der Arbeiterregierung – Awoda – gebauten Siedlungen wurden mit dem Ziel errichtet, das israelische Kernland durch den Bau von Siedlungen zu schützen, wichtige Gebiete abzusichern und die Vorherrschaft über Jerusalem zu verfestigen (Asseburg/Busse 2016, 39; Böhme/Kriener/Sterzing 2009, 48). Auch die nachfolgenden Regierungen beendeten den Siedlungsbau nicht. 2015 sind 125 Siedlungen – plus etwa hundert sogenannter Außenposten – in der Westbank vorhanden, davon zwölf in Ostjerusalem. Auf dem besiedelten Land wird israelisches Recht angewandt (ebd.). Die Siedlungsinfrastruktur wird in der Forschungsliteratur als problematisch eingeordnet. Denn durch sie wird der Ausbau einer territorial zusammenhängenden palästinensischen Infrastruktur behindert, der Personen- und Güterverkehr zwischen einzelnen Städten der Westbank verkompliziert und die territoriale Zusammengehörigkeit eines zukünftigen palästinensischen Staats erschwert, die als Voraussetzung für die Ausübung eines nationalen Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser/-innen gilt (Johannsen 2006, 74; Böhme/Kriener/Sterzing 2009, 96). Der israelische Siedlungsbau ist international umstritten. Ob er einen Bruch mit den 4. Genfer Konventionen, denen zufolge es einer Besatzungsmacht verboten ist, die eigene Zivilbevölkerung in besetzte Gebiete zu transferieren, darstellt, ist fraglich. Die UNO hat die israelische Siedlungspraxis gemäß dieser Rechtsgrundlage
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Menschenrechte und Antisemitismus
vielfach verurteilt (Johannsen 2006, 71). Im israelischen Diskurs gelten die israelischen Siedlungen hingegen als legal.18 Die Frage der israelischen Siedlungen sind sogenannte Endstatusverhandlungsfragen, die am Ende des dialogischen Friedensprozesses zwischen Israelis und Palästinenser/-innen vereinbart werden sollen. Ein Kompromiss zwischen beiden Seiten scheint dabei durchaus möglich (Asseburg/Busse 2016, 104), etwa durch Kompensation mittels Landtausch oder Umsiedlungspraktiken. Im Rahmen der israelisch-ägyptischen Friedensverhandlungen wurden bereits israelische Siedlungen auf der Sinaihalbinsel aufgegeben. Während des unilateralen Abzugs aus Gaza hat Israel alle Siedlungen im Gazastreifen geräumt, zudem vier Siedlungen in der Westbank. Die Möglichkeit, durch diplomatische Friedensverhandlungen konkurrierende Ansprüche auf das Territorium konsensual zu lösen, ist demzufolge vorhanden.
5.2
Schlussbetrachtung: die soziale Logik des Nahostkonflikts
Das Kapitel hat die soziale Logik des Diskurses über den Nahostkonflikt expliziert. Damit kann die Forschungsfrage danach, »was« die Praktiken und Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts charakterisieren, nun folgendermaßen abschließend zusammengefasst werden: Wie die genealogische Analyse des hegemonialen Diskurses über den israelisch-palästinensischen Antagonismus ergeben hat, steht im Mittelpunkt der Diskursformation »Nahostkonflikt« ein sozial sedimentiertes Konfliktverständnis, das den territorialen Kampf um ein bestimmtes Gebiet – das ehemalige britische Mandatsgebiet »Palästina« – als Ursprung des Konflikts im Nahen Osten klassifiziert. Im Zentrum steht dabei ein hegemonialer Konsens, der den Konflikt als Konflikt um konkurrierende, aber gleichberechtigte territoriale Ansprüche von Palästinenser/-innen und Israelis auf das Territorium des ehemaligen britischen Mandatsgebiets »Palästina« deutbar macht. Der damit einhergehende Konfliktlösungsmechanismus kann dabei als Logik eines Friedens durch die Zweistaatenlösung charakterisiert werden. Diese Logik basiert auf der sozialen Norm, nach der dialogbasierende Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinenser/-innen einen diplomatischen Ausgleich der jeweiligen Ansprüche herbeiführen und damit eine friedliche Beilegung des Israel-Palästina-Konflikts durch gewaltfreie Kompromissbildung ermöglichen soll. Diese Logik hat sich durch verschiedene soziale Praktiken materialisiert, beispielsweise durch Friedensprozesse zwischen Israel und den Palästinenser/-innen, angefangen von der Madrider Konferenz 1991 über Oslo I 1993, dem Gaza-Jericho-Abkommen 1994, Oslo II 1995, Camp David II 2000 sowie seiner 18
Für eine ausführliche Darstellung der völkerrechtlichen Diskussion siehe Sabel 2010.
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Menschenrechte und Antisemitismus
vielfach verurteilt (Johannsen 2006, 71). Im israelischen Diskurs gelten die israelischen Siedlungen hingegen als legal.18 Die Frage der israelischen Siedlungen sind sogenannte Endstatusverhandlungsfragen, die am Ende des dialogischen Friedensprozesses zwischen Israelis und Palästinenser/-innen vereinbart werden sollen. Ein Kompromiss zwischen beiden Seiten scheint dabei durchaus möglich (Asseburg/Busse 2016, 104), etwa durch Kompensation mittels Landtausch oder Umsiedlungspraktiken. Im Rahmen der israelisch-ägyptischen Friedensverhandlungen wurden bereits israelische Siedlungen auf der Sinaihalbinsel aufgegeben. Während des unilateralen Abzugs aus Gaza hat Israel alle Siedlungen im Gazastreifen geräumt, zudem vier Siedlungen in der Westbank. Die Möglichkeit, durch diplomatische Friedensverhandlungen konkurrierende Ansprüche auf das Territorium konsensual zu lösen, ist demzufolge vorhanden.
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Schlussbetrachtung: die soziale Logik des Nahostkonflikts
Das Kapitel hat die soziale Logik des Diskurses über den Nahostkonflikt expliziert. Damit kann die Forschungsfrage danach, »was« die Praktiken und Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts charakterisieren, nun folgendermaßen abschließend zusammengefasst werden: Wie die genealogische Analyse des hegemonialen Diskurses über den israelisch-palästinensischen Antagonismus ergeben hat, steht im Mittelpunkt der Diskursformation »Nahostkonflikt« ein sozial sedimentiertes Konfliktverständnis, das den territorialen Kampf um ein bestimmtes Gebiet – das ehemalige britische Mandatsgebiet »Palästina« – als Ursprung des Konflikts im Nahen Osten klassifiziert. Im Zentrum steht dabei ein hegemonialer Konsens, der den Konflikt als Konflikt um konkurrierende, aber gleichberechtigte territoriale Ansprüche von Palästinenser/-innen und Israelis auf das Territorium des ehemaligen britischen Mandatsgebiets »Palästina« deutbar macht. Der damit einhergehende Konfliktlösungsmechanismus kann dabei als Logik eines Friedens durch die Zweistaatenlösung charakterisiert werden. Diese Logik basiert auf der sozialen Norm, nach der dialogbasierende Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinenser/-innen einen diplomatischen Ausgleich der jeweiligen Ansprüche herbeiführen und damit eine friedliche Beilegung des Israel-Palästina-Konflikts durch gewaltfreie Kompromissbildung ermöglichen soll. Diese Logik hat sich durch verschiedene soziale Praktiken materialisiert, beispielsweise durch Friedensprozesse zwischen Israel und den Palästinenser/-innen, angefangen von der Madrider Konferenz 1991 über Oslo I 1993, dem Gaza-Jericho-Abkommen 1994, Oslo II 1995, Camp David II 2000 sowie seiner 18
Für eine ausführliche Darstellung der völkerrechtlichen Diskussion siehe Sabel 2010.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Fortsetzung in Taba 2001. Dementsprechend muss für das gesellschaftliche Leitbild eines Friedensprozesses im Nahen Osten festgestellt werden, dass die soziale Logik der Zweistaatenlösung israelische Perspektiven, Narrative, Identitäten, Interessen und Ziele als legitim anerkennt. Darauf aufbauend, wurde der Zionismus als identitätsstiftende Ideologie jüdisch-nationaler Selbstbestimmung innerhalb eines pluralistischen innerjüdischen Diskurses über das »Nationale« im europäischen Erfahrungskontext von grassierenden Antisemitismen, jüdischen Identitäts- und Existenzkrisen dargestellt und mit Ansätzen der Nationalismusforschung als »Diasporanationalismus« gekennzeichnet. Der dritte Abschnitt beschäftigte sich mit dem israelischen Staatsmodell, das als ethnische Demokratie bezeichnet werden kann. Zentral für das israelische Staatsmodells ist dabei, dass die institutionalisierte (nationale) Ungleichbehandlung zwischen jüdischen und arabisch-palästinensischen Israelis als berechtigter Ausdruck des nationalen Selbstverständnisses eines jüdischen und demokratischen Staats verstanden werden muss, die dem Prinzip nationaler Grenzziehungsprozesse in ethnischen Demokratien folgt. Das nationale Selbstverständnis eines jüdischen und demokratischen Staats wird im Rahmen des hegemonialen Konfliktlösungsansatzes – ebenso wie die palästinensischen Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung – anerkannt. Der vierte Abschnitt hat die palästinensische Flüchtlingsproblematik als (nicht intendierte) Begleiterscheinung der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten eingeordnet, wobei die Lösung der Flüchtlingsfrage im Sinne der sozial sedimentierten »Frieden-durch-zweiStaaten-Regelung« als ergebnisoffener Gegenstand bilateraler Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien begriffen wurde. Zuletzt konnte der Bau der israelischen Sperranlage in der Westbank und Ostjerusalem sowie die Abriegelung des Gazastreifens als Ausdruck israelischer Sicherheitsinteressen und Bedürfnisse rekonstruiert werden. Der israelische Siedlungsbau wurde problematisiert und seine Lösung als Endstatusverhandlungsfrage charakterisiert. Das folgende Schaubild zeigt die soziale Logik des Nahostkonflikts überblicksartig.
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Menschenrechte und Antisemitismus
Tab. 2: Soziale Logik des Diskurses Die soziale Logik des Nahostkonflikts
Charakteristika der sozialen Logik
Hegemoniale Problemkonstruktion und -lösung
Territorialkonflikt konkurrierender jüdischer und palästinensischer Ansprüche auf dasselbe Territorium; israelische und palästinensische Ziele, Forderungen und Interessen erscheinen als gleichberechtigt hegemonialer Konfliktlösungsansatz einer »Friedendurch-zwei-Staaten- Regelung«; soziale Norm der friedlichen Beilegung des Konflikts durch gewaltfreie Kompromiss-bildung und diplomatischen Ausgleich der widerstreitenden Ansprüche
Zionismus als Diasporanationalismus
Zionismus als jüdischer Nationalismus folgt den allgemeinen Konstruktionsmechanismen von Nationen und Nationalismen. Zionismus als heterogenes politisches Ideengebilde
Israel als ethnische Demokratie
Ethnischer Charakter des Staates wird durch verschiedene Immigrationsgesetze oder den rechtlichen Status der zionistischen Organisationen signifiziert; ungleiche nationale Rechte zwischen Minderheiten und Mehrheiten Demokratischer Charakter zeigt sich u.a. durch das Prinzip der Gewaltenteilung; arabische Israelis sind in den demokratisch-politischen Prozess eingebunden.
Palästinensische Flüchtlingsfrage als ergebnisoffener Gegenstand von Friedensverhandlungen
Die Frage der Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge ist eine der umstrittensten Fragen des israelisch-palästinensischen Konflikts; ob es ein Recht auf Rückkehr gibt und auf welche Grundlagen es sich bezieht, ist international umkämpft; Rückkehr von fünf Millionen palästinensischen Flüchtlingen unterminiert die Identität des jüdischen Staats als ethnische Demokratie
Israelische Besatzung und der Bau der Sperranlage als Ausdruck israelischer Sicherheitsinteressen
Politischer Status von Westbank, Gaza und Ostjerusalem ist umkämpft; Ende der Besatzung impliziert auch die Garantie israelischer Sicherheitsinteressen; Bau der Sperranlage aufgrund von Sicherheitsinteressen; Rechtmäßigkeit ist umstritten
Rechtmäßigkeit des israelischen Siedlungsbaus ist international umstritten
Siedlungsinfrastruktur behindert den Ausbau einer territorial zusammenhängenden palästinen-sischen Infrastruktur, den Personen- und Güterverkehr zwischen einzelnen Städten der Westbank und die territoriale Zusammen-gehörigkeit eines zukünftigen palästinensischen Staats; teilweise wird der Siedlungsausbau als Bruch mit den Genfer Konventionen beurteilt.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Von dieser sozial sedimentierten Logik des Diskurses über den Nahostkonflikt ausgehend, rekonstruiert der folgende Abschnitt nun, gegen welche sozialen Praktiken, Ergebnisse und Identitätskonstruktionen sich der palästinensische »war of position« eigentlich richtet. Es soll untersucht werden, ob durch das positiv besetzte Postulat universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen machtvolle Ausschlüsse produziert werden, die zwischen den legitimen Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen einerseits und unsichtbar bleibenden israelischen Perspektiven, ihren Forderungen, Interessen und Zielen andererseits differenzieren. Damit soll im Ergebnis die Frage beantwortet werden, ob der Rechtediskurs der Solidaritätsbewegung auf Deutungsangeboten antizionistischer Antisemitismen beruht, die jüdische Identitäten, Perspektiven und Ansprüche dämonisieren, delegitimieren und eine komplexitätsreduzierende Simplifizierung des Nahostkonflikts reproduzieren.
5.3
Zum Verhältnis von palästinensischem und israelischem Recht auf universale Selbstbestimmung: die politische Logik des Diskurses The concept of a Jewish homeland is one thing; the creation and maintenance of a »Jewish state«, in Palestine, at the expense of its non-Jewish inhabitants, is another. The right to self-determination is never a right to colonisation, whoever is doing it. (BDS 2016a)
Nachdem Kapitel 5.1 die bestehende hegemoniale Diskursformation »Nahostkonflikt« sichtbar gemacht hat, soll in diesem Abschnitt expliziert werden, wie der Kampf um palästinensische Rechte tief sedimentierte Diskurse, Identitätskonstruktionen und Positionen des Israel-Palästina-Konflikts angreift mit dem Ziel, eine neue Perspektive auf den Konflikt zu etablieren. Während soziale Logiken einzelne Praktiken oder Regime in unterschiedlichen Kontexten charakterisierten, zeigen politische Logiken auf, wie Regime oder Praktiken angegriffen, herausgefordert und verändert werden können. Der theoretisch-methodologischen Konzeption von politischen Logiken liegt dabei die hegemonieanalytische Prämisse zugrunde, dass gegenhegemoniale Projekte auf die Vorherrschaft eines neuen Wahrheitshorizonts drängen. Dieser Wahrheitshorizont ist dabei immer das Ergebnis des antagonistischen Kampfes um die Hegemonialisierung eigener Forderungen, sozialer Identitäten und Ideen in Differenz zu anderen Gruppen, Subjekten und Deutungen. Über die Analyse der politischen Logik des Diskurses
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5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Von dieser sozial sedimentierten Logik des Diskurses über den Nahostkonflikt ausgehend, rekonstruiert der folgende Abschnitt nun, gegen welche sozialen Praktiken, Ergebnisse und Identitätskonstruktionen sich der palästinensische »war of position« eigentlich richtet. Es soll untersucht werden, ob durch das positiv besetzte Postulat universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen machtvolle Ausschlüsse produziert werden, die zwischen den legitimen Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen einerseits und unsichtbar bleibenden israelischen Perspektiven, ihren Forderungen, Interessen und Zielen andererseits differenzieren. Damit soll im Ergebnis die Frage beantwortet werden, ob der Rechtediskurs der Solidaritätsbewegung auf Deutungsangeboten antizionistischer Antisemitismen beruht, die jüdische Identitäten, Perspektiven und Ansprüche dämonisieren, delegitimieren und eine komplexitätsreduzierende Simplifizierung des Nahostkonflikts reproduzieren.
5.3
Zum Verhältnis von palästinensischem und israelischem Recht auf universale Selbstbestimmung: die politische Logik des Diskurses The concept of a Jewish homeland is one thing; the creation and maintenance of a »Jewish state«, in Palestine, at the expense of its non-Jewish inhabitants, is another. The right to self-determination is never a right to colonisation, whoever is doing it. (BDS 2016a)
Nachdem Kapitel 5.1 die bestehende hegemoniale Diskursformation »Nahostkonflikt« sichtbar gemacht hat, soll in diesem Abschnitt expliziert werden, wie der Kampf um palästinensische Rechte tief sedimentierte Diskurse, Identitätskonstruktionen und Positionen des Israel-Palästina-Konflikts angreift mit dem Ziel, eine neue Perspektive auf den Konflikt zu etablieren. Während soziale Logiken einzelne Praktiken oder Regime in unterschiedlichen Kontexten charakterisierten, zeigen politische Logiken auf, wie Regime oder Praktiken angegriffen, herausgefordert und verändert werden können. Der theoretisch-methodologischen Konzeption von politischen Logiken liegt dabei die hegemonieanalytische Prämisse zugrunde, dass gegenhegemoniale Projekte auf die Vorherrschaft eines neuen Wahrheitshorizonts drängen. Dieser Wahrheitshorizont ist dabei immer das Ergebnis des antagonistischen Kampfes um die Hegemonialisierung eigener Forderungen, sozialer Identitäten und Ideen in Differenz zu anderen Gruppen, Subjekten und Deutungen. Über die Analyse der politischen Logik des Diskurses
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kann demzufolge die zweite Forschungsfrage dieser Arbeit, wie sich die partikularen Forderungen nach Rechten der Palästinenser/-innen hegemonialisieren und welche Stellung antisemitische Differenzkonstruktionen dabei einnehmen – d.i. die politische Logik –, beantwortet werden. Im Methodenteil dieser Arbeit habe ich dafür argumentiert, dass politische Logiken mithilfe der Strategemanalyse Martin Nonhoffs analysiert werden können. Da sich die Nonhoff’schen Strategeme wesentlich aus der »Auftrennung des von Laclau beschriebenen Minimalmodells« (Marchart 2013b, 161) in seine logischen Bestandteile ableiten, gliedert sich das Kapitel nach folgendem Aufbau: Erstens wird die spezifische Funktionsweise von Kernstrategem IV vorgestellt, das als Repräsentation des symbolischen Äquivalents des Mangels am Allgemeinen – d.i. der Hauptsignifikant für den Feind – des gegenhegemonialen Projekts fungiert. In dem Diskurs der TPSB übernimmt der Signifikant »Zionismus« die Repräsentation des symbolischen Äquivalents des Mangels am Allgemeinen. Anschließend wird zweitens die diskursive Funktionsweise von Kernstrategem III rekonstruiert. Kernstrategem III wird von Nonhoff als Repräsentation bezeichnet. Repräsentationen erklären, weshalb eine spezifische Forderung die Funktion des symbolischen Äquivalents des imaginären Allgemeinen oder, in den Worten Laclaus und Mouffes, des leeren Signifikanten übernehmen. In dem Diskurs der TPSB übernimmt die Forderung nach einem Recht auf palästinensische Selbstbestimmung die Funktionsweise des symbolischen Äquivalents des imaginären Allgemeinen. Drittens wird über die Analyse der Äquivalenzierung differenter Forderungen und Subjektpositionen (Strategem I) sowie der antagonistischen Zweiteilung des diskursiven Raums (Strategem II) gezeigt, wie sich die politischen Forderungen nach einzelnen »Rechten« für das palästinensische ›Volk‹ nur über eine antizionistische Betrachtung Israels als Apartheid-, Siedlerkolonialismus und kriegerisches Besatzungsregime konstituieren können. Das zentrale Ergebnis dieses Kapitels wird sein, dass die gegenhegemonialen Artikulationen der BDS-Bewegung zu einer Verlagerung des politischen Antagonismus im Nahen Osten, in der palästinensische und israelische Perspektiven, Forderungen und Ansprüche gleichberechtigt nebeneinanderstehen, führen. Durch diese Verlagerung wird eine neue Deutung des Konflikts als kolonialer Konflikt um palästinensische Rechte etabliert, dessen Lösung nur die Dekolonisierung des palästinensischen »Volks« durch die Gewährleistung des Rechts auf palästinensische Selbstbestimmung sein kann. Gleichzeitig lassen sich auf diese Weise Mechanismen der antisemitischen Delegitimierung und Dämonisierung Israels sowie einer Simplifizierung der Konfliktrealität im Nahen Osten diskurslogisch rekonstruieren. Ich beginne nun mit der Rekonstruktion von Strategem IV.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
5.3.1
»For us, Zionism is not a national liberation movement but a colonial movement«: der »Zionismus« als symbolischer Inbegriff des Mangels am Allgemeinen (Strategem IV)
In Kapitel 5.1.2 habe ich mit Ansätzen der Nationalismusforschung gezeigt, dass Nationalismen – vor allem diasporische Nationalismen – auf der Politisierung von Ethnizität, definiert als subjektiver Glaube an eine gemeinsame Abstammungsgemeinschaft, wie etwa Tradition oder Religion beruhen, die einen zentralen Bezugspunkt im Rahmen des Nationen-building-Prozesses darstellen. Den negativen Ausgangspunkt des jüdischen Nationalismus bildete dabei die Diasporasituation, konzipiert als Exil aus dem Land Israel, als kollektiver Erfahrung von Flucht und Vertreibung, die der zionistische Diskurs durch die Etablierung eines eigenen Nationalstaats, durch die »Rückkehr« in das »Homeland« Eretz Israel, aufzuheben forderte. Dieser Zusammenhang wurde über die hegemoniale Darstellung des Zionismus in Abschnitt 5.1.2 beschrieben. Das zentrale Ergebnis war dabei, dass der jüdische Nationalismus als legitimer Ausdruck nationaler Selbstidentifikation von Jüdinnen und Juden begriffen werden muss, der sich nicht von anderen Formen des Nation-building-Prozesses unterscheidet. Die politische Logik des BDS-Diskurses greift nun die Berechtigung jüdischnationaler Selbstbestimmung an und deutet den jüdischen Nationalismus um. In dem Diskurs der TPSB ist der Zionismus kein legitimer Diasporanationalismus, sondern eine Kolonialbewegung, die sich während der Hochphase des europäischen Kolonialismus etabliert und dann als Kolonialkonflikt zwischen zionistischen Kolonisatoren und palästinensischen Kolonisierten materialisiert hat: Die Quellen des israelischen Regimes finden sich in der rassistischen Ideologie des europäischen Kolonialismus des späten 19. Jahrhunderts, die von der dominierenden Strömung der zionistischen Bewegung (Zionistische Weltorganisation, Jewish Agency, Jewish National Fund etc.) übernommen wurde, um politische Unterstützung für ihr Kolonialprojekt eines exklusiven jüdischen Staates in Palästina (d.h. im heutigen Israel und in den besetzten Gebieten) zu rechtfertigen und zu gewinnen. Der säkulare (nichtreligiöse) politische Zionismus führte althergebrachte religiös-spirituelle Begriffe der Juden als »auserwähltes Volk« und »Eretz Israels« in ein aggressives, rassistisches politisches Kolonialprogramm über, das auf der Grundlage der Doktrin, Jüd/-innen stellten eine Nation im politischen Sinn mit vorrangigem Anrecht auf Palästina dar, dazu aufrief, Palästina, das als Land ohne Volk bezeichnet wurde, ›zu erlösen‹. (BDS 2008, 15) In dieser als »Siedlerkolonialismus« kategorisierten Deutung eines »aggressiven« Zionismus wird die ethnisierte Gruppenidentität von Jüdinnen und Juden als Nation, d.h. die Kombination von nationalen und ethnisch-religiösen Motiven
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Menschenrechte und Antisemitismus
des politischen Zionismus, nicht als allgemeine Konstruktions- und Entstehungslogik von Nationen und Nationalismen verstanden, sondern als Ausdruck eines exklusiv-jüdischen Kolonialrassismus – Zionismus –, dessen Ziel die koloniale Subordination und Vertreibung der indigenen palästinensischen Bevölkerung zum Zweck der jüdisch-exklusiven Landnahme war. Die Politisierung von Ethnizität und Nation innerhalb des jüdischen Nationalismus wird dabei als illegitime Grenzziehung klassifiziert, insofern das Judentum für die TPSB eine Religion und keine unabhängige Nationalität darstellt. Damit werden im Sinne der analytischen Merkmale antizionistischer Antisemitismen gleichermaßen Formen der Delegitimierung sichtbar, die sowohl das Existenzrecht Israels als »jüdischen« Staat infrage stellen als auch die Verwirklichung der jüdisch-nationalen Idee des »Zionismus« mit dem politischen Unrecht des »Kolonialismus« identifizieren. Zionism claims that all people worldwide who identify themselves as Jewish belong to a »Jewish nation«, although these people are citizens of many countries, and that this »nation« has an inherent right to a »Jewish state« in Palestine, despite the presence of the indigenous Palestinian population. (BDS o.D.e) Der Signifikant »Zionismus« erscheint demzufolge nicht als identitätsstiftende Ideologie von Jüdinnen und Juden, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund materieller Not, Existenz- und Identitätskrisen osteuropäischer und westeuropäischer Jüdinnen und Juden entwickelte hat (soziale Logik), sondern als von jedem zeithistorischen Kontext entfremdete, monolithische Expansionsideologie, die sich sinnhaft aus den Diskurselementen »Rassismus«, »Kolonialismus«, »jüdischer Exklusivismus« und dem Ziel der kolonialen Vertreibung indigener Palästinenser/-innen konstituiert. Diese gegenhegemoniale Sinnfixierung des »Zionismus« folgt dabei ebenfalls den Mechanismen der heuristisch als Signifikationspraxis der Delegitimierung beschriebenen Identifikation des Zionismus und der Realisierung jüdischer Staatlichkeit (Kapitel 5.1.4) mit Symbolen des »Bösen« moderner Gesellschaftsverhältnisse, hier: »Kolonialismus«, »Ethnozentrismus« respektive »Rassismus« (Analysekategorie der Dämonisierung). Am Beispiel der Verherrlichung des arabischen Aufstands gegen die jüdische Migration nach Palästina von 1936 bis 1939 als antikolonialen, antirassistischen Widerstand kann diese Sichtweise auf den Zionismus exemplifiziert werden: Der frühe arabische Widerstand gegen die jüdische Immigration nach Palästina war nicht durch die Angehörigkeit dieser MigrantInnen zu einer bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppe motiviert, sondern durch die Tatsache, dass die jüdische Kolonisierung von einer fremden (europäischen) zionistischen Bewegung organisiert wurde, die auf einer rassistischen Doktrin beruhte und zum Ziel hatte, die einheimische arabische Bevölkerung zu ersetzen und eine Fremdherrschaft zu errichten. (BDS 2008, 21)
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Dabei nimmt das im Zitat angeführte »Ziel«, »die einheimische arabische Bevölkerung zu ersetzen und eine Fremdherrschaft zu errichten«, eine zentrale Funktion in dem Hegemonieprojekt der TPSB ein. Denn durch das vermeintliche Ziel des Zionismus wird der Nahostkonflikt nicht nur entlang der Dichotomie von kolonialem Täter und kolonisiertem Opfer historisiert, sondern auch als ahistorische Kontinuitätsfiktion homogenisiert, weil sich die verschwörungstheoretische Vorstellung eines zionistischen »Planziels« bis in die politische Gegenwart durchsetzt. Dementsprechend heißt es über die Wesensgleichheit von Israel und der so gedeuteten zionistischen Kolonialbewegung: »For us, Zionism is not a national liberation movement but a colonial movement, and the State of Israel is and has always been a settlers’ colonial state.« (BDS 2009a) In diesem Sinne bezieht sich der Signifikant »Zionismus« auch nicht auf einzelne ideologische Aspekte, historische Ereignisse oder Praktiken der jüdischen Nationalbewegung und -ideologie seit dem späten 19. Jahrhundert, sondern wird als ein spezifisches, homogenes, ahistorisches »zionistische[s] Regime« über die Palästinenser/-innen klassifiziert: Unter Regime verstehen wir hier jenes auf Gesetzen, Strukturen, Politiken und Praktiken beruhende Herrschaftssystem, das dem Verhältnis des Staates Israel zum palästinensischen Volk zugrunde liegt. Der Begriff bezieht sich nicht auf eine besondere Regierung oder Phase. (BDS 2008, 2) In dem BDS-Diskurs erfüllt die Homogenisierungsfunktion des Signifikanten »Zionismus« den Zweck, die Konstruktion eines Antagonismus zwischen jüdischen »Unterdrückern« und palästinensischen »Unterdrückten« bedeutungsgenerierend zu reproduzieren. Durch die scheinbar unzweifelhafte Zuordnung von »gut« und »böse«, die mit der Binarität von »Unterdrücker« und »Unterdrückte« einhergeht, wird zudem eine einseitige Täter-Opfer-Dichotomie sichtbar, die sich analytisch als Zusammenspiel antisemitischer Bedeutungskomplexe der simplifizierenden Entkontextualisierung der Konfliktrealität und der Dämonisierung verstehen lassen. Auf diese Weise wird eine manichäische Sichtweise auf den Konflikt reproduziert, die sowohl einseitige Schuldzuweisungen enthält als auch die Heterogenität und Diversität der israelischen Gesellschaft zugunsten der homogenisierten Kollektividentität eines jüdischen »Tätervolks« auflöst, wodurch die Legitimität jüdischer Identitäten und Positionen infrage gestellt wird. Diese binarisierende Repräsentationspraxis des »Zionismus« wird auch deutlich, sobald sich der Blick auf die Subjektpositionen richtet, die auf der antagonistischen Kette der Feindsignifikanten des »Zionismus« wirksam werden. Nach Martin Nonhoff (2006) zeichnen sich Subjektpositionen dadurch aus, dass sie in der Lage sein müssen, »die Begründung für Schwierigkeiten bei der ›Verwirklichung‹ des imaginären Allgemeinen […] und für die Notwendigkeit einer gemeinsamen Anstrengung zu liefern« (255). Demzu-
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folge werden alle staatlichen Institutionen – wie beispielsweise das israelische Parlament, der Oberste Gerichtshof Israels oder parastaatliche Institutionen, wie israelische Hochschulen, Kultureinrichtungen oder das Militär – in die hegemoniale Subjektposition des zionistischen »Täters« angerufen. Eine spezielle Subjektivierungsweise der nationalen Subjektposition des zionistischen »Täters« erfährt die Gruppe der Siedler/-innen, die in dem Diskurs als homogene Einheit von gewaltsamen »colonists« (Stop the Wall 2009) oder »colonial settlers« (Barghouti 2011, 178) sinnhaft vernäht wird. Siedler/-innen werden dabei als »fanatical« (Stop the Wall 2009) »messianic« (BDS 2015a) oder »criminal« (BDS 2015b) beschrieben, rauben Land (Barghouti 2011), belagern und bedrohen palästinensische Ortschaften (Stop the Wall 2008b), bauen illegal auf palästinensischem Boden (Stop the Wall 2012), dringen regelmäßig in palästinensisches Gebiet ein (ebd.), formieren sich als »settler gangs«, »fundamentalist settler terror groups« (BDS 2015c) oder »fundamentalist settler lynch mobs« (BDS 2016b), um straflos bleibende, barbarische (ebd.) Gewalttaten an schutzlosen palästinensischen Zivilist/-innen oder Protestierenden auszuüben, Kinder und Jugendliche zu exekutieren oder ganze Gebiete der Westbank gewaltsam zu entvölkern (War on Want. Fighting global poverty 2010). Daneben wird auch die Sphäre der Zivilgesellschaft und werden demnach auch alle19 Mitglieder der israelischen Gesellschaft in die Subjektposition des »Täters« hineingerufen. Allgemein wird die israelische Gesellschaft als »settlersociety« (BDS o.D.f) diskursiviert, die als »widely militarized […] society« (BDS 2011a) erscheint und daher als monolithischer Block konstruiert wird, der mit dem Projekt der zionistisch-kolonialen Verschwörung gegen Palästinenser/-innen untrennbar verstrickt sei. Dementsprechend sind jüdische Bürger/-innen Israels gleichermaßen verantwortlich für das Regime über die Palästinenser/-innen und werden als »Täter« subjektiviert: »Israeli crimes do not occur in a vacuum; they are products of a culture of impunity, racism, and genocidal tendencies that has overtaken Israeli society, shaping its mainstream discourse and ›commonsense‹ approach to the ›Palestinian problem‹.« (Barghouti 2011, 40) In Kapitel 3.3.3 habe ich den Mehrwert eines Hauptsignifikanten für den Feind und seine Subjektivierungsweise aufseiten der antagonistischen Äquivalenzkette dahingehend zusammengefasst, dass er ein diskursives Verständnis dafür liefern kann, warum sich sozial frustriert bleibende Forderungen eines konstruierten »Volks« nicht auf gesellschaftliche Antagonismen, sondern auf einen »Eindringling« verlagern lassen. Rassistische Diskurse sind exemplarisch für diese Form der Verlagerung sozialer Antagonismen. Der als »Eindringling« vorgestellte Andere gilt
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Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass es jüdischen Israelis gelingen kann, die Subjektposition des »Täters« zu verlassen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sie den palästinensischen BDS-Call vollumfänglich unterstützen, d.h. das jüdische Selbstbestimmungsrecht infrage stellen (Stop the Wall, o.D.b).
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
dann als »Manipulator« der gerechten Ordnung, wobei sein abstrakter Charakter oft durch eine »Pseudokonkretheit der Figur« personifiziert wird. In dem BDSDiskurs übernimmt die dekontextualisierte, homogenisierte, zeitlose Vorstellung des »Zionismus« und seiner Materialisierung in dem »israelischen Regime« diese Pseudokonkretheit der Figur. Dadurch findet eine Verlagerung des politischen Antagonismus im Israel-Palästina-Konflikt statt. Wie wir im letzten Kapitel durch die Darstellung der sozialen Logik gesehen haben, wird der Nahostkonflikt in dem sozial sedimentieren, politischen, medialen und wissenschaftlichen Diskurs als Territorialkonflikt zwischen zwei konkurrierenden Ansprüchen auf dasselbe Territorium klassifiziert. Der gegenhegemoniale Kampf um palästinensische Hegemonie versucht nun die Deutung eines Kolonialkonflikts zu etablieren, in der die Ursache des Problems im Nahen Osten auf einen jüdischen Siedlerkolonialismus und Rassismus zurückführbar wird. Am Beispiel der Ablehnung von dialogbasierten Friedenskooperationen wird die strikte Abgrenzung zu der hegemonialen Logik eines symmetrischen Konflikts mit legitimen Ansprüchen, Forderungen und Verantwortlichkeiten auf beiden Seiten deutlich: [T]he main reason is because this peace industry is morally flawed and based on a false premise: that this »conflict« is mainly due to mutual hatred and implies mutual responsibility, and thus you need some kind of therapy or dialogue between those two equivalent, symmetric, conflicting parties. […] Of course, this is deceitful and morally corrupt because the conflict is a colonial conflict – it’s not a domestic dispute between a husband and a wife in a culture of social equals. It’s a colonial conflict based on ethnic cleansing, racism, settler colonialism, and apartheid. Without removing the root causes of the conflict, you cannot have any coexistence, at least not ethical coexistence. (Barghouti 2011, 172) Von einer solchen gegenhegemonialen Deutungslogik ausgehend, wird das jüdische Recht auf nationale Selbstbestimmung, die an das Territorium Eretz Israel gekoppelt ist, schließlich negiert. »The concept of a Jewish homeland is one thing; the creation and maintenance of a ›Jewish state‹, in Palestine, at the expense of its non-Jewish inhabitants, is another. The right to self-determination is never a right to colonisation, whoever is doing it.« (BDS 2016a) Wird das jüdische Recht auf nationale Selbstbestimmung in Abrede gestellt, folgt die Verlagerung des Antagonismus den Mechanismen antizionistischer Delegitimierung, wie sie in Kapitel 3.7.5 als Bedeutungskomplexe antisemitischer Sinnfixierungen bestimmt wurden. Darüber hinaus weist die Gleichsetzung von »Zionismus« und »Kolonialismus« der Form und Ausübung jüdisch-nationaler Selbstbestimmungsrechte einen besonderen Sinn als partikulare Chiffre allgemeiner Unrechtsverhältnisse zu, was entsprechend der theoretischen Heuristik gleichermaßen als artikulatorische Praxis der Delegitimierung zu verstehen ist.
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Menschenrechte und Antisemitismus
Über die spezifische Funktionsweise des zionistischen Feindsignifikanten wird demzufolge deutlich, wie der hegemoniale Konsens über die Ursache des Konflikts zwischen Israelis und Palästinenser/-innen, d.h. der Kampf zweier legitimer Nationalbewegungen und ihrer Ansprüche auf dasselbe Territorium – soziale Logik –, über die gegenhegemoniale Artikulation des jüdischen Diasporanationalismus als Kolonialrassismus angegriffen wird. Gleichzeitig legitimiert sich über die Deutung des Nahostkonflikts als Kolonialkonflikt die rechtebasierte Forderung nach einer Dekolonisierung des palästinensischen »Volks« durch die Gewährleistung ihres Selbstbestimmungsrechts als Lösung des Konflikts. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden durch die Analyse von Strategem III rekonstruiert.
5.3.2
»The Palestinian struggle is, at its core, a basic human instinct and drive for self-determination«: das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen »Volks« als symbolisches Äquivalent des imaginären Allgemeinen (Strategem III)
Im letzten Abschnitt wurde gezeigt, wie die spezifische Verlagerungsfunktion des zionistischen Hauptsignifikanten für den Feind zu der gegenhegemonialen Deutung des Nahostkonflikts als »Palesinian-Israeli-colonial conflict« (Barghouti 2011, 51) geführt hat. Dabei wurde insbesondere auf die diskursiven Bedeutungszuweisungen der Delegitimierung, entkontextualisierenden Simplifizierung und Dämonisierung hingewiesen, die eine stabilisierende Wirkung auf die antisemitische Feindbildkonstruktion des »Zionismus« erzielt haben. Von dieser Deutung ausgehend, wird nun das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung als Lösung des Nahostkonflikts artikulierbar. Dieses Recht auf Selbstbestimmung wendet sich dabei gegen die hegemoniale Narration eines lösungsorientierten Konfliktansatzes, der sowohl israelische als auch palästinensische Forderungen zu harmonisieren versucht. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, rekapituliere ich die Merkmale des BDSProtests, wie ich sie in Kapitel 1 beschrieben habe. Die transnationale Palästinasolidaritätskampagne bezeichnet ihren Protestansatz als »rights-based approach« und grenzt ihn scharf von einem sogenannten solution-based approach des israelischpalästinensischen Antagonismus im Nahen Osten ab (Barghouti 2009). Damit ist gemeint, dass die TPSB anstelle eines politischen Programms zur diplomatischen Lösung des israelisch-palästinensischen Antagonismus die Durchsetzung dreier irreduzibler Rechte für das palästinensische ›Volk‹ durch die Umsetzung eines allumfassenden Boykotts fordert. Dieser »rights-based approach« legitimiert sich dabei über die antizionistische Narration des Konflikts als Kolonialkonflikt, in der israelische Forderungen notwendigerweise in das Außen des Diskurses verschoben werden. Folgende Zitate zeigen, wie sich der gegenhegemoniale Diskurs gegen die hegemoniale Problemkonstruktion und -lösung wendet.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Die Forderung nach einem Recht auf Selbstbestimmung wird über die völkerrechtliche Kontextualisierung des Kolonialismusbegriffs im Anschluss an die Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker (UN-Resolution 1514) hergestellt und auf die gegenhegemoniale Artikulation des Zionismus angewendet: Colonialism is commonly defined as subjecting a nation to alien subjugation, domination and exploitation thereby preventing this nation from exercising its right to self-determination […] Israel’s regime over the Palestinian people conforms to the above definitions of colonialism. (BDS 2011a) Insofern das kollektive Selbstbestimmungsrecht nicht von kolonialen Bewegungen, die auf eine Unterdrückung der Rechte subordinierter Gruppen ausgerichtet sind, in Anspruch genommen werden kann, legitimiert sich die Forderung nach einem universalen Recht auf partikulare Selbstbestimmung der Palästinenser/-innen erst durch die Aberkennung des universalen Rechts nach partikularer Selbstbestimmung für Jüdinnen und Juden. Damit zeigt sich nun die partikulare Begrenztheit des universalen Menschenrechtsdiskurses der BDS-Bewegung – gleiche Selbstbestimmungsrechte gelten nicht für Jüdinnen und Juden – und dadurch auch der antisemitische Charakter des Hegemonieprojekts, indem das Existenz- und Selbstbestimmungsrecht Israels notwendigerweise in das negatorische »Außen« des Diskurses verschoben wird (antizionistische Delegitimierung): Peace, or, better, justice cannot be achieved without a total decolonization (one can say de-Zionisation) (negativer Signifikant Zionismus, Strategem IV) of the Israeli State; it is a precondition for the fulfillment of the legitimate rights of the Palestinians. (Strategem III, Forderung nach Selbstbestimmung) (BDS 2009a) Ausgehend von der Aberkennung einer »symmetry between two equally legitimate national movements and aspirations« (ebd.), legitimiert sich also der »gerechte« antikoloniale palästinensische Selbstbestimmungskampf in Kontrarität zu der unrechtmäßigen Ausübung jüdischer Selbstbestimmungsrechte auf dem Territorium »Israel«. Durch die spezifische Art und Weise der Konstruktion des ontischen Antagonismus wird demzufolge sichtbar, wie der machtvolle Ausschluss jüdischnationaler Identitäten, Positionen und Ansprüche in dem BDS-Diskurs artikuliert wird. Gleichzeitig reproduziert die symbolische Repräsentation des »Zionismus« als illegitimes »Anderes« des Rechtediskurses antizionistische Deutungsangebote, die eine simplifizierende Perspektive auf die Konfliktrealität enthält: Hier der »gute« antikoloniale Kampf um palästinensische Selbstbestimmungsrechte, dort die »böse« zionistische Fremdbestimmung. Bereits an dieser Stelle wird also deutlich, dass sich die Forderung nach Menschenrechten für Palästinenser/-innen – hier dem Recht auf Selbstbestimmung – nur über antisemitische Differenzkonstruktionen hegemonialisieren
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Menschenrechte und Antisemitismus
kann. Folgendes Schaubild stellt die antizionistische Verlagerung des Antagonismus durch das kontraritätsrelationale Zusammenspiel von Strategem III und IV in vereinfachter Form dar:
Abb. 3 Antagonistische Zweiteilung durch den Mangel am Allgemeinen und der umfassenden Forderung nach seiner Überwindung
Nachdem bislang diskutiert wurde, wie sich die palästinensische Forderung nach dem universalen Recht auf Selbstbestimmung erst in antizionistischer Differenz zu einem legitimen Recht auf jüdische Selbstbestimmung artikuliert, soll nun nachvollzogen werden, wie sich das palästinensische ›Volk‹ als Subjekt der Selbstbestimmung durch drei in dem BDS-Call geforderte Rechte, erstens das Recht auf Gleichheit für arabische Israelis, zweitens das palästinensische Rückkehrrecht, drittens das Recht auf ein Ende der Besatzung, konstituiert (s. BDS 2005).
5.3.3
»These are three basic rights without which the Palestinian people cannot exercise its inalienable right to self-determination.« Die Konstruktion des palästinensischen »Volks« (Strategem I und II)
In Kapitel 1 habe ich dargestellt, dass die BDS-Bewegung anstelle eines politischen Programms zur Lösung des Nahostkonflikts die Durchsetzung dreierirreduzibler Rechte für das palästinensische ›Volk‹ durch die Umsetzung eines allumfassenden Boykotts fordert. Neben dem rechtebasierten Ansatz der Solidaritätsbewegung wurde demzufolge auch der Repräsentationsanspruch des BDS-Calls als Besonderheit des BDS-Aktivismus charakterisiert, insofern er beansprucht, die Ansprüche, Bedürfnisse und politischen Ziele allerPalästinenser/-innen, d.h. der palästinensischen Zivilgesellschaft in Israel, in den besetzten Gebieten und der palästinensischen Diaspora zu vertreten (Kapitel 1.2.2). In starker Abgrenzung zu den Osloer Friedensprozessen, die den politischen Fokus auf die Bedürfnisse der Palästinenser/-innen in den OPT beschränkt haben, beansprucht BDS nun, auch die kollektiven Rechte der geografisch in Israel und der Diaspora verteilten Palästinenser/innen einzufordern.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Das folgende Kapitel rekonstruiert, wie sich das palästinensische ›Volk‹ als kollektives Subjekt des Selbstbestimmungsrechts über eine antizionistische Betrachtung Israels und damit durch den machtvollen Ausschluss jüdischer Forderungen und Ansprüche konstruiert. Als zentrales Argument wird sich dabei erweisen, dass die geforderten Rechte für das unterdrückte palästinensische ›Volk‹ nur als Rechte artikuliert werden können, wenn Israel einerseits mit Rassismus, Exklusivismus und Kolonialismus äquivalenziert wird (antizionistische Dämonisierung) und israelische Konfliktperspektiven andererseits in das negatorische »Außen« des Diskurses verbannt werden (entkontextualisierte Simplifizierung). Diese Funktionsweise wird über den Vergleich zwischen sozialer und politischer Logik exemplifiziert. Was bedeutet es hegemonietheoretisch, ein »Volk« zu konstruieren? Wie wird das »palästinensische Volk« als Subjekt der Selbstbestimmung artikuliert? Welche Stellung nehmen israelische Perspektiven, Identitäten und Ansprüche dabei ein? Ein »Volk« diskursiv zu konstruieren, heißt hegemonietheoretisch verschiedene Subjektpositionen und Forderungen zu aggregieren, d.h. zu einer Äquivalenzkette zusammenzufügen und unter den leeren Signifikanten – hier: »Recht auf Selbstbestimmung« – zu subsumieren. Entsprechend dem Antagonismus als zentraler Funktionsweise hegemonialer Projekte (siehe Abschnitt 3.3.2) müssen die einzelnen Forderungen und Subjektpositionen in Kontrarität zu einer Differenzkette von Mängeln/Bedrohungen sowie darin enthaltener Subjektpositionen stehen. Durch die Rekonstruktion der Äquivalenzierung differenter, am Allgemeinen orientierter Forderungen und Subjektpositionen (Strategem I) zeigt der kommende Abschnitt, wie sich das palästinensische ›Volk‹ durch einzelne politische Forderungen nach Rechten konstruiert, die in Kontrarität zu einzelnen artikulierten Mängeln des israelischen Staats und darin eingeschriebener Subjektpositionen stehen. Die dadurch hervorgebrachte antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums wird durch die Analyse von Strategem II sichtbar gemacht. In dem Gründungsmanifest der BDS-Bewegung, dem Call an die internationale Zivilgesellschaft, zeigt sich die Kontraritätsrelation zwischen Äquivalenz- und Differenzkette (Strategem I und II) exemplarisch: Israel is occupying and colonising Palestinian land (Mangel 1: Israelische Besatzung und Kolonisierung), discriminating against Palestinian citizens of Israel (Mangel 2: israelische Apartheid) and denying Palestinian refugees the right to return to their homes (Mangel III: verweigerte Flüchtlingsrückkehr). It is maintaining a regime of occupation, settler-colonialism and apartheid over the Palestinian people (Mangel 1, Mangel 2, Mangel 3 bilden gemeinsam Strategem II). […] Inspired by the South African anti-apartheid movement, the BDS call urges action to pressure Israel to comply with international law by:
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Menschenrechte und Antisemitismus 1. Ending its occupation and colonization of all Arab lands and dismantling the Wall 2. International law recognises the West Bank, including East Jerusalem, Gaza and the Syrian Golan Heights as occupied by Israel. (Forderung I: Ende der Besatzung und Kolonisierung) 3. Granting Arab-Palestinian citizens of Israel their right to full equality (Forderung II: Gleichheit für arabische Israelis) 4. Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN resolution 194 (Forderung III: Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge) (Forderung 1, Forderung 2, Forderung 3 bilden gemeinsam Strategem I) (BDS o.D.c).
Folgendes Schaubild zeigt, wie die Kontraritätsrelationen zwischen den Mangelelementen (Differenzkette) und den Forderungselementen (Äquivalenzkette) die antagonistische Zweiteilung des diskursiven Raums vollzieht:20
Abb. 4: Antagonistische Zweiteilung des Hegemonieprojekts der BDS-Bewegung
20
Die gesamten Kontraritäts- und Äquivalenzrelationen sind übersichtlichkeitshalber nur am Beispiel des Mangels 1 – Koloniale Besatzung – dargestellt.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Das Entscheidende an dieser Stelle ist, dass der leere Signifikant »Selbstbestimmung« (Strategem III) verspricht, die Rechte aller Palästinenser/-innen zu erfüllen, womit er das palästinensische ›Volk‹ als kollektives Subjekt der Selbstbestimmung diskursiv herstellt. Um nun zu rekonstruieren, wie die einzelnen Segmente des geografisch verstreuten palästinensischen »Volks« über einzelne Unterdrückungsmerkmale Israels konstituiert werden, beginne ich mit der Forderung nach »dem Grundrecht der arabisch-palästinensischen Bürger/-innen Israels auf völlige Gleichheit« (Forderung 2, Mangel 2, siehe Abb. 4). Ein zentraler Fokus wird dabei auf der Frage liegen, wie die Umdeutung des ethnischen Charakters der jüdischen Demokratie – d.i. die hegemoniale Logik des israelischen Staatsmodells (siehe Abschnitt 5.1.4) – als Apartheidstaat erst die politischen Forderungen nach gleichen Rechten für Palästinenser/-innen artikulierbar macht. Der palästinensische Kampf um Rechte, der zu einer »neuen« Perspektive auf den Nahostkonflikt führen soll, beruht demzufolge auf der antisemitischen Umdeutung des israelischen Charakters als jüdischen und demokratischen Staat. Dieses Argument wird sich im Laufe des Kapitels entfalten.
5.3.4
»Das Grundrechtder arabisch-palästinensischen Bürger/-innen Israels auf völlige Gleichheit« – die Zielforderung nach rechtlicher Gleichstellung der Palästinenser/-innen und die Elemente ihrer Blockade
In dem BDS-Call an die internationale Zivilgesellschaft aus dem Jahr 2005 wird gefordert, das Grundrecht der arabisch-palästinensischen Bürger/-innen Israels auf völlige Gleichheit zu verwirklichen (Strategem I). Durch die Gewährleistung der rechtlichen Gleichstellung arabisch-palästinensischer Staatsbürger/-innen Israels soll das erste Bevölkerungssegment des palästinensischen »Volks« von der israelischen »Apartheid« »befreit« werden, um die umfassende Forderung nach palästinensischer Selbstbestimmung (Strategem III) durchsetzen zu können. Wie wird die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung arabisch-palästinensischer Staatsbürger in Israel artikuliert? Die Forderung nach einer rechtlichen Gleichstellung der arabisch-palästinensischen Bevölkerung Israels hängt in dem Diskurs von der gegenhegemonialen Deutung des israelischen Selbstverständnisses als rassistischer Apartheidstaat ab. Unter Apartheid versteht die BDS-Bewegung dabei in Anlehnung an das »Übereinkommen über die Bekämpfung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid« (1976) eine »ähnliche Politik und Praktiken der Rassentrennung und -diskriminierung, wie sie in Südafrika praktiziert wurden«, die mit dem »Ziel der Errichtung und Aufrechterhaltung einer Herrschaft einer rassischen Gruppe oder Person über jede andere rassische Gruppe oder Person und deren systematische Unterdrückung« (BDS 2008, 15) verbunden ist. Zentral für die Apartheidnarration
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ist demzufolge der südafrikanische Referenzpunkt. Während Südafrika zu Zeiten der Apartheid jedoch ein eindeutig identifizierbares Segregationssystem institutionalisiert hatte, signifiziert das israelische Apartheidsystem in dem BDS-Diskurs eine Form von Apartheid, die schlimmer sei als das südafrikanische Vorbild. So verstecke Israel im Gegensatz zu Südafrika sein Apartheidregime hinter dem Schleier der Demokratie. South African apartheid was rudimentary, petty, primitive, so to speak – literally black and white, clear separation, no rights. Israel’s apartheid is more hidden and covered up with a deceptive image of »democracy«. Palestinian citizens of Israel […] have the right to vote, and that is a huge difference from South Africa; however, in every other vital domain they are discriminated against by law – not only by policy but by law. (Barghouti 2011, 168) Die Stellung der arabisch-palästinensischen Minderheit in der ethnischen Demokratie Israel wird von der BDS-Bewegung demzufolge als institutionalisierte Rassendiskriminierung bezeichnet, die sich hinter dem vermeintlich demokratischen Charakter des jüdischen Staats verstecke. Mit dem Apartheidnarrativ versucht die TPSB also, die Legitimität des ethnisch-nationalen Selbstverständnisses Israels als eines »jüdischen« und »demokratischen« Staats, wie ich sie im Kapitel zuvor als hegemoniale Narration des israelischen Staatsmodells definiert habe, anzugreifen, umzudeuten und durch einen neuen Bedeutungshorizont – den israelischen Apartheidstaat – abzulösen. Diese Umdeutung kann dabei nur über antisemitische Signifikationen Israels stattfinden. Genauer können nur antizonistische Mechanismen der Delegitimierung und Dämonisierung eine entkontextualisierende Umdeutung des ethnischen und demokratischen Charakters Israels als »Apartheidsystem« stabilisieren. Wie wirken Delegitimierung und Dämonisierung als bedeutungsgenerierende Mechanismen israelischer Apartheid gegenüber den arabisch-palästinensischen Israelis? Wie die Apartheidnarration durch das Hegemonieprojekt vorangetrieben wird, zeigt sich, wenn aufseiten des Rechtediskurses die konstitutionelle Verfasstheit Israels als eine »ethnische Demokratie«, die mit gewissen verfassungsmäßigen Privilegien für die jüdische Bevölkerungsmehrheit einhergeht (5.1.4), als System einer institutionalisierten Rassendiskriminierung gegenüber arabisch-palästinensischen Israelis eingeordnet wird. In dem Diskurs der TPSB ist das ethnisch-nationale Selbstverständnis als jüdischer Staat demzufolge nicht mit dem Prinzip demokratischer Organisationsformen vereinbar (Dämonisierung). Die institutionalisierte Dominanz von Jüdinnen und Juden wird dabei als Ausgangspunkt einer systematisch angelegten rassistischen Ungleichbehandlung artikuliert, was folgende Diskurssequenz zeigt: »Israel’s system is a legalized and institutionalized system of
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racism that enables one racial group to persistently dominate another, and that’s what makes it apartheid.« (Barghouti 2011, 167 und 68)21 Wird jüdisch-nationale Selbstbestimmung und ihre Form der Umsetzung als ethnische Demokratie nicht als legitime Form der nationalen Grenzziehung – wie sie beispielsweise auch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Deutschland bis zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 2000 oder Griechenland kennzeichnen –, sondern als partikular-jüdische Chiffre für gesellschaftliches Unrecht – Apartheid – artikuliert, findet eine Delegitimation des jüdischen Rechts auf Selbstbestimmung und Existenz als jüdischer Staat statt.
Abb. 5: Positionierung des Diskurselementes »Israelische Apartheid«
21
Der Apartheidbegriff wird von der Palästinasolidarität im Anschluss an die Anti-ApartheidKonvention der Vereinten Nationen und das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs als System der institutionalisierten Rassendiskriminierung durch die Ausübung der Herrschaft einer »rassischen« Personengruppe über eine oder mehrere andere »rassische« Personengruppen, dessen Durchsetzung sowie Aufrechterhaltung durch einzelne inhumane Akte gewährleistet wird, klassifiziert (BDS 2008, 11; Barghouti 2011, 17).
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Um diese gegenhegemoniale Umdeutung Israels als Apartheidregime zu plausibilisieren, bezieht sich der BDS-Diskurs auf zwei konstitutionelle Gesetze des israelischen Staats, die seinen ethnischen Charakter signifizieren. Wie in Kapitel 5.1.4 dargestellt, wird der ethnische Charakter Israels durch eine Reihe von Rechten gewährleistet, die die Existenz einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit im Staat sichern sollen und einen rechtlichen Gegensatz zwischen jüdisch-nationaler Mehr- und nicht jüdischer Minderheit darstellen. Dazu gehört die israelische Immigrationspraxis durch das israelische Rückkehrgesetz sowie das Nationalitätengesetz von 1952, das jüdische Einwander/-innen die Möglichkeit offeriert, nach Israel einzureisen und die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie diese beiden Diskurselemente als Ausdrucksform israelischer Apartheid gegenüber den arabisch-palästinensischen Israelis klassifiziert werden. Das Schaubild in Abbildung 5 veranschaulicht die Positionierung der einzelnen Diskurselemente auf den jeweiligen Äquivalenzketten.
5.3.4.1
Das israelische Rückkehr- und das Staatsbürgerschaftsgesetz als Elemente der Apartheid gegenüber den arabisch-palästinensischen Israelis
In Kapitel 5.1.4 wurde das israelische Rückkehrgesetz als konstitutiv-institutioneller Leitgrundsatz innerhalb der demokratischen Grundordnung Israels dargestellt, der in signifikanter Form den ethnischen Charakter des »jüdischen« Staats als Heimstätte für die Diasporagemeinschaft der Juden garantiert. Das zentrale übergeordnete Argument war dabei, dass der ethnische Charakter des jüdischen Staats mit dem demokratischen Prinzip vereinbar ist. In dem gegenhegemonialen Diskurs der TPSB signifiziert das Rückkehrgesetz keinen legitimen Anspruch Israels, seine Grenzen für jüdische Immigration zu öffnen, sondern wird von den Solidaritätsaktivist/-innen als »backbone of Israel’s apartheid« (BDS 2011a) verstanden. Ein solches Regime könne dabei nicht demokratisch verfasst sein. Ausführlich begründet ein Statement der BDS-Kampagne, warum das Rückkehrgesetz als Merkmal rassistischer Ungleichbehandlung verstanden werden muss:22 Die Rassendiskriminierung (Mangel: Apartheid) gegen das einheimische palästinensische Volk wurde durch die gesetzliche Einführung einer »jüdischen Nationalität«, die sich von der israelischen Staatsbürgerschaft unterscheidet, formalisiert und institutionalisiert; eine »israelische« Nationalität gibt es nicht. Das Gesetz über die Rückkehr (Law of Return) aus dem Jahr 1950 ist ein effektives 22
Insofern der Mangel des Rückkehrgesetzes auch in einem markanten Kontraritätsverhältnis zu der Zielforderung nach einem Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr steht, werde ich im nächsten Abschnitt über die Forderung nach einem palästinensischen »Rückkehrrecht« erneut darauf zu sprechen kommen.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Nationalitätengesetz, da es allen Juden/Jüdinnen und nur Juden/Jüdinnen nationale Rechte zugesteht, nämlich das Recht, nach »Eretz Israel« (Israel und die besetzten Gebiete) einzuwandern und sofort in den Genuss voller gesetzlicher und politischer Rechte zu kommen. (Element des Mangels: Law of Return) (BDS 2008, 16) Auch das Staatsbürgerschaftsgesetz wird in dem Diskurs als Ausdruck institutionalisierter, rassistischer Ungleichbehandlung zwischen der jüdischen und arabischpalästinensischen Bevölkerung Israels kategorisiert. Das Staatsbürgerschaftsgesetz (Citizenship Law) von 1952 regelt die Erlangung der israelischen Staatsbürgerschaft für Jüd/-innen und Nichtjuden/-jüdinnen. Dieser Gesetzesrahmen hat ein diskriminierendes zweistufiges Rechtssystem geschaffen, in dem Jüd/-innen Nationalität und Staatsbürgerschaft besitzen, während die restliche einheimische palästinensische Bevölkerung nur die Staatsbürgerschaft besitzt (Mangel 1: Apartheid, Element des Mangels: Staatsbürgerschaftsgesetz). (Ebd., 12) Der »Charakter des israelischen Regimes« als »institutionalisierte Rassendiskriminierung und Apartheid« (ebd., 11) wird in dem Diskurs der BDS-Bewegung demzufolge durch verschiedene Gesetze signifiziert, die im heutigen Staat Israel ebenso existieren würden wie im südafrikanischen Apartheidsystem (Stop the Wall 2011). Aufgrund dieser »fanatically racist laws« (PACBI 2012a) müsse »Israel’s so-called right to exist as a Jewish state« (Barghouti 2011, 177) als Recht auf Apartheid decodiert werden, womit gezeigt werden soll, dass der demokratische Charakter Israels nur ein Mythos sei: »[T]hese [die beiden Gesetze] are but a few examples of the many laws that expose the myth that is Israeli democracy.« (PACBI 2012a) Ausgehend von der Charakterisierung einer institutionalisierten Rassendiskriminierung (Apartheid) der arabisch-palästinensischen Israelis, fordert die BDS-Bewegung das eingangs eingeleitete »Grundrecht der arabisch-palästinensischen Bürger/-innen Israels auf völlige Gleichheit«, woraus sich folgender diskurslogischer Zusammenhang ergibt: Die politische Forderung nach einer vollständigen Gleichheit der arabisch-palästinensischen Bevölkerung im Kernland Israel wird durch das antagonistische Element einer israelischen »Apartheid« verhindert (Strategem I und II), deren zentrale Merkmale das israelische »Rückkehr- und Staatsbürgerschaftsgesetz« bilden. Die Bezeichnung als Apartheidstaat stabilisiert sich durch antisemitische Feindbildkonstruktionen, die auf antizionistischen Bedeutungskomplexen der Dämonisierung – Israel als Symbol rassistischen Unrechts – und Delegitimierung – Israel als jüdischer Apartheidstaat – beruhen. Demzufolge wird sichtbar, wie sich die Forderung nach gleichen Rechten für das palästinensische ›Volk‹ (hier dem Recht auf Gleichheit) als Subjekt der Selbstbestimmung (Strategem III) erst durch
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den antagonistischen Ausschluss jüdischer Perspektiven und nationaler Selbstverständnisse stabilisieren kann. Der politischen Forderung nach gleichen, d.h. gleichen nationalen Rechten nachzukommen, würde dabei bedeuten, eine Lösung des Nahostkonflikts zu forcieren, in der Israel als jüdischer Staat nicht länger existiert. Demzufolge kann diese Forderung als Ausdruck antisemitischer Antizionismen klassifiziert werden.
5.3.5
Die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum zurückzukehren. Die Zielforderung nach einem Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge
Die zweite politische Forderung des BDS-Calls erhebt den Anspruch, »die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge, in ihre Heimat zurückzukehren«, zu respektieren, zu schützen und zu fördern (BDS 2005). Mit der Forderung nach einer Rückkehr aller palästinensischer Flüchtlinge in ihre Heimat (Strategem I) soll das zweite Bevölkerungssegment der Palästinenser/-innen befreit werden, um das kollektive Recht des gesamten palästinensischen »Volks« auf Selbstbestimmung (Strategem III) zu realisieren. Wie wird die politische Forderung nach einem Recht auf Rückkehr in dem BDS-Diskurs artikuliert (Strategem I)? Welche Hindernisse stehen der Umsetzung des Rechts auf Rückkehr dabei entgegen (Strategem II)? Wie verhält sich die Forderung nach einem unveräußerlichen Rückkehrrecht zu der sozialen Logik über den Nahostkonflikt? Die politische Forderung nach einem Recht auf Rückkehr wird in dem Hegemonieprojekt entsprechend dem rechtebasierten Protestansatz als Forderung artikuliert, die einen völkerrechtlich anerkannten Status besitzen würde. Diesen Status als »unveräußerliches« Recht leitet das Hegemonieprojekt aus der rechtsunverbindlichen und in ihrer politischen Reichweite umstrittenen Resolution 194 der UN-Generalversammlung (siehe Abschnitt 5.1.5.1) ab. »The right of Palestinian refugees to return to their homes and be paid reparations for loss of their homes and land is enshrined in international law and affirmed by UN General Assembly Resolution 194.« (War on Want, Fighting global poverty 2010, 9) Damit steht die Forderung nach einem Recht auf Rückkehr im starken Kontrast zu der hegemonialen Logik palästinensischer Geflüchteter, wie ich sie in Abschnitt 5.1.5 dargestellt habe. Die Frage nach der Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge, so wurde gezeigt, stellt einen der umstrittensten Konfliktgegenstände im israelisch-palästinensischen Antagonismus dar. Dass aus dem empfehlenden Charakter der UN-Resolution jedoch kein zwingendes »Recht« auf Rückkehr, wie es von der TPSB gefordert wird, abgeleitet werden kann, wurde in Abschnitt 5.1.5.1 gezeigt. In dem BDS-Diskurs werden verschiedene Argumente angeführt, die als Hindernisse der Umsetzung des Rechts auf Rückkehr erklären sollen, weshalb das ver-
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
weigerte »Recht« von Israel unterbunden wird (Strategem II). In dem gegenhegemonialen Deutungsangebot sind es die israelische Apartheid und die Praxis »ethnischer Säuberung«, die verdeutlichen sollen, warum die politische Forderung nach einem »Recht« auf Rückkehr bislang nicht erfüllt worden ist. Im Folgenden gehe ich zunächst auf die Narration einer »ethnischen Säuberung Palästinas« ein und bespreche anschließend, wie die konstatierte israelische »Apartheid« in dem BDSDiskurs das Recht auf palästinensische Rückkehr verweigert. Entsprechend der in Kapitel 3.7.5 entwickelten Analyseheuristik werden die Diskurselemente »Apartheid« und »ethnische Säuberungen« als diskursive Artikulationspraktiken der antizionistischen Dämonisierung und entkontextualisierende Simplifizierung begriffen. Folgendes Schaubild verdeutlicht die Positionierung der einzelnen Diskurselemente auf den jeweiligen Äquivalenzketten der Forderungs- und Mangelseite (Strategem I und II):
Abb. 6: Positionierung des Diskurselementes: (verweigertes) »Recht auf Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge«
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5.3.5.1
Ethnische Säuberung und Apartheid als Elemente des Mangels der verweigerten Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge
Wie werden ethnische Säuberungen und Apartheid als Hindernisse für die politische Forderung nach dem »Recht« auf Rückkehr artikuliert? Wie strukturieren antizionistische Dämonisierungen und entkontextualisierende Simplifizierungen der Konfliktrealität im Nahen Osten die gegenhegemoniale Narration? In dem Hegemonieprojekt der BDS-Bewegung wird die verweigerte Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge als Ausdruck der systematischen ethnischen Säuberung zum Zweck der jüdischen Kolonisierung palästinensischen Lands – vermittelt durch den Signifikanten »Zionismus« – erklärt. In dieser gegenhegemonialen Narration wird beispielsweise die Flucht und Vertreibung der Palästinenser/-innen als Ursache und Folge des 1948er-Krieges als geplante »ethnische Säuberung« Palästinas charakterisiert. Ethnische Säuberungen sind dabei immer mit dem Zweck verbunden, eine exklusiv-jüdische Vorherrschaft in Palästina zu etablieren. »Palestinians were expelled from their homeland by the settler colonial Zionist movement during the Nakba of 1948 in order to make way for the creation of the state of Israel as a supremacist Jewish state.« (BDS o.D.g) Speziell das palästinensische Narrativ der »Nakba«, das in dem Diskurs der TPSB zeichenhaft für »jüdische Kolonisierung«, »jüdischen Landraub« und »jüdische Vertreibung« steht, signifiziert für die BDS-Bewegung hyperbolisch die millionenfache Vertreibung und den konstatierten Massenmord an den Palästinenser/-innen – eine als antisemitische Täter-Opfer-Umkehrung einzustufende semantische Annäherung an die millionenfache Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, die prototypisch für Dämonisierungen des jüdischen Staats stehen. Folgender Mobilisierungsaufruf der Stop-the-Wall-Kampagne anlässlich des 60. Jahrestages der Nakba verdeutlicht diesen diskursiven Effekt. As part of the national and international mobilization to mark the 60th year of the Palestinian Nakba (catastrophe), in which millions of Palestinians were either slaughtered or displaced by the Zionist militias and army, the Palestinian Grassroots Anti-Apartheid Wall Campaign and its Popular Committees call for the Sixth Week against the Apartheid Wall. (Stop the Wall 2008a) »Ethnische Säuberungen« werden dabei als »lange Tradition« (BDS 2008, 18) der Vertreibungspraxis des Regimes gegenüber den Palästinenser/-innen artikuliert, etwa durch die gezielte ethnische Säuberung »Palästinas« während und nach dem 1967er-Krieg: »More Palestinians have been made refugees since 1967, as Israel carries out similar settler colonial policies in the OPT, forcibly removing Palestinians and populating their land with Jewish Israeli settlers in order to achieve permanent control.« (BDS o.D.g)
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Entscheidend ist hierbei die vollständige Ausblendung israelischer Konfliktperspektiven, die etwa die militärischen Aggressionen der arabischen Nachbarstaaten gegenüber dem israelischen Staat unberücksichtigt lassen. Wir sehen nun, wie die entkontextualisierende Simplifizierung der Konfliktrealität im Nahen Osten als Ausdruck antizionistischer Antisemitismen relevante Kontextfaktoren ausblendet und legitime jüdische Konfliktperspektiven, wie sie in Abschnitt 5.1.5 als Teil der sozialen Logik des palästinensischen Flüchtlingsproblems beschrieben wurden, ausgrenzt. Die palästinensischen Flüchtlinge werden dabei als Synekdoche für all das Leiden (Barghouti 2011, 68), den Schmerz (Stop the Wall 2007), die Entwürdigung (BDS 2008, 5), die Entwurzelung (Barghouti 2011, 45) und die Zersplitterung (BDS 2009b), die das palästinensische ›Volk‹ kollektiv als »Opfer« »zionistischer« Aggression erfahren hat, artikuliert. »Palestinian refugees are the first and largest group of victims of Zionist settler colonialism and its efforts to replace the indigenous Palestinian population and obtain sovereignty over Palestine.« (BDS o.D.g) Als »native people« (Stop the Wall 2008b), »einheimische PalästinenserInnen« (BDS 2008, 8) oder »indigenious Palestinians« (Barghouti 2011, 2) werden sie als Opfer des »fremden« zionistischen Kolonialismus kategorisiert. Sie werden als »entnationalisiertes«, »staatenloses«, »entvölkertes«, »deportiertes«, »umgesiedeltes«, »exiliertes« (Stop the Wall 2011) und über alle Staaten der Welt zerstreutes »Volk« charakterisiert, deren »Rechte« von Israel systematisch verweigert werden. Über die Subjektpositionen als viktimisierende Opfer israelischer Verbrechen wird erneut sichtbar, wie antizionistische Dämonisierung die politische Logik des Diskurses leitet, in der palästinensische Flüchtlinge einzig als viktimisierte Opfer einer machtvoll erscheinenden israelischen Gewalt wahrnehmbar werden. Aufgrund dieser Stellung der palästinensischen Geflüchteten avanciert die Frage der Flüchtlinge auch zur »core of the question of Palestine« (Barghouti 2011, 198), die Verweigerung des Flüchtlingsrechts gleichzeitig zum Ausdruck des größten Unrechts Israels: »The most important of all three injustices is without a doubt Israel’s denial of the right of Palestinian refugees to return.« (Ebd.) Weshalb Israel die Forderung nach Rückkehr der Palästinenser/-innen in »ihre« Heimat verweigert, wird demzufolge einerseits durch die geplante Praxis der ethnischen Säuberung Palästinas zum Zweck der exklusiv-jüdischen Landnahme gedeutet. Andererseits wird die verweigerte Rückkehr auch mit dem Prinzip israelischer Apartheid, wie ich es im letzten Abschnitt bereits angeschnitten habe, diskursiv äquivalenziert. Um den Ausgangspunkt noch einmal zu wiederholen, geht der im Staat Israel institutionalisierte jüdische Nationalismus mit dem Prinzip der Wahrung einer jüdischen Mehrheit im Staat einher. Eine Rückkehr von fünf Millionen Palästinenser/-innen in das israelische Staatsgebiet unterminiert den jüdischen Charakter des demokratischen Staats und ist demzufolge mit einer Aberkennung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung verbunden. In dem politischen
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Diskurs der BDS-Bewegung ist die im Staat institutionalisierte Vorherrschaft der dominanten ethnische Gruppe – Jüdinnen und Juden – jedoch keine Form der legitimen nationalen Grenzziehung, sondern Ausdruck israelischer Apartheidpolitik. Denn während Jüdinnen und Juden in der Diaspora, jüdische Siedler/-innen in den OPT sowie ihre Ehepartner/-innen durch das bereits beschriebene Rückkehrgesetz von 1950 eine direkte Einreise nach Israel erlaubt und der automatische Erwerb der Staatsbürgerschaft offeriert wird, zeige sich die Apartheidpolitik gegenüber den palästinensischen Flüchtlingen nun darin, dass ihr »Recht« auf Rückkehr aufgrund rassistischer Parameter verweigert wird: »Israel at 60 is a state that continues to deny Palestinian refugees their UN-sanctioned right to return to their homes and receive compensation, simply because they are ›non-Jews‹.« (PACBI 2008a) Damit steht auch das Diskurselement der »Apartheid« in Kontrarität zu der Forderung nach einem »Recht« auf Rückkehr, die sich nicht aufgrund der partiell rechtlichen Ungleichstellung zwischen den ethnisierten Gruppen in ethnischen Demokratien ergibt (soziale Logik), sondern als Sinnbild rassistischer Apartheidpraktiken artikuliert wird. Es sind antizionistische Sinnkonstruktionen der Delegitimierung, die hier bedeutungsgenerierend wirken, insofern dem jüdisch-nationalen Selbstverständnis Israels und der Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts durch das Attribut des »Rassismus« die Anerkennung verweigert wird. Damit zeigt sich zusammenfassend, wie die politische Forderung nach einer Flüchtlingsrückkehr (Strategem I) durch die antagonistischen Elemente der israelischen Apartheid und Vertreibungspraktiken durch ethnische Säuberungen signifiziert (Strategem II) werden. Die soziale Logik des palästinensischen Flüchtlingsproblems wurde dabei durch Deutungsmuster der Dämonisierung – etwa durch die Analogisierung Israels mit den machtvollen Unrechtssymbolen der »Apartheid« und »ethnischen Säuberungen –, Delegitimierung – durch die Gleichsetzung der zionistischen Idee mit »Rassismus« – und Simplifizierungen – durch einseitige Täter-Opfer-Differenzrelationen – angegriffen. Dementsprechend wird sichtbar, dass sich die Forderungen nach Rechten nur über den Ausschluss israelischer Perspektiven oder jüdisch-nationaler Selbstverständnisse legitimieren. Der pseudorechtlichen Forderung nach dem unveräußerlichen Recht auf Rückkehr nachzukommen, bedeutet dabei, eine Lösung des Nahostkonflikts zu forcieren, in der Israel als jüdischer Staat nicht mehr existiert.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
5.3.6
»Ending its occupation and colonization of all Arab lands and dismantling the Wall« – die Zielforderung der hegemonial-offensiven Strategie und die Elemente ihrer Blockade durch das »zionistische Regime«
Die dritte politische Forderung zielt darauf ab, die »Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes« zu beenden und »die Mauer« abzureißen (siehe BDS 2005)23 . Mit der Forderung nach einem Ende der Besatzung/Kolonisierung soll das dritte Bevölkerungssegment der Palästinenser/-innen, die unter Besatzung stehende Bevölkerung in Westbank, Gaza und Ostjerusalem, »befreit« werden (Strategem I), um das Recht des palästinensischen »Volks« auf kollektive »Selbstbestimmung« für alle Palästinenser/-innen zu verwirklichen (Strategem III). Das Besondere an der Forderung nach einem Ende der Besatzung ist ihre Kongruenz mit der sozialen Logik des Konfliktlösungsmechanismus einer »friedlichen Zweistaatenlösung«, wonach Israel seine Herrschaftsansprüche über Gebiete abtritt, die es 1967 erobert hat, und im Gegenzug Frieden und Sicherheit erhalten soll. Mit dem Vokabular der Hegemonietheorie stellt der Mangel »Besatzung« demzufolge auch in der sozialen Logik des Diskurses über den Nahostkonflikt ein Hindernis zur Verwirklichung des imaginären Allgemeinen dar – der friedlichen Koexistenz zweier souveräner Nationalstaaten: Israel und Palästina. Die gegenhegemoniale Bedeutungszuweisung der Forderung nach einem Ende der »Besatzung« erfolgt in dem Hegemonieprojekt der TPSB jedoch dadurch, dass die TPSB nicht nur von einem bloßen Besatzungszustand in den OPT spricht, sondern entsprechend der politischen Logik eines kolonialen Konflikts um palästinensische Rechte auch Apartheid- und Kolonisierungspraktiken in Westbank, Ostjerusalem und Gaza identifiziert. Seit 1967 hat der Staat Israel sein Apartheidregime unter dem Deckmantel einer kriegerischen Besatzung auf die besetzten Gebiete ausgedehnt […], das »als Motor der jüdischen Besiedlung des restlichen Gebietes (22 Prozent) des historischen Palästinas […]« dient. (BDS 2008, 17) Nicht (legitime) israelische Sicherheitsinteressen begründen in dem Menschenrechtsdiskurs der Palästinasolidarität den andauernden Besatzungszustand, das unterstellte israelische Ziel einer permanenten Kontrolle über die palästinensi-
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Interessant ist hierbei die Bedeutungsoffenheit der Bezeichnung »allen arabischen Lands«, insofern sie prinzipiell auch für Forderungen anschlussfähig sein kann, die gleichermaßen das israelische Staatsgebiet in den Grenzen von 1967 für besetzt, sprich die Existenz eines jüdischen Nationalstaats im arabisch geprägten Nahen Osten per se für eine unrechtmäßige Besatzung hält.
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schen Gebiete, was entsprechend der Analyseheuristik als entkontextualisierender Ausschluss israelischer Perspektiven und Interessen interpretiert werden kann. Israeli control of the Occupied Palestinian Territories is neither temporary nor about keeping public order. Instead, it is about taking permanent control of occupied Palestinian land, depriving the occupied population of fundamental human rights and preventing the self-determination of the Palestinian people. (BDS o.D.h) Die in dem Zitat sichtbar werdende Absicht einer »permanenten Kontrolle« ist für den Diskurs relevant, um den israelischen Besatzungszustand von einer »normalen« militärischen Besatzung zu unterscheiden und die Besatzung damit als völkerrechtswidrig zu klassifizieren.24 Denn im Gegensatz zu einer völkerrechtskonformen, vorübergehenden Besatzung wird die israelische Besatzungsmacht als dauerhaftes, kriegerisches Besatzungsregime gegenüber dem palästinensischen ›Volk‹ artikuliert, wodurch der jüdische Staat als illegitimes »Anderes« des Wertekosmos des Völkerrechts delegitimiert wird. [U]nlike occupation which is not illegal per se as long as it is temporary – population transfer, apartheid and colonialism are prohibited and constitute internationally wrongful acts which render unlawful Israel’s entire legal and political regime over the Palestinian people. (BNC 2008) Analytisch lässt sich zudem nachvollziehen, wie antizionistische Sinnfixierungen der Dämonisierung mit Bedeutungskomplexen der Simplifizierung zusammenspielen, um manichäische Täter-Opfer-Dichotomien zu errichten. Denn die entkontextualisierende Verzerrung der Konfliktrealität beruht auf den Signifikanten der »Apartheid« und des »Kolonialismus«, die das israelische Besatzungsregime als dämonisierende Repräsentation der machtvollen und bösartigen Destruktivität des jüdischen Staats signifizieren sollen. Um die israelische Besatzung gegenhegemonial umzudeuten und damit ein »neues« Bild über den Israel-Palästina-Konflikt zu etablieren, greift die BDSKampagne die soziale Logik über die israelische Sperranlage, den Gazastreifen sowie den israelischen Siedlungsbau an. Diese drei Diskurselemente und ihre gegenhegemoniale Umdeutung werden im Folgenden vor dem Hintergrund antizionistischer Artikulationen der Dämonisierung, Delegitimierung und entkontextualisierten Simplifizierung rekonstruiert und mit Blick auf die Narration einer permanenten Kontrolle von Ostjerusalem, Westbank und Gaza dargestellt. Das
24
Im Anschluss an das humanitäre Völkerrecht darf eine Besatzungsmacht keine Maßnahmen ergreifen, die auf eine dauerhafte Veränderung der territorialen, demografischen oder sozialen Bedingungen des besetzten Gebiets ausgelegt ist.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Schaubild in Abbildung 7 zeigt die Verwobenheit der einzelnen Diskurselemente mit den übergeordneten Forderungen und Mangelbezeichnungen.
Abb. 7: Positionierung des Diskurselementes »(israelische) Besatzung«
5.3.6.1
»Apartheid-Wall«
Wie wird die israelische Sperranlage in dem Diskurs gegenhegemonial umgedeutet? Welche Stellung haben israelische Interessen dabei? Die israelische Sperranlage wird in dem Diskurs der TPSB nicht als Ausdruck israelischer Sicherheitsinteressen (soziale Logik), sondern als politisches Vorhaben der Durchsetzung einer exklusiv-jüdischen Vorherrschaft in den kolonisierten Gebieten gedeutet, die mit dem Ziel verbunden ist, eine dauerhafte physische Trennung, sprich rassistische Segregation zwischen Israelis und Palästinenser/-innen, zu realisieren (Stop the Wall 2010b). Aus diesem Grund wird die Sperranlage auch als »Apartheid«- oder »racist colonial wall« (PACBI 2004) charakterisiert und als Ausdruck des zionistischen Projekts der Kolonisierung und Vertreibung der Palästinenser/-innen artikuliert: The Apartheid Wall is part of the Zionist ideological project of discrimination, dispossession, expulsion and destruction that aims to cleanse Palestine from as many as possible Palestinians and to force the remaining population into submission within ghettos. (Stop the Wall 2006)
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So diene der Bau eines Apartheid- (Stop the Wall, o.D.a) oder Ghettonetzwerks dem Zweck, die palästinensischen Bevölkerungszentren permanent zu isolieren (Stop the Wall 2008b), Gebiete zu annektieren und dadurch weiteren Platz für die jüdische Siedlerpopulation zu schaffen (Stop the Wall 2010a). Als »integral part of the Zionist project to remove Palestinians from Palestine« (Stop the Wall o.D.b) werden demzufolge nicht israelische Sicherheitsbedürfnisse – d.h. der Schutz der israelischen Zivilgesellschaft – als Motiv des Baus der israelischen Sperranlage (soziale Logik, Abschnitt 5.1.7) anerkannt, sondern das Wirken eines israelischen Kolonialismus und Rassismus als wahrer Grund des Baus der so klassifizierten ApartheidWall identifiziert. Demzufolge stabilisiert sich die gegenhegemoniale Deutung der israelischen Sperranlage als Kolonial- und Apartheidmauer nur über Mechanismen der Dämonisierung und Delegitimierung, in deren Folge jüdische Perspektiven in das Außen des Diskurses gedrängt werden.
5.3.6.2
Gazabelagerung25
Auch die sogenannte Gazabelagerung erfährt in dem Diskurs eine zur sozialen Logik konträre Bedeutungszuweisung, die Gaza als israelisch kontrolliertes Gebiet deutbar machen soll. In dieser gegenhegemonialen Narration halte Israel die Palästinenser/-innen in einem »open-air-prison camp« Gaza (Barghouti 2011, 46) gefangen, um eine ethnisch homogene, d.h. exklusiv-jüdische Herrschaft in der Westbank durchzusetzen.26 Israel has forcibly displaced and concentrated Palestinians to Gaza as a means of maintaining a Jewish majority in other parts of the land it controls. It keeps Gaza separate from the West Bank in order to prevent Palestinian self-determination, and to facilitate Israeli colonization of the occupied West Bank. These are characteristics of settler colonialism. (BDS o.D.i) In dem Zitat wird sichtbar, dass die relevanten Kontextfaktoren, die im hegemonialen Diskurs über die Abriegelung des Gazastreifens eine zentrale Rolle spielen und legitime israelische Perspektiven widerspiegeln (hierzu siehe Abschnitt 5.1.8), wie die Machtübernahme der Hamas, Terroranschläge auf israelisches Territorium und Sicherheitsinteressen, keine Berücksichtigung finden. Stattdessen wird die Abriegelung des Gazastreifens mit dem Ziel äquivalenziert, die palästinensi-
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Ich beziehe mich an dieser Stelle ausschließlich auf die diskursfunktionale Stellung des Signifikanten »Gazabelagerung« als Merkmal der Blockade palästinensischer Forderungen nach Rechten, speziell jener nach Selbstbestimmungsrechten für das dritte Segment der palästinensischen Bevölkerung (OPT). Nach hegemonialer Lesart ist der Gazastreifen geräumt und stellt nach israelischem Verständnis kein »besetztes Gebiet« mehr dar (s. S. 167).
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
sche Zivilbevölkerung unter unmenschlichen Lebensumständen zu halten oder gar zu töten, was folgende Diskurssequenz verdeutlicht: Clearly, Israel’s hermetic siege of Gaza, designed to kill, cause serious bodily and mental harm, and inflict conditions of life calculated to bring about partial and gradual physical destruction, qualifies as an act of genocide, if not yet all-out genocide […]. (Barghouti 2011, 46) Die Politisierung der sozialen Logik der Gazablockade folgt dabei der antizionistischen Repräsentationslogik der Dämonisierung, insofern »Gaza« als Symbol gesellschaftlichen Unrechts sui generis abgebildet wird. Gleichzeitig lassen sich Mechanismen der entkontextualisierenden Simplifizierung der Konfliktrealität im Nahen Osten erkennen. Denn legitime israelische Interessen und Ansprüche werden hier ausgeblendet und in das Außen des Diskurses verschoben.
5.3.6.3
Der Siedlungsbau in den OPT
Auch der israelische Siedlungsbau in Westbank und Ostjerusalem soll das Ziel der permanenten Kontrolle über Palästinenser/-innen und ihre Gebiete nahelegen. Am Beispiel eines NS-Vergleichs, was entsprechend der Analyseheuristik als dämonisierende Täter-Opfer-Umkehr zu interpretieren ist, wird die gegenhegemoniale Deutung einer permanenten Annexion von Westbank und Ostjerusalem verdeutlicht: »A driving force behind Israel’s Anschluss of Palestinian land and persecution of Palestinians is Zionism, a bible-based supremacist ideology with a substantial racial component.« (BDS 2013a) Unter der erzählerischen Prämisse eines kolonialen Konflikts zwischen Zionist/-innen und dem palästinensischen ›Volk‹ und seiner Rechte wird der israelische Siedlungsbau in dem antizionistischen Rechtediskurs des Hegemonieprojekts der TPSB meistens mit den Diskurselementen »Landraub« und »ethnische Säuberung« äquivalenziert und als »physical manifestations of land-grabbing« (War on want. Fighting global poverty 2010, 10) beschrieben. Wie bereits dargestellt, werden ethnische Säuberungen in dem Diskurs meist als systematische Praxis des israelischen Regimes klassifiziert, die in der Absicht durchgeführt werden, den eroberten, kontrollierten und besiedelten Raum ethnisch zu homogenisieren, d.h., Raum für jüdische Siedler/-innen zu schaffen. In diesem Sinne heißt es hierzu bei der Stop-the-Wall-Kampagne: »This need has been translated into a creeping settlement project […]. The use of settlement expansion as a tool not only for land theft, but also for ethnic cleansing, has continued throughout the Oslo period. (Stop the Wall 2008b) Dabei lassen sich die Bedeutungskonstitutionen der Signifikanten des »Landraubs« und der »ethnischen Säuberungen« als Sinnfixierungen der Dämonisierung begreifen, insofern eine Deutung der israelischen Siedlungspolitik hervorgebracht
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Menschenrechte und Antisemitismus
wird, die die besonders enthemmte, destruktive Partikularität des jüdischen Staats signifizieren sollen. Wie in Abschnitt 5.1.9 dargestellt, wird der israelische Siedlungsbau auch im hegemonialen Diskurs über den Nahostkonflikt problematisiert, insofern die Siedlungsinfrastruktur den Ausbau eines zukünftigen territorial zusammenhängenden palästinensischen Staats erschwert und damit, ausgehend von der sozialen Norm der friedlichen Beilegung des Konflikts durch eine »Zweistaatenlösung«, als Hindernis identifiziert wird. Die Fragen nach der Zukunft der israelischen Siedlungen in der Westbank und Ostjerusalem werden entsprechend der sozialen Logik einer »Frieden-durch-zwei-Staaten-Regelung« als Gegenstand politischer Konfliktlösungsverhandlungen verstanden. Im gegenhegemonialen Diskurs werden die Siedlungen hingegen als »necessity for the existence of Israel« (ebd., 12) artikuliert. Damit soll die Dauerhaftigkeit des israelischen Besatzungsregimes signifiziert werden durch die dämonisierende Zuschreibung von Attributen des gesellschaftlichen Unrechts, die als Ausdruck dichotomer Täter-Opfer-Konstellationen erscheinen. Zusammengefasst steht der politischen Forderung nach einem Ende der Besatzung und Kolonisierung sowie dem Abbau des israelischen Grenzzauns das Moment der dauerhaften Besatzung palästinensischer Gebiete als Ausdruck des zionistischen Kolonialismus entgegen. Über die gegenhegemoniale Interpretation der Sperranlage als »Apartheid-Wall«, des Gazastreifens als Belagerungszustand sowie des Siedlungsbaus als »Kolonialismus« werden Deutungen des Besatzungszustands nahegelegt, die insbesondere auf diskursiven Mechanismen der Dämonisierung – vermittelt über die Deutung Israels als machtvollen »Aggressor« – und Entkontextualisierungen – durch die simplifzierenden TäterOpfer-Konstellationen – beruhen. Demzufolge steht der Mangel »Besatzung« der Verwirklichung der Forderung nach einem Ende der Besatzung und der Befreiung des dritten Segments der Palästinenser/-innen (Strategem III) entgegen. Es wird sichtbar, dass sich die Forderungen nach Rechten nur über den Ausschluss israelischer Perspektiven, Interessen oder jüdisch-nationaler Selbstverständnisse legitimieren.
5.3.7
Zusammenspiel der Strategeme: die politischen Zielforderungen des Hegemonieprojekts und die antagonistischen Elemente ihrer Blockade
Die Rekonstruktion von Strategem I und II hat gezeigt, dass die drei zentralen politischen Forderungen des Hegemonieprojekts – erstens die rechtliche Gleichstellung zwischen Israelis und Palästinenser/-innen, zweitens die Gewährleistung des palästinensischen Rückkehrrechts, drittens das Ende der israelischen Besatzung und Kolonisierung – ein jeweiliges Segment der palästinensischen Bevölkerung
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
(Palästinenser/-innen in Israel, in der Diaspora, in den OPT) repräsentieren, die mittels der gemeinsamen Forderung nach Selbstbestimmung (Strategem III) als »Volk« konstruiert werden. Als unterdrücktes »Volk«, dessen einzelne Rechte von dem israelischen Kolonialismus unterminiert werden, kann die heterogene palästinensische Gruppe jedoch nur charakterisiert werden, wenn sie als machtund hilfloses Opfer israelischer Apartheidpraktiken, Diskriminierungsstrukturen, kolonialen Vertreibungsprozessen, Genoziden, kurzum, durch allgemeine Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüche Israels diskursiv angerufen werden. Dabei konnte herausgearbeitet werden, dass diese sinnhafte Verknüpfung von Feindsignifikanten erst durch antizionistische Signifikationspraktiken der Dämonisierung, Delegitimierung und entkontextualisierenden Simplifizierung ermöglicht werden, wodurch gleichberechtigte israelische Sichtweisen, Interessen, Perspektiven und Rechte in das antagonistische Außen des Diskurses verschoben werden können. Kurzum stabilisiert der antisemitische Ausschluss legitimer jüdischer Identitäten und Ansprüche die politische Logik des Rechtediskurses. Aus der Deutung des Konflikts als kolonialer Konflikt um palästinensische Rechte, der diskurslogisch mit dem Ausschluss jüdischer Formen der Selbstbestimmung einhergeht, folgt auch die Forderung nach einem Boykott des »zionistischen Regimes«. Dieser Zusammenhang wird Gegenstand des nächsten Abschnitts sein, der die Mittelforderung nach einem »Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen« gegen Israel rekonstruiert.
5.3.8
»A progressive, antiracist sophisticated, sustainable, moral, and effective form of civil nonviolent resistance«. Die Mittelforderung nach Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen
Nachdem ich nun die politische Diskurslogik des Menschenrechtsprojekts der Palästinasolidaritätsbewegung durch ihre strategemanalytische Anordnung rekonstruiert habe, möchte ich die sogenannten Mittelforderungen des Hegemonieprojekts untersuchen. Nach Nonhoff (2006, 269) lassen sich Mittelforderungen als Forderungen klassifizieren, die dazu beitragen sollen, bestimmte Zielforderungen zu erfüllen. Der folgende Abschnitt zeigt, wie die Mittelforderungen nach »Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen« gegen Israel darauf abzielen, die palästinensischen Forderungen nach Rechten (Strategem I und III) zu erfüllen. Die Boykottforderungen sollen dabei die Abgrenzung von früheren, diplomatischen Verhandlungsstrategien zwischen offiziellen israelischen und palästinensischen Vertretern zur Lösung des israelisch-palästinensischen Antagonismus begründen. Denn während die soziale Logik des Diskurses von der Idee des »Friedens durch zwei Staaten« geleitet wird, in der Frieden in der Region nur durch die Schaffung zweier Staaten für zwei »Völker« etabliert werden kann, dessen »Mittel« diplomatische Verhand-
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Menschenrechte und Antisemitismus
lungen der Konfliktparteien darstellen, wird hier ein »neues«, gegenhegemoniales Mittel zur Lösung des so gedeuteten Kolonialkonflikts im Nahen Osten gefordert: der Boykott des jüdischen Staats. Dem zugrunde liegt die dargestellte politische Logik des Diskurses, die sich gegen eine gleichberechtigte Anerkennung israelischer und palästinensischer Ansprüche, Interessen und Ziele, d.h. gegen eine friedliche Koexistenz zweier souveräner Staaten für zwei »Völker«, ausspricht und an ihre Stelle die unilaterale Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung für das palästinensische ›Volk‹ als Lösung des Nahostkonflikts setzt. Der folgende Abschnitt zeigt demzufolge, wie die Internationalisierung des Nahostkonflikts durch die Mittelforderung nach einem allumfassenden Boykott des jüdischen Staats den hegemonialen Konfliktlösungsmechanismus der diplomatischen Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinenser/-innen abzulösen versucht. Wie werden die Mittelforderungen nach BDS-Maßnahmen nun in den Diskurs integriert? Mit der Mittelforderung nach »Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen« gegen Israel, wie sie von der transnationalen BDS-Bewegung gefordert wird, sollen die palästinensischen Forderungen nach Rechten (Strategem I und III) erfüllt werden. Die Mittel umfassen in dem Diskurs der TPSB dabei einen vollständigen Konsumentenboykott von israelischen Waren und Dienstleistungen, einen akademischen und kulturellen Boykott israelischer Künstler/-innen, Wissenschaftler/innen und wissenschaftlichen Institutionen sowie die Durchsetzung von internationalen Sanktionen gegen Israel. Wie die Mittelforderung nach BDS in unmittelbarer Relation zu den triadischen Zielforderungen nach einem Ende der Besatzung und Kolonisierung, der Gleichheit für arabisch-palästinensische Israelis sowie dem konstatierten Recht auf Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge artikuliert wird, zeigt sich an folgender Diskurssequenz: Inspired by the South African anti-apartheid movement, the Palestinian BDS call urges nonviolent pressure (Mittelforderung nach BDS) on Israel until it complies with international law by meeting three demands 1. Ending its occupation and colonization of all Arab lands and dismantling the Wall […] 2. Recognizing the fundamental rights of the Arab-Palestinian citizens of Israel to full equality […] 3. Respecting, protecting and promoting the rights of Palestinian refugees to return to their homes and properties as stipulated in UN Resolution 194 […] (Strategem I). (BDS o.D.c)
Boykott als Aktions- und Handlungsform ist demzufolge Ausdruck des Bestrebens, die palästinensischen Forderungen nach »Rechten« umzusetzen, die mit der Ab-
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
erkennung des Existenzrechts eines jüdischen Staats einhergehen. Wie im letzten Abschnitt dargestellt, können die dreifachen Forderungen nach Rechten für ein jeweiliges Segment des palästinensischen »Volks« nicht mit der Aufrechterhaltung des israelischen Selbstverständnisses als jüdischer und demokratischer Staat gewährleistet werden, sodass Boykott unmittelbar mit der Forderung nach einem »Ende« des jüdischen Staats dechiffriert werden muss. Damit wird sichtbar, dass sich die strategische Ausrichtung eines Israelboykotts niemals nur auf Produkte, Waren und Erzeugnisse aus den besetzten Gebieten beschränken kann, sondern immer als umfassender Boykott des so klassifizierten »zionistischen Regimes«, d.h. des israelischen Staats und der besetzten Gebiete, bezieht. Denn das übergeordnete Protestziel ist nicht das Ende der israelischen Besatzung, sondern das Ende Israels (Delegitimierung). Um den Boykott als legitimes Mittel der Isolation des jüdischen Staats zu plausibilisieren, grenzt sich das Hegemonieprojekt stark von dialogbasierten, bilateralen Friedensverhandlungen zwischen den beiden Konfliktparteien – wie etwa infolge der Osloer Friedensprozesse – als Lösung des Konflikts ab und erzählt die Geschichte der Friedensbemühungen als Geschichte des Scheiterns: »[A]lle diplomatischen Bemühungen für einen Frieden im Nahen Osten, die israelische Besatzung und militärische Aggression zu beenden [sind] gescheitert.« (BDS 2008, 22) Dabei identifiziert die TPSB den durch Dialog zu erzielenden Frieden als manipulierten Glauben daran, auf dem Weg von Verhandlungen ein gerechtes Abkommen zwischen zwei asymmetrischen Konfliktparteien vermitteln zu können. In Wahrheit würden Dialoge mit dem israelischen Kolonialstaat nur die Normalisierung des abnormalen israelischen Exzeptionalismus (PACBI 2011) verschleiern und die palästinensische Marginalisierung manifestieren. For Palestinians, decades of dialogue and supposed peace overtures have proved fruitless, only serving to protect the status quo: sixty years of continual dispossession, forty years of occupation, and a systematic repudiation of international and humanitarian law. (PACBI 2008b) Im Gegensatz zu dem Dialogfrieden sei der Boykott ein adäquates Mittel im Kampf gegen koloniale Unterdrückung und Emanzipation. Folgendes Statement illustriert den kontradiktorischen Gegensatz zwischen der gegenhegemonialen Mittelforderung nach »Boykott« und der sozial sedimentierten Logik des Dialogs als Prämisse von bilateralen Friedensverhandlungen: Those who think they can wish away a conflict by suggesting only some intellectual channels of rapprochement, détente, or »dialogue« are crucially seeking only an illusion of peace, and one that is devoid of justice at that. […] Boycott, on the other hand, remains one of the most morally sound nonviolent forms of struggle that can force the oppressors out of their oppression, thereby allowing
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Menschenrechte und Antisemitismus
true coexistence, equality, justice, and sustainable peace to prevail. (Barghouti 2011, 172) Demzufolge ist der Boykott als transnationale Solidaritätsaktion mit den partikularen Forderungen der Palästinenser/-innen zusammenfassend nicht nur ein Ausdruck für das Ziel, die palästinensischen Forderungen nach »Rechten« umzusetzen. Auch soll sich dem Austausch mit Israel verweigert werden, insofern die Bedürfnisse und Interessen des jüdischen Staats entsprechend seiner dämonisierten Repräsentation als jüdischer Kolonialismus – Zionismus – vollständig illegitim erscheinen. Neben der Abgrenzung zwischen der dialogbasierten Friedensschimäre wird der BDS-Aktivismus auch über weitere diskursive Argumentationsmuster legitimiert, die allesamt auf die Stärkung des moralischen Selbstverständnisses der Bewegung abzielen. Im Folgenden soll erstens die Gleichstellung des Israelboykotts mit dem »AntiApartheid-Boykotts gegen Südafrika«, zweitens die »Haftbarkeit Israels für Menschenrechtsverletzungen« durch den Boykott und drittens die »Gewaltfreiheit des Protests« durch den Boykott dargestellt werden. Wie übernimmt die Apartheidanalogie zu Südafrika eine legitimierende Funktion für den Boykott des jüdischen Staats? Im Zentrum der Selbstlegitimation eines vollständigen Boykotts Israels steht erstens die Äquivalenzierung des Boykottmittels mit dem historischen Vorbild des gegen Apartheid-Südafrika gerichteten Boykotts von Akteur/-innen der internationalen Zivilgesellschaft, der hier eine wesentliche Symbolfunktion übernimmt: Inspired by the struggle of South Africans against apartheid and in the spirit of international solidarity, moral consistency and resistance to injustice and oppression. We, representatives of Palestinian civil society, call upon international civil society organizations and people of conscience all over the world to impose broad boycotts and implement divestment initiatives against Israel similar to those applied to South Africa in the apartheid era. (BDS 2005) Die Analogisierung des Israelboykotts mit seinem historischen Vorläufer des Südafrikaboykotts legitimiert und reproduziert zuletzt auch die simplifizierende, antagonistische Freund-Feind-Logik des Diskurses, die zwischen dem wesenhaft »bösen« zionistischen Kolonialismus und dem »gerechten« Kampf der Palästinenser/innen gegen diese Formen politischer Unterdrückung unterscheidet. Dementsprechend übernimmt die Apartheidmetapher eine zentrale Mobilisierungsfunktion für die Forderungsseite und liefert den Grund dafür, warum die BDS-Taktik das israelische Apartheidregime stürzen kann:
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Indeed, BDS strives to delegitimize Israel’s settler-colonial oppression, apartheid, and ongoing ethnic cleansing of the indigenous Palestinian people [Strategem II], just as the South Africa boycott was aimed at delegitimizing apartheid there. (Barghouti 2011, 16) Insofern der zivilgesellschaftlich aufgebaute Druck gegen Israel auch durch Sanktionen der internationalen Staatengemeinschaft begleitet werden soll und das historische Fallbeispiel Südafrika die Transition eines vormals rassistischen Unrechtsstaats hin zu einer »wahren Demokratie« exemplifiziert habe, erscheint die Verlässlichkeit des BDS-Mittels daher gleichermaßen für die Transformation des israelischen Apartheidstaats plausibel: [C]alling for sanctions under such circumstances is far from unique to Palestinians. During apartheid rule in South Africa, the United Nations established a regime of sanctions that eventually brought down the racist regime there and helped create democratic rule. (PACBI 2005a) Das zweite Bedeutungselement, das die Mittelforderung nach Boykott, Sanktionen und Desinvestitionen gegen Israel legitimieren soll, ist der mit dem Boykott verknüpfte, einseitige und ausschließlich gegen Israel gerichtete Anspruch, den jüdischen Staat für seine vermeintlich massenhaften Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüche zur »Verantwortung zu ziehen« (accountability). Davon ausgehend, erscheint »accountability« als notwendige Bedingung, um den Mangel an palästinensischen Rechten, für den das Feindbild Israel verantwortlich gemacht wird, zu überwinden. Werden Menschenrechtsverletzungen daher als Mängel klassifiziert, die die Realisierung palästinensischer Forderungen nach Rechten blockieren (Strategem I und II), dann mobilisiert das Merkmal der »accountability« für die Durchführung von BDS-Mitteln, weil sie Israel für seine Rechtsbrüche haftbar machen: Palestine solidarity groups and activists are convinced, as we are, that only concerted, effective, and sustained forms of solidarity, especially in the form of boycott, divestment and sanctions (BDS), can hold Israel accountable to its obligations under international law and lead to the realization of comprehensive Palestinian rights. (BDS 2011b) Als drittes Bedeutungselement, das den Einsatz von BDS-Mitteln legitimieren soll, um die politischen Zielforderungen des Hegemonieprojekts verwirklichen zu können, wird das Merkmal der »Gewaltfreiheit« benannt. »Gewaltfreiheit« bekräftigt BDS-Maßnahmen als geeignetes Mittel, um das »zionistische Regime« zu überwinden. Während der jüdische Staat durch aggressiven Kolonialismus, Krieg, Genozid und ethnische Säuberungspraktiken charakterisiert ist, erscheint der palästinensi-
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Menschenrechte und Antisemitismus
sche Boykottaktivismus als gewaltfreies Friedensmittel. Diese Mobilisierungsfunktion für das BDS-Mittel zeigt etwa eine Sequenz der Stop-the-Wall-Kampagne: Clearly a significant reason for the involvement of many people across the world in BDS initiatives is that they symbolize a non-violent response to Israeli aggression, thus forming a morally irreprehensible position. Many activists use this as a reference point when asserting the legitimacy of their campaign, drawing contrasts with the brutality and violence of the offender, together with parallels to the anti-apartheid South African movement. (Stop the Wall 2011) Diese verschiedenen Bedeutungselemente, erstens die Abgrenzung zu der hegemonialen Lösung des Nahostkonflikts durch einen Dialog der Konfliktparteien, zweitens das »Symbol Südafrika«, drittens die »accountability« und viertens die »Gewaltfreiheit«, legitimieren insgesamt die Mittelforderung nach BDS. Diese Mittel sollen dabei einerseits gewährleisten, die politischen Forderungen nach Rechten für das palästinensische ›Volk‹ zu verwirklichen. Andererseits sollen sie den Dialog mit Israel unterbinden und an seine Stelle den Boykott setzen. Denn während dialogbasierte Friedensprozesse darauf ausgelegt sind, beide Konfliktperspektiven zu harmonisieren, sind Boykottforderungen auf die einseitige Umsetzung palästinensischer Positionen ausgerichtet und damit mit der gegenhegemonialen Diskursproduktion eines machtasymmetrischen Kolonialkonflikts um die Durchsetzung palästinensischer Rechte kongruent.
5.4
Schlussbetrachtung: die politische Logik des BDS-Diskurses
Das Kapitel hat gezeigt, wie der sedimentierte Bedeutungszusammenhang der Diskursformation »Nahostkonflikt« durch die politische Logik des Rechtediskurses der TPSB infrage gestellt wird. Damit kann nun die zweite Forschungsfrage, wie sich die partikularen Forderungen nach Rechten der Palästinenser/-innen hegemonialisieren und welche Stellung antisemitische Differenzkonstruktionen dabei einnehmen, beantwortet werden. Als zentrales Ergebnis des Kapitels kann festgehalten werden, dass sich der palästinensische Kampf um eine »neue«, gegenhegemoniale Perspektive auf den Nahostkonflikt, in dessen Zentrum die palästinensischen Forderungen nach Rechten, palästinensische Perspektiven und Identitätskonstruktionen stehen, nur und ausschließlich über den Ausschluss israelischer Positionen, Perspektiven, Identitäten und Ansprüche herstellen kann. Dieser differenzlogische Ausschluss israelischer Konfliktperspektiven, Selbstverständnisse, Forderungen, Interessen und Ziele wird dabei über Bedeutungskomplexe antiisraelischer Antisemitismen gerechtfertigt. Um den antisemitismustheoretischen Ausgangspunkt noch einmal zu rekapitulieren, können unter dem Begriff »Antizionismus« Artikulationsweisen subsu-
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sche Boykottaktivismus als gewaltfreies Friedensmittel. Diese Mobilisierungsfunktion für das BDS-Mittel zeigt etwa eine Sequenz der Stop-the-Wall-Kampagne: Clearly a significant reason for the involvement of many people across the world in BDS initiatives is that they symbolize a non-violent response to Israeli aggression, thus forming a morally irreprehensible position. Many activists use this as a reference point when asserting the legitimacy of their campaign, drawing contrasts with the brutality and violence of the offender, together with parallels to the anti-apartheid South African movement. (Stop the Wall 2011) Diese verschiedenen Bedeutungselemente, erstens die Abgrenzung zu der hegemonialen Lösung des Nahostkonflikts durch einen Dialog der Konfliktparteien, zweitens das »Symbol Südafrika«, drittens die »accountability« und viertens die »Gewaltfreiheit«, legitimieren insgesamt die Mittelforderung nach BDS. Diese Mittel sollen dabei einerseits gewährleisten, die politischen Forderungen nach Rechten für das palästinensische ›Volk‹ zu verwirklichen. Andererseits sollen sie den Dialog mit Israel unterbinden und an seine Stelle den Boykott setzen. Denn während dialogbasierte Friedensprozesse darauf ausgelegt sind, beide Konfliktperspektiven zu harmonisieren, sind Boykottforderungen auf die einseitige Umsetzung palästinensischer Positionen ausgerichtet und damit mit der gegenhegemonialen Diskursproduktion eines machtasymmetrischen Kolonialkonflikts um die Durchsetzung palästinensischer Rechte kongruent.
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Schlussbetrachtung: die politische Logik des BDS-Diskurses
Das Kapitel hat gezeigt, wie der sedimentierte Bedeutungszusammenhang der Diskursformation »Nahostkonflikt« durch die politische Logik des Rechtediskurses der TPSB infrage gestellt wird. Damit kann nun die zweite Forschungsfrage, wie sich die partikularen Forderungen nach Rechten der Palästinenser/-innen hegemonialisieren und welche Stellung antisemitische Differenzkonstruktionen dabei einnehmen, beantwortet werden. Als zentrales Ergebnis des Kapitels kann festgehalten werden, dass sich der palästinensische Kampf um eine »neue«, gegenhegemoniale Perspektive auf den Nahostkonflikt, in dessen Zentrum die palästinensischen Forderungen nach Rechten, palästinensische Perspektiven und Identitätskonstruktionen stehen, nur und ausschließlich über den Ausschluss israelischer Positionen, Perspektiven, Identitäten und Ansprüche herstellen kann. Dieser differenzlogische Ausschluss israelischer Konfliktperspektiven, Selbstverständnisse, Forderungen, Interessen und Ziele wird dabei über Bedeutungskomplexe antiisraelischer Antisemitismen gerechtfertigt. Um den antisemitismustheoretischen Ausgangspunkt noch einmal zu rekapitulieren, können unter dem Begriff »Antizionismus« Artikulationsweisen subsu-
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
miert werden, die das Recht auf Selbstbestimmung, Sicherheit und Existenz eines jüdischen Staats im Nahen Osten delegitimieren, diesen als Symbol des »Bösen« moderner Gesellschaftsverhältnisse respektive als Ausdruck einer destruktiven, »jüdischen« Partikularität dämonisieren und eine entkontextualisierende Wahrnehmung der Konfliktrealität etablieren. Die strategemanalytische Rekonstruktion der politischen Logik des Diskurses, verstanden als Zusammenspiel von Äquivalenz und Differenz, konnte diese Formen der antizionistischen Grenzziehung durch die Art der Konstruktion des politischen Antagonismus für den gesamten »rechtebasierten« Ansatz der BDSBewegung sichtbar machen. Im Zentrum steht dabei die binäre Gegenüberstellung von vermeintlich legitimen palästinensischen Rechten, Forderungen, Zielen und Identitätskonstruktionen und ihrem negatorischen Außen des (Rechte-)Diskurses, den jüdisch-nationalen Identitäten, Selbstverständnissen, Existenzrechten und Sicherheitsinteressen, die entlang antizionistischer Deutungsangebote artikuliert werden. Der rechtebasierte Ansatz der Bewegung, der sich strikt von dem »solution-based approach« (Barghouti 2009), der diplomatischen Lösung des israelisch-palästinensischen Antagonismus, abgrenzt, kann sich dabei nur über eine Verlagerung des sozial sedimentierten Verständnisses des Nahostkonflikts als territorialen Konflikt zweier legitimer ethnisch-nationaler Bewegungen und ihren gleichberechtigten Ansprüchen konstituieren. Diese Verlagerungsfunktion der sozialen Logik des hegemonialen Diskurses (hierzu Kap. 5.1) wurde dabei über die spezifische Funktionsweise des »Zionismus« als Hauptsignifikanten für den Feind (Strategem IV) hergestellt. Dabei wird die Verwirklichung der Forderung nach einem »Recht auf palästinensische Selbstbestimmung« von der Präsenz des negativen anderen »Zionismus« konstitutiv blockiert. Als Haupt-Feind-Signifikant steht der zionistische Feind der Wirgruppe demzufolge für alle Marginalisierungen, Frustrationen und versagten Bedürfnisse des palästinensischen »Volks« und seiner Rechte. Damit werden kontingente politische, soziale und historische Kontexte ausgeblendet und durch die abstrakte Feindbildkonstruktion »Zionismus/Israel« entlang der simplifizierend-dichotomen Deutungsmatrix von kolonialen Unterdrückern/kolonisierten Unterdrückten homogenisiert. Eine Projektionsweise, die für Bedeutungsmuster antisemitischer Diskurse symptomatisch ist. Wenn die politische Logik des Diskurses ein Verständnis des Konflikts als Kolonialkonflikt um palästinensische Menschenrechte artikuliert, kann die Lösung des Konflikts diskurslogisch nur die Dekolonisierungspraxis des unterdrückten palästinensischen »Volks« und die Durchsetzung seines antikolonialen Rechts auf partikulare Selbstbestimmung sein, die von der Beseitigung des »Zionismus« abhängig ist. Ein Recht auf jüdisch-nationale Selbstbestimmung auf dem Territorium Israel scheint dabei als a priori illegitim. Auch weil, wie gezeigt wurde, das Recht auf nationale Selbstbestimmung von kolonialen Bewegungen nicht in Anspruch genommen werden kann. Damit offenbart sich die partikulare Begrenztheit des univer-
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Menschenrechte und Antisemitismus
salen Menschenrechtsdiskurses der BDS-Bewegung – gleiche Selbstbestimmungsrechte gelten nicht für Jüdinnen und Juden – und dadurch auch diskursfunktional der antisemitische Charakter des Hegemonieprojekts. Dieser antisemitische Charakter wird auch über die einzelnen geforderten »Rechte«, Ziele und Boykottmittel des BDS-Aktivismus sichtbar. Der »rightsbased approach«, der die Durchsetzung dreier irreduzibler Rechte für das palästinensische›Volk‹ durch die Umsetzung eines allumfassenden Boykotts des Staates Israels, seiner akademischen und kulturellen Produkte, Waren und Dienstleistungen fordert, konterkariert das israelische Selbstverständnis als jüdischer und demokratischer Staat und muss demzufolge als grundsätzliche Infragestellung des jüdischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung gelesen werden. Denn die Forderungen nach den einzelnen Rechten, wie dem Recht auf vollständige Gleichheit, dem Recht auf Rückkehr und dem Recht auf ein Ende der kolonialen Besatzung, können nur über die antisemitische Differenz zu der Legitimation des jüdischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung sowie der Verwirklichung jüdischer Staatlichkeit als ethnische Demokratie, der Dämonisierung Israels als kolonialem Apartheidregime und der Ausblendung relevanter Kontextfaktoren, die als Teil der sozialen Logik des Konflikts gelten, stabilisiert werden. Dieser Zusammenhang wurde durch den Vergleich zwischen sozialer und politischer Logik verdeutlicht. Beispielsweise kann die Forderung nach vollkommener, d.h. nach nationaler Gleichheit für arabisch-palästinensische Israelis nur dann erfüllt werden, wenn die konstitutionelle Verfasstheit Israels als jüdischer und demokratischer Staat, der mit gewissen institutionellen Privilegien für die jüdische Bevölkerungsmehrheit einhergeht, als »Apartheidsystem« delegitimiert und infrage gestellt wird. Die Forderung nach Gleichheit ist also von der Auflösung des Selbstverständnisses Israels als nationaler Heimstätte der Jüdinnen und Juden – dem ethnischen Charakter der israelischen Demokratie – und damit von der Negation einer »jüdischen« Form der Selbstbestimmung abhängig. Tabelle 3 zeigt die politische Logik des BDS-Diskurses im Überblick. Demzufolge kann die zweite Forschungsfrage, wie – d.h. durch welche politische Logik – sich die partikularen Forderungen nach Rechten der Palästinenser/innen hegemonialisieren, nun gerade mit dem Verweis auf antisemitische Differenzkonstruktionen beantwortet werden. Erst wenn israelische Forderungen, Interessen, Bedürfnisse und Identitätskonstruktionen in das konstitutive Außen des Diskurses positioniert werden, können sich die uneingeschränkten Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen – symbolisch repräsentiert durch das Recht auf Selbstbestimmung für das palästinensische ›Volk‹ – hegemonialisieren. Die paradoxe Situation menschenrechtsorientierter Antisemitismen scheint sich bereits auf der Ebene der politischen Logik des Rechtediskurses als einheitlicher Diskurs empirisch aufzulösen.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Tab. 3a: Politische Logik des BDS-Diskurses Die politische Logik des Diskurses Die politische Logik des BDSRechtediskurses
Charakteristika der politischen Logik
Antizionistische Antisemitismen
Gegenhegemoniale Problemkonstruktion und -lösung
Zionistischer Feindsignifikant (Strategem VI) Zionistischer Kolonialrassismus als Ursache des israelisch-palästinensischen Antagonismus; Zionismus ist Kolonialrassismus; monolithische Expansionsideologie; israelische Gesellschaft als homogenes Kollektiv des jüdischen »Tätervolks«, das palästinensisches Opfervolk unterdrückt und vertreibt; Palästinensisches Selbstbestimmungsrecht (Strategem III) Umsetzung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts als Lösung des Nahostkonflikts; palästinensisches ›Volk‹ in der Diaspora, in den OPT und in Israel als kollektives Subjekt des Rechts auf Selbstbe-stimmung
Delegetimierung, Dämonisierung; simplifizierende Entkontextualisierung
Israel als Apartheidstaat
Ethnischer Charakter Israels ist System der institutionalisierten Rassendiskriminierung gegenüber arabischen Israelis; Immigrationsgesetze, Staatsbürgerschaftsgesetze sind Beispiele für Rassendiskriminierung
Delegitimierung Dämonisierung
Verweigertes Recht auf Rückkehr als Ausdruck von Apartheid und ethnischer Säuberung
Resolution 194 der UN-Generalversammlung als unveräußerliches Recht auf Rückkehr aller Palästinenser/-innen; ethnische Säuberung und Apartheid als Elemente des Mangels der verweigerten Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge
Dämonisierung Entkontextualisierende Simplifizierung
Israelische Besatzung und der Bau der Sperranlage als Ausdruck von Apartheid und Kolonialismus
Israelische Besatzung ist Ausdruck von Apartheid und Kolonialismus; Besatzung ist völkerrechtswidrig; Bau der israelischen Sperranlage (»Apartheid-Wall«) zielt auf rassistische Segregation; Gaza als israelisch kontrolliertes Gebiet; Siedlungsbau als Landraub und Ausdruck ethnischer Säuberungen
Entkontextualisierende Simplifizierung Dämonisierung Delegitimierung
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Menschenrechte und Antisemitismus
Tab. 3b: Politische Logik des BDS-Diskurses Die politische Logik des Diskurses Die politische Logik des BDSRechtediskurses
Charakteristika der politischen Logik
Antizionistische Antisemitismen
BDS
Internationaler Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel löst dialogbasierte Friedensprozesse ab; Boykott zielt auf Ende des israelischen Staats als jüdischer Staat; kein Friede mit Israel
Delegitimierung Dämonisierung
5.5
Eine Welt von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für das palästinensische Volk: zur phantasmatischen Logik des Diskurses 1948 saw the creation of civilization’s greatest document to date – possibly the founding document of the truly modern era – the Universal Declaration of Human Rights. The year also witnessed the founding of a state based on the antithesis of those values: Israel. […] Boycott and disinvest in Israel! If not in solidarity, in selfdefense […]. (Ford 2009)
Während der letzte Abschnitt über die Analyse der politischen Logik des Diskurses rekonstruiert hat, wie der sozial sedimentierte Bedeutungszusammenhang der hegemonialen Diskursformation »Nahostkonflikt« über die spezifische Funktionsweise politischer Logiken herausgefordert, angegriffen und verändert wird, zeige ich nun auf, warum sich Subjekte mit dem gegenhegemonialen Deutungsangebot der BDS-Bewegung identifizieren. Entsprechend der theoretisch-methodologischen Konzeption von Logiken nach Glynos und Howarth kann die Untersuchung phantasmatischer Logiken offenlegen, warum bestimmte Deutungsmuster, Ansprüche, Forderungen und Wirklichkeitskonzeptionen erfolgreich sind. Es ist das projizierte Versprechen nach gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit durch die Überwindung eines antagonistischen Gegners, die Subjekte zu »Komplizen« von diskursiv bereitgestellten Identifikationsangeboten werden lässt. Der Logik der Fantasie liegt ein Subjekt- und Begehrensbegriff der Lacan’schen Psychoanalyse zugrunde, der erklärbar macht, wie soziale Fantasien als
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Menschenrechte und Antisemitismus
Tab. 3b: Politische Logik des BDS-Diskurses Die politische Logik des Diskurses Die politische Logik des BDSRechtediskurses
Charakteristika der politischen Logik
Antizionistische Antisemitismen
BDS
Internationaler Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel löst dialogbasierte Friedensprozesse ab; Boykott zielt auf Ende des israelischen Staats als jüdischer Staat; kein Friede mit Israel
Delegitimierung Dämonisierung
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Eine Welt von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für das palästinensische Volk: zur phantasmatischen Logik des Diskurses 1948 saw the creation of civilization’s greatest document to date – possibly the founding document of the truly modern era – the Universal Declaration of Human Rights. The year also witnessed the founding of a state based on the antithesis of those values: Israel. […] Boycott and disinvest in Israel! If not in solidarity, in selfdefense […]. (Ford 2009)
Während der letzte Abschnitt über die Analyse der politischen Logik des Diskurses rekonstruiert hat, wie der sozial sedimentierte Bedeutungszusammenhang der hegemonialen Diskursformation »Nahostkonflikt« über die spezifische Funktionsweise politischer Logiken herausgefordert, angegriffen und verändert wird, zeige ich nun auf, warum sich Subjekte mit dem gegenhegemonialen Deutungsangebot der BDS-Bewegung identifizieren. Entsprechend der theoretisch-methodologischen Konzeption von Logiken nach Glynos und Howarth kann die Untersuchung phantasmatischer Logiken offenlegen, warum bestimmte Deutungsmuster, Ansprüche, Forderungen und Wirklichkeitskonzeptionen erfolgreich sind. Es ist das projizierte Versprechen nach gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit durch die Überwindung eines antagonistischen Gegners, die Subjekte zu »Komplizen« von diskursiv bereitgestellten Identifikationsangeboten werden lässt. Der Logik der Fantasie liegt ein Subjekt- und Begehrensbegriff der Lacan’schen Psychoanalyse zugrunde, der erklärbar macht, wie soziale Fantasien als
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
ideologischer Kitt zwischen Hegemonieprojekt und Subjekt wirksam werden. Mit einem psychoanalytischen Verständnis von Solidaritätsdiskursen als eine Art »Affektlehre« kann die dritte Forschungsfrage dieser Arbeit, welche affektiv-ideologische Anziehungskraft Antisemitismen und Menschenrechtsnarrative – d.i. die phantasmatische Logik – für die Transnationalisierung des palästinensischen Protestanliegens einnehmen, beantwortet werden. In dem Methodenkapitel dieser Arbeit wurde dafür argumentiert, dass phantasmatische Logiken durch zwei narrative Erzählstrukturen analysiert werden können, die gemeinsam als Vektoren politischer Forderungen wirken. Dabei handelt es sich einerseits um affektive Strukturen, in deren Zentrum erschreckende Bilder von Omnipotenz, Allmacht und Schrankenlosigkeit eines zu überwindenden Gegners konstruiert werden, die von obszöner Überzeichnung geprägt sind und denen Imaginative der Ohnmacht einer unterdrückten, viktimisierten und machtlosen Opfergruppe gegenübergestellt werden. Diese Erzählstruktur wurde als grauenvolle Dimension der Fantasie bezeichnet. Andererseits handelt es sich um spezifische Narrative, die das imaginative Versprechen eines begehrenswerten Ideals gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit – die unerreichbare Jouissance einer Fullness-to-come – enthalten. Durch die projektive Imagination einer fraglosen, natürlichen und selbstverständlichen Normalität des artikulierten Bedeutungshorizonts eines Hegemonieprojekts verschleiern soziale Fantasien die radikale Kontingenz sozialer Beziehungen, Praktiken und Regime (Glynos/Howarth 2007, 15 und 117-121; Norval 2013, 582). Damit vermitteln sie dem Diskurs und seinen kulturspezifischen Identifikationsangeboten Attraktivität und Glaubwürdigkeit. Das folgende Kapitel gliedert sich in zwei Sinnabschnitte. In dem ersten Teil wird die grauenvolle Dimension der Fantasie des Hegemonieprojekts rekonstruiert (5.5.1 und 5.5.2). In dem palästinasolidarischen Diskurs repräsentiert die Fantasie des »konzeptionellen Juden« die grauenvolle Dimension der Fantasie. Diese antisemitische Fantasie ist von obszönen Überzeichnungen des »Jüdischen« geprägt und bringt auf einer affektvermittelten Ebene eine besondere Intensität negativer Gefühle gegenüber dem jüdischen »Anderen« zum Ausdruck. Dabei verlaufen die paronischen Phantasmen antisemitischer Überwältigungs- und Unterwerfungszenarien als nicht sagbare Fantasien relational zu den diskursiven Praktiken der im Kapitel zuvor beschriebenen politischen Logik des Rechtediskurses. Beispielsweise plausibilisieren erst Fantasien eines bösartigen »jüdischen« Plots die Artikulation eines homogenisierten Feindbilds »Zionismus« respektive legitimieren Fantasien des »grausamen« Wesens der »Juden« Deutungangebote der »Dämonisierung«. Anschließend zeige ich auf, wie die glückseligmachende Dimension der Fantasie in dem Diskurs wirksam wird (5.5.3). Die glückseligmachende Dimension wird in dem gegenhegemonialen Projekt über die Fantasie universaler Menschenrechte und ihrer utopischen Moralprinzipien rekonstruiert. Im Ergebnis zeigt dieser Abschnitt, wie das Zusammenspiel von antisemitischer Dystopie
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Menschenrechte und Antisemitismus
und menschenrechtsorientierter Utopie zu einer kontingenzverschleiernden Simplifizierung des Nahostkonflikts führt, die die Attraktivität, Plausibilität und affektive Anziehungskraft des gegenhegemonialen Deutungsangebots der Palästinasolidaritätsbewegung begründet. Wie wird die Fantasie des »konzeptionellen Juden« als grauenvolle Dimension des Diskurses wirksam? Dieser Zusammenhang wird im folgenden Abschnitt dargestellt.
5.5.1
Die grauenvolle Dimension der Fantasie: der jüdische Staat als Dieb der Jouissance
Das Konzept der sozialen Fantasie wurde in Kapitel 3 eingeführt, um die Attraktivität, Plausibilität und affektive Anziehungskraft von Hegemonieprojekten und ihren kulturspezifischen Identifikationsangeboten erklären zu können. In dem Diskurs der TPSB sind es insgesamt vier phantasmatische Logiken, die als Elemente der grauenvollen Dimension der Fantasie des Selbstbestimmungsdiskurses wirken und die obszönen Überzeichnungen und Exaggerationen des besonders negativen Wesens der »Juden« sichtbar machen. 1. das Phantasma einer unheilvollen »Judaisierung« Palästinas, das die Geschichte einer unaufhörlichen jüdischen Landnahme als Diebstahl an einer ursprünglichen Jouissance der palästinensischen »Nation« erzählt; 2. das manichäische Imaginativ einer imperialistischen Allmacht des jüdischen Staats, die brutale Gewalt und andauernde Unterwerfung als eine sich abzeichnende Katastrophe für die Palästinenser/-innen imaginiert; 3. die »Straflosigkeit« Israels als konspirativer Ausdruck einer globalen Verschwörung; 4. der vorgestellte Einfluss Israels und seiner »Lobby-Organisationen«, um »jüdische« Verbrechen zu verschleiern.
Diese vier phantasmatischen Logiken reproduzieren in unterschiedlicher Art und Weise Elemente antisemitischer Phantasmagorien – jüdische Gesellschaft/palästinensische Gemeinschaft, jüdische Grausamkeit/Amoralität, jüdische Allmacht und Unterwerfung, jüdische Weltverschwörung –, wie ich sie in Abschnitt 3.7 dargestellt habe. Im Ergebnis zeige ich, wie die grauenvolle Dimension der Fantasie Kontingenzen des Diskursfelds »Nahostkonflikt« verschleiert und Subjekten somit eine ideologische Antwort auf die Frage liefert, warum das imaginäre Allgemeinwohl – in unserem Fall die Vorherrschaft universaler Menschenrechte – bislang nicht verwirklicht werden konnte: Es ist der jüdische Dieb der Jouissance, der das palästinensische Gesellschaftsideal blockiert. Soziale Fantasien mobilisieren demnach antisemitische Affekte auf der imaginären Ebene nicht sagbarer Phan-
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
tasmagorien, die relational zu politischen Signifikationsprozessen verlaufen und diese unterstützen – im Kapitel zuvor habe ich etwa diese kontingenzreduzierende Vereinfachung durch die antizionistische Konstruktion des Antagonismus zwischen zionistischen Tätern und palästinensischen Opfern auf der Ebene der politischen Logik verdeutlichen können. Damit plausibilisiert die grauenvolle Dimension der Fantasie also das gegenhegemoniale Deutungsangebot der Palästinasolidaritätsbewegung, verleiht ihm Attraktivität und affektive Anziehungskraft. Ich beginne nun mit der Darstellung der phantasmatischen Logik einer »unheilvollen »Judaisierung« Palästinas.
5.5.1.1
»Judaizing Jerusalem« – der Diebstahl an Jouissance
In dem Diskurs der TPSB wirkt die phantasmatische Logik der »Judaisierung« als Chiffre für die schleichende Vertreibung der indigenen Palästinenser/-innen durch die abstrakte jüdische Fremdgruppe, die mit dem Verlust palästinensischer »Vergangenheit (Stop the Wall 2006), »Identität« (Stop the Wall 2005), »Kultur« und »Geschichte« (Stop the Wall 2006) einhergeht. Durch die Fantasie einer »Judaisierung« entfaltet sich die Geschichte »Palästinas« und der Palästinenser/-innen in dem Diskurs der Palästinasolidarität als Geschichte der Vertreibung, Zerstörung und des Landraubs seit Beginn der zionistischen Migration. Die Ankunft jüdischer Migrant/-innen in Palästina und spätestens die Staatsgründung Israels 1948 wird dabei als radikaler Bruch des friedlichen und harmonischen Zusammenlebens unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gemeinschaften narrativiert. For over a thousand years the city [Jerusalem] has been a hub of cultural, religious and social activity. It reflected a diversity of cultures, a rich ethnic diversity, and served as the major focal point for the three major religions. Pilgrimages to the city were commonplace and Jerusalem became an important meeting point between east and west. Religious and educational institutions and societies thrives, traders thronged into the city and visitors marvelled at its beauty. However, enourmous changes since 1948 threaten not only destroy the diversity and fabric of the city, but the rights of the Palestinian people to reside in their capital. Jerusalem has always been a central demand of Zionist ideology and leaders who whised to see it cleansed of Palestinians for Jewish settlers. That demand is now becoming a reality. (Ebd.) In dem Zitat wird sichtbar, wie die antisemitische Fantasie von Gemeinschaft/Gesellschaft (siehe Abschnitt 3.7.3) auf der symbolischen Ebene des Solidaritätsdiskurses wirksam wird. Demzufolge verkörpert die Ankunft der Zionisten den ursprünglichen Diebstahl an Jouissance einer von gesellschaftlichen Antagonismen und politischen Konflikten geheilten, multiethnischen und multireligiösen Gemeinschaft. Gleichzeitig wird die Rückkehr zu dem idealisierten, vergangenen Status quo ante durch das grausame Handeln der »Zionisten/jüdischen Siedler«
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Menschenrechte und Antisemitismus
blockiert. Denn das Ziel der »Judaisierung« – d.h. die systematische Ersetzung der indigenen Palästinenser/-innen und des historischen Palästinas durch die jüdischen Siedler – bildet auch heute noch einen – unterstellten – politischen Schwerpunkt des israelischen Staats. Dabei zeigt sich insbesondere das wiederkehrende politische Motiv einer »Judaisierung Jerusalems« durch die schleichende und gleichermaßen künstlich produzierte Transformation der demografischen Struktur der Stadt. Am Beispiel einer verkehrsinfrastrukturellen Baumaßnahme Israels, dem Bau der Jerusalemer Stadtbahn, zeigt sich für den Diskurs der TPSB exemplarisch, wie »Judaisierung« zu einer schleichenden und gleichermaßen künstlich produzierten Transformation der demografischen Struktur dieser Stadt führt: While the professed goals of the JLR [Jerusalemer Stadtbahn] cite typical urban planning priorities such as relieving traffic congestion and renewal of the city center, the actual map of the JLR’s planned route and stations reveals the unspoken underlying objective of the project: to irreversibly entrench the »Judaization« of Jerusalem […] and perpetuate its current condition as a unified city with a predominantly Jewish population under Israeli control. (Barghouti 2011, 152) Wie in Kapitel 3.4.3 beschrieben, beruhen phantasmatische Logiken auf dem Zusammenspiel von utopischem Gesellschaftsideal und dystopischen Untergangsszenarien, die das artikulierte Deutungsangebot des Hegemonieprojekts für Subjekte attraktiv und anschlussfähig machen soll. Die hier artikulierte Furcht vor einer »Judaisierung« des »historischen Palästina« geht mit einem starken Viktimisierungseffekt der palästinensischen Opfergruppe einher, die für eine Verteidigung der kulturellen Identität der Palästinenser/-innen, dem kulturellen Erbe der Stadt Jerusalem und seiner indigenen palästinensischen Gemeinschaft gegenüber der »Infiltration der Juden« mobilisiert: In Jerusalem – like the rest of Palestine – life is suffocated into ever-smaller ghettos. Ethnic cleansing of the capital will become a reality unless action is taken immediately to make the Wall fall and save Jerusalem, its history, its culture and its habitants. (Stop the Wall 2006) »Judaisierung« als Chiffre für eine absichtsvoll herbeigeführte Veränderung der demografischen, hier als natürlich erscheinenden Bevölkerungs- und Sozialstruktur palästinensischer Gebiete schließt den Diskurs der Solidaritätsbewegung gegenüber differenten, sprich kontingenten Deutungen – wie etwa verkehrsinfrastrukturellen Baumaßnahmen im obigen Beispiel – ab. Damit kommt dem Diskurselement eine kontingenzverschleiernde Funktion für die Interpretation sozialer Zusammenhänge und Strukturen zu, indem spezifische politische Praktiken unter die Narration einer Judaisierung subsumiert werden können. Vor allem die gegenhegemoniale Lesart des Zionismus als existenzbedrohender, destruktiver Ko-
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
lonialbewegung (Strategem IV) wird durch die phantasmatische Logik des Diskurses plausibilisiert.27 Denn wird die politische Lage der Palästinenser/-innen als schleichender Prozess der Vertreibung, Zerstörung und des Landraubs durch die jüdische Fremdgruppe – der »Judaisierung« des historisch indigenen palästinensischen Lands – artikuliert, erklärt sich nun, wie die gegenhegemoniale Deutung des jüdischen Nationalismus stabilisiert wird: Es ist das sinistere Wirken der jüdischen Fremdgruppe, die zur Zerstörung der ursprünglichen Harmonie und Vollkommenheit der Palästinenser/-innen geführt hat und das utopische Gesellschaftsideal bis in die Gegenwart blockiert.
5.5.1.2
»Endless imperial wars against the rest of humanity« – die manichäische Eschatologie der antisemitischen Fantasie jüdischer Allmacht
Reproduzierte die diskursive Artikulation einer »Judaisierung« des historischen Palästinas/Jerusalems die antisemitische Fantasie zwischen abstrakter jüdischer Gesellschaft und indigener palästinensischer Gemeinschaft, wird durch die phantasmatische Logik Israels als »Frontstaat des Imperialismus« deutlich, wie antisemitische Imaginationen von »jüdischer Allmacht und Unterwerfung« sowie »jüdischer Grausamkeit und Amoralität« (hierzu siehe Abschnitt 3.7.2-3.7.4) dem gegenhegemonialen Projekt der BDS-Bewegung Halt und Richtung verleihen. Den Ausgangspunkt für die Artikulation Israels als wichtigster Frontstaat des globalen Imperialismus bildet ein verkürztes, antiimperialistisches Deutungsmuster, wie ich es in Abschnitt 3.7.5 als Teil eines »linken«, antiimperialistischen Antizionismus rekonstruiert habe. In dieser Deutungsweise wird eine globale Vorherrschaft von Imperialismus, Krieg und Ausbeutung durch den »Westen« angenommen, die mit einer strikten Dichotomie zwischen westlich-imperialistischen Tätern und dem unterdrückten Rest der Welt einhergeht (Haury 2002). Für die antisemitische Logik des Diskurses ist es in diesem Kontext entscheidend, dass Israel mit den globalen Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Gewaltverhältnissen gleichgesetzt wird, was den jüdischen Staat nicht nur zur ultimativen Bedrohung für die viktimisierte palästinensische Opfergruppe, sondern zur globalen Bedrohung für die gesamte Menschheit avancieren lässt: Deep complicity engenders profound moral responsibility. […] this support fundamentally stems from the Western establishments’ hegemonic economic interests, lingering colonial racism, and belligerent crusade to preserve a system of 27
Aus einer hegemonietheoretischen Perspektive erklärt sich die diskursstabilisierende Wirkungsweise der antisemitischen Fantasie für den zionistischen Feindsignifikanten daraus, dass Letzterer als symbolische Repräsentation von Ersterem fungiert. Die ideologische Figur des »Juden« besetzt gleichermaßen die Position des begehrenswerten Objet petit a sowie des Hauptsignifikanten für den Feind. Hierzu ausführlich 3.7.1.
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Menschenrechte und Antisemitismus
privilege and exploitation, based on might and a monopoly on the tools of mass devastation, coercion, and intimidation. Maintaining Israeli colonial hegemony and apartheid, as was the case with the South African predecessor, has become the Western establishment’s most critical frontier in its endless imperial wars against the rest of humanity. (Barghouti 2011, 232) Das machtparadigmatische Phantasma eines »jüdischen« Bündnisses mit den imperialistischen Großmächten wird auch mit Blick auf die Staatsgründung Israels sichtbar: Die Umsetzung dieses rassistischen Projekts [gemeint ist die Staatsgründung Israels] wurde mit Unterstützung der imperialistischen westlichen Großmächte (insbesondere Großbritannien und die Vereinigten Staaten) und später der Vereinten Nationen durch eine Politik und Praxis der Kolonialisierung und des Bevölkerungstransfers (»ethnische Säuberung«) verfolgt, deren Hauptmerkmal die massive Ansiedlung jüdischer MigrantInnen in Palästina und der Transfer der Mehrheit der einheimischen arabischen Bevölkerung war. (BDS 2008, 16) Durch das Zitat wird deutlich, wie die phantasmatische Logik Israels als »imperialistischer Brückenkopf« des Westens das antisemitische Stereotyp jüdischer Allmacht reproduziert. So verkörpert und konkretisiert Israel in der für die imaginäre Sphäre antisemitischer Diskurse typischen Weise die Abstrakta moderner Vergesellschaftungs- und Modernisierungsprozesse, die sich hier auf die ungleichen und asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen den Räumen des globalen Nordens und Südens beziehen. Damit erklärt sich beispielsweise auch, wie politische Logiken durch phantasmatische Logiken plausibilisiert werden. Denn die übersteigerte Bedrohungsinszenierung jüdischer Unterwerfungsmacht stabilisiert antizionistische Simplifizierungen des Konflikts durch die imaginäre Gegenüberstellung von ubiquitär-omnipotentem jüdischen Täter und machtloser palästinensischer Opfergruppe. Gleichzeitig lässt sich mit einer Lacan’schen Lesart das Israel zugeschriebene imperialistische Destruktionspotenzial als Imagination »jüdischer Grausamkeit und Amoralität« identifizieren, in dem die grausame Besatzungsmacht in der maßlosen Ausübung exzessiver Gewalt und schrankenloser Macht das genießende Subjekt – den Inhaber von Jouissance – symbolisiert, »those who ›always plot to rule the world‹« (Glynos/Stavrakakis 2008, 262). Wie in Kapitel 3.7.4 beschrieben, sind antisemitische Fantasien »jüdischer Grausamkeit und Amoralität« von einem obszönen Wissen um das »wahre« Wesen der Juden geleitet, die sich in Bösartigkeit, Unehrlichkeit und Zügellosigkeit materialisieren, womit sie ein projektives Bild des »Juden« imaginieren, das sich durch hyperbolische Übertreibungen einer außerordentlichen Erbarmungslosigkeit gegenüber den ohnmächtigen »Opfern« jüdischer Gewalt auszeichnet. Auf der symbolischen Ebene des Diskurses artiku-
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
liert sich diese antisemitische Fantasie durch jene diskursiven Elemente, die dem Handeln des israelischen Staats eine unvergleichlich brutale Herrschaftsausübung unterstellen, einen dezidierten Vernichtungswillen des jüdischen Staats entlarven oder ihre Vorstellungen von viktimisierenden Omnipotenzvorstellungen leiten lassen. So wird Israel etwa vorgeworfen, ein Schurkenstaat zu sein (BDS 2015c), eine Politik zu verfolgen, die vorsätzlich darauf ausgerichtet ist, zu töten (Stop the Wall 2009), eine Tötungsmaschinerie darzustellen (BDS 2009b), Palästinenser/-innen abzuschlachten (BDS 2014), einer der am schwersten militarisierten Staaten weltweit zu sein (BDS 2011a), kriegstreiberisch und barbarisch zu agieren (BDS 2009b), Massaker an unschuldigen palästinensischen Zivilisten zu verüben (PACBI, 2014), Kriegsverbrechen zu begehen (Barghouti 2011, 38) oder einen »slow« (ebd.: 36), »gradual« (PACBI 2008c) respektive »full-fledged« (Barghouti 2011, 46) -Genzoid an den Palästinenser/-innen auszuführen. Dabei werden die genozidalen Tendenzen des jüdischen Staats auf die gesamte israelische Gesellschaft als homogenisierten Block übertragen (ebd., 44). Am signifikantesten wird die antisemitische Fantasie »jüdischer« Grausamkeit und Omnipotenz durch Vergleiche Israels mit dem Nationalsozialismus, der symbolisch als das machtvolle Böse sui generis gilt und mit Blick auf Jüdinnen und Juden eine sekundärantisemitische Täter-Opfer-Umkehrung artikuliert. Als Beleg hierfür lässt sich in dem Diskurs der TPSB die zustimmende Wiedergabe eines Statements des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters für die besetzten Gebiete, Richard Falk, anführen, das über einen sinnvermittelten Bezug auf die soziale Lage in Gaza das Unheil einer drohenden Katastrophe für die palästinensische Bevölkerung mit Verweis auf das Menschheitsverbrechen des Holocausts skizziert: Is it an irresponsible overstatement to associate the treatment of Palestinians with [the] criminalized Nazi record of collective atrocity? I think not. The recent developments in Gaza are especially disturbing because they express so vividly a deliberate intention on the part of Israel and its allies to subject an entire human community to life-endangering conditions of utmost cruelty. The suggestion that this pattern of conduct is a holocaust-in-the-making represents a rather desperate appeal to the governments of the world and to international public opinion to act urgently to prevent these current genocidal tendencies from culminating in a collective tragedy. (Falk 2007/zit.n. Barghouti 2011, 36) Durch den antisemitischen Signifikanten eines »palästinensischen Holocausts« werden Bedeutungselemente in den Diskurs des Hegemonieprojekts integriert, die den manichäischen Charakter nicht sagbarer antisemitischer Fantasien und ihrer obszönen Struktur explizit zum Vorschein bringen. Dieser manichäische Dualismus zeigt sich exemplarisch in dem drohenden Szenario einer bevorstehenden Auslöschung der viktimisierten palästinensischen Opfergruppe durch das
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Menschenrechte und Antisemitismus
grausame Wirken machtvoller, amoralischer »Juden«, die durch den Staat Israel symbolisiert werden – ein Zusammenhang, der bereits im Bedeutungskontext antizionistischer Dämonisierungen in Abschnitt 5.3.1 auf der Ebene der politischen Logik deutlich gemacht wurde. Je unheilvoller die Perspektiven, die phantasmatische Narrative des Grauens skizzieren, und je schärfer die Gegensätze zwischen Utopie und Dystopie, desto größer die Dringlichkeit zum solidarischen Handeln, was in der moralischen Aufforderung Richard Falks, eine kollektive Tragödie zu verhindern, sichtbar wird. Die Imaginative der Unterwerfung und Auslöschung mobilisieren dabei auf der Grundlage von Affekten für das Menschenrechtsanliegen der Palästinasolidarität. Rationalisiert durch Intensität negativer Gefühle gegenüber Israel als Symbol jüdischen Lebens treiben demnach Wut, Hass und Empörung über das skrupellose und grausame Vorgehen des jüdischen »Anderen« sowie Angst um das existenziell bedrohte Schicksal der Palästinenser/-innen zum solidarischen Handeln. In short, Palestinians cannot wait. Israel is no longer »just« guilty of occupation, colonization, and apartheid against the people of Palestine; as the evidence above suggests, it has embarked on what seems to be its final effort to literally disappear the »Palestinian problem« […] The world cannot continue to watch. Thus BDS. Thus now. (Barghouti 2011, 47) »Jüdische Grausamkeit« und »Allmacht« als Elemente der grauenvollen Dimension der Fantasie des Hegemonieprojekts, symbolisch repräsentiert durch die Artikulation Israels als »Frontstaat des Imperialismus«, reduzieren – ebenso wie die fantasiegeleitete Vorstellung einer »Judaisierung« – die Kontingenz des Diskurses. In dem hier angeführten Beispiel des israelischen Genozids der Palästinenser/-innen in Gaza sind es etwa die kontingenten politischen Ereignisse der Machtübernahme der Hamas, die islamistischen Terroranschläge auf israelisches Territorium sowie die damit einhergehenden israelischen Sicherheitsinteressen, die ausgeblendet und durch die katastrophische Imagination einer drohenden Vernichtungsdystopie – die »Endlösung der Palästinenserfrage« – projektiv verfremdet, verdrängt und emotional überzeichnet werden. Damit zeigt sich über die phantasmatische Logik Israels als »Frontstaat des Imperialismus«, wie Antisemitismen als Vektoren des gegenhegemonialen Diskurses fungieren, die den subjektiven Zugang zur Realität vermitteln. Mobilisierend wirkt hierbei die affektive Anziehungskraft ideologischer Fantasien, die die Kontingenz des Diskurses durch die phantasmatische Konstruktion eines existenziell bedrohlichen Handelns dämonisierter Jüdinnen und Juden verschleiert.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
5.5.1.3
Israel als »State above the Law« – die einzigartige Sonderstellung Israels
Das Diskurselement der »Straflosigkeit« Israels für Menschen- und Völkerrechtsbrüche repräsentiert auf der symbolischen Ebene des Diskurses primär28 den phantasmatischen Gehalt einer »jüdischen Weltverschwörung« gegen die nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft und damit ein weiteres Element der grauenvollen Dimension der Fantasie des Menschenrechtsdiskurses. Ich werde im Folgenden nachzeichnen, welchen ideologischen »grip« die phantasmatische Logik der »Impunität«, die Israel für seine vermeintlich zahlreichen und massiven Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüche genießt, auf den Menschenrechtsdiskurs der Palästinasolidarität ausübt. Wie sich mit Blick auf die Artikulation einer israelischen »Straflosigkeit« die antisemitische Fantasie einer jüdischen Weltverschwörung entfaltet, zeigt sich, wenn Israel als »eine über dem Gesetz der Nationen stehende Ausnahme« (Boykott, Desinvestment und Sanktionen gegen Israel 2008, 22) als »pariah state acting above the law of nation« (Barghouti 2011, 191, ähnlich PACBI 2010a, BDS 2010b) signifiziert wird. Damit wird der jüdische Staat als eine partikulare und singuläre Anomalie innerhalb der harmonisierten, sprich verrechtlichten Konstellation der internationalen Staatengemeinschaft klassifiziert, für den das allgemein verbindliche Normensystem der internationalen Völkerrechtsgemeinschaft keine Geltung besitze. Die Wahrnehmung fortgesetzter israelischer Völkerrechtsbrüche und der Straflosigkeit israelischen Handelns erscheint demzufolge auch durch die phantasmatische Logik jüdischer Allmacht und Omnipotenz geleitet. As powerful states, foremost the United States, continue to block effective UN sanctions, Israel continues to be treated as a state above the law. Israeli governments and the military are granted impunity for acts of aggression and the unlawful use of weapons and armed force to maintain the brutal regime of apartheid, colonialism and occupation, and to kill, injure, imprison, torture, displace, racially discriminate against and dispossess the Palestinian people, as well as other Arab peoples. (BDS 2011a) In dieser affektgeleiteten Perspektive verkörpert Israel stets etwas Einzigartiges, wodurch sich die Intensität und Leidenschaft, die dem Staat in seiner Ablehnung durch seine Gegner/-innen entgegengebracht wird, erklären lässt. Gleichzeitig zeigt sich in der Artikulation einer israelischen »Einzigartigkeit« (Barghouti 2011,
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Auch die phantasmatischen Elemente »jüdischer Grausamkeit und Amoralität« sowie »jüdischer Allmacht und Unterwerfung« spielen für die Narration einer israelischen »Straflosigkeit« für Menschen- und Völkerrechtsbrüche eine zentrale Rolle. Dies wird im Laufe des Abschnitts expliziert.
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69 und 156; Stop the Wall 2011; BDS 2008, 22) ein charakteristisches Merkmal phantasmatischer Logiken, als deren obszöner Ausdruck Übertreibungen, Verfremdungen und Zuspitzungen fungieren. Affektiv wird Israel durch die Vorstellung einer unbegrenzten, einzigartigen und straflos bleibenden Machtausübung als Inhaber der begehrenswerten Jouissance imaginiert, insofern sein Handeln nicht an die international anerkannten Prinzipien der Menschenrechte und des Völkerrechts gebunden scheint. Der unterstellte Exzeptionalismus Israels, der auf der symbolischen Ebene des Diskurses demzufolge als nicht sagbares Element der Fantasie einer jüdischen Verschwörung gegen den Rest der Menschheit dechiffriert werden muss, zeigt sich auch in Diskursartikulationen, die Israel als größte »Bedrohung für den Weltfrieden« stigmatisieren. So erachtet die gegenhegemoniale Bewegung der Palästinasolidarität die einzigartige Straflosigkeit Israels für »Handlungen, die zur massiven, systematischen und nachhaltigen Verletzung grundlegender Menschenrechte und der Würde von Millionen von Menschen geführt haben, als eine ernste Gefahr für Weltfrieden und Sicherheit« (BDS2008, 3). Wird das bedrohliche Handeln des jüdischen Staats also nicht durch die Strukturen des Völkerrechts begrenzt, erscheint die gesamte nicht jüdische Mehrheitsgesellschaft dem »virtually unparalleled state of exceptionalism« (Barghouti 2011, 231), der rechtlich schrankenlosen Grausamkeit Israels, ausgesetzt. Wie in Abschnitt 3.7.2 dargestellt, liefert die antisemitische Fantasie einer »jüdischen Weltverschwörung« die Möglichkeit, sich selbst als Opfer zu imaginieren und sich dabei vorzustellen, ausgeraubt, ausgebeutet und beherrscht zu werden (Messerschmidt 2005, 139). Das Diskurselement der »Straflosigkeit« Israels für Menschen- und Völkerrechtsbrüche repräsentiert auf der symbolischen Ebene des Diskurses ein solches affektgesteuertes Narrativ der globalen Verschwörung gegen das palästinensische »Volk«. So handelt der jüdische Staat gegenüber den Palästinenser/-innen »drunk with power and immunity« (BDS 2010a), wodurch affektgeleitete Gefühle der Angst, Ohnmacht und Wut in den Diskurs integriert werden. Diese Gefühle reproduzieren sich letztlich durch die Obszönität antisemitischer Vorstellungswelten, die von dem obszönen Glauben an ein besonders schamloses Wesen der Jüdinnen und Juden geprägt sind und sich hier über die projektive Wahrnehmung eines schrankenlosen Machtrauschs der »Juden« ausdrücken. Darüber hinaus wird die besonders bedrohliche Lebenslage der Palästinenser/innen durch die Vorstellung Israels als ein monolithischer Block geleistet, dessen straffrei bleibendes politisches Handeln seit der Staatsgründung durch eine spezifisch homogene und gewissermaßen zeitlose, von politischen Entwicklungen und Ereignissen unabhängige Gewaltförmigkeit (Fantasie jüdischer Grausamkeit und Amoralität) gekennzeichnet wird: Since the Nakba, Israel’s establishment through the dispossession and ethnic cleansing of a majority of the indigenous Palestinian people, Israel has been al-
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lowed to deny the over 6 million refugees from their UN-sanctioned right to return to their homes of origin. In the same period, Israel managed to get away with its system of legalized and institutionalized racial discrimination that conforms to the definition of apartheid under the 1993 International Convention for the Suppression and Punishment of the Crime of Apartheid.[…] For exactly 43 years, Israel has maintained its occupation of the West Bank, including Jerusalem, and Gaza and continued to expand its illegal colonies, committing grave violations of international law and war crimes with immunity. (BDS 2010a) Das Diskurselement der »Straflosigkeit« wird in dem Hegemonieprojekt der TPSB unmittelbar im Kontext einer gleichermaßen exzessiven wie illegalen militärischen Gewaltanwendung durch den Staat Israel artikuliert, die als Resultat der rechtlichen Schrankenlosigkeit erscheint und damit als diskursstabilisierender Vektor ein wesentliches Hindernis zum Erreichen des gesellschaftlichen Zustands von Harmonie und Vollkommenheit markiert – der Wiederherstellung der Herrschaft uneingeschränkter Menschenrechte: After centuries of suffering caused by colonialism’s system of racial discrimination, slavery, apartheid, ethnic cleansing, and slow genocide, the world’s people now feel a moral obligation to protect human rights […] which gives the Palestinian solidarity movement a moral imperative. (Stop the Wall 2011) Damit schafft es die Repräsentation der Fantasie jüdischer Weltverschwörung durch das Diskurselement der »Straflosigkeit« für Menschenrechtsverbrechen, die Kontingenz sozialer Ordnungen zu verschleiern und die Blockade der Realisierung des kollektiven Gesellschaftsideals auf die verschwörerischen Machenschaften des israelischen Feinds der Menschenrechte zu reduzieren. Folgende Diskurssequenz exemplifiziert am Beispiel der Straflosigkeit, wie antisemitische Imaginative als Emergenzbedingung für die Verwirklichung gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit wirken: Der Staat Israel muss für seine rechtlichen Verpflichtungen haftbar gemacht werden. Straflosigkeit für die massiven, systematischen Verstöße gegen das Völkerrecht und die Behandlung Israels als über dem Gesetz der Nationen stehende Ausnahme müssen beendet werden. Nur so können Gerechtigkeit und Würde für das palästinensische Volk wiederhergestellt und ein anhaltender, umfassender Frieden im Nahen Osten erreicht werden. (BDS 2008, 22) Die affektgetragene Obszönität der Vorstellung einer »jüdischen Weltverschwörung«, symbolisch repräsentiert durch die Artikulation israelischer »Straflosigkeit« für Menschen- und Völkerrechtsbrüche, zeigt insgesamt, wie der Mythos einer jüdischen Weltverschwörung Israel als menschenrechtsverachtenden »Pariahstaat« innerhalb der verrechtlichten internationalen Gemeinschaft artikuliert und damit
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Menschenrechte und Antisemitismus
als kathektischer Katalysator für die Mobilisierung von menschenrechtsorientiertem Protest wirkt. Damit plausibilisiert die grauenvolle Dimension der Fantasie des Diskurses das gegenhegemoniale Deutungsangebot der transnationalen Protestbewegung, die den Konflikt im Nahen Osten als Problem eines Konflikts um palästinensische Menschenrechte protegiert.
5.5.1.4
»Challenging the Power of the Jewish Lobby« – der globale Einfluss der »Juden«
Eine weitere phantasmatische Logik des Diskurses bildet die Fantasie einer global agierenden »Israel-Lobby«. Auf der ontischen Ebene des Diskurses aktualisiert sich über den Signifikanten »Israel-Lobby« das antisemitische Imago einer versteckten Machtausübung des »Weltjudentums«, das die Verschleierung »jüdischer« Verbrechen durch den weltweiten Komplott jüdischer »Strippenzieher« erklärt. Die im Diskurs häufig abstrakt-anonym bleibende, sogenannte Israel-Lobby wird dabei als weltumspannende, enorm einflussreiche, klandestine Macht vorgestellt, der es gelingt, trotz ihres zahlenmäßig geringen Status westliche Medienöffentlichkeiten und Regierungen unter Druck zu setzen, Regierungen in den Krieg zu treiben – »as we have seen, numerous top policymakers with a strong commitment to Israeli interests lead our country to disastrous Middle Eastern wars« (Petras 200629 ) – oder sie entgegen ihres eigentlichen politischen Interesses zugunsten des jüdischen Staats zu manipulieren. Here as in many other issues, the Lobby and its supporters are a small minority in the international community of nations and world public opinion. Through their dominance of US policy on Lebanon and Palestine, the Lobby has contributed to the isolation of the US, provoked the ire of all the mainline humanitarian groups and given credence to the world communities’ belief that Washington is a handmaiden of Israeli policy-makers. (Ebd.) Der antisemitische Topos Washingtons als »jüdisch« gesteuerter Marionette steht exemplarisch für die Entlarvungslogik antisemitischer Fantasien, hier der Fantasie eines »jüdischen Strippenziehers«, der von der nicht jüdischen Umwelt als machtvoller Drahtzieher hinter abstrakten und anonymen politischen Prozessen identifiziert wird. Durch die diskursive Artikulation einer »Israel-Lobby« werden Vertreter/-innen jüdischer Diasporagemeinden, jüdischer Organisationen und jüdischer Interessenverbände demzufolge zu einem einheitlich handelnden, transnationalen Agenten für die Interessen Israels homogenisiert, die von dem antisemitischen Imaginativ eines grenzüberschreitenden, verschworenen Zusammenhalts des imaginierten jüdischen Gesamtkollektivs ausgehen. Demzufolge steht der Signifikant 29
Dieser Artikel von James Petras, einem zentralen BDS-Unterstützer, wurde bis 2019 auf der PACBI-Website publiziert.
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»Lobby« hier als Code für »die« Juden im Allgemeinen. Diese Gleichsetzung zeigt sich etwa in folgender Textpassage: Pressure can be exerted to force the Pro-Israel lobby to register as an agent of a foreign power. There is an abundance of evidence based on public documents, observation, testimony, interviews which demonstrate that the leaders of the Lobby take orders from the Israeli government, serve as transmission belts of Israeli policies into the US, formulate the legislation for the US Congress based on Israeli priorities, coordinate and transmit information from the US government to the Israeli government and have even engaged in espionage in the US for the Israeli secret police (Mossad). (Ebd.) An anderer Stelle zeigt sich die phantasmatische Vorstellung der abstrakten Unterwerfungsmacht des jüdischen Staats und seiner Lobbyorganisationen, wenn Israel in der bewährten Bildersprache des Antisemitismus als »krakenartig« beschrieben wird. Demzufolge erscheint der jüdische Staat als nicht fassbare, weltumspannende Bedrohung, der alles seiner politischen Kontrolle unterwerfen will. Folgende Sequenz reproduziert das Imaginativ einer globalen Unterwerfungsmacht Israels, indem »schwarze« amerikanische Politiker/-innen, einschließlich der damalige Präsident Barack Obama, unter dem anonymen Einfluss der »jüdischen Lobby« stehen: Their [die Israel-Lobby] purge of Black politicians has been so successful, they’re running out of live targets. […] Down the street at the White House, chief of staff Rahm Emanuel stands guard – although President Obama appears to be an entirely voluntary captive of Israel. So we see that the tentacles that strangle Gaza and once helped South Africa build nuclear weapons, are throttling the life out of independent Black politics in the United States. Boycott and disinvest in Israel! If not in solidarity, in self-defense. (Ford 2009) Das homogenisierte Feindbild des grenzüberschreitenden »jüdischen« Kollektivs und ihr weltumspannender Einfluss wird in dem Diskurs auch dafür verantwortlich gemacht, legitime Kritik an und Aktivismus gegen Israel zu tabuisieren und die internationale Gemeinschaft »mundtot« gegenüber dem verbrecherischen und menschenrechtswidrigen Handeln des jüdischen Staats zu machen. Nachfolgende Diskurssequenz zeigt, wie sich die ideologische Fantasie einer jüdischen Meinungsmacht über den diskursiven Topos der manipulativen Instrumentalisierung eines illegitimen Antisemitismusvorwurfs durch jüdische »Lobby-Organisationen« artikuliert: Falsche Vorwürfe des Antisemitismus werden oft von Vertretern und Organen des Staates Israel und damit verbundener zionistischer Organisationen erhoben, um Kritik an der rechtswidrigen israelischen Politik und deren Praktiken gegen-
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über dem palästinensischen Volk zu diskreditieren und zum Schweigen zu bringen, auch wenn sich diese Kritik voll und ganz auf das Völkerrecht stützt. (BDS 2008, 21) In dieser Konstruktion erscheint Antisemitismus lediglich als politisches Machtmittel, als instrumentalisierter »Vorwurf« der weltweit einflussreichen jüdischen Lobbygruppe, um menschenrechtsorientierte Kritik an dem jüdischen »Verbrecherstaat« abzuwehren. Die bedrohliche Fantasie des »jüdischen Strippenziehers« aktualisiert sich über den Signifikanten der »Israel-Lobby« demzufolge in unterschiedlichen Diskurszusammenhängen. Mit Blick auf das menschenrechtsorientierte Protestanliegen der TPSB soll sie eine besonders unnachgiebige Unterdrückung des israelkritischen Boykottaktivismus in Europa oder den USA durch die verschwörerische »Israel-Lobby« insinuieren, die den Kampf für palästinensische Menschenrechte zu behindern und das Aussprechen einer vermeintlichen »Wahrheit« über den Nahostkonflikt zu tabuisieren versucht. So sieht sich die Palästinasolidarität in Spanien etwa »attempts to silence« durch ACOM, einer proisraelischen Organisation, ausgesetzt. In Großbritannien werde die Gewerkschaft der Universitäts- und Collegebeschäftigten im Vereinigten Königreich juristisch durch »powerful lobby groups« (PACBI 2013a) bedrängt, nachdem sie den Boykott-Call des BDS unterzeichnet hat. Insbesondere die Sphäre der Wissenschaft wird als Kampffeld der »Israel-Lobby« begriffen, die der Verschleierung israelischer Menschen- und Völkerrechtsverbrechen dient. In other words, this relation between Israel and the global academy is part of a concerted effort by Israel and its international lobbies to use the academy for its political goals of maintaining and shielding its colonial and apartheid system of oppression against the Palestinian people. (PACBI 2012b) Nicht der akademische internationale Austausch, Forschungskooperationen oder die Teilnahme an Hochschulveranstaltungen sind demzufolge das Ziel israelischer Wissenschaftler/-innen, sondern die Aufrechterhaltung und Verteidigung des eigenen ›rassistischen Kolonialregimes‹. Damit wird sichtbar, wie die affektgetragene Paranoia einer fortgesetzten Täuschung der Weltöffentlichkeit durch Israel und seine Lobbyorganisationen in dem Diskurs artikulierbar wird. Auch hier wirken Elemente der antisemitischen Fantasie »jüdischer Amoralität und Grausamkeit« mit ein, wie ich sie bereits im vorherigen Abschnitt beschrieben habe. Das phantasmatische Identifikationsmerkmal der »Amoralität« meint hierbei den »jüdischen« Verrat an einer kollektiven Moral. In dieser phantasmatischen Narration wird das empirische Handeln von Jüdinnen und Juden als Mimikry an die Normen und Werte der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft identifiziert, hinter der sich das angeblich »wahre« Wesen der Juden offenbart. Israel steht demzufolge symbolisch für die jüdische Mimikry, indem der jüdische Staat und sei-
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
ne Lobbyorganisationen die Weltöffentlichkeit über sein heimliches Machtstreben und sinistren Motive täuscht. Dies gelingt Israel beispielsweise auch durch die Berufung auf das völkerrechtlich sanktionierte Recht zur Selbstverteidigung souveräner Staaten, womit das illegale Vorgehen gegen die Palästinenser/-innen und die Unterdrückung ihrer Menschenrechte ideologisch verschleiert und gerechtfertigt erscheint, wie sich in folgender Diskurssequenz zeigt: Armed force has been essential for Israel to enforce its apartheid laws and maintain its oppressive regime of apartheid, colonialism and occupation over the Palestinian people. […] Israeli governments invoke the right to self-defense and the »need to protect public order,« while in reality armed force is used to protect a criminal regime. (BDS 2011a) Kontingenzen, Arbitraritäten und uneindeutige Entscheidungssituationen werden im Diskurs der Palästinasolidarität damit durch antisemitische Fantasien überlagert, wodurch die soziale Logik gleichberechtigter Perspektiven und Ansprüche von Israelis und Palästinenser/-innen infrage gestellt und damit ihre Politisierung durch den Rechtediskurs legitimiert wird. Werden etwa entsprechend dem hegemonialen Diskurs eines »Territorialkonflikts« Begründungsmuster für das politische Handeln Israels, etwa Terrorabwehr, Selbstverteidigung, aber auch die Legitimation Israels als demokratischer Rechtsstaat, als legitimes Wissen anerkannt, reduziert das phantasmatische Element der »jüdischen Amoralität« diese diskursiven Mehrdeutigkeiten auf die einzig möglich scheinende Lesart einer »jüdischen« Täuschung für Zwecke »jüdischer« Aggression und »jüdischer« Gier. Besonders die sozial sedimentierte Vorstellung, dass es sich im Falle der »ethnischen Demokratie« Israel um eine Demokratie nach westlichem Vorbild handelt, repräsentiert in dem Menschenrechtsdiskurs der TPSB einen zentralen Topos »jüdischer Mimikry«, der eo ipso als Täuschung verstanden werden muss: »The facade of democracy, not democracy itself, is what is truly collapsing in Israel, as democracy has never existed in any true form – nor could have existed – in a settler-colonial state like Israel.« (Barghouti 2011, 14) Zugleich lässt sich hier exemplarisch nachvollziehen, wie antisemitische Fantasien als Vektor der politischen Logik von Diskursen, hier speziell antizionistischer Deutungsangebote des Hegemonieprojekts, fungieren. So beruhen antizionistische Entkontextualisierungen der Konfliktrealität letztlich auch auf der antisemitischen Vorstellung einer jüdischen »Amoralität« und »Mimikry«. Denn werden legitime israelische Perspektiven, Bedürfnisse und Interessen als Schimären eines betrügerischen »Wesens« von Jüdinnen und Juden imaginiert, dann lassen sich entsprechende simplifizierende Täter-Opfer-Konstellationen durch den Ausschluss gleichberechtigter jüdischer Selbstverständnisse und Ansprüche begründen.
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Menschenrechte und Antisemitismus
Ausgehend von dem diskursabschließenden Erklärungsmodell einer machtvoll-manipulativen »Israel-Lobby«, sehen Akteur/-innen der Menschenrechtsbewegung ihr Handeln demzufolge von den ungleich machtvolleren Ressourcen eines jüdischen Antagonisten bedroht, dessen gefährlicher Status unbedingt und absolut gesetzt wird. Damit mobilisiert die Artikulation einer global agierenden IsraelLobby für das transnationale Mobilisierungspotenzial der Palästinasolidarität. Denn kathektische, d.h. affektiv-emotionale Identifikationen mit dem palästinensischen Selbstbestimmungsdiskurs werden auch durch jene Feindbildkonstruktionen hervorgebracht, die, in Gestalt der antisemitisch imaginierten »Israel-Lobby«, auf der (inter-)nationalen Ebene einen gemeinsam zu bekämpfenden, unmittelbaren Gegner konstruieren. Folgender Diskursausschnitt kann illustrieren, wie der Diskurs ein menschenrechtsorientiertes »Wir« anruft, dessen positive Absichten eines Kampfes für palästinensische Menschenrechte als moralisch »ehrenhaft« idealisiert werden und von der antisemitischen Bedrohungsinszenierung des allgegenwärtigen und klandestin-anonym bleibenden »Anderen« sabotiert zu werden drohen, weshalb die Bewegung zu einer kollektiven Abwehr dieses Gegners aufruft: Having so far failed to stop the rising number of concerned citizens joining the BDS movement, Israel and its lobby groups have desperately launched an unprecedented, well-funded global campaign to silence Palestinian narratives and criminalize BDS advocacy. This repressive attack is designed to disrupt attempts to hold Israel accountable for its systematic violations of international law and its regime of occupation, apartheid and settler colonialism over the Palestinian people. (BDS 2016c) Insgesamt artikuliert sich über die Signifikation einer global agierenden »IsraelLobby« eine antisemitische Fantasie, die das gegenhegemoniale Deutungsangebot des palästinensischen Selbstbestimmungsdiskurses plausibilisiert, weil sie die Blockade des imaginären Allgemeinwohls auf die anonymen Machenschaften des amoralischen »jüdischen« Strippenziehers zurückführt. Warum die glückseligmachende Dimension der Vorherrschaft uneingeschränkter Menschenrechte für Palästinenser/-innen als Lösung des politischen Antagonismus im Nahen Osten noch nicht verwirklicht ist, wird demzufolge auf die manipulativen Machenschaften des »jüdischen« Strippenziehers zurückgeführt, der die internationale Weltöffentlichkeit manipuliert und sein »wahres« Wesen über die scheinbare Anpassung an die Normen der Mehrheitsgesellschaft verschleiert.
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
5.5.2
Zusammenfassung: der »jüdische« Plot als grauenvolle Dimension der Fantasie des Hegemonieprojekts
Die empirische Analyse hat gezeigt, wie einzelne Elemente antisemitischer Phantasmagorien – jüdische Grausamkeit/Amoralität, jüdische Weltverschwörung, jüdische Allmacht und Unterwerfung, jüdische Gesellschaft/palästinensische Gemeinschaft – als grauenvolle Dimension der Fantasie des Diskurses wirksam werden. In dem Hegemonieprojekt der TPSB liefert die grauenvolle Dimension der Fantasie eine ideologische Antwort auf die Frage, warum das imaginäre Allgemeine universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen noch nicht erreicht worden ist. In dieser diskursplausibilisierenden Fantasie ist es die antisemitische Imagination Israels als »konzeptueller Jude«, die den subjektiven Zugang zur Wirklichkeit strukturiert, bestehende Kontingenzen in der Aushandlung politischer Konfliktlinien verschleiert und die sozialen Frustrationserfahrungen der antagonistischen Parteien im Israel-Palästina-Konflikt einseitig auf das dämonisierte Handeln des wesenhaft »böse« vorgestellten jüdischen Staats zurückführt. Diese Verschleierungsfunktion sozialer Fantasien zeigt sich in dem Rechtediskurs der TPSB durch die antisemitischen Narrative grauenvoller Fantasien, die einerseits durch manichäische Bilder »jüdischer« Allmacht, Omnipotenz und totaler Kontrolle geprägt werden und andererseits Palästinenser/-innen einzig als unterdrückte und viktimisierte Opfergruppe vorstellbar machen. Folgende Tabelle soll zusammenfassend illustrieren, wie die einzelnen phantasmatischen Elemente des »jüdischen Plots« auf der symbolischen Ebene des Diskurses wirksam werden: Tab. 4a: Die grauenvolle Dimension der Fantasie des BDS-Diskurses Die grauenvolle Dimension der Fantasie des »konzeptuellen Juden«, plausibilisiert durch das antisemitische Phantasma eines bösartigen »jüdischen« Plots, als eine ideologische Antwort auf die Frage, warum das imaginäre Allgemeinwohl universaler Menschenrechte bislang nicht verwirklicht werden konnte Elemente der Fantasie
Diskursive Repräsentation
»jüdische Grausamkeit und Amoralität«
Israel führt einen Vernichtungsfeldzug/handelt wie NS-Deutschland, Israel verübt unvorstellbare Verbrechen, Israel handelt machtbesessen und skrupellos, Israel ist ein Schurkenstaat, Israel verwandelt Palästina in ein Schlachthaus, Israel ist Verräter an der Moral universaler Menschenrechte
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Menschenrechte und Antisemitismus
Tab. 4b: Die grauenvolle Dimension der Fantasie des BDS-Diskurses Die grauenvolle Dimension der Fantasie des »konzeptuellen Juden«, plausibilisiert durch das antisemitische Phantasma eines bösartigen »jüdischen« Plots, als eine ideologische Antwort auf die Frage, warum das imaginäre Allgemeinwohl universaler Menschenrechte bislang nicht verwirklicht werden konnte Elemente der Fantasie
Diskursive Repräsentation
»jüdische (Welt-)Verschwörung und Strippenzieher«
Israel täuscht die Weltöffentlichkeit über sein »wahres« Wesen, Israel bleibt straflos für Menschenrechtsverletzungen, Israel steht über dem Völkerrecht, Israel ist Teil einer globalen Verschwörung gegen die Palästinenser/-innen Israel-Lobby tabuisiert Kritik/kriminalisiert (nationalen) Protest, Israel-Lobby instrumentalisiert Antisemitismus, Israel-Lobby kontrolliert/beeinflusst Regierungen und Medienöffentlichkeiten, »Weltjudentum« agiert als Agent des Zionismus
»jüdische Allmacht und Unterwerfung«
Israel handelt mit völkerrechtlich unbegrenzter militärischer Gewalt, Israel steht für Imperialismus/ist Frontstaat des Imperialismus, Israel ist Protegée des imperialistischen Westens, Palästinenser/-innen werden Opfer von Vertreibung und kolonialer Landnahme
»palästinensische Gemeinschaft und jüdische Gesellschaft«
Israel judaisiert »palästinensisches« Land, Israel verändert schleichend die organische Struktur »palästinensischen Lands«, Israel/Zionismus hat den Mythos ursprünglicher (nationaler) Harmonie zerstört
5.5.3
Die glückseligmachende Dimension der Fantasie: Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit als Gesellschaftsutopie des Menschenrechtsprojekts der Palästinasolidarität
Nachdem im vorangegangenen Abschnitt rekonstruiert wurde, inwiefern durch den »jüdischen Plot« als grauenvolle Dimension der Fantasie eine spezifisch judenfeindliche Wahrnehmung auf das antagonistische Konfliktfeld zwischen Israelis und Palästinenser/-innen etabliert wurde, möchte ich im Folgenden die glückseligmachende Dimension der Fantasie universaler Menschenrechte analysieren. Um die spezifische Funktionsweise der glückseligmachenden Dimension des Solidaritätsdiskurses nachvollziehen zu können, rekapituliere ich noch einmal die wesentlichen Ergebnisse aus Abschnitt 3.4.3. Die glückseligmachende Dimension der Fantasie verspricht, das unmöglich zu realisierende Begehren nach Harmonie und Vollkommenheit – die soziale Jouissance – zu verwirklichen, sobald der spezifische Mangel am Allgemeinen überwunden ist. Indem sie das utopische
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Imaginativ einer abwesenden »Fullness to come« formuliert, setzt sie die affektive Dynamik des subjektiven Begehrens nach identifikatorischer Geschlossenheit des konstitutiv mangelhaften Subjekts in Gang, weil sie aufzeigt, auf welches Objekt des Begehrens (objet petit a) sich der Wunsch nach Harmonie und Vollkommenheit richtet. Durch das affektive Investment plausibilisiert und stabilisiert die glückseligmachende Dimension der Fantasie politische Diskurse und ihre je spezifischen Ketten artikulierter Forderungen und Hindernisse und wird damit zum Vektor hegemonialer Projekte. Der folgende Abschnitt zeigt, wie die glückseligmachende Dimension der Fantasie universaler Menschenrechte als Vektor des Hegemonieprojekts der Palästinasolidarität wirkt. Dabei wird die Analyse der Fantasie universaler Menschenrechte und ihrer utopischen Moralprinzipien illustrieren, welcher imaginäre Gesellschaftszustand das Versprechen nach Harmonie und Vollkommenheit leitet, sobald der »jüdisch« imaginierte Mangel am Allgemeinen überwunden ist. Damit erklärt die Fantasie universaler Menschenrechte auch, wie und warum Subjekte auf die spezifischen Identifikationsangebote des Hegemonieprojekts der Palästinasolidarität reagieren und sich mit Leidenschaft und Enthusiasmus dem Kampf für das partikulare Ziel palästinensischer Selbstbestimmung widmen. Im Ergebnis wird sichtbar, dass die Fantasie universaler Menschenrechte die radikale Kontingenz des politischen Konflikts zwischen Israelis und Palästinenser/-innen verschleiert, indem sie den subjektiven Zugang zur Realität strukturiert. Wie wird die glückseligmachende Dimension der Fantasie des Diskurses nun über die universalen Menschenrechte und ihre utopischen Moralprinzipien wirksam?
5.5.3.1
»Peace based on international law and human rights«: Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für Palästina
Als Elemente der glückseligmachenden Dimension der Fantasie zeigen sich in dem Menschenrechtsdiskurs der Palästinasolidarität drei Moralprinzipien des Menschenrechtsregimes – »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« –, die als Objekte eines zukünftigen, von sozialen Antagonismen befreiten gesellschaftlichen Idealzustands artikuliert werden. Geleitet durch das libidinös besetzte Phantasma der Menschenrechte als imaginärem Horizont des Hegemonieprojekts, bringen »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« dabei zum Ausdruck, auf welchen politischen Prinzipien die gesellschaftliche Organisation im Nahen Osten basieren wird, wenn der jüdische Staat überwunden und das palästinensische Recht auf partikulare Selbstbestimmung – das in Abschnitt 5.3.2 als umfassende Forderung des Hegemonieprojekts analysiert wurde – erfüllt ist.
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Menschenrechte und Antisemitismus
Um diesen begehrenswerten Zustand von Harmonie und Vollkommenheit zu konturieren, artikuliert das gegenhegemoniale Projekt der Palästinasolidarität eine zur hegemonialen Logik des Nahostkonflikts konträre Vorstellung von »Frieden«. Wie in Abschnitt 5.1.1 beschrieben, wird die soziale Logik des Diskurses über den israelisch-palästinensischen Antagonismus von der Idee strukturiert, dass der politische Konflikt um Territorium durch dialogbasierte, bilaterale Verhandlungen zwischen den beiden Konfliktparteien beendet werden kann. In diesem Sinne wird die soziale Logik der friedlichen Beilegung des Konflikts von der Umsetzung der »Land-für-Frieden-Formel« getragen, die verspricht, dass ein jüdischer Staat am Ende des Friedensprozesses in Frieden und Sicherheit neben einem souveränen palästinensischen Staat existieren kann. Aufgrund der gegenhegemonialen Artikulation des Nahostkonflikts als Kolonialkonflikt zwischen israelischen Kolonisatoren und palästinensischen Kolonisierten kann »Frieden« als begehrenswerter Zustand von Jouissance in dem Diskurs der TPSB auch nur im konfrontativen Kampf gegen Israel, niemals im konsensorientierten Dialog mit Israel verwirklicht werden. Deutlich wird diese Haltung, die in einem scharfen Gegensatz zur sozialen Norm der »Frieden-durch-zwei-Staaten-Regelung« und ihrer diplomatischen Konfliktlösungsmechanismen steht, am Beispiel einer Forderung der BDS-Kampagne, die auf der antagonistischen Gegenüberstellung von Israel und Frieden beruht. Der Staat Israel muss für seine rechtlichen Verpflichtungen haftbar gemacht werden. Straflosigkeit für die massiven, systematischen Verstöße gegen das Völkerrecht und die Behandlung Israels als über dem Gesetz der Nationen stehende Ausnahme müssen beendet werden. Nur so können Gerechtigkeit und Würde für das palästinensische Volk wiederhergestellt und ein anhaltender, umfassender Frieden im Nahen Osten erreicht werden. (BDS 2008, 22) Das Zitat macht sichtbar, wie die Utopie eines anhaltenden, umfassenden Friedens im Nahen Osten demzufolge nur durch die Haftbarmachung des jüdischen Pariah-Staats für seine massiven Menschenrechtsverletzungen und Völkerrechtsbrüche gegenüber dem viktimisierten, palästinensischen ›Volk‹ erreicht werden kann. Friedensbemühungen, die entsprechend der sozialen Logik der »Zweistaatenlösung« auf einer paritätischen Anerkennung beider nationaler Bestrebungen beruhen, müssen demzufolge als »illusion of peace« (Barghouti 2011, 103), »so-called peace« (ebd., 56) oder »master-slave […] form of ›peace‹« (ebd., 173) verstanden werden, die einem wahren, gerechten Frieden entgegenstehen. The key word missing is justice. What we have always struggled to achieve is indeed a peace based on justice, international law and the universal principle of equality of all human beings, regardless of faith, ethnicity or gender. Your divestment can only enhance the prospects for realizing that genuine peace. (PACBI 2006)
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
An dieser Stelle zeichnen sich diskursive Annäherungen an das imaginäre Gesellschaftsideal der TPSB ab, die einen »genuinen«, andauernden, umfassenden (BDS 2008, 3), bedeutungsvollen (Barghouti 2011, 8) Frieden im Nahen Osten, in der Region (PACBI 2005b), auf der ganzen Welt (BDS 2011a) zu erreichenden, gerechten Frieden als begehrenswerten Zustand artikulieren (BDS 2010a; Pacbi 2008s). Es wird sichtbar, dass ein »wahrer Friede« also nur ein »gerechter Friede« sein kann, der sich von dem hegemonialen Lösungsansatz eines Dialogfriedens abgrenzt, womit sich die kontingenzverschleiernde Funktion sozialer Fantasien zeigt. Der folgende Abschnitt rekonstruiert, wie der »gerechte Friede« als phantasmatisches Verheißungsversprechen des Hegemonieprojekts wirkt.
5.5.3.2
Der »gerechte Friede« und die »primacy of human rights«
Gegenüber der Illusion von Frieden, wie sie für das Hegemonieprojekt durch den hegemonialen Konfliktlösungsmechanismus der »Frieden-durch-zwei-StaatenRegelung« repräsentiert wird, zeichnet sich der gerechte Frieden dadurch aus, dass in ihm die »primacy of human rights« (BDS 2009c) verwirklicht sind. Als affektgetragenes Objekt der begehrenswerten Vorstellung des Hegemonieprojekts ist der wahre, gerechte Frieden demzufolge ein »just peace based on international law and respect for universal human rights« (PACBI 2007). Einzig unter dem Primat der Geltungswirksamkeit universaler Menschenrechte verspricht der rechtebasierte Ansatz des Hegemonieprojekts die Errichtung einer »guten Gesellschaft«, die den antagonistischen Konflikt zwischen den konkurrierenden territorialen Ansprüchen von Israelis und Palästinenser/-innen auf der Grundlage von »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« aufzulösen vermag. Das Primat des übergeordneten imaginären Horizonts unteilbarer Rechte zeigt sich dabei in Artikulationen, die von »freedom, justice and equality that is in line with universal human rights and international law« (BDS 2013b), einem »change towards justice and durable peace based on international law and universal principles of human rights« (PACBI 2007) oder einem »gerechte[n], umfassende[n] und dauerhafte[n] Frieden in der Region, in der alle Völker koexistieren und Gleichheit, Gerechtigkeit und die international anerkannten Menschenrechte« (BDS2008, 3) vorherrschen, sprechen. »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« bringen demzufolge zum Ausdruck, auf welchen moralischen Prinzipien das imaginäre Allgemeinwohl basiert, sobald der gerechte Friede für Palästinenser/-innen durch die Überwindung des jüdischen »Anderen« umgesetzt worden ist. Signifikant erscheint dabei, dass die utopischen Elemente des begehrenswerten Gesellschaftszustands der uneingeschränkten Wirksamkeit unteilbarer Menschenrechte – in Kapitel 3.6.1 wurden diese Prinzipien in Anlehnung an Laclau und Mouffe als imaginärer Horizont unteilbarer Rechte bezeichnet –, die als Voraussetzung eines »gerechten Friedens« gelten, selten isoliert im Diskurs artikuliert wer-
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Menschenrechte und Antisemitismus
den. Vielmehr werden »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« überwiegend als gleichberechtigte, gleichwohl unspezifizierte, diffus bleibende Moralprinzipien diskursiviert. So wird der imaginäre Horizont unterschiedlich als Herrschaft von »freedom, justice and equal rights« (PACBI 2010b) begriffen und der Einsatz von Ressourcen für die Selbstbestimmungsziele der Boykottkampagne als einzige Möglichkeit zur Realisierung palästinensischer »Freiheit«, »Gerechtigkeit« und »Gleichheit« (PACBI 2012a) verstanden. Wie der begehrenswerte Zustand von »Freiheit«, »Gerechtigkeit« und »Gleichheit« jedoch genau definiert wird, bleibt in dem Diskurs der TPSB weitestgehend offen. Idealtypisch wird das phantasmatische Diskurselement der Freiheit oft in Artikulationsketten eingefügt, die Freiheit als Freiheit von israelischer Fremdbestimmung begreifen. Die Gewährleistung palästinensischer Forderungen nach Menschenrechten beendet demzufolge die zionistische Fremdherrschaft in Palästina und verwirklicht damit einen Zustand ›echter‹ und ›bedingungsloser Freiheit‹, der mit der Realisierung nationaler Selbstbestimmung einhergehen würde. In this context, the BNC welcomes the recognition of a great majority of states around the world that the Palestinian right to statehood and freedom from Israeli occupation are long overdue and should no longer to be held hostage to fanatically biased US »diplomacy« in defense of Israeli expansionism. (BDS 2011b) Die Attraktivität von »Gerechtigkeit« als phantasmatisches Element einer gesellschaftlichen Harmonie und Vollkommenheit, die eintritt, sobald das antisemitisch imaginierte Feindbild Israel überwunden ist, bleibt auf der symbolischen Ebene des Diskurses seiner konkreten Semantik weitestgehend entkleidet. Lediglich als mythologisch-utopisches Schlagwort – »justice for Palestinians« (PACBI 2011) – wird das Gerechtigkeitsnarrativ in dem Diskurs repräsentiert. Dagegen wird das phantasmatische Versprechen, das mit dem begehrenswerten Objekt der Gleichheit verbunden ist, durch die Referenzialisierung des Gleichheitspostulats der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte spezifiziert. Durch die Aneignung der autoritativen Leitsemantik des demokratischen Menschenrechtsdiskurses, wie ich ihn in Kapitel 3.6.1 dargestellt habe, ermöglicht der Verweis auf das sakralisierte Gleichheitsprinzip der universalen Menschenrechte, bestehende Unterordnungsverhältnisse als rechtliche Ungleichheitsverhältnisse zu identifizieren. Der glückseligmachende Zustand von gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit wird demzufolge als ein soziales Verhältnis verstanden, indem Ungleichheiten aufgehoben und die fundamentalen Rechte des Menschen und seiner Menschenwürde geschützt werden sollen. The 2005 Palestinian civil society Call for BDS, which calls for ending Israel’s flagrant violations of international law and for safeguarding the human rights of the Palestinian people, is anchored in the principles set forth in the Universal
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
Declaration of Human Rights. As the Declaration stipulates, »all human beings are born free and equal in dignity and rights« and everyone is entitled to all fundamental rights and freedoms »without distinction of any kind, such as race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status.« Based on this principled commitment of the BDS movement to the equal rights of every human being, irrespective of identity, we stand firmly against political ideologies, laws, policies and practices that promote racism. We reject Zionism, as it constitutes the racist and discriminatory ideological pillar of Israel’s regime of occupation, settler colonialism and apartheid that has deprived the Palestinian people of its fundamental human rights since 1948. […] Racism and racial discrimination are the antithesis of freedom, justice and equality. (BDS 2017a) Das phantasmatische Diskurselement der »Gleichheit« wird dabei in unterschiedlichen Diskurszusammenhängen artikuliert, die überwiegend auf die Aufhebung konstatierter rechtlicher Ungleichheiten abzielen sollen. In diesem Sinne verlangt die Bewegung etwa in ihrem Call nach einer Anerkennung des Grundrechts aller arabisch-palästinensischen Bürger/-innen Israels auf völlige Gleichheit (s. BDS 2005). Wie in Abschnitt 5.1.4 bezüglich des konstitutionellen Selbstverständnisses des jüdischen Staats als ethnischer Demokratie aufgezeigt wurde, genießen alle israelischen Staatsbürger/-innen unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Identität im juristischen Sinne jedoch dieselben einklagbaren Rechte. Demzufolge lässt sich an dem Diskurselement der »Gleichheit« exemplarisch nachvollziehen, wie phantasmatische Logiken Diskurse abschließen und die Kontingenzen sozialer Ordnungen und Beziehungen verschleiern können. Nachdem ich nun dargestellt habe, welche Moralprinzipien des Menschenrechtsregimes – »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit – als Objekte eines zukünftigen, von sozialen Antagonismen befreiten gesellschaftlichen Idealzustands artikuliert werden und wie durch das libidinös besetzte Phantasma unteilbarer Menschenrechte ein »gerechter Frieden« für Palästinenser/-innen nicht durch einen Dialog mit Israel, sondern durch die Überwindung von Israel abhängig gemacht wird, möchte ich nun in einem nächsten Schritt zeigen, welche affektive Begehrensdynamik das menschenrechtsorientierte Hegemonieprojekt ausstrahlt. Ziel des nächsten Abschnitts ist es demzufolge, aufzuzeigen, wie die diffuse gesellschaftliche Heilserwartung einer sozialontologisch unmöglich zu verwirklichenden »fullness to come once a named or implied obstacle is overcome« (Glynos/Howarth 2007, 147) auf die Transnationalisierung des partikularen Selbstbestimmungsdiskurses der Palästinenser/-innen einwirkt. Damit soll die Forschungsfrage, warum sich Subjekte transnational mit dem partikularen Deutungsangebot der Palästinasolidarität identifizieren und welche normativ vermittelte Attraktivität kulturell-situierte Menschenrechte für Subjekte besitzen,
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Menschenrechte und Antisemitismus
die nicht von einer spezifischen lokalen Problemkonstellation betroffen sind, beantwortet werden.
5.5.3.3
»In defense of freedom, justice and the sanctity of human life« – die affektive Anziehungskraft des palästinensischen Selbstbestimmungsdiskurses
In Kapitel 3 wurde durch eine ideologiekritische Lesart von Menschenrechten dargestellt, wie der Normenkosmos universaler Menschenrechte als komplexitätsreduzierende Fantasie von Diskursen verstanden werden kann. Zentral für diese Funktion sozialer Menschenrechtsfantasien ist es dabei, dass sie die Illusion einer fraglosen Selbstverständlichkeit des artikulierten Bedeutungshorizonts hegemonialer Projekte plausibilisieren. Denn als affektiv wirksames Heilsversprechen projizieren sie den unbedingten Glauben, dass Gesellschaft und Subjektivität von politischen Antagonismen geheilt werden können, wenn nur diese bestimmten politischen Forderungen nach Rechten erfüllt werden. Als narrativer Vektor des Hegemonieprojekts erfüllt das Imaginativ universaler Menschenrechte diese komplexitätsreduzierende Funktion für den politischen Antagonismus zwischen Israelis und Palästinenser/-innen, d.h., er plausibilisiert die Lesart des Nahostkonflikts als Kolonialkonflikt zwischen jüdischen Kolonisatoren und kolonisierten Palästinenser/-innen. Deutlich wird diese dekontextualisierende Wirkungsweise der Menschenrechtsfantasie, wenn sich die BDS-Kampagne strikt gegen eine politische Lösung des Nahostkonflikts ausspricht und die uneingeschränkte Verwirklichung des gesellschaftlichen Idealzustands eines wahren, gerechten Friedens stattdessen von der Umsetzung der unhintergehbaren Rechte für das palästinensische ›Volk‹ abhängig macht. While Palestinian and other BDS advocates may support diverse solutions to the question of Palestinian self-determination and the colonial conflict with Israel, by avoiding the prescription of any particular political formula the BDS Call insists on the necessity of realizing the three basic, irreducible rights of the Palestinian people in any just solution. (Barghouti 2011, 17) Indem die ideologische Menschenrechtsfantasie den Eindruck suggeriert, dass eine Auflösung des antagonistischen Konfliktfelds zwischen Israelis und Palästinenser/-innen einzig von der Realisierung universaler Menschenrechte für rechtelose Palästinenser/-innen abhängen würde, verschleiert sie also die soziale Logik von Problemursache und -lösung des israelisch-palästinensischen Antagonismus, in dessen Kern die divergierenden Ansprüche über entsprechende Gebietshoheiten, dem territorialen Grenzverlauf, kurzum die konkurrierenden Ansprüche zweier nationaler Gruppen und ihr jeweiliger Anspruch auf Sicherheit und Selbstbestimmung in dem Land des ehemaligen britischen Mandatsgebiets stehen. In diesem Sinne konstatiert PACBI: »We do state, loud and clear, that any solution would have to
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
be founded on international law […] Our basic rights are not negotiable; solutions are.« (2013b) Durch die Menschenrechtsfantasie wird dabei ein dynamisches Begehren des dezentrierten Subjekts nach identifikatorischer Geschlossenheit – der Wiederherstellung der Jouissance – in Gang gesetzt, das von der Verschleierungsfunktion der abstrakten Menschenrechtsideologie angetrieben wird. Um den theoretischen Ausgangspunkt noch einmal zu rekapitulieren, wurde in Abschnitt 3.6.1 argumentiert, dass der Menschenrechtsdiskurs die Vorstellung produziert, das Objekt des Begehrens – die geheilte Gesellschaft – wäre durch das abgeschlossene System universaler Menschenrechte bereits objektiv vorhanden. Diese scheinbare Objektivität unteilbarer und universaler Menschenrechte, die ähnlich der Vorstellung von »Gott« in religiösen Diskursen fungiert, projiziert für Subjekte das phantasmatische Versprechen einer »Füllung« der subjektiven Leere, sobald die Herrschaft des Rechts wiederhergestellt wird. Demzufolge werden Rechte zur Lösung für alle sozialen, gesellschaftlichen und politischen Probleme, weil sie als entkontextualisiertes Heilsversprechen fungieren, die nur verteidigt, angeeignet und wiederhergestellt werden müssen, um gesellschaftliche Antagonismen aufzulösen. Diese affektive Funktionsweise, die das dynamische Begehren des Subjekts nach der Wiederherstellung von Jouissance – dem Sein ohne Mangel – antreibt, zeigt sich auf der symbolischen Ebene des Diskurses in Artikulationen, die einen »defense of freedom, justice and the sanctity of human life« (PACBI 2014) durch den BDSAktivismus oder eine »Validierung« (Barghouti 2011, 84) des Menschenrechtssystems und seiner »Glaubwürdigkeit« fordern, um die »Gerechtigkeit und Würde der Menschen« und vor allem des palästinensischen »Volks« (BDS 2008, 2) wiederherzustellen. Es ist also dieser ideologische Schein des abstrakten Normenkosmos der Menschenrechte, der als phantasmatische Logik des Solidaritätsdiskurses die Schimäre erzeugt, dass eine gesellschaftliche Heilung des antagonistischen Konflikts zwischen Israelis und Palästinenser/-innen immer schon möglich gewesen wäre, wenn Menschenrechte für Palästinenser/-innen garantiert gewesen wären. Besonders zeigt sich die Stellung universaler Menschenrechte als sozialontologisch unmöglich zu erreichendes Objet petit a des Hegemonieprojekts in einem Statement von Omar Barghouti, the global movement for boycott, divestment, and sanctions (BDS) against Israel presents not only a progressive […] form of civil nonviolent resistance but also a real chance of becoming the political catalyst and moral anchor for a strengthened, reinvigorated international social movement capable of reaffirming the rights of all humans to freedom, equality, and dignity and the right of nations to self-determination. (2011, 193) Werden Menschenrechte als objektives, universales Heilsversprechen ideologisch überformt, wird der Mangel an Rechten als Mangel an Jouissance zwangsläufig
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Menschenrechte und Antisemitismus
auf einen antagonistischen Feind der Rechte projiziert, der die Durchsetzung der Utopie verhindert. Diese Ausformung der menschenrechtsorientierten Fantasie des Hegemonieprojekts zeigt sich anhand unterschiedlicher Formulierungen. Am signifikantesten erscheint das phantasmatische Spannungsverhältnis von menschenrechtsorientierter Utopie und antisemitischer Dystopie in folgender Aussage: 1948 saw the creation of civilization’s greatest document to date – possibly the founding document of the truly modern era – the Universal Declaration of Human Rights. The year also witnessed the founding of a state based on the antithesis of those values: Israel. (Ford 2009) Menschenrechtsfantasien erlauben aufgrund ihrer komplexitätsreduzierenden, die politischen Antagonismen verschleiernden Funktionsweise eine strikte Binarität zu konstruieren, die zwischen Verfechtern von Menschenrechten einerseits und jenen politisch-gesellschaftlichen Kräften, die Menschenrechte verweigern, andererseits differenziert. Der abstrakte Normenhorizont der Menschenrechte und ihre dichotome Unterscheidung zwischen »Rechten« und »Mangel an Rechten« ermöglicht demzufolge eine scheinbar eindeutige und normative Unterscheidung zwischen »gut« und »böse« respektive »Täter« und »Opfer«. Diese dichotome Unterscheidungslogik zeigt sich dabei insbesondere anschlussfähig für die FreundFeind-Konstellationen antisemitischer Fantasien. Dieser Zusammenhang wird etwa an Diskursartikulationen sichtbar, in denen die für antisemitische Israeldiskurse paradigmatische Binarität zwischen omnipotenten israelischen Tätern und machtlosen palästinensischen Opfern reproduziert und damit eine moralisch unzweifelhaft scheinende Positionierung für das Menschenrechtsprojekt der Palästinasolidarität legitimiert wird: More crucially, the BDS movement has dragged Israel and its well- financed, bullying lobby groups into a confrontation on a battlefield where the moral superiority of the Palestinian quest for self-determination, justice, freedom, and equality neutralizes and outweighs Israel’s military power and financial prowess. It is the classic right-over-might paradigm […]. (Barghouti 2011, 62) Dabei verspricht die emanzipatorische Konfrontation mit dem »jüdischen« Mangel am imaginären Allgemeinwohl die universale Hoffnung auf die unmögliche »Füllung« der abwesenden Ganzheit von Gesellschaft. Diese eschatologische Heilserwartung einer mythologischen »Fullness to come«, die mit der Überwindung des jüdischen Feinds der Menschenrechte einhergeht, wird besonders sichtbar, wenn der Kampf gegen Israel als direkte Voraussetzung für den »gerechten Frieden« im Nahen Osten artikuliert wird. »It is high time for BDS against Israel. This is the clearest path to freedom, justice and equality for the Palestinian and the entire region.« (PACBI 2008c)
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
So zeigt sich insgesamt, welche affektive Anziehungskraft die Fantasie universaler Menschenrechte aufgrund ihrer komplexitätsreduzierenden Funktionsweise für die Plausibilisierung des gegenhegemonialen Deutungsangebots der TPSB einnimmt. Davon ausgehend, möchte ich nun speziell Artikulationsketten auf der empirischen Oberfläche des Solidaritätsdiskurses rekonstruieren, die auf der Grundlage eines affektgeleiteten Gefühls moralischer Notwendigkeit für den transnationalen Boykott Israels mobilisieren. Diese Funktionsweise wird dabei über die Analyse der Subjektivierungsmechanismen im Diskurs deutlich.
5.5.3.4
»Justice for the people of Palestine has become the greatest moral issue of our time« – die Mobilisierungsfunktion des palästinensischen Anliegens
Um die Frage beantworten zu können, warum Menschenrechte als kollektives Identifikationsangebot eine attraktive Ressource der Solidarisierung darstellen, möchte ich zunächst auf den theoretischen Ausgangspunkt der These Hans Joas’, der den Aufstieg der Menschenrechte als einen Prozess der Sakralisierung der Person versteht, zurückkommen. Der Sakralisierungsbezug der Menschenrechte drückt sich für Joas exemplarisch in dem Schutzgebot der individuellen Menschenwürde aus, die das Individuum kraft der Kategorie des »Mensch-Seins« als »heiliges Objekt« und Träger/-in von unteilbaren Rechten konstituiert. In dem Diskurs der TPSB beruht der leidenschaftliche Einsatz für die Rechte der Palästinenser/-innen auf dem unbedingten Glauben daran, durch den Boykott Israels die Einhaltung der palästinensischen Menschenrechte zu erzwingen und damit den Kernbereich der Menschheit als allgemeiner Bedingung von Humanität zu schützen. In diesem Sinne verallgemeinern Aktivist/-innen der BDS-Bewegung die partikularen Ziele des Hegemonieprojekts, wenn sie feststellen: »It gives further recognition to BDS as an inclusive, inspiring, anti-racist movement rooted in the Universal Declaration of Human Rights that upholds the basic principle that Palestinians are entitled to the same rights as the rest of humanity.« (BDS 2017b) Als Wertbindung bilden Menschenrechte den Erfahrungshorizont einer Vielzahl von Menschen ab, womit ihnen eine subjektive Evidenz zukommt. Damit wirken Menschenrechte als intersubjektive Identifikationsangebote, deren Missachtung auf der affektvermittelten Ebene moralische Gefühle des Mitgefühls, des Mitleids und der Empathie hervorrufen kann. Wie die soziale Fantasie der Menschenrechte in dem Diskurs der TPSB dabei Solidaritätsgefühle, die eine emotional begründete Identifikation mit den Zielen des Hegemonieprojekts ermöglichen, strukturiert, zeigt sich etwa in folgenden Artikulationen, in denen an das moralische Bewusstsein einer internationalen Zivilgesellschaft appelliert wird: The indisputable Palestinian claim to equal humanity should be the primary slogan raised, because it lays the proper moral and political foundation for effec-
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Menschenrechte und Antisemitismus
tively addressing the myriad injustices against all […] of the Palestinian people. It is also based on universalist values that resonate with people the world over. (Barghouti 2011, 60) Über das »Mensch-Sein« als heiliges Objekt der Rechte wird demzufolge ein affektvermitteltes Identifikationspotenzial für solidarischen Protest angeboten, der den Glauben leitet, durch den Einsatz für die Rechte Dritter, Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu bewahren, zu schützen und zu verteidigen. Diese affektiv vermittelte Identifikationsweise des Palästinaprotests wird etwa deutlich, wenn der solidarische Israelboykott die Menschheit als »closer to realizing a just and durable peace anchored in the fundamental and universal right to equality« (Barghouti 2011, 96) artikuliert oder der Kampf gegen Israel als Bedingung der Herstellung von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen diskursiviert wird: And finally, Palestine in its confrontation with Israel represents the global progressive movement’s confrontation with imperialism and colonialism far beyond the Middle East. As Palestinians stand up to Israeli crimes, peace, freedom, and justice are strengthened for all. (Stop the Wall 2011) So begründet die phantasmatische Anrufung von Frieden, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit die affektive Anziehungskraft des palästinensischen Protestanliegens auf der Ebene der subjektiven Evidenz. Über die Integration des Protestanliegens in den allgemeinen Kontext von subjektiv wahrgenommener Unterdrückung und Marginalisierung als gemeinsam geteilten Erfahrungs- und Bedeutungshorizont der Menschenrechte kann der partikulare Kontext des palästinensischen Selbstbestimmungsdiskurses überwunden und als verallgemeinerbares Unrecht intersubjektiv plausibilisierbar gemacht werden. Solidaritätsgefühle sind demzufolge ein Produkt dieser affektvermittelnden phantasmatischen Logik des Hegemonieprojekts der TPSB, weil sie es heterogenen Akteur/-innen aus heterogenen Räumen erlauben, sich mit dem partikularen Ziel palästinensischer Selbstbestimmung zu identifizieren und damit gleichermaßen die Subjektposition eines Menschenrechtskämpfers für »Freiheit«, »Gerechtigkeit«, »Gleichheit« und »Frieden« anzunehmen. So werden die transnationalen Solidaritätsaktivist/-innen durch das Begehren nach dem Objekt universaler Menschenrechte mit Identifikationsangeboten versehen, die sie als moralische Akteur/-innen idealisieren, weil sie dem »weltweiten Einsatz für Gerechtigkeit und Würde aller Menschen« (BDS2008, 2) verbunden seien und den »Werten von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung sowie der weltweiten Bekämpfung von Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz verpflichtet« (ebd.: 3) sind. Die Leidenschaft und der Enthusiasmus, die den Kampf für palästinensische Rechte auf der Ebene kollektiver Identifikation durch transnationale Akteur/-innen legitimieren, wird etwa im Anschluss an eine Sen-
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
tenz Nelson Mandelas besonders deutlich, die den moralischen Stellenwert des Imaginativs der »Gerechtigkeit für Palästina« formuliert: »In the words of Nelson Mandela, justice for the people of Palestine has become ›the greatest moral issue of our time‹.« (BDS 2010a) Demzufolge appelliert der BDS-Call auch an das moralische Bewusstsein einer internationalen Zivilgesellschaft, um sich dem solidarischen Kampf gegen Israel anzuschließen: We, representatives of Palestinian civil society, call upon international civil society organizations and people of conscience all over the world to impose broad boycotts and implement divestment initiatives against Israel similar to those applied to South Africa in the apartheid era. We appeal to you to pressure your respective states to impose embargoes and sanctions against Israel. We also invite conscientious Israelis to support this Call, for the sake of justice and genuine peace. (BDS 2005) Indem das partikulare Protestanliegen der Palästinenser/-innen also in die Sprache universaler Menschenrechte übersetzt wird, gelingt demzufolge eine Anrufung von Akteur/-innen der internationalen Zivilgesellschaft, gerade weil der Kampf um palästinensische Rechte als Symbol für den Kampf um Menschlichkeit sui generis artikuliert werden kann und daher Solidarität durch die Aneignung des Subjektangebots des »Verbündeten« erforderlich macht, wie folgendes Statement zeigt: Yet our faith in our common humanity leads us to call on all parties to respect and uphold international law and fundamental human rights to bring an end to the Israeli military occupation of Palestinian territories since 1967 and pursue a just and lasting peace. (BDS 2009c) Insgesamt zeigt sich, wie die glückseligmachende Dimension der Fantasie des Hegemonieprojekts das affektive Investment der begehrenden Subjekte durch das Gesellschaftsideal von Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit universaler Menschenrechte strukturiert. So werden Subjekte zu »Komplizen« des Hegemonieprojekts, weil die Attraktivität des kollektiven Identifikationsangebots darin begründet liegt, auf der vorgestellten Ebene einer gemeinschaftlichen Moral zu handeln, um das System der Menschenrechte wiederherzustellen.
5.6
Zusammenfassung: universale Menschenrechte als glückseligmachende Dimension der Fantasie
Als Ergebnis der analytischen Auswertung kann festgehalten werden, dass die Logik der Fantasie universaler Menschenrechte eine diskursstabilisierende Funktion für das gegenhegemoniale Deutungsangebot der TPSB übernimmt. Als Elemente
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5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
tenz Nelson Mandelas besonders deutlich, die den moralischen Stellenwert des Imaginativs der »Gerechtigkeit für Palästina« formuliert: »In the words of Nelson Mandela, justice for the people of Palestine has become ›the greatest moral issue of our time‹.« (BDS 2010a) Demzufolge appelliert der BDS-Call auch an das moralische Bewusstsein einer internationalen Zivilgesellschaft, um sich dem solidarischen Kampf gegen Israel anzuschließen: We, representatives of Palestinian civil society, call upon international civil society organizations and people of conscience all over the world to impose broad boycotts and implement divestment initiatives against Israel similar to those applied to South Africa in the apartheid era. We appeal to you to pressure your respective states to impose embargoes and sanctions against Israel. We also invite conscientious Israelis to support this Call, for the sake of justice and genuine peace. (BDS 2005) Indem das partikulare Protestanliegen der Palästinenser/-innen also in die Sprache universaler Menschenrechte übersetzt wird, gelingt demzufolge eine Anrufung von Akteur/-innen der internationalen Zivilgesellschaft, gerade weil der Kampf um palästinensische Rechte als Symbol für den Kampf um Menschlichkeit sui generis artikuliert werden kann und daher Solidarität durch die Aneignung des Subjektangebots des »Verbündeten« erforderlich macht, wie folgendes Statement zeigt: Yet our faith in our common humanity leads us to call on all parties to respect and uphold international law and fundamental human rights to bring an end to the Israeli military occupation of Palestinian territories since 1967 and pursue a just and lasting peace. (BDS 2009c) Insgesamt zeigt sich, wie die glückseligmachende Dimension der Fantasie des Hegemonieprojekts das affektive Investment der begehrenden Subjekte durch das Gesellschaftsideal von Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit universaler Menschenrechte strukturiert. So werden Subjekte zu »Komplizen« des Hegemonieprojekts, weil die Attraktivität des kollektiven Identifikationsangebots darin begründet liegt, auf der vorgestellten Ebene einer gemeinschaftlichen Moral zu handeln, um das System der Menschenrechte wiederherzustellen.
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Zusammenfassung: universale Menschenrechte als glückseligmachende Dimension der Fantasie
Als Ergebnis der analytischen Auswertung kann festgehalten werden, dass die Logik der Fantasie universaler Menschenrechte eine diskursstabilisierende Funktion für das gegenhegemoniale Deutungsangebot der TPSB übernimmt. Als Elemente
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der glückseligmachenden Dimension der Fantasie konturieren »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« dabei den zukünftigen, von sozialen Antagonismen befreiten gesellschaftlichen Idealzustand eines »wahren und gerechten Friedens« im Nahen Osten, der durch die Verwirklichung universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen hergestellt wird. Durch die ideologische Funktionsweise von Menschenrechtsfantasien wird ein entkontextualisiertes Heilsversprechen nach Jouissance artikulierbar, das subjektiv attraktiv und anschlussfähig erscheint. So verschleiert die Menschenrechtsfantasie bestehende politische Konfliktlinien, soziale Frustrationserfahrungen und historische Kontingenzen, indem sie die Lösung des israelisch-palästinensischen Antagonismus einzig auf die Frage nach der (Wieder-)Herstellung palästinensischer Menschenrechte reduziert. Diese ideologische Plausibilisierung des Rechtediskurses durch den demokratischen Horizont universaler Menschenrechte legitimiert demzufolge die gegenhegemoniale Umdeutung der sozialen Logik des Nahostkonflikts als »Territorialkonflikt« sowie seines Konfliktlösungsmechanismus der »Zweistaatenlösung« und delegitimiert jüdische Rechte, Ansprüche und Perspektiven durch die diskursive Repräsentation Israels als Antagonisten des Systems unteilbarer Menschenrechte. Folgende Darstellung illustriert, wie die glückseligmachende Dimension der Fantasie universaler Menschenrechte in dem Diskurs repräsentiert wird: Tab. 5: Die glückseligmachende Dimension der Fantasie des BDS-Diskurses Die glückseligmachende Dimension der Fantasie »universaler Menschenrechte« plausibilisiert die kollektive Identifikation mit den Zielen des Hegemonieprojekts, weil sie eine ideologische Antwort auf die Frage liefert, welcher imaginäre Zustand von Harmonie und Vollkommenheit mit der Überwindung des »jüdischen« Antagonisten einhergehen wird. Elemente der Fantasie
Diskursive Repräsentation
»der gerechte Friede durch Menschenrechte für Palästinenser/-innen
wahrer, andauernder, umfassender, bedeutungsvoller und gerechter Frieden für Palästinenser/innen, die gesamte Region im Mittleren Osten und die ganze Welt, friedliche Koexistenz der Völker
»Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit für Palästina«
echte, bedingungslose Freiheit, Freiheit von Fremdbestimmung, nationale Selbstbestimmung, Gerechtigkeit für Palästinenser/-innen, Gerechtigkeit in Palästina, Gerechtigkeit für das palästinensische ›Volk‹, gleiche Rechte, Aufhebung von Ungleichheit, Schutz der fundamentalen Rechte, Schutz der Menschenwürde, Ende von Rassismus und rassistischer Diskriminierung, Anerkennung der Grundrechte aller arabischpalästinensischen Bürger Israels
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
5.7
Schlussbetrachtung: die phantasmatische Logik des BDS-Diskurses
Der Abschnitt hat rekonstruiert, welche ideologische Funktionsweise Menschenrechte und Antisemitismen für die Transnationalisierung des palästinensischen Protestanliegens einnehmen, womit die dritte Forschungsfrage dieser Arbeit abschließend beantwortet werden kann. Als Ergebnis lässt sich folgender Zusammenhang festhalten: In der gegenhegemonialen Diskursstrategie der Palästinasolidarität zeigt sich das antipodale Ineinandergreifen von glückseligmachender und grauenvoller Fantasie als narrativer Rahmen, der das utopische Versprechen nach gesellschaftlicher Harmonie und Vollkommenheit durch die Gewährleistung universaler Menschenrechte für Palästina von der Überwindung des durch den Staat Israel repräsentierten »jüdischen« Diebs der Jouissance abhängig macht. Demzufolge lassen sich die Mechanismen der Solidarisierung mit den Selbstbestimmungszielen der Palästinabewegung auf der ideologischen Ebene durch die emotive Anziehungskraft libidinös besetzter Menschenrechte als objet petit a sowie der manichäischen Bedrohungsinszenierung des israelischen Staats als omnipotentem Gegner der Verwirklichung des begehrten objet petit a der Menschenrechte erklären. Die Leidenschaft und der enthusiastische Einsatz für das Protestanliegen werden folglich über das Zusammenspiel der Fantasien hergestellt. Das unmögliche Versprechen des Imaginativs universaler Menschenrechte produziert auf der einen Seite des Diskurses die Fantasie, dass gesellschaftliche Heilung immer schon möglich gewesen wäre, wenn nur die Menschenrechte für Palästinenser/-innen angeeignet, wenn nur das universal-objektive System der Menschenrechte wiederhergestellt würde. Als coincidentia oppositorum liefert der antisemitische Glaube an die Obszönität eines bösartigen »jüdischen Plots« auf der anderen Seite des Diskurses eine Antwort auf die Frage, warum die sakralen Bedingungen des Menschseins für Palästinenser/-innen bislang noch keine Geltung besitzen, warum das gesellschaftliche Heilsversprechen noch immer nicht erreicht ist: Es ist das Zusammenspiel der Fantasien und ihrer eschatologischen FreundFeind-Logik, das Israel zu dem exzeptionalisierten Feindbild der Menschenrechte und -würde, den Werten menschlicher Humanität mithin also dem »Mensch-Sein« als solchem, avancieren lässt und damit den jüdischen Staat als unüberwindbaren Gegensatz einer »gerechten«, auf Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden, auf der Herrschaft des Rechts und der Menschenrechte basierenden Ordnung konstruiert. Dass nicht einzelne innen- oder außenpolitische Maßnahmen Israels einer Menschenrechtskritik unterzogen werden, sondern das »jüdische« Wesen des Staats in maßlos übersteigerter Form als unüberwindbarer Gegensatz von Freiheit, Gleichheit und Frieden imaginiert wird, ist dabei Ergebnis der ideologischen
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Menschenrechte und Antisemitismus
Effekte sozialer Fantasien und ihrer nicht sagbaren Codes. Denn als ideologisches Instrument übernehmen soziale Fantasien eine kontingenzverschleiernde Funktion, indem sie die Illusion einer fraglosen, selbstverständlichen und natürlich wirkenden Normalität des artikulierten Bedeutungshorizonts von Diskursen vermitteln und plausibilisieren. Werden palästinensische Menschenrechte demzufolge als objet petit a des Hegemonieprojekts eingesetzt, werden Ursache und Lösung des Nahostkonflikts auf die alles entscheidende Frage nach Verletzung und Gewährleistung von Menschenrechten für Palästinenser/-innen reduziert, die erst den Frieden, die Freiheit, die Gerechtigkeit und die Gleichheit im Nahen Osten realisieren können. Damit wird vice versa eine vermeintlich eindeutige und unzweifelhaft scheinende Identifikation mit den Zielen des Hegemonieprojekts erforderlich: Wer für Menschenrechte als basaler Bedingung von Humanität kämpft, setzt sich für die palästinensischen Opfer »jüdischer« Menschenrechtsverletzungen ein. Diese konstruierte Freund-Feind-Logik entwirft damit ein phantasmatisches Szenario, in dem der politische Antagonismus zwischen Israelis und Palästinenser/-innen nicht mehr auf die konkurrierenden, aber gleichermaßen legitimen territorialen Ansprüche beider Nationalismen auf das umkämpfte Territorium »Israel/Palästina« zurückgeführt wird. Durch den imaginären Vorstellungsrahmen der phantasmatischen Logik und ihre strukturierenden Bilder totaler Machtlosigkeit viktimisierter Palästinenser/innen sowie omnipotenter jüdischer Täter/-innen werden politische, historische und soziale Kontexte, wie sie die sozial sedimentierte Ordnung des Nahostkonflikts kennzeichnen, ausgeschlossen, israelische Perspektiven, Forderungen und Ansprüche ausgeblendet, um darauf aufbauend die politische Logik des Rechtediskurses stabilisieren zu können. Diskursive Kontingenzen und relevante Kontextfaktoren, wie etwa der anhaltende Terror gegen Israel oder die daraus resultierende fragile Sicherheitslage für Israelis, d.h. die Existenzsicherung des jüdischen Staates, werden daher durch das Zusammenspiel der Fantasien verschleiert und Israel als zu überwindende Blockade eines »wahren« und »gerechten« Friedens identifiziert. Artikuliert die antisemitische Fantasie ein Bedrohungsszenario, in dem der jüdische Staat als kollektive Blockade der Fantasie universaler Menschenrechte erscheint, folgt daraus ex negativo, dass das universale Recht, Rechte zu besitzen, für den jüdischen Staat und seine Bürger/-innen nicht existiert. So ist ein »wahrer«, »gerechter« Frieden im Nahen Osten in dem Hegemonieprojekt der TPSB auch immer nur gegen, niemals mit Israel denkbar. Es sind diese diskursstabilisierenden Funktionsweisen sozialer Fantasien, mit deren Hilfe es gelingt, den hegemonialen Ansatz einer »friedlichen Zweistaatenlösung« durch die Forderung nach »unteilbaren Menschenrechten« für Palästinenser/-innen als Lösung des Konflikts zu ersetzen. Als ideologisches Instrument wirken antisemitische Fantasien im Selbstbestimmungsdiskurs der Palästinasolidarität dabei auch als Politi-
5 Ergebnisse der empirischen Fallstudie
ken der Angst. Phantasmatische Mechanismen antisemitischer Bedrohungs- und Unterwerfungsszenarien zeichnen ein überwältigendes Phantasma des nationalen Kollektivs der Juden, das ein kohärentes Deutungsangebot dafür liefert, Palästinenser/-innen ausschließlich als existenziell bedrohte Opfer einer internationalen (jüdischen) Verschwörung zu begreifen. Wird dem Handeln des jüdischen Staats beispielsweise ein dezidierter Vernichtungswille unterstellt, dann bestärkt Angst um das Schicksal der Palästinenser/-innen als affektgeleitete Emotion die Identifikation mit den Zielen der Solidaritätsbewegung. Zugleich mobilisiert die phantasmatische Logik politische Protestakteur/-innen für eine moralisch zwingende Positionierung in einem existenziellen Kampf um »gut« oder »böse«. So kann zuletzt konstatiert werden, dass die affektvermittelte Eschatologie der Auslöschungsfantasien antisemitischer Paranoia den leidenschaftlich geführten Protest gegen Israel und seine Verbrechen sowie für das menschliche »Recht der Rechte« und dessen Einhaltung im Fall der Palästinenser/-innen zu einer Frage von »Leben« oder »Tod« macht. Nachdem ich nun die empirischen Forschungsfragen über das Zusammenspiel von sozialer, politischer und phantasmatischer Logik beantwortet habe, wird das übergeordnete theoretische und empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, das die paradoxe Situation menschenrechtsorientierter Antisemitismen aufzulösen versucht, anhand der Zusammenführung der Ergebnisse diskutiert. Diese Zusammenführung erfolgt in problemorientierten Forschungspraktiken, in denen das retroduktive Zusammenspiel von Problemstruktur, Theorie und Empirie steht, durch eine Protoerklärung des empirisch und theoretisch nicht integrierbaren Forschungsgegenstands. Diese Protoerklärung vollzieht gleichzeitig den von Reckwitz geforderten Übergang zwischen Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie.
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6 Protoerklärung Zur Einheit der Paradoxie […] no peoplecan be allowed to superimpose themselves, their history, their supra-national rights on another people and their land, thus negating the Other’s humanity – the essential facts of Zionism […]. (Ford 2009) Wer Menschheit sagt, will betrügen. Die Führung des Namens »Menschheit«, die Berufung auf die Menschheit, die Beschlagnahme dieses Wortes, alles das könnte, weil man nun einmal solche erhabenen Namen nicht ohne gewisse Konsequenzen führen kann, nur den schrecklichen Anspruch manifestieren, daß dem Feind die Qualität des Menschen abgesprochen […] werden soll. (Schmitt 1963, 55) The dream of the far left has long been to dissolve the hated »Zionist entity« and, in the name of human rights, make the world Judenstaatrein. (Wistrich 2005)
So widersprüchlich die Bezugnahme auf den Kronjuristen der Nationalsozialisten Carl Schmitt für eine kritische Forschungsarbeit zum Thema Antisemitismus zunächst erscheint, so sinnhaft löst sie die widersprüchlich erscheinende Ambivalenz einer antisemitischen Aneignung des universalen Menschenrechtsdiskurses durch die global diffundierende Palästinasolidaritätsbewegung auf: Sich auf den norma-
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Menschenrechte und Antisemitismus
tiven Status der universalen Prinzipien des Menschenrechtskorpus, auf den Namen »Menschheit«, zu beziehen und gerade ihr Gegenteil, die Aberkennung der Rechte für den »Anderen«, das Absprechen menschlicher Qualitäten des artikulierten Feinds und seines Rechts, Rechte zu haben, zu lancieren, bildet keine unauflösbare Paradoxie; in spezifischen Kontexten der kulturellen Aushandlung von Rechten können Forderungen nach universalen Menschenrechten, nach ihren utopischen Moralprinzipien, wie der Würde des Menschen, der Gleichheit, des Friedens und der Gerechtigkeit, gerade zu einer sinnstiftenden Einheit führen, wenn sie sich über den Ausschluss des als »anders« markierten Fremden und seiner Rechte in paradoxer Form konstituieren. Am empirischen Beispiel des Diskurses der transnationalen Boykott-Desinvestitionen-und-Sanktionen-Kampagne gegen Israel wurde paradigmatisch dargestellt, wie sich die Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen nur über die Differenz zu israelischen Perspektiven, Forderungen und Rechten herstellen kann, die über die Reproduktion antiisraelischer Antisemitismen legitimiert werden. Die anfangs dargestellte These, dass sich in der vermeintlich progressiven Deutung des Nahostkonflikts als Konflikt um die Geltungswirksamkeit universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen Kommunikationen eines auf Israel bezogenen Antisemitismus verbergen können, d.i. die ambivalente Gleichzeitigkeit von menschenrechtsorientierten Antisemitismen, bestätigte sich demzufolge im Laufe der Analyse des empirischen Datenmaterials. In der folgenden Schlussbetrachtung wird die anfangs eingeleitete Irritation, die Frage, ob menschenrechtsorientierte Antisemitismen zu einer simplifizierenden, einseitigen Deutung des Nahostkonflikts führen, die den solidarischen Akt gegen israelische Rechte, Narrationen und Identitätskonstruktionen im Namen der Menschenrechte legitimieren, nun abschließend beantwortet. Davon ausgehend, steht der Mehrwert einer poststrukturalistischen Sozial- und Gesellschaftstheorie für die soziale Bewegungs-, Menschenrechts- und Antisemitismusforschung im Vordergrund. Zuletzt möchte ich die praktischen Konsequenzen dieser Arbeit für den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der BDS-Kampagne diskutieren.
6.1
Empirische und theoretische Ergebnisse: Hegemonie, soziale Fantasie und die Einheit der Paradoxie
In der Einleitung wurde die Zusammenführung der »paradoxen Situation« einer kontradiktorischen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen einerseits im empirischen Feld des transnationalen Palästinasolidaritätsaktivismus, andererseits in den bislang getrennt voneinander diskutierten Forschungsfeldern der Menschenrechts-, Antisemitismus- und sozialen Bewegungsforschung als übergeordnetes Ziel dieser Arbeit definiert, um verdeutlichen zu können, dass
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tiven Status der universalen Prinzipien des Menschenrechtskorpus, auf den Namen »Menschheit«, zu beziehen und gerade ihr Gegenteil, die Aberkennung der Rechte für den »Anderen«, das Absprechen menschlicher Qualitäten des artikulierten Feinds und seines Rechts, Rechte zu haben, zu lancieren, bildet keine unauflösbare Paradoxie; in spezifischen Kontexten der kulturellen Aushandlung von Rechten können Forderungen nach universalen Menschenrechten, nach ihren utopischen Moralprinzipien, wie der Würde des Menschen, der Gleichheit, des Friedens und der Gerechtigkeit, gerade zu einer sinnstiftenden Einheit führen, wenn sie sich über den Ausschluss des als »anders« markierten Fremden und seiner Rechte in paradoxer Form konstituieren. Am empirischen Beispiel des Diskurses der transnationalen Boykott-Desinvestitionen-und-Sanktionen-Kampagne gegen Israel wurde paradigmatisch dargestellt, wie sich die Forderungen nach Rechten für Palästinenser/-innen nur über die Differenz zu israelischen Perspektiven, Forderungen und Rechten herstellen kann, die über die Reproduktion antiisraelischer Antisemitismen legitimiert werden. Die anfangs dargestellte These, dass sich in der vermeintlich progressiven Deutung des Nahostkonflikts als Konflikt um die Geltungswirksamkeit universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen Kommunikationen eines auf Israel bezogenen Antisemitismus verbergen können, d.i. die ambivalente Gleichzeitigkeit von menschenrechtsorientierten Antisemitismen, bestätigte sich demzufolge im Laufe der Analyse des empirischen Datenmaterials. In der folgenden Schlussbetrachtung wird die anfangs eingeleitete Irritation, die Frage, ob menschenrechtsorientierte Antisemitismen zu einer simplifizierenden, einseitigen Deutung des Nahostkonflikts führen, die den solidarischen Akt gegen israelische Rechte, Narrationen und Identitätskonstruktionen im Namen der Menschenrechte legitimieren, nun abschließend beantwortet. Davon ausgehend, steht der Mehrwert einer poststrukturalistischen Sozial- und Gesellschaftstheorie für die soziale Bewegungs-, Menschenrechts- und Antisemitismusforschung im Vordergrund. Zuletzt möchte ich die praktischen Konsequenzen dieser Arbeit für den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der BDS-Kampagne diskutieren.
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Empirische und theoretische Ergebnisse: Hegemonie, soziale Fantasie und die Einheit der Paradoxie
In der Einleitung wurde die Zusammenführung der »paradoxen Situation« einer kontradiktorischen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen einerseits im empirischen Feld des transnationalen Palästinasolidaritätsaktivismus, andererseits in den bislang getrennt voneinander diskutierten Forschungsfeldern der Menschenrechts-, Antisemitismus- und sozialen Bewegungsforschung als übergeordnetes Ziel dieser Arbeit definiert, um verdeutlichen zu können, dass
6 Protoerklärung
Brüche, Ambivalenzen und Widersprüche keine Anomalien, sondern Eigenschaften menschenrechtsorientierter Praktiken darstellen können. Dieses übergeordnete Ziel wurde in drei Forschungsfragen übersetzt: Was kennzeichnet die sozialen Praktiken und Regime im kulturellen Kontext des Nahostkonflikts, die von der BDS-Bewegung angegriffen werden? Wie können sich die partikularen Forderungen nach Rechten der Palästinenser/-innen hegemonialisieren und welche Stellung nehmen antisemitische Differenzkonstruktionen dabei ein? Welche affektiv-ideologische Anziehungskraft üben Antisemitismen und Menschenrechtsnarrative für die Transnationalisierung des palästinensischen Protestanliegens aus? Müssten diese Fragestellungen in einem Satz beantwortet werden, könnte man argumentieren, dass es eine relationale Perspektive auf die dynamische Verflechtung von gesellschaftlichen Strukturen, Machtverhältnissen und subjektiven Identitätskonstruktionen ist, die das »Was«, »Wie« und »Warum« der paradoxen Gleichzeitigkeit menschenrechtsorientierter Antisemitismen und ihrer transnationalen Anschlussfähigkeit im kontingenten Kontext des IsraelPalästina-Konflikts empirisch und theoretisch erklären kann, und dies aus dreierlei Gründen: Erstens wurde entsprechend der in Kapitel 3 diskutierten postfundationalistischen Sozialontologie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes gezeigt, dass soziale Ordnungen nicht auf einem letzten Grund, auf einer Art gesellschaftlichem Fundament, sondern gerade auf ihrem Gegenteil, der grundsätzlichen Abwesenheit eines Fundaments von Gesellschaft, gründen. Aus der Akzeptanz einer radikalen Kontingenzperspektive auf das Soziale folgte ein Verständnis von sozialen Bewegungen, das den politischen Kampf um die hegemoniale Deutung der Wirklichkeit, die konkrete Infragestellung oder Aufrechterhaltung eines hegemonialen Status quo, ins Zentrum der Analyse rückte. Das Handeln sozialer Bewegungen, so wurde argumentiert, kann demzufolge nur in seiner Verschränkung mit Gesellschaft und ihrer Orientierung auf Gesellschaft, d.h. aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus, nachvollzogen werden. In Kapitel 4 wurde demzufolge die soziale Ordnung des Nahostkonflikts entsprechend dem theoretisch-methodologischen Gerüst der »Logiken kritischer Erklärung« als Analyse sozialer Logiken operationalisiert und anschließend als verstetigtes Wissen über Entstehungskontexte, Ereignisse und Akteur/-innen innerhalb der etablierten gesellschaftlichen Ordnung des israelisch-palästinensischen Antagonismus genealogisch rekonstruiert (Abschnitt 5.1). Im Zentrum der sozialen Logik des umkämpften Konfliktfelds »Israel–Palästina« konnte dabei ein hegemonialer Konsens über Konfliktursache – dem territorialen Antagonismus zweier konkurrierender nationaler Bewegungen und ihrem Recht auf Existenz, Sicherheit und Selbstbestimmung – sowie Konfliktlösung – der Idee eines Friedens durch die Zweistaatenlösung – herausgearbeitet werden, die sich in verschiedenen sozialen Praktiken des Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinenser/-innen materialisiert hat. Als entschei-
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dendes Merkmal für das sozial sedimentierte Konfliktverständnis hat sich dabei herauskristallisiert, dass israelische Perspektiven, Bedürfnisse und Forderungen in der sozialen Ordnung des Konflikts als gleichermaßen legitim anerkannt werden. Es ist diese legitime Anerkennung israelischer Rechte, Ansprüche, Identitäten und Praktiken, die hinter dem positiv besetzten Postulat der Forderungen nach universalen Menschenrechten für Palästinenser/-innen im kontingenten Kontext des Nahostkonflikts verschwindet. Dieser Zusammenhang wurde durch die empirische Rekonstruktion der politischen Logik des palästinasolidarischen Hegemonieprojekts verdeutlicht, womit wir zum zweiten zentralen Mehrwert eines relationalen Blicks auf das dynamische Zusammenspiel von gesellschaftlichen Strukturen, Machtverhältnissen und subjektiven Identitätskonstruktionen für die Erklärung des empirischen Phänomens menschenrechtsorientierter Antisemitismen im Feld des transnationalen BDS-Aktivismus zu sprechen kommen: der Stellung von Macht als Schlüsselkonzept für das Verständnis sozialer Bewegungen. Um die hegemonie- und diskurstheoretischen Prämissen aus Kapitel 3 noch einmal zu rekapitulieren, zielen soziale Bewegungen auf die Politisierung sozialer Ordnungen mit dem Zweck, eine »neue« kulturelle Hegemonie zu etablieren. Hegemonien, so wurde im Laufe des Kapitels weiter gezeigt, sind in der Sozial- und Gesellschaftsontologie Laclaus und Mouffes dabei immer das kontingente, temporäre und prekäre Ergebnis der »Stillstellung« antagonistischer Positionen, Identitäten, Praktiken und Forderungen, d.h. Resultat von machtvollen Prozessen der In- und Exklusion alternativer Ordnungen. Aus einer solchen konfliktzentrierten Perspektive heraus öffnete sich das Theoriegebäude Laclaus und Mouffes für die Logik des antagonistischen Kampfes der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung, in deren Zentrum hierarchisierende Differenzbeziehungen zwischen israelischen und palästinensischen Rechten, ethnonationalen Identitätskonstruktionen und territorialen Ansprüchen auf das Gebiet Israel/Palästina im Kampf um kulturelle Hegemonie im Nahen Osten stehen. Ausgehend von der Laclau-/Mouffe’schen Gesellschafts- und Sozialtheorie, wurden in den Abschnitten 3.5 bis 3.8 die theoretischen Konzeptionen der soziologischen Menschenrechts- und Antisemitismusansätze poststrukturalistisch trianguliert, um die Schnittstelle zwischen legitimen Menschenrechtsforderungen und illegitimen Antisemitismen im politischen Kampf der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung (TPSB) empirisch peu à peu nachweisen zu können. Unter antisemitischen Antizionismen verstand die vorliegende Arbeit dabei im Anschluss an die sozialwissenschaftliche Antisemitismusforschung all jene Artikulationsweisen, die sich gegen das Recht auf Sicherheit und Existenz eines jüdischen Staats im Nahen Osten richten und diesen als »Symbol jüdischen Lebens« (Schwarz-Friesel/Reinharz 2013) diffamieren, d.h. über eine bloße Kritik an politischen Praktiken Israels hinausgehen. Konkret wurden in Abschnitt 3.7.5 antizionistisch-antisemitische Deutungsangebote der Dämonisie-
6 Protoerklärung
rung, Delegitimierung und komplexitätsreduzierenden Entkontextualisierung als Analysekategorien herausgearbeitet, die den machtvollen Ausschluss jüdischer Positionen, Ansprüche und Identitäten auf der Ebene der politischen Logik des gegenhegemonialen Rechtediskurses heuristisch fassbar machen konnten. Im Laufe der strategemanalytischen Auswertung des Datenmaterials in Abschnitt 5.3 wurde dann sichtbar, dass sich die Forderungen nach den unveräußerlichen Rechten für Palästinenser/-innen nur über die Exklusion israelischer Sicherheits- und Existenzrechte, vor allem dem Recht auf Selbstbestimmung als demokratischer und jüdischer Staat, d.h. über antiisraelische Antisemitismen hegemonialisieren können. Das diskursive Zusammenspiel von antiisraelischen Antisemitismen und solidarischen Menschenrechtsforderungen wurde durch die empirische Analyse der politischen Logik des Diskurses folgendermaßen zusammengefasst: Der rechtebasierte Ansatz der BDS-Bewegung, in dessen Zentrum die umfassende Forderung nach palästinensischer Selbstbestimmung – der leere Signifikant – steht, verspricht, die geografisch in Israel, in der Diaspora und in den besetzten Gebieten verteilte ethnonationale Gruppe der Palästinenser/-innen »wiederzuvereinigen« – damit gelingt es dem BDS-Call, wie in Kapitel 1 beschrieben, das gesamte sozial konstruierte palästinensische ›Volk‹ und ihre jeweils konstatierten Rechte zu repräsentieren. Die äquivalenzlogischen Forderungen nach Rechten für die einzelnen Segmente des palästinensischen »Volks« können jedoch nur über antisemitische Deutungen des israelischen Staats als völkerrechtswidriger Apartheid- und menschenrechtswidriger Kolonialstaat legitimiert werden, die infolgedessen jüdische Ansprüche, Identitäten und Interessen in das antagonistische »Außen« des Diskurses verschieben. Als diskursive Folge dieser gegenhegemonialen Umdeutung hat sich ergeben, dass der soziale Antagonismus im Nahen Osten in abstrakte Unrechtssymboliken wie »Apartheid«, »Rassismus« und »Kolonialismus« übersetzt und durch die abstrakte Konstruktion des »Zionismus« als Hauptsignifikant für den Feind homogenisiert wird. Darauf aufbauend, konnte mit Blick auf die antagonistische Bruchlinie des gegenhegemonialen Rechtediskurses, die zwischen dem »gerechten« palästinensischen Streben nach Selbstbestimmungsrechten und der »illegitimen« zionistisch-kolonialen Fremdbestimmung verläuft, zweierlei festgestellt werden. Erstens verkörpert die Feindbildkonstruktion »Zionismus« das antagonistische »Außen« des Diskurses, das die Realisierung palästinensischer Rechte blockiert. Zweitens wird die jüdischnationale Form der Selbstbestimmung als rassistisches System der kolonialen Landnahme signifiziert. Im Ergebnis wurde nachgewiesen, dass der Konflikt daher nicht als territorialer Konflikt zweier legitimer ethnonationaler Bewegungen und ihrer gleichermaßen berechtigen Ansprüche – d.i. die soziale Logik –, sondern als kolonialer Konflikt um die partikulare Gewährleistung unveräußerlicher Menschenrechte für die Gruppe der Palästinenser/-innen – d.i. die politische Logik – erscheint. Entscheidend war für diese antizionistische Konstruktions-
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form des politischen Antagonismus, dass ein wechselseitiges Zusammenspiel antisemitischer Bedeutungskomplexe und Sinnfixierungen der Dämonisierung, Delegitimierung und komplexitätsreduzierenden Entkontextualisierung rekonstruiert werden konnte. So ließ sich etwa nachzeichnen, dass erst dämonisierende Zuschreibungen eines jüdischen Kolonial- und Apartheidregimes, die Israel/den Zionismus sinnhaft als homogenisierten Inbegriff des »Bösen« moderner Gesellschaftsverhältnisse klassifizierbar machen, eine komplexitätsreduzierende Wahrnehmung des Konflikts ermöglichen, die von einem einseitig-binären TäterOpfer-Schema getragen wird. Gleichzeitig reproduziert etwa die dämonisierende Identifikation der Umsetzung jüdisch-nationaler Souveränitätsrechte – d.i. die soziale Logik der ethnischen Demokratie – durch die Feindbildrepräsentation »Apartheid« den Bedeutungskomplex der Delegitimierung. Denn es zeigte sich hierbei mehr noch, dass diese Gleichsetzung das Existenzrecht Israels als jüdischer Staat infrage stellt, wobei das »jüdische« in diesem Zusammenhang als partikulare Chiffre für allgemeines gesellschaftliches Unrecht erscheint. Der transnationale Solidaritätsaktivismus, der sich durch die antisemitisch artikulierte Präsens des jüdischen Staats als negativen »Anderen« von Menschenrechten konstituiert, impliziert also ex negativo die grundsätzliche Infragestellung des im Völkerrecht verankerten Anspruchs auf Existenz und Fortbestehen des jüdischen Staats sowie die Aberkennung des jüdischen Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Die Rechte, die die palästinensische »Zivilgesellschaft« durch den solidarischen Boykott, durch Desinvestitionen und Sanktionen des »jüdischen Pariahstaats« für Palästinenser/-innen einfordert, sind Rechte, die zugleich den Israelis verweigert werden. Dieser diskursive Effekt zwischen legitimen Menschenrechtsforderungen für Palästinenser/-innen einerseits und antiisraelischen Antisemitismen, durch die das universale »Recht, Rechte zu haben« (Arendt 2001, 614), für Jüdinnen und Juden a priori exkludiert wird, kennzeichnet den palästinasolidarischen Rechtediskurs, selbst dann, wenn jene Konsequenz von der BDS-Bewegung explizit offengelassen wird. Kurzum kann es keine Auflösung des Antagonismus um politische Rechte für Palästinenser/-innen geben, ohne das delegitimierte Feindbild Israel/Zionismus, d.h. jüdische Identitäten, Ansprüche und Bedürfnisse, zu überwinden. Weshalb der solidarische Akt gegen das Existenzrecht eines jüdischen Staats im Nahen Osten weltweit von zahlreichen Unterstützer/-innen eingefordert wird, konnte in Abschnitt 5.5 durch die Analyse sozialer Fantasien aufgezeigt werden, die den BDS-Aktivismus protegieren. Damit ist der dritte Vorteil einer relationalen Perspektive auf das dynamische Zusammenspiel von gesellschaftlichen Strukturen, Machtverhältnissen und subjektiven Identitätskonstruktionen expliziert: die affektive Anziehungskraft von sozialen Fantasien als individuelle wie kollektive Identifikationsangebote hegemonialer Projekte.
6 Protoerklärung
Soziale Fantasien wurden in Kapitel 3 im Anschluss an poststrukturalistisch inspirierte Ideologietheorien als imaginäre Begehrensdynamiken im Sinne einer »Affektlehre« konzeptualisiert, die als libidinöses, subjektives Streben nach einer immer schon verlorenen Jouissance betrachtet wurden. Die psychodynamische Funktionsweise sozialer Fantasien liegt darin begründet, dass sie den konstitutiven Mangel des Subjekts verschleiern, auf einen antagonistischen Gegner projizieren und von seiner Überwindung die »Heilung« der Welt abhängig machen. Von dieser Lacan’schen Grundlage ausgehend, konnten Fantasien in Abschnitt 3.4.3 daher als ideologischer Kitt zwischen Hegemonieprojekt und subjektiven Identifikationsprozessen konzeptualisiert werden, die in Kapitel 3.4 qua Theorietriangulation mit sozialwissenschaftlichen Zugängen der Menschenrechts- und Antisemitismusforschung ergänzt worden sind. Diese Integration um weitere theoretische Zugänge erschien deswegen obligatorisch, um das empirische Phänomen, demzufolge Menschenrechte und Antisemitismen zur Transnationalisierung des Bewegungsdiskurses der palästinensischen »Zivilgesellschaft« führen, nachvollziehen zu können. Darauf aufbauend, wurde der Glaube an die Universalität der Menschenrechte in Kapitel 3.6 begrifflich als Fantasie des demokratischen Horizonts gleicher Rechte sowie der Sakralität der Person konkretisiert. Im Zentrum dieser Analyseperspektive steht ein Verständnis von Menschenrechten als ideologische Fiktionen, die einerseits Kontingenzen sozialer Konfliktkonstellationen reduzieren und andererseits Subjekten als Identifikationsangebote einen affektiven Zugewinn durch den emphatischen Einsatz für die Rechte Anderer versprechen. Dagegen wurden Antisemitismen theoretisch als ideologische Fantasien des »konzeptuellen Juden« gefasst, in deren Mittelpunkt obszön überzeichnete – antisemitische – Vorstellungsweisen der sozialen Wirklichkeit stehen, welche auf diese Weise die emotive Intensität besonders negativer Gefühle gegenüber den »Juden« analytisch reflektierbar machen. Als solche phantasmatische Elemente eines für antisemitische Bedrohungs- und Unterwerfungsszenarien typischen Manichäismus zwischen dem absolut »Bösen« der Jüdinnen und Juden und dem viktimisierten Status ihrer Gegner wurden in Kapitel 3.7.2 paranoische Phantasmagorien der »jüdischen« Allmacht und Weltverschwörung, der konkreten Gemeinschaft und »jüdischen« Gesellschaft (3.7.3) sowie der »jüdischen« Amoralität und Grausamkeit (3.7.4) herausgearbeitet. Von zentraler Bedeutung erschien hierbei, dass antisemitische Fantasien als nicht sagbare Codes relational zu soziodiskursiven Signifikationsprozessen verlaufen und als diskursstabilisierende Vektoren den subjektiven Zugang zur Realität vermitteln. Für die diskursanalytische Identifikation nicht sagbarer, sprich phantasmatischer Elemente von Diskursen wurde in diesem Zusammenhang das in Kapitel 4 elaborierte, methodologische Werkzeug der Analyse narrativer Muster besonders relevant. Dabei wurden als interpretativ identifizierbare Elemente nicht diskursiver Phantasmagorien des Antisemitismus speziell solche Artikulationen ausgemacht, die von einem obszönen Wissen um
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das »wahre« Wesen der Juden geleitet sind und seine besondere »Bösartigkeit«, »Zügellosigkeit« oder »Unehrlichkeit« diskursiv materialisieren. Die empirische Rekonstruktion der phantasmatischen Logik des Diskurses hat dann in Abschnitt 5.5 gezeigt, wie Menschenrechtsfantasien und Antisemitismen auf der empirischen Ebene des Diskurses als coincidentia oppositorum des BDS-Aktivismus wirksam werden. So konnte zum einen in Abschnitt 5.5.3 gezeigt werden, wie Menschenrechte, in dem Diskurs durch die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit repräsentiert, als objet petit a affizierend wirken, indem sie das entkontextualisierte Heilsversprechen eines – unerreichbaren – gesellschaftlichen Idealzustands formulieren, der realisiert werden kann, wenn nur die palästinensischen Forderungen nach Rechten erfüllt werden. Zum anderen konnte die Analyse der antisemitischen Fantasien in Kapitel 5.5.1 sichtbar machen, dass der verschwörerische Glaube an einen bösartigen »jüdischen« Plot eine Antwort auf die Frage liefert, warum die Geltung einer kollektiven Moral universaler Menschenrechte im sozialen Kontext des Nahostkonflikts noch nicht erreicht wurde. Die Analyse der grauenvollen Dimension der Fantasie konnten schließlich antisemitische Bilder obszöner Überzeichnung und Exaggeration rekonstruieren, die dem Vorgehen des jüdischen Staats eine jenseits seines konkreten empirischen Handelns vorhandene Maßlosigkeit unterstellen. Als solche hyperbolischen Überzeichnungen ließen sich etwa in Abschnitt 5.5.1.1 der Verdacht einer schleichenden Zersetzung indigenen palästinensischen Lands durch Prozesse der »Judaisierung«, in Abschnitt 5.5.1.2 Vorstellungen einer grenzenlosen Allmacht Israels und seiner erbarmungslosen Ausübung exzessiver Gewalt gegenüber der ohnmächtigen Opfergruppe der Palästinenser/-innen, in Abschnitt 5.5.1.3 der Glaube an einen einzigartigen und völkerrechtlich schrankenlosen Machtrausch des jüdischen »Pariahstaats«, in Abschnitt 5.5.1.4 die entlarvende Imagination einer globalen jüdischen Verschwörung gegen die Palästinenser/-innen durch den klandestinen Einfluss einer »Israel-Lobby« hervorheben. Ein zentrales Resultat der empirischen Analyse lässt sich nun im Hinblick auf das relationale Zusammenspiel phantasmatischer Logiken und politischer Logiken am Beispiel der antisemitischen Imagination Israels als »konzeptueller Jude« diskutieren. So wurde im Verlauf der Diskursanalyse deutlich, dass die antizionistische Konstruktion des Antagonismus eines Kolonialkonflikts um palästinensische Rechte – d.i. die politische Logik – erst durch die kontingenzverschleiernde Wirkungsweise sozialer Fantasien diskursiv plausibilisiert wurde. Erzeugen Fantasien auf der Ebene subjektiver Wahrnehmung und Deutung die Illusion eines fraglos selbstverständlichen Bedeutungshorizonts von Diskursen, ist es etwa der narrative Rahmen (nicht sagbarer) antisemitischer Fantasien, der die Artikulation der Bedeutungskomplexe antizionistischer Dämonisierungen, Delegitimierungen und komplexitätsreduzierenden Simplifizierungen der Konfliktrealität signifizierbar macht. Einseitige Zuschreibungen von Täter-Opfer-Rollen werden etwa
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als Sinnfixierungen durch den phantasmatischen Manichäismus antisemitischer Vorstellungswelten des jüdischen »Bösen« produziert, während Dämonisierungen Israels als rassistisches Regime der kolonialen Landnahme oder der israelischen Palästinenser/-innen-Politik als ein Genozid von phantasmatischen Bildern der Omnipotenz und totalen Machtlosigkeit geprägt werden. Im Ergebnis wurde dadurch im Hinblick auf die Beantwortung der dritten Forschungsfrage sichtbar, warum der BDS-Aktivismus eine solche transnationale Anziehungskraft für weltweite Subjekte ausstrahlt: Die phantasmatischen Identifikationsangebote des Hegemonieprojekts erfordern die scheinbar unzweifelhafte Positionierung für das palästinensische Selbstbestimmungsanliegen und gegen den israelisch-zionistischen Antagonisten – d.i. die politische Logik – durch affektgeleitete Emotionen wie Wut, Hass oder Mitgefühl im existenziellen Kampf um »gut« und »böse«. Das coincidentia oppositorum sozialer Fantasien plausibilisiert demnach ein bedrohliches Bild des Zionismus/Israels, von dessen Überwindung das Heil der Welt, die »erstrebenswerte«, auf Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit basierende Ordnung des Nahen Ostens, abhängig gemacht wird. Einerseits verspricht der utopische Bezugshorizont der Menschenrechte also für die subjektive Identifikation mit dem Hegemonieprojekt einen affektiven Zugewinn durch die emphatische Solidarisierung mit dem palästinensischen Protestanliegen. Andererseits produziert die antisemitische Bedrohungsinszenierung des »Zionismus« den solidarischen Kampf für palästinensische Rechte als eine Frage moralischer Notwendigkeit. Auf der nächsten Seite ist das Zusammenspiel von sozialer, politischer und phantasmatischer Logik dargestellt. Insgesamt erklärt sich die paradoxe Situation menschenrechtsorientierter Antisemitismen demzufolge durch die relationale Perspektive auf das dynamische Zusammenspiel von gesellschaftlichen Strukturen, Machtverhältnissen und subjektiven Identitätskonstruktionen. Im Sinne der hier verfolgten, problemorientierten Forschungspraxis, die den von Andreas Reckwitz geforderten Übergang zwischen Gesellschafts- und Sozialtheorie mit der Empirie vollzieht, hat sich am Fallbeispiel der transnationalen BDS-Bewegung in Kombination mit den hier entwickelten ontologischen und methodologischen Perspektiven (Kap. 3 und 4) gezeigt, dass Arbitraritäten, Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen weder theoretische noch empirische Paradoxien, sondern notwendige Bedingungsverhältnisse darstellen. Erst die antisemitische Konstruktion des Zionismus, der in dem Diskurs immer synonym zu dem jüdischen und demokratischen Staat Israel gelesen werden muss, imprägniert von seiner antisemitischen Vorstellungswelt, stabilisiert den gegenhegemonialen Kampf um Menschenrechte in den gesellschaftlichen Strukturen des Nahostkonflikts und liefert damit subjektive Identifikationsangebote für transnationale Akteure. Die antisemitische Sprache der Menschenrechte symbolisiert demzufolge kein diskursives Paradoxon, sondern ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis des solidarischen Palästinaaktivismus. Die Einheit der Paradoxie menschen-
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rechtsorientierter Antisemitismen ist das zentrale empirische und theoretische Ergebnis der vorliegenden Arbeit. Sie bildet die Protoerklärung der hier verfolgten problemorientierten Forschungspraxis ab. Tab. 6: Das Zusammenspiel von sozialer, politischer und phantasmatischer Logik des Diskurses Soziale Logik des Nahostkonflikts
Politische Logik des Rechtediskurses
Phantasmatische Logik des Hegemonieprojekts
Hegemoniale Problemkonstruktion eines Territorialkonflikts konkurrierender jüdischer und palästinensischer Ansprüche auf dasselbe Territorium a) Israelische und palästinensische Ziele, Forderungen, Interessen und Ansprüche erscheinen als gleichberechtigt Hegemonialer Konfliktlösungsansatz einer »Frieden durch-zwei-StaatenRegelung«
Gegen-hegemoniale Sinnkonstruktion des Nahostkonflikts als eines kolonialen Konflikts um palästinensische Menschenrechte a) Abstrakte Feindbildkonstruktion des »Zionismus« als antagonistisches »Außen« des Diskurses verhindert die Realisierung palästinensischer Rechte - »Zionismus« signifiziert ein rassistisches System der siedlungskolonialen Landnahme
b) Soziale Norm der friedlichen Beilegung des Konflikts durch gewaltfreie Kompromissbildung und diplomatischem Ausgleich der widerstreitenden Ansprüche
b) Hegemoniale Forderung nach Realisierung palästinensischer Selbstbestimmungsrechte erfüllt Funktion eines leeren Signifikanten - Verwirklicht Rechte des palästinensischen »Volks« in der Diaspora, OPT, Israel
Soziale Fiktionen eines bösartigen »jüdischen« Plots und des Phantasmas »universaler Menschenrechte« plausibilisieren Identifikationsangebote des Rechtediskurses a) Grauenvolle Dimension der Fantasie des »jüdischen« begründet ideologisch, warum das Gesellschaftsideal universaler Menschenrechte noch nicht verwirklicht ist Reproduziert obszöne Phantasmagorien der »jüdischen Allmacht und (Welt- )Verschwörung«, »Grausamkeit und Amoralität«, »Gemeinschaft und Gesellschaft« b) Glückseligmachende Dimension der Fantasie »universaler Menschenrechte« repräsentiert eine unerreichbare Gesellschaftsutopie - »Freiheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« versprechen einen von sozialen Antagonismen befreiten »wahren Frieden in Palästina«
6 Protoerklärung
6.2
Zur poststrukturalistischen Anschlussfähigkeit der Ergebnisse: theoretische Implikationen und empirische Konsequenzen für Forschung und Praxis
Der zweite Teil dieser Arbeit zielte auf die Umsetzung einer qualitativen Fallstudie über das Zusammenspiel von Menschenrechten und Antisemitismen innerhalb dreier zentraler Netzwerke der globalen BDS-Kampagne, welches mithilfe des in Kapitel 3 und 4 entwickelten theoretischen und methodologischen Zugangs erklärbar und analysierbar wurde. Der Fokus lag dabei einerseits auf der Identifikation und Rekonstruktion einzelner Logiken von Antisemitismen und Menschenrechtsforderungen am empirischen Beispiel der transnationalen Palästinasolidaritätsbewegung. Andererseits haben die empirischen Ergebnisse sichtbar gemacht, welchen Mehrwert eine poststrukturalistische Sozial- und Gesellschaftstheorie für zukünftige Forschungspraktiken im Bereich der sozialen Bewegungs-, Menschenrechts- und Antisemitismusforschung produzieren kann. Der erste Abschnitt dieses Unterkapitels stellt diese potenziellen Anschlussfähigkeiten in den drei relevanten Forschungsfeldern detailliert dar. Gleichzeitig wird damit eine Form der in Kapitel 4 elaborierten postpositivistischen Anschlussfähigkeit der eigenen Forschungsergebnisse expliziert. Anschließend stehen die praktischen Konsequenzen zum politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der BDS-Kampagne im Vordergrund.
6.2.1.1
Soziale Bewegungen als Teil gesamtgesellschaftlicher Dynamiken. Wie die soziale Bewegungsforschung von einer poststrukturalistischen Sozial- und Gesellschaftstheorie profitieren kann
Die in dieser Arbeit entwickelte Sozial- und Gesellschaftstheorie Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes, ergänzt durch Jacques Lacans kulturtheoretische Psychoanalyse sowie ihre ideologiekritische Weiterentwicklung durch Slavoj Žižek, kann für eine poststrukturalistisch inspirierte Bewegungsforschung zentrale analytische Mehrwerte generieren. In Kapitel 2.1.1 wurde der Großteil der etablierten Ansätze der sozialen Bewegungsforschung auf ein fokussiertes Erkenntnisinteresse zurückgeführt, das die Entstehung, Mobilisierung sowie den transnationalen Effekt von Menschenrechtsprotesten durch »Theorien mittlerer Reichweite« (Leinius/Vey/Hagemann 2017, 8), d.h. unabhängig von ihrer Verwobenheit mit gesamtgesellschaftlichen Kontexten und Strukturen, erklärt. Dieses Defizit überrascht, ist es doch das Ziel gegenhegemonialer Praktiken, gerade auf die Transformation von Gesellschaft durch politische Kämpfe hinzuwirken (Neidhardt/Rucht 1993, 307). An diesem Punkt setzte die vorliegende Arbeit durch
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die Fruchtbarmachung einzelner Ansätze der modernen politischen Soziologie in ihrer poststrukturalistischen Ausrichtung an (Kap. 3). Den Mehrwert für die soziale Bewegungsforschung sehe ich dabei in der radikalen Kontingenz und Konfliktperspektive auf gesellschaftliche Strukturen, Identitäten und Verhältnisse, die mit der Blickverschiebung poststrukturalistischer Perspektiven einhergeht. Das übergeordnete Potenzial der hier elaborierten Blickverschiebung für die Analyse von Protest liegt dabei in einem relationalen Verständnis von sozialer Bewegung als Teil gesamtgesellschaftlicher Dynamiken begründet. Von einem solchen Verständnis ausgehend, rücken die Mechanismen der Politisierung sozialer Ordnungen durch diskursive Praktiken sozialer Bewegungen – d.h. durch Protest – in den Vordergrund (Kap. 3.2) ebenso wie Fragen der Macht (Kap. 3.3) als produktives wie exkludierendes Moment. Aus diesem Grund wurde der tendenziellen Idealisierung von Menschenrechtsbewegungen in der sozialen Bewegungsforschung (2.1.1) als dem »›Anderen‹ von Macht« ein Verständnis der Deutungsoffenheit antagonistischer Kämpfe um Hegemonie gegenübergestellt. Am paradigmatischen Fallbeispiel der BDS-Bewegung konnte gezeigt werden (Kap. 5), wie soziale Bewegungen innerhalb komplexer gesellschaftlicher Ordnungen – dem Nahostkonflikt – Brüche, Abweichungen und Exklusionen durch Mechanismen der Politisierung des Sozialen produzieren (Kap. 5.2-5.4) und welchen diskursiv hergestellten Effekt das ausgehandelte Deutungsangebot für die Solidarisierung partikularer Protestdiskurse einnimmt (Kap. 5.5). Der Vergleich mit anderen Fällen könnte die Variation, Anpassungsfähigkeit und Dynamik ambivalenter Solidaritätsdiskurse aufzeigen und untersuchen, inwiefern die hier entwickelte Theoriearchitektur über den empirischen Fall des BDS-Diskurses hinaus anschlussfähig ist. Ein letzter Punkt ist für die theoretische und empirische Anschlussfähigkeit des eigenen, poststrukturalistischen Theoriemodells für die soziale Bewegungsforschung zentral. Eine poststrukturalistisch inspirierte Bewegungsforschung kann vor allem in Kombination mit dem hier gewählten Typus problemorientierter Forschung (Kap. 4), die, ausgehend von einem konstruierten fokussierten Gegenstand, theoretische Modelle, analytische Konzepte und die empirische Fallstudie miteinander in Beziehung setzt, profitieren. Gerade weil das offene, dynamische und anpassungsfähige theoretische Format aus dem fließenden Übergang mit der Empirie gewonnen wird, hat es ein besonderes Erklärungspotenzial für die Erfassung vielfältiger Phänomene der sozialen Wirklichkeit, in die Bewegungen eingebunden sind. Anschließende Arbeiten könnten zeigen, wie durch die Kombination von Theorie und Empirie weitere erkenntnisleitende Modelle im fortlaufenden Austausch mit einzelnen Charakteristika gesellschaftlicher Phänomene, Folgen und Erscheinungen machtvoller Beziehungen sozialer Ordnungen, Diskurse, Praktiken, Subjektivierungsweisen und Räumen entwickelt, systematisiert und angepasst werden können.
6 Protoerklärung
6.2.1.2
Zur kulturellen Aneignungs- und Solidarisierungsfunktion von Menschenrechten: Wie die soziologische Menschenrechtsforschung von einer poststrukturalistischen Sozial- und Gesellschaftstheorie profitieren kann
Die hier entwickelte, poststrukturalistisch ausgerichtete Sozial- und Gesellschaftstheorie liefert ein stabiles theoretisches und methodologisches Fundament, mit dem die unidimensionale Ausrichtung auf den dominierenden oder emanzipierenden Effekt von Menschenrechten für individuelle oder kollektive Subjekte, wie sie in den gegenwärtigen Ansätzen der politisch-soziologischen Menschenrechtsforschung (siehe Kap. 2) vorherrschen, überwunden werden kann. In Kapitel 2.1.2 habe ich die etablierten Ansätze der soziologischen Menschenrechtsforschung vor allem hinsichtlich einer fehlenden epistemologischen Sichtweise auf Menschenreche als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Dynamiken und einer damit einhergehenden mangelnden gesellschaftstheoretischen Analyseperspektive kritisiert, in der die spannungsvolle Interrelation von Menschenrechtsideen und -praktiken mit gesellschaftlichen Strukturen, Identitäten und Machtverhältnissen im Zentrum steht. Anstatt die ambivalente Stellung der Menschenrechte in ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit als Instrument von und Mittel gegen Macht über die Rückbildung an die Empirie zu klären, erschöpft sich die Forschung in der abstrakt, theoretisch und dichotom geführten Debatte über den normativen Wert von Menschenrechten als Instrument der Unterdrückung oder Emanzipation. Um dem Defizit einer einseitigen Erklärungsperspektive Einhalt zu gebieten, liefert die hier entwickelte Theorieperspektive ein mehrdimensionales Verständnis von kontextualisierbaren Menschenrechten, die dennoch ihre Kraft als universale Form, als Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses, reflektiert (Rüdiger 2017, 94), womit die politische Praxis der Menschenrechte auf der Grundlage einer gesellschaftstheoretischen Perspektive erklärbar wird. Ausgehend von dem diskurs- und hegemonietheoretischen Theorieangebote (Laclau und Mouffe, Žižek) sowie ideologiekritischen Interpretationen der Lacan’schen Psychoanalyse, wurden universale Menschenrechte in Kapitel 3.6 als Teil eines kontingenten, bedeutungsoffenen und imaginären Horizonts entwickelt, der sich für die Verallgemeinerung und Politisierung partikularer Kämpfe subordinierter Gruppen um Rechte öffnet. Über die methodologische Ableitung (Kap. 4) und Rückbindung an die Empirie konnte dann in Kapitel 5 gezeigt werden, wie sich der politische Kampf der palästinensischen »Zivilgesellschaft« über den Universalitätsanspruch der Menschenrechte als Kampf um gleiche Rechte hegemonialisiert, (5.5.3) wie eine lokale Konfliktlage als Situation ungleicher Rechte interpretiert und wie sich in diesen diskursiven Aneignungsprozessen im kulturellen Kontext des Israel-Palästina-Konflikts
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antisemitische Ausschlüsse als das Gegenteil von Menschenrechten gerade durch ideologische Menschenrechtsfantasien (5.7) reproduzieren lassen. Demzufolge stellt sich die Frage nach dem emanzipierenden oder dominierenden Effekt der Menschenrechte vor dem Hintergrund der Diskurs- und Hegemonietheorie neu: Die Produktivität von Menschenrechtsnormen zeigt sich nun in umgekehrter Weise als machtvermittelte, deutungsoffene Leerstelle, die zugleich partikulare Deutungskämpfe um Rechte ermöglicht. Ob abstrakte Menschenrechtsideen und -praktiken in kontingenten Kontexten dabei als »weapon of the weak« (Scott 1985) oder als illegitimes Marginalisierungsinstrument nicht westlicher Stimmen, Diskurse und Praktiken fungieren, wie Exklusionen, Delegitimierungen und Abwertungen auch von gegenhegemonialen Menschenrechtsbewegungen produziert werden können und welche Vorteile die Aneignung universaler Rechte hinsichtlich potenzieller Solidarisierungen mit anderen Akteur/-innen ermöglichen kann, ist dann eine empirisch zu überprüfende Frage, an die kommende Forschungsarbeiten anschließen können. Gerade der letzte Punkt, der den hier verwendeten Zugang auf solidarische Menschenrechtsdiskurse durch eine Art »Affektlehre« erklärt, verspricht zentrale Anschlussfähigkeiten für weitere Forschungsarbeiten im Feld solidarischer Menschenrechtsaktivismen. Zwar argumentierten Forscher (Goodwin/Jasper/Polletta 2001), dass Gefühle, Affekte und Emotionen als Motivationsfaktor für solidarische Diskurse fungieren. Dennoch sind bislang kaum Studien sichtbar, die sich auf die subjektive Bedeutung von Gefühlen wie Wut, Angst oder Aggression für Proteste beziehen. In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Studie als Pionierarbeit in diesem Feld, an die weitere Forschungsarbeiten anschließen können.
6.2.1.3
»Travelling Antisemitism«. Zur dynamischen Wandelbarkeit von Antisemitismen: welchen Mehrwert die soziologische Antisemitismusforschung von einer poststrukturalistischen Sozial- und Gesellschaftstheorie ziehen kann
Welchen Beitrag kann die hier entwickelte theoretische Heuristik, ihre methodologische Operationalisierung und empirische Umsetzung für die Antisemitismusforschung generieren, die, wie Werner Bergmann (2004) in nach wie vor gültiger Weise formuliert hat, noch immer durch die »Entstehung und Verfestigung eines Methoden- und Theoriedefizits« sowie der fehlenden Vermittlung zwischen Theorie und Empirie charakterisiert ist? Der theoretische Mehrwert des vorliegenden Forschungsdesigns liegt in der Reintegration der zitierten Entkopplung von Soziologie und Antisemitismusforschung durch das retroduktiv entwickelte, multidimensionale Theoriemodell von poststrukturalistischer Hegemonie- und Diskurs- (Laclau/Mouffe 2000) sowie kulturtheoretischer (Lacan 1991a, 1991b, 1991c, 1991d) und ideologiekritischer Psy-
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choanalyse (Glynos/Howarth 2007; Glynos/Stavrakakis 2002 und 2004; Stavrakakis 1999 und 2007; Žižek 1997, 1998, 1999, 2000 und 2013) begründet, das als allgemeine Sozial- und Gesellschaftstheorie in dieser Arbeit mit Ansätzen der soziologischen Antisemitismusforschung (Holz 2001 und 2005; Haury 2002) poststrukturalistisch trianguliert wurde (Kap. 3). Dieser Ansatz setzt der bloßen Deskription transformierter antisemitischer Manifestationen als sichtbarem Phänomen eines über Israel bezogenen Antisemitismus, wie er Gegenstand der derzeit etablierten Ansätze der »neuen« Antisemitismusforschung (Kap. 2) ist, ein umfassendes Analysemodell gegenüber, mit dem die Komplexität antisemitischer Diskurse, ihre dynamische Wandelbarkeit, modifizierte Anpassungsfähigkeit und variationsreiche Transformationsweise in kontingenten gesellschaftlichen Kontexten – als »travelling antisemitism« – erklärt werden kann (Kap. 3). Die ontologische Annahme einer radikalen Kontingenz- und Konfliktperspektive auf soziale Ordnungen, Subjektivierungsweisen, Ideologien, Artefakte und Praktiken, die Grundlage der hier elaborierten poststrukturalistischen Blickverschiebung ist, führt dabei zu zwei innovativen analytischen Bezugspunkten, über die Modi, Ensembles und Topoi antisemitischer Vorstellungsweisen decodiert werden können. Erstens zeigt die diskurs- und hegemonietheoretische Ausrichtung der poststrukturalistischen Gesellschaftstheorie auf, wie Antisemitismen über die Unendlichkeit von Sinnzuschreibungen, der Polysemie von Bedeutung und der Variation in Raum und Zeit nur über den Ausschluss anderer potenzieller Sinnfixierungen, dem Derridaʼschen »Spiel der Differenzen« also, ausgehandelt (Kap. 3.2) werden. In Kapitel 5 hat diese Studie davon ausgehend rekonstruieren können, wie sich ein globalisierter Menschenrechtsantisemitismus über eine manichäische Differenzkonstruktion zwischen den harmonischen, friedlichen und solidarischen Menschenrechtsaktivist/-innen und Israel als dem Anderen der Menschenrechte, dem antagonistischen Gegner humanitärer Werte, reproduziert hat. Damit wird die Differenzperspektive auf Antisemitismen, die Prozessualität der antagonistischen Herstellungsweise wandelbarer antisemitischer Sinnfixierungen, zum entscheidenden analytischen Ausgangpunkt einer kritischen Antisemitismusforschung. Das Verständnis von »Hegemonie« legt den Fokus der Betrachtung dabei auf die imaginäre Einheit des Diskurses, die bestimmt, was wir als temporär fixierte »Wirklichkeit«, als antisemitischen Mythos über »die Juden« in einem bestimmten, historisch-kontingenten Zeitraum erfahren. Auf diese Weise zeigt das poststrukturalistische Diskurs- und Hegemoniekonzept, wie sich die antisemitische Narration vom christlichen Ritualmörder zum mittelalterlichen Brunnenvergifter über den modernen »Finanzjuden« hin zum postmodernen »Kollektivjuden« Israel wandeln kann.
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Zweitens produziert die kulturtheoretische und ideologiekritische Ausrichtung der theoretischen Heuristik eine verschobene Sicht auf die psychosoziale Funktionslogik antisemitischer Diskurse und ihrer soziosymbolischen Wirkungsweise. Anstatt Antisemitismen als Desiderat, d.h. als psychologisches »Nebenprodukt« gesellschaftlich vermittelter Strukturen (Kap. 2.1.3) zu begreifen, zeigt uns der affekttheoretisch inspirierte Zugang, warum wir das, was wir zu einem gegebenen Zeitpunkt durch obszön überzeichnete, ideologische Fiktionen als »Wirklichkeit« des Handelns oder des »Wesens« der »Juden« erfahren, leidenschaftlich ablehnen und mit ressentimentgesteuerten Gefühlen wie Wut, Aggression und Hass begegnen. Damit rückt der theoretische Bezugspunkt der ideologischen Wirkungsweise sozialer Fantasien des Antisemitismus die gesellschaftlich vermittelten Subjektivationsprozesse antisemitischer Diskurse ins Zentrum der Betrachtung, die sich gleichzeitig als attraktive, affektiv-kathektisch aufgeladene Projektionsflächen, d.h. als »ideologische Fantasien«, dechiffrieren lassen. Theoretisch liefert ein Verständnis von antisemitischen Affekten als kontingenzreduzierende Imaginationen und emotional besetzte Narrative daher einen Zugang, der erklären kann, wie sich der diskursive Bereich des Nichtsagbaren, der sich jenseits der Sphäre konkreter Signifikationsprozesse entfaltet und insbesondere im Hinblick auf antisemitische Kommunikationstabus eine besondere Gewichtung erhält, analytisch darstellen lässt. Es ist dieser theoretisch und methodologisch reflektierte Zugang zu der Sphäre antisemitischer Affekte und Fantasien, der gewissermaßen ein Kernstück dieser Arbeit darstellt, indem er es ermöglichen kann, den judenfeindlichen Sinngehalt antisemitischer Umwegkommunikationen methodisch kontrolliert als narrative Muster von Diskursen analysieren zu können. Die weitere Antisemitismusforschung kann an diesen metatheoretischen Rahmen anknüpfen und ihn, ebenso wie es Gegenstand dieser Arbeit war (Kap. 3.5), durch ergänzende Zugänge triangulieren, um der Gefahr eindimensionaler Erklärungsversuche zu begegnen. Dieser analytische Bezugsrahmen ist dabei für eine Vielzahl empirischer Arbeiten anschlussfähig, womit das vorliegende Forschungsdesign explizit auf die fehlende Vermittlung zwischen Theorie und Empirie in der Antisemitismusforschung reagiert. Methodologisch stellen sich für die weitere Forschung dann die Fragen, nach welchen Logiken – sozialen, politischen und phantasmatischen – sich die antisemitischen Praktiken und Regime in spezifischen Kontexten ordnen. Mit genealogischen (Kap. 4.1.3), strategemanalytischen (Kap. 4.1.4) oder narratologischen (Abschnitt 4.1.5) Methoden können die historischen Kontexte (Kap. 5.1), politisch diskursiven Kämpfe (Kap. 5.3) und die sie begleitenden Fantasien (Kap. 5.5) offengelegt werden, deren Resultat die Sichtbarkeit antisemitischer Diskurse sind. Die enge Verzahnung von Empirie und Theorie des hier entwickelten Modells liefert zuletzt eine Form von empirischer Anschlussfähigkeit, die ich folgendermaßen zusammenfassen möchte: Ich gehe davon aus, dass dem artikulierten Antise-
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mitismus am Fallbeispiel der TPSB eine metaphorische Funktion zukommt, die für eine ganze Klasse von israelbezogenen Antisemitismen steht. Das hier entwickelte Modell liefert dabei einen theoretischen Seismografen, der diese metaphorische Funktionsweise für weitere empirische Kontexte überprüfbar machen kann, indem es den Fallstrick vermeidet, jede Kritik an dem jüdischen Staat zwangsläufig als antisemitisch zu klassifizieren oder jede Form der Israelkritik a priori von dem sogenannten Antisemitismusvorwurf freizusprechen. Aus einer solchen Perspektive heraus stellt sich die Schlüsselfrage an israelbezogene Antisemitismen nicht länger als Frage danach, ob eine Kritik am jüdischen Staat erlaubt sei – die Frage ist nun, ob sich die Kritik auf die konkrete politische Praxis des jüdischen Staats bezieht oder ein abstraktes, projektives und verzerrendes Israelbild produziert. Auf einer abstrakteren Ebene kann der paradigmatische Fall von antisemitischen Fantasien Erkenntnisse über rassistische Sündenbockstrategien in ähnlichen Systemen vermitteln – jedoch nur unter der Prämisse einer Anpassung an den jeweiligen empirischen Kontext. Der empirische Kontext des BDS-Antisemitismus kann demzufolge anschlussfähige Aussagen über ähnliche Fälle produzieren, ohne auf eine universale Gesetzmäßigkeit zu schließen. Dieser Zusammenhang ist für postpositivistische Forschungspraktiken zentral.
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Praktische Konsequenzen: zum politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der BDS-Kampagne
Wenn wir die Ergebnisse der vorherigen Kapitel zugrunde legen, stellt sich die Frage, welche praktischen Konsequenzen sich für den öffentlichen Umgang mit BDS ergeben? Wie kann dem Antisemitismus der BDS-Kampagne begegnet werden? Was folgt aus der moralischen Deutung des Nahostkonflikts als Konflikt um palästinensische Menschenrechte für die Ebene der politischen Praxis? Es dürfte offensichtlich geworden sein, dass die vorliegende Arbeit von einem normativ-kritischen Anspruch geleitet wird, Antisemitismen zu decodieren, ihre diversen »Umwegkommunikationen« (Bergmann/Erb 1991) zu identifizieren und für verschiedene Formen antisemitischer Grenzziehungen zu sensibilisieren. Der theoretischmethodologische Zugang der »Logics of critical explanation« (Kap. 4) versteht sich selbst als eine Form von ethischer und normativer Kritik (Glynos/Howarth 2007, 13), deren Ziel es ist, phantasmatische Logiken, die soziale oder politische Diskurse protegieren, zu destabilisieren und sie durch alternative Projekte herauszufordern und abzulösen. Der letzte Abschnitt dieser Arbeit argumentiert, dass auf Basis der hier entwickelten Perspektive auf politischen Protest und gegenhegemoniale Praktiken (Kap. 3) einige praktische Konsequenzen für die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit BDS abgeleitet werden können. Mit anderen Worten möchte ich aufzeigen, wie der in Kapitel 3 und 4 diskutierte Zugang zugleich als
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mitismus am Fallbeispiel der TPSB eine metaphorische Funktion zukommt, die für eine ganze Klasse von israelbezogenen Antisemitismen steht. Das hier entwickelte Modell liefert dabei einen theoretischen Seismografen, der diese metaphorische Funktionsweise für weitere empirische Kontexte überprüfbar machen kann, indem es den Fallstrick vermeidet, jede Kritik an dem jüdischen Staat zwangsläufig als antisemitisch zu klassifizieren oder jede Form der Israelkritik a priori von dem sogenannten Antisemitismusvorwurf freizusprechen. Aus einer solchen Perspektive heraus stellt sich die Schlüsselfrage an israelbezogene Antisemitismen nicht länger als Frage danach, ob eine Kritik am jüdischen Staat erlaubt sei – die Frage ist nun, ob sich die Kritik auf die konkrete politische Praxis des jüdischen Staats bezieht oder ein abstraktes, projektives und verzerrendes Israelbild produziert. Auf einer abstrakteren Ebene kann der paradigmatische Fall von antisemitischen Fantasien Erkenntnisse über rassistische Sündenbockstrategien in ähnlichen Systemen vermitteln – jedoch nur unter der Prämisse einer Anpassung an den jeweiligen empirischen Kontext. Der empirische Kontext des BDS-Antisemitismus kann demzufolge anschlussfähige Aussagen über ähnliche Fälle produzieren, ohne auf eine universale Gesetzmäßigkeit zu schließen. Dieser Zusammenhang ist für postpositivistische Forschungspraktiken zentral.
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Praktische Konsequenzen: zum politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der BDS-Kampagne
Wenn wir die Ergebnisse der vorherigen Kapitel zugrunde legen, stellt sich die Frage, welche praktischen Konsequenzen sich für den öffentlichen Umgang mit BDS ergeben? Wie kann dem Antisemitismus der BDS-Kampagne begegnet werden? Was folgt aus der moralischen Deutung des Nahostkonflikts als Konflikt um palästinensische Menschenrechte für die Ebene der politischen Praxis? Es dürfte offensichtlich geworden sein, dass die vorliegende Arbeit von einem normativ-kritischen Anspruch geleitet wird, Antisemitismen zu decodieren, ihre diversen »Umwegkommunikationen« (Bergmann/Erb 1991) zu identifizieren und für verschiedene Formen antisemitischer Grenzziehungen zu sensibilisieren. Der theoretischmethodologische Zugang der »Logics of critical explanation« (Kap. 4) versteht sich selbst als eine Form von ethischer und normativer Kritik (Glynos/Howarth 2007, 13), deren Ziel es ist, phantasmatische Logiken, die soziale oder politische Diskurse protegieren, zu destabilisieren und sie durch alternative Projekte herauszufordern und abzulösen. Der letzte Abschnitt dieser Arbeit argumentiert, dass auf Basis der hier entwickelten Perspektive auf politischen Protest und gegenhegemoniale Praktiken (Kap. 3) einige praktische Konsequenzen für die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit BDS abgeleitet werden können. Mit anderen Worten möchte ich aufzeigen, wie der in Kapitel 3 und 4 diskutierte Zugang zugleich als
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Kampf gegen BDS fruchtbar gemacht werden kann. Welche Implikationen ergeben sich also für die politische Praxis im Zusammenhang mit dem Antisemitismus der BDS-Bewegung? Im Laufe dieser Arbeit hat sich gezeigt, dass der gegenhegemoniale Kampf um die gesellschaftliche Wirklichkeit im Nahen Osten durch die BDS-Kampagne zu einer Entpolitisierung des Politischen im israelisch-palästinensischen Konflikt führt. Diese Entpolitisierung resultierte dabei aus einer Moralisierung der politischen Konfliktualität des israelisch-palästinensischen Antagonismus, die sich aus der simplifizierenden Deutung des Nahostkonflikts als kolonialen Konflikt um die Gewährleistung universaler Menschenrechte für Palästinenser/-innen ergibt. »Wenn Politik im Register der Moral ausgetragen wird«, so Chantal Mouffe (2015), »können Antagonismen keine agonistische Gestalt annehmen. Opponenten, die nicht in politischen, sondern in moralistischen Begriffen als ›Feinde‹ definiert werden, können nicht als ›Gegner‹, sondern nur als ›Feinde‹ behandelt werden. Mit den ›bösen anderen‹ ist keine agonistische Diskussion möglich – sie müssen beseitig werden« (100).1 Den israelisch-palästinensischen Antagonismus als manichäischen Kampf des »Guten« und »Gerechten« gegen das »Böse« und »Ungerechte« zu deuten, folgt einem solchen Politikverständnis im ideologischen Gewand, das aus dem politischen Konflikt im Nahen Osten einen Konflikt der Moral, aus dem politischen Solidaritätsaktivismus ein leidenschaftliches Engagement für das unzweifelhaft »Gute« gegen das uneingeschränkte »Böse« werden lässt. Dass diese Mobilisierung von Leidenschaft dabei nur durch antisemitische Fantasien über das wesenhaft »jüdische Böse« geführt werden kann, die zugleich die Einheit der »Guten«, menschenrechtsorientierten »Wir«-Gruppe im universalen Kampf gegen Rassismus, für Toleranz, Gerechtigkeit und im Namen der Menschenrechte bildet, ist ein zentrales Ergebnis dieser Arbeit. Das moralische Bekenntnis zu Menschenrechten, ihren universalen Prinzipien von Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit immunisiert die BDS-Sympathisant/-innen dabei von jeder Form der kritischen Überprüfung ihrer eigenen Position und der eindeutig als antisemitisch zu bezeichnenden Solidaritätspolitik. Den machtvollen Mechanismus zu erkennen, der diesen moralischen Rigorismus zwischen »richtig« und »falsch« strukturiert, indem wir uns die Bedeutung des Politischen in Erinnerung rufen, ist die erste Konsequenz, die sich aus der vor-
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Der Begriff des Agonismus wird von Chantal Mouffe vor dem hegemonietheoretischen Hintergrund einer antagonistisch strukturierten Wirklichkeit eingeführt. Der Agonismus ist dabei eine Form von demokratischer Politik, in der die antagonistische Konstellation des Sozialen anerkannt, der Feind jedoch nicht als zu vernichtendes Anderes definiert, sondern als legitimen, konflikthaften Gegner anerkannt wird. Der Konflikt wird dann innerhalb demokratischer Verfahren geführt (2015b)
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liegenden Arbeit für den Umgang mit der transnationalen Kampagne gegen Israel ergibt. Politische Auseinandersetzungen um Hegemonie können nicht auf einen klaren, eindeutigen und konfliktfreien Gegensatz zwischen »gut« und »böse« zurückgeführt werden. Sie bestehen zwischen politischen Subjekten, die unterschiedliche Verständnisse der zu erzielenden Forderungen, Perspektiven und Ansprüche des »Guten« haben. Im umkämpften Feld des Nahostkonflikts stehen divergierende legitime und gleichberechtigte Forderungen, Ansprüche und Visionen von Israelis und Palästinenser/-innen nebeneinander (s. Kap. 5.1). Für Chantal Mouffe ist es die Hauptaufgabe demokratischer Politik, antagonistische Freund-Feind-Konstruktionen in agonistische zu verwandeln. In der agonistischen »Wir«-»Sie«-Beziehung ist der Feind kein zu vernichtender Gegner, sondern seine Opposition wird als legitime Position innerhalb eines gemeinsamen politischen Raums anerkannt. Politische Antagonismen können sich demzufolge auf verschiedene Art und Weise äußern; es gibt keine Welt ohne Antagonismus. Wir müssen auf die Form achten, wie der gesellschaftliche Antagonismus zwischen Israelis und Palästinenser/-innen von der BDS-Kampagne gezogen wird. Durch ein Verständnis für die politische Funktionslogik des BDS-Diskurses kann die moralische Debatte zwischen »gut« und »böse« transzendiert und durch konkrete Indikatoren ersetzt werden, die für Antisemitismen in der BDS-Kampagne sensibilisieren. Wir sehen dann, dass die menschenrechtsorientierten Protestziele und Boykottmittel nicht auf eine Eindämmung des antagonistischen Konflikts zwischen Israelis und Palästinenser/-innen mittels der Etablierung und Aufrechterhaltung zweier souveränen Staaten – diese Form der Konfliktlösung wurde als Zweistaatenlösung in Kapitel 5.1 diskutiert –, sondern auf eine Aberkennung des Existenzrechts eines jüdischen Staats im Nahen Osten durch den Boykott seiner Institutionen, Universitäten, Kulturprojekte und Bürger/-innen hinausläuft. Die einzelnen Antisemitismen der BDS-Kampagne zeigen sich dabei in unterschiedlicher Art und Weise, etwa durch die Delegitimierung eines Rechts auf jüdisch-nationale Selbstbestimmung und der Ausübung seiner politischen Souveränitätsrechte in dem Staat Israel; durch eine komplexitätsreduzierende Wahrnehmung des Nahostkonflikts als organisiertes israelisches Menschenrechtsverbrechen an den palästinensischen Opfern sowie durch die dämonisierende Verwendung von antisemitischen Codes, die Israel mit abstrakten Unrechtssymboliken, beispielsweise der Apartheid, belegen oder Vergleiche zwischen der israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten durchführen. Wer sich solidarisch zu den scheinbar moralischen Forderungen von BDS bekennt, muss einsehen, dass er/sie antisemitische Positionen reproduziert. Sich gegen alle Formen der Unterdrückung, gegen Rassismen und gegen Antisemitismus (1) auszusprechen, immunisiert nicht gegen Antisemitismus: »Being ›good‹ is no bar to being antisemitic.« (Hirsh 2016, 5)
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Was folgt aus diesem übergeordneten Ergebnis der vorliegenden Arbeit für eine kritische, palästinasolidarische Linke, die ihre Solidaritätspolitik für Palästinenser/-innen eher durch ein hehreres Engagement für die Verwirklichung uneingeschränkter Menschenrechte, dem Sympathisieren mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen und der Empörung über die Bösartigkeit des »Anderen« als durch intentionalen Antisemitismus motiviert sieht? Um die Mechanismen darzustellen, die die palästinasolidarische Linke an der kritischen Reflexion ihrer eigenen intentionalen oder nichtintentionalen (Rommelspacher 2011) antisemitischen Positionierung behindert, möchte ich auf den Begriff des »puritanism of good feeling«, den der französische Philosoph François Flahault für eine Form der immunisierenden Selbstidealisierung durch das Engagement für das vermeintlich »Gute« beschreibt, eingehen: The issue of »the puritanism of good feeling« […] is based upon the following line of the reasoning: I can clearly distinguish good from evil; when I see a persecutor and his victim, I align myself with the good: therefore, I am good. This complacement sophism obviously runs counter to self-improvement, since the assumption is that perfection has already been acquired. Self-improvement, therefore, involves a process of de-idealization […]. (2003, 165) Auch wenn Flahault ein anderes Vokabular verwendet, so verweist er dennoch auf einen Prozess, den ich eingangs als Aufforderung zur Destabilisierung der phantasmatischen Logik des BDS-Diskurses durch eine kritische Reflexion der Affekte, der Leidenschaft, der Wünsche und Fantasien, die der Diskurs als subjektive Identifikationsangebote kollektiv bereitstellt, beschrieben habe. Die affektiven Bindungsprozesse zu erkennen, die politische Diskurse ausüben müssen, um eine bestimmte Hebelwirkung zu entfalten, ist die zweite Konsequenz, die sich aus der vorliegenden Arbeit für den Umgang mit der transnationalen Kampagne gegen Israel ergibt. Erst wenn wir verstehen, wie Menschenrechtsfantasien und antisemitische Bilder über den »Juden« als nicht sagbare Gefühle in Form von Hass, Wut, Abneigung, Empathie, Solidarität und Mitleid als rationalen Akt der solidarischen Vernunft im Angesicht der Boshaftigkeit des irrationalen Gegners strukturieren, können wir erkennen, dass sich Antisemitismen auch auf nicht intendierte (Rommelspacher 2011), d.h. unbewusste und ungewollte Weise entfalten können. Für die Beteiligten, so Birgit Rommelspacher, die den Begriff des nicht intendierten Rassismus für eine Form der unbewussten Herabsetzung der »Anderen« etabliert hat, ist diese Form der Grenzziehung schwer nachzuvollziehen. Aus der Position des artikulierenden Subjekts liegt nur dann eine Form des rassistischen Ausschlusses vor, wenn die Diskriminierung des Anderen auch gewollt ist. Diese Beobachtung ist auch auf Formen eines nicht intendierten Antisemitismus übertragbar. Antisemitismen (re-)produzieren sich durch antisemitische Praktiken und kulturspezifische Ima-
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ginationen über das »jüdische« Fremde unabhängig davon, ob die Reproduktion antisemitischer Bedeutungsangebote mit der Intention des Praktizierenden zusammenfallen. Hier steht die politische Praxis vor der Aufgabe, für die Irrationalität, den Überschuss, das Obszöne, das Leidenschaftliche und Obsessive von Antisemitismen zu sensibilisieren. Antisemitische Imaginationen über den Staat Israel können bewusst oder unbewusst durch Vorstellungen reproduziert werden, die sich als nicht sagbare Codes in Erzählungen eines israelischen Vernichtungsfeldzugs gegenüber den ohnmächtigen Palästinenser/-innen, einer imperialistischen Globalmacht Israels und seines erbarmungslosen Destruktionspotenzials, einer israelischen Verschwörung gegen das System der universalen Menschenrechte, der israelischen Straflosigkeit für Menschenrechtsverbrechen, des unheimlichen, weltweiten Einflusses einer klandestinen Israel-Lobby oder der Furcht vor einer »Judaisierung« des indigenen palästinensischen Lands artikulieren. All diese Formen der Zuschreibungen des israelischen Anderen reproduzieren tradierte antisemitische Fantasien über das wesenhaft »Böse« des »Juden«, über »jüdische« Weltverschwörung, Allmacht und Unterwerfung durch die antisemitischen Fantasien eines »jüdischen« Plots gegenüber der nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft, die besonders intensive Gefühle von Abscheu, Hass und Ekel gegenüber dem »schamlosen«, »übermächtigen« und »betrügerischen« Kollektiv der »Juden« produzieren – unabhängig von der Motivation des Einzelnen. Eine antisemitismuskritische politische Praxis muss demzufolge für diese Ebene antisemitischer Affekte sensibilisieren, in denen ein vermeintlich »wahres« Wissen über das Wesen der »Juden« zum Vorschein kommt, das von einer Obszönität exzessiver Gefühle geleitet wird, die besonders negativ ist. Die Unterstützung von BDS wird damit zur politischen Entscheidung für antisemitische Positionen; sie erweitert Grenzen des Sagbaren, camoufliert über eine vermeintlich legitime Menschenrechtskritik an dem jüdischen Staat. Demzufolge darf BDS nicht als bloße moralische Antwort auf den Aufruf zum Frieden der palästinensischen »Zivilgesellschaft« (hierzu Fn. 1) missverstanden werden. Sie ist eine Bewegung, in der antisemitische Menschenrechtsdiskurse den transnationalen Solidaritätsakt gegen Israel als »Symbol jüdischen Lebens« legitimieren. BDS mit denselben Mitteln zu bekämpfen, die von der solidarischen Kampagne zum gemeinsamen Kampf gegen Israel eingefordert werden, der Gramscianische »war of position« (9), ist die dritte und letzte Konsequenz, die sich aus der vorliegenden Arbeit für den »travelling antisemitism« der BDS-Kampagne ergibt. Wenn wir uns die zentralen Prämissen aus Kapitel 3 vor Augen führen, kann jede (gegen-)hegemoniale Ordnung von kontrahegemonialen Diskursen infrage gestellt, herausgefordert und disartikuliert werden. Eine globale Gegenhegemonie im symbolischen Kampf gegen den Antisemitismus der BDS-Kampagne, getragen von einer transnationalen Zivilgesellschaft, kann den hegemonialen Diskurs über die transnationale Palästinasolidarität entgrenzen mit dem Ziel, eine veränderte Wahrnehmung
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auf die Stellung von Antisemitismen innerhalb der Kampagne zu etablieren. Eine solches Ringen um Hegemonie im Kampf gegen Antisemitismus kann sicherlich nicht von heute auf morgen stattfinden. Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen verhindern Fragen von Macht, Hegemonie und Fantasie den globalen Blick auf den transnationalen Menschenrechtsaktivismus, der immer größere Solidaritätsechos erfährt. Bis zum Abschluss dieser Arbeit kann von einem Verschwinden der Kampagne keine Rede sein. Dennoch ist die Bewegung kein »Goliath«. Den »travelling antisemitism« der BDS-Kampagne zu stoppen, muss Aufgabe einer kritischen politischen Gegenbewegung im Kampf um das universale Recht, Rechte zu haben, sein, das insbesondere für den jüdischen Staat im Angesicht seiner feindseligen Gegner/-innen verteidigt werden muss.
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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildungen Abb. 1: Antagonistische Zweiteilung (in Anlehnung an Nonhoff 2017, 94). S. 72 Abb. 2: Leerer Signifikant, eigene Darstellung (in Anlehnung an Nonhoff 2017, 94). S. 75 Abb. 3: Antagonistische Zweiteilung durch den Mangel am Allgemeinen und der umfassenden Forderung nach seiner Überwindung. S. 184 Abb. 4: Antagonistische Zweiteilung des Hegemonieprojekts der BDS-Bewegung. S. 186 Abb. 5: Positionierung des Diskurselementes »Israelischer Apartheid«. S. 189 Abb. 6: Positionierung des Diskurselementes (verweigertes) »Recht auf Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge«. S. 193 Abb. 7: Positionierung des Diskurselementes »(israelische) Besatzung«. S. 199
Tabellen Tab. 1: Datensampling. S. 145-147 Tab. 2: Soziale Logik des Diskurses. S. 174 Tab. 3: Politische Logik des BDS-Diskurses. S. 211-212 Tab. 4: Die grauenvolle Dimension der Fantasie des BDS-Diskurses. S. 229-230 Tab. 5: Die glückseligmachende Dimension der Fantasie des BDS-Diskurses. S. 242 Tab. 6: Das Zusammenspiel von sozialer, politischer und phantasmatischer Logik des Diskurses. S. 256
Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
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